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German Pages 282 Year 2022
Kerstin Thummes Anna Dudenhausen Ulrike Röttger Hrsg.
Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation Kommunikationswissenschaftliche Analysen zu Organisationen im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen
Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation
Kerstin Thummes · Anna Dudenhausen · Ulrike Röttger (Hrsg.)
Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation Kommunikationswissenschaftliche Analysen zu Organisationen im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen
Hrsg. Kerstin Thummes Universität Greifswald Greifswald, Deutschland
Anna Dudenhausen Universität Münster Münster, Deutschland
Ulrike Röttger Universität Münster Münster, Deutschland
ISBN 978-3-658-35694-1 ISBN 978-3-658-35695-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Strategische Kommunikation im Spannungsfeld von Gemeinwohl und Partikularinteressen: Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Thummes, Anna Dudenhausen und Ulrike Röttger
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Perspektiven und Kritik gemeinwohlorientierter Ansätze der strategischen Kommunikation Gemeinwohlorientierung und Public Relations: Mär oder mehr?: Grundlagen, fachhistorische Rekonstruktion und Bewertung . . . . . . . . . Peter Szyszka Verwirklichungschancen als zentrale Referenz der Verwaltungs-PR: Impulse des Capability-Ansatzes für eine Neuausrichtung der strategischen Kommunikation öffentlicher Verwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Röttger Gemeinwohl kraft Vielstimmigkeit: Zur differenzorientierten Revision des Polyphonieansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Raaz Meinwohl = Deinwohl = Gemeinwohl?: Potenziale und Grenzen von Public-Value-Ansätzen für die Konzeption und Untersuchung strategischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadja Enke und Cornelia Wolf
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Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation: Dekonstruktion eines Oxymorons in drei Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadja Enke, Melanie Malczok, Lisa Dühring und Nils S. Borchers
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Partikularinteresse gegen Gemeinwohl: Identifikation und Wahrnehmung von Interessen- und Wertkonflikten Public Relations zwischen partikularen Interessen und Gemeinwohl: Was uns PR-Fehler verraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anke Oßwald Wertkonflikte bei der Anwendung von Big Data in der PR: Ethische Entscheidungsfindung von Kommunikator*innen am Beispiel von NGOs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Dudenhausen und Christian Wiencierz Content Marketing - Kommunikationspraxis mit inhärentem Rollen- und Interessenkonflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Seiffert-Brockmann, Sabine Einwiller, Neda Ninova-Solovykh und Wolfgang Weitzl Moralische Perspektiven von Rezipient:innen auf Wert- und Interessenkonflikte beim Einsatz künstlicher Intelligenz in der strategischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Timo Lenk und Kerstin Thummes
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Werthaltungen und Verantwortungsübernahme: Umgangsformen mit Interessen- und Wertkonflikten Der Wertekompass von PR-Berater*innen in ethischen Konflikten: Eine explorative Q-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swaran Sandhu und Anna-Lena Hildebrand
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Die unsichtbaren Geldverteiler*innen: Zur Verantwortung[slosigkeit] von Mediaplaner*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Dieter Altmeppen und Corinna Lauerer
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Gemeinwohl verkaufen? Zur strategischen Verbindung von Weltverbessertum und Unternehmertum durch globale Digitalunternehmen: Ein Vergleich zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mark Eisenegger, Lisa Schwaiger, Daniel Vogler und Linards Udris
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Inhaltsverzeichnis
Harmonie bewahren oder Konflikte austragen?: Zur öffentlichen Wahrnehmung dialogischer PR zwischen Win-Win-Logik und Agonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Thummes und Peter Winkler Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Strategische Kommunikation im Spannungsfeld von Gemeinwohl und Partikularinteressen Eine Einleitung Kerstin Thummes, Anna Dudenhausen und Ulrike Röttger Zusammenfassung
Der Einleitungsbeitrag zum Sammelband „Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation. Kommunikationswissenschaftliche Analysen zu Organisationen im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen“ diskutiert das Verhältnis von Organisationsinteresse und Gemeinwohl, seine Ausprägung in der gegenwärtigen Gesellschaft und seinen Niederschlag in der Forschung zur strategischen Kommunikation. Schlüsselwörter
Gemeinwohl • Corporate Social Responsibility • PR-Ethik • Verantwortung Strategische Kommunikation
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K. Thummes (B) Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Dudenhausen · U. Röttger Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] U. Röttger E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_1
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Zum Verhältnis von Organisationsinteresse und Gemeinwohl: Ausgangspunkte des Bandes
Wie weit dürfen Organisationen sich in ihrer Kommunikation über gesellschaftliche Erwartungen oder Interessen anderer hinwegsetzen, um ihre Ziele zu erreichen? Haben beispielsweise Kommunikationsverantwortliche eine Verpflichtung, Mitarbeitende und externe Öffentlichkeiten zu informieren und in organisationale Entscheidungsprozesse einzubeziehen, auch wenn damit Risiken für die Organisation einhergehen? Sollen Kommunikationsabteilungen primär Sprachrohr für die Organisation sein oder vor allem deren Anspruchsgruppen eine Stimme geben? Und wenn Anspruchsgruppen unterschiedliche Erwartungen stellen, ist es dann Aufgabe der PR zu vermitteln oder darf sie beispielsweise besonders kritische Gruppen ignorieren? Diese Fragen verdeutlichen, dass in vielen Wert- und Interessenkonflikten der strategischen Kommunikation Kommunikationsziele und gesellschaftliche Interessen einander entgegenstehen oder zumindest nicht ohne Weiteres vereinbar sind. Wenn man einem Verständnis von strategischer Kommunikation als Organisationsfunktion folgt, führen solche Konflikte auf die grundlegende Problemstellung des Verhältnisses von Organisationsinteresse und Gemeinwohl zurück. Zur Einordnung der Ziele und Beiträge dieses Bandes ist es daher zunächst von Interesse, dieses Verhältnis, seine Ausprägung in der gegenwärtigen Gesellschaft und seinen Niederschlag in der Forschung zur strategischen Kommunikation näher zu betrachten. Jede Organisation verfolgt spezifische Ziele und dient damit einem spezifischen organisationseigenen Interesse, durch das sie sich aus der Vielzahl bestehender Interessen in ihrem Umfeld abhebt (Kieser und Walgenbach 2010, S. 6). Dieses Einzelinteresse der Organisation repräsentiert entweder ein gemeinsames Interesse der Mitglieder der Organisation, wie im Fall basisdemokratischer Parteien, Vereine, Genossenschaften oder Interessenverbände, oder primär das Interesse des Trägers bzw. der Leitung der Organisation, wie zumeist bei öffentlichen, religiösen oder privatwirtschaftlichen Organisationen (Kieser und Walgenbach 2010, S. 8). Inwiefern in solchen Organisationen Träger- und Mitgliederinteressen zur Deckung gebracht werden, hängt von organisationsinternen Partizipations- und Entscheidungsstrukturen ab (Hatch 2018, S. 110), aber auch von weniger formalen Aspekten wie Organisationskultur und Führungsstil. Zugleich ist jede Organisation in komplexe Umweltbeziehungen eingebunden, sodass die Verfolgung ihrer eignen Interessen stets von verschiedensten Einzelinteressen anderer Akteure flankiert wird, die sich in Erwartungen etwa zur Erfüllung bestimmter Leistungen oder politischer sowie zivilgesellschaftlicher Forderungen artikulieren (Hatch 2018, S. 67 ff.; Röttger et al. 2018, S. 97 ff.).
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Das gemeinschaftliche Interesse aller Akteure innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds, in dem eine Organisation agiert, kann als Gemeinwohl verstanden werden (hierzu auch: Szyszka 2022). Einzelinteressen werden in der Regel erst dann als Partikularinteresse bezeichnet, wenn sie dem eigenen Interesse Vorrang vor dem gemeinsamen Interesse innerhalb einer Gruppe oder dem Gemeinwohl auf gesellschaftlicher Ebene geben (Becker et al. 2021, S. 278). Im Fall von Organisationen ist dies in dreifacher Hinsicht relevant: 1) Das Organisationsinteresse kann dem Gemeinwohl übergeordnet werden, 2) das Trägerinteresse kann dem Interesse der Mitglieder übergeordnet werden und 3) aus der Umwelt können Forderungen an die Organisation gerichtet werden, die dem organisationseigenen Interesse Vorrang vor dem Gemeinwohl geben. Wann aufseiten einer Organisation ein Partikularinteresse besteht oder inwiefern eine Organisation Partikularinteressen in ihrem Umfeld bedient, ist Gegenstand kommunikativer Zuschreibungsprozesse, d. h. es handelt sich um beobachterabhängige Wertungen, die beispielsweise in öffentlichen Debatten von Journalist*innen, Politiker*innen oder anderen Akteuren artikuliert werden. Die Bestimmung wird dadurch erschwert, dass sowohl umstritten ist, wie das Gemeinwohl ermittelt werden kann, als auch, was darunter im konkreten Fall zu verstehen ist. Zudem kann das jeweilige Organisationsinteresse als subjektives bzw. internes Konstrukt von außen nicht zweifelsfrei erfasst werden. Der Umstand, dass Organisationen per Definition ein Einzelinteresse verfolgen, stellt an sich noch keine hinreichende Begründung für dessen Einstufung als partikular dar. Zum einen kann eine Organisation für die eigenen Interessen eintreten, ohne dabei notwendigerweise andere Interessen als nachrangig zu behandeln. Zum anderen ist das Einzelinteresse einer Organisation oft eng mit gemeinschaftlichen Interessen verbunden, weil Organisationen nicht nur auf die Unterstützung externer Akteure und der eigenen Mitglieder angewiesen sind, sondern zudem als Teil der Gesellschaft auch ein Teilinteresse innerhalb des Gemeinwohls repräsentieren. Einzelinteressen und gemeinsame Interessen sind somit derart miteinander verschränkt, dass sie sich keineswegs per se entgegenstehen. Eine pauschale Zuweisung von Gemeinwohlorientierung oder Partikularinteresse nach Organisationstyp ist nicht möglich. Eine besonders enge Verbindung zwischen Organisationsinteresse und Gemeinwohl zeigt sich jedoch bei gemeinnützigen und öffentlichen Organisationen, die unmittelbar auf die Umsetzung spezifischer gesellschaftlicher Ziele ausgerichtet sind, etwa Bildung, Kulturförderung oder Umweltschutz (Frantz und Martens 2006, S. 24; siehe auch: Röttger 2022). Dabei gehen das Einzelinteresse der Organisation und das gemeinsame Interesse der Gesellschaft weitgehend einher. Parteien und Interessenverbände
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vertreten zwar auf der einen Seite Einzelinteressen spezifischer gesellschaftlicher Gruppen, auf der anderen Seite tragen sie in demokratisch-pluralistischen Gemeinwesen gerade durch die Vertretung ihrer Einzelinteressen zur Bildung gemeinschaftlicher Interessen bei (Alemann und Eckert 2006, S. 3; Donges und Jarren 2017, S. 112). Einzelinteresse und gemeinsames Interesse sind somit bei diesen Organisationen nicht deckungsgleich, ihre Tätigkeit an sich erfüllt jedoch ein gesellschaftliches Interesse. Wenn sie ihr Einzelinteresse allerdings grundsätzlich als prioritär gegenüber dem Wohl anderer gesellschaftlicher Gruppen bewerten, nehmen sie eine partikularistische Haltung ein (Becker et al. 2021, S. 278). Wirtschaftliche Organisationen leisten durch ihre Teilnahme am Wettbewerb einen Beitrag zur Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in der Gesellschaft und sind damit grundsätzlich an der Erfüllung gemeinwohlorientierter Aufgaben beteiligt (Kiefer und Steininger 2014, S. 105). Je nach Organisationsform und Zielsetzung unterscheidet sich das Ausmaß ihrer Gemeinwohlorientierung allerdings (siehe auch: Enke et al. 2022). Genossenschaften oder am Konzept der Gemeinwohlökonomie orientierte Unternehmen etwa erfüllen ein gemeinschaftliches Interesse, indem sie ihr Einzelinteresse umsetzen (Felber 2012; Hatch 2018, S. 286). Unternehmen, die den Gewinninteressen der Eigentümer*innen Vorrang vor Mitarbeitendeninteressen und gemeinwohlorientierten Zielen geben, treten hingegen für ein Partikularinteresse ein. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der zum Partikularismus tendierenden Strukturen von Unternehmen gibt es jedoch seit jeher Bemühungen, Unternehmensinteressen, Mitarbeitendeninteressen und Gemeinwohl in Einklang zu bringen, etwa durch Verfahren der betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung (Frega 2020) oder durch die unternehmerische Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung (Thummes 2019). In der klassischen Vorstellung des Privatmanns als mündiger Bürger, der öffentliche Aufgaben wahrnimmt, und im Ideal des ehrbaren Kaufmanns spiegelt sich die Vorstellung wider, dass mit dem Eigentum und der Verfügungsgewalt über Ressourcen eine Verantwortung für die Gemeinschaft einhergeht (Lütge 2017). Entsprechend sieht das deutsche Grundgesetz vor, dass der Gebrauch des Eigentums dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll (GG Art. 14). Auch Organisationen, die durch ihre Struktur primär den Trägerinteressen verpflichtet sind, können dieses Einzelinteresse also so ausgestalten, dass es zugleich dem Gemeinwohl dient. Partikularistisch erscheinen solche Konstellationen erst, wenn im Vollzug des Einzelinteresses gemeinsame Interessen übergegangen oder verletzt werden.
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In gegenwärtigen westlichen Gesellschaften lässt sich infolge der parallellaufenden Einwicklungen einer zunehmenden Individualisierung und einer Liberalisierung bzw. Deregulierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems (Reckwitz 2018, 2020) beobachten, dass Einzelinteressen ein deutlicher Vorrang vor Gemeinwohlinteressen eingeräumt wird. Dies zeigt sich beispielsweise in der Erosion von Mechanismen einer sozialstaatlich geprägten Marktwirtschaft (Reckwitz 2020), im starken Einfluss von wirtschaftlichen Interessen auf politische Entscheidungen (Miller und Harkins 2010; Öffner 2015) und im Wandel der Rechtsprechung zugunsten des Schutzes von Eigentumsrechten (Pistor 2020). Durch die fortschreitende Ökonomisierung ursprünglich nicht-ökonomischer gesellschaftlicher Bereiche geraten auch politische und soziale Organisationen in Abhängigkeit von wirtschaftlichen Akteuren, zum Beispiel durch Großspenden, und setzen sich so dem Vorwurf aus, im partikularen Interesse wirtschaftlicher Akteure zu agieren (Dutta 2017). Auf individueller Ebene verliert die Einbindung in soziale Gemeinschaften an Relevanz gegenüber der Realisierung persönlicher Freiheiten durch individuelles Erfolgs- und Leistungsstreben (Reckwitz 2018; Sandel 2020). Dies spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass gruppenbezogene moralische Haltungen, wie Loyalität und Respekt, in westlichen und wohlhabenden Gesellschaften weniger ausgeprägt sind als individuelle Werte wie Gerechtigkeit und der Schutz vor persönlicher Schädigung (Graham et al. 2013). Entsprechend verlieren zivilgesellschaftliche Organisationen, wie Sport- und Kulturvereine, aber auch Religionsgemeinschaften in Deutschland seit einigen Jahren tendenziell Mitglieder, während das Engagement für individuelle Initiativen zunimmt (Frerk 2021; Krimmer 2019). Jenseits dieser Individualisierung gemeinwohlorientierten Engagements, bestärken medienwirksame Skandale infolge der Aufdeckung persönlicher Bereicherung durch Mitglieder politischer und sozialer Organisationen, wie beispielsweise der Unicef-Spendenskandal im Jahr 2008 oder die Vermittlung von lukrativen Aufträgen für Corona-Schutzmasken durch Bundestagsabgeordnete im Jahr 2021, den Eindruck einer Ausweitung partikularer Interessenverfolgung. Zugleich macht der Zuspruch für soziale Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter deutlich, dass das ein gemeinwohlorientierter Umgang mit gesellschaftlichen Problemen für viele Bürger*innen eine wichtige Rolle spielt. Lassen sich also auf der einen Seite Bestrebungen erkennen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, mündet die zuerst aufgezeigte Gegentendenz auf der anderen Seite in der Gefahr, dass Gemeinwohlorientierung als Bürde wahrgenommen wird, die leistungsstarke Akteure daran hindert, ihre Freiheitsrechte uneingeschränkt auszuüben. Gruppeninteressen und gesellschaftliche Interessen
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können dann fälscherweise als Ziele erscheinen, die mit der Verfolgung von Einzelinteresse per se in Konflikt stehen und deren Realisierung persönliche Abstriche erfordert, ohne einen erkennbaren Mehrwert zu bieten. Womöglich auch vor dem Hintergrund dieser trügerischen Logik hat das Ausmaß sozialer Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten in westlichen Industrienationen deutlich zugenommen (Piketty 2016), sodass sich das Wohl weniger Vermögender tatsächlich vom Wohl der Allgemeinheit entkoppelt hat. Angesichts akuter Verteilungsfragen, wie sie z. B. der Klimawandel und die drohende Ressourcenknappheit aufwerfen, treten diese Ungleichheit und die damit verbundene Kluft zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl besonders deutlich zu Tage (Honneth 2021; Latour 2018). Zugleich zeigen die gegenwärtigen Krisen, dass eine hohe Abhängigkeit zwischen der Realisierung aller Einzelinteressen besteht und wecken damit Hoffnungen auf einen Zuwachs an Gemeinwohlorientierung, wie im Fall der Wahrnehmung einer neuen Solidarität und eines Zusammenhalts zu Beginn der Corona-Pandemie. Letztlich scheint jedoch das durch Individualisierung und Ökonomisierung getriebene Konkurrenzdenken ein Gegeneinander von Einzelinteresse und Gemeinwohl zu befördern (Honneth 2021). Dies lässt sich in ähnlicher Form auch in der, wenn auch vollkommen anders gelagerten, Entwicklung des Internets beobachten. Die darauf aufbauenden Kommunikationsräume wurden zunächst mit demokratischen Idealen und dem Wunsch nach gesellschaftlichem Austausch betrieben und haben durchaus diverse neue Partizipationsmöglichkeiten geschaffen (Bennett und Segerberg 2012; Neuberger 2014). Dennoch wurden sie zunehmend durch ökonomische Interessen vereinnahmt, sodass sie gegenwärtig mit der Gefahr eines durch Plattformbetreiber*innen getriebenen Überwachungskapitalismus assoziiert werden (Zuboff 2019). Auch hier wird den Geschäftsinteressen Einzelner tendenziell ein Vorrang vor gemeinwohlorientierten Zielen, wie Bildung und Meinungsaustausch, eingeräumt. Damit stellt sich unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht ohne Grund die Frage, inwiefern Gemeinwohlziele überhaupt im Dienst wirtschaftlicher Einzelinteressen realisiert und mit diesen vereinbart werden können. Die stark kondensierte Gegenwartsdiagnose erklärt, warum dieser Band Fragen der Gemeinwohlorientierung von Organisationen mit dem Thema Wert- und Interessenkonflikte zusammenführt. Der Eindruck, dass Gemeinwohl und Einzelinteresse sich entgegenstehen, findet sich auch in der laufenden Forschung zur strategischen Kommunikation wieder. So steht hinter Ansätzen der CSRKommunikation, des Dialogs, der Corporate Governance, des Stakeholder Engagements, der PR-Ethik und der Polyphonie, das Bemühen widersprüchliche organisationale und gesellschaftliche Interessen zusammenzuführen; und ein Scheitern
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dieser Zusammenführung, etwa aufgrund von Green- und Whitewashing (Seele und Gatti 2017), fehlender Dialogbereitschaft (Illia et al. 2017), Manipulation (Thummes 2013) und einstimmiger, einseitiger Kommunikation (Christensen und Langer 2009), möglichst zu verhindern. Das Interesse, dieses Spannungsfeld zu beleuchten, gab den Anlass für die Beschäftigung mit Wertkonflikten und Gemeinwohlorientierung auf der im November 2019 in Münster ausgerichteten Jahrestagung der DGPuK-Fachgruppe PR/Organisationskommunikation. Der Band knüpft an die Leitidee, Beiträge und Debatten der Tagung an, möchte aber nicht in der Perspektive der Gegensätzlichkeit verhaftet bleiben. Denn durch die beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen erhöht sich zugleich der Druck auf Organisationen, die im Partikularinteresse agieren, Gemeinwohlinteressen gerecht zu werden. Deswegen adressiert der Band einerseits gegenwärtige Konflikte der strategischen Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl und diskutiert andererseits auch Möglichkeiten der Verbindung von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen durch strategische Kommunikation.
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Perspektiven der Gemeinwohlorientierung in der strategischen Kommunikation: der Forschungsstand
Wenn eine Organisation ihr Einzelinteresse mit gemeinschaftlichen Interessen verbinden möchte oder Organisationsinteressen, Mitarbeitendeninteressen und Gemeinwohl im Konflikt stehen, kommt der strategischen Kommunikation eine Vermittlerrolle zu. Kommunikationsverantwortliche entscheiden in dieser Rolle mit darüber, wie und in welchem Umfang welche Einzel- und Partikularinteressen in die öffentliche und interne Aushandlung der Wert- und Zielorientierung einer Organisation einfließen und inwiefern gemeinwohlorientierte Werte und Interessen dabei Berücksichtigung finden. Dazu, wie dieser Prozesse gestaltet werden kann, liegen im Forschungsfeld strategische Kommunikation diverse Ansätze vor. Sie lassen sich danach unterscheiden, in welches Verhältnis sie Einzelinteresse und Gemeinwohlorientierung setzen. Auf der einen Seite stehen Ansätze, die Einzelinteresse und Gemeinwohlorientierung als separate Zielsetzungen betrachten und damit einer Entwederoder-Logik folgen. Wenn beide Ziele verfolgt werden sollen, ist aus dieser Sicht eine Priorisierung erforderlich. Entweder werden Einzelinteressen dem Gemeinwohl übergeordnet oder umgekehrt. In der deutschsprachigen PR-Forschung liegt mit dem gesellschaftsorientierten Ansatz von Ronneberger und Rühl (1992) ein Vorschlag vor, wie strategische Kommunikation modelliert werden kann,
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die an erster Stelle dem gesellschaftlichen Interesse der Bereitstellung von Themen im öffentlichen Diskurs dient. Auch manche postmodern inspirierten Ansätze betrachten PR als eine Funktion, die in erster Linie der Artikulation verschiedener, im Zweifel auch gegen die auftraggebende Organisation gerichteter Interessen in gesellschaftlichen Diskursen dienen sollte (Holtzhausen 2012). Ansätze, die dem Organisationsinteresse Vorrang vor einer Gemeinwohlorientierung geben, argumentieren hingegen aus einer organisationsbezogenen und managementorientierten Sicht (Mast 2020; Zerfaß 2010). Die Verfolgung gemeinwohlorientierter Ziele durch strategische Kommunikation ist dabei solange vorgesehen, wie diese durch die Legitimation der Organisation in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zur übergeordneten Zielerreichung beiträgt, i. d. R. der Wertschöpfung des Unternehmens. Ähnlich argumentieren auch Grunig und Kolleg*innen (1996) in ihrem Win–Win-Modell der zweiseitigen Kommunikation. Organisationsinteresse und Gemeinwohlorientierung gehen dabei nicht Hand in Hand, sondern zwischen den zunächst unterschiedlichen Interessen muss eine Schnittmenge ausgemacht werden, innerhalb derer das Gemeinwohl dem Einzelinteresse untergeordnet werden kann. Gemeinwohlorientierung wird damit nicht als notwendiger Teil der Kernaktivität einer Organisation konzipiert, sondern als zusätzlicher unterstützender Prozess. In diese Gruppe fallen auch instrumentelle Ansätze der CSR-Kommunikation (zur Übersicht: Scherer und Palazzo 2011), die Gemeinwohlorientierung primär als Wettbewerbsvorteil verstehen. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die Einzelinteresse und Gemeinwohlorientierung als komplementäre Zielsetzungen betrachten und damit einer Sowohl-als-auch-Logik folgen. Demnach verfolgen Organisationen gemeinwohlorientierte Ziele, indem sie ihr Einzelinteresse umsetzen. Beide Ansprüche werden zugleich erfüllt und nicht gegeneinander ausgespielt. Viele Ansätze der PR-Ethik argumentieren in dieser Art, ohne jedoch Umsetzungsmöglichkeiten zu skizzieren und Probleme der Vereinbarkeit beider Zielsetzungen zu vertiefen (Bentele 2015; Bowen 2010; Fitzpatrick und Gauthier 2001). Ebenso lassen Modelle dialogischer PR, die religions- und diskursphilosophische Dialogbegriffe adaptieren (Burkart 2015; Heath 2001; Kent und Taylor 2002), das Verhältnis von strategischen Kommunikationszielen und ergebnisoffener Gemeinwohlorientierung ungeklärt. Eine Möglichkeit, Einzelinteresse und Gemeinwohlorientierung kommunikativ glaubhaft in Einklang zu bringen, zeigen CSR-Modelle auf, die in der Tradition des ehrbaren Kaufmanns darauf abzielen, dass Unternehmen in ihrem Kerngeschäft verantwortungsvoll agieren und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen (Scherer und Palazzo 2011). Weitere Orientierung bieten Ansätze, die gemeinwohlorientierte Zielsetzungen auf der gleichen Ebene wie das
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Organisationsinteresse verorten, wie etwa der mit dem Konzept der Gemeinwohlökonomie kompatible Ansatz des Beziehungskapitals (Szyszka 2017). Alternative Perspektiven auf die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher Interessen in der strategischen Kommunikation eröffnen pluralistische Modelle, die in der Übertragung von Konzepten wie Polyphonie oder Agonismus auf PR eine Möglichkeit sehen, Einzelinteressen und Gemeinwohlorientierung zu verbinden (Christensen et al. 2015; Davidson 2016; Winkler und Thummes 2020; siehe auch: Raaz 2022). Der vorliegende Band möchte an beiden Perspektiven anknüpfen, um verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, wie in der strategischen Kommunikation Organisations- und Gemeinwohlinteressen als Entweder-oder- oder Sowohl-alsauch-Modell verfolgt werden können. Konflikte, die dabei auftreten können, sollen ebenfalls beleuchtet werden, um Fallstricke einer Gemeinwohlorientierung systematisch zu erfassen und mögliche Umgangsformen aufzuzeigen. Auch kritische Perspektiven darauf, in welchen Konstellationen strategischer Kommunikation eine Gemeinwohlorientierung potenziell unterlaufen wird oder grundsätzlich zu hinterfragen ist, sollen berücksichtigt werden.
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Gemeinwohlorientierte Ansätze, Konflikttypen und Umgangsformen: die Beiträge des Bandes
Die Beiträge des Bandes präsentieren Modelle, Analysen und Befunde dazu, wie strategische Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl verortet und gestaltet werden kann. Im ersten Teil stehen theoretische Konzeptionen einer Gemeinwohlorientierung strategischer Kommunikation und deren kritische Reflexion im Vordergrund. Die Autor*innen legen unterschiedliche Verständnisse von Gemeinwohl im Kontext der strategischen Kommunikation und Entwürfe dazu vor, ob und wie eine strategische Kommunikation modelliert und praktiziert werden kann, die systematisch neben Einzelinteressen auch oder vornehmlich Gemeinwohlinteressen bedient. Peter Szyszka zeichnet in seinem Beitrag nach, welche Rolle eine Gemeinwohlorientierung in der PR-Fachgeschichte und -Praxis gespielt hat und diskutiert, wie sie heute realisiert werden könnte. Ulrike Röttger skizziert, wie eine gemeinwohlorientierte Verwaltungs-PR modelliert werden kann, die sich am wohlfahrtsökonomischen Befähigungsansatz (engl. Capability Approach) orientiert. Oliver Raaz zeigt unter Rückbezug auf eine konstruktivistisch-differenzorientierte Perspektive und die agonistische Demokratietheorie auf, in welchen Grenzen Polyphonie als Kommunikationskonzept umgesetzt werden kann und welche Möglichkeiten einer Gemeinwohlorientierung sich daraus ergeben. Nadja Enke und Cornelia Wolf
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prüfen, welche Schlüsse sich aus dem Public Value Konzept für eine gemeinwohlorientierte Gestaltung strategischer Kommunikation ziehen lassen. Während diese ersten vier Beiträge aus ihrer je eigenen Perspektive Potenziale für eine Gemeinwohlorientierung der strategischen Kommunikation identifizieren, stellen Nadja Enke, Melanie Malczok, Lisa Dühring und Nils Borchers einen primären Gemeinwohlanspruch aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit strategischen Zielen der Kommunikation in Frage. Der zweite Teil des Bandes knüpft insofern am kritischen Schluss des ersten Teils an, als dass nun Konflikte im Zusammenspiel von Organisationsinteressen, Einzelinteressen anderer Akteure und gemeinsamen Interessen in den Fokus rücken. Die Autor*innen analysieren, welche Konflikte auftreten, wie sie in unterschiedlichen Anspruchsgruppen wahrgenommen werden und systematisch erfasst werden können. Anke Oßwald nähert sich Wert- und Interessenkonflikten durch die Analyse von PR-Fehlern und deren Zuschreibung und Darstellung in der medialen Berichterstattung. Anna Dudenhausen und Christian Wiencierz nehmen Wertkonflikte in den Blick, die im Kontext von Big Data Analysen für Kommunikationszwecke bei NGOs auftreten können und entwickeln eine Systematik zur Identifikation solcher Konflikte. Auch Jens Seiffert-Brockmann, Sabine Einwiller, Neda Ninova-Solovykh und Wolfgang Weitzl legen eine Systematisierung von Konflikten vor – dies bezogen auf das Feld des Content Marketings und die dort beobachtbaren Widersprüche zwischen unterschiedlichen Rollenerwartungen. Timo Lenk und Kerstin Thummes präsentieren Ergebnisse einer vignettenbasierten Studie, in der die Wahrnehmung von Wertkonflikten beim Einsatz künstlicher Intelligenz in der strategischen Kommunikation anhand von Gruppendiskussionen mit Rezipient*innen untersucht wurde. Die vier Beiträge des zweiten Teils verdeutlichen, dass in der strategischen Kommunikation eine Vielzahl von Wert- und Interessenkonflikten auftreten können, die sich aus der Vermittlerrolle zwischen Organisationsinteresse und Gemeinwohlorientierung ergeben. Während die Beiträge des ersten Teils gemeinwohlorientierte normative Ansätze für einen möglichen Umgang mit Wert- und Interessenkonflikten aufzeigen, nehmen die Beiträge des dritten Teils die praktische Seite des Umgangs mit Konflikten in den Blick. Die Autor*innen untersuchen, wie Organisationen und Kommunikationsverantwortliche in konkreten Anwendungsfeldern mit möglichen Konflikten zwischen Organisationsinteresse und Gemeinwohlorientierung umgehen (können) und welche Wirkungen sie damit erzielen. Swaran Sandhu und Anna-Lena Hildebrand zeigen auf Grundlage einer als Q-Studie durchgeführten Befragung auf, welche Werthaltungen PR-Berater*innen in Konflikten zwischen persönlichen Moralvorstellungen, den Anforderungen ihrer Agentur als Arbeitgeber und ihrer Kunden als Auftraggeber einnehmen.
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Klaus-Dieter Altmeppen und Corinna Lauerer analysieren und diskutieren das fehlende Verantwortungsbewusstsein von Mediaplaner*innen, die an der Schnittstelle zwischen strategischer Kommunikation und Journalismus, eine zentrale Rolle bei der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für die Finanzierung einer demokratisch-pluralistischen Berichterstattung durch Werbetreibende einnehmen. Mark Eisenegger, Lisa Schwaiger, Daniel Vogler und Linards Udris stellen empirische Ergebnisse dazu vor, wie Digitalkonzerne, wie Google und Facebook, ihre Gemeinwohlorientierung präsentieren und wie diese im Kontrast dazu in der medialen Berichterstattung dargestellt wird. Kerstin Thummes und Peter Winkler diskutieren anhand der Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung zur Wahrnehmung dialogischer und agonistischer Umgangsformen mit Interessenkonflikten durch Unternehmen, Möglichkeiten und Grenzen einer agonistischen PR-Praxis und Herausforderungen der diesbezüglichen empirischen Forschung. Diese drei Beiträge vereint die Erkenntnis, dass einer Gemeinwohlorientierung insbesondere in der strategischen Kommunikation für Unternehmen gegenwärtig einige Hindernisse im Wege stehen, sowohl bezüglich der Bereitschaft ökonomischer Akteure gesellschaftliche Verantwortung im Kerngeschäft zu übernehmen als auch bezüglich der konkreten Umsetzung einer gemeinwohlorientierten Kommunikation. Insgesamt vereint der Band erste Ideen und Ansätze dazu, wie und in welchen Grenzen eine gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation realisierbar ist. Er soll einen Anstoß dazu geben, die Kategorie des Gemeinwohls wieder stärker in Theorie und Praxis der strategischen Kommunikation mitzudenken. Auf diesem Weg eröffnen sich für zukünftige Forschungen zur strategischen Kommunikation diverse weitere Anknüpfungspunkte. So verweisen postkoloniale Ansätze auf die Notwendigkeit marginalisierte Interessen durch strategische Kommunikation zu fördern (Dutta 2017; Munshi und Kurian 2015). Kritische Forscher*innen verdeutlichen das Potenzial alternativer Organisationsformen, wie Genossenschaften, und regen dazu an, die Rahmenbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems und dessen Folgen für strategische Kommunikation zu hinterfragen (Cronin 2018; Edwards 2018; Elsen 2012). Schließlich offenbart der Diskurs über Möglichkeiten der Demokratisierung von Unternehmen, Forschungspotenziale bezüglich der Ausgestaltung einer gemeinwohlorientierten internen Kommunikation (Ferreras 2017; Frega et al. 2019; Frega 2020). Angesichts der anhaltenden Aktualität des Themas hoffen wir, dass dieser Band in der ein oder anderen Form eine Fortsetzung finden wird.
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Perspektiven und Kritik gemeinwohlorientierter Ansätze der strategischen Kommunikation
Gemeinwohlorientierung und Public Relations: Mär oder mehr? Grundlagen, fachhistorische Rekonstruktion und Bewertung Peter Szyszka Zusammenfassung
Das Thema „Gemeinwohl“ begleitet die Auseinandersetzung mit Public Relations im deutschsprachigen Raum seit deren Anfängen in den frühen 1950erJahren, derweil sich die Akzentuierung im Zeitverlauf deutlich verschoben hat. In der Nachkriegszeit wurden Gemeinwohlanforderungen wie selbstverständlich mit PR-Arbeit verknüpft, um sich danach in Selbstbeschreibungen, Positionierungen und Legitimation des aufstrebenden Berufsstandes zu verfestigen. In der jüngeren Diskussion hat sich der Akzent deutlich verschoben: Bei Gemeinwohlbezug geht es jetzt um Rolle und Funktion von PR-Arbeit im Umgang mit Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher Verantwortung und Gemeinwohlansprüchen. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen der Diskussion untersucht der vorliegende Beitrag. Auf theoretischer Ebene wird dazu versucht, den wenig eindeutigen Gemeinwohl-Begriff in einer Arbeitsdefinition zu fassen und Gemeinwohlerwartungen in organisational-systemtheoretischer Perspektive als sozialen, zeitgenössisch geprägten Koexistenz-Faktor in Organisation|Umfeld-Beziehungen einzuordnen. In diesem Sinne ist PR-Arbeit ein Erwartungsmanagement zum Umgang mit Gemeinwohlansprüchen und erwartungen. Anhand dieser theoretischen Vorarbeiten wird anschließend der Wandel von PR-Arbeit im Umgang mit Gemeinwohl in drei Phasen untersucht und bewertet. P. Szyszka (B) Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_2
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Schlüsselwörter
Berufliches Selbstverständnis • Die Waage • Erwartungsmanagement Leistungserwartung • Nachhaltigkeit • PR-Geschichte • Gemeinwohl
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•
Gemeinwohl
Wenn heute über Nachhaltigkeit, gesellschaftliche Verantwortung und im fachlichen Kontext Stakeholder Engagement diskutiert wird, verbirgt sich dahinter nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit Fragen zum Verhältnis von Eigenwohl und Gemeinwohl. Diese haben eine lange Tradition: Sie findet sich bei Aristoteles und Cicero (Felber 2014, S. 8); in der Antike legitimierten sie Politik (Schmitt-Eger 2015, S. 265). Seit der Weimarer Verfassung kennen wir das geflügelte Wort „Eigentum verpflichtet“ (Art. 153, 3), wozu es im deutschen Grundgesetz weiter heißt: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14, 2). Als öffentliches Interesse ist es „politische Leit- und Ordnungsvorstellung“ (Offe 2002, S. 55), im Pluralismus als Verallgemeinerungsfähigkeit, Zumutbarkeit und Verteilungsgerechtigkeit „Sinngrund aller politischen Bemühungen“ (Detjen 1998, S. 277). Etymologisch geht Gemeinwohl auf das Mittelhochdeutsche das Gemeine, Zusammengehörige, Gemeinschaftliche oder Allgemeine zurück, woraus später Gemeinschaft und Gemeinde wurden (Pfeifer 1993). Vom Grundgesetz abgeleitet lässt sich Gemeinwohl als Wohl von Allgemeinheit, Gesellschaft, Gemeinde oder Gemeinschaft (Gemeininteresse) verstehen und sich von Eigenwohl (Einzelinteresse) unterscheiden; zwischen beiden kann Gruppenwohl (Gruppeninteresse) betrachtet werden, das Einzelinteressen bündelt und organisiert (Fetzer und Gerlach 1998, S. 10). Die jüngere Literatur spricht zudem vom Public Value, dem Wertbeitrag oder Nutzen einer Organisation für eine Gesellschaft (Moore 1995), als Lebensqualität oder Wertschöpfung für die Öffentlichkeit (Meynhardt 2008, S. 458). Gemeinwohl gehört zur Klasse uneindeutiger Wertbegriffe („QuasiLeerformeln“) mit der Funktion, in modernen Gesellschaften deren „Selbstbestimmungsfähigkeit“ zu konstituieren (Neidhardt 2002, S. 22 f.). Offe (2002, S. 55) hat hier die Frage angeschlossen, wessen Wohl denn das Gemeinwohl sei: „Jede Deutung des Gemeinwohles ist insoweit nur eine, die sich selbst als eine unter mehreren weiß und sich mit rivalisierenden Gemeinwohldeutungen auseinandersetzen muss.“ Und: „Konsenschancen für die Bestimmung dessen, was wir zwar ohne weiteres ‚dürfen‘, noch eindeutig ‚müssen‘, sondern eben nur
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‚sollen‘, [sind] in modernen Gesellschaften sehr begrenzt“ (S. 63 f.; Hervorh. d. Verf.). Fetzer und Gerlach (1998, S. 8) sprechen von einem „Minimalkonsens“ zwischen den Interessen und Werten aller Beteiligten. Offen bleibt dabei, auf welche Gesamtheit sich das Wohl von Gemeinschaft bezieht (Offe 2002, S. 63 f.), und worin es sich berechnet: „Prosperität und Vollbeschäftigung, Bildung und Gesundheit, interner und internationaler Frieden, […] Nachhaltigkeit der Nutzung natürlicher Ressourcen“ (S. 71). Dazu gilt „Gemeinwohl als Legitimationsprinzip von Macht“ (Meier und Blum 2019). Der im Kontext des St. Galler-Managementmodells entwickelte Public-ValueAnsatz (Meynhardt 2008) betrachtet Gemeinwohl als „eine Idee von dem, was allen gemeinsam sein soll und wodurch sich eine Gesellschaft in ihrem Wesen auszeichnet“; sie ist positiv konnotiert, liegt im Auge des Betrachters, wird von dessen Erleben des sozialen Kollektivs geprägt und bezieht sich auf Koexistenz-Bedingungen (hierzu auch: Enke und Wolf 2022).1 Den Informationsverarbeitungsprozessen zugrunde gelegt wird hier ein konsistenztheoretisches Modell psychischen Geschehens (Epstein 1990; Grosse Holtforth und Grawe 2004, S. 11), das vier Grundbedürfnisse formuliert: 1) Aufgabenerfüllung durch Stiftung von wahrnehmbarem Nutzen, 2) Zusammenhalt durch Förderung der Funktion des Gemeinwesens, 3) Lebensqualität als Ermöglichung positiver Erfahrungen und 4) Moral als anständiges Verhalten. In der Gemeinwohl-Ökonomie, der Idee einer kooperationsgeprägten ethischen Marktwirtschaft als Mittelweg zwischen konkurrenzgeprägter kapitalistischer Marktwirtschaft und Sozialismus in Form „demokratischer Neuorientierung der Wirtschaft“, ist Partizipation als „das Wohl aller Menschen und der natürlichen Mitwelt gleich wichtig“ (Felber 2014, S. 9).2 Sie „will den Werte-Widerspruch zwischen Wirtschaft und Gesellschaft auflösen“ und „die wirtschaftliche Erfolgsmessung […] von den Mitteln auf die Ziele des Wirtschaftens“ umstellen (S. 10 f.). Gemeinwohl meint hier das Wohl aller Betroffenen im Sinne von Lebensqualität. Gemeinwohlbilanzierung fragt entsprechend nach Wirkung und Nutzen für die Mitglieder einer Organisation, Wirkung und Nutzen am Markt und in der Gesellschaft.3 Gemeinwohl steht für mehr als die allgemeine Wohlfahrt eines Gemeinwesens vor dem Hintergrund konkurrierender Interessen und Werte. Über einen normativen gesellschaftlichen Anspruch (etwa: Soziale Marktwirtschaft) hinaus 1
Hier und im Weiteren zitiert nach: https://www.gemeinwohlatlas.de/de/hintergrund [Abruf: 15.10.2020]. 2 Vgl. auch: https://web.ecogood.org/de/ [Abruf: 15.10.2020]. 3 Vgl. https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/ [Abruf: 15.10.2020].
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ist Gemeinwohl bzw. Gemeinwohlorientierung auf lateraler Ebene Bezugs- und Bewertungsgröße von Haltung, Ausrichtung und Verhalten in den Beziehungen aller Akteure der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme; sie ist als Erwartungshaltung gesellschaftlich determiniert und im sozialen Umfeld verankert. Dies zeigt in der jüngeren Vergangenheit insbesondere die öffentliche Diskussion um Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung, bei der es um das Spannungsverhältnis von (ökonomischem) Eigenwohl und (mitweltlichem) Gemeinwohl als Beziehungsmerkmal des gesellschaftlichen, politischen und individuellen Lebens und Erlebens geht.
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Gemeinwohlorientierung als generalisierte soziale Erwartung
Lebensweltlich münden Gemeinwohlerwartungen in gesellschaftlichen und sozialen Normen, die Einfluss zugunsten von Lebensqualität nehmen sollen. Auf sozialer Ebene sorgen unterschiedliche Positionen in sozialen Netzwerken dafür, dass Erwartungen und Bewertungen von Gemeinwohlorientierung uneinheitlich ausfallen müssen. Gemeinwohlerwartungen bestehen dabei unabhängig davon, ob diese von der adressierten Seite eingelöst werden oder nicht. Auf Organisationen bezogen sind sie nichts anderes als ein bestimmter Typ generalisierter sozialer Erwartungen an die organisationsseitige Bereitschaft zur Übernahme sozialer Verantwortung, der sich als Beziehungsmerkmal ausdrücklich auf die Lebensqualität der Mitwelt bezieht – Felbers (2014) Begriff „Mitwelt“ ist hier semantisch präziser als Umwelt zu verstehen. Wie Verantwortung ist auch Gemeinwohl damit ein relationaler Begriff: Neben autopoietischer Selbstverantwortung für das eigene Fortbestehen wird mit Gemeinwohl die Verantwortungsbereitschaft und zu übernehmende Verantwortung in Bezug zur Mitwelt adressiert. In systemtheoretischer Perspektive liegt hier zunächst nichts anderes vor als die Einheit der Differenz strukturell gekoppelter Organisation|Umfeld-Systeme (Szyszka 2015a). Auf einzelne Bezugsgruppen (Anspruchs- wie Publikumsgruppen) heruntergebrochen lässt sich jeder dieser Gruppen aufgrund eigener Interessen und Geltungsansprüche eine zumindest variante Gemeinwohlerwartung unterstellen. Umgekehrt bedeutet dies, dass es bei Organisationen zunächst vor allem um den Grad oder die Qualität ihrer Gemeinwohlorientierung geht. Dies rückt strukturelle Kopplungen in den Blick, die mehr sind als ein symbolischer Bindestrich oder wie vorstehend eine Barre. Luhmann (2000, S. 397) hat sich in einem Werk nur am Rande mit Organisationen und hier sehr allgemein mit deren Beziehungsstrukturen beschäftigt und zu den Folgen von
Gemeinwohlorientierung und Public Relations
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struktureller Kopplung auf Meso-Ebene nur bemerkt, dass diese zwar nicht strukturdeterminierend in das System eingreifen, also mit Autopoiesis kompatibel sind, aber langfristig gesehen die im System selbst produzierten Strukturen beeinflussen. In Weiterführung von Schmidt (2012, S. 1 f.), der strukturelle Kopplungen differenztheoretisch als „spezifisches Sozialsystem“ versteht, die sich als Beziehungen zu „einem Systemzusammenhang mit einer eigenen Geschichte ausdifferenzieren“, in der jede „Episode des Interaktionszusammenhangs [..] zwischen vergangenen und zukünftigen Interaktionen vermittelt“ (Schmidt 2007, S. 522 f.), kann strukturelle Kopplung als ein eigenständiges System der Selbstbeschreibung sozialer Interdependenzen verstanden werden: Aus der schlichten Barre wird damit ein Drittes, „das auf quasi-synchroner Ebene Interaktionen des Kommunizierens zu Kommunikationen als thematischen Beziehungsepisoden verbindet, die auf diachroner Ebene autopoietisch aneinander anschließen, und zur Beziehungsgeschichte interdependenter Erfahrungen, Erwartungen, kontingenter Einschränkungen und Sinnzuweisungen verknüpfen; das soziale System Beziehung konstituiert sich aus Kommunikationen, die auf autopoietisch anschlussfähigen beziehungsbezogenen Themen und Ereignisepisoden basieren“ (Szyszka 2020, S. 20). In dieser gemeinsamen Beziehung ist auch die Gemeinwohlproblematik verankert. Beziehungen basieren auf nichts anderem als Kommunikationen, die an Kommunikationen angeschlossen haben (Vergangenheit) und fortgesetzt adäquate Anschlüsse erwarten lassen (Zukunft): In der Sachdimension ordnen sie thematisch fassbare, als zusammengehörig betrachtete Ereignisepisoden, zeitlich verknüpfen sie diese zu Beziehungsgeschichten als Sinnstrukturen, sozial werden sie mit Bedeutung entlang unterschiedlicher Interessen, Geltungsansprüche, Positionen, Referenzpunkte und Betroffenheit hinterlegt, bewertet und gehandhabt. Während die strukturelle Kopplung einer Beziehung im Zeitverlauf dieselbe bleibt, können sich Beziehungsparameter verändern (Szyszka 2020, S. 21). Beziehungen konstituieren sich im ‚Zusammenwirken‘ beider Seiten, die Entscheidungen und Kommunikation relational aufeinander beziehen. Abb. 1 zeigt, dass beide Seiten bei der Beobachtung der Beziehung immer an ihre Beobachterposition gebunden sind, und nur ein Dritter, unbefangener Beobachter die Beziehung in ihrer Abhängigkeit von den Beziehungspartnern beobachten kann (Szyszka 2020). Gemeinwohlorientierung ist in diesem Sinne ein Geltungsanspruch, der von einer Seite der anderen gegenüber erhoben, von dieser in ihrer Weise mehr oder weniger eingelöst, dessen Einlösung im Verhältnis von Anspruch bewertet und als Ereignisepisode in der Beziehung hinterlegt wird. Eine Bewertung der Übernahme|Nicht-Übernahme damit verbundener Verantwortung
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Abb. 1 Beziehung als Kopplung und Drittes
kann entsprechend aus allen drei Beobachterpositionen heraus unterschiedlich ausfallen. Der integrative Theorieansatz der Public Relations unterscheidet drei Bezugsebenen: Beziehungsnetzwerk (Public Relationships), Beziehungsmanagement (Public-Relations-Management) und Kommunikationsoperationen (PublicRelations-Aktivitäten) (Szyszka 2015a, S. 209 f.). Im Kontext von Gemeinwohl ist Beziehungsmanagement Erwartungsmanagement, das sich sowohl mit normativen gesellschaftlichen Erwartungen (Umwelt) im eingangs skizzierten Sinne, als auch mit den in konkreten Beziehungen und Beziehungsfeldern explizit artikulierten oder implizit unterstellten sozialen Erwartungen an Gemeinwohlorientierung als Geltungsanspruch (Mitwelt) im hier entwickelten Sinne funktional auseinandersetzen muss. Beide Aspekte spielen im Verlauf der PR-Entwicklung unterschiedliche Rollen.
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Public Relations und Gemeinwohl
Die PR-Forschung hat sich in der Vergangenheit nur am Rande mit Gemeinwohlfragen beschäftigt. So wird Gemeinwohl im Theorie-Entwurf von Ronneberger und Rühl (1992, S. 225 f., 252) als ein „generelles öffentliches Interesse“, das sich „durch öffentliche Äußerungen von Meinungen und durch die Abgabe von Voten legitimiert“, und als funktionaler Strukturbegriff mit hochriskantem Lösungsniveau bezeichnet, das nicht „mit dem Erreichen eines vernünftigen Konsens“ gleichzusetzen sei. Schon früher hat Ronneberger (1977, S. 21 f.) in seinem
Gemeinwohlorientierung und Public Relations
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bekannten PR-Essay auf Gemeinwohl angespielt, wenn er davon sprach, dass PR-Aktivitäten für die Geltung eigener Interessen eine möglichst große Resonanz anstreben (Eigenwohl), die dann in demokratischen Systemen aufgrund ihrer Publizität entlang von Denkgewohnheiten, sozialen und kulturellen Normen (Gemeinwohl) „geprüft, bestätigt oder gewandelt werden“. Dieser Abgleich zwischen partikularen Interessen und Gemeinwohl findet sich letztlich bis heute in zwei wesentlichen PR-Definitionen. Cutlip et al. (1985, S. 4) sprechen vom Umgang mit beiderseitig vorteilhaften Beziehungen zwischen einer Organisation und den Öffentlichkeiten. Long und Hazleton (1987, S. 6) geht es um ein notwendiges wechselseitiges aneinander Anpassen von Organisationen und Mitwelt, also ein Arrangement zwischen Eigenwohl und Gemeinwohl, um über akzeptable Koexistenz-Bedingungen und Lebensqualität zu verfügen. Historisch betrachtet ist die Auseinandersetzung mit Gemeinwohl im PRKontext lange aber einen ganz anderen Weg gegangen. Dazu werden im Folgenden in einem vereinfachten Zugriff auf die PR-Berufsfeldgeschichte seit der Nachkriegszeit (Szyszka 2015b) drei Abschnitte unterschieden: die 1950er/1960er-Jahre mit dem beginnendem Fachdiskurs und einer das Branchenbewusstsein nachhaltig prägenden Kommunikationskampagne, die 1970er-/1980er-Jahre, in denen PR-Arbeit organisational an Bedeutung gewinnt, das standespolitische Branchenverständnis aber noch rückwärtsgewandt ist, und die jüngere Entwicklung, in der anstelle von Gemeinwohl- von Nachhaltigkeitsbewusstsein die Rede ist.
3.1 1950er-/1960er-Jahre Für die beiden ersten Jahrzehnte müssen im Kontext von Public Relations und Gemeinwohl in Deutschland zwei zeitgeschichtlich geprägte Entwicklungen unterschieden werden: • Der beginnende Fachdiskurs verfolgte das Ziel, PR-Arbeit begrifflich und inhaltlich eigenständig zu verorten, wobei vor allem auf Arbeiten des damaligen US-amerikanischen Leitautors Bernays zurückgegriffen und dessen Idee eines „Engineering of Consent“ (1947) als gemeinwohlorientierter Konsens interpretiert wurde. • Die Kommunikationskampagne Die W aage zu Akzeptanz und Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft, die eine Gemeinwohlausrichtung suggeriert, wurde zur Grundlage für ein entsprechendes standespolitisches Ideologem, das sich in der Folgezeit im Branchenverständnis niederschlug.
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3.1.1 Das deutsche „Engineering of Consent“ Die Geschichte ist bekannt: In den frühen 1950er-Jahren wurde um Begriff und Funktion eines deutschen Verständnisses von PR-Arbeit gerungen (Kunczik und Szyszka 2015, S. 128 ff.). Der seinerzeit bekannte Wirtschaftspublizist Gross (1951, S. 22) sprach von Meinungspflege, worunter er „die Summe derjenigen Maßnahmen und Verhaltensweisen der Unternehmer, welche in der Öffentlichkeit das Bewusstsein einer allgemeinen Interessenidentität mit der Marktwirtschaft erzeugen“ verstanden wissen wollte. Er betrachtete Unternehmen und Unternehmer als „Sachwalter öffentlicher Interessen“ (S. 30) – heute würde man von ausgeprägter Gemeinwohlorientierung sprechen. Hundhausen (1951, S. 165), bald Leitautor der aufkeimenden PR-Fachdiskussion, schloss seine erste PRMonografie in diesem Sinne mit einem Krupp-Zitat: „Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein.“ Hundhausen (S. 157) betrachtete Public Relations ganzheitlich als Werbung um öffentliches Vertrauen (im Sinne von sich um etwas bemühen) und meinte damit ausdrücklich Haltung und Verhalten einschließlich Kommunikationsarbeit eines Unternehmens als „Unternehmungspersönlichkeit“. Er zitierte zwei US-amerikanische Autoren mit der Bemerkung, „Public Relations ist die Vereinigung (union) von Publizität und sozialer Verantwortung“ (Wright und Christian 1949, S. 40), rückte vertrauenswürdiges Verhalten und Vertrauenswürdigkeit in den Vordergrund und stellte fest: „Public Relations ist zu 90 % richtiges Handeln und nur zu 10 % ‚darüber reden‘“ (Hundhausen 1951, S. 20). Gemeinwohlorientierung kam in Hundhausens Ansatz darin zum Ausdruck, dass er Organisationen als „soziale Gebilde von Menschen unter Menschen“ betrachtete: „Unternehmungen sind Lebewesen, Persönlichkeiten, Bürger! Gute oder schlechte!“ (Hundhausen 1951, S. 34), die sich „mit dem Wohlergehen ihrer Mitarbeiter und der Gemeinden, in denen sie sich befinden, [..] befassen, aber auch mit Aufgaben, die [..] über die eigentlichen Aufgaben einer Unternehmung hinausführen“ (S. 37). Anstelle von Gemeinwohl sprach er vom „Prinzip übereinstimmender Interessen“ als „die Voraussetzung einer echten Gemeinschaft innerhalb der Unternehmung und der Beziehung zwischen der UnternehmungsPersönlichkeit und den weiteren Kreisen der Öffentlichkeit“: „Der Herbeiführung dieser Gemeinschaft hat alle Public-Relations-Arbeit zu dienen“ (S. 164 f.). Er adaptierte dazu Bernays (1947) Leitidee eines Engineering of Consent. Bernays (1967, S. 7 f. u. 14) ging vom Grundgedanken aus, dass „Anpassung an die sozialen Bedürfnisse und Wünsche der Öffentlichkeit“ in modernen demokratischen Wettbewerbsgesellschaften überlebenswichtig und unabdingbar sei, um „auf dem Markt der Ideen und Dinge zu überzeugen“, wobei die „Kraft der Überzeugung den Ausschlag“ gäbe. Er setzte also ein gewisses Maß organisational notwendiger Gemeinwohlorientierung voraus, um über Akzeptanz und
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Zustimmung im Wettbewerb mit anderen bestehen zu können, was er als Wesenszug pluralistischen Wettbewerbs betrachtete. Für seine Methode (!) Engineering of Consent setzte er „Taten und nicht Worte voraus“, da „nur die Tat, die öffentliche Anerkennung verdient, zählt“: „Bei der Herbeiführung von Übereinstimmung liegt der Ton auf Taten, in deren Rahmen Worte, Bilder und Symbole zur Wiedergabe der Wirklichkeit benutzt werden“ (S. 17). Hundhausen (1951, S. 165) betrachtete das „Prinzip übereinstimmender Interessen“ zunächst als Kongruenz – im mathematischen Sinne die Deckungsgleichheit zweier Seiten. Seine Adaption veränderte sich jedoch im Zeitverlauf. In einer späteren Monografie betrachtete Hundhausen (1957, S. 19) Public-RelationsManagement als eine nach innen und dann außen wirkende Führungsfunktion mit der Aufgabe, „die Unternehmung zu einer Haltung [zu] bringen, die vor der Gesamtheit der Gesellschaft öffentlichen Glauben verdient“; betont wurde hier Glaub- und Vertrauenswürdigkeit als Voraussetzung einer Unterstellbarkeit von Gemeinwohlorientierung. Zehn weitere Jahre später wurde dies noch offensichtlicher, wenn er schrieb: „‘Engineering of consent‘ aber heißt, dass auch der Träger der Beziehungsaktivität sich den im öffentlichen Interesse liegenden Erfordernissen (oder sogar Forderungen) nicht nur nicht verschließt, sondern dass er ihnen Rechnung trägt. Dieses ‚adjustment‘ ist ein wesentliches Element in der Herbeiführung von Übereinstimmung“ (Hundhausen 1967, S. 38). Hiervon beeinflusst sprach Steybe (1958, S. 33 f.) in einer frühen PR-Dissertation beim Verhältnis von Unternehmen und Anspruchsgruppen von einer „Sozialpartnerschaft“, von Public Relations als „Ausdruck einer echten Verantwortung und Verpflichtung des Unternehmens gegenüber der Allgemeinheit“ und erklärte zu PR-Arbeit, dass diese „Einsicht in die Belange der Allgemeinheit und damit aktive Mitarbeit am Gemeinwohl“ erfordere. Die ausgewählten Literaturquellen belegen zweierlei. Einerseits zeigen sie, dass Public Relations bereits als Organisation|Umfeld-Problematik betrachtet wurden, bei der von mitweltlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Notwendigkeit zu gesellschaftlicher Integration via Gemeinwohlorientierung abgeleitet und PR-Arbeit die Aufgabe zugeschrieben wurde, auf diesen Integrationsprozess fortlaufend nivellierend einzuwirken. Zum anderen konnte die „neoliberale Leitidee der Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft und Interessenharmonisierung“ (Scharf 1971, S. 176), die Unternehmen zum „Sachwalter“ der neuen Ordnung machte (Gross 1951, S. 29), im frühen Nachkriegs(west)deutschland greifen, weil deren Interessen im Wiederaufbau mit denen ihrer Mitwelt gleichgerichtet erschienen nach dem Motto: Geht es den Unternehmen gut, geht es auch den Menschen gut (Szyszka 2011). Diese „politische Konzeption“ einer
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Gemeinwohlorientierung, die Arbeit durchsetzen und in den Köpfen der Einzelnen verankern sollte, galt als „conditio sine qua non“ (Jessen und Lerch 1978, S. 39).
3.1.2 Eine Kampagne für das spätere Branchen-Ego Um die Sozialen Marktwirtschaft zu etablieren, wurde 1952 aus Kreisen der deutschen Wirtschaft die Imagekampagne Die W aage initiiert, die als Anzeigenkampagne bis 1965 Bestand hatte. Ihre Mitgliederliste liest sich wie ein zeitgenössisches „Who‘s Who“ (Schindelbeck und Ilgen 1999, S. 276 f.). Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass eine Soziale Marktwirtschaft für eine Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme aller Beteiligten am vorteilhaftesten sei. Als Symbol verkörperte die „Waage“ dabei das erklärte Ziel eines als notwendig angesehenen „sozialen Ausgleichs zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern“ (Kunczik und Schüfer 1993, S. 36). Ihre Kommunikationsziele: Aufklärung der Bevölkerung über die Soziale Marktwirtschaft, Image-Verbesserung der Unternehmer und „Förderung der Idee des sozialen Ausgleichs und damit Sicherung des sozialen Friedens“ durch „Pflege der Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und deren Organisationen“ (Schindelbeck und Ilgen 1999, S. 201; Hervorh. d. Verf.). Als Vordenker der Waage gilt der auch im PR-Kontext bekannte Werbepsychologie- und Markenexperte Domizlaff. In die Entwicklung einbezogen waren u. a. Gross und Hundhausen sowie der Werbefachmann Kropff; umgesetzt wurde sie von der Agentur des seinerseits einflussreichen deutschen Werbers Hanns W. Brose, der sich schon in den 1920er-Jahren als Experte für Gemeinschaftswerbung einen Namen gemacht hatte (Schindelbeck und Ilgen, 1999, S. 38, 81). Es war also keine Gruppe von PR-Leuten, die für Konzeption und Umsetzung verantwortlich zeichneten. Durch die gesellschaftspolitische Zielsetzung der Kampagne und deren jahrelange Präsenz in Printmedien sahen sich PR-Leute dann aber zunehmend in ihrer Ansicht gestützt, „dass PR-Aktivitäten ein Allgemeininteresse vertreten oder vertreten können“ (Scharf 1971, S. 176). Erfolg und Einfluss der Kampagne sind umstritten. „Stellung und Funktion der Waage als PR-Organisation und pädagogisches Instrument“ waren aufseiten der Unternehmer „stets umstritten“, weil sie deren „langfristig angelegten gesellschaftspolitischen Zielsetzungen […] oft nicht verstanden“ und deren Sinn ausschließlich darin sahen, „durch publizistische Mittel Streiks zu verhindern und Wahlen zu gewinnen“ (Schindelbeck und Ilgen 1999, S. 202). Schindelbeck und Ilgen kommen in ihrer fundierten Untersuchung zu dem Schluss: „Von ihrer Existenz, Präsenz und Wirkung her bietet die Waage das Bild eines Kometen, dessen Feuerball 1952 hell aufstrahlte, um mit einem stets dünner werdenden
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Schweif Mitte der sechziger Jahre zu verlöschen“ (S. 203). Aus heutiger Perspektive betrachtet scheint die Soziale Marktwirtschaft ein Selbstläufer gewesen zu sein, von dem alle Beteiligten vordergründig profitierten: Volksmotorisierung und Tourismusentwicklung suggerierten eine Identität der Interessen. Zwischen den Zeilen gelesen wird deutlich, dass die Mehrzahl der Unternehmer dabei weniger in eine Förderung der Idee des sozialen Ausgleichs, sondern in die Sicherung des sozialen Friedens investierten – diese Positionen wurden durch die Entwicklung des Wirtschaftswunders nur kaschiert. Die aus Berufsstandperspektive seinerzeit junge PR-Branche, Oeckl (1964, S. 161) schätzte sie auf „etwa 1.000 Fachleute“, betrachtete dies im Laufe der Jahre naturgemäß anders. Eine gesellschaftspolitische Aufgabe von PR-Arbeit versprach eine gesellschaftlich anerkannte Rolle und grenzte kommunikative Interessenvertretung insbesondere gegenüber nationalsozialistischer Propagandaarbeit ab – Noelle-Neumann (1971, S. 307) sprach später mit Blick hierauf von einer „Propaganda-Phobie“. Hinzu kam, dass PR-Arbeit in den 1960erJahren zunehmend im Marketing für Absatzkommunikation in Dienst gestellt und häufig hier auch organisatorisch verankert wurde, was einer eigenständigen Profilbildung, um die seit Gross und Hundhausen gerungen wurde, im Wege stand (Szyszka 2011, S. 44 f.). Oeckl votierte deshalb 1970 für einen „Ehefrieden durch Gütertrennung“. Die kaum profilierte PR-Arbeit versuchte sich als vermeintlicher „Konsens-Stifter“ (Oeckl 1987, S. 30),4 der zu friedlicher gesellschaftlicher Koexistenz beiträgt, zu profilieren und die aus eigener Überzeugung unbedingte Notwendigkeit dieser Funktion für eine erfolgversprechende Unternehmensführung zu vermitteln. Eine aus der Waage abgeleitete gesellschaftspolitische Aufgabe der PR-Schaffenden war in der Folgezeit in weiten Teilen des Branchen-Egos verankert.
3.2 1970er-/1980er-Jahre In den 1970er-Jahren befand sich die PR-Branche in einer paradoxen Situation. Mit dem Auslaufen von Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung wurden Unternehmen und dann auch andere Organisationen zunehmend zum Gegenstand kritischer medialer Berichterstattung; Journalismus skandalisierte immer öfter Themen und Sachverhalte und bewirtschaftete Empörungskommunikation 4
Oeckl spricht naturgemäß von „Öffentlichkeitsarbeit“. Hier und an anderen Stellen wird zu durchgängiger Lesbarkeit auf den Begriff PR-Arbeit als Synonym und Kurzform von PublicRelations-Management zurückgegriffen.
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(Imhof 2006). Insbesondere Unternehmen bedurften damit zunehmend PR-Arbeit zum Umgang mit öffentlicher Kommunikation und Meinungsbildung. In der Praxis lag ein Schwerpunkt aber auf „Absatzwerbung mit anderen Mitteln für die Erzeugnisse ihrer Auftrag- oder Arbeitgeber“ (Jessen und Lerch 1978, S. 57): 58 % der Mitglieder der DPRG bekannten, sich als Bestandteil des Marketings zu betrachten (Wilke und Müller 1975, S. 131). Einem standespolitisch überzeichneten Selbstverständnis nach verstand man sich als Anwalt von Gemeinwohlinteressen, gefragt war nun aber realtypisch das Vermögen zu partikularer kommunikativer Interessenvertretung im Kontext öffentlicher Kommunikation: Negative Berichterstattung, gesellschaftlicher Wertewandel, Konflikte und Skandalisierung spiegelten nun gesellschaftliche Akzeptanzprobleme und wurden zum Risiko. Gleichzeitig wurde Mitte der 1970er-Jahre Gemeinwohlorientierung als Reaktion auf gestiegene gesellschaftliche Ansprüche als Sozialbilanzierung auch auf Unternehmensebene Thema. Sozialbilanzen sollten über traditionelle Geschäftsberichterstattung hinaus ein gesellschaftsbezogenes Informations- und Rechnungssystem liefern (Dierkes 1974), welches sich – im Sinne heutiger Stakeholder-Ansätze – auf Mitarbeitende Kapitalgeber, Staat, Öffentlichkeit, die natürliche Mitwelt und das Unternehmen selbst (Hoff 1982, S. 55) als immaterielle Vermögenswerte bezieht. Sozialbilanzen bildeten allerdings kein neues originäres Aufgabenfeld von PR-Arbeit, denn ihre Expertise war hier vor allem bei Dokumentation, Umsetzung und Vermittlung gefragt. Gleiches gilt wenig später für Aufgabe und Leistungen von PR-Arbeit bei der Umweltberichterstattung, deren Bedarf als Folge der umweltbewegten 1980er-Jahre entstand (Herzog und Schaltegger 2005). Dessen ungeachtet blieb das idealisierte, von der Idee einer Interessenidentität geprägte Branchen-Selbstbild erhalten. So paraphrasierte Flieger (1981, S. 11) eine Schlüsselpassagen aus Ronnebergers schon zitierten PR-Essay standespolitisch, indem er in PR-Arbeit einen „funktionalen Beitrag zur Erhaltung und Entwicklungsfähigkeit pluralistischer sozialer Systeme“ sah, mit dem Zweck, „Interessen, Ziele und Handlungen der unterschiedlichen Organisationen öffentlich darzustellen und zu legitimieren, […] Konflikte offenzulegen und zu Kompromiss- oder Konsensmöglichkeiten beizutragen“, um „Identität, Integration und Effektivität des sozialen Systems“ zu verbessern. Andere verbandsnahe Autoren sprachen von einem „seit zweieinhalb Jahrzehnten“ gültigen „Denk- und Aktionsmodell“ der PR-Praxis, das auf „gesellschaftliche Übereinstimmung, also sozialen Konsens“, abziele (Fuchs und Kleindiek 1984, S. 12 ff.), wieder andere noch am Ende des Jahrzehnts von einem „Beitrag zum Funktionieren einer Demokratie“, „denn Demokratie basiert auf Regieren durch Zustimmung“ (Beger et al.
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1989, S. 21). Dass dies auf der anderen Seite durch pragmatische Positionen geerdet war, zeigt ein „Konzeptions-Modell für gesellschaftsorientierte Public Relations“, das nicht ideologisierte, sondern notwendige Koorientierung betonte, wenn davon gesprochen wurde, dass PR-Arbeit „nicht allein zweckorientiert verstanden und im Eigeninteresse wahrgenommen werden“ könne, sondern „soziale und institutionelle Vernetzung mit öffentlichen Interessen“ erfordere und in „jedem Fall Ausgleich und Konsens“ anstreben müsse (Schulze-Fürstenow 1988, S. 51). Trotz des zunehmenden Wandlungsprozesses der Branche, der Ende der 1980er-Jahre z. B. an einem neuen PR-Berufsbild offensichtlich wurde (DPRG 1990; Reineke und Eisele 1991, S. 16 ff.), hatte dieses Branchen-Selbstbild zunächst weiter Bestand. Gründe dafür finden sich in der Rekrutierungsstruktur. 1981 wies eine PR- Berufsfeldstudie bei 27 % der Befragten eine Herkunft aus Marketing/Werbung und bei weiteren 27 % aus dem Journalismus aus (Haedrich et al. 1982, S. 20), dem die Pressegesetzgebung eine „öffentliche Aufgabe“ zuschreibt (Arnold 2009, S. 186). Das tradierte berufliche Selbstverständnis mit seiner gemeinwohlorientierten Grundpositionierung konnte sich, so die hier vertretene These, vor allem deshalb bis in die 1990er-Jahre hinein markant halten, weil sich das Berufsfeld auch weiterhin zu 25 bis 30 % aus dem Journalismus rekrutierte (Szyszka et al. 2009, S. 259), dies nicht nur in der Breite, sondern auch in Spitzenpositionen. Die Quote derer, die aus dem Journalismus unter Rückgriff auf mitgebrachte journalistische Kompetenzen auf ‚die andere Seite des Schreibtisches‘ gewechselt war, prägte ein von handwerklichen Fertigkeiten und Kontakten gezeichnetes Rollenselbstbild, für das bisweilen der missverständliche Begriff PR-Journalismus genutzt wurde (Szyszka 1990; Wilke und Müller 1975), der auch zu Fehlinterpretationen verleitete. Ein markantes Beispiel hierfür sind berufsethische „Selbstverpflichtungen“ für Berufsstandsangehörige aus den frühen 1990er-Jahren, deren beiden erste Sätze den Widerspruch im gemeinwohlbezogenen Selbstverständnis offenlegen, wenn es dort – verkürzt – heißt, „1. Mit meiner Arbeit diene ich der Öffentlichkeit. […]. 2. Mit meiner Arbeit stehe ich in den Diensten eines Auftrag- oder Arbeitgebers […]“, und Wahrhaftigkeit und Redlichkeit/Loyalität als Maßstäbe genannt werden (Avenarius 1991, S. 38). Beim vermeintlichen Widerspruch, PRLeute erscheinen als „Diener zweier Herren“, handelt es sich tatsächlich um ein zeitgenössisches Missverständnis, denn mit seiner Betonung, die erste Selbstverpflichtung „Dienst an der Öffentlichkeit“ besitze Priorität, suchte Avenarius eine Analogie zum Rechtssystem, in dem eine „allen Teilen der Öffentlichkeit geschuldete Achtung und Aufmerksamkeit“ (Avenarius 2009, S. 56) grundlegende Bedingungen für den Umgang miteinander ist: Hier geht es bei näherer
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Betrachtung also gar nicht mehr um Gemeinwohl im engeren Sinne, sondern um den Umgang mit der strategischen Ausrichtung von PR-Arbeit. Befruchtet wurde dieses Missverständnis durch eine Aussage der seinerzeit auch in Deutschland eifrig rezipierten US-amerikanischen Leitautoren Grunig und Hunt (1984, S. 9), die in einer schwammigen Rollenbeschreibung von einer „boundary-role“ sprachen und mit der Bemerkung „they have one foot in the organization and one outside“ illustrierten. Avenarius‘ Metapher des „redlichen Anwalts“, der beide Füße bei seinem Mandanten hat, wäre hier eine treffendere Interpretation gewesen. Deutschland steht letztlich für eine Umbruchsituation, in der die unternehmenspolitischen Ansprüche an PR-Arbeit aufgrund des Wandels im Mediensystem (Privatisierung, Digitalisierung) kontinuierlich stiegen und in vielen Fällen bereits zur Positionierung abseits von Marketing als kommunikative Interessenvertretung geführt hatten. Dieser Prozess setzte sich fortan fort.
3.3 Jüngere Entwicklung Die Entwicklung der in den 1990er-Jahren einsetzenden PR-Forschung kann als bekannt vorausgesetzt werden (Hoffjann und Huck-Sandhu 2013). Für die weitere Untersuchung hier ist der zunehmende Einfluss der Management-Perspektive und darin insbesondere die Wertschöpfungsdiskussion der 2000er-Jahren wesentlich, in welcher nun über den versuchten Ausweis von Wertschöpfungsbeiträgen der Unternehmenskommunikation ausdrücklich Eigenwohl in den Fokus gestellt wurde. Wertorientierte Unternehmensführung anerkannte zwar den Stellenwert von Stakeholdern, Image und Reputation, betrachtete diese aber als mitweltliche Einflussfaktoren, welche über Umfang, Reichweite und Abrufbarkeit der jeweiligen Licence to operate mitentschieden, richteten ihr Augenmerk unter Stichwörtern wie Integrierte Kommunikation aber am Ende auf Fragen von Effizienz und Effektivität von strategischen Konzepten und Kommunikationsaktivitäten (Zerfaß 2014). Mit Stakeholdern, die zunehmend als Mitwelt Geltungsansprüche gegenüber Unternehmen und Organisationen reklamierten, entstand eine Form unternehmenspolitisch notwendiger Gemeinwohlorientierung, die neue Anforderungen an Geschäftsmodelle, Management und Kommunikation insbesondere von Unternehmen stellte. Diese Entwicklung kam nicht aus dem Nichts und reichte teilweise bereits bis in die 1980er-Jahre zurück. Hier wurde zunächst der StakeholderAnsatz formuliert (Freeman 1984), der dann allmählich diffundierte (Karmasin 2005). Es folgten Carroll‘s CSR-Pyramide (1991) und Elkington‘s TripleBottom-Line (1994), die ökonomische, ökologische und soziale Verantwortung
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problematisierten, was dann häufig nur in symbolischem Handeln (Greenwashing) mündete (Schmidpeter 2012). Auf regulativer Ebene befasste sich die EU-Kommission in einem CSR-Grünbuch (2001) mit der Problematik, schob dann eine weiterführende CSR-Strategie der Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft (2011) nach, ehe 2014 eine EU-Richtlinie verabschiedet wurde, die zu nationaler CSR-Gesetzgebung mit Berichterstattungspflicht (in Deutschland 2017) führte.5 Mitte der 2010er-Jahre wurde diese Entwicklung damit evident. Die Verpflichtung von Großunternehmen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung lässt sich aus neoliberaler Perspektive als Zwang zu einer gewissen Gemeinwohlorientierung lesen. Bentele und Nothhaft (2011, S. 48) haben diese Entwicklung als „eine große Errungenschaft der Moderne“ bezeichnet, „die betriebswirtschaftliche Organisation, das Unternehmen, doch auf ein betriebswirtschaftsfremdes Handeln, nämlich soziales (einschließlich people und planet) zu verpflichten“. Interessant ist, dass im ‚Windschatten‘ der Verpflichtung eine freiwillige Nachhaltigkeitsberichterstattung nicht berichterstattungspflichtiger Unternehmen und anderer Organisation, insbesondere bei mittelständisch geprägten Unternehmen und Familienunternehmen, entstand, in deren Geschäftsmodellen Gemeinwohlorientierung bereits als Bekenntnis und Wettbewerbsfaktor einen Mehrwert bildete. In diesen Kontext gehören auch Gemeinwohl-Ökonomie, GemeinwohlBilanzierung und die Rankings des Gemeinwohl-Atlas. Auch wenn die allgemeine Nachhaltigkeitsdiskussion unter den Bedingungen der weltweiten Corona-Pandemie 2020/2021 publizistisch in den Hintergrund getreten ist, hat sie nicht an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Nachhaltigkeit ist längst zu Synonym und Metapher für eine Bewertung der gesellschaftlichen Integrationsbereitschaft von Unternehmen und Organisationen und damit für deren Verantwortungsbewusstsein und Gemeinwohlorientierung geworden. Wenn in diesem Zusammenhang „Kommunikation und Reporting als Treiber von CSR“ gelten (Schmidpeter 2012, S. 1234), erscheinen die Leistungen von PR-Arbeit, nun aufgewertet als Unternehmenskommunikation bezeichnet, in einem neuen Licht: Es geht um die Auseinandersetzung mit den Beziehungen eines Unternehmens – analog anderer Organisationen – zu wesentlichen Stakeholder-Gruppen der Mitwelt (Public Relations), um Beziehungsstatus und -qualität als wesentliche immaterielle Vermögenswerte, aber auch um Konflikte und Kooperationspotenziale, darum Informationen über unternehmenspolitische Entscheidungs- und 5
„Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten“ (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz). Bundesgesetzblatt 2017, Teil I, Nr. 20 vom 18.4.2017.
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Handlungsspielräume zu gewinnen und Beziehungen kommunikativ zu bewirtschaften (Szyszka 2017). Aus systemtheoretischer Perspektive rücken damit strukturelle Kopplungen zwischen einem Unternehmen und deren Bezugsgruppen als Beziehungen und Beziehungsgeschichten ins Zentrum und werden zu einer kommunikativen Managementproblematik (Szyszka 2020). Ist dies nun eine Entwicklung hin zu (mehr) Gemeinwohlorientierung? Bei Ethik und Moral geht es wertneutral um die Orientierung an sozial anerkannten und erwarteten Normen, Regeln, Werten und Konventionen einer Gesellschaft: Gemeinwohlorientierung ist in diesem Sinne also Bezugnahme auf ein erwartetes moralisches Verhalten. Stakeholder-Gruppen als Quasi-Gemeinschaften bilden hier eine Zwischengröße zwischen Eigen- und Gemeinwohl (vgl. Fetzer und Gerlach 1998, S. 10), und zwar nicht nur ausgewählte Gruppen, sondern alle wesentlichen. Dies zwingt Unternehmen und Organisationen zur Fremdorientierung an ihrer Mitwelt – im Gegensatz zu egozentrischer Selbstorientierung – als Auseinandersetzung mit Interessen und Geltungsansprüchen von StakeholderGruppen und der Nivellierung und Anpassung eigener Positionen und Ansprüche. Gemeinwohlorientierung ist damit aber ein unternehmenspolitischer Sachverhalt und Gegenstand von Public-Relations-Management. Kommunikation kann dabei Problembewusstsein und Management nicht ersetzen. Abb. 2 zeigt diese Problematik. Werden Erwartungen nur kommunikativ beantwortet und gehen nicht im Zuge des Nachhaltigkeitsmanagements in die Geschäftspolitik ein, entsteht aus Wirkungsperspektive keine Dreiecksbeziehung; Nachhaltigkeitserwartungen werden entlang des rechten Schenkels nur kommunikativ bearbeitet; Nachhaltigkeitskommunikation kann i. d. R. nur Fassadentechnik und Greenwashing sein (hierzu auch: Eisenegger et al. 2022). Der heutige Stellenwert von Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung resultiert nicht zuletzt daraus, das Web 2.0 und partizipative Kommunikation neue Formen Abb. 2 Nachhaltigkeitsdreieck einer Gemeinwohlorientierung
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der Organisierung von Interessen möglich und auf diesem Wege Zusammenhänge, Differenzen und Diskrepanzen zwischen Partikular-, Gruppen- und Gemeininteressen öffentlich sichtbar und sanktionierbar gemacht haben. So gesehen dürfte der Weg zur Durchsetzung einer derartigen nachhaltigkeitsbezogenen Gemeinwohlorientierung nur eine Frage der Zeit sein.
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Mär oder mehr?
Auf die eingangs gestellte Frage nach Gemeinwohlorientierung als „Mär oder mehr“ können im Sinne des vorstehenden Beitrags zwei Antworten gegeben werden. Zunächst waren Gemeinwohlorientierung und das Bekenntnis zu Gemeinwohl implizite Bausteine eines neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses, das zeitgenössisch als gesetzt galt und nicht hinterfragt wurde, wie sich am Beispiel des ansonsten sehr reflektiert argumentierenden Hundhausen zeigen lässt. „Diese Autoren glaubten, die Gesellschaft mit Hilfe der PR konfliktfrei und optimal steuern zu können, wobei der Harmoniegedanke im Zentrum stand“ (Kunczik 2002, S. 114). In diesem Sinne war es vielleicht eine besondere Ironie des Schicksals dieses Berufsfeldes, dass mit der Waage ausgerechnet eine Anzeigenkampagne über zwei Jahrzehnte das Standesbewusstsein tradierte, die Branchenangehörigen von deren Funktion her zwar für sich in Anspruch nehmen konnten, an der sie aber kaum mitgewirkt hatten. In diesem Sinne wäre Gemeinwohlorientierung eine Mär, die bis in die frühen 1990er-Jahre hinein Bestand haben konnte, weil sie gewohnheitsmäßig und unreflektiert weitergetragen wurde (Beger et al. 1989), und die auch gut gemeinte Neufassungen (Avenarius 1991) missverständlich erscheinen ließ. Mit dem Einsetzen einer breiteren wissenschaftlichen Reflexion verschob sich der Fokus von der vermeintlich gesellschaftsbezogenen zur Organisationsperspektive. Wesentlich war nun die Einsicht, dass wechselseitiger An- oder Einpassungsbedarf notwendig ist, um in der Mitwelt erfolgreich bestehen zu können (Cutlip et al. 1985; Long und Hazleton 1987). Eine vielleicht zweite Ironie des Schicksals: Auch dieser Gedanke findet sich bereits bei Bernays (1967, S. 7), der „eine Anpassung an die sozialen Bedürfnisse und Wünsche der Öffentlichkeit“ als existenziell betrachtete. In der seitherigen deutschsprachigen PR-Forschung ist nicht nur das Management von Kommunikation, sondern auch das von Beziehungen betont worden. Eine über Eigenwohl hinausreichende Gemeinwohlorientierung ist in diesem Sinne Beziehungsmerkmal, mit dem in der Unternehmenspraxis sehr
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unterschiedlich umgegangen wird, wie der Diesel-Abgasskandal auf der einen und Pionier-Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie auf der anderen Seite zeigen. Ausschlaggebend für die Bewegung in Richtung einer weiterreichenden eigenwohlmotivierten Gemeinwohlorientierung scheint die Entwicklung partizipativer Kommunikation zu sein, die eine weiterreichende Organisierung von Gruppeninteressen erleichtert und die Basis für breiter wahrnehmbare Artikulation geschaffen hat (hierzu auch: Röttger 2022; Thummes und Winkler 2022). Dies fordert Unternehmen und Organisationen heraus, sich Diskussionen um Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung und damit Gemeinwohlansprüchen öffentlich zu stellen. War Gemeinwohlorientierung im Zeichen einer neoliberalen Marktwirtschaft vormals eher eine „Mär“, änderte sich dies in den letzten anderthalb Jahrzehnten dort, wo diese Ansprüche unternehmens- oder organisationspolitisch ernstgenommen werden. Mittelständisch geprägte Unternehmen und Familienunternehmen sind heute aufgrund ihrer engen Mitweltvernetzung häufig ein bereits gutes Beispiel für eine notwendigerweise gelebte und kommunikativ vermittelte Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlorientierung und damit für ein „Mehr“. Die Fokussierung von Konzernen auf effizienzgeprägte Konzepte wie Newsrooms stimmt allerdings auch nachdenklich, inwieweit sich tradierte Geschäftsmodelle und von Machtbewusstsein geprägte Unternehmenspolitik nicht weiterhin in symbolischem Handeln versuchen werden.
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Verwirklichungschancen als zentrale Referenz der Verwaltungs-PR Impulse des Capability-Ansatzes für eine Neuausrichtung der strategischen Kommunikation öffentlicher Verwaltungen Ulrike Röttger Zusammenfassung
Eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung ist grundlegendes Merkmal von öffentlichen Verwaltungen und deren Kommunikationsaktivitäten; Verwaltungen haben den Auftrag, den Bürger*innen und der Allgemeinheit zu dienen. Verwaltungs-PR übernimmt dabei die Aufgabe, Bürger*innen adäquat zu informieren und amtliches Handeln gegenüber Bürger*innen darzustellen und zu erklären. Dies wird u. a. als unabdingbare Voraussetzung für eine aktive Beteiligung von Bürger*innen am politischen Willensbildungsprozess angesehen. Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst wesentliche Merkmale der Verwaltungs-PR verstanden als Kommunikation öffentlicher Verwaltungen mit der Öffentlichkeit und betont ihren expliziten Gemeinwohlbezug. Wie dieser Gemeinwohlbezug im Rahmen der Verwaltungs-PR berücksichtigt und umgesetzt werden kann, wird im zweiten Teil des Beitrags anhand des von Amartya Sen formulierten Capability-Approaches erörtert. Neben den Potenzialen des Ansatzes werden aber auch die Herausforderungen, die mit der Grundüberlegung der Befähigung verbunden sind, thematisiert und die Grenzen seiner Anwendung im Rahmen der Verwaltungs-PR erörtert.
U. Röttger (B) Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_3
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Schlüsselwörter
Amartya Sen • Befähigung • Capabilities • Capability-Ansatz • Gutes Leben Verwirklichungschancen • Verwaltungs-PR • Verwaltungskommunikation
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Einleitung
Corona-Warn-App, Pro-Ehrenamt-Kampagne oder eine Informationsveranstaltung zu einem geplanten Infrastrukturprojekt: Mitteilungen öffentlicher Verwaltungen begegnen uns tagtäglich auf unterschiedlichste Weise. Als Teil der Exekutive führen öffentliche Verwaltungen Entscheidungen der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) aus und bereiten zudem politische Entscheidungen vor. Informations- und Kommunikationsangebote für Bürger*innen sind elementarer Bestandteil ihrer Aufgabenerfüllung und die Kommunikationsabteilungen öffentlicher Verwaltungen sind eine bedeutsame Vermittlungsstelle, die staatliches Handeln darstellt und erklärt und dieses für Bürger*innen idealerweise nachvollziehbar macht. Gleichwohl unterschiedliche Formen der strategischen Kommunikation für Verwaltungen1 im Kontext ihrer Aufgabenerfüllung unverzichtbar sind und sie einen bedeutsamen Anteil an öffentlicher Kommunikation haben, wurde die Kommunikation in und von Verwaltungen bislang eher wenig beforscht. Dies gilt für die kommunikationswissenschaftliche Forschung sowohl zur politischen als auch zur strategischen Kommunikation. Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Forschungslücke an und skizziert wesentliche Merkmale der Verwaltungs-PR, verstanden als Kommunikation öffentlicher Verwaltungen mit der Öffentlichkeit. Im Zentrum steht dabei der explizite Gemeinwohlbezug, der für staatliche Organisationen wie es öffentliche Verwaltungen sind, charakteristisch ist (Bohne 2018, S. 13; Czerwick 2009, S. 142 ff.). Wie dieser Gemeinwohlbezug im Rahmen der Verwaltungs-PR berücksichtigt und umgesetzt werden kann, wird im zweiten Teil des Beitrags anhand des Capability-Approaches (Sen 2001 [1999]) erörtert. Neben den Potenzialen des Ansatzes werden aber auch die Herausforderungen, die mit der Grundüberlegung der Befähigung verbunden sind, thematisiert und die Grenzen seiner Anwendung im Rahmen der Verwaltungs-PR erörtert.
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Ist im Weiteren von Verwaltung die Rede, ist immer die öffentliche Verwaltung gemeint.
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Grundlagen der Verwaltungs-PR
Die öffentliche Verwaltung (Administrative) bildet im Sinne des verfassungsrechtlichen Prinzips der Gewaltenteilung zusammen mit der Regierung (Gubernante) die Exekutive und erfüllt dabei administrative, koordinierende und die Rechtsprechung entlastende Funktionen (Möltgen-Sicking und Winter 2018, S. 17). Als charakteristische Merkmale von öffentlichen Verwaltungen gelten u. a. deren politischer Charakter, ihre ausgeprägte Gemeinwohlorientierung, eine starke Rechtsgebundenheit, vergleichsweise geringe Freiheiten bei der eigenständigen Festlegung von Organisationszielen und Aufgabenfeldern, eine große Zahl von heterogenen Stakeholdergruppen, die berücksichtigt werden müssen, ein hoher öffentlicher Beobachtungsdruck und hohe Erwartungen an die Transparenz der Organisation (Fredriksson und Pallas 2016, S. 150 f.; Fisher Liu und Horsley 2007, S. 379 ff.; Liebert 2015; Szyszka 2020, S. 15 f.). Diese Heterogenität öffentlicher Verwaltungen auf Ebene der Gemeinden, Länder, Bundesländer und des Bundes ist mitzudenken, wenn im Folgenden Merkmale der Verwaltungs-PR erörtert werden: Kommunikation mit der Öffentlichkeit bzw. mit Bürger*innen zählt zu den Aufgaben jedweder Verwaltung – die Intensität und Art und Weise der Kommunikation mit der Öffentlichkeit deckt dabei aber eine gewisse Bandbreite ab und erfolgt in unterschiedlichen Formen. Allgemein steht außer Frage, dass die Kommunikation der Verwaltung mit den Bürger*innen eine „administrative Bringschuld darstellt, ohne deren Beachtung auf die Dauer weder ein breiter Konsens zur grundgesetzlichen Staatsordnung zu gewährleisten noch die Befolgung administrativer Akte durch die Bürger sicherzustellen ist“ (Czerwick 1997, S. 983). Jedoch wird über die Frage, wie viel und welchen Einfluss staatliche Stellen mittels Kommunikationsaktivitäten nehmen dürfen, intensiv debattiert. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur vielfach die in der Praxis gängige Unterscheidung in eine stärker persuasiv ausgerichtete Öffentlichkeitsarbeit und eine stärker informationsorientierte Presse- und Medienarbeit aufgegriffen (Raupp und Kocks 2018, S. 11; Szyszka 2020, S. 24). Allerdings sind die Unterschiede in der Praxis de facto graduell: Auch die sich primär an Bürger*innen richtende Öffentlichkeitsarbeit hat die Aufgabe, Sachinformationen über Verwaltungsaktivitäten zu vermitteln und darüber letztlich amtliches Handeln darzustellen und zu erklären (Feik 2007, S. 315). Sie muss zudem ebenso wie die Presse- und Medienarbeit den Anspruch erfüllen, dass sie sachlich, richtig, verhältnismäßig und grundsätzlich neutral zu erfolgen hat und sich inhaltlich am jeweiligen Zuständigkeitsbereich der kommunizierenden Verwaltung zu orientieren hat (Dunckel 2020, S. 71 f.). Über die rein sachorientierte
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Informationstätigkeit hinaus, umfasst Öffentlichkeitsarbeit auch kommunikative Aktivitäten, die zum Beispiel der Selbstdarstellung der Verwaltung (Image- bzw. Reputationsgestaltung) dienen und die nicht nur informieren, sondern die explizit Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger*innen verändern wollen. Daher ist die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Medienarbeit nicht zielführend, sodass im Folgenden der Oberbegriff Verwaltungs-PR verwendet wird. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht: Eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung ist in die DNA von öffentlichen Verwaltungen eingeschrieben. Verwaltungen existieren, um den Bürger*innen und der Allgemeinheit zu dienen. Dieser Gemeinwohlbezug gilt entsprechend auch für die Kommunikationsaktivitäten öffentlicher Verwaltungen. So besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass „staatliche Öffentlichkeitsarbeit ein konstitutives Element der Gesellschaftsordnung in einer modernen Demokratie ist (Mandelartz 2009)“ (Barczak 2018, S. 47). Wie genau die Gemeinwohlorientierung der Verwaltungs-PR konkretisiert und operationalisiert werden könnte, bleibt in der Literatur aber weitgehend unbeantwortet. Im Folgenden wird dargelegt, dass der CapabilityApproach (CA) mit seiner Grundidee der Befähigung von Menschen, ein aus ihrer Sicht gutes Leben zu führen, eine vielversprechende Leitidee darstellt, um Gemeinwohlorientierung der Verwaltungs-PR zu konkretisieren und für die konkrete Kommunikationsarbeit vor Ort zu operationalisieren.
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Grundlagen des Capability-Approaches2
Der vom Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen und der Philosophin Martha Nussbaum erstmals in den 1980er Jahren formulierte Capability-Approach (im Deutschen auch als Befähigungsansatz bezeichnet) befasst sich zentral mit der Frage, wie individuelles Wohlergehen und soziale Wohlfahrt bestimmt und befördert werden können. Im Zentrum des normativen Ansatzes steht die Idee, dass Menschen die Möglichkeit haben sollen, „genau das Leben führen zu können, das sie schätzen, und zwar mit guten Gründen“ (Sen 2007, S. 29). Dies impliziert die Freiheit des Einzelnen, sich zwischen verschiedenen Lebensplänen entscheiden zu können und diese verwirklichen zu können (Nielsen 2015, S. 404; Sen 1992, S. 40).
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Die folgenden Ausführungen basieren teils auf früheren Veröffentlichungen der Autorin (Röttger 2016; Röttger 2020).
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3.1 Hintergrund des CA Ausgangspunkt des CA war das Bestreben Sen’s, eine alternative Informationsbasis für Gerechtigkeitsurteile zu formulieren und neue Maßstäbe zur Wohlfahrtsmessung zu entwickeln (DeCesare 2014, S. 151; Robeyns 2005). Mit der Betonung der moralischen Bedeutung der Fähigkeit einer Person, ein gutes Leben zu führen grenzt sich der normative Ansatz explizit von etablierten wohlfahrtsökonomischen Ansätzen (insbesondere Utilitarismus und Ressourcenökonomie) und der Gerechtigkeitstheorie von Rawls (1971) ab. Gerechtigkeit bemisst sich im Sinne des CA gerade nicht an der gleichmäßigen Verteilung von Grundgütern oder am subjektiven Wohlbefinden, sondern an den durch vorhandene Ressourcen, soziale Bedingungen und individuelle Fähigkeiten beeinflussten Möglichkeiten eines Individuums zur selbstbestimmten Wahl von Seinszuständen (beings) und Handlungen (doings). Die Differenzierung von Verteilungsund Möglichkeitsgerechtigkeit ist bedeutsam, weil die gleiche Verteilung von Grundgütern zu sehr unterschiedlichen Freiheiten von Individuen führen kann, die z. B. von den Möglichkeiten des Einzelnen abhängen. Sen erläutert diese u. a. am Beispiel des Fahrrads (Sen 1985, S. 10 zit.n. Eiffe 2010, S. 144 f.): Ob seine Eigenschaft als Transportmittel tatsächlich bedeutsam wird, hängt entscheidend von äußeren Umständen (Existenz und Beschaffenheit von Straßen) und den Fähigkeiten der Nutzer*innen Rad zu fahren ab. Einer Person ohne Beine, wird ein Rad nicht zu einer größeren Mobilität verhelfen. Dementsprechend geht es Sen weniger um eine leistungs- oder verteilungsbezogene Gerechtigkeit als um die Lebenssituation und -qualität, die der oder die Einzelne tatsächlich erreichen kann.
3.2 Wahlfreiheit als Schlüsselaspekt eines guten Lebens Im Mittelpunkt des Capability-Ansatzes steht das Capability Set, das als Menge von Verwirklichungschancen oder als Freiheit einer Person verstanden wird, verschiedene Seinszustände (beings) und Handlungen (doings) und damit verschiedene Lebenspläne verwirklichen zu können (Sen 2001 [1999], S. 75). Das Capability Set charakterisiert den grundsätzlichen Handlungsspielraum einer Person und wird durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen, durch individuelle Kompetenzen und Fähigkeiten einer Person sowie durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen entscheidend beeinflusst (vgl. Abb. 1).
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Abb. 1 Struktur des Capability-Approaches (in Anlehnung an Bartelheimer 2009, S. 51)
Sen veranschaulicht die Notwendigkeit, zwischen den Verwirklichungschancen (Capabilities) und der erreichten Lebenssituation (Functionings) zu unterscheiden, anhand der Unterschiede zwischen einem hungernden und einem fastenden Menschen: „For example, an affluent person who fasts may have the same functioning achievement in terms of eating or nourishment as a destitute person who is forced to starve, but the first person does have a different “capability set” than the second (the first can choose to eat well and be well nourished in a way the second cannot).” (Sen 2001 [1999], S. 75)
Hier wird zugleich der deontologische Charakter von Freiheit im Sinne Sens deutlich: „Sie [die Freiheit] hilft uns zwar, Ziele zu erreichen (Chancen- Aspekt der Freiheit), ist aber auch intrinsisch wertvoll (Prozess-Aspekt). Auch wenn wir eine Alternative nicht wählen, ist es wichtig, diese Alternative zu haben (etwa beim Beispiel Hungern und Fasten: Das erste ist erzwungen, das zweite freiwillig, das Ergebnis ist gleich).“ (Litschka 2015, S. 195)
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Die Freiheit der Auswahl aus einer Menge an Verwirklichungschancen ist zentral für die Idee des guten Lebens: „Ein gutes Leben ist ein Leben auf der Basis von Freiheiten, aus Verwirklichungschancen auszuwählen.“ (Sedmak 2013, S. 19). Dies bedeutet, dass die Frage, was ein gutes Leben kennzeichnet, nicht allgemeingültig und pauschal aus einer externen Perspektive bestimmt werden kann. Es ist vielmehr der Vielfältigkeit der Menschen und ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen (Scholtes 2005, S. 30). So wichtig die Unterscheidung in Capabilities und Functionings ist, so schwierig ist allerdings deren präzise empirische Differenzierung, denn die Menge an Verwirklichungschancen ist anders als die tatsächlich erreichte Lebenssituation nicht beobachtbar (Sen 1992, S. 52) und Handlungsoptionen und -ergebnisse sind im Einzelfall eng miteinander verwoben. Zusammengefasst steht die Idee der Befähigung dafür, dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben gemäß eigener Präferenzen zu gestalten und Freiheit zu haben, sich für die von ihnen wertgeschätzten beings und doings zu entscheiden. Allerdings zeigt sich, dass die individuumsorientierte Idee der Befähigung in komplexen sozialen Gemeinschaften respektive Massengesellschaften in letzter Konsequenz nicht individualisiert umzusetzen ist, sondern vielmehr auf überindividueller Ebene beantwortet werden muss. Da die Bewertung des guten Lebens von individuellen Werthaltungen abhängt (Bührmann und Schmidt 2014, S. 41) und nicht allgemeingültig festgelegt werden kann, bedarf es der diskursiven Verständigung und einer partizipativen Entscheidung (Scholtes 2005, S. 32 ff.; Sen 2001 [1999], S. 148; siehe auch Moore 2014), die als situativ geltendes Gemeinwohl im Sinne einer prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption (Blum 2015, 2020a, b) verstanden werden kann.
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Befähigung als Leitorientierung der PR öffentlicher Verwaltungen
Die Übertragung der zentralen Annahmen des CA auf Verwaltungs-PR impliziert, die Idee der Befähigung von Menschen ins Zentrum zu stellen. Befähigungsorientierung steht dafür, dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben gemäß eigener Präferenzen zu gestalten. Inwiefern Befähigungsorientierung als Leitorientierung für Verwaltungs-PR geeignet ist und welche Konsequenzen sich aus einer Orientierung am Befähigungs-Paradigma für das Verständnis der PR von Verwaltungen ergeben, soll im Folgenden diskutiert werden. Die Befähigungsorientierung der Verwaltungs-PR umfasst dabei zwei unterschiedliche, allerdings miteinander in enger Beziehung stehende Dimensionen: Erstens kann
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Verwaltungs-PR die Verständigung der Bürger*innen über das gute Leben und die dazu erforderlichen Formen der Befähigung initiieren und moderieren. Zweitens kann Befähigungsorientierung als zentrales Handlungsprinzip der VerwaltungsPR und damit auch als Qualitätsmaßstab für die durch die Verwaltungs-PR zur Verfügung gestellten Informations- und Kommunikationsangebote dienen: Dies umfasst u. a. die Frage, inwieweit die PR-Kommunikationsangebote und PRMedien so gestaltet sind, dass sie tatsächlich zur Befähigung von Bürger*innen beitragen.
4.1 Verwaltungs-PR als Initiator und Moderator der Verständigung über das gute Leben Verwaltungs-PR kommt eine zentrale Rolle bei der Initiierung und Durchführung einer breiten öffentlichen Verständigung über die für ein gutes Leben relevante Auswahlmenge an Verwirklichungschancen zu. Es ist die Aufgabe einer befähigungsorientierten Verwaltungs-PR, im eigenen Zuständigkeitsbereich partizipative Verständigungsprozesse über das gute Leben und Fragen der Auswahl, Konkretisierung und Priorisierung von Functionings, zu denen Menschen befähigt werden sollen, einerseits zu initiieren und zu moderieren und andererseits die Ergebnisse dieser Aushandlungsprozesse in politische Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Die Fokussierung auf diejenigen Teilaspekte des guten Lebens, die im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Verwaltungshandelns liegen, steht im Einklang mit der analytischen Differenzierung des guten Lebens in unterschiedliche Teilaspekte (z. B. Familie, Bildung, Arbeit). Dies ermöglicht vielfach, dass die je spezifischen Facetten unterschiedlicher Capabilities und Functionings besser berücksichtigt werden können (Bührmann und Schmidt 2014, S. 39). Diese Fokussierung auf Teilaspekte des guten Lebens greift jedoch im Falle beispielsweise von Kommunalverwaltungen, aufgrund ihrer Allzuständigkeit für örtliche Angelegenheiten (Universalitätsprinzip) nicht. Kommunalverwaltungen sind mit einem großen Spektrum an Themen befasst und entsprechend vielfältig sind die Capabilities und Functionings, die für kommunale Verwaltungs-PR im Sinne der Bürger*innen-Wohlfahrt relevant sind. Abb. 2 bietet eine Übersicht über exemplarische Capabilities und Functionings, die im Kontext befähigungsorientierter Verwaltungs-PR auf kommunaler Ebene relevant sein können. Gegenstand der partizipativen Verständigungsprozesse ist dabei sowohl die Auswahl der relevanten Dimensionen als auch deren Gewichtung und Priorisierung. Zudem müssen die einzelnen Capabilities inhaltlich konkretisiert werden (siehe Abb. 3): Welche konkreten Verwirklichungschancen sollen beispielsweise
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Informiertheit Art und Qualität des Zugangs zu relevanten Informationen Art und Qualität des Zugangs zu Medien und öffentlichen Diskursen Erwerbsleben Art und Qualität der Arbeitsmarktintegration Kultur und Bildung Art und Qualität des Zugangs zu Bildung, Kunst, Kultur, Sport ... Art und Qualität der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Gesundheit Art und Qualität der Möglichkeiten, ein Leben frei von vermeidbaren Krankheiten leben zu können politische Partizipation Art und Qualität der Mitwirkungen an politischen Entscheidungen Wohnen Art und Qualität der Teilhabe am Wohnungsmarkt Akzeptanz und Wertschätzung Art und Qualität der Möglichkeiten, die eigene soziale, kulturelle, religiöse, sexuelle (...) Identität öffentlich ausleben zu können Nachhaltigkeit Art und Qualität der Möglichkeiten ein nachhaltiges Leben führen zu können Sicherheit Art und Qualität der Möglichkeiten, ein sicheres Leben führen zu können (u.a. in Bezug auf Kriminalität, aber auch auf Fragen der sozialen Sicherung) Infrastruktur Art und Qualität des Zugangs zu zentralen gesellschaftlichen Infrastrukturen (Verkehr, IuK-Technologien, Energie etc.) Abb. 2 Exemplarische Capabilities und Functionings
mit der Möglichkeit, ein nachhaltiges Leben führen zu können verbunden sein? Wahlfreiheiten in Bezug auf die eigene Lebenssituation ergeben sich immer aus dem dynamischen Zusammenspiel von Ressourcen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Faktoren. In einem weiteren Schritt ist daher zu
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Abb. 3 Vorgehensweise im Rahmen der Auswahl und inhaltlichen Bestimmung von Capabilities.
klären, inwiefern betroffene Bürger*innen vor dem Hintergrund ihrer finanziellen Mittel und weiteren Ressourcen, ihrer persönlichen Voraussetzungen, z. B. in Bezug auf Bildung und äußere Rahmenbedingungen (z. B. ökonomische und soziale Bedingungen), in der Lage sind, tatsächlich aus einem Set an unterschiedlichen Verwirklichungschancen wählen zu können. Beispielsweise haben Menschen, die in einem Viertel ohne direkten Anschluss an den ÖPNV leben und bis zur nächsten Car-Sharing-Station sechs Kilometer gehen müssen, de facto geringere Freiheiten, sich für ein autofreies Leben zu entscheiden, als Menschen, die in einem Stadtviertel mit guter Anbindung an öffentliche Verkehrsinfrastrukturen leben. Auch Menschen, die über geringe finanzielle Mittel verfügen und aufgrund ihres Bildungshintergrunds wenig über internationale Lieferketten und
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deren soziale und ökologische Implikationen wissen, haben de facto nicht die Freiheit, sich für biozertifizierte, fair produzierte nachhaltige Kleidung zu entscheiden. Dabei, dies sei nochmals hervorgehoben, geht es in erster Linie um die Freiheit der Entscheidung aus einer Auswahlmenge an Optionen und nicht um die Art der gewählten Lebensführung: Im genannten Beispiel beinhaltet die Idee der Verwirklichungschancen, ein nachhaltiges Leben führen zu können immer auch die Freiheit, sich gegen einen nachhaltigen Lebensstil entscheiden zu können. Voraussetzung für partizipative Verständigungsprozesse über das gute Leben ist der Zugang zu relevanten Informationen und öffentlichen Diskursen. Dabei spielen Medien als Ermöglicher von diskursiven, partizipativen Prozessen und als Informationsquelle eine wesentliche Rolle, wie Litschka (2015, S. 199) unter Bezugnahme auf Sen (2010, S. 361 f.) zusammenfassend herausstellt: • „Pressefreiheit und freie, vielfältige Medien erhöhen direkt unser well-being, da sie uns helfen, unsere Lebenswelt (Habermas) zu verstehen. • Massenmedien geben uns die nötigen Informationen, um die Argumente der Anderen zu überprüfen. • Sie unterstützen die Benachteiligten durch ihre öffentliche Situationskritik. • Sie helfen bei der Wertebildung durch offene Diskurse; diese Werte werden, bedingt durch multiple Präferenzordnungen, auch immer divers bleiben. • Sie unterstützen Gerechtigkeit durch Diskussion, die einzig valide Gerechtigkeit bei Sen.“ Mit Blick auf aktuelle Netzwerköffentlichkeiten können diese Überlegungen zur Rolle traditioneller Massenmedien auf alle Akteure der öffentlichen Kommunikation erweitert werden. Aufgabe von Verwaltungs-PR ist es vor diesem Hintergrund, die Rolle aller relevanten Akteure der öffentlichen Kommunikation zu stärken, um bestmögliche Voraussetzungen für eine Beteiligung vieler an Verständigungsprozessen über das gute Leben zu schaffen. Dieser Anspruch geht über bestehende Formulierungen zu Informations- und Auskunftspflichten der Verwaltung weit hinaus und betont die Aufgabe der Verwaltung und insbesondere der Verwaltungs-PR Öffentlichkeit eigeninitiativ zu stärken (siehe hierzu auch Abschn. 4.2). So sollte beispielsweise die in Deutschland vielfach zu beobachtende Schwächung lokaler Öffentlichkeiten, die sich an Indikatoren wie sinkenden Nutzungszahlen lokaler Medien, teilweise erkennbaren Qualitätsproblemen, sinkender Anzahl von klassischen journalistischen Medien und fehlenden alternativen Informationsquellen festmachen lässt, ein Thema für die lokalen Verwaltungen und
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deren PR-Abteilungen sein. Angesichts der grundgesetzlich verankerten Staatsferne der Presse sind eigene presseähnliche Angebote kommunaler Verwaltungen dabei als problematisch anzusehen (siehe u. a. BGH-Urteil I ZR 112/17 zum Crailsheimer Stadtblatt vom 20.12.2018). Neben einer weitreichenden, proaktiven Informations- und Kommunikationsarbeit, die sich an einen breiten Kreis von Akteuren der öffentlichen Kommunikation richtet, sollte das Augenmerk des Verwaltungshandelns daher auf Unterstützungs- und Befähigungsangebote wie Kommunikations- und Medientrainings für zivilgesellschaftliche Akteure oder Angebote zum gezielten Aufbau von Medienkompetenz und Kompetenz im Umgang mit strategischer Kommunikation bei Bürger*innen gerichtet werden. Der Ansatz befähigungsorientierter Verwaltungs-PR weist Berührungspunkte zu Bürgerbeteiligungsverfahren auf und begrenzt auch zum eher aus der Unternehmenskommunikation bekannten Ansatz der Stakeholderdialoge (Krebber 2020; Rademacher et al. 2020; Umansky 2020). Insbesondere im Kontext der Entwicklung von Government zu Governance und dem gleichzeitigen Auftreten von Finanzierungs-, Steuerungs- und Legitimationsproblemen staatlichen Handelns (Bogumil 2001) haben nicht-gesetzlich vorgeschriebene Verfahren der Bürgerbeteiligung seit den 1990er Jahren stark an Bedeutung gewonnen (u. a. van Deth 2003). Befähigungsorientierte Verwaltungs-PR unterscheidet sich letztlich durch die leitende normative Idee der Befähigung von allgemeinen Beteiligungsverfahren oder von Ansätzen wie der Verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit (Burkart und Probst 1991). Der CA liefert mit der Ausrichtung auf die Befähigung von Menschen zu einem aus ihrer Sicht guten Leben eine dezidierte Antwort auf die Frage nach dem Warum dieser Beteiligungs- und Austauschformate, zeigt das übergeordnete Ziel auf und liefert damit auch einen Maßstab zu Bewertung konkurrierender Interessen bzw. zur Priorisierung von Interessen. Damit ist der Ansatz zudem anschlussfähig an das Public-Value-Konzept (siehe u. a. Meynhardt 2009; Moore 2014; hierzu auch: Enke und Wolf 2022).
4.2 Befähigungsorientierung als Handlungsprinzip der Verwaltungs-PR Verwaltungs-PR, die ihre Rolle als Initiator und Moderator einer öffentlichen Verständigung über das gute Leben ernst nimmt, muss sich der Herausforderung stellen, dass die von ihr angebotenen Informations- und Kommunikationsangebote sowie ihre Kommunikationsbeiträge so ausgestaltet sind, dass möglichst alle Bürger*innen die Chance und die Wahlfreiheit haben, diese im Sinne ihres well-beings nutzen können.
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Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der dem CA zu Grunde liegende Freiheitsbegriff und die damit verbundene Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit. Im Sinne des CA umfasst Freiheit nicht nur die Abwesenheit von Hindernissen und von Zwang (negative Freiheit; „Freiheit von“), sondern sie beinhaltet insbesondere reale Möglichkeiten, selbstbestimmt einen wertgeschätzten Lebensentwurf tatsächlich umsetzen zu können (positive Freiheit; „Freiheit zu“) (Saito 2003). Meinungsfreiheit im Sinne einer Freiheit von Zensur (negative Freiheit) führt beispielsweise nicht automatisch dazu, dass alle Menschen gleichermaßen in der Lage sind, sich aktiv an öffentlicher Kommunikation zu beteiligen (Freiheit zu). Übertragen auf die Arbeit der Verwaltungs-PR bedeutet dies, dass Maßstab der Kommunikationsarbeit stets die Frage sein muss, ob die Angebote inhaltlich und formal so ausgestaltet sind und verbreitet werden, dass Bürger*innen vor dem Hintergrund unterschiedlicher individueller als auch gesellschaftlicher Umwandlungsfaktoren diese Informationen gewinnbringend für sich nutzen können (siehe Abb. 4): In diesem Sinne ist es allenfalls notwendig, aber nicht hinreichend, sicherzustellen, dass relevante Informationen für Bürger*innen grundsätzlich zugänglich sind (siehe dazu allgemein Garnham 1999), denn der formal gleiche Zugang von Bürger*innen zu Informations- und Kommunikationsangeboten ist in der Regel mit unterschiedlichen Verwirklichungschancen verbunden und kann entsprechend nicht mit einer informationsbezogenen Chancengleichheit gleichgesetzt werden. Befähigungsorientierte Verwaltungs-PR ist daher gefordert, eine konsequente und weitreichende Rezipient*innenorientierung umzusetzen und differenzierte, zielgruppenspezifische Kommunikationsansätze zu entwickeln, die die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bürger*innen und deren jeweils unterschiedliche kontextuelle Bedingungen berücksichtigen. Dies betrifft sowohl die Frage der gewählten Medien und Kanäle, als auch Fragen der Themenaufbereitung und -vermittlung. Essenziell ist, ob die vorhandenen Informations- und Kommunikationsangebote Bürger*innen in optimaler Weise befähigen, eine reflektierte Entscheidung darüber zu treffen, ob und inwieweit sie die Informations- und Kommunikationsangebote nutzen wollen. Dies schließt auch die Freiheit zur Entscheidung ein, bestimmte Medien und Kommunikationsangebote nicht nutzen zu wollen. Entscheidend ist hier das Moment der Wahlfreiheit und der Handlungsmacht der Beteiligten, aus unterschiedlichen Alternativen wählen zu können. Im Kontext seines Konzepts einer Ethik der Medienwirtschaft spricht Litschka (2015) in diesem Zusammenhang von „Medienbefähigung“ und „Medien-Capabilities“.
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Voraussetzung für gelingende Rezipient*innenorientierung befähigungsorientierter Verwaltungs-PR sind umfassende Kenntnisse über die relevanten Stakeholder, deren Interessen, Erwartungen und Voraussetzungen, die u. a. im Rahmen von empirischen Analysen gewonnen werden können. Darüber hinaus kann sich der Schritt von der Stakeholderanalyse zum Stakeholderdiskurs im Rahmen der Kommunikationsarbeit als vielversprechend erweisen: Gemeint ist damit die aktive Einbeziehung von Stakeholdern in die – strategischen und operativen – Gestaltungsprozesse der Kommunikationsproduktion. Betrachtet man Medien-Capabilities auf individueller Ebene, so werden Berührungspunkte zu Fragen von Medienkompetenz und medialer Teilhabe offensichtlich (für einen Überblick siehe u. a. Hugger 2008). Individuelle Medien-Capabilities umfassen sowohl die Wahlfreiheit zur Nutzung von Informationsangeboten als auch die Wahlfreiheit zur aktiven Teilhabe an öffentlicher Kommunikation. Über Fragen der Qualität der Nutzung von Informations- und Kommunikationsangeboten der Verwaltungs-PR hinaus kann daher als zweite Zieldimension der Verwaltungs-PR die Qualität des Zugangs zu und der Teilhabe an öffentlichen Diskursen zu verwaltungsrelevanten Themen genannt werden (siehe Abb. 4). Medien-Capabilities sind über die individuelle Ebene hinaus für die PR öffentlicher Verwaltungen auch auf Ebene öffentlicher Kommunikation relevant. Ausgehend von der Feststellung, dass (politische) Öffentlichkeit eine zentrale Rolle in demokratischen Gesellschaften zukommt und den Rahmen für die diskursive Verständigung über das gute Leben bietet (Sen 2010, S. 361 f.), kann – wie bereits zuvor erwähnt – eine besondere Verantwortung von Verwaltungs-PR für die Herstellung und Aufrechterhaltung einer viablen öffentlichen Sphäre formuliert werden. In diesem Sinne ist danach zu fragen, ob die öffentlichen Informations- und Kommunikationsangebote der Verwaltungs-PR geeignet sind, Medien und andere gesellschaftliche Akteure wie z. B. NGOs zu befähigen, an öffentlicher Kommunikation zu partizipieren bzw. einen Beitrag zu dieser zu leisten und so die Informations-, Meinungsbildungs- und Kontrollfunktionen von Öffentlichkeit dauerhaft herzustellen. Hier wird die Verbindung zwischen beiden Aspekten einer befähigungsorientierten Verwaltung-PR deutlich. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass das hier geforderte Befähigungsmoment der Verwaltungs-PR sowohl auf individueller wie auf Ebene öffentlicher Kommunikation nicht als allumfassender Anspruch verstanden werden darf, sondern immer bezogen auf das jeweilige Handlungsfeld und die jeweilige Gebietskörperschaft, in dem die vertretene Verwaltung agiert und zuständig ist, gilt.
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Abb. 4 Exemplarische Leitfragen befähigungsorientierter Verwaltungs-PR
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Fazit
Die Orientierung an der Grundidee der Befähigung von Menschen zu einem aus ihrer Sicht guten Leben trägt der vorgegebenen Gemeinwohlorientierung der PR öffentlicher Verwaltungen Rechnung und bietet wichtige Impulse und
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Ansatzpunkte zur Umsetzung eines konkreten Gemeinwohlbezugs in der Kommunikationspraxis. Die Befähigungsorientierung als Handlungsprinzip der Verwaltungs-PR fördert eine umfassende Stakeholderorientierung der Verwaltungs-PR und kann damit als übergeordneter Qualitätsmaßstab der Kommunikationsarbeit dienen. Zudem zeigt sich Befähigungsorientierung in der Rolle der Verwaltungs-PR als Initiator und Moderator von Verständigungsprozessen über das gute Leben, d. h. über bedeutsame Capabilities und Functionings im Bereich der Zuständigkeit der jeweiligen Verwaltung. Eine Stärke des befähigungsorientierten Zugangs liegt dabei in der übergeordneten (positiven) Zielausrichtung – das gute Leben –, das als gemeinsamer Referenzpunkt der am partizipativen Verständigungsprozess Beteiligten dient. Insbesondere vor dem Hintergrund von großer Interessenpluralität und zunehmend konfligierenden bzw. vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen in Konkurrenz zueinander stehender Interessen, kann die Operationalisierung des guten Lebens mittels konkreter gesellschaftlicher und individueller Umwandlungsfaktoren als Orientierungsgröße und Bewertungsmaßstab in Aushandlungsprozessen dienen. Den vielfältigen Potenzialen einer Orientierung der Verwaltungs-PR an der Leitidee des CA, der Befähigung der Menschen zu einem guten Leben, stehen allerdings auch einige Herausforderungen und Probleme gegenüber. Mit Blick auf die Rolle der Verwaltungs-PR als Initiator und Moderator von Verständigungsprozessen über das gute Leben sind zum einen die aus der allgemeinen Bürgerbeteiligung bekannten Umsetzungsprobleme eines weitreichendes Anspruchs der aktiven Einbindung von Bürger*innen aus allen Bereichen der Gesellschaft (Kornelius und Roth 2004; Sauter 2006; Selle 2006) zu nennen, die auch für breit angelegte Verständigungsprozesse über ein gutes Leben gelten dürften. Die Schwierigkeiten, die mit der Aktivierung von Menschen verbunden sind, sind zweifellos bedeutsam und müssen ernst genommen werden. Allerdings können Umsetzungsprobleme und praktische Einwände den grundlegenden Anspruch der Gemeinwohlorientierung von Verwaltungs-PR, die durch die Idee der Befähigung von Menschen zu einem aus ihrer Sicht guten Leben konkretisiert wird, nicht außer Kraft setzen (Scholtes 2005, S. 34). Ähnliches gilt auch für mögliche Einwände, die mit Blick auf die empirische Realität von Verwaltungs-PR deren oftmals knappen Ressourcen, begrenzte Handlungsmacht und Entscheidungskompetenz sowie deren Abhängigkeit von anderen verwaltungsinternen Fachabteilungen anführen und darauf verweisen, dass PR in der Praxis vielfach vor allem als Mitteilungsstelle und weniger als strategisch steuernde und beratend in die Organisation hinein wirkende Funktionseinheit
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agiere (zu den Handlungsspielräumen der Verwaltungs-PR siehe grundlegend Furchert 2000, S. 133 f.; Szyszka 2020, S. 32 ff.). Auch hier plädiert der vorliegende Beitrag dafür, nicht in erster Linie oder ausschließlich die strukturellen und einflussspezifischen Probleme bestehender Praxis in den Blick zu nehmen, sondern die Optionen, die aus einer Orientierung an der normativen Idee der Befähigung für Verwaltungs-PR erwachsen, herauszustellen. Dabei zeigt sich, dass eine Orientierung der Verwaltungs-PR an den Leitgedanken des CA die verwaltungsinterne Rolle der PR-Funktionseinheit betont: Verständigungsprozesse über Aspekte des guten Lebens können in der Regel sinnvoll nur im engen Zusammenspiel von Kommunikations- und Fachabteilungen ausgestaltet und umgesetzt werden. Hier bestehen daher neue Ansatzpunkte für eine verstärkte Kollaboration und Kooperation innerhalb der Verwaltung, dies zumal auch, weil dies bislang ein zentrales Defizit in der Kommunikationsarbeit öffentlicher Verwaltungen darstellt (Röttger und Czeppel 2019). Verwaltungs-PR, die ihren Gemeinwohlbezug befähigungsorientiert umsetzen will, wird daher zunächst verwaltungsintern für die Idee der Befähigung werben müssen, um so Partner aus den Fachabteilungen gewinnen zu können. Dies bietet der Verwaltungs-PR insofern wichtige Impulse für eine neue Rolle in der Organisation, als dass sie so aus der Rolle als reine Vermittlungsstelle für die Entscheidungen und Handlungen Dritter heraus entwickeln kann und selbst stärker gestaltend innerhalb der Organisation und darauf aufbauend auch in Bezug auf Umfeldbeziehungen agieren kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Verwaltungen nicht als autonome Organisationen agieren, sondern vor allem Entscheidungen der gesetzgebenden Gewalt ausführen. Dass Diskurse über das gute Leben stattfinden, können Verwaltungen vermutlich vielfach relativ autonom entscheiden. Ob und inwieweit jedoch die Ergebnisse von Diskursen über das gute Leben letztendlich in kollektive verbindliche Entscheidungen überführt werden, kann Verwaltung nur indirekt und eingeschränkt beeinflussen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich unter dem Dachbegriff „Verwaltung“ Organisationen mit sehr unterschiedlichen Aufgabenprofilen und entsprechend sehr unterschiedlichen Bedingungen für die und Anforderungen an die PR-Arbeit versammeln. In einem nächsten Schritt ist daher eine differenzierte Betrachtung unterschiedlicher Typen von Verwaltungs-PR aus Perspektive des Leitgedankens der Befähigung sinnvoll.
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Gemeinwohl kraft Vielstimmigkeit Zur differenzorientierten Revision des Polyphonieansatzes Oliver Raaz Zusammenfassung
Auf den ersten Blick legt die Verbindung von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl Skepsis nahe. Nicht nur erscheint strategische Kommunikation als Sachwalterin von Partikularinteressen geradezu unverträglich mit dem universalen Charakter des Gemeinwohls, unter den Bedingungen polykontextualer Gesellschaft ist letzteres gleich insgesamt fraglich geworden. Beide Probleme löst der Beitrag unter kritischer Bezugnahme auf den organisationstheoretischen Polyphonieansatz skandinavischer Prägung. Dabei nimmt er – um eine konsistente Differenzorientierung des Ansatzes zu gewährleisten – wichtige Revisionen vor: neben einer epistemologischen und normativen Korrektur steht eine – unvermeidbare Machteffekte und Ausschlüsse betonende – agonistische Interpretation von Polyphonie im Mittelpunkt. In begründeter Übertragung des präzisierten Polyphoniebegriffs auf die gesellschaftliche Makroebene wird Gemeinwohl als „umkämpftes Gemeinwohl“ (agonistisch – reflexiv – à venir) konzipiert. Vornehmliche Aufgabe dem Gemeinwohl verpflichteter strategischer Kommunikation ist es dabei, disparaten „Stimmen“ in Organisation wie Gesellschaft Gehör zu verschaffen – wobei sie stets diskursive Asymmetrien offenlegen und deren Überwindung anstreben sollte.
O. Raaz (B) Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_4
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Schlüsselwörter
Strategische Kommunikation • Polykontextualität • Poststrukturalismus • Antagonismus • Agonistik • Normativität • Aspirational Talk • Integrierte Kommunikation • Erkenntnistheorie • Requisite Variety
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Thematische Eröffnung
Überlegungen zur Verbindung von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl sehen sich unweigerlich mit zwei fundamentalen Schwierigkeiten konfrontiert: a) strategische Kommunikation ist in hohem Maße mit der Vertretung von Partikularinteressen konnotiert und erscheint aus diesem Grund nur schwerlich mit Gemeinwohlaspirationen vereinbar. Grundlegender aber noch b) wirkt der Begriff des ‚Gemeinwohls’ auf den ersten Blick ohnehin anachronistisch: lassen sich Einheitssemantiken (vgl. Fuchs 1992) dieser Art doch konzeptuell kaum mit dem Wissen um eine polykontextuale, funktional differenzierte Gesellschaftsordnung (vgl. Luhmann 1997), die – so muss man gleichsam in einem circulus vitiosus konstatieren – keine gemeingültige Definition von Gemeinwohl mehr kennen kann, zur Deckung bringen. Allein prozedurale, auf die Anerkennung gesellschaftlicher Differenz angelegte Perspektivierungen des Gemeinwohls (vgl. Altmeppen et al. 2019, S. 65 ff.) können in der (post-)modernen Konstellation noch Gültigkeit beanspruchen. Erforderlich sind Konzeptionen, auf deren Basis sich Gemeinwohl – möglicherweise kontraintuitiv – kraft Vielstimmigkeit denken und herstellen lässt. Im Bereich der Organisationskommunikationsforschung erscheint hier am ehesten der Polyphonieansatz skandinavischer Prägung (vgl. Christensen et al. 2015a) in der Lage, beide skizzierten Grundprobleme angemessen zu adressieren und differenzsensible Formen organisationaler wie gesellschaftlicher Kommunikation und Kooperation zu befördern. Allerdings greift der Ansatz die inhärent gesellschaftliche Orientierung von Gemeinwohl nicht direkt auf, sondern argumentiert vorwiegend auf der Mesoebene von Organisationen. Um ihn gewinnbringend für Fragen des Gemeinwohls einzubringen, muss also noch die Erschließung der Makroebene geleistet werden. Zudem offenbart die Polyphoniekonzeption trotz ihrer Differenzsensibilität bei näherem Hinsehen mehrere identitätstheoretische Residuen – sprich theoretische Gehalte, die in selbstwidersprüchlicher Weise der prinzipiellen Anerkennung der irreduziblen Vielheit von (polykontextualen) Beobachtungsperspektiven in der Gesellschaft entgegenstehen. Diese gilt es im Sinne eines konsequent differenzorientierten Verständnisses von Gemeinwohl zu überwinden.
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Der Beitrag verfolgt daher zwei einander ergänzende Ziele: Zum einen strebt er danach, den Polyphonieansatz einer differenztheoretischen Revision zu unterziehen und ihn in sozialtheoretischer, epistemologischer sowie normativer Hinsicht konzeptuell zu präzisieren. Es handelt sich damit (auch) um einen theorieorientierten Beitrag, der auf progressive „theory elaboration“ (vgl. Wagner und Berger 1985) ausgerichtet ist. Darauf aufbauend strebt der Beitrag zum anderen danach, die auf der Organisationsebene gewonnenen Erkenntnisse auf das (Makro-)Niveau gesellschaftlicher Kommunikation zu übertragen und für ein angemessenes Verständnis von Gemeinwohl sowie dessen Zusammenhang mit strategischer Kommunikation insgesamt fruchtbar zu machen. Hierfür wird der Polyphonieansatz zunächst konzise vorgestellt (1), um ihn sodann einer epistemologischen wie normativen Revision zu unterziehen (2). Eine weitere Revision interpretiert den Ansatz agonistisch und gewährleistet so die Anschlussfähigkeit an aktuelle sozialtheoretische Tendenzen (3). In einer begründeten Übertragung auf die Gesellschaftsebene eignet sich das dergestalt revidierte Polyphoniekonzept nunmehr, eine differenzorientierte Reformulierung des Gemeinwohlkonzepts sowie der damit verbundenen Bedeutung strategischer Kommunikation zu leisten (4). Ein Fazit rundet den Beitrag ab (5).
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Vielstimmigkeit und Organisation – Skizze des Polyphonieansatzes
Die Diskussion des skandinavischen Polyphonieansatzes muss mit einigen präzisierenden Bemerkungen beginnen. Schon das Attribut des „Skandinavischen“ weist darauf hin, dass es sich hier um eine spezifische Anverwandlung des auf Bakhtins (1981; 1984) literaturwissenschaftliche Analysen zurückgehenden Polyphoniebegriffs handelt (vgl. zur Übersicht der Ansätze mit Fokus auf strategische Kommunikation Schneider und Zerfaß 2018). Für die weitere Auseinandersetzung wichtig festzuhalten ist außerdem, dass der hier interessierende Ansatz gleichermaßen auf einer deskriptiven wie auf einer präskriptiven Ebene argumentiert. Auf der deskriptiven Ebene ist die postmoderne, methodologische Denkprämisse des „[…] to be sensitive to the significance of difference“ (Christensen et al. 2011, S. 460) maßgeblich für die polyphone Orientierung. Unter Gebrauch systemtheoretischer Anleihen wird dabei insbesondere die Pluralität und Heterogenität von Beobachter*innen in und um Organisationen herausgestellt. Daraus folgt der konstruktivistische Schluss, dass ebenso viele Bilder einer Organisation wie Beobachter*innen dieser Organisation existieren, wodurch letztlich auch deren Grenzen ins Unscharfe verschwimmen (Christensen et al. 2015a, S. 12 ff.).
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Angesichts der vielen, einander möglicherweise widersprechenden Organisationsbilder kann die vermeintlich singuläre Identität der Organisation nur noch dank sogenannter „kommunikativer Tricks“ (Christensen et al. 2011, S. 464) über selektive Signifikanten wie den Organisationsnamen oder exponierte Personen wie Vorstandsmitglieder kontrafaktisch unterstellt werden. Wie bemerkt bleiben die Vertreter des Ansatzes aber bei dieser deskriptiven Analyse nicht stehen. Stattdessen betonen sie, dass es sich bei Polyphonie auch um die normativ ausgezeichnete Variante der Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen von Organisationen handelt. Und dies aus ihrer Sicht vor allem in Abgrenzung zum – so wieder ihre Einschätzung – in Praxis und Theorie der Organisationskommunikation vorherrschenden Paradigma integrierter Kommunikation (vgl. statt anderer Bruhn 2018; van Riel und Fombrun 2007). Dieses sei aus Gründen (unterstellter) gesellschaftlicher Konsistenz- und Homogenitätserwartung bestrebt, sämtliche Kommunikationsprozesse der Organisation hierarchisch entlang dem Credo einer „one-voice-policy“ auszurichten (vgl. Christensen und Langer 2009, S. 140). Das daraus hervorgehende, integrationsorientierte Mantra des „walk the talk“ – also die geforderte Übereinstimmung von „Wort“ (symbolische Ebene) und „Tat“ (Handlungsebene) – bringt aus Sicht der Polyphonieforschung insbesondere zwei zentrale Probleme mit sich: einerseits führt es ganz im Stil der von Michel Foucault (1994; 2003) analysierten Disziplinartechnologien zu einer Kultur der Überwachung in Organisationen. Kommunikationsakte stehen stets im Verdacht, sich außerhalb des von der Organisationsspitze definierten Rahmens der legitimen Stimme zu bewegen (vgl. Christensen und Langer 2009, S. 140). Andererseits verhindert die hierarchische Festlegung einer Kommunikationsstrategie die emergente Entstehung innovativer Lösungsansätze, die zur existenzsichernden Anpassung an komplexe, turbulente Umwelten beitragen können (vgl. Christensen et al. 2015a, S. 12). Gemäß dieser Sicht stehen Organisationen also vor einem Dilemma: entweder entsprechen sie den vorausgesetzten gesellschaftlichen Homogenitätserwartungen und verwirken dadurch möglicherweise existenzkritische Innovationspotenziale. Oder sie setzen auf polyphone Flexibilität, sind dann aber dem Risiko einer potenziell vertrauensschädigenden Inkonsistenzentdeckung ausgesetzt. Der Polyphonieansatz löst dieses Dilemma mithilfe des Konzepts aspirationaler Kommunikation. In enger Anlehnung an Brunssons Hypokrisieargument (vgl. Brunsson 2016), das organisationale ‚Scheinheiligkeit‘ als Folge teils unvereinbarer, widersprüchlicher Erwartungen in komplexen sozialen Umwelten für kaum vermeidbar erachtet, wirbt er für eine Kultur der Diskrepanztoleranz (vgl. Christensen und Langer 2009; Christensen et al. 2020a). Dies wird in erster Linie mit der Unausweichlichkeit von Diskrepanzen begründet: schon Sprache ist der modernen
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Sprachphilosophie gemäß ja hypokritisch. Zeichen und Bezeichnetes stehen in einem künstlichen, arbiträren Verhältnis zueinander. Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist damit immer schon ein uneigentliches (vgl. Werhane 2018). Noch darüber hinausgehend weist der Polyphonieansatz in postmoderner Manier auf die Unauflöslichkeit von Sprache und Handeln hin: „speech is action, just as our actions simultaneously speak“ (Christensen und Langer 2009, S. 143). Bei Sprache handelt es sich demzufolge nicht um eine externe Repräsentation organisationaler Realität, sondern – ganz im Sinne der CCO-Tradition im Rahmen der Organisationskommunikationsforschung (vgl. statt anderer Schoeneborn et al. 2018) – um das Kernelement von Organisationen schlechthin. Deshalb besitzt sie transformatives Potenzial: selbst wenn sich eine organisationale Selbstbeschreibung im Widerspruch zu weiteren Teilen der Organisation befindet, kann sie neue Ideen hervorbringen und Mitglieder zu deren Umsetzung motivieren (siehe auch Haack et al. 2012, die diesen Prozess als „creeping commitment“ bezeichnen). Dieser Prozess lässt sich am Beispiel eines Autokonzerns illustrieren: zu einem Zeitpunkt x1 fällt der Konzern noch durch die Manipulation von Abgaswerten auf. Positioniert sich der Konzern in der Außendarstellung („talk“) nun als ökologisch und nachhaltig (y), so ist dies zwar inkonsistent mit Zeitpunkt x1 („action“) und mag daher mediale Kritik hervorrufen. Jene sollte aber – im Sinne des Plädoyers für Toleranz – nicht übersehen, dass gerade das Ausrufen einer nachhaltigen Unternehmensstrategie als „aspirationale Kommunikation“ in letzter Instanz tatsächlich zu einer nachhaltigen Unternehmenspolitik führen kann („action“ zu Zeitpunkt x2 ). Inkonsistenzen zwischen der symbolischen Sprachebene und der realen Aktivitätsebene erweisen sich als gleichermaßen notwendige wie vorübergehende Etappe auf dem Weg zu moralisch akzeptableren Handlungsmustern (vgl. Haack et al. 2012).
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Revisionen I – Differenzorientierte Bereinigung
Der genuinen Differenzorientierung des Polyphoniebegriffes sowie der prima facie überzeugenden Argumentationsstruktur zum Trotz enthält der skandinavische Polyphonieansatz identitätstheoretische Reste, die einem ausgereiften, praxisfähigen differenztheoretischen Verständnis von Gemeinwohl in der strategischen Kommunikation zuwiderlaufen. Die problematischen Theorieelemente werden im Folgenden je kurz erläutert und einer differenztheoretischen Revision zugeführt. Als revisionsbedürftig erweist sich zunächst das Konzept aspirationaler Kommunikation. Genauer betrachtet offenbart sich hier das implizite (a) Festhalten an
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einer realistischen Erkenntniskonzeption. Ganz im Gegensatz zur angekündigten postmodernen Sprachtheorie wird das Primat der Handlungsebene (und mithin die Entgegensetzung von Sprache und Handeln) nämlich beibehalten. Sprache und Handeln werden hier in Wirklichkeit gar nicht als einander wechselseitig durchdringende Größen konzipiert. Stellt man sich aspirationale Kommunikation wie oben angedeutet schematisch als (fortgesetzte) Intervention („y“) zwischen zwei Zeitpunkten („x1 “; „x2 “) vor (= x1 → y → x2 ), stehen im Endeffekt die vermeintlich faktischen Handlungsoperationen der Organisation zu den Zeitpunkten x1 und x2 im Vordergrund. Scheinbar lassen sich diese neutral und unabhängig von jeder sprachlich-diskursiven Verfasstheit ermessen. Kennzeichnend ist also ein realistisches, korrespondenztheoretisches Denken: im Kern wird die Frage verhandelt, ob der ‚talk’ die Realität der ‚action’ bereits widerspiegelt oder (noch) nicht. Die Handlungsebene erscheint dadurch – ganz im Gegensatz etwa zum Verständnis von Handlungen als kommunikativen Selbstsimplifikationen beim ansonsten als Referenzautor des Polyphonieansatzes dienenden Luhmann (z. B. 1984, S. 191) – gerade nicht von jeher kommunikativ durchsetzt. Im Gegenteil erweist sie sich als gänzlich eigenständige Dimension, die sporadisch auf sprachliche Veränderungsimpulse reagiert (oder auch nicht). Auch die vertiefende Elaboration des Konzepts aspirationaler Kommunikation in jüngeren Publikationen (siehe v. a. Christensen et al. 2020a, 2020b) hat die hier entfaltete Problematik nicht kurieren können. Sowohl die Ausdifferenzierung der temporalen Modi von Hypokrisie (vgl. Christensen et al. 2020a), als auch das Aufzeigen verschiedenartiger Talk-Action-Dynamiken (vgl. Christensen et al. 2020b) bezeugen letztlich vor allem das Bestreben zur Nuancierung sowohl der diskursiven Talk-Dimension als auch der Möglichkeiten, mit ihrer Hilfe Organisationsaktivitäten in moralisch wünschenswerter Weise zu beeinflussen. Pointiert kommt dies in der Aussage, wonach „multiple dynamics are at play on the journey from talk to action” (Christensen et al. 2020b, S. 3), zum Ausdruck. Das Interesse an Talk-Action-Dynamiken zielt folglich weiterhin einseitig auf die schon der Begriffsanordnung ablesbare Einflussrichtung (talk → action), wobei es die Handlungsebene als zentrale Orientierungsgröße belässt, deren Realitätsstatus – und das ist an dieser Stelle entscheidend – de facto unangetastet bleibt. Die verstärkte Betonung interpretativer Pluralität reservieren die Autor*innen nämlich für den talk und in ihm verwendete Begriffe wie Verantwortung oder Nachhaltigkeit als ambigue „moving targets“ (Christensen et al. 2020a, S. 334). Wichtig ist festzuhalten, dass der Hinweis auf die erkenntnistheoretische Unzulänglichkeit keinesfalls automatisch damit einhergehen sollte, das Konzept des aspirational talk insgesamt zu verwerfen. Gerade, wenn man gemäß der Polyphonieperspektive von der prinzipiellen Uneindeutigkeit der Organisation
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ausgeht, erscheint aspirationale Kommunikation immer schon vonnöten, insofern (innovative) Lösungen in den Organisationsdiskurs eingebracht werden sollen. Im Vornherein kann nie feststehen, wie andere Organisationsbeobachter*innen deren diskursiven Realitätsgrad beurteilen. Daher ist stets damit zu rechnen, dass eigene Beschreibungen wie die Forderung nach Nachhaltigkeit zunächst als inkonsistent eingestuft werden. Im weiteren Verlauf aspirationaler Kommunikation muss es deshalb grundsätzlich darum gehen, einen Konsens über Maßnahmen und Kriterien etwa nachhaltiger Unternehmenspolitik anzuvisieren. Einer kritischen Überarbeitung bedarf auch das Konzept der besseren Umweltangepasstheit polyphoner Organisationsstrukturen. Das dahinterstehende Argument genießt zwar vor allem in der Diskussion heterarchischer Organisationsdesigns weite Verbreitung und steht in einer Tradition mit Ashbys (1958) bekanntem Plädoyer für „requisite variety“.1 Jedoch widerspricht es den Grundannahmen differenzorientierten, polyphonen Denkens, indem es symmetrisch zur (b) Ontologisierung der Organisation ebenso wie ihrer Umwelt neigt. Auf der einen Seite vernachlässigt die Vorstellung optimierter organisationsökologischer Adaption also die unvermeidliche Uneindeutigkeit von Organisationen. Schon diese Uneindeutigkeit konterkariert aber den Versuch, Organisationen schlichtweg als eindeutig fixierbare Objekte umweltspezifischer Selektionsprozesse zu begreifen (zum generellen Problem des Transfers biologischer Evolutionskonzepte in die Sozialwissenschaften vgl. Müller 2010). Auf der anderen Seite wird die organisationale Umwelt hier wenigstens implizit als unabhängige, essentialistische Realitätsebene konzipiert. Von differenztheoretischer Seite sind dem vor allem zwei konstruktivistische Argumente entgegenzuhalten. Erstens ist die Umwelt nur ein je perspektivisches und selektives Beobachtungsresultat organisationaler Beobachter*innen. Aus diesem Grund steht eine einheitliche Umwelt als Maßstab womöglich gradueller Anpassung nicht zur Verfügung. Umweltangepasstheit kann konsequent nur disjunktiv gedacht werden: eine Organisation ist entweder angepasst (und existiert), oder nicht (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 87). Auch die Variation, gerade die Komplexität und Turbulenz gesellschaftlicher Umwelten hervorzuheben und daraus einen Vorzug polyphoner Organisation – die dann mit einer größeren Zahl unprognostizierbarer Zustände zurechtzukommen in der Lage ist – abzuleiten, geht fehl. Erwächst doch selbst dieser Vorschlag noch aus einer Vorstellung von Umwelt als eigenständiger Realitätsebene, mag diese nun auch komplex und 1
Gemäß dem Konzept der „requisite variety“ hängt das Überleben unterschiedlichster Systeme von deren Fähigkeit, auf (destruktive) Umwelteinwirkungen mit einer Vielzahl interner Zustände reagieren zu können, ab (vgl. Ashby 1958, S. 88).
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dynamisch gedacht sein. Dagegen ist konstruktivistisch zweitens die unauslöschliche Einschreibung der Organisation in die Umwelt geltend zu machen, die deren vermeintliche Selektionsfunktion systematisch untergräbt: „The environment is not a preexisting set of problems to which an organism, or an organization, must find solutions; the problems were created by the organisms or organizations in the first place“ (Czarniawska 1997, S. 3; siehe auch Giddens 1997, S. 290). Differenztheoretisch gedacht kann der Vorzug von Polyphonie folglich nicht in besserer Umweltanpassung liegen, sondern muss vollends normativ in der radikalen Orientierung auf demokratische Partizipation und Responsivität gesucht werden.
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Revisionen II – Agonistische Polyphonie
Über die Ausräumung realistischer Residuen hinaus ist nun noch die differenztheoretische Präzisierung des Polyphonieansatzes vonnöten. Um vulgärpostmodernistische Vorstellungen (siehe hierzu pointiert kritisch Žižek 2014, S. 127 ff.) polyphoner Kommunikation zu vermeiden, ist es notwendig, den dezidiert antagonistischen Charakter eines jeden Differenzsystems herauszustellen. Ins Zentrum der Diskussion rückt die Spannung zwischen dem der Polyphonie inhärenten Anspruch auf die Aufhebung hierarchischer Strukturen auf der einen, und der ‚Unhintergehbarkeit des Autors‘ auf der anderen Seite. Letztere bezeichnet die Notwendigkeit der Koordination und Schließung (vgl. Christensen et al. 2015b; Deetz 1992) polyphoner Organisationsdiskurse – schließlich stehen Organisationen ja unter konstantem Entscheidungsdruck. Mithilfe poststrukturalistischer Theorieangebote (insbesondere von Chantal Mouffe und Jacques Derrida) soll das Problem des Widerstreits von Polyphonie und Autorschaft einem innovativen Ausweg zugeführt werden. Als ausschlaggebend hierfür erweist sich die Konzeption einer agonistischen Polyphonie. Zur Lösung des Dilemmas muss zunächst also der Grundbegriff des „Antagonismus“ (Mouffe 2007, S. 17 ff.) eingeführt werden. Gemäß der poststrukturalistischen Sozialtheorie ist davon auszugehen, dass jedes diskursive System unvermeidlich antagonistisch verfasst ist. Kommunikative Zusammenschlüsse respektive Diskurse basieren demnach per se auf einem existentiellen Freund/Feind-Schema (vgl. Mouffe 1999).2 Erst über das Bestehen eines Feindes lässt 2
Konzeptuell schließt Mouffe hier an Gedanken des politisch diskreditierten Staatsrechtlers Carl Schmitts (siehe Schmitt 2015 [1932]) an, jedoch in ingeniöser Abgrenzung zu dessen anti-demokratischer Haltung.
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sich die eigene, stets prekäre Identität behaupten. Als „Feinde“ gelten alternative diskursive Konstruktionen und Praktiken, die für das eigene System als bedrohlich eingeschätzt werden und daher bekämpft werden sollen. Die entscheidende Pointe des Ansatzes besteht darin, dass dieser Mechanismus – anders als man es zunächst erwarten dürfte – in gleicher Weise für demokratische Systeme wie eben polyphone Organisationen gilt. Auch sie dürfen nicht als ungeteilt harmonisch verfasste soziale Gebilde (miss-)verstanden werden, denn ihnen stehen ebenfalls notwendigerweise feindliche Konstruktionen wie beispielsweise eine strikt hierarchische Kommunikationspolitik gegenüber. Einer dezidiert demokratischen – und damit auch einer konsequent polyphonen – Option muss jedoch daran gelegen sein, den Ausschlüsse zelebrierenden Antagonismus in den durch wechselseitige Anerkennung gekennzeichneten Modus des „Agonismus“ abzumildern (vgl. Mouffe 2014, S. 27 ff.). Ein solcher Agonismus kommt zustande, wenn es dem Diskurs gelingt, vorhandene Feindschaft(en) in eine Gegnerschaft zu transformieren. Voraussetzung dafür ist die Entstehung einer Hegemonie abstrakter Ziele, um deren Konkretisierung die Kontrahenten miteinander ringen. Im hier diskutierten, normativ wünschenswerten Fall wäre dies Polyphonie. Und bei dem vormaligen „Feind“ integrierte Kommunikation handelt es sich nunmehr um eine diskursive Organisationsfraktion, die sich bemüht, aus ihrer Sicht unvermeidliche hierarchische Momente im polyphonen Organisationsdesign zu installieren. Wichtig ist es jedoch an dieser Stelle einzusehen, dass der Agonismus die antagonistische Grundkonstellation nie vollständig zu überwinden vermag. So kann eine Gegnerschaft jederzeit wieder in Feindschaft umschlagen (vgl. ebd., S. 30), sobald beispielsweise Vertreter integrierter Kommunikation versuchen, polyphone Bestrebungen komplett zu überwinden. Auch aus diesem Grund darf die polyphone Kommunikation keineswegs als neutrale Infrastruktur der rationalen Auseinandersetzung missverstanden werden: da Antagonismen jederzeit wieder aufbrechen können, müssen die verschiedenen diskursiven Fraktionen innerhalb von Organisationen grundsätzlich als inkommensurable Positionen aufgefasst werden, die zwar einen temporären, „konflikthafte[n] Konsens“ (ebd.) erzielen können – keinesfalls aber einen, auf einer Art transhistorischer Vernunft basierenden, rationalen Konsens. Der niemals neutrale sondern dezidierte Machtcharakter wird insbesondere in den unvermeidbaren Ausschlüssen auch einer demokratisch orientierten, polyphonen Organisationskultur offenbar, die sich auf drei unterschiedlichen Ebenen identifizieren lassen:
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• ein polyphoner Kommunikationsprozess schließt nicht nur (a) den „Feind“ einer strikt hierarchischen, integrierten Kommunikationspolitik aus, • sondern zugleich auch (b) alternative institutionelle, polyphone Organisationsarrangements. Diese betreffen etwa den zeitlichen Ablauf, die Art der Partizipationsmöglichkeiten sowie die formalen Entscheidungsverfahren polyphoner Kommunikationsprozesse. • Nicht zuletzt bleiben im Rahmen der Entscheidungsfindung auch (c) alternative Optionen und Positionen unberücksichtigt. Bilanzierend sind folglich drei ineinander verschränkte Präzisierungen des Polyphoniebegriffs vorzunehmen: 1) Polyphonie kann sinnvoll also nur als agonistische Polyphonie verstanden werden. Anders als ihre semantische Nähe zu musikologischen Begriffen wie Konzert oder Orchester es nahelegt, gründet sie unweigerlich auf dem Zusammenspiel von Hegemonie und Antagonismus, der die beschriebenen Ausschlüsse nach sich zieht. Aus diesem Grund sollte es sich bei Polyphonie aus normativer Sicht im Idealfall stets um 2) reflexive Polyphonie handeln: da ihr je spezifisches institutionelles Design nie neutral sondern immer zugleich (unabhängig davon, ob gewollt oder nicht!) Ausdruck von Machteffekten ist, muss dieses Design selbst kontinuierlicher Gegenstand polyphoner Debatten und verbessernder Korrektur bleiben. Dieser Punkt führt zu unserem Ausgangspunkt der Spannung zwischen Autorschaft und dem inhärenten Streben nach ihrer Suspension zurück. Aus poststrukturalistischer Sicht handelt es sich um ein produktives Dilemma: Da das Ziel vollkommener Polyphonie und Inklusivität nie vollständig eingelöst werden kann, bleibt Polyphonie stets 3) Polyphonie ‚a venir‘ (zum poststrukturalistischen Konzept des „à venir“ vgl. Derrida 1991, S. 56; 1992; siehe zur jüngeren Auseinandersetzung Dallmayr 2017), also eine erst kommende Polyphonie. Dies umso mehr, als eben auch die Maßstäbe der Polyphonie in gleichem Maße wie ihre institutionellen Verkörperungen immer Teil polyphoner Auseinandersetzungen bleiben sollten. Genau aus diesem Grund erweist sich die erst zu kommende Polyphonie als Antriebsmotor für unabschließbare Versuche der Verbesserung von Polyphonie.
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Folgerungen: Umkämpftes Gemeinwohl
Die bisherigen, sich selbst theorieelaborativ verstehenden Ausführungen präzisieren mit dem skandinavischen Polyphonieansatz eine Perspektive, die forschungsheuristisch in erster Linie auf dem mesologischen Emergenzniveau von Organisationen zu verorten ist. In ihnen werden gewissermaßen Bedingungen und
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Ansprüche eines soziale Diversität reflektierenden Gemeinwohls auf der Ebene von Organisationen formuliert. Eine weitere Ambition dieses Beitrags besteht nun darin, die gewonnenen Erkenntnisse nicht auf den Sozialtypus der Organisation beschränkt zu belassen, sondern sie fruchtbar auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Gemeinwohl im Allgemeinen zu skalieren. Gerechtfertigt wird dieses Bestreben vornehmlich durch ein eher theoretisch-deskriptives und ein primär normatives Argument: theoretisch lässt sich der Erkenntnistransfer vor allem anhand der Einsicht stützen, dass soziale Gebilde wie Diskurse jedweder Natur – und damit unabhängig von der Spannweite der sozialen Ebenen, die sie übergreifen – den gleichen (antagonistischen) Reproduktionsbedingungen gehorchen (vgl. Laclau und Mouffe 2006, S. 161 ff.). Gedeckt wird der Vorschlag ferner durch die analoge normative Feststellung, wonach sich veritable Demokratisierungsprozesse immer möglichst auf sämtlichen sozialen Ebenen zugleich zu vollziehen haben (vgl. Mouffe 2018, S. 61 ff.). Folgt man dem Gedanken der Übertragbarkeit, so ergeben sich daraus für den Begriff des „Gemeinwohls“ Konsequenzen, die sein klassisches, identitätstheoretisches Verständnis in grundlegender Weise korrigieren und seine Anschlussfähigkeit an ein dezentriertes, (post-)modernes Gesellschaftsverständnis herstellen: Zentrales Merkmal eines mithilfe der agonistischen Polyphoniekonzeption neuverstandenen Gemeinwohls ist dessen genuin politischer Charakter. Gemeinwohl ist immer schon je Gegenstand diskursiver Auseinandersetzungen und in diesem Sinne umkämpftes Gemeinwohl. Ein angemessenes Verständnis von Gemeinwohl verbindet sich daher mit der Anerkennung von Konfliktualität als Normalmodus organisationaler wie gesellschaftlicher Reproduktion. Anders als es klassische Gemeinwohlkonzeptionen annehmen (vgl. kritisch Blum 2015), erweisen sich Konflikte mithin als Bedingung der Möglichkeit und nicht als auszuschaltende Behinderung von Gemeinwohl. Dagegen vermag die Idee einer neutralen, gleichsam einer universalen Vernunft abkünftigen Gemeinwohlkonzeption in einer heterogenen, teils durch inkommensurable Wertorientierungen geprägten Gesellschaft nicht nur nicht (länger) zu überzeugen. Im Gegenteil muss ein sich auf diese Idee stützendes Vorgehen sogar als Korruption authentischer Gemeinwohlanliegen eingestuft werden, verschleiert es doch den politischen Charakter des Gemeinwohls zugunsten einer moralisch wie epistemologisch fragwürdigen Absolutsetzung der eigenen Position (siehe zur Kritik an verwandten liberalen Vorstellungen Mouffe 2007, S. 48–84). Statt Optionen kritisch zur kollektiven Diskussion zu stellen, versucht eine solche Hypostasierung von Vernunftansprüchen – sei es im organisationalen oder gesellschaftlichen Kontext – anderen Positionen gewaltsam ihre Version einer gelungenen sozialen Koexistenz aufzuzwingen. Als Realisierung eines demokratischen Arrangements
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auf gesellschaftlicher Ebene lässt sich Gemeinwohl im Kontrast dazu wie bemerkt als umkämpftes Gemeinwohl begreifen und in Homologie zur Polyphonie in drei Hinsichten mit konkretisierenden Attributen versehen: 1. Agonistisches Gemeinwohl: anders als es der Begriff auf den ersten Blick suggeriert, bedeutet Gemeinwohl nicht die Auflösung sozialer Konflikte im (moralisch) Universellen, sondern eine Suche nach akzeptablen universelleren Lösungen, die notwendig im Partikularen verankert und mit Ausschlüssen verbunden bleiben. 2. Reflexives Gemeinwohl: differenzsensible Konzeptionen erkennen die agonistische Konstitution des Gemeinwohls an und kehren die produktive Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen in ein Kernmoment von Gemeinwohl. Solchen Ansätzen wird dabei (möglichst) als Kontrahenten, nicht als Feinden begegnet. 3. Gemeinwohl à venir: im Spannungsfeld von unvermeidbarem Ausschluss und dessen erwünschter Überwindung bleibt es ein immer ‚künftiges’ Gemeinwohl, das zwar inhärent unerreichbar ist, aber je in der Gegenwart inklusivere Neu-Konfigurationen der vielstimmigen Diskurse zur Bestimmung seiner selbst anregt. Strategischer Kommunikation (vgl. Röttger et al. 2013) kommt bei der Herstellung einer gemeinwohlorientierten, polyphonen Kommunikationskultur eine entscheidende Rolle zu. Dies betrifft schon die Ebene polyphoner Organisationen: Hier obliegt es strategischer Kommunikation, Foren aktiver Auseinandersetzung zu kreieren, in denen – um einen im Kontext der Diskussion von aspirationaler Kommunikation entwickelten Vorschlag (vgl. Winkler et al. 2020, S. 106) aufzugreifen – a) Organisationsmitglieder zur Partizipation an organisationalen Entscheidungsdiskursen ermuntert („Invitational rhetoric“) werden, b) (auch: fundamentaler) Dissens erwünscht ist und produktiv als Lernfaktor sowie Triebkraft der Konkretisierung von Vorschlägen genutzt wird („Listening rhetoric“) und vor allem c) diskursive Machtstrukturen immer wieder selbst mit zur Disposition stehen („Re-articulation rhetoric“). Gerade der letzte Punkt betrifft strategische Kommunikation in besonderer Weise. Müssen Machteinflüsse auf die Herstellung diskursiver Infrastrukturen für polyphone Kommunikation doch permanent hinterfragbar bleiben und spezifische Arrangements der Vielstimmigkeit im Sinne der Polyphonie à venir stets revisionsbereit gehalten werden. Mit Blick auf gesellschaftliches Gemeinwohl richten sich aus der Perspektive einer reflektierten Agonistik (vgl. Mouffe 2014) analoge Erwartungen an strategische Kommunikation. Geht es bei organisationaler Polyphonie auf den ersten Blick vor allem um
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die Ausschaltung organisationsinterner Disbalancen (vertikale Dimension), tritt bei Orientierung an gesellschaftlichem Gemeinwohl stärker noch die Beteiligung der Organisation an gesellschaftsweiten Kommunikationsprozessen (horizontale Dimension) ins Relief. Strategische Kommunikation ist damit gefordert, auf der einen Seite externen ‚Stimmen‘ in der Organisation Resonanz zu verschaffen. Auf der anderen Seite gilt es, Positionen der Organisation angemessen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Genauso wie in der internen Kommunikation zugleich die horizontale Dimension von Relevanz ist (etwa die Beteiligung formal gleichgestellter Abteilungen), ist umgekehrt auch der Prozess der öffentlichen Definition von Gemeinwohl von strukturellen Asymmetrien geprägt. Hier sieht sich die strategische Kommunikation insbesondere einflussreicher Organisationen gefordert, solche Asymmetrien transparent zu machen und offensiv für deren Vermeidung einzutreten (= Re-articulation) (hierzu auch: Thummes & Winkler 2022). Aufgrund der inneren Verzahnung von organisationaler Polyphonie und gesellschaftlichem Gemeinwohl als Momenten einer allgemeineren Intensivierung von Demokratie sollten die Herstellung von organisationaler Polyphonie und gesellschaftlichem Gemeinwohl im Idealfall als komplementäre Prozesse ablaufen, strategische Kommunikation mithin beide Prozessen gleichzeitig aktiv im Sinne agonistischen Denkens mitgestalten und bewusst als Elemente eines vielschichtigen Prozesses der Demokratisierung wahrnehmen. Auch in einer differenzorientierten, agonistischen Perspektive – jedoch konträr zu ihrer liberalen, den Antagonismus vernachlässigenden Grundintuition – können Ronneberger und Rühl (1992) also recht behalten, wenn sie strategische Kommunikation (genauerhin: Public Relations) zum relevanten Faktor von Gemeinwohl promovieren.
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Fazit
Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen waren die Frage nach der Kompatibilität von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl auf der einen sowie diejenige nach der generellen Sinnhaftigkeit des Gemeinwohlwohlbegriffs in multiplexen Gesellschaften auf der anderen Seite. Beide Probleme können mithilfe der in diesem Beitrag entfalteten und kritisch weiterentwickelten Polyphoniekonzeption skandinavischer Prägung einer tragfähigen Lösung zugeführt werden. Erst eine auf „Vielstimmigkeit“ angelegte Kommunikationsordnung vermag es, sowohl der Spannung von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl eine produktive Wendung zu geben als auch dem Gemeinwohlbegriff einen zeitgemäßen, trans-identitätsorientierten Sinn zu verleihen. Hierzu erweisen sich
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jedoch einige präzisierende Revisionen der Polyphoniekonzeption als notwendig. Zunächst stellt die Entfernung realistischer Residuen aus dem Ansatz klar, dass sich diskursive Beiträge prinzipiell nicht auf ein externes Wahrheitskriterium berufen können, sondern unausweichlich mit einer womöglich dissensualen Auseinandersetzung zu rechnen haben. Zudem lehrt die Zurückweisung des Arguments der besseren Umweltanpassung polyphoner Organisationen, wie wenig sich das Streben nach polyphonen resp. demokratischen Organisationen und Gesellschaften mithilfe instrumenteller Rechtfertigungsordnungen erhärten lässt (bestenfalls subsidiär) – vorrangig bleibt es auf eine normative Begründung, die den Eigenwert demokratischer Praktiken unterstreicht, angewiesen. Als besonders fruchtbar erweist sich darüber hinaus die agonistische Interpretation des Polyphonieansatzes. Auch demokratieorientierte, polyphone Diskurse sind demzufolge notwendig antagonistisch, sprich durch machtbasierte Ausschlüsse, durchwirkt, können den Antagonismus – wenngleich nie vollständig – aber zu einem Agonismus der Gegnerschaft abmildern. Übertragen auf gesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse führt Konfliktualität als Normalmodus gesellschaftlicher wie organisationaler Kommunikation die konventionelle Vorstellung eines homogenisierten Gemeinwohls ad absurdum. Suspekt bleiben müssen Beobachter*innen daher gerade solche Diskursbeiträge, die sich selbst als neutral stilisieren und die mit ihnen verbundenen Ausschlüsse nicht sichtbar machen. Gemeinwohl darf stattdessen bloß als umkämpftes Gemeinwohl konzeptualisiert werden, das a) agonistisch verfasst ist, b) die konfliktuelle Dimension des Agonismus nicht leugnet sondern als fruchtbare Bedingung des kollektiven Bemühens um Gemeinwohl reflektiert und dabei c) die Suspension von Ausschlüssen beabsichtigt, die sich aber niemals vollständig vermeiden lassen, weshalb in letzter Instanz von einem Gemeinwohl à venir gesprochen werden muss. Eine solche Version des Gemeinwohls entkleidet es seines identitätsorientierten Anachronismus und kann mit einer (post-)modernen, dezentrierten Gesellschaftsordnung kompatibel bleiben. Überdies entschärft sie auch die Spannung zwischen strategischer Kommunikation und Gemeinwohlorientierung: Steht doch die Vertretung (organisationaler) Interessen nicht automatisch in Konflikt mit gemeinwohlorientierter Kommunikation, solange sie kooperativ und revisionsbereit angelegt ist. Dem Spannungsfeld zwischen Organisationsinteresse und Gemeinwohl wird man strategische Kommunikation wohl kaum entheben können – immerhin aber ist das Organisationsinteresse aus differenztheoretischer Sicht niemals fixiert und es gibt keinen (ontologischen) Grund, weshalb es nicht (auch) das agonistische Verfolgen eines vielstimmigen Gemeinwohls umfassen sollte.
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Meinwohl = Deinwohl = Gemeinwohl? Potenziale und Grenzen von Public-Value-Ansätzen für die Konzeption und Untersuchung strategischer Kommunikation Nadja Enke und Cornelia Wolf Zusammenfassung
Seit mehr als 25 Jahren wird innerhalb des a posteriori orientierten Gemeinwohldiskurses das Konzept des Public Value diskutiert. Obwohl dieses Konzept in der strategischen Kommunikationsforschung bisher keine Beachtung fand, bietet es zahlreiche Ansatzpunkte, um das Verhältnis von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl zu untersuchen. Ziel dieses Beitrages ist es, den Diskurs für die strategische Kommunikationsforschung zu erschließen. Dabei wird die Frage beantwortet, welche theoretischen Schlussfolgerungen sich auf Basis des Public-Value-Diskurses für die Konzeption und Untersuchung strategischer Kommunikation ergeben. Basierend auf einem Literature Review von 99 Artikel aus kommunikations-, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Journals (n = 60), werden die Charakteristika und Grundlagen des Diskurses beschrieben. So werden drei Public-Value-Strömungen herausgearbeitet: Public Values, Public-Value-Management und wahrgenommener Public Value. Zudem wird das Verhältnis von strategischer Kommunikation und Public Value diskutiert. Für dieses Verhältnis werden drei Verbindungen identifiziert: Public Values als Kommunikationsbotschaft, wahrgenommener Public Value als Kommunikationsziel und Key Performance Indikator sowie Public-Value-Kommunikationsmanagement. N. Enke (B) · C. Wolf (B) Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Wolf E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_5
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Schlüsselwörter
Public Value • Public-Value-Kommunikationsmanagement • Strategische Kommunikation
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Einleitung
Wie kann strategische Kommunikation, die neben Partikularinteressen auch oder sogar vornehmlich Gemeinwohlinteressen bedient, modelliert und praktiziert werden? Diese Frage wurde in der strategischen Kommunikationsforschung bisher vor allem vor dem Hintergrund organisationsfunktionaler Ansätze, wie dem CSRoder dem Shared-Value-Konzept, diskutiert (Chen et al. 2020; Seele und Lock 2015). Diesen Ansätzen liegt die Annahme zugrunde, dass Gemeinwohl a priori, also auf Basis feststehender normativer Werte, bestimmt werden könne. Eine Ausrichtung von Organisationen an Partikularinteressen widerspricht in diesem Verständnis nicht zwangsläufig der Verwirklichung von Gemeinwohl. Letzteres wird vielmehr den Partikularinteressen der Organisation untergeordnet und ergibt sich aus der Notwendigkeit, gesellschaftliche Interessen zu berücksichtigen, um Legitimität und Erfolg zu sichern (Porter und Kramer 2006). Gemeinwohl entsteht somit, wenn Organisationen im Rahmen ihrer Partikularinteressen externe Interessen berücksichtigen. Vereinfacht gesagt, wenn Meinwohl auch gleich Deinwohl ist, entsteht Gemeinwohl. Dabei wird außer Acht gelassen, dass in einer Gesellschaft in der Regel widerstreitende Interessen existieren. An Partikularinteressen orientierte Profit- und Nonprofit-Organisationen unterstützen vor allem jene Interessen, die ein hohes Potenzial haben, den eigenen Organisationserfolg zu beeinflussen (Dembek et al. 2016). Dabei nur bedingt Aushandlungen oder Abwägungen verschiedener Werte und Interessen statt. A posteriori orientierte Gemeinwohlansätze richten sich gegen diese Annahme und verstehen Gemeinwohl als Prozess und Ergebnis zugleich. Unter diesen Ansätzen fand in den vergangenen Jahren insbesondere das Konzept des Public Value (PV) innerhalb der Public-Administration-Forschung (Alford und O’Flynn 2009; Bryson et al. 2014; van der Wal et al. 2015) sowie der Medienmanagementforschung (Karmasin et al. 2011) breite Beachtung. PV fungiert dabei als Oberbegriff für eine Forschungsrichtung, die sich zum einen mit Policy- und Governance-Strukturen, Failure-Kriterien sowie der Bedeutung spezifischer PVs auf Gesellschaftsebene (Bozeman 2002, 2007; Moulton 2009) und zum anderen mit der Definition, Kreation und Messung von PV auf Organisationsebene (Benington 2009; Cole und Parston 2006; Meynhardt 2009; Moore 1995; Stoker 2006) beschäftigt. Obwohl
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dieser Diskurs Potenzial für die Modellierung und empirische Untersuchung strategischer Kommunikation bietet, fand er innerhalb des Forschungsfeldes bisher keine Beachtung. Dieser Beitrag beschreibt daher die Charakteristika des PV-Diskurses, arbeitet die theoretischen Grundlagen sowie Schulen heraus und beantwortet auf dieser Basis die folgende Fragestellung: Welche theoretischen Schlussfolgerungen ergeben sich auf Basis des Public-Value-Diskurses für die Konzeption und Untersuchung strategischer Kommunikation? Diesem Ziel folgend, wurde ein systematisches Literature Review von 99 Artikeln aus 60 englischsprachigen peer-reviewed Journals durchgeführt (Abschn. 2). Anschließend wurden die theoretischen Grundlagen der Beiträge analysiert, geclustert und zu drei zentralen PV-Schulen verdichtet (Abschn. 3). Auf Basis dieser theoretischen Grundannahmen wird zunächst das Verhältnis zwischen organisationalem Handeln und Gemeinwohl und anschließend der Zusammenhang zwischen strategischer Kommunikation und Gemeinwohl diskutiert (Abschn. 4).
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Charakteristika des Public-Value-Diskurses und Potenziale für die strategische Kommunikationsforschung
Der Beschreibung des PV-Diskurses liegt ein systematisches Literature-Review zugrunde (Denyer und Tranfield 2009). Hierzu wurden 60 Journals anhand von zwei Auswahlkriterien identifiziert: Auf Basis des Kriteriums Relevanz im Forschungsfeld wurden die zehn höchstgerankten Journals des Scopus Journal-Rankings (Stand Mai 2019) innerhalb der Forschungsfelder Public Administration, Politische Kommunikation, Wirtschaftswissenschaften und Kommunikationswissenschaft (n = 40) herangezogen. Auf Basis des Kriteriums thematische Relevanz wurden die Subdisziplinen strategische Kommunikationsforschung, Medienmanagement sowie die Nonprofit-Organisationsforschung identifiziert. Die Journalauswahl (n = 20) in diesen Bereichen orientierte sich an bereits existierenden Literature Reviews (Achtenhagen und Mierzejewska 2016; Duhé 2015; Volk 2016) sowie für den Nonprofit-Bereich an der Scopus Journalliste. Durch die Volltextsuche der Begriffe „public value“ und „citizen value“ wurden 625 Artikel identifiziert (Stand: Juli 2019). Das finale Sample (n = 99) enthält ausschließlich Artikel, die PV als Hauptthema für konzeptionelle Überlegungen, empirische Studien oder die Bearbeitung von Praxisfragen verwenden.
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Die Auswertung erfolgte durch die Kombination induktiver und deduktiver Kategorienbildung im Rahmen einer systematisierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Schreier 2013). Das Literature Review zeigt, dass um den Begriff des PV ein mittlerweile über 25 Jahre dauernder Diskurs entstanden ist. Dieser ist hauptsächlich in der Public-Administration-Forschung verankert und hat vielseitige konzeptionelle sowie empirische Arbeiten hervorgebracht. Im Folgenden wird die Entwicklung, Verankerung und der inhaltliche Fokus des Diskurses beschrieben. Der Begriff PV taucht erstmals in der 1970er Jahren auf (n = 2). Allerdings umfasste er zu dieser Zeit noch nicht die von Moore (1995) oder Bozeman (2002, 2007) entwickelten Konzepte. Nach Moores initialem Beitrag 1995 dauerte es ein Jahrzehnt, bis sich der Diskurs etablierte: Nach einem Artikel zwischen 1996 und 2000, wurden zwischen 2001 und 2005 sieben, zwischen 2006 und 2010 dreizehn und zwischen 2011 und 2015 schließlich 48 Beiträge publiziert. Auch in den vergangenen Jahren verlor das Konzept nicht an Relevanz (2016 bis Juli 2019 n = 29). Innerhalb der untersuchten Forschungsfelder lässt sich eine deutliche Verankerung des Diskurses in der Public-Administration-Forschung feststellen (75 %). Lediglich 16 % der Artikel wurden in Journals aus dem Bereich der Nonprofit-Organisationsforschung publiziert. Dem allgemeinen Forschungsbereich der Kommunikationswissenschaft, der strategischen Kommunikationsforschung sowie dem Medienmanagement sind insgesamt sechs Prozent der Beiträge zuzuordnen. Das PV-Konzept findet somit im internationalen kommunikationswissenschaftlichen Diskurs bisher kaum Beachtung. Inhaltlich bietet der Public-Value-Diskurs eine Reihe konzeptioneller (51,5 %) und empirischer (59,6 %, Mehrfachauswahl möglich) Beiträge. Dabei werden sowohl Fragegestellungen auf Meso-Ebene (56,1 %) als auch auf Makro(21,5 %) und Mikro-Ebene (22,4 %) in den Fokus der Betrachtung gestellt. Für die strategische Kommunikationsforschung sind vor allem Ansätze auf Meso-Ebene der Organisation aber auch auf Makro-Ebene von Interesse. Artikel auf Makro-Ebene beschreiben drei relevante Felder: 1. PV-Governance-Strukturen und -Policies 2. PV-Failure-Kriterien 3. Bedeutung spezifischer PVs (z. B. Privatsphäre, Öffentlichkeit, Bildung, Kollaboration and Verantwortung) Die makro-orientierte PV-Forschung bietet das Potenzial theoretische und empirische Erkenntnisse zu liefern, auf deren Basis diskutiert werden kann, in welchem
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Verhältnis das Handeln privater und öffentlicher Organisationen zum Gemeinwohl steht. Für die strategische Kommunikationsforschung ist dabei von besonderem Interesse, welche Erkenntnisse sich daraus für den Einfluss des eigenen Forschungsgegenstands ergeben. Zentral ist dabei die Frage, in welchem Verhältnis strategische Kommunikation und PV sowie konkrete PVs überhaupt stehen können? Welchen Beitrag oder Schaden leistet strategische Kommunikation beispielsweise für die Funktion der Öffentlichkeit und Meinungsbildung? Neben den makro-orientierten Ansätzen sind vor allem meso-orientierte Beiträge relevant, die PV-Management-Konzepte entwickeln und diskutieren (u. a. Benington 2009; Cole und Parston 2006; Moore 1995; Stoker 2006). Diese Beiträge bieten Ansatzpunkte für die theoretische Konzeption und empirische Untersuchung von strategischem Kommunikationsmanagement und seiner Beziehung zu gesellschaftlichen Werten. Neben der allgemeinen Beschreibung von Managementkonzepten sind hier Beiträge von Interesse, die sich mit einzelnen Aspekten innerhalb der Managementdimensionen Planung, Organisation, Personaleinsatz und Führung sowie Kontrolle beschäftigen (siehe Tab. 1).
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Theoretische Grundlagen: Public-Value-Strömungen im Fokus
Bevor theoretische Schlussfolgerungen für die strategische Kommunikation auf Basis des PV-Diskurses diskutiert werden können, müssen die theoretischen Grundlagen des Diskurses näher analysiert werden. Deshalb wurden jeweils die theoretischen Referenzen der 99 Artikel des Literature Reviews herangezogen. Insgesamt wurden 32 theoretische Beiträge identifiziert, auf die in den untersuchten Artikeln verwiesen wurde. Dabei handelt es sich um 15 eigenständige theoretische Arbeiten. Die restlichen Beiträge verweisen auf vorangegangene Beiträge, fassen diese zusammen oder wende Konzepte an, ohne eigenständige theoretische Überlegungen vorzulegen. Durch die Systematisierung der konzeptionellen PV-Literatur wurden drei Strömungen identifiziert: die auf Barry Bozeman zurückgehende makroorientierte Public Values Schule, die durch Mark H. Moore etablierte mesoorientierte Public-Value-Management Schule sowie die psychologisch eingebettete Schule des wahrgenommenen Public Value gegründet von Timo Meynhardt. Diese Strömungen unterscheiden sich anhand der Rolle des demokratischen Prozesses, der potenziellen PV-Produzenten sowie der zugrunde liegenden Perspektive (siehe Tab. 2).
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Tab. 1 Relevante Artikel innerhalb der Managementdimensionen Managementdimension
Thematischer Fokus
Ausgewählte relevante Artikel
Planung
Planungs- & Strategieprozesse
(Alford und Hughes 2008; Dumay 2014; Monfardini und Ruggiero 2014; Moore 2000; Thomson et al. 2014; van Eijck und Lindemann 2014; Vining 2011; Yang 2016)
Values und ValueHierarchie-Konflikte
(Alford und Hughes 2008; de Graaf und Paanakker 2015; Jelovac et al. 2011)
Eigenschaften von Entrepreneurship Strategien
(Kearney und Meynhardt 2016)
Gestaltung organisationsinterner PV-Prozesse & -Strukturen
(Cabral et al. 2019; De Waele et al. 2014; Fisher 2014; Modugno et al. 2014; Palumbo et al. 2018)
Formen der Organisation & Collaboration
(Amsler 2016; Bryson et al. 2006, 2014, 2016; Lazzarini 2019; Palumbo et al. 2018)
Rolle spezifischer PVs für die Führung
(Berman und West 2012; Liguori et al. 2014)
Priorisierung unterschiedlicher PVs durch Führungskräfte & Mitarbeiter
(Jelovac et al. 2011; Liguori et al. 2014; Meynhardt 2009; Meynhardt und Diefenbach 2012; Omurgonulsen und Oktem 2009; van der Wal 2014; Witesman und Walters 2015)
Führungsstile
(Jelovac et al. 2011; Liguori et al. 2014; Meynhardt 2009; Meynhardt und Diefenbach 2012; Omurgonulsen und Oktem 2009; Witesman und Walters 2015)
Rolle spezifischer Einstellungen und Public Service Motivation auf PV
(Kim et al. 2013; Mendel und Brudney 2014; Merritt 2019; Meyer-Sahling et al. 2019; Moulton und Feeney 2011; Prebble 2016)
PV-PerformanceMeasurement-Modelle
(Cuganesan et al. 2014; Guarini 2014; Lavertu 2016; Marcon 2014; Modugno et al. 2014; Moulton und Eckerd 2012; Silvia 2018; Spano 2014)
Messung des wahrgenommenen PV
(Boenigk und Möhlmann 2016; Meynhardt und Bartholomes 2011; Meynhardt und Diefenbach 2012)
Organisation
Personaleinsatz und Führung
Kontrolle
Spezifische (Lewandowski 2014; Palumbo et al. 2018; Potoski Dimensionen und KPIs 2008; Reynaers 2014)
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Tab. 2 Vergleich der Public-Value-Strömungen Public Values
Public-ValueManagement
Wahrgenommener Public Value
Rolle demokratischer Prozess
Notwendig
Notwendig
Nicht notwendig
Public-ValueProduzenten
Öffentliche und private Organisationen
Öffentliche Organisationen
Öffentliche und private Organisationen
Perspektive
Makro
Meso-MakroVerbindung
Mikro-MesoVerbindung
Hauptautor
Bozeman
Moore
Meynhardt
Den Startpunkt der aufgezeigten theoretischen Debatten setzte Moore mit seinem Konzept des strategischen Dreiecks. Demzufolge sollte sich das Management öffentlicher Organisationen an drei zentralen Dimensionen ausrichten: PV, Legitimität und Support sowie operative Leistungsfähigkeit (Moore 1995, 2000, 2014). Public Value steht für die Notwendigkeit zu bestimmen, welche PV-Outcomes eine Organisation schaffen möchte. Moore (1995) definiert diese PVs jedoch nicht näher, sondern betont, dass es sich dabei sowohl um gesellschaftlich ausgehandelte Outcomes als auch spezifische Prozessbedingungen handelt. Durch die Dimension Legitimität und Support hebt Moore diese Prozessbedingungen hervor. So formuliert er den Anspruch an Organisationen, Zustimmung und Legitimität in der Gesellschaft zu generieren und zu erhalten. Dieser Anspruch besteht unabhängig vom Organisationserfolg. Die Dimension operative Leistungsfähigkeit verweist hingegen darauf, dass interne und externe Ressourcen mobilisiert und strukturiert werden müssen, um die erwünschten PVOutcomes zu erreichen. Somit balanciert PV-Management zwischen Effizienz, Effektivität sowie demokratischen Strukturen und Prozessen (Stoker 2006). Aufgabe der Management-Funktion ist es, Strategien, Strukturen, Prozesse, Produkte und Services sowie Measurement-Methoden zu entwickeln, die zur bestmöglichen Balance dieser drei Dimensionen beitragen. Moores Arbeit begründete die meso-orientierte Public-Value-ManagementStrömung. Diese beschäftigt sich damit, wie Organisationsaktivitäten geplant, organisiert und evaluiert werden, um PV kreieren zu können. Die meisten Autoren dieser Schule argumentieren, dass Strategieprozesse, ihre Umsetzung und Evaluation in deliberative Prozesse eingebettet sein müssen, um PV zu generieren. PV wird in dieser Strömung gleichzeitig als Prozess und Ergebnis verstanden
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(Hasebrink 2007). Obwohl eine Reihe von Autoren das Konzept für private Organisationen übernommen haben (Benington 2009, 2011; van Eijck und Lindemann 2014), lassen sich die ursprünglichen Grundannahmen – insbesondere die Anforderungen im Bereich Deliberation und Accountability – ausschließlich durch öffentliche Organisationen erfüllen (Moore 2000). Die makro-orientierte Public-Values-Strömung fokussiert sich hingegen darauf, konkrete PVs, PV-Failure-Kriterien sowie Policy- und Governance-Strukturen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu diskutieren (Bozeman 2002; Bozeman und Johnson 2015; Bozeman und Moulton 2011; Fukumoto und Bozeman 2018; Jørgensen und Bozeman 2007). Da diese Schule konkrete PVs benennt, wie beispielsweise Nachhaltigkeit, Bildung, Öffentlichkeit oder Menschenwürde, verwendet sie den Begriff PVs in der Mehrzahl. Autoren dieser Schule eint, dass sie die Definition, Kreation und Messung von PVs als Ergebnis deliberativer und demokratischer Prozesse konzipieren. Die Generierung von PVs sind dabei als Ziel und Ergebnis dieser Prozesse zu verstehen. Politische Prozesse zeichnen sich durch die Phasen Problemartikulation, Problemdefinition, Politikdefinition, Programmentwicklung, Implementation und Evaluation aus (Jarren und Donges 2011). Die Problemartikulation kann dabei in verschiedenen Arenen und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure erfolgen. Gleiches gilt für die Implementation. Die Entscheidungsfindung verläuft zwar auf verschiedenen, sich gegenseitig beeinflussenden Ebenen, wie z. B. Kommune, Land, Bund, ist aber an das politische Entscheidungs- und Umsetzungssystem gebunden. PVs sind in diesem Kontext somit nicht Ergebnis der Mehrheitsmeinung, sondern werden durch das Abwägen unterschiedlicher Interessen und Werte innerhalb von politischen Prozessen bestimmt. Dies bedeutet auch, dass sie nicht durch Organisationen definiert und evaluiert werden. Die meisten Autoren dieser Schule argumentieren, dass aus dieser Makroperspektive sowohl öffentliche als auch private Organisationen PVs generieren können (Bozeman 2002). Die dritte Strömung begründet ihr PV-Verständnis auf dem psychologischen Konzept der menschlichen Grundbedürfnisse (Meynhardt 2009; Meynhardt und Bartholomes 2011; Meynhardt und Diefenbach 2012). Autoren der Schule des wahrgenommenen Public Value stellen die Bedeutung von wahrgenommenen Outcomes für die Planung, Organisation und Evaluation innerhalb von Organisationen in den Fokus ihrer Überlegungen. Im Gegensatz zur PublicValue-Management-Schule ist das Management jedoch nicht notwendigerweise in deliberative Prozesse eingebettet. PV wird als Einstellung zu und Wahrnehmung von Organisationsaktivitäten verstanden und kann über Befragungen erhoben werden. Da deliberative Prozesse für diese Strömung nicht von Bedeutung
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sind, können sowohl öffentliche als auch private Organisationen PV generieren (Meynhardt 2009).
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Konzeptionelle Ableitungen: Public Value und strategische Kommunikation
Welche konzeptionellen Grundannahmen lassen sich also aus dem PV-Diskurs für die strategische Kommunikationsforschung ableiten? Da sich die Grundannahmen der drei Schulen unterscheiden, hängt dies zunächst davon ab, welche Strömung und welcher Argumentationsstrang zugrunde gelegt wird. Alle drei Schulen lassen Aussagen zum Verhältnis von organisationalem Handeln und Gemeinwohl zu, kommen jedoch zu jeweils unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Die Strömungen PVs und wahrgenommener PV kommen zu dem Schluss, dass sowohl öffentliche als auch private Organisationen PV generieren können. Ihre Grundannahmen sind mit klassischen value- und social-value-orientierten Managementkonzepten vereinbar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Organisationen somit auch am PV bzw. Gemeinwohl ausrichten. Eine konsequente Gemeinwohlausrichtung bieten ausschließlich Konzepte der Public-Value-ManagementSchule. Ansätze, wie CSR oder Shared-Value basieren auf der Integration von sozialen Werten in Geschäftsprozesse und Strategien (Bryson et al. 2015; Dembek et al. 2016; Porter und Kramer 2006). So betonen Porter und Kramer (2006), es sei Aufgabe des CSR-Managements, eine Balance zwischen ökonomischen und sozialen Werten herzustellen, um Shared-Value zu kreieren. Im Gegensatz zum PV-Konzept sind die Organisationen jedoch weiterhin daran gebunden, ökomischen Erfolg bzw. partikulare Interessen zu verwirklichen. Dadurch werden vorrangig soziale Werte unterstützt, die ein hohes Potenzial haben, auch individuellen bzw. ökonomischen Erfolg zu generieren (Dembek et al. 2016). Social Values werden zudem aus Organisationsperspektive und nicht aus Gesellschaftsperspektive bestimmt und evaluiert. Zwar schlägt Meynhardt mit seiner Schule des Wahrgenommenen PVs eine Orientierung des Managements an den Einstellungen und der Wahrnehmung der Bevölkerung vor. Diese sind jedoch, wie bereits beschrieben, nicht notwendigerweise durch deliberative Prozesse zu bestimmen. Auch die Strategie- und Value-Creation-Prozesse sind im Gegensatz zum PV-Management nicht in deliberative Prozesse der Zielaushandlung und des Performance Measurements eingebettet (Bryson et al. 2015). Daraus lässt sich folgendes schließen:
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1. Aus Makro-Perspektive können Organisationen zum PV beitragen unabhängig davon, ob sie sich daran ausrichten. 2. Aus Meso-Perspektive liegt nur dann eine Public-Value- bzw. Gemeinwohlausrichtung vor, wenn das Management in deliberative Prozesse eingebettet ist und sich konsequent an der Generierung von konkreten PVs ausrichtet und diese unter Einbezug der Gesellschaft evaluiert. Welche Rolle nimmt strategische Kommunikation in diesem Zusammenhang ein? Aus Makro-Perspektive hängt die Antwort in erster Linie von der Organisationsausrichtung ab. Das heißt, zu welchem Grad richtet sich die jeweilige Organisation am Gemeinwohl aus. Strategische Kommunikation orientiert sich an Organisationsstrategien und -strukturen (Holtzhausen und Zerfass 2013; Zerfass et al. 2018). Welchen Nutzen oder Schaden sie dabei für das Gemeinwohl generiert, ist somit erst einmal eine Frage, die auf Organisations- und nicht auf Kommunikationsebene beantwortet wird. Jedoch können spezifische Taktiken strategischer Kommunikation selbst einen Nutzen oder Schaden genieren. Dies ist dann der Fall, wenn durch die Aktivitäten spezifische kommunikationsbezogene PVs, wie z. B. eine funktionierende Öffentlichkeit, die Öffentliche Meinungsbildung und Deliberationsprozesse beeinflusst werden. Aus Meso-Perspektive hängt der Beitrag strategischer Kommunikation für die Gemeinwohlausrichtung von Organisationen von zwei Fragen ab: Erstens, welche Rolle spielt strategische Kommunikation für die Gemeinwohlausrichtung und somit das PV-Management von Organisationen. Und zweitens, welche Rolle spielt PV für unterschiedliche Kommunikationsformen? Im Rahmen des PV-Managements ist zwischen der Funktion von deliberativer und strategischer Kommunikation zu unterscheiden. In diesem Beitrag wird ein akteursfunktionales Verständnis strategischer Kommunikation vertreten, welches im Gegensatz zum Konzept der deliberativen Kommunikation steht. Strategische Kommunikation bezeichnet in diesem Verständnis alle Formen von an Organisationszielen ausgerichteter Kommunikation (Röttger et al. 2013; Zerfass et al. 2018). Damit umfasst strategische Kommunikation externe (PR und Marketing) ebenso wie interne Kommunikationsprozesse (Röttger et al. 2013). Zudem werden im Rahmen strategischer Kommunikationsprozesse sowohl einseitige als auch zweiseitige Kommunikationsaktivitäten verwirklicht. Auch wenn einige Autoren deliberative Kommunikation als Teil strategischer Kommunikation fassen (Holtzhausen und Zerfass 2013), schließt sich dieser Beitrag Positionen an, die beide Kommunikationsfunktionen als gegensätzlich konzipieren (Nabatchi 2012). Strategische und deliberative Kommunikation unterscheiden sich anhand der Funktion sowie dem zugrunde liegenden Managementkonzept und -prozess.
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Deliberative Kommunikation richtet sich nicht an Organisationszielen aus. Vielmehr dient sie der gesellschaftlichen Problemlösung (Gastil und Black 2008). Diese Zielstellung verlangt es, dass verschiedene Interessengruppen und Akteure an einem offenen Prozess der begründeten Meinungsbildung teilhaben (Nabatchi 2012). Darüber hinaus zeichnen sich deliberative Kommunikationsprozesse durch das Ziel aus, verschiedene Interessen, sowie ihre Vor- und Nachteile für die Gesamtgesellschaft abzuwägen. Daher ist deliberative Kommunikation häufig eingebettet in demokratische Mehrebenenprozesse. Während strategische Kommunikation darauf begrenzt ist, Organisationsziele zu unterstützen, zielt deliberative Kommunikation darauf ab, gesamtgesellschaftlich ausgehandelte und zuträgliche Organisationsstrategien, Produkte und Dienstleistungen sowie Outcomes zu generieren (Moore 1995). Strategische Kommunikation ist somit eine Organisationsfunktion in klassischen Managementkonstellationen. Deliberative Kommunikation unterstützt hingegen demokratisch ausgehandelte Organisationsziele sowie das PV-Management. Kommunikation kann für die Gemeinwohlausrichtung somit sowohl eine strategische als auch deliberative Rolle einnehmen. Um das Verhältnis zwischen der Organisations- und Kommunikationsausrichtung zu beschreiben (siehe Abb. 1), kann auf horizontaler Ebene zwischen klassisch value-orientiertem Management und PV-orientiertem Management unterschieden werden (zur Unterscheidung value-orientieres Management und Public-Value-Management: Enke et al. 2022). Auf vertikaler Ebene ist wiederum zwischen deliberativer und strategischer Kommunikation zu differenzieren. Für die Bedeutung, die PV in den unterschiedlichen Management- und Kommunikationskonstellationen einnehmen kann, lassen sich drei unterschiedliche Typen bestimmen: 1. PV als Kommunikationsbotschaft 2. Wahrgenommener PV als Kommunikationsziel und Ergebnis 3. Public-Value-Kommunikations-Management Da sich die grundlegenden Zielstellungen von deliberativer Kommunikation und value-orientiertem Management widersprechen, ist kein viertes Verhältnis möglich. PVs als Kommunikationsbotschaft: PV kann als Inhalt von Kommunikationsbotschaften dienen. Dies bedeutet, dass Organisationen Kampagnen und Kommunikationsmaßnahmen umsetzen, die auf spezifische PVs verweisen. Dabei definieren Organisationen selbst, welche PVs sie zu kreieren glauben. Innerhalb von Kommunikationsaktivitäten dienen die PVs dazu, gesellschaftlich-orientierte
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Abb. 1 Drei Typen der Public-Value-Kommunikation
Kommunikationsbotschaften zu vermitteln. Der Einsatz von PVs ist Outputorientiert. Langfristig dienen die Kommunikationsbotschaften dazu, die Einstellungen und das Verhalten von Stakeholdern zugunsten von Organisationen zu beeinflussen. Die Organisationsaktivitäten und Managementansätze sind an der klassischen Value-Creation orientiert. Das heißt, dass sie an ökonomischem Value bzw. im Falle von NPOs an partikularen Organisationsinteressen ausgerichtet sind. Managemententscheidungen orientieren sich nicht an PVs, sondern am Organisationserfolg. Im Fall von gewinnorientierten privaten Organisationen ist dieser an Mechanismen der Profitmaximierung gebunden. In privaten Nonprofit-Organisationen wird der Organisationserfolg durch die Verwirklichung von Partikularinteressen gesichert. Thematisieren Organisationen die PVs ihrer Produkte, Dienstleistungen und Aktivitäten, so beziehen sie sich auf die von ihnen angenommenen Wirkungen auf Makroebene. Die Einschätzung erfolgt jedoch ausschließlich durch die Organisationen selbst. Die Organisationsaktivitäten sind weder demokratisch legitimiert, noch richten sie sich am PV aus. So können sie auch zum PV-Failure beitragen. Dies ist etwa der Fall, wenn eine
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Tab. 3 Drei unterschiedliche Typen von PV-Kommunikation Kommunikationsbotschaft Wahrgenommener PVKM PV als Ziel und KPI Kommunikationsrolle Strategisch
Strategisch
Deliberativ und strategisch
Public-Value-Fokus
Gering
Mittel
Hoch
Kommunikationsziel
Output-orientiert
Image-orientiert
Impact-orientiert
Organisationsfokus
Profit, NGO, Öffentlich
Profit, NGO, Öffentlich
Öffentlich
Organisation durch ihre Aktivitäten zwar zur Sicherung der Ernährungsversorgung beiträgt, aus Organisationsinteressen heraus aber Trinkwasser privatisiert. Betrachtet man den monopolfreien, öffentlichen Zugang zu Trinkwasser als PV, so tragen diese Aktivitäten zum PV-Failure bei (Bozeman 2002; Jørgensen und Bozeman 2007). PVs als Kommunikationsbotschaften helfen Organisationen, intern definierte Organisationsziele zu verwirklichen. Damit unterstützen diese Botschaften Organisationen darin, Handlungsspielräume und Legitimität zu sichern, in dem sie die Einstellungen und das Verhalten von Stakeholdern beeinflussen. PVs in Kommunikationsbotschaften zu verwenden, ist für private (Gewinnorientierte Organisationen und NGOs) sowie öffentliche Organisationen möglich (siehe Tab. 3). Wahrgenommener PV: Kommunikationsaktivitäten können daran ausgerichtet sein, wahrgenommenen PV zu kreieren. Wahrgenommener PV ist in diesem Zusammenhang als Kommunikationsziel und KPI zu verstehen. Im Gegensatz zum bloßen Verständnis von PVs als Kommunikationsbotschaft, erkennt dieser Ansatz an, dass PV durch die Gesellschaft bestimmt und evaluiert wird. Organisationen orientieren sich in ihren Strategien auf Gesamtorganisations- und Kommunikationsebene an dem potenziell wahrgenommenen PV. Kommunikation wird in diesem Zusammenhang strategisch eingesetzt, um externe Image- und Brandingprozesse sowie interne Prozesse zu unterstützen. Autoren, die sich auf das Konzept des wahrgenommenen PV beziehen, integrieren dieses in Strategieund Performance-Measurement-Ansätze. Die PV-Ausrichtung dieses Ansatzes ist als mittel einzuordnen. Im Gegensatz zum ganzheitlichen PV-Management, bedarf es für die Value- und Zieldefinition keiner Einbettung in deliberative, demokratische Prozesse. Für gewinnorientierte Organisationen dient die Orientierung am wahrgenommenen PV weiterhin der Profitmaximierung. Auch im Falle von privaten und öffentlichen Nonprofit-Organisationen bedeutet der
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Ansatz eine Ausrichtung an organisationsintern festgelegten Zielen und Missionen. Das Konzept des wahrgenommenen PVs kann sowohl in Organisations- als auch Kommunikationsmanagementkonzepte von privaten als auch öffentlichen Organisationen übernommen werden. Public-Value-Kommunikationsmanagement (PVKM): PV verstanden als ganzheitliches Managementkonzept erfordert es von Organisationen, eine Balance herzustellen zwischen deliberativ ausgehandelten Aufträgen und Strategien, wirtschaftlicher und nachhaltiger Ressourcenverwendung sowie den tatsächlich wahrgenommenen PV-Outcomes (Benington und Moore 2011; Moore 1995, 2000). In diesem Kontext kann Kommunikation sowohl eine deliberative als auch eine strategische Rolle einnehmen. Deliberative Kommunikation dient dazu, Auftrags- und Strategieprozesse sowie das Performance Measurement zu ermöglichen. Interne strategische Kommunikation unterstützt die Ausrichtung interner Strukturen und Prozesse mit den deliberativ ausgehandelten Zielstellungen. Damit trägt sie dazu bei, die notwendigen internen Bedingungen zur Umsetzung des PV-Managements zu schaffen. Darüber hinaus unterstützt strategische Kommunikation das PV-Management durch die Generierung spezifischer externer Bedingungen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sie Aufmerksamkeit, Bekanntheit oder Reichweite für Organisationsaktivitäten, Produkte und Dienstleistungen generiert. Public-Value-Kommunikationsmanagement (PVKM) umfasst somit sowohl deliberative als auch strategische Kommunikationsprozesse mit dem Ziel das PV-Management zu ermöglichen und zu unterstützten. Strategische Kommunikationsprozesse schaffen demnach notwendige Bedingungen für das erfolgreiche PV-Management. Sie sind jedoch nicht hinreichend, um von PVKM sprechen zu können. Die deliberativen Prozesse und Kommunikationsaktivitäten unterscheiden das Konzept vom Ansatz des wahrgenommenen PV. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ansätze dadurch, dass PV-Management der Definition, Umsetzung und Messung von PVs auf Impact-Ebene und aus Perspektive der Gesellschaft dient. Wahrgenommener PV wird stets mit Bezug zu organisationsintern definierten Strategien bestimmt und evaluiert. Dies schließt nicht aus, dass in diesem Zusammenhang Methoden der Meinungsforschung zum Einsatz kommen können. Da PVKM Public Value als Ergebnis und als Prozess versteht, kann es nur von öffentlichen Organisationen umgesetzt werden. Diese Schlussfolgerung beruht auf der Tatsache, dass ausschließlich öffentlichen Organisationen und ihr Management in deliberative Prozesse eingebettet und an diese gebunden sind. Das heißt, dass ihre Entscheidungen zu konkreten Maßnahmen und Programmen der Aushandlungen und konkreter Ergebnisse eines politischen
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Prozesses bedürfen. So ist es beispielsweise öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen nur auf Grundlage politischer Entscheidungen möglich, ihre Rolle in einer veränderten Online-Medienlandschaft neu zu definieren.
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Fazit: Meinwohl = Deinwohl = Gemeinwohl?
Um das Konzept des Public Value hat sich mittlerweile ein mehr als 25 Jahren umfassender Diskurs gebildet, der zahlreiche empirische und theoretische Erkenntnisse hervorgebracht hat. Im Rahmen dieses Beitrages wurden drei unterschiedliche Verhältnisse identifiziert, in denen PV und strategische Kommunikation zueinanderstehen können: PV als Kommunikationsbotschaft, wahrgenommener PV als Kommunikationsziel und KPI sowie Public-ValueKommunikationsmanagement. Welche theoretischen Schlussfolgerungen ergeben sich also auf Basis des PVDiskurses für die Konzeption und Untersuchung strategischer Kommunikation? Diese Frage kann im Rahmen des a posteriori orientierten Gemeinwohlverständnis des PV-Diskurses in dreierlei Hinsicht beantwortet werden: 1. Inwieweit Organisationen einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten, hängt zunächst vom Managementkonzept und der Ausrichtung der Organisation ab. 2. Strategische Kommunikation kann in klassisch value-orientierten Managementkontexten dazu beitragen, PV als Kommunikationsbotschaft zu vermitteln oder wahrgenommenen PV zu generieren. 3. Strategische Kommunikation kann in PV-orientierten Managementkontexten im Rahmen des PVKM Bedingungen für die Value-Definition, Umsetzung und Evaluation schaffen und flankiert dabei deliberative Kommunikation. Im Gegensatz zu den a priori und organisationsfunktional orientierten Ansätzen CSR und Shared Value kommen PV-Ansätze zu dem Schluss, dass Gemeinwohl sowohl als Ergebnis als auch Prozess zu verstehen ist. Gemeinwohl ergibt sich somit nicht aus der Verwirklichung von Partikularinteressen unter Berücksichtigung von Stakeholdern und ist auch nicht als Schnittmenge zwischen „Meinwohl“ und „Deinwohl“ zu verstehen. Stattdessen basiert Gemeinwohl auf der Interessenabwägung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Werten, Zielen und Akteuren. Strategische Kommunikation trägt somit nicht per se zum Gemeinwohl bei. Sie ist begrenzt auf die jeweilige Organisationsausrichtung. Im Kontext privater Organisationen bleibt sie auf die Verwirklichung partikularer Interessen beschränkt. Strategische Kommunikation ist darauf begrenzt, PV als
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Kommunikationsbotschaft zu vermitteln oder zum wahrgenommenen PV beizutragen. Einen Beitrag zur Aushandlung und Definition von PV-Zielwerten sowie zur Evaluierung tatsächlicher PV-Outcomes leistet sie im Sinne von PV-Management-Ansätzen nicht. Der PV-Ansatz zeigt somit auch die Grenzen der Gemeinwohlausrichtung und strategischen Kommunikation für private Organisationen auf. Strategische Kommunikation, die neben Partikularinteressen vornehmlich Gemeinwohlinteressen unterstützt, schließt sich für private Organisationen aus. Gemeinwohlorientierte Organisationen sind hingegen durch ihre Einbettung in deliberative Prozesse in der Lage, sich nicht an nicht an partikularen Interessen ausauszurichten. Für PV-orientierte Managementansätze und Organisationen fungiert strategische Kommunikation daher als „enabeling function“ deliberativer Prozesse und Kommunikation. In diesem Kontext schafft sie Bedingungen für die ValueDefinition, Umsetzung und Evaluation von PV. Ansatzpunkt für die Konzeption gemeinwohlorientierter strategischer Kommunikation ist somit nicht die strategische Kommunikation selbst, sondern das gemeinwohlorientierte Management auf Organisationsebene. Insbesondere für die empirische Untersuchung von strategischer Kommunikation und Gemeinwohl ergeben sich auf dieser Basis drei zentrale Leitfragen: Erstens, welchen Schaden und Nutzen erzeugt strategische Kommunikation für die Aushandlung, Verwirklichung und Evaluation von PVs auf Makroebene? Zweitens, welche konkreten PVs beinhalten die Kommunikationsbotschaften privater Organisationen und welche PVs werden wahrgenommen? Drittens, inwieweit unterstützt strategische Kommunikation deliberative Prozesse und Kommunikation in und von gemeinwohlorientierten Organisationen? Die Integration des Public-Value-Diskurses in die strategische Kommunikationsforschung bietet das Potenzial, diese Fragen stärker in den Fokus des Forschungsdiskurses zu rücken.
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Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation Dekonstruktion eines Oxymorons in drei Thesen Nadja Enke, Melanie Malczok, Lisa Dühring und Nils S. Borchers Zusammenfassung
Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation ist ein Oxymoron. A posteriori orientierte Gemeinwohlverständnisse wie die Public-Value-Schule konzipieren Gemeinwohl als deliberativen und multiperspektivischen Aushandlungsprozess und gleichzeitig als potenzielles Ergebnis und generelles Ziel dieses Prozesses. Strategische Kommunikation als Organisationsfunktion orientiert sich hingegen an Partikularinteressen, die zwar verschiedene Stakeholder-Perspektiven berücksichtigen, diese aber immer mit dem Fixpunkt der Organisationsdienlichkeit bewerten. Unsere These lautet daher, dass strategische Kommunikation und Gemeinwohlorientierung in einem Spannungsverhältnis oder sogar Widerspruch zueinanderstehen. Dennoch finden sich im Forschungsfeld der strategischen Kommunikation eine Reihe von Ansätzen, die strategischer Kommunikation eine Gemeinwohlfunktion zuschreiben. N. Enke (B) · L. Dühring Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Dühring E-Mail: [email protected] M. Malczok Hochschule Osnabrück, Lingen (Ems), Deutschland E-Mail: [email protected] N. S. Borchers Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_6
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Dieser theoretisch-analytische Beitrag diskutiert dieses Spannungsfeld. In Form von drei zentralen Thesen werden dabei die Widersprüche und Inkohärenzen im Forschungsfeld thematisiert. Diese Thesen stellen vertikale und horizontale Fehlschlüsse bei der Übertragung von theoretischen Konzepten, die Gleichsetzung von Legitimität und Gemeinwohl sowie die unkritische Haltung von Teilen der strategischen Kommunikationsforschung zu ihrem Forschungsgegenstand in den Fokus der Debatte. Der Beitrag ruft zudem zu einer gemeinwohlorientierten strategischen Kommunikationsforschung auf, die ihren Forschungsgegenstand aus gesellschaftlicher und gemeinwohlorientierter Perspektive betrachtet. Schlüsselwörter
Gemeinwohl • Public Value • Strategische Kommunikation • Deliberative Kommunikation
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Einleitung
Die Spannung zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen zieht sich seit ihren Anfängen durch die PR-Forschung (Dühring 2017; Ronneberger und Rühl 1992; hierzu auch: Szyszka 2022). Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung und auch der von ihr beobachteten Berufspraxis hat sich im Laufe der Jahrzehnte immer stärker in Richtung der Realisierung von Partikularinteressen verschoben. Seit dem vergangenen Jahrzehnt wird PR-Forschung zudem zunehmend integriert in das Forschungsprogramm der strategischen Kommunikation (grundlegend: Hallahan et al. 2007; jüngst: Nothhaft et al. 2018; Werder et al. 2018), die nicht mehr trennscharf zwischen den Funktionen einer marktlich orientierten Werbung und eher gesellschaftsorientierten Public Relations unterscheidet. Obwohl PR bereits seit Grunig und Hunt (1984) primär als Managementfunktion oder nach Zerfaß (2014) als enabling function definiert wird, die sich an der Realisierung von Partikularinteressen ausrichtet, stehen vermeintlich gemeinwohlorientierte Zielgrößen wie Dialog, Legitimation und gesellschaftliche Verantwortung weiterhin im Kern des Diskurses. Unbeachtet bleibt, dass wirtschaftliches und kommunikatives Handeln immer in einem sozio-ökonomischen Kontext stattfindet, aus dem sich spezifische Anforderungen an PR-treibende Organisationen ergeben. Diese folgen in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem den Prinzipien der Gewinnmaximierung, Wachstum und Konkurrenz (Dörre 2009), also Zielgrößen, die nur teilweise mit Gemeinwohlinteressen vereinbar sind. Unsere Kernthese lautet daher, dass Gemeinwohl und die mit ihm verbunden
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Ansprüche an strategische Kommunikation in an Partikularinteressen orientierten Organisationen zu unauflösbaren Spannungen und Inkohärenzen zwischen Organisations- und Gemeinwohlinteressen führen, die wiederum zu Widersprüchen und Inkohärenzen in der Konzeption gemeinwohlorientierter strategischer Kommunikation führen müssen. Ergo: Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation ist ein Oxymoron. Dabei grenzen wir strategische Kommunikation von deliberativer Kommunikation ab. Strategische Kommunikation ist dabei eine Organisationsfunktion von privaten Organisationen – öffentliche Organisationen können hingegen Strategische und deliberative Kommunikation einsetzen.
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Gemeinwohl und Strategische Kommunikation: eine Begriffsklärung
Welchen Beitrag kann strategische Kommunikation zum Gemeinwohl leisten? Die Antwort auf diese Frage hängt maßgeblich davon ab, was wir unter diesen beiden Konzepten verstehen. Sowohl die Debatte um den Kern des Gemeinwohls als auch der strategischen Kommunikation zeichnen sich durch zahlreiche und teils widersprüchliche Begriffsverständnisse aus. Um die Argumentationslinie dieses Beitrages darzulegen, erörtern wir zunächst unser Verständnis von Gemeinwohl und Strategischer Kommunikation.
2.1 Gemeinwohl und Organisationen Der Gemeinwohlbegriff wird unter verschiedenen Blickwinkeln diskutiert. Die Perspektiven unterscheiden sich dabei vor allem darin, ob sie Gemeinwohl rein normativ bestimmen (a priori) oder es als Ziel und Ergebnis eines Aushandlungsprozesses verstehen (a posteriori) (Karmasin 2011). Wir schließen uns in diesem Beitrag dem a posteriori orientierten Gemeinwohlverständnis innerhalb des Public-Value-Diskurses an (hierzu auch: Enke und Wolf 2022). Gemeinwohl bzw. Public Value werden in diesem Zusammenhang als wünschenswerte Zielgrößen aus Perspektive der Gesellschaft verstanden (Public Values). Diese sind keine feststehenden normativen Werte. Stattdessen werden Public Values durch deliberative Prozesse festgelegt (Moore 2014). Konkrete Public Values können zum Beispiel Nachhaltigkeit, Stabilität oder Meinungsfreiheit sein (Jørgensen und Bozeman 2007). Inwiefern die gewünschten Werte realisiert wurden, wird ebenfalls unter Einbezug der Gesellschaft evaluiert (Moore 2014).
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Innerhalb des Public-Value-Managements steht Gemeinwohl als Zielgröße im Gegensatz zum Wertschöpfungsbegriff von gewinn- sowie sozialorientierten privaten Organisationen (Meynhardt 2009; Moore 2000). Im Kontext von gewinnorientierten Organisationen meint Wertschöpfung bzw. Private Value den Wandel von Ressourcen zu Produkten und Dienstleistungen mit einem höheren finanziellen Wert. NGOs orientieren sich hingegen an Herstellung von Social Value (Moore 2000). Der Begriff Social Value bezieht sich auf das Erreichen konkreter sozialer Wirkungen auf Outcome- und Impactebene. Der Unterschied zwischen gemeinwohlorientiertem Management und dem Management von privaten Organisationen soll anhand verschiedener Dimensionen erörtert werden (siehe Tab. 1). Während in value- und social-value-orientierten Organisationen Strategien und Ziele über Organisationsprozesse definiert werden, zeichnet sich der Modus der Zieldefinition in gemeinwohlorientierten Organisationen durch Deliberation und Autorisation aus. Diese Modi verweisen auf die Notwendigkeit, die Zielsetzungen einer Organisation gesellschaftlich auszuhandeln. Die Anforderungen an Organisationen ergeben sich jedoch nicht aus der bloßen Aggregation von Meinungen und sind somit nicht allein über repräsentative Umfragen zu erheben. Vielmehr ist der Zieldefinitionsprozess eingebettet in deliberative Prozesse der Interessenartikulation und -abwägung (Nabatchi 2012). Somit ist Gemeinwohl für diese Organisationen als originärer Organisationszweck zu verstehen. Private Organisationen – sozial oder gewinnorientiert – richten sich hingegen stets an den partikularen Interessen der Organisation aus. Für gewinnorientierte Organisationen ist der Organisationszweck stets mit Profitmaximierung verbunden. Private Nonprofit-Organisationen richten sich hingegen an selbst gewählten sozialen Zielen aus. Eine offene Aushandlung dieser Ziele findet in beiden Fällen nicht statt. Als Zieldimension fungieren in Profit-Organisationen selbstdefinierte Größen in den Dimensionen materielle Werte, immaterielle Werte, Erfolgspotenziale und Handlungsspielräume (Gälweiler 2005). Nonprofit-Organisationen richten sich hingegen strategisch an der Umsetzung konkreter, selbst definierter Social Values aus. Gesellschaftliche Interessen sind für gewinnorientierte Organisationen von Relevanz, wenn es sich um Stakeholderinteressen handelt, die Einfluss auf die Zielerreichung der Organisation haben. Sie können entweder eine Schnittmenge zu Organisationszielen darstellen oder deren Verwirklichung gefährden (Freeman 1984). Social-value-orientierte Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie spezifische gesellschaftliche Teilinteressen auswählen und zu ihrer Verwirklichung beitragen (Ebrahim und Rangan 2010). Diese Ziele können dabei identisch zu spezifischen Gemeinwohlzielen sein. Jedoch findet keine
Partikularinteressen
Organisationsprozess
Materielle Werte, immaterielle Werte, Handlungs-spielräume, Entwicklungschancen
Stakeholderinteressen mit Schnittmenge zu oder Gefährdungspotenzial von Organisations-interessen
Organisationsperspektive
Profit Organisationen
Organisationszweck
Modus der Ziel-definition
Zieldimensionen
Umsetzung von Gesellschaftsinteressen
Modus Performance Measurement
Mögliche Organisationstypen
Wertschöpfung: Wandel von Ressourcen zu Produkten und Dienstleistungen mit einem höheren finanziellen Wert (privater Wert)
Value-Verständnis
Value-orientiertes Management
Deliberation und Autorisation
Gemeinwohl
Gemeinwohl als Ziel, Prozess und Ergebnis von Organisationshandeln aus Perspektive der Gesellschaft (Public Value)
Gemeinwohl-orientiertes Management
Social Enterprises, NGOs, öffentliche Organisationen
Organisationsperspektive
Durch Organisation ausgewählte gesellschaftliche Teilinteressen
Öffentliche Organisationen
Gesellschaftsperspektive
Deliberativ ausgehandelte Gesellschaftsinteressen
Social Values (gesellschaftliche Ausgehandelte Public Values Teilinteressen z. B. Umweltschutz, (z. B. Umweltschutz, Bildungsförderung) Meinungsfreiheit)
Organisationsprozess
Partikularinteressen
Erreichen spezifischer sozialer Wirkungen (Outcomes und Impacts)
Social-value-orientiertes Management
Tab. 1 Vergleich value-, social-value und gemeinwohlorientiertes Management
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Aushandlung von unterschiedlichen oder widerstreitenden gesellschaftlichen Teilinteressen statt. Der Einbezug gesellschaftlicher Interessen ist daher keinesfalls mit einer konsequenten Gemeinwohlausrichtung gleichzusetzen. Gesellschaftliche Interessen werden von privaten Organisationen stets aus Perspektive der Organisation betrachtet und integriert. Auch das Performance Measurement unterscheidet sich. Während der Organisationserfolg im value-orientierten und social-value-orientierten Management aus Organisationsperspektive bewertet wird, ist im gemeinwohlorientierten Management darüber hinaus eine Bewertung aus gesellschaftlicher Perspektive notwendig (Moore 2014). Gemeinwohl kann für Organisationen somit Managementgrundlage und Organisationszweck sein. Da Gemeinwohl jedoch auch an spezifische Bedingungen der Zieldefinition, Umsetzung und Evaluation gebunden ist, lässt sich eine konsequente Gemeinwohlausrichtung nur für Organisationen verwirklichen, die in deliberative Prozesse und Strukturen eingebettet sind (Nabatchi 2012). Inwiefern das Management von öffentlichen Organisationen eher social-value-orientiert oder gemeinwohlorientiert ausgerichtet ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab wie beispielsweise dem politischen System und seinen Rahmenbedingungen, den Strukturen und Prozessen einer Organisation sowie den individiuellen Mitarbeiterkompetenzen. Letztendlich ist die Ausrichtung von öffentlichen Organisationen vor allem aber auch von politischen und organisationsinternen Entscheidungen abhängig. Betrachtet man den Beitrag privater Organisationen aus Makroperspektive, so können sie durchaus zur Verwirklichung konkreter Public Values beitragen (Bozeman 2002, 2007). Gesellschaftliche Teilinteressen werden in diesem Zusammenhang als „positives Nebenprodukt“ bei der Umsetzung von Partikularinteressen verwirklicht. Genauso kann ihr Handeln aber auch zu Public-ValueFailure führen (Bozeman 2002). Public-Value-Failure beschreibt die Kriterien, die bestimmen, inwiefern Gemeinwohlschäden vorliegen. Dies können zum Beispiel fehlende Legitimität von Monopolen, Nachhaltigkeitsschäden, dysfunktionale Mechanismen der Value-Artikulation und Aggregation oder Fehlinformationen sein (Bozeman 2002). Ob Organisationen zum Gemeinwohl beitragen oder es schädigen, hängt zum einen davon ab, inwieweit sich ihre Partikularinteressen mit ausgehandelten Gemeinwohlinteressen überschneiden oder diesen konträr entgegenstehen. Zum anderen ist von Relevanz, inwieweit gesellschaftliche Interessen über Strukturen oder Stakeholder vertreten und so bei der Verwirklichung partikularer Interessen berücksichtigt werden. Private Organisationen können sich somit zusätzlich zu ihren Eigeninteressen an gesellschaftlichen Teilinteressen orientieren. Da wir in diesem Beitrag Gemeinwohl aus Aushandlungsprozess und Ergebnis zugleich definieren, kann jedoch keinesfalls von einer
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Gemeinwohlorientierung gesprochen werden. Stattdessen ist begrifflich zwischen einer Orientierung an gesellschaftlichen Teilinteressen für private Organisationen und einer möglichen Gemeinwohlorientierung für öffentliche Organisationen zu unterscheiden. Die partikularen Interessen der Organisation können zudem potenziell in einem Spannungsverhältnis zum Gemeinwohl stehen, das sich sowohl Zugunsten als auch zu Ungunsten von Gemeinwohlinteressen auflösen kann. Zusammenfassend lassen sich aus dem beschriebenen Gemeinwohlverständnis folgende Grundannahmen ableiten: 1. Gemeinwohl ist Ziel, Prozess und Ergebnis zugleich. 2. Partikular- und Gemeinwohlinteressen stehen potenziell in Spannung oder sogar Widerspruch zueinander. 3. Private Organisationen orientieren sich an Partikularinteressen und nicht am Gemeinwohl.
2.2 Strategische Kommunikation Strategische Kommunikation bezeichnet den zielgerichteten Einsatz von kommunikativen Maßnahmen durch Organisationen. Nothhaft et al. (2018, S. 360) bringen dies auf eine einfache Formel: „What is the best course of action for entity E to achieve X in context alpha by means of ’communication’ under conditions of limited resources and high complexity, and consequently uncertainty?“ Folgt man diesem Verständnis, lässt sich strategische Kommunikation als Organisationsfunktion auffassen. Als solche hat sie selbst keine eigenständig definierten Ziele, sondern zahlt auf Organisationsziele, wie die Verbesserung von Legitimation, Reputation oder die Erhöhung von Verkaufszahlen, ein. Das Programm der strategischen Kommunikation ist dabei sehr breit angelegt. Als Forschungsfeld hat sie den Anspruch, neben den funktionalen Ansätzen der PR-Forschung auch angrenzende Felder, wie die Werbeforschung, Organisationskommunikation, politische Kommunikation, interkulturelle Kommunikation und Marketingkommunikation, zu integrieren (Hallahan et al. 2007; Holtzhausen und Zerfass 2015; Macnamara und Zerfass 2012; Møberg Torp 2015; Zerfaß et al. 2018). Dieser Anspruch wird etwa deutlich an der neuesten, aus dem Kern des Faches entwickelten Definition:
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„Strategic communication encompasses all communication that is substantial for the survival and sustained success of an entity. Specifically, strategic communication is the purposeful use of communication by an organization or other entity to engage in conversations of strategic significance to its goals“ (Zerfass et al. 2018, S. 493).
Diese Definition weist darauf hin, dass strategische Kommunikation nicht ausschließlich von gewinnorientierten Wirtschaftseinheiten (Unternehmen) betrieben wird, sondern z. B. auch von Individualakteuren. Auf der anderen Seite engt sie strategische Kommunikation auf strategisch signifikante Kommunikation ein. Zwar wird mit dieser Definition auch strategisch signifikante Kommunikation externer Akteure einbezogen, allerdings bleibt der Bezugspunkt die strategische Signifikanz und der „purposeful use“ durch die Organisation. Interessen ohne strategische Siginifikanz oder eine mögliche Aushandlung widerstreitender Positionen wird nicht berücksichtigt. Strategische Kommunikation bleibt damit auch in diesem Verständnis organisationsfunktional. Wir schließen uns in diesem Beitrag diesem weiten Verständnis einer organisations- bzw. akteursfunktionalen strategischen Kommunikation an. Gleichzeitig grenzen wir uns von Ansätzen ab, die strategische Kommunikation als verständigungsorientierte Kommunikation oder deliberative Kommunikation begreifen.
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Kritik an der Verknüpfung organisationsfunktionaler Perspektiven und Gemeinwohlausrichtung
Organisationen sind nicht unabhängig von der Gesellschaft zu denken, in der sie operieren, denn sie sind den dominanten Logiken ihres sozio-historischen Kontexts unterworfen. Wir beziehen uns in diesem Beitrag vornehmlich auf westliche, kapitalistisch und liberalistisch orientierte Gesellschaften, in denen die Logiken des Marktes dominant sind (Dörre 2009). Die Funktionsweise dieser Marktwirtschaften beruht auf der Idee des Wettbewerbsprinzips, dessen Erhalt und Förderung eine große Bedeutung zukommt (Mussel und Pätzold 2012). Eine symbiotische Aushandlung, die divergierende gesellschaftliche Interessen gleichwertig betrachtet und aushandelt, entspricht nicht dieser dominanten Logik. Private Organisationen sind gezwungen, sich bis zu einem gewissen Grad den Systemlogiken anzupassen, und auch ihre strategische Kommunikation wird durch diese Strukturen geprägt. Verstanden als Organisationsfunktion dient strategische Kommunikation der Realisierung der Organisationsinteressen, nicht der Mehrung des Gemeinwohls. Sofern die Aushandlung von Gemeinwohlzielen Absicht von Kommunikationsbemühungen ist, handelt es sich hingegen
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um deliberative Kommunikation. In öffentlichen Organisationen kann strategische Kommunikation dabei durchaus deliberative Kommunikation flankieren und unterstützen (siehe Beitrag Enke und Wolf in diesem Band). Dennoch finden sich im Forschungsfeld der strategischen Kommunikation affirmative Zuschreibungen zum Gemeinwohlbeitrag. So erläutert Sriramesh (2009, S. xxxiii), dass eine Organisation durch strategische Kommunikation „symbiotische Beziehungen“ schafft und erhält, also dass sowohl die Organisation als auch ihre relevante Umwelt profitieren. Ähnliche Zuschreibungen, die die positiven Effekte auf die organisationale Umwelt attestieren, finden sich insbesondere mit Verweis auf das two-way symmetrical model (Dozier et al. 1995; Grunig und Hunt 1984). Auffällig sind insbesondere zwei Aspekte: Zum einen wird Kommunikation an sich als wertvoll bzw. gemeinwohlorientiert dargestellt. Allein dass sie stattfindet bzw. ermöglicht wird, wird als Hinweis auf die Schaffung von Gemeinwohl gewertet (Macnamara 2016). Weiterhin wird angenommen, dass Kommunikation, wenn sie in einer spezifischen Weise gestaltet sei, einen Nutzen stiftet, der über einen partikularen Nutzen für die Organisation hinausgeht. So fragt auch der Call zur Tagung, der diesem Band vorausging: „Wie kann Strategische Kommunikation modelliert und praktiziert werden, die systematisch neben Partikularinteressen auch oder sogar vornehmlich Gemeinwohlinteressen bedient?“ Hier wird implizit unterstellt, dass die Form der Kommunikation über Gemeinwohl oder das Gegenteil hiervon entscheidet. Die Frage nach der Gestaltung strategischer Kommunikation ist jedoch nicht der Schlüssel zu einer vermeintlich kommunikativ einlösbaren Gemeinwohlorientierung. Diese Orientierung hängt nicht von der Kommunikation als Organisationsfunktion oder gar vom Handeln der Kommunikationsverantwortlichen ab, sondern von den Zielen und Zwecken der Organisation selbst. Strategische Kommunikation kann entsprechend nicht gemeinwohlorientiert konzipiert werden, sondern bleibt qua Definition an Partikularinteressen orientiert. Nachfolgend werden wir anhand von drei Thesen diese und weitere theoretische Inkonsistenzen und Fehlschlüsse skizzieren, die sich in den Kanon der strategischen Kommunikation eingeschrieben haben. Mit Inkonsistenzen meinen wir hier insbesondere logische Brüche in Argumentationen, welche die zuvor konstatierte Grundannahmen außer Acht lassen. Zentral ist für uns dabei folgende These: Gemeinwohl und die mit ihm verbunden Ansprüche an strategische Kommunikation führen in an Partikularinteressen orientierten Organisationen zu unauflösbaren Spannungen und Inkohärenzen zwischen Organisations- und Gemeinwohlinteressen, die wiederum zu Widersprüchen und Inkohärenzen in der Konzeption gemeinwohlorientierter strategischer Kommunikation führen müssen.
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3.1 These 1: Die Gemeinwohlausrichtung organisationsfunktionaler strategischer Kommunikation ist ein Fehlschluss Obwohl organisationsfunktionale Ansätze strategische Kommunikation als an Partikularinteressen orientiert konzipieren, existieren eine Reihe von Konzepten, die ihr eine Gemeinwohlausrichtung attestieren. Wir argumentieren in diesem Beitrag, dass diese Konzepte zumeist auf theoretischen Fehlschlüssen basieren. Dabei sind zwei Arten von Fehlschlüssen zu unterscheiden: vertikale und horizontale Fehlschlüsse. Bei vertikalen Fehlschlüssen werden auf einer Mikro- oder Makroebene verortete Konzepte auf die Mesoebene der Organisation und der strategischen Kommunikation übertragen. Dabei werden entweder Grundannahmen der ursprünglichen Konzepte missachtet oder Widersprüche zu den Grundannahmen strategischer Kommunikation ausgeblendet. So baut z. B. der Ansatz dialogischer Public Relations von Kent und Taylor (2002) u. a. auf Grundannahmen zu zwischenmenschlicher Interaktion aus dem Bereich der Psychologie auf. Auf Basis des Dialogkonzepts formulieren Kent und Taylor den Anspruch an strategische Kommunikation, dialogisch zu handeln. Dialogisch zu handeln ist hier nicht allein als Interaktionsablauf zu verstehen, sondern an spezifische Haltungen und Bedingungen geknüpft. So sollte der Prozess frei von Manipulation, Fehlinformation oder Ausschluss sein und wird als langfristiges Management sozialer Beziehungen verstanden. Dialogische Kommunikation wird als ethischer Anspruch an Organisationen herangetragen, ohne die Widersprüche zur Konzeption strategischer Kommunikation und den Partikularinteressen der Organisation zu thematisieren oder aufzuheben. Insbesondere die Übertragung von Annahmen eines interaktionsbasierten Kommunikationsverständnisses auf die Mesoebene der Organisation steht dabei exemplarisch für einen der häufigsten Fehlschlüsse. So wird der mikro-orientierte Kommunikationsbegriff herangezogen, um zu erklären, dass nur dann Kommunikation vorliegt, wenn kommunikative Handlungen verschiedener Akteure als Aktions- und Reaktionsprozesse in einem gegenseitigen Kontext stehen. Dieses Interaktionsverständnis wird anschließend als Anspruch auf Kommunikationsabläufe zwischen Organisationen und ihren Stakeholdern übertragen. Außer Acht gelassen wird in diesen Fällen der persuasive und organisationsfunktional getriebene Kern strategischer Kommunikation. Dieser umfasst potenziell alle Arten einseitiger, zweiseitiger und zeitlich synchroner und asynchroner Kommunikation mit Individuen, Organisationen oder Stakeholdergruppen (Zerfaß 2010). Kommunikation dient Organisationsinteressen und ist kein Selbstzweck. Dieser Fehlschluss liegt beispielsweise auch bei der Gleichsetzung von
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Dialog und zweiseitig-symmetrischer Kommunikation und ihrer Übertragung auf strategische Kommunikation vor (z. B. Grunig und Grunig 2008). Bei horizontalen Fehlschlüssen werden demokratische Prinzipien auf das Wirtschaftssystem und private Organisationen angewendet. So übertragen beispielsweise Holtzhausen und Zerfaß (2015) in ihrem Verständnis von strategischer Kommunikation die Habermas’schen Ansprüche an den öffentlichen Diskurs auf private Organisationen. „The inclusion of the public sphere in a definition of strategic communication is therefore valuable in debating the role of the practice. In addition to its many other attributes the role of strategic communication should surely include helping others gain access to the public sphere through good, thoughtful arguments that can advance the interests of the communicative entity while contributing to the improvement of society“ (Holtzhausen und Zerfaß 2015, S. 6). Strategische Kommunikation soll demnach nicht nur der Organisation, sondern auch der Gesellschaft dienen. Diese Doppelfunktion wird aus den Diskursansprüchen und demokratischen Prinzipien innerhalb der Öffentlichkeit abgeleitet. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sich die Aushandlung von Interessen und demokratischen Prinzipien nicht ohne Weiteres auf die Strukturen des Wirtschaftssystems als gesellschaftliches Teilsystem übertragen lassen. So widersprechen die wirtschaftlichen Prinzipien des Wettbewerbs, der Konkurrenz, der Profitmaximierung sowie des Ressourcenaustauschs in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem den deliberativen Ansprüchen an strategische Kommunikation. Wie diese Widersprüche aufzulösen sind, wird nicht thematisiert. Somit entsteht ein Anspruch an strategische Kommunikation, der aufgrund des Widerstreits wirtschaftlicher und demokratischer Prinzipien zwangsläufig zu theoretischen und praktischen Inkohärenzen und Spannungen führen muss. Dieser Fehlschluss findet sich beispielsweise auch im Konzept der verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit (Burkart 1993).
3.2 These 2: Gemeinwohl und Legitimität werden gleichgesetzt Wir beobachten, dass im Forschungsfeld der strategischen Kommunikation auf Ansätze zurückgegriffen wird, die Legitimität und Gemeinwohl gleichsetzen. Das ist z. B. in der Anwendung des Stakeholder-Ansatzes oder des CSRKonzeptes zu erkennen. Legitimität oder auch die licence to operate (Werder et al. 2018) bezeichnet eine gesellschaftliche Zuschreibung, die organisationales Handeln als rechtschaffend und akzeptiert einordnet (Sandhu 2020). Im Gegensatz zum Gemeinwohl erfordert Legitimität jedoch nicht zwangsläufig
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eine Aushandlung und Abwägung verschiedener Perspektiven bzw. deliberativer Prozesse. Im Fall von privaten Organisationen dient Legitimität der Verwirklichung von Partikularinteressen. Wie bereits mehrfach beschrieben, können diese Interessen im Einklang oder Widerspruch zum Gemeinwohl stehen. Dabei ist auch nicht ausgeschlossen, dass gemeinwohlschädliches Handeln (Public-ValueFailure) legitimiert wird. Im Stakeholder-Ansatz erfolgt Legitimation durch den Einbezug von Gesellschaftsinteressen in Organisationsentscheidungen (Freeman 1984). Mitchell et al. (1997) beschreiben den Stakeholder-Ansatz als „the principle of who or what really counts“ (S. 858). Doch „was zählt“ ist hier nicht im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Wertigkeit zu sehen, sondern wird durch die Organisation selbst bestimmt (Parmar et al. 2010). So findet die Bewertung des Stakeholderstatus durch die Organisation statt. Denn der Stakeholderstatus von Interessen wird nicht an ihrem Gemeinwohlpotenzial gemessen, sondern an ihrem Einfluss auf den Handlungsspielraum einer Organisation sowie dem Einfluss der Organisation auf diese Interessen und Gruppen (Freeman 1984; Karmasin 2015). Gruppen oder Themen, die über keine ausreichende Macht oder Sichtbarkeit verfügen, um Organisationsinteressen zu beeinflussen, finden hingegen keine Beachtung. Die Aushandlung von Stakeholderinteressen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und die Bewertung der Interessen vor dem Hintergrund des Gemeinwohls sind für den Ansatz nicht von Relevanz. Im Ansatz der Corporate Social Responsibility und CSR-Kommunikation erfolgt Legitimation durch die Übernahme von Verantwortung und die Erbringung positiver Leistungen durch eine Organisation für die Gesellschaft. So beschreiben Kim und Lee (2018, S. 109) die Funktion von CSR wie folgt: „CSR emerges when organizations commit to benefiting society by minimizing their harmful effects as well as maximizing their contribution to society. The strategic value of CSR is evident, in that CSR helps enhance favorable relationships between stakeholders and organizations, build strong corporate images, and encourage stakeholders’ advocacy behavior“. Auch für CSR-Aktivitäten steht demnach nicht das Gemeinwohl, sondern das Organisationsinteresse im Fokus (Leitch und Neilson 2001). Es werden vorrangig jene Aktivitäten ausgewählt, die Organisationszielen dienlich sind. CSR-Aktivitäten lassen sich sogar als Substitut für tatsächlich moralisch-benevolentes Handeln (i.S.v. Eisenegger und Imhof 2009) in einer anderen Dimension verstehen. CSR-Management bewertet gesellschaftliche Interessen und Organisationsleistungen somit ebenfalls aus Perspektive der Organisation und nicht der Gesellschaft.
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Die Beispiele zeigen auf, dass die zugeschriebene Gemeinwohlorientierung nur oberflächlich angelegt ist und vielmehr Legitimität für organisationsdienliches Handeln erreicht werden soll. Deliberation und Aushandlung von Interessen als Voraussetzung einer tatsächlichen Gemeinwohlausrichtung sind nicht vorgesehen. Dieser Unterschied wird bei der Adaption der Konzepte innerhalb der strategischen Kommunikationsforschung jedoch in der Regel weder einbezogen noch kritisch reflektiert.
3.3 These 3: In der strategischen Kommunikationsforschung halten sich unbelegte, normative Grundannahmen, die den eigenen Forschungsgegenstand unkritisch gegenüberstehen Der strategischen Kommunikationsforschung – ebenso wie dem Feld der Public Relations-Forschung – wird schon seit längerer Zeit vorgeworfen, funktionale und organisationszentrierte Perspektiven in den Vordergrund zu stellen und kritische, gesellschaftsorientierte Perspektiven zu vernachlässigen. Dies hat zur Folge, dass vor allem die potenziell negativen Implikationen von strategischer Kommunikation für soziale und politische Systeme, als auch für die Gesellschaft im Ganzen, im Forschungsdiskurs weitgehend unbehandelt bleiben (Motion & Weaver, 2005; McKie & Munshi, 2007; L’Etang, 2007, Edwards & Hodges, 2011). Edwards und Hodges weisen darauf hin, dass dieser eng gefasste Ansatz eine Reihe von Nachteilen hat: „It frames public relations in a way that excludes the interests of increasingly diverse audiences; it ignores the dynamics produced by the profession pursuing its own interests; and it does not address the role that public relations plays as a discursive force in society; shaping social and cultural values and beliefs in order to legitimise certain interests over others.“ (Edwards & Hodges, 2011, S. 16)
Problematisch ist insbesondere der fehlende Diskurs um Macht- und Ressourcenunterschiede (Coombs, 1993; Ihlen, 2007; Edwards, 2006; Moloney & McGrath 2019). Strategische Kommunikation wird unkritisch als Instrument (tool) konzeptionalisiert, welches prinzipiell jedem Akteur gleichberechtigt zur Verfügung steht. Es wird sogar implizit davon ausgegangen, dass hiermit mögliche Machtund Ressourcenunterschiede wie beispielsweise der divergierende Zugang zu öffentlicher Aufmerksamkeit relativiert werden können.
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Holtzhausen und Zerfass konstatieren (2013, S. 287): „[S]trategic communication is the tool that allows the less powerful to reach their own goals through communication in the public sphere. The public sphere is receiving renewed interest because of new technologies that allow more participation and allow ordinary citizens to set their own agendas (…). The Internet in particular has become the great communication equalizer, and structural properties, such as organization size or type, no longer matter in determining the weight of an argument“.
Hier lässt sich ein Problem der strategischen Kommunikationsforschung demonstrieren: An den wenigen Stellen, an denen das Verhältnis zur Gesellschaft oder zum Gemeinwohl thematisiert wird, finden sich oftmals normative Annahmen. Forschung, die die empirischen Grenzen dieser normativen Annahmen aufzeigt oder gar zu anderen Ergebnissen kommt, wird selten einbezogen. Zu denken wäre etwa an Forschung zu dysfunktionalen Auswirkungen des Social Webs auf demokratische Prozesse, wie sie in den Diskursen zu Filterblasen diskutiert werden (Pariser, 2011). Wenig erforscht sind auch Organisationsinteressen und strategische Kommunikationspraktiken, die im Widerspruch zu Gemeinwohlinteressen oder spezifischen kommunikationsbezogenen Public Values stehen (z. B. spezifische Lobbyingziele oder Landnahme von öffentlichen Diskursräumen) (Moloney & McGrath 2019). Mit Blick auf das Internet sind eine Reihe von strategischen Kommunikationspraktiken zu beobachten, die vermuten lassen, dass sie eher gemeinwohlschädigend als fördernd wirken. So legen empirische Beobachtungen nahe, dass die strategische Kommunikation neu entstandene, digitale Kommunikationsräume, in denen Internetnutzerinnen und -nutzer als strukturell Gleichgestellte (Peers) miteinander interagieren, mit strategischen Interessen durchsetzt und dadurch vermachtet (Borchers 2021). Damit schließt das Vorgehen der strategischen Kommunikation im Social Web nahtlos an bereits in der Vergangenheit beobachtete Praktiken. So stellt Moloneyy (2006, S. 168) fest: „PR practice is not an academic, scientific or judicial activity, founded on the search or the even-handed, the fully validated and the just. It is a promotional activity built on favorable, partial and self-selected data, and has been – and is – much used by the resource rich. (…) PR propaganda is not a practice in search of an altruism or moral ideal. It is rooted in the pluralist, self-advantaging promotional culture associated with liberal democracy and free markets. Above all, it is communication designed to further the interests of its principals. They would not invest resources in PR if it was otherwise. It is competitive messaging with both public good and private advantage as outcomes“.
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Es ist an der Zeit, dass die strategische Kommunikationsforschung diese Kritik in den Kern des Forschungsdiskurses integriert und zu einem realistischen, selbstreflexiven Umgang mit dem eigenen Forschungsgegenstand findet.
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Fazit
Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation ist ein Oxymoron und damit nicht als wissenschaftliches Konzept geeignet. Der vorliegende Beitrag hat die Brüche und Fehlschlüsse in der Verbindung von Gemeinwohl und strategischer Kommunikation herausgearbeitet. Dazu wurde zunächst der Gemeinwohlbegriff und Public-Value-Diskurs erläutert und anschließend das Verhältnis zur strategischen Kommunikation diskutiert. Wir argumentieren, dass strategische Kommunikation, verstanden als Organisationsfunktion, nicht primär gemeinwohlorientiert sein kann, sondern sich immer zentral an den Organisationszielen orientiert. Die Verwirklichung gesellschaftlicher Interessen ist dabei lediglich ein positiver aber nicht vorrangig intendierter Nebeneffekt. Versieht man strategische Kommunikation konzeptionell mit einem spezifischen Gemeinwohlauftrag, führt das zwangsläufig zu Fehlschlüssen und Inkohärenzen. Wie sich diese Verbindung im Forschungsfeld dennoch findet, wurde anhand von drei Thesen erarbeitet, die jeweils spezifische Problemfelder des Diskurses hervorheben: die vertikalen und horizontalen theoretischen Fehlschlüsse, die Gleichsetzung von Legitimität und Gemeinwohl sowie die unkritische und normative Einseitigkeit des Forschungsfeldes gegenüber ihrem Forschungsgegenstand. Auch wenn gemeinwohlorientierte strategische Kommunikation ein Oxymoron ist – gemeinwohlorientierte strategische Kommunikationsforschung ist es nicht. Aktuell dominiert in der Forschungsdisziplin jedoch eine akteursfunktionale Perspektive, die diesem Anspruch nicht gerecht wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie vor allem (Röttger et. al. 2013): • den Beitrag strategischer Kommunikation zur Erreichung von Organisationszielen und hier insbesondere die ökonomische Messbarmachung dieses Beitrags untersucht, • ihren Untersuchungsgegenstand primär aus der Kommunikator- bzw. Absenderperspektive betrachtet, • die gesellschaftlichen Effekte ohne Relevanz für den Absender ausblendet, • vornehmlich der Effektivitäts- und Effizienzsteigerung der Kommunikationspraxis dient.
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Dieser Beitrag ist deshalb auch als ein Aufruf zu verstehen, den analytischen Scheinwerfer starker auf kritische, gesellschaftsorientierte Fragestellungen zu lenken (hierzu auch: Altmeppen und Lauerer 2022; Raaz 2022; Röttger 2022). Das bedeutet eine Verschiebung von nutzenorientierten Meso-Fragestellungen hin zu Makro-Meso- und Makro-Mikro-Fragestellungen. Zu diesen Fragestellungen gehören aus unserer Perspektive auf Makro-Mesebene: 1. Welche (negativen) Auswirkungen hat strategische Kommunikation in ihrer aktuellen Ausgestaltung auf Gesellschaft, Deliberation und Gemeinwohl? 2. Welche tatsächlich gemeinwohlrelevanten Zielstellungen finden sich in den Organisations- und Kommunikationsstrategien von privaten und öffentlichen Organisationen und wie werden diese umgesetzt? 3. Welche gemeinwohlschädlichen Kommunikationspraktiken sind zu beobachten? 4. Welches Wissen und welche Kompetenzen benötigen Rezipientinnen und Rezipienten zum Umgang mit strategischer Kommunikation? 5. Welcher Regulierung bedarf strategische Kommunikation, um Public-ValueFailure zu vermeiden? Auf Makro-Mikroeben ist vor allem von Interesse: 6. Welches Wissen und welche Kompetenzen benötigen Rezipientinnen und Rezipienten aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive im Umgang mit strategischer Kommunikation? Gemeinwohlorientierte strategische Kommunikationsforschung fragt somit nicht vorrangig danach, wie Kommunikation Organisationsziele unterstützen kann, sondern welche Wirkungen und Mechanismen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene von Relevanz sind.
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Partikularinteresse gegen Gemeinwohl: Identifikation und Wahrnehmung von Interessen- und Wertkonflikten
Public Relations zwischen partikularen Interessen und Gemeinwohl Was uns PR-Fehler verraten Anke Oßwald Zusammenfassung
Die üblichen professionsethischen Positionen zum Verhältnis zwischen Public Relations und Gemeinwohl bewegen sich zwischen Affirmation und Ablehnung. Das Dilemma liegt dabei in der Notwendigkeit einer Bezugnahme jeder PR-Arbeit auf Gemeinwohlaspekte bei gleichzeitig immer mitlaufendem Motivverdacht. Dieser Verdacht sabotiert potenziell jede (vorgebliche) Orientierung am öffentlichen Interesse. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass sich eine Einschätzung des Gemeinwohlbezugs von PR nur prozedural gewinnen lässt, das heißt über die Beobachtung ihrer öffentlich markierten Rolle bei organisationalen Legitimationsversuchen. Eine bislang wenig genutzte Erkenntnismöglichkeit bietet dabei das Phänomen „PR-Fehler“. Diese Art von Fehlern wird im Folgenden anhand von fünf Aspekten detaillierter bestimmt und beispielhaft erläutert. Für die Gemeinwohldiskussion ergeben sich daraus relevante Schlussfolgerungen: Als öffentlich thematisierbare strategische Praxis kann PR erstens Kommunikationen im Schema Gemeinwohl/Partikularinteresse stimulieren. Sie regt damit zweitens eine Konkretisierung und Priorisierung von Werten an. Schließlich bietet sie drittens eine organisational verfügbare Adresse und damit Puffer- oder Schutzfunktion gegenüber skandalisierenden Fehlerzuschreibungen.
A. Oßwald (B) Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_7
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A. Oßwald
Schlüsselwörter
Erwartungen • Fehler • Gemeinwohl • Legitimation • Öffentlichkeit • Partikularinteresse • Public Relations • Strategische Kommunikation • Systemtheorie • Werte
1
Einleitung
Der folgende Beitrag nähert sich dem Thema Public Relations und Gemeinwohl aus einer ungewohnten Perspektive. Grundthese ist es, dass die Beobachtung von PR-Fehlern Erkenntnisse zum Verhältnis von PR und dem öffentlichen Interesse ermöglicht, die über etablierte professionsethische Sichtweisen hinausgehen. In einem ersten Schritt (Abschn. 2) werden dabei zunächst diese Sichtweisen skizziert und einander gegenübergestellt: Unterschieden wird zwischen der Annahme einer grundsätzlich möglichen und sogar notwendigen Gemeinwohlorientierung von PR einerseits und der einer vorrangigen Verfolgung partikularer Interessen bei gleichzeitiger Ablehnung von Gemeinwohlansprüchen andererseits. Dieser Gegensatz lässt sich normativ kaum auflösen. Für ein weitergehendes Verständnis rückt sodann die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse selbst genauer in den Fokus. Sie wird auf Grundlage eines systemtheoretischen Beobachtungsverständnisses in Richtung Prozessorientierung präzisiert (Abschn. 3). Ein prozedurales Verständnis der Handhabung dieser Unterscheidung geht mit einer steigenden Bedeutung von Legitimität und Öffentlichkeit einher. Damit kommen zum einen die Massenmedien stärker ins Spiel und zum anderen Legitimationsstrategien, für die sich in Organisationen PR verantwortlich zeigt. In einem nächsten Schritt (Abschn. 4) wird schließlich vorgeschlagen, anhand des Phänomens „PR-Fehler“ die Art und Weise zu erkunden, wie Massenmedien die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse prozessieren. Genauer: Was verrät der medial markierte „PR-Fehler“ über gesellschaftliche Erwartungen an die Public-Relations-Praxis und deren Gemeinwohlorientierung? Diesen Überlegungen folgend (Abschn. 5), lässt sich der mögliche Beitrag der PR zum Gemeinwohl wiederum prozessorientiert am ehesten in der Stimulation spezifischer Beobachtungssituationen erkennen. Insgesamt plädiert der Beitrag damit für eine differenzierte Beschreibung des Verhältnisses von Public Relations und Gemeinwohl, welches insbesondere die Rolle von Öffentlichkeit und Massenmedien stärker berücksichtigt.
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PR zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl
Auch wenn sie häufig nicht im Fokus stehen, gehören Fragen nach den Gemeinwohleffekten doch zweifellos zur DNA der Public-Relations-Forschung (hierzu auch: Szyszka 2022): Inwiefern trägt PR als etablierte organisationale Praxis zum Gemeinwohl bei? Kann PR dem öffentlichen Interesse dienen – und tut sie es tatsächlich? Bezugnahmen auf Gemeinwohlaspekte finden sich dabei sowohl in managementorientierten PR-Ansätzen (Grunig und Hunt 1984; Dozier et al. 1995) als auch in gesellschaftsorientierten Modellen (Burkart und Probst 1991; Ronneberger und Rühl 1992). Nicht zuletzt haben auch kritische PR-Ansätze ihren Ausgangspunkt häufig in Gemeinwohlkonzepten (vgl. ausgewählte Beiträge in L’Etang et al. 2016). Wie zahlreiche Publikationen zeigen, ist das Interesse am Verhältnis zwischen Public Relations und Gemeinwohl in den vergangenen Jahren dabei nochmals gestiegen (z. B. Brunner und Smallwood 2019; Ihlen und Raknes 2020; Johnston 2017; Johnston und Pieczka 2018). Häufig mündet die Debatte in professionsethische Ausführungen sowie in Forderungen nach einer stärkeren Gemeinwohlorientierung der PR einerseits (z. B. Brunner und Smallwood 2019) und der gleichzeitigen Zurückweisung solcher Forderungen (z. B. Merten 2010) andererseits.
2.1 Befürwortende Perspektive: PR als gemeinwohlorientierte Praxis Autoren wie beispielsweise Ronneberger und Rühl (1992) oder auch Heath (2010, 2013) argumentieren, dass sich die Gemeinwohlorientierung der PR in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften schon durch ihre Artikulationsund Reflexionsleistungen ergebe. So betonen Ronneberger und Rühl (1992) die Funktion von PR bei der „Herstellung und Bereitstellung durchsetzungsfähiger Themen (effective topics)“ in der Öffentlichkeit (ebd., S. 297). Heath (2013) weist zudem auf den organisationsinternen Einfluss von PR hin und ist überzeugt, dass PR grundsätzlich positive gesellschaftliche Wirkungen haben könne – „through its wise and ethical influence on managements and the ability to foster discourses and ideas that help make society the best community that it can be” (ebd., S. xxxiii). Insbesondere mit Blick auf die Artikulationsleistung von PR stellt sich jedoch die Frage nach dem „fair play“ aller Interessengruppen. Das regelkonforme Miteinander in Bezug auf die öffentliche Meinungsbildung konkretisiert sich für die
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Public-Relations-Praxis insbesondere über berufsspezifische Normen und Kodizes (Avenarius und Bentele 2009; Bentele 2015). Hier sind unter anderem Forderungen nach wahrheitsgemäßer Darstellung von Sachverhalten, nach Transparenz und Integrität sowie der Verzicht auf unredliche Praktiken aufgeführt. Noch weiter in ihren Anforderungen an die PR-Praxis gehen Ansätze wie der von Brunner und Smallwood (2019). Die Autorinnen schlagen vor, Public Relations als Public Interest Relations (PIR) neu zu modellieren, wobei hier das Gemeinwohl an erster Stelle stehen würde. Die zivilgesellschaftliche Verantwortung der PRPraktiker*innen wäre in besonderer Weise gefragt; organisationale Ziele träten demgegenüber in den Hintergrund: „PIR recognizes public relations practitioners have a civic duty to create spaces for dialogue; encourage and listen to diverse viewpoints; offer honest analysis and synthesis toward recommendations that advocate for the public interest; and act in the public interest, while also advancing organizational goals.“ (Brunner und Smallwood 2019, S. 245).
2.2 Skeptische Perspektive: PR als Vertretung von Partikularinteressen „Alles PR für PR!“ – das würden wohl kritische Beobachter angesichts der genannten Vorschläge sagen (z. B. Merten 2010). Public Relations und strategische Organisationskommunikation seien per definitionem Interessenvertretung und damit rein partikular orientiert. Das schließe Gemeinwohlbezüge nicht aus, ordne diese aber wiederum klar der strategischen Zielerreichung unter. Dies beträfe unter anderem den Umgang mit „Wahrheit“: So versteht Merten (2008) Public Relations aus einer konstruktivistisch geprägten Sichtweise als „Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion“ und lehnt eine strikte Orientierung an Wahrheitsansprüchen ab. PR sei in erster Linie dem Auftraggeber und seinen Ansichten verpflichtet und nicht einer abstrakten Öffentlichkeit oder dem Gemeinwohl. PR-Ethikkodizes, die Loyalität sowohl dem Auftraggeber als auch der Öffentlichkeit gegenüber verlangten, seien demnach als widersprüchlich, praxisfern und nicht hilfreich anzusehen (Merten 2006, 2008, 2010; vgl. auch Hoffjann 2013; Thummes 2013). Für Kritiker*innen von „gemeinwohlorientierter PR“ und „Public Interest Relations“ geht es also darum, den explizit strategischen, steuernden Charakter von PR nicht zu verleugnen, sondern tatsächlich ernst zu nehmen. In gewisser Weise stimmen sie hier mit Habermas überein: Die „publizistischen Selbstdarstellungen privilegierter Privatinteressen“ (Habermas 1990, S. 291) mögen sich zwar auf das Gemeinwohl beziehen; eine rationale, diskursive Übereinkunft zu eben diesem Gemeinwohl könne jedoch nicht
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ihr primäres Ziel sein. Jegliche Bezugnahme auf geteilte Werte oder Gemeinwohlaspekte sei demnach rein strategisch motiviert (hierzu auch: Enke et al. 2022).
2.3 Zwischen Steuerungsanspruch und Legitimationszwang Die obige Gegenüberstellung von befürwortenden und skeptischen Sichtweisen auf Public Relations in Bezug auf Gemeinwohlaspekte mag etwas holzschnittartig sein. Sie illustriert jedoch die intensive Auseinandersetzung der PR-Forschung zu dieser Frage. Eine endgültige Entscheidung oder finale Positionsbestimmung ist dabei nicht in Sicht. Vielmehr zeigt sich hier die grundlegende Ambivalenz oder das Dilemma einer öffentlich-persuasiven Kommunikationspraxis: Sie bewegt sich zwischen Kontroll- und Steuerungsanspruch einerseits und demokratischer Legitimationsnotwendigkeit andererseits (Sarcinelli und Hoffmann 2009, S. 242 f., Winkler 2015, S. 59 ff.). Anders formuliert: Public Relations müssen, um ihre partikularen Ziele zu erreichen, Bezug nehmen auf das öffentliche Interesse und allgemein geteilte Themen und Werte. Dass sie dies absichtsvoll tun, ist kaum zu verhehlen (sonst wäre es keine PR); gleichzeitig muss diese Absicht ausgeschlossen werden (sonst handelte es sich nicht um öffentliches Interesse). Der Motivverdacht läuft also immer mit und korrumpiert die Beteuerung bester Absichten (Luhmann 2000, S. 291, 1984, S. 207 f.). Die Analyse könnte nun an dieser Stelle stoppen und es bei einer solchen Bestandsaufnahme belassen. Die Frage ist jedoch, ob man auf anderen Wegen zu nochmals detaillierteren Einsichten zum Verhältnis von PR und öffentlichem Interesse gelangen kann. Wie wird dieses Verhältnis „im echten Leben“ greifbar? Zu diesem Zweck soll zunächst nochmals genauer auf die Besonderheiten der Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse selbst fokussiert werden.
3
Die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse
Mit dem Fokus auf Gemeinwohlaspekte begibt sich die PR-Theorie auf originär politisches Terrain. Hier geht es um Fragen des kollektiv verbindlichen Entscheidens (Luhmann 2000). Das komplexe Konstrukt Gemeinwohl (bzw. „public interest“) in diesem Rahmen definitorisch zu fassen, ist jedoch keine leichte Aufgabe (ebd., S. 120 ff.; vgl. auch Blum 2015, S. 7 ff.; Johnston 2017, S. 7 ff.). Über die Abgrenzung von Gemeinwohl und Partikularinteressen (bzw. „private interest“) ist jedoch ein erster Schritt getan (Luhmann 2000, S. 121). Während
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Gemeinwohl das Interesse einer wie auch immer zu bestimmenden Allgemeinheit repräsentiert (also Bezugspunkt für Politik ist), stehen partikulare oder private Interessen für die Vorteile Einzelner. Luhmann weist in diesem Zusammenhang auf eine Besonderheit hin: Die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse ist asymmetrisch gebaut – ihre Verwendung ist bereits wieder im öffentlichen Interesse (ebd.). Es ist also im Sinne des Gemeinwohls, über die Unterscheidung von Gemeinwohl und Partikularinteressen nachzudenken. Die Komplexität des Gemeinwohlkonstrukts erklärt sich nicht zuletzt aus dieser Verschachtelung. Formal betrachtet, hat man es mit einem Wiedereintritt („re-entry“) der Unterscheidung in die Unterscheidung selbst zu tun (ebd.). Was von allgemeinem, öffentlichen Interesse ist, und was demgegenüber als privates Interesse gilt, steht demnach nicht von vornherein fest. Es sei eine politisch zu entscheidende Frage, so Luhmann weiter, „in welchem Umfange auch Privatinteressen als politisch relevant erachtet werden“ (ebd., S. 122). Die Idee von Legitimität gewinnt in Folge im politischen System an Bedeutung. Damit verbunden sind Diskussionsprozesse darüber, welche Interessen je aktuell als öffentlich darstellbar und damit durchsetzbar gelten (ebd., S. 122 ff.). Nur was sich als legitim rechtfertigen lässt, wird positive Berücksichtigung in politischen Entscheidungen finden. Insgesamt gelangt man auf diesem Weg also zu einem stärker prozeduralen oder prozesshaften Verständnis dessen, was als Gemeinwohl gilt (vgl. auch Blum 2015, S. 34 ff.; Johnston 2017, S. 12) – und gleichzeitig zu einem Fokus auf Öffentlichkeit.
3.1 Öffentlichkeit und Legitimierungsstrategien Öffentlichkeit und öffentliche Meinung spielen bei den beschriebenen Aushandlungsprozessen eine entscheidende Rolle (Luhmann 2000, S. 274 ff.; Theis-Berglmair 2008). Mittels Öffentlichkeit wird die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse immer wieder neu thematisiert und verhandelt. Organisationen oder Interessengruppen werden demnach versuchen, in je unterschiedlicher Weise Einfluss auf Öffentlichkeit zu nehmen (Szyszka 2008). Hier kommt Public Relations als strategische Organisationskommunikation ins Spiel. Der Gewinn oder die Sicherung von Legitimität ist für PR-Programme übergreifend ein wesentlicher Orientierungspunkt (Hoffjann 2001; Jarren und Röttger 2009; Sandhu 2012). Gleichzeitig bedeutet jede PR-Arbeit immer auch ein Agieren in eigener Sache: Das Bewegen in der Öffentlichkeit im Auftrag von Organisationen bringt damit immer auch eine Präsenz der PR-Praxis selbst mit sich – und damit ebenfalls eine potenzielle Beobachtung unter Legitimitätsaspekten.
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Wie Legitimität konkret erreicht oder gesichert werden kann, wird in der PR-Literatur aus verschiedenen Perspektiven beschrieben: aus systemfunktionaler (z. B. Hoffjann 2009), neoinstiutionalistischer (z. B. Sandhu 2014) oder rhetorischer Sicht (z. B. Ihlen und Raknes 2020). Allen Legitimationsstrategien gemeinsam ist jedoch die Bezugnahme auf übergreifende Gemeinwohlaspekte: Ohne ein Verständnis dessen, was jeweils aktuell öffentlich anschlussfähig und erfolgversprechend ist und was nicht, ist PR-Arbeit als Legitimationsarbeit kaum umsetzbar. Legitimationsarbeit heißt dabei in erster Linie Umgang mit Werten, heißt Arbeit mit „formulierten Präferenzen“ (Luhmann 2000, S. 359). So kann beispielsweise der Bezug auf breit konsentierte Werte wie Klimaund Umweltschutz, Gesundheit, Gleichberechtigung, aber auch Transparenz und Dialogbereitschaft als eine vielfach angewandte Legitimationsstrategie gelten: „If organizations do not provide society something it values, they stand to lose their social license to operate.” (Ihlen und Raknes 2020, S. 1). Organisationen werden also herausstellen, auf welche Weise sie zum Klimaschutz beitragen, Arbeitsplätze sichern, den wissenschaftlichen Fortschritt fördern, für Gleichstellung und Dialog sorgen etc. Aber auch hier bleibt es beim oben beschriebenen Dilemma für Public Relations: Der Motivverdacht lässt sich nicht von der Hand weisen (Luhmann 2000, S. 291). Insofern wird es darauf ankommen, geschickt zu agieren. Es geht darum, sich im aktuellen Wertekosmos kompetent und jeweils zum Vorteil der Organisation zu bewegen. Theis-Berglmair beschreibt dies als „Managen des Beobachtetwerdens“ (2008, S. 343). Damit greift sie eine Besonderheit von Öffentlichkeit auf, die insbesondere von systemtheoretischen Ansätzen betont wird: Öffentlichkeit ermöglicht es – ähnlich wie ein Spiegel – zu beobachten, wie man beobachtet wird (ebd., S. 341 f.; Luhmann 1997, S. 1102): Gilt die Aufmerksamkeit dem Gesagten oder der dahinter vermuteten Strategie? Welche Erwartungen (eigene und die anderer) sind sichtbar, welche nicht? Wie wird mit diesen Erwartungen umgegangen? Hier ergeben sich laut Luhmann voraussetzungsvolle Bedingungen: „Sich im Medium der öffentlichen Meinung der Beobachtung zweiter Ordnung zu stellen, heißt [..], daß man sich bemüht, dem überall lauernden Motivverdacht zu entkommen.“ (2000, S. 291). Das heißt: „Vor allem muß der Eindruck erzeugt (und zugleich die Erzeugung des Eindrucks der Bemühtheit um die Erzeugung dieses Eindrucks vermieden werden), daß der Kommunikation an sachlicher Orientierung gelegen ist.“ (ebd.).
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3.2 Die Rolle der Massenmedien Ob eine Legitimierungsstrategie erfolgreich ist oder nicht, entscheidet sich also in erster Linie in der Öffentlichkeit – und das heißt vor allem in den Massenmedien (Luhmann 1996, S. 183 ff.). Nirgendwo sonst lässt sich pointierter beobachten, was aktuell Thema ist, welche Werte öffentlich honoriert werden und was als gemeinwohlförderlich oder -schädlich diskutiert wird. Medien produzieren auf diese Weise eine gewisse übergreifende Informiertheit und setzen gleichzeitig eine „hinreichende moralische Uniformität“ voraus (Luhmann 1997, S. 1101). Hinsichtlich ihres eigenen Selbstverständnisses ist die Verortung der Massenmedien dabei klar und wird ebenfalls als bekannt vorausgesetzt: Sie verstehen sich (zumindest im öffentlich-rechtlichen Bereich) als klar gemeinwohlorientiert und betonen ihre Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit (z. B. Filipovi´c 2017; siehe auch Deutscher Presserat 2019). Public Relations erscheint dabei als Gegenspieler. Ihr vergleichsweise schlechtes Image bei Journalist*innen ist vielfach belegt (Seidenglanz 2018). Auch die Berichterstattung über PR als Profession und Praxis fällt entsprechend kritisch aus (Fröhlich und Kerl 2012). Besondere mediale Aufmerksamkeit gilt dabei häufig Fehltritten und Missgeschicken der PR. An genau dieser Stelle, den PR-Fehlern oder gescheiterten Legitimationsstrategien, soll nun im Folgenden detaillierter angesetzt werden. Was verraten diese Fehler über die Beobachtung einer (vermeintlich) gemeinwohlorientierten PR-Praxis durch die Massenmedien?
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Erkenntnistheoretische Vorteile des Pathologischen: PR-Fehler nutzen
„PR-Fehler“, „PR-Krisen“ oder gar „PR-Katastrophen“ begegnen uns medial vielerorts, ob in den klassischen Massenmedien oder in den Sozialen Netzwerkmedien. Da twittert beispielsweise ein Immobilienunternehmen zum Internationalen Frauentag ein Bild seines Vorstands, der sich zu weiblichen Vorbildern äußert. Auf dem Bild zu sehen sind jedoch ausschließlich Männer – weibliche Vorstandsmitglieder gibt es nicht. Oder eine Ministerin lobt vor laufender Kamera die Anstrengungen eines großen Lebensmittelkonzerns für gesündere Nahrungsmittel. Die Bemühungen genau dieses Konzerns werden jedoch von anderer Seite als marginal eingeschätzt. In beiden Fällen war die Empörung groß, insbesondere in den Sozialen Netzwerkmedien. Für einen Shitstorm sorgte kürzlich auch die Veröffentlichung eines satirischen Kinderlieds, in der eine Oma als „Umweltsau“ bezeichnet wird – als PR-Fehler galt dabei aber in erster Linie, dass man sich
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im Anschluss für die Satire entschuldigt und das Video aus der Mediathek entfernt hatte. Als kommunikationsstrategischer Fehltritt wurde vor einigen Jahren aber auch der Vorschlag einer Partei nach einem „Veggie Day“ in öffentlichen Kantinen bezeichnet. Die Serie solcher Beispiele für „#PRfails“ ließe sich sicher mühelos fortführen. In allen hier anekdotisch genannten Fällen war das „Managen des Beobachtetwerdens“ nicht von Erfolg gekrönt und die legitimierende Verortung der Organisation im Wertekosmos misslang. In jedem der erwähnten Beispiele schien also etwas schief gelaufen zu sein, das die jeweiligen Kommunikationsverantwortlichen hätten offenbar besser machen können, ja, so der Anspruch, hätten besser machen müssen. Es soll im Folgenden jedoch nicht darum gehen, diese Fälle im Sinne einer „Worst Case“-Studie zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Die Aufmerksamkeit gilt vielmehr dem Fehler als kommunikatives Phänomen selbst. Als solches fristet er ein Schattendasein in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Dabei sind Fehltritte jeglicher Art ein Glücksfall für die Beobachtung sozialer Routinen, Normen und Selbstverständlichkeiten. Mehr noch: Sie machen diese überhaupt erst sichtbar. Man könnte sie als eine Art Stoppschild verstehen, das die Abweichung und damit im gleichen Atemzug den „richtigen“ oder den üblichen Gang der Dinge markiert. Baecker spricht in einem Interview von Fehlern als einer „unbestechliche[n] Quelle der Information über die Wirklichkeit, in der sie passieren und über die sie eine Aussage treffen, die hochgradig verlässlich ist“ (Baecker 2003b). In gleicher Weise betont auch Luhmann (mit Verweis auf Gehlen) die Erkenntnisvorteile, die in solchen „pathologischen“ Zusammenhängen lägen (Luhmann 2006, S. 258). Die Vorzüge von Fehlern sollen im Folgenden übergreifender nutzbar gemacht werden. Dazu gilt es genauer einzugrenzen, was unter PR-Fehlern verstanden wird und warum sie für den vorliegenden Zusammenhang erkenntnisbringend sein können.
4.1 Was sind PR-Fehler? In Anlehnung an Überlegungen insbesondere von Luhmann (1991, 1996, 2006), Baecker (2003a, b) und Lehmann (2017) sollen fünf Aspekte genannt werden, welche die Form des Fehlers ausmachen. Diese generellen Aspekte werden auf die PR-Praxis übertragen und für den hier interessierenden Zusammenhang konkretisiert. Besonderes Augenmerk wird dabei darauf liegen, wie die (vermuteten) Legitimationsstrategien von Organisationen mittels Fehlerzuschreibungen öffentlich-medial zum Thema werden.
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1. Fehler machen Erwartungen sichtbar. Laut ISO-Normenkatalog zum Qualitätsmanagement sind Fehler zunächst einmal die „Nichterfüllung von Anforderungen“ (DIN EN 9000 2015; zit. bei Seidenberg 2019, S. 23). Es läuft/lief etwas falsch, was hätte richtig laufen sollen. Dies lässt sich stärker auf Kommunikation beziehen und bedeutet: Spezifische Erwartungen, beispielsweise an bestimmte professionelle Programme, werden enttäuscht (Luhmann 2006, S. 258f.; 1984, S. 436ff.). Dies gilt für die PR-Profession ebenso wie etwa für juristische oder medizinische Berufe. Ein Fehler ist damit immer auch eine Gelegenheit, sich über professionelle Standards oder Erwartungen überhaupt erst bewusst zu werden. Das Markieren eines Fehlers als PR-Fehler durch die Medien zeigt demnach deren Erwartung an die „richtige“ Ausführung von PR-Programmen – eben an das korrekte „Managen des Beobachtetwerdens“ (Theis-Berglmair 2008, S. 343). Wir stoßen hier auf sehr komplexe, wechselseitig-reflexive Verhältnisse, die typisch sind für Beobachtungen im Rahmen von Öffentlichkeit. Grundsätzlich gilt dabei die folgende Annahme: Public Relations, die „richtig“ funktionieren, sind mit positiver medialer Resonanz verbunden und fördern die Legitimation einer Organisation. Ist die Resonanz negativ und eine PR-Aktion nicht legitimationsförderlich, muss demnach fehlerhaft gearbeitet worden sein.1 Man erwartet von professioneller PR also eine nahezu hellseherische Effektausrichtung. Die mediale Wirkung einer öffentlich sichtbaren Aktion soll vorhergesehen und geplant werden können. Dazu zählt auch die Erwartung, dass durch die PR korrekt einzuschätzen sei, ob das „Managen des Beobachtetwerdens“ selbst als ein solches Managen im Partikularinteresse wahrgenommen und thematisiert werden wird (zum Beispiel als „Greenwashing“) oder nicht. Man hat es im Grunde mit der Aufforderung an PR zu tun, Kommunikationsformen im Medium Öffentlichkeit zu finden, die den Motivverdacht vergessen lassen, beziehungsweise die erfolgreich mit dem mitlaufenden Motivverdacht umgehen – in welcher Weise auch immer (Luhmann 2000, S. 290 ff., 1996, S. 185). Dies ließe sich paradox als strategisch-nicht-strategische Kommunikation bezeichnen. Zugespitzt könnte man sagen: Erwartet wird professionelle Manipulation. Wie lassen sich diese komplexen Erwartungsstrukturen konkret auf einen der oben genannten Fälle von „PR-Fehlern“ anwenden? Erwartet wurde beispielsweise, dass von Seiten der PR hätte erwartet werden müssen, dass lobende Worte einer Ministerin über einen großen Konzern in der Öffentlichkeit negative Wirkung auslösen und nicht zur Legitimation beitragen würden. Formuliert in Bezug auf Werte: Man erwartete von PR, dass man hätte wissen können, dass das ministeriale Verhalten medial mit Blick auf Unabhängigkeit und kritische Distanz (und nicht etwa Kooperationsfähigkeit, Zusammenarbeit etc.) bewertet werden würde. Deutlich wird also, dass ein PR-Fehler nicht etwas ist, was geschieht und worüber im Anschluss die Medien berichten. Vielmehr entsteht der Fehler erst aus dem komplexen öffentlichen Zusammenspiel wechselseitiger Erwartungen und deren Enttäuschung. 1
Hier nicht weiter ausgeführt ist der Fall, dass von Medienseite bereits von vornherein unprofessionelle, fehlerhafte PR-Arbeit erwartet wird. Dass eine solche Erwartung wiederum erwartbar wäre, zeigen die Ausführungen bei Seidenglanz (2018) sowie Fröhlich und Kerl (2012). Dies kann jedoch nicht genereller Ausgangspunkt für ein erkennbares Professionsprofil insgesamt sein – ähnlich wie fehlerhafte medizinische Operationen oder juristische Verfahren.
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2. Fehler thematisieren Alternativität. Enttäuschte Erwartungen heißt auch, dass offenbar ein anderer, eben der „richtige“ Weg möglich gewesen wäre (Baecker 2003b). Mit Blick auf eines der oben genannten Beispiele: Man hätte zum Frauentag kein Vorstandsfoto posten dürfen, auf dem nur Männer zu sehen sind. Vielmehr hätte man beispielsweise die Bemühungen des Unternehmens für mehr Gleichstellung zeigen müssen. Wie soeben gezeigt, impliziert die spezifische Markierung als „PR-Fehler“ dabei immer Öffentlichkeit – man hätte hinsichtlich der öffentlichen Wirkung einer bestimmten Maßnahme eine bessere Entscheidung treffen müssen. Die Alternativen bleiben aber in aller Regel implizit oder fiktiv. Niemand weiß zu sagen, ob nicht auch sie als PR-Fehler eingeschätzt worden wären – beispielsweise, weil sie keinerlei Aufmerksamkeit erreicht hätten. In jedem Fall unterstellt man kausale Wirkungsannahmen im Sinne von: Man hätte wissen müssen, dass Maßnahme X zu öffentlicher Wirkung Y führen würde. Dies verkennt jedoch die Grundbedingung jeder Entscheidung, ob in der PR-Praxis oder anderswo: Entscheiden heißt stets Umgang mit Nichtwissen und unbekannter Zukunft (Baecker 2003a, S. 33ff.; Luhmann 2006, S. 132ff.; Osswald 2019). Fehler, auch PRFehler, bleiben damit ein kommunikatives Phänomen, dem gewissermaßen Kausalität zugemutet wird.
3. Fehler gibt es immer erst hinterher. Mit Erwartungen und fiktiver Alternativität ist die spezifische Zeitlichkeit des Fehlerphänomens bereits angesprochen. Fehler zu beobachten geht mit Rückschau einher, also mit der retrospektiven Beurteilung eines Sachverhalts als falsch und meist auch als ärgerlich und schädlich. Mit Harrison und March (1984) kann man auch von „postdecision surprises“ sprechen. Das Fehlererkennen kann zum Teil sehr schnell vonstatten gehen, fast noch während des Geschehens, aber genauso auch erst Jahre später. Der Fall der oben genannten „Umweltsau“-Satire beziehungsweise deren Entfernung aus der Mediathek spiegelt dabei die aktuelle zeitliche Dynamik gut wider: Die Fehlerzuschreibungen in Social-Media-Kanälen passierten innerhalb weniger Stunden und Tage. Auch wenn hier wie in anderen Fällen ein Vorab-Wissen im Sinne einer Kenntnis von Erwartungen unterstellt wurde: Vor dem Ereignis ist ein Fehler als solcher schlichtweg nicht existent. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass Fehler nicht vorhergesehen oder befürchtet werden können – und im Falle des Schadenseintritts weitere Fehler hinsichtlich interner Diskussions- und Abstimmungsprozesse festgestellt werden. Möglicherweise (und vermutlich häufig) werden zum Entscheidungszeitpunkt auch keine der Alternativen bedacht, die einem später als normkonform (im Falle von PR: als legitimationsförderlich) vorgehalten werden. Lehmann (2017) spricht hier von einer „Koinzidenz interpretativer und attributiver Ungewissheit“. Dies führt zu einer „Man hätte es besser wissen müssen“-Mechanik und zu kausalen Unterstellungen. Die „Zukunft einer vergangenen Gegenwart“ (Luhmann 1991, S. 207) bleibt jedoch eine nicht mehr wirklich zugängliche Größe.
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4. Fehler müssen bemerkt werden – von wem auch immer. Wenn von einem „unbemerkten Fehler“ die Rede ist, heißt das: bis zu genau diesem Zeitpunkt unbemerkt. Anders formuliert, Fehler brauchen stets eine zweite Beobachtungsposition (Baecker 2003b). Es kann sich um dieselbe Person handeln, die (zeitlich versetzt) einen eigenen Fehler feststellt oder um eine andere Instanz. Im Fall von PR-Fehlern spielen die Massenmedien, wie oben erwähnt, eine herausgehobene Rolle. Medien sind in diesem Falle sozusagen Eigenproduzenten von Themen – hier also dem Thema „PR-Fehler“. Der Vorwurf, eine (geplante oder nicht geplante) PRAktion hätte die öffentliche Wirkung nicht korrekt antizipiert, produziert zunächst einmal diese Wirkung. Beispiel „Veggie Day“: Hier hatten auflagenstarke Medien gegen die „Verbotspartei“ gewettert und Zustimmungsverluste vorausgesagt. Neben den Medien sind selbstverständlich auch weitere Beobachter zu nennen, die jedoch in der Regel wiederum auf die Medien Bezug nehmen. Zu denken wäre an die Organisation selbst (Kolleg*innen, andere Fachbereiche, Vorstand etc.), die Fachcommunity oder Einrichtungen wie den Deutschen PR-Rat – jeweils mit nochmals spezifizierten Erwartungen bzw. Normen für die „richtige“ PR-Praxis. Eine besondere Rolle spielen dabei auch Wettbewerber oder Protestgruppen: Mit der Zuschreibung (oder auch Unterstellung) von PR-Fehlern verbinden sie selbst wiederum instrumentelle Ziele mit Blick auf öffentliche Resonanz.
5. Fehler werden in der Regel Personen zugeschrieben. Die mediale Vorliebe für Verfehlungen liegt auch an ihrer Zurechenbarkeit auf Personen. Fehlerbezogene kausale Schlüsse gehen zudem häufig mit moralischen Bewertungen einher. Sie sind damit besonders konfliktnah und auch aus diesem Grund medial interessant (Luhmann 1996, S. 61ff.). Rationalisierte Abläufe und Verfahren in Organisationen mögen zwar im Nachhinein als Entschuldigung gelten („formal alles richtig gemacht“), schützen jedoch nicht generell vor Fehlerzuschreibungen (Luhmann 1991, S. 204f.). Man thematisiert also persönliche Kompetenz und Eignung, spekuliert über Intentionen, und fordert dazu auf, Verantwortung zu übernehmen (Luhmann 2006, S. 197f.; Kühl 2020, S. 24ff.). PR-Fehler stehen damit wie auch andere Fehler für Misserfolg, Konflikt sowie organisationalen und persönlichen Schaden. Entsprechend hatten auch die oben genannten Fälle von „PR-Fehlern“ in je unterschiedlichem Maße Konsequenzen für diejenigen, die in der Verantwortung gesehen wurden.
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4.2 Erkenntnismöglichkeiten durch PR-Fehler Wie die obigen Ausführungen und der Blick auf aktuelle Fälle von „PR-Fehlern“ zeigen, liegen in den hier nur beispielhaft skizzierten „pathologischen“ Zusammenhängen tiefergehende Erkenntnismöglichkeiten. Die Beobachtung von PRFehlern kann demnach einerseits viel über Praxis und Entscheidungsprogramme der Public Relations und andererseits über öffentliche Beobachtungsschemata verraten. Dies gilt unter anderem mit Blick auf das Verhältnis von PR und Gemeinwohl. Deutlich wird, dass einfache, professionsethisch geprägte Gegenüberstellungen, wie sie in Abschn. 2 skizziert wurden, an dieser Stelle nicht ausreichen. Vielmehr muss eine Einschätzung ambivalenter ausfallen.
4.2.1 Zunehmende Beobachtung des „Managen des Beobachtetwerdens“ So ließe sich für den hier interessierenden Zusammenhang zunächst festhalten, dass Organisationen der Bewertung unter Public-Relations-Gesichtspunkten offenbar immer weniger entkommen. Die Beobachtung eines steigenden Legitimationsdrucks (Hoffjann 2001, S. 126 f.; Röttger et al., 2018, S. 97 ff.; Sandhu 2012, S. 3 ff.) kann also ergänzt werden: Es geht nicht nur darum, dass organisationales Verhalten erklärt und im Zweifelsfall gerechtfertigt werden muss. Vielmehr ist mit der Erwartung zu rechnen, dass sämtliche Aktivitäten der Organisation (ebenso wie alle unterlassenen Aktivitäten!) potenziell unter dem Gesichtspunkt der Planbarkeit ihrer öffentlichen Wirkung gesehen werden können. Der „#PRfail“ ist gefürchtet – und allgegenwärtig. Das professionelle „Managen des Beobachtetwerdens“ wird als solches also immer stärker erwartet – und dabei gleichzeitig selbst beobachtet und beurteilt. Das heißt, auch die Legitimationsarbeit selbst muss stärker legitimiert werden. In einem größeren Zusammenhang ließe sich dies durchaus als eine weitere Facette einer zunehmenden „promotional culture“ interpretieren, wie sie Aronczyk et al. (2017) und Cronin (2018) konstatieren.
4.2.2 PR-Fehler und Werte Weiterhin wäre auch die genauere Analyse von PR-Fehlern aus einer dezidierten Werte-Perspektive ertragreich. Diese könnte entsprechende rhetorische Forschungen (z. B. Ihlen und Raknes 2020) ergänzen. Dabei geht es unter anderem um eine Erkundung, welche Werte zu einem jeweiligen Zeitpunkt für Legitimationszwecke in Anspruch genommen werden. Gemäß aktueller „PR-Fehler“ scheinen dies derzeit vor allem Werte wie Klimaschutz, Gleichstellung, Freiheitsrechte etc. zu sein. Der erste Eindruck aus den oben diskutierten PR-Fehlern legt zudem eine
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Unterteilung in vier Felder nahe, die jedoch empirisch genauer zu prüfen wäre. Dabei wird der jeweils medial erhobene Vorwurf mit den verbundenen Werten in Beziehung gesetzt: • Vorwurf der Bezugnahme auf einen zu diesem Zeitpunkt nicht breit honorierten Wert (z. B. vegetarische Ernährung) • Vorwurf der Missachtung oder Verletzung eines breit honorierten Werts (z. B. Entscheidungsfreiheit, Gleichstellung) • Vorwurf der fehlenden Bezugnahme („Ignoranz“) auf einen breit honorierten Wert (z. B. Klimaschutz, Meinungsfreiheit) • Vorwurf der täuschenden Bezugnahme („Greenwashing“) auf einen breit honorierten Wert (z. B. Umweltschutz) Die einzelnen Kategorien sind dabei nicht zwingend trennscharf. So geht der mediale Vorwurf der Bezugnahme auf einen nicht breit honorierten Wert (z. B. vegetarische Ernährung) häufig einher mit dem Vorwurf der fehlenden Bezugnahme auf einen demgegenüber geschätzten Wert (z. B. Entscheidungsfreiheit). Das Urteil „Greenwashing“ meint neben dem Täuschungsvorwurf (d. h. Missachtung des Wertes Wahrhaftigkeit) zugleich die Missachtung von geteilten Werten wie Klima- oder Umweltschutz. Immer jedoch wird im Fall von PR-Fehlern darauf verwiesen, dass mit Blick auf die öffentliche Wirkung offenbar falsche Alternativen gewählt und damit Legitimationserwartungen nicht erfüllt wurden. Die obige Unterteilung macht jedoch auch noch einmal auf die Kontingenz des Fehler-Phänomens beziehungsweise seine kommunikative Verfasstheit aufmerksam. Vor diesem Hintergrund erscheint es fast erstaunlich, wenn eine (geplante oder ungeplante) PR-Maßnahme nicht als fehlerhaft bezeichnet wird. Man kann also vorab nie wissen, ob und in welcher Hinsicht eine organisationale Aktion medial als PR-Fehler gelten wird – auch wenn genau diese Annahme Voraussetzung der Fehlerzuschreibung ist.
4.2.3 PR als Adresse für gescheiterte Legitimation Aus organisationaler Sicht müssen „PR-Fehler“ dabei nicht per se dysfunktional sein. Schließlich machen sie eine Adresse verfügbar, die im Falle missglückter Legitimation und Normabweichung Verantwortung zu übernehmen hat (vgl. zu diesem Aspekt Kühl 2020). In nicht wenigen Fällen größerer Unternehmensskandale wurden daher an PR-Stellen zuerst personelle Konsequenzen gezogen. Aus Organisationsperspektive handelte es sich jeweils um ein Versagen im Umgang mit Öffentlichkeit, eben um ein nicht korrektes „Managen des Beobachtetwerdens“. Damit ergibt sich durch die Existenz von PR eine Art Puffer
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oder Schutzschild für Organisationen. Wie dies aus Gemeinwohlperspektive zu bewerten wäre, muss jedoch wiederum der öffentlichen Debatte überlassen bleiben.
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Fazit und Ausblick
Was lässt sich nun zusammenfassend festhalten für die Diskussion um den Gemeinwohlbeitrag von Public Relations? Ein solcher Beitrag wäre in erster Linie daran zu bemessen, wie sich PR zum Prozess der öffentlichen Abwägung zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen verhält. Er wäre also an der Rolle von PR innerhalb der Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung festzumachen. Wie zu Beginn skizziert, läuft die professionsethische Diskussion hier auf ein Dilemma zu: Der Ansicht, PR trage zur Artikulation und organisationsinternen Reflexion gesellschaftlich relevanter Themen bei, steht die Auffassung gegenüber, die primäre Aufgabe von PR sei allein die Vertretung und Durchsetzung partikularer Interessen. In gleicher Weise trifft die Postulierung von PR-Ethikkodizes auf einen nicht aufhebbaren Motivverdacht. Der exemplarische Blick auf zu beobachtende „PR-Fehler“ kann hier möglicherweise weiterhelfen. Dabei wird zuallererst deutlich, dass man für eine detaillierte Einschätzung die komplexen Beobachtungsverhältnisse von Öffentlichkeit stärker berücksichtigen muss. Einfache Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von PR und Gemeinwohl wird es demnach nicht geben. Feststellen lässt sich jedoch erstens, dass eine existierende PR-Praxis besondere Formen der Beobachtung stimuliert. Das „Managen des Beobachtetwerdens“ rückt als kommunikative Aktivität selbst – ob geplant oder nicht geplant – zunehmend in den medialen Fokus. Entsprechende Erwartungen bilden sich aus und werden enttäuscht („PR-Fehler“) – oder auch nicht. In jedem Fall stellen PR-Praktiken hier spezifische öffentliche Reflexionsanlässe bereit. Um die oben genannte Formulierung aufzugreifen: Es ist im Sinne des Gemeinwohls, über die Unterscheidung Gemeinwohl/Partikularinteresse immer wieder neu nachzudenken – und PR „triggert“ ein solches Nachdenken. Die Reflexion betrifft dabei zweitens die Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen. Nicht zuletzt die (strategische) Inanspruchnahme von Werten zur Legitimation von Organisationsinteressen zeigt, wie hoch welche Werte zu einem je aktuellen Zeitpunkt im Vergleich zu anderen gewichtet werden. Derzeit fallen hier vor allem Themen wie Klimaschutz, Diversität und Gleichstellung – inklusive des entsprechenden „Greenwashing“-Verdachts – ins Auge (hierzu auch: Eisenegger et al. 2022). PR-Fehlerzuschreibungen machen dabei jeweils deutlich,
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dass die gewählte (oder auch nicht gewählte) Referenz in dieser Form nicht der Erwartung entspricht. Dass man im Rahmen einer massenmedialen Öffentlichkeit dabei jeweils von kommunikativen und nicht von kausalen Zusammenhängen auszugehen hat, wurde ebenfalls betont. Ob der Bezug auf Werte durch PR im organisationalen Sinne „korrekt“ gelingt, lässt sich also in keinem Fall vorhersagen. Dass PR aber medial zunehmend unter diesem Blickwinkel beobachtet wird, ist wiederum nicht zu leugnen. Dies eröffnet der Organisation drittens Möglichkeiten, PR-Verantwortliche als „Fehler-Adresse“ bei Legitimationsschwierigkeiten zu benennen. Inwiefern eine solche Strategie wiederum im Sinne des Gemeinwohls ist, bliebe zu diskutieren. Das Phänomen PR-Fehler ermöglicht also in verschiedener Hinsicht einen differenzierteren Blick auf die medial beobachtete PR-Praxis und damit auf Formen von Öffentlichkeit. Ein solcher Blick lädt dabei nicht zuletzt dazu ein, Fehler als Gegenstand kommunikationswissenschaftlicher Analysen weiterführend zu entdecken.
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Wertkonflikte bei der Anwendung von Big Data in der PR Ethische Entscheidungsfindung von Kommunikator*innen am Beispiel von NGOs Anna Dudenhausen und Christian Wiencierz Zusammenfassung
Bei der Anwendung von Big Data in der Public Relations (PR) werden Kommunikator*innen mit zahlreichen ethischen Herausforderungen konfrontiert. Werte aus unterschiedlichen Bereichen können bei Entscheidungen zur genauen Ausgestaltung der datenbasierten Kommunikation in Konflikt geraten und erschweren eine ethische Entscheidungsfindung. Gerade bei Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die besonderen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt sind, spielt die Wahrnehmung von unterschiedlichen Wertvorstellungen eine bedeutende Rolle. Die bisherige PR-Forschung bietet dazu jedoch nur wenige Anknüpfungspunkte. Der folgende Beitrag stellt ein Identifikationsschema für Wertkonflikte in der PR in Anlehnung an Bommer et al. (1987) vor und verdeutlicht dieses am Beispiel von Wertkonflikten im Rahmen der Anwendung von Big Data in der PR von NGOs. Die Identifizierungen von Werten aus diversen Umfeldern sowie die Systematisierung von Wertkonflikten im Rahmen der individuellen ethischen Entscheidungsfindung stellt einen entscheidenden Schritt zur Erforschung und Bewältigung von ethischen Herausforderungen in der PR dar.
A. Dudenhausen (B) · C. Wiencierz Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Wiencierz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_8
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Schlüsselwörter
Public Relations • Big Data • NGOs • Wertkonflikte • Ethische Entscheidungsfindung • Ethik
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Einleitung
Wie allen gesellschaftlichen Teilbereichen gibt die Digitalisierung auch der PR neue Rahmenbedingungen vor. Die vielfältigen Konsequenzen der Digitalisierung für die PR zeigen sich vor allem in der Diskussion um Big Data (Wiencierz und Röttger 2019). So bietet der Einsatz von großen Datenmengen umfangreiche Möglichkeiten für eine zielgerichtetere PR von Organisationen, zum Beispiel in Form von genauen Stakeholdersegmentierungen. Mit möglichen Potenzialen für die PR gehen jedoch auch enorme ethische Herausforderungen einher (hierzu auch: Lenk und Thummes 2022): Einzelne Gruppen werden möglicherweise aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen, weil Botschaften sie durch eine spezifische Ansprache anderer Zielgruppen nicht mehr erreichen (Holtzhausen 2016, S. 24 ff.). Darüber hinaus bedeutet Big Data die „datafication of personal information“ (Mai 2016, S. 192). Entsprechend ist aufgrund möglicher Datenschutzbedenken fraglich, inwiefern die Nutzung von großen Datenmengen von der Öffentlichkeit akzeptiert wird. Solche ethischen Herausforderungen berichten auch Kommunikator*innen (Zerfass et al. 2020), welche durch die Wahrnehmung von konfligierenden Werten entstehen. Eine ethische Betrachtung ist daher notwendig, wird aber durch den Umstand erschwert, dass Big Data eine dynamische Entwicklung mit einem permanenten Fortschritt darstellt (Gandomi und Haider 2015, S. 138). Außerdem wird aufgrund der starken Differenzierung der Kommunikationsdisziplinen eine immer spezifischere Auseinandersetzung mit ethischen Problemfeldern nötig (Rademacher 2020, S. 1). Grundsätzliche Diskussionen über Ethik in der PR werden schon lange geführt (zum Überblick: Bentele 2015) und werden in den letzten Jahren durch Debatten über die Nutzung und Anwendung von Daten in der PR ergänzt (z. B. Holtzhausen 2016; Valin und Gregory 2020). Was in diesen Betrachtungen jedoch noch zu kurz kommt, ist eine strukturierte Auseinandersetzung mit spezifischen konfligierenden Werten, denen sich Kommunikator*innen bei individuellen ethischen Entscheidungen bezüglich der Anwendung von Big Data in den PR ausgesetzt sehen können. Um der nötigen differenzierten Beurteilung von ethischen Problemstellungen und möglichen Wertkonflikten in der PR gerecht zu werden, werden
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Big-Data-Anwendungen in der PR in diesem Beitrag am Beispiel von NGOs diskutiert. NGOs werden deswegen berücksichtigt, weil sie besonderen Ansprüchen der Gesellschaft bezüglich der Beachtung von existierenden Wertvorstellungen unterliegen (Jarolimek 2018, S. 80). Die Beachtung dieser existierenden Wertvorstellungen schafft insbesondere existenzielle Legitimität, Vertrauen und Glaubwürdigkeit, auf die insbesondere NGOs angewiesen sind (Fröhlich und Peters 2015, S. 642). Darüber hinaus werden sie bei Diskussionen zu Datenanwendungen bisher kaum betrachtet, obwohl NGOs Big Data zu ihrer Missionserfüllung einsetzen und die Ansprache von möglichen Spender*innen und Unterstützer*innen durch Datenanalysen zielgerichteter gestalten können (Strange 2015, S. 430). Um die genannten Aspekte zu adressieren, geht dieser Beitrag der folgenden Frage nach: Welche möglichen Wertekonflikte können auftreten, wenn Kommunikator*innen von NGOs ethische Entscheidungen zur Anwendung von Big Data in der PR treffen? Ziel des Beitrags ist es, mittels eines Identifikationsschemas für Wertkonflikte potenzielle Konfliktlinien offenzulegen und damit einer weiteren Diskussion zugänglich zu machen. Darüber hinaus möchte dieser Beitrag ein größeres Bewusstsein für mögliche Ursprünge von Wertkonflikten in der PR schaffen und damit einen Beitrag zur Bearbeitung und Handhabung dieser leisten. Der Beitrag beginnt mit der Darstellung von Grundlagen zu Big Data, datenbasierter PR und NGOs (Abschn. 2), um dann die Rolle von Werten und Wertkonflikten im Rahmen von ethischen Entscheidungen in der PR zu verdeutlichen sowie ein Modell der individuellen, situationsspezifischen, ethischen Entscheidungsfindung vorzustellen (Abschn. 3). Anhand dessen werden dann unterschiedliche Werte, die im Rahmen von Big-Data-Anwendungen in der PR von NGOs in Konflikt geraten können, systematisiert (Abschn. 4). Auf Basis dieser Systematisierung werden beispielhaft Wertkonflikte herausgearbeitet und eingeordnet (Abschn. 5). Im Anschluss werden Limitationen und Forschungsdesiderate diskutiert (Abschn. 6) sowie abschließend Implikationen für die Praxis aufgezeigt (Abschn. 7).
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Big Data, datenbasierte PR und NGOs
Big Data bezeichnet große Informationsbestände, die durch ein hohes Volumen (Volume), eine hohe Geschwindigkeit (Velocity), eine hohe Vielfalt (Variety) und eine hohe Richtigkeit (Veracity) gekennzeichnet sind (Beyer und Laney 2012; Wiencierz und Röttger 2019, S. 2). Sie werden derartig mittels innovativer Computer- und digitaler Speichersysteme erzeugt, dass sie für Personen
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und Organisationen handhabbar und nutzbar werden (Gandomi und Haider 2015, S. 138 ff.). Darüber hinaus wird oft das Charakteristikum des Mehrwerts (Value) im Zusammenhang mit Big Data genannt, um die Zweckdienlichkeit der Informationen zu verdeutlichen, die mit geeigneten Technologien aus diesen großen Datenbeständen extrahiert werden können (Scholz 2017). Vor allem die Merkmale der Vielfalt der Daten (Variety) und die Geschwindigkeit, mit der die diversen Daten zum Beispiel als Hochfrequenzdaten generiert und analysiert werden können (Velocity), beschreiben die Potenziale von Big Data für die PR. Mittels innovativer Big-Data-Technologien kann die PR Daten als Rohstoff generieren und verschiedenartige Daten miteinander verknüpfen, um Stakeholder und Umweltentwicklungen mit einer deutlich größeren Datenbasis zu analysieren und die Ergebnisse als Basis für die eigenen Kommunikationsmaßnahmen zu nutzen – und das potenziell automatisiert und in Echtzeit (Wiencierz 2016, S. 26 ff.). NGOs wie auch Unternehmen können auf diese Weise beispielsweise umfangreiche – auch automatisierte – Social Media Analytics durchführen. Dabei werden mit Software und Analysemethoden umfangreiche Daten aus sozialen Medien für unterschiedliche Zwecke (z. B. Issues Management) ausgelesen, modelliert und analysiert (Stieglitz et al. 2014). Perspektivisch wird eine Ansprache mit voll- oder teilautomatisiert erstellten Inhalten auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) immer einfacher möglich. Diese Technik kann ein weiterer Baustein für NGOs sein, um automatisiert Spender*innen zur richtigen Zeit und über die richtigen Kommunikationskanälen anzusprechen (Stieglitz und Wiencierz 2019, S. 14 ff.). Unter NGOs werden „formale (professionalisierte), unabhängige gesellschaftliche Akteure, deren Ziel es ist, progressiven Wandel und soziale Anliegen auf der nationalen oder der internationalen Ebene zu fördern“ (Frantz und Martens 2006, S. 49 f.; Hervorhebung im Original) verstanden. Etablierte NGOs haben in den letzten Jahren Initiativen gestartet, um mittels Big Data und KI ihre Arbeit zu verbessern. Die Initiative 510 des Roten Kreuzes der Niederlande verfolgt beispielsweise folgendes Ziel: „Improve the speed, quality and cost-effectiveness of humanitarian aid by using data & digital products“ (510 2016). NGOs können verschiedenste traditionelle und neue Kommunikationskanäle miteinander kombinieren, um auf Basis von Datenanalysen zielgerichtet Informationsarbeit zu leisten oder in einen Dialog mit fragmentierten Zielgruppen zu treten (Stieglitz und Wiencierz 2019; Winkler und Pleil 2018). Trotz der genannten Beispiele und skizzierten Potenziale fehlen vielen NGOs jedoch Strategien und Fähigkeiten, um auf der Grundlage ihrer Daten ihre Arbeit zu verbessern, unter anderem in Form eines besseren Fundraisings (MacLaughlin 2016). Darüber hinaus zeigt sich in der PR allgemein eine noch deutliche Zurückhaltung, was die Nutzung
Wertkonflikte bei der Anwendung von Big Data in der PR
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von Big Data für die Anwendung von KI in der Kommunikation anbelangt (z. B. Zerfass et al. 2019, S. 66; Zerfass et al. 2017, S. 49). Mitarbeiter*innen fehlen in der Regel die Expertise und die Ressourcen für die Anwendung von Technologien und Methoden zur Generierung und Analyse großer Datenmengen (Wiesenberg et al. 2017, S. 14). Eine solche Expertise und die geeignete Technologie ist jedoch für den Big-Data-Anwendungsprozess erforderlich, um Daten generieren, bereinigen, für die Auswertung in ein geeignetes Datenformat transformieren, analysieren und interpretieren zu können (Wiencierz und Röttger 2019, S. 12). Zusätzlich nehmen Kommunikator*innen in Europa, insbesondere aus dem Bereich der Non-Profit-Organisationen (zu denen auch NGOs zählen), die Auswertung von persönlichen Daten im Rahmen von Big Data Analysen als ethisch herausfordernd wahr (Zerfass et al. 2020, S. 29). Zusammenfassend können Big-Data-Anwendungen eine zielgerichtete PR und die Missionserfüllung von NGOs unterstützen, gleichzeitig ist die Speicherung und Nutzung von großen Datenmengen mit zahlreichen Herausforderungen verknüpft. Im folgenden Abschnitt soll sich diesem Spannungsfeld nun mittels der Betrachtung von Werten, Wertkonflikten und der ethischen Entscheidungsfindung in der PR genähert werden.
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Werte, Wertkonflikte und ethische Entscheidungsfindung in der PR
Werte können als handlungsleitende Vorstellung über zu bevorzugende Verhaltensweisen und Endzustände verstanden werden (Kluckhohn 1951, S. 395; Rokeach 1973, S. 5). Sie werden von Normen (zumindest theoretisch) abgegrenzt, welche situationsbezogene Verhaltensregeln, wie beispielsweise Gesetze, darstellen, deren Nichteinhaltung sanktioniert werden kann (Thome 2019, S. 57). Wenn bei der Beurteilung von Handlungen mehrere Werte gelten können, welche unterschiedliche Handlungsoptionen eröffnen, kann von einem Wertkonflikt gesprochen werden (Lautmann 1969, S. 52). Wertkonflikte werden durch PRPraktiker*innen individuell wahrgenommen und auch durch sie bearbeitet. Da konträre Handlungsoptionen und damit einhergehende Folgen abgewogen werden müssen, stellen diese Konflikte komplexe ethische Problemstellungen dar und können auch als „internal drama of personal conscience“ (Hove und Paek 2017, S. 87) bezeichnet werden. Wie PR-Praktiker*innen mit Wertkonflikten umgehen können, zeigen praxisnahe Modelle, die eine Entscheidungsfindung in mehreren bearbeitbaren Schritten abbilden (z. B. Bowen 2005; Farmer 2018). Die Diversität der möglichen
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aufeinandertreffenden Werte wird hier jedoch nur indirekt deutlich. Um weitere Ansatzpunkte für ein ethisches Handeln zu gewinnen, wären ein größeres Bewusstsein für aufeinandertreffende Werte sowie ein stärkeres Situationsverständnis hilfreich. Auf letzteren Umstand weist auch Thummes (2018, S. 18) hin: „Typical situations of conflicts of value in strategic communication, such as privacy protection and social cohesion, must be thoroughly analyzed to build grounds for a situational prioritization of values and to develop ethical directions for best practices“. Beide zuvor genannten Aspekte sollen in diesem Beitrag, am Beispiel des spezifischen Anwendungsfalls von Big Data in der PR von NGOs, berücksichtigt werden. Tiefergehende Einblicke in die Bearbeitung von ethischen Problemstellungen liefern zahlreiche theoretische und empirische Arbeiten, die den Prozess der Entscheidungsfindung (Stichwort: ethical decision making) von Individuen ausführlich beschreiben und untersuchen sowie diverse Einflussfaktoren identifizieren und vorstellen (Craft 2013; Loe et al. 2000). Der vorliegende Beitrag setzt an diesem Forschungszweig und der damit verbundenen Betonung der individuellen ethischen Entscheidungsfindung an. Dabei sollen im Folgenden nicht die eigentlichen psychologischen Entscheidungsprozesse im Fokus stehen, sondern die Rolle von Werten und Wertkonflikten betrachtet werden. Ein langjährig etabliertes theoretisches Modell von Bommer et al. (1987), welches die individuelle Perspektive einnimmt, liefert dafür hilfreiche Ansatzpunkte. Es stellt zwar im Vergleich zu anderen Modellen der ethischen Entscheidungsfindung (z. B. Jones 1991; Schwartz 2016) den tatsächlichen Entscheidungsprozess vereinfacht dar, dafür verdeutlicht das Modell, dass Werte unterschiedlichen Ursprungs für Manager*innen beim Treffen von (un)ethischen Entscheidungen eine Rolle spielen (Bommer et al. 1987, S. 266). Bommer et al. (1987, S. 268 ff.) identifizieren dabei als Quellen für relevante Werte das soziale Umfeld, das staatliche/rechtliche Umfeld, das Arbeitsumfeld, das berufliche Umfeld und das persönliche Umfeld. Im Rahmen von Entscheidungen greifen Manager*innen entsprechend des Modells auf Werte aus diesen Umfeldern sowie auf persönliche Werte und weitere individuelle Attribute zurück, wobei Wertkonflikte unweigerlich entstehen und durch Relevanzgewichtung des Individuums verarbeitet werden müssen (Bommer et al. 1987, S. 274 f.). Durch die umfassende Darstellung von zentralen Werteumfeldern kann das Modell zur Identifikation möglicher Wertkonflikte im Rahmen von Managemententscheidungen dienen. Um das Modell für eine Analyse von möglichen Wertkonflikten im Rahmen der PR zugänglich zu machen, werden die fünf Umfelder sowie die individuellen Attribute von Bommer et al. (1987) als Einflussfaktoren in ihren Grundzügen übernommen und zur Systematisierung von potenziell relevanten Werten für
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Abb. 1 Ethische Entscheidungsfindung von Kommunikator*innen und der Einfluss von Werteumfeldern (Abbildung in Anlehnung an Bommer et al. 1987, S. 266)
Kommunikator*innen genutzt. In Anlehnung an Begrifflichkeiten aus neueren Studien zur ethischen Entscheidungsfindung (z. B. Craft 2013) und zur genaueren Abgrenzung der Umfelder werden drei der fünf ursprünglichen Bezeichnungen angepasst. Aus dem sozialen Umfeld wird das gesellschaftliche/kulturelle Umfeld und aus dem Arbeitsumfeld wird das Organisationsumfeld. Darüber hinaus werden statt des gesamten staatlichen/rechtlichen Umfelds nur rechtliche Rahmenbedingungen betrachtet, da auch Bommer et al. (1987, S. 269) in diesem Zusammenhang überwiegend von Gesetzen sprechen. Abb. 1 zeigt das leicht modifizierte Modell1 , welches die Ursprünge von möglichen relevanten Werten bei der ethischen Entscheidungsfindung von Kommunikator*innen verdeutlicht. Der eigentliche situationsspezifische Entscheidungsprozess wird entsprechend des Schwerpunktes dieses Beitrags bewusst nicht detaillierter dargestellt (siehe Abb. 1, mittlerer Kasten). Die Wahrnehmung und der damit zusammenhängende Grad des Einflusses von Werten werden wie bei Bommer et al. (1987, S. 266) mittels eingezeichneter Pfeile symbolisiert.
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Wird im Folgenden von „Werteumfeldern“ gesprochen, sind damit auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die individuellen Attribute gemeint.
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Werte bezüglich der Anwendung von Big Data in der PR von NGOs
Um potenzielle Wertkonflikte bei der Anwendung von Big Data in der PR von NGOs mittels des vorgestellten leicht modifizierten Modells identifizieren zu können, ist zunächst eine Bestandsaufnahme von Werten aus den unterschiedlichen Umfeldern notwendig. Im Folgenden werden daher die einzelnen Werteumfelder ähnlich wie bei Bommer et al. (1987) kurz erläutert, wobei beispielhaft zentrale Werte bezüglich einer datenbasierten PR von NGOs herausgearbeitet werden. Werte, die sich speziell auf Big Data sowie technische Aspekte beziehen, finden sich dabei in den einzelnen Umfeldern wieder. Inwiefern die genannten Werte aus den Umfeldern bei Entscheidungen tatsächlich eine Rolle spielen und in Konflikt geraten können, ist abhängig davon, inwiefern sie von dem*der Kommunikator*in wahrgenommen werden.
4.1 Individuelle Attribute Nach Bommer et al. (1987, S. 274) sind die Fähigkeit zum moralischen Denken, persönliche Ziele, demographische Faktoren sowie persönliche Werte für die ethischen Entscheidungen im professionellen Kontext zentral. So spielen auch für Kommunikator*innen in Europa persönliche Werte im Umgang mit ethischen Herausforderungen eine große Rolle (Zerfass et al. 2020, S. 25). Eine Berufsfeldstudie von Lee und Cheng (2012, S. 88) zeigt beispielsweise, dass Werte wie Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und ein innerer moralischer Kompass wichtig für eine ethische Führung in der PR sind. Die umfassende Systematisierung von persönlichen Werten von Kommunikator*innen allgemein und von NGOs im Speziellen stellt jedoch eine Forschungslücke dar. Ebenfalls ist sehr wenig über genaue Wertvorstellungen von Kommunikator*innen in Bezug auf Big Data bekannt. Eine Meta-Analyse von Baruh et al. (2017) zeigt jedoch, dass sich über Geschlecht, kulturelle Orientierung und nationale Rechtssysteme hinweg Ergebnisse verallgemeinern lassen, wonach Nutzer*innen, die um ihre Privatsphäre besorgt sind, mit geringerer Wahrscheinlichkeit Online-Dienste nutzten, Informationen über diese Dienste austauschen und eher Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre in Anspruch nehmen. Daran anknüpfend könnte angenommen werden, dass Kommunikator*innen mit einem starken Bewusstsein für Datenschutz eine andere handlungsleitende Vorstellung über erstrebenswerte Big-Data-Anwendungen haben als Kommunikator*innen mit einem niedrigeren Datenschutzbewusstsein.
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4.2 Persönliches Umfeld Neben persönlichen Werten können Kommunikator*innen auch Werte aus ihrem persönlichen Umfeld wahrnehmen und für ihr Verhalten als relevant einschätzen. Bommer et al. (1987) weisen auf mögliche Einflüsse des privaten Lebens, hier insbesondere der Familie und Peer-Gruppen, auf ethische Entscheidungen in einem professionellen Umfeld hin. Darüber hinaus spielen Werte aus dem persönlichen Umfeld auch im Rahmen der Sozialisation eine Rolle. Eine Studie von Lee und Cheng (2012) zeigt beispielsweise auf, dass die familiäre Erziehung bei amerikanische PR-Praktiker*innen eine wesentliche Einflussgröße für ihr ethisches Verständnis darstellt. Wie sich die Sozialisation und das persönliche Umfeld konkret auf die ethische Entscheidungsfindung bezüglich der Anwendung von Big Data auswirken, bleibt im Rahmen von zukünftigen Forschungsarbeiten noch zu klären.
4.3 Organisationsumfeld Für NGOs wird in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehoben, dass dieser Organisationstyp besonders durch eine Wertekultur geprägt ist (z. B. Chen et al. 2013; Knutsen 2012). So geben in Europa allein Kommunikator*innen aus Non-Profit-Organisationen an, dass ethische Organisationsrichtlinien genauso zur Bearbeitung von ethischen Problemstellungen herangezogen werden wie die persönlichen Werte (Zerfass et al. 2020, S. 25). Beschäftigen sich NGO-Kommunikator*innen mit Big Data-Anwendungen, können also Werte aus allgemeinen Organisationsleitbildern, ethischen Organisationsleitlinien oder konkreten Compliance Richtlinien bezogen auf die Verwendung von Daten von Relevanz sein. Datenschutzbeauftragte können darüber hinaus weitere Leitlinien für den Umgang mit Daten in Organisationen vorgeben. Datenrichtlinien von größeren NGOs (z. B. 510 2017), die den verantwortlichen Umfang mit Daten und den Schutz der Privatsphäre sichern sollen, können auch Anknüpfungspunkte für andere NGOs bieten. Aber auch nicht festgeschriebene Werte, die innerhalb der Organisation unter den Mitarbeiter*innen diskutiert und gelebt werden, können eine Rolle für den*die jeweilige*n Kommunikator*in spielen. Außerdem sind für das organisationale Umfeld ethische Leitlinien von zentralen Verbänden wie dem Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e. V. (VENRO) oder auf internationaler Ebene der World Association of Non-Governmental Organizations (WANGO) zu nennen. Sowohl im Verhaltenskodex von VENRO (2018) als auch im Ethik-Kodex von WANGO
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(2004) spielt Transparenz eine große Rolle, aber auch weitere Werte wie zum Beispiel Respekt, Gleichheit bzw. Diskriminierungsfreiheit, Verantwortung und Effizienz.
4.4 Berufsständisches Umfeld Wenn es um zentrale berufsständische Werte und die Bearbeitung von ethischen Problemstellungen in der PR geht, werden nationale als auch internationale PR-Kodizes analysiert und diskutiert (z. B. Ikonen et al. 2017; Roberts 2012; Yang et al. 2016). Für Deutschland fasst der Deutsche Kommunikationskodex „Transparenz, Integrität, Fairness, Wahrhaftigkeit, Loyalität und Professionalität“ (Deutscher Rat für Public Relations 2012) als zentrale Werte für professionelle Kommunikator*innen zusammen. Zwischen weiteren nationalen und internationalen PR-Kodizes existieren Überschneidungen: Beispielsweise ist der Wert Loyalität ebenfalls in den Sieben Selbstverpflichtungen der DPRG, dem Code d’Athènes und dem Code de Lisbonne verankert (Deutscher Rat für Public Relations 1966, 1991, 1995). Darüber hinaus betont die DRPR-Richtlinie zu PR in digitalen Medien und Netzwerken auch den Wert Transparenz (Deutscher Rat für Public Relations 2018). Insgesamt genießen PR-Kodizes in der Praxis jedoch einen eher geringen Bekanntheitsgrad (Röttger et al. 2018, S. 234). Ob Werte aus dem berufsständischen Umfeld wahrgenommen und in Entscheidungen einbezogen werden, ist also zunächst davon abhängig, inwiefern die entsprechenden Kodizes und Richtlinien dem*der jeweiligen Kommunikator*in überhaupt bekannt sind. Ähnliches gilt für weitere berufsständische Werte, die in speziellen Verbandkodizes für NGOs festgehalten sind. Beispielsweise wird im VENRO-Kodex für entwicklungsbezogene Öffentlichkeitsarbeit ebenfalls auf die notwendige Professionalität bzw. Expertise von PR-Praktiker*innen hingewiesen und darüber hinaus an unterschiedlichen Stellen eine auf Gleichheit ausgelegte bzw. diskriminierungsfreie Kommunikation betont (VENRO 2016). Außerdem können Werte aus dem berufsständischen Umfeld auch im Rahmen von Gesprächen und Diskussionen aufgefasst bzw. erlernt werden. So sind dynamische Diskussionen rund um die Phänomene Big Data und KI zu beobachten, die erst zeitversetzt Eingang in Leitlinien und Kodizes finden. In ihrem Fokus steht die Frage, wie die technischen Potenziale in der PR genutzt werden sollen (z. B. Holtzhausen 2016; Valin und Gregory 2020). Im Kern werden Werte wie Datenschutz, Transparenz und Expertise für den Umgang mit den Technologien betont.
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4.5 Gesellschaftliches bzw. kulturelles Umfeld Gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse auf die PR werden in der Forschungsliteratur aufgezeigt und diskutiert (z. B. Sriramesh und Verˇciˇc 2012). Da NGOs maßgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung angewiesen sind, können Werte aus dem gesellschaftlichen bzw. kulturellen Umfeld für die ethische Entscheidungsfindung bezüglich der Anwendung von Big Data in der PR von großer Relevanz sein. In Deutschland stellt beispielsweise der Datenschutz für die Mehrheit der Bevölkerung ein wichtiges Gut dar (SINUS Markt- und Sozialforschung 2018). Gleichzeitig bestehen Sorgen um die Privatsphäre im Internet (Kozyreva et al. 2020). Studien, die neben Deutschland weitere europäische Länder berücksichtigen, zeigen darüber hinaus eine Skepsis gegenüber der Sammlung und Nutzung von Daten durch Organisationen (Eurobarometer 2019; Vodafone 2016). Diese und weitere gesellschaftliche bzw. kulturelle Werte können von Kommunikator*innen beispielsweise durch die mediale Berichterstattung, Studien oder Debatten auf Social-Media-Plattformen wahrgenommen und bei Entscheidungen berücksichtigt werden.
4.6 Rechtliche Rahmenbedingungen In Gesetzen werden Wertvorstellungen in Form von Normen verankert. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Datenschutzgesetze, die sich zwischen Ländern unterscheiden und dadurch für erhebliche Komplexität sorgen, zu nennen (z. B. Garrison und Hamilton 2019). Gerade für stark international agierende NGOs und ihre Kommunikator*innen können die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen eine große Herausforderung darstellen. Aber auch die Umsetzungen spezifischer Datenschutzgesetze, wie die Europäische Datenschutzgrundverordnung, ist für NGOs vielschichtig (Gazi 2020). Darüber hinaus konkretisieren Gerichtsurteile diese Gesetze, welche wiederum von Kommunikator*innen bei der Datenanwendung in der PR berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise wurde so in Bezug auf die Nutzung von Cookies der Wert der Privatsphäre und die Eigenbestimmung von Internetnutzer*innen in Deutschland weiter gestärkt (z. B. Bundesgerichtshof 2020).
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Wertkonflikte bei der Anwendung von Big Data in der PR von NGOs
Im Rahmen der vorherigen Ausführung wurden zentrale Werte bezüglich einer Big-Data-anwendenden PR von NGOs herausgearbeitet. Dabei boten die Werteumfelder des vorgestellten Modells einen nützlichen Rahmen für die Recherche. Es kann damit als Identifikationsschema für mögliche Wertkonflikte in der PR sowie in konkreten Anwendungsfeldern der PR genutzt werden. Um das Spannungsfeld, in dem sich Kommunikator*innen bewegen, zu verdeutlichen, sollen nun auf Basis des Forschungsstandes exemplarisch vier mögliche Wertkonflikte im Rahmen der Anwendung von Big Data in der PR von NGOs aufgezeigt werden. Der Wert Effizienz besitzt für NGOs eine große Relevanz, da sie zum einen ihre Missionen möglichst umfassend erfüllen möchten und gleichzeitig häufig mit knappen Ressourcen arbeiten, deren Einsatz besonders vor Geldgeber*innen gerechtfertigt werden muss. Eine genaue Clusterung von Stakeholdern mittels Big-Data-Analysen kann zu einer effizienten zielgruppenspezifischen Ansprache im Rahmen der PR von NGOs führen (siehe Abschn. 1 und 2) und somit dem Wunsch nach Effizienz Rechnung tragen. Dieser Wert, der besonders im organisationalen Umfeld verankert werden kann, kann jedoch in Bezug auf die Anwendung von Big Data im Rahmen der PR mit dem Wert der Diskriminierungsfreiheit in Konflikt stehen. Diese kann sowohl vonseiten der Organisation als auch des Berufsstandes für Kommunikator*innen von NGOs bedeutend sein (siehe Abschn. 4.3 und 4.4). Gerade im Bereich von Big-Data-basierten Gesundheitskampagnen könnte solch eine Diskriminierung fatal sein, wenn zentrale Informationen nur bestimmte Gruppen erreichen und andere Zielgruppen vergessen oder außen vor gelassen werden. Darüber hinaus kann der Wert der Effizienz mit dem Wert der Privatsphäre in Konflikt geraten. Der Wert Privatsphäre wurde in Abschn. 4 in mehreren Werteumfeldern verortet und dementsprechend kann dieser Konflikt als vielschichtig angesehen werden. Beispielsweise können Kommunikator*innen mit sich in Konflikt geraten, wenn sie selbst persönliche Daten für ein schützenswertes Gut halten, gleichzeitig aber für die PR anonymisierte, persönliche Daten in großen Mengen anwenden sollen. Darüber hinaus kann einem Streben nach Effizienz durch die Anwendung von Big Data in der PR von NGOs der gesellschaftliche Wunsch nach Privatsphäre und Datenschutz gegenüberstehen. Der dargestellte Wert der Privatsphäre kann außerdem in einem Spannungsverhältnis zu dem Wert der Transparenz stehen. Transparenz ist ein zentraler Wert im berufsständischen Umfeld sowie für NGOs im Bereich der gesamten
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Missionserfüllung (siehe Abschn. 4.3 und 4.4). Möchten NGOs die von ihnen gesammelten und verwendeten Daten beispielsweise im Rahmen von Open-DataProjekten frei zugänglich machen, stellt sich die Frage, inwiefern die Privatsphäre vollkommen gesichert werden kann. Ähnlich gestaltet es sich, wenn Datenanwendungen von sozialen Netzwerken ins Spiel kommen. In dem Fall kann eine NGO kaum transparent aufklären sowie den eigenen und externen Ansprüchen bezüglich der Privatsphäre und der Datensicherheit gerecht werden, weil sie keinen Einblick in die Datengenerierung der Anbieter bekommt. Des Weiteren kann der Wert Transparenz auch mit Loyalität in Konflikt stehen. Beide Werte werden beispielsweise im deutschen Kommunikationskodex genannt (siehe Abschn. 4.4). Wie bereits erwähnt, sind bei NGOs die Transparenzansprüche hoch, da Datenanwendungen mit großer Wahrscheinlichkeit auch aus Spendengeldern finanziert werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, inwiefern eine Offenlegung von verwendeten Algorithmen bei gleichzeitiger Loyalität zum Arbeitgeber möglich ist. Diese können Geschäftsgeheimnisse sein, denn auch NGOs haben ein Interesse daran, im Wettbewerb mit anderen NGOs bestehen zu können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Wertkonflikte sich häufig aus Werten bilden können, die in unterschiedlichen Werteumfeldern verankert sind. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Wertkonflikte, die sich überwiegend aus einem Umfeld speisen, wie der vierte vorgestellte Konflikt verdeutlicht. Inwiefern die hier beispielhaft genannten Wertkonflikte im Rahmen von Entscheidungen bezüglich der Anwendung von Big Data in der PR tatsächlich relevant werden, wird jedoch erst dadurch bestimmt, inwiefern Kommunikator*innen diese wahrnehmen und ihnen Bedeutung beimessen. Die Wahrnehmung und Bedeutung von Wertkonflikten kann darüber hinaus auch durch Stakeholdergruppen von außen in die PR getragen werden, wenn diese in Konflikt stehende Werte erkennen und (öffentlich) thematisieren, etwa in Medienberichten oder Social-Media-Kommentaren (hierzu auch: Oßwald 2022).
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Diskussion
Der vorliegende Beitrag hat sich theoretisch einem bisher noch wenig berücksichtigten Bereich der PR-Ethik-Forschung gewidmet: der systematischen Identifikation von Wertkonflikten, die ihm Rahmen von ethischen Entscheidungen von Kommunikator*innen auftreten können. Dafür wurde ein interdisziplinärer Ansatz gewählt und mit Erkenntnissen aus der PR-Forschung verknüpft. Das vorgestellte Modell kann auf unterschiedliche Anwendungsfelder der PR übertragen
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werden. Um der Forderung nach spezifischeren ethischen Betrachtungen in der Kommunikationswissenschaft (Rademacher 2020) nachzukommen, wurden auf einer theoretischen Basis mögliche Wertkonflikte im konkreten Anwendungsfall von Big Data durch NGOs benannt. Die beispielhaft vorgestellten Wertekonflikte können auch für Kommunikator*innen aus Unternehmen oder anderen Organisationen eine Rolle spielen. Aufgrund der besonderen ethischen Ansprüche an NGOs sind solche Wertkonflikte für deren PR jedoch besonders wahrscheinlich. Mit der zunehmenden Bedeutung von Big Data bei einer gleichzeitigen kontroversen gesellschaftlichen Diskussion über die Nutzung von großen Mengen an persönlichen Daten, steigt der Bedarf an Lösungsansätzen zum Umgang mit Wertkonflikten bei Kommunikator*innen. Dieser Beitrag bietet mit dem interdisziplinären Modell der ethischen Entscheidungsfindung von Kommunikator*innen einen Systematisierungsansatz von Werten, die in Konflikt zueinander treten können, an. Es wurde in Anlehnung an Bommer et al. (1987) für die PR modifiziert und mittels Entscheidungen bezüglich Big-Data-Anwendungen in der PR von NGOs veranschaulicht. Die dargestellten Werteumfelder können folglich so auch auf andere Bereiche der PR übertragen werden, um Wertkonflikte in einer Situation zu identifizieren. Weitere theoretische und empirische Arbeiten können das dargestellte Identifikationsschema für Wertkonflikte verfeinern und ausbauen. Darüber hinaus verdeutlicht der dargestellte Ansatz eine bisher vernachlässigte, wenngleich entscheidende Perspektive in der PR-Ethik-Forschung: Jene des Individuums. Bei der Anwendung von Big Data können in einer Situation unterschiedliche Werte und Normen gelten. Werden diese unterschiedlichen Werte und Normen durch das Individuum als in Konflikt stehend wahrgenommen, wird die Situation erst zu einer ethischen Problemstellung. Entscheidend ist, dass nicht jede*r Kommunikator*in die gleichen Konflikte wahrnimmt. Kommunikator*innen müssen Werte kennen, ihnen eine Bedeutung beimessen und selber bewerten, inwiefern sich Werte widersprechen. Darüber hinaus ist wenig dazu bekannt, wie genau Kommunikator*innen mit identifizierten Wertkonflikten umgehen (hierzu auch: Sandhu und Hildebrand 2022). Diese Aspekte gilt es weiter empirisch zu untersuchen. Bei der Darstellung des Modells und der dargestellten Werte besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Entsprechend wurden Konfliktlinien nur beispielhaft dargestellt. Jedes präsentierte Werteumfeld und die damit verbundenen Werte eröffnen eigene Forschungsbereiche, um die ethische Entscheidungsfindung bei Wertkonflikten besser verstehen zu lernen. Insbesondere individuelle Attribute müssen noch genauer beleuchtet werden, wie die Ergebnisse von Zerfass et al. (2020) zeigen.
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Implikationen
Das in diesem Beitrag vorgestellte Identifikationsschema und die aufgezeigten Wertkonflikte machen deutlich, dass Kommunikator*innen sich in sehr komplexen ethischen Entscheidungssituationen wiederfinden können. Zum einen gilt es die Werte aus unterschiedlichen Umfeldern gegeneinander abzuwägen und zum anderen auch mit teils widersprüchlichen Werten aus berufsständischen Kodizes (z. B. Transparenz vs. Loyalität) umzugehen. In der Praxis kann das dargestellte modifizierte Modell dazu dienen, wahrgenommene Wertkonflikte zu verdeutlichen, zu diskutieren und damit Lösungsansätze sowie Leitfäden zu entwickeln. So kann beispielsweise analysiert werden, welche Datenanwendungen warum welchen Werten entsprechen oder auch widersprechen. Darüber hinaus kann das Modell auch dazu dienen, unterschiedliche Perspektiven bezüglich eines Sachverhalts anzuerkennen und frühzeitig wahrzunehmen. Der Missachtung von existierenden Wertvorstellungen kann damit im Rahmen der PR entgegengewirkt werden. Im Rahmen des Modells werden Wertkonflikte auf der Ebene des Individuums betrachtet, denn hier fallen zentrale Entscheidungen zu ethischem und unethischem Verhalten. Jedoch soll nicht negiert werden, dass Entscheidungen auch in Kollektiven, wie Teams oder Arbeitsgruppen, diskutiert und abgestimmt werden, oder dass Organisationen sowie Verbänden auch Verantwortung zukommt, solche Entscheidungsprozesse zu begleiten. Zudem bedarf es hinsichtlich ethischer Entscheidungssituationen der Darstellung konkreter praktischer Anwendungsszenarien von Werten aus Organisations- und Verbandsleitlinien oder berufsständischen Kodizes. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Werte beispielsweise aus berufsständischen Kodizes nicht verstanden oder missverstanden werden und als widersprüchlich wahrgenommen werden, wie dieser Beitrag beispielhaft verdeutlicht hat. Deswegen bedarf es Klarheit im konkreten Anwendungsfall. Angesichts von sich ständig erweiternden, technischen Möglichkeiten, welche die Arbeit der PR potenziell effektiver aber auch komplexer machen, wird die ethische Entscheidungsfindung zukünftig eine zunehmende Herausforderung. Das hier vorgestellt Identifikationsschema stellt einen ersten Schritt dar, dieser Herausforderung zu begegnen.
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Content Marketing – Kommunikationspraxis mit inhärentem Rollen- und Interessenkonflikt? Jens Seiffert-Brockmann, Sabine Einwiller, Neda Ninova-Solovykh und Wolfgang Weitzl Zusammenfassung
Immer mehr Unternehmen und Organisationen gehen dazu über, Content über sich selbst zu produzieren, um auf dieser Basis eine konsistente Story des Unternehmens und seiner Leistungen zu erzählen und dieses gegenüber relevanten Zielgruppen zu vermarkten. Das Ziel dieses Content Marketings ist es, mit relevanten Stakeholdern in Interaktion zu treten um schlussendlich positive Einstellungen und unterstützendes Verhalten zu generieren. Verschiedene Entwicklungen der vergangenen Jahre, wie der rasante Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien, haben diesen Prozess ermöglicht und beschleunigt. Doch das eigenständige Erzählen von Narrativen über eigene Kanäle, birgt Konfliktpotenziale: Mitarbeiter:innen erleben Rollen- und Interessenkonflikte, Unternehmen wirken immer stärker an der Konstitution von Öffentlichkeit mit und die Grenzen zwischen den Formen öffentlicher Kommunikation verschwimmen immer mehr. J. Seiffert-Brockmann (B) Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] S. Einwiller · N. Ninova-Solovykh Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] N. Ninova-Solovykh E-Mail: [email protected] W. Weitzl FH Oberösterreich, Steyr, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_9
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Schlüsselwörter
Content Marketing • Earned • Owned und Paid Media • Rollentheorie Storytelling
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•
Einführung
Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass grundsätzlich jede Organisation zum Medienunternehmen werden kann. So werden in Corporate Newsrooms im Rahmen strategischen Themenmanagements (Seiffert-Brockmann und Einwiller 2020) journalistisch anmutende Medien und Medieninhalte produziert und verbreitet. Aber auch Medienunternehmen bieten sich an, für Unternehmen journalistisch wirkende Inhalte zu entwickeln und zu veröffentlichen. Dieses Arbeitsfeld, in dem sich Kommunikator:innen aus PR, Marketing und Journalismus betätigen, wird als Content Marketing bezeichnet. Pulizzi (2012, S. 116) definiert Content Marketing als „the creation of valuable, relevant and compelling content by the brand itself on a consistent basis, used to generate a positive behavior from a customer or prospect of the brand”. Hierunter fallen Formen wie Corporate Publishing (Weichler 2014), Native Advertising (Wojdynski und Evans 2016) und Brand Journalism (Bull 2013). Mit der zunehmenden Verbreitung und Anwendung von Content Marketing wachsen Bedenken, dass derartige Inhalte die Rezipient:innen täuschen, da die Transparenz der Quellen oftmals nicht, oder nur ungenügend, gegeben ist und die dahinterliegenden Ziele unklar sind. Dadurch, dass die Kommunikation journalistischen Inhalten sehr ähnelt und so in das Medienformat integriert sind, dass sie nur schwer von redaktionellem Content unterscheidbar sind, wird bei den Rezipient:innen, das für eine kritisch-reflektierte Verarbeitung nötige Persuasionswissen (Friestad und Wright 1994) nicht aktiviert. Die Verschleierung ist, aus Sicht vieler Praktiker:innen, jedoch der Schlüssel zum Erfolg dieser Kommunikationsform. Denn die Aktivierung von Persuasionswissen kann dazu führen, dass die Inhalte als weniger glaubwürdig wahrgenommen und in der Folge abgewertet werden (Boerman et al. 2012). Kommunikator:innen, die in den Content-Marketing-Prozess involviert sind, befinden sich somit in einem Interessenkonflikt, da sie laut Branchenkodex (DRPR 2012) und gemäß theoretischer Diskussionen zur PR-Ethik (Seib und Fitzpatrick 1995) sowohl der Öffentlichkeit zu dienen haben, als auch die Interessen der Auftraggeber vertreten sollen. Selbst wenn sie sich als Marketingverantwortliche nicht der Tradition der PR-Branchenethik verpflichtet fühlen,
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wissen sie um die Effekte sozialer Medien auf die Rezipient:innen. Aber auch für die Organisation und die Gesellschaft als Ganzes ergeben sich aus dieser Kommunikationspraxis eine ganze Reihe von Konflikten, die allesamt entlang der Bruchlinie zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl strukturiert sind. Diese Interessenkonflikte können mithilfe der organisationalen Rollentheorie (Katz und Kahn 1978) abgebildet und erfasst werden und anhand von Steinmann et al. (1993) auf Content-Marketing als Kommunikationspraxis übertragen werden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Interessenkonflikte sowohl von Seiten der Rezipient:innen als auch vonseiten der professionellen Kommunikator:innen zu analysieren und theoretisch zu modellieren. Dazu gilt es in einem ersten Schritt, Content Marketing als kommunikative Praxis in Unternehmen (und Organisationen insgesamt) zu beleuchten. Aufbauend darauf wird anschließend das Verschwimmen der Grenzen zwischen Public Relations, Journalismus und Marketing in der Organisationskommunikation betrachtet, wobei die Unterteilung in Earned Media, Owned Media und Paid Media (Stephen und Galak 2012) als analytisches Raster dienen soll. Vor dem Hintergrund dieser Dreiteilung werden dann drei zentrale Interessenkonflikte erörtert, die als Rollenkonflikte dem Content-Marketing inhärent sind: Inter-Rollen-Konflikte, Intra-Sender-Konflikte und Inter-Sender-Konflikte. Es liegt in der Natur der Sache, dass Rollenkonflikte Auswirkungen auf die systemische Ebene haben, wo sie mitunter nicht-intendierte Effekte entfalten, weshalb die systemischen Konfliktlinien zusätzlich besprochen werden. Abschließend werden die Implikationen dieser Konflikte diskutiert und die Konflikte selbst systematisiert dargestellt.
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Content-Marketing – Ein Überblick
Versuche, das eigene Organisationsimage in der Öffentlichkeit zu beeinflussen sind so alt wie die Öffentlichkeit selbst. Neu ist allerdings, dass heutzutage in nie dagewesener Weise die Möglichkeit besteht, diesen Prozess – Content Marketing – mithilfe selbst produzierter Inhalte zu managen und zu steuern. Hollebeek und Macky (2019, S. 30) definieren Digital Content Marketing als „creation and dissemination of relevant, valuable brand-related content to current or prospective customers on digital platforms to develop their favorable brand engagement, trust, and relationships”. Diese und viele andere Definitionen zu Content Marketing (z. B. Pulizzi 2012) haben gemeinsam, dass die Kreation von Content mit Mehrwert im Vordergrund steht, der nicht (vordergründig) persuasiv zur Schaffung von Kaufanreizen eingesetzt wird. Stattdessen steht die Vermittlung wertvoller (Rose und Pulizzi 2011), zeitgemäßer (Wang et al. 2019) und lehrreicher (Pulizzi und
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Barrett 2009) Inhalte im Mittelpunkt, die eher kultivierender, denn unmittelbar überzeugender Natur sind. Content Marketing ist insofern langfristig angelegt, als dass mit ihm eine ganze Marken- und Erlebniswelt erschaffen werden kann, die nicht nur das Unternehmen, seine Produkte und Dienstleistungen den Stakeholdern näherbringt, sondern diese auch in Bezug auf die gesellschaftlich relevanten Zusammenhänge einordnet. Dieser Content-Management-Turn im Marketing beruht auf einer Reihe von Entwicklungen, welche im Wesentlichen mit den veränderten Rahmenbedingungen der Digitalisierung zusammenhängen. Die Entwicklung des Internets führte zu einer Krise des Journalismus (Pöttker 2013) und einer generellen Medienkrise (Brüggemann et al. 2012), welche sich im Bedeutungsverlust zentraler Gatekeeper für die Arenen der Öffentlichkeit ausdrückt. Diese Krisen haben zwei Ursachen: Einerseits begann mit Entwicklung und Aufstieg von user generated content eine neue Ära der öffentlichen Kommunikation, in welcher das Publikum zunehmend selbst die Inhalte produziert, über welche es kommuniziert (Daugherty et al. 2008). Zudem sorgte der Aufstieg der Big Five Tech-Konzerne (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) für eine Erosion der wirtschaftlichen Basis des Journalismus (Curran 2010), da immer mehr Werbetreibende ihre Budgets von klassischen Anzeigen hin zu digitalen Kanälen wie Google AdWords umschichteten (hierzu auch: Altmeppen und Lauerer 2022). Allerdings sind nicht alle Gründe für den Aufstieg des Content Marketings direkt mit der Entwicklung des Internets als dominantem Kommunikationsmedium verbunden. Das zeigt sich schon daran, dass Content Marketing selbst älter ist als das Internet. Content Marketing wurde auch notwendig um die Abnutzungseffekte traditioneller Werbung und traditionellen Marketings aufzufangen, die sich im Wettbewerb gesättigter Märkte fast automatisch ergeben. Zum einen ist das Phänomen des information overload per se ein Kennzeichen der Mediengesellschaft (Saxer 2012), in der die Distribution von Content in der schier unendlichen Menge an Medienkommunikation problematisch wird. Dem steht die begrenzte kognitive Kapazität des Menschen gegenüber, dessen Aufmerksamkeit in einer von Überfluss gekennzeichneten Medienlandschaft selbst zum knappen Gut wird. Der permanente Wettstreit um die Aufmerksamkeit von Rezipient:innen muss dabei nicht nur die Hürde der Distribution meistern, d. h. der Content muss das Zielpublikum erreichen, sondern auch deren psychologische Schutzmechanismen überwinden. Versuche der persuasiven Kommunikation können dabei zu Unwohlsein, Ärger oder ablehnendem Verhalten aufseiten der Rezipient:innen führen (Quick und Stephenson 2007), sodass diese das Gefühl haben, manipuliert zu werden.
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Organisationskommunikation reagiert auf diese psychologischen Abwehrmechanismen mit einem Inklusionsversuch, indem sie Content Marketing auf eigenen Plattformen und Kanälen betreibt, was sich von klassischer MarketingKommunikation unterscheidet. Anders als in traditionellen Massenmedien, deren Inhalte durch Werbebotschaften nur unterbrochen werden, setzt die ContentKommunikation auf firmeneigenen Kanälen die aktive Zustimmung der Rezipient:innen voraus. Sie müssen die entsprechenden Kanäle abonnieren und sie suchen aktiv den Content, mit welchem sie sich auseinandersetzen wollen. Zudem versuchen Unternehmen zunehmend, ihre Story auch zur Story ihrer Stakeholder zu machen, indem sie über outside-in Storytelling, also Storytelling das auf Präferenzen der Stakeholder beruht, inklusives Themenmanagement betreiben(Seiffert-Brockmann und Einwiller 2020). Diese neue Praxis der Kommunikation führt jedoch zu einer Reihe von Konflikten, die sich sowohl auf der Mikro-, der Meso-, als auch der Makroebene manifestieren. Im Content Marketing fallen Kommunikationsaspekte zusammen, die bisher in der organisationalen Praxis (relativ) voneinander getrennt waren. Auf der gesellschaftlichen Ebene öffentlicher Kommunikation waren das die einzelnen Funktionssysteme Journalismus und Public Relations (Hoffjann 2007) sowie Marketing und Werbung (Siegert und Brecheis 2017). Unternehmen haben diese Komplexität in sich selbst abgebildet, indem sie intern einzelne Subeinheiten geschaffen haben, die sich den jeweiligen Kommunikationsfunktionen widmeten und entsprechend Mitarbeiter:innen damit beauftragten. Die Komplexitätssteigerung der öffentlichen Kommunikation, vor allem bedingt durch die Entwicklung des Internets in den vergangenen Jahrzehnten, erforderte auch von Unternehmen eine Reaktion. Konzepte wie das der integrierten Kommunikation (Bruhn 2014) oder der Polyphonie (Christensen et al. 2015), machen Vorschläge, wie mit der gestiegenen Komplexität umgegangen werden kann.
3
Public Relations, Journalismus und Marketing – Verschwimmende Grenzen
Grob lässt sich der Versuch, unternehmensbezogenen Content in der öffentlichen Kommunikation zu platzieren, in drei Kategorien aufteilen: Paid, Earned und Owned Media (Stephen und Galak 2012). Besonders Unternehmen, zumal große, hatten durch ihre finanzielle Stärke schon immer einen privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit. Der einfachste Weg bestand seit jeher in der Schaltung von Anzeigen in Print, Funk und Fernsehen, um für die eigenen Anliegen, Produkte oder Marken zu werben. Diese Form der direkten Publikation von Content gegen
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Bezahlung in Medien wird gemeinhin als Paid Media (Stephen und Galak 2012) bezeichnet. Davon zu unterscheiden sind sog. Owned Media, d. h. Medienaktivitäten eines Unternehmens in Kommunikationskanälen, die es oder seine Dienstleister kontrollieren (ebd.). In Zeiten der Internet-Kommunikations-Technologien umfasst das nicht mehr nur eigenständig herausgegebene Zeitschriften und Magazine, sondern oftmals ganze digitale Plattformen und Markenwelten, eigene Blogs und Accounts in sozialen Medien. Die Formen die das alte und neue ContentMarketing annimmt, sind entsprechend vielfältig. Sie reichen von bezahltem Content in Form von Anzeigen, über eingebetteten Content in Gestalt von Blog Posts oder Native Advertising (Zerfaß et al. 2016), bis hin zu Brand Journalismus (Bull 2013). Earned Media sind schließlich all jene Kommunikationsaktivitäten, die über vermittelnde Akteure in der Öffentlichkeit laufen (Stephen und Galak 2012), also vor allem Journalist:innen, wobei mit der Erfindung des Internets sukzessive immer neue Akteure hinzugekommen sind, z. B. Influencer:innen, Prominente oder Kund:innen mit ihren Onlinerezensionen.
3.1 Determination und Intereffikation – Konflikte durch Earned Media Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden die Beziehungen zwischen PR-Leuten, die im Auftrag einer Organisation kommunizierten, und den Journalist:innen der Nachrichtenmedien, die als Gatekeeper zur Öffentlichkeit fungierten, als Media Relations die zentrale Bezugsgröße der Unternehmenskommunikation (Zerfaß et al. 2016). Entsprechend versuchten Unternehmen, neben klassischen Werbeanzeigen, über den Umweg journalistisch hergestellter Publizität, um Vertrauen für sich und ihre Produkte zu werben (Hundhausen 1951). Die zentrale normative Frage in der Beziehung zwischen PR und Journalismus war darum die Frage, wie hoch der Einfluss auf das jeweils andere System ist (Macnamara 2014), wobei die Klassifizierungen zwischen so gegensätzlichen Polen wie Symbiose und Antagonismus (Merkel et al. 2007), zwischen Intereffikation (Bentele und Nothhaft 2008) und Spin (Miller und Dinan 2008), schwanken. Durch den engen Kontakt mit Journalist:innen füllten die PR-Praktiker:innen eine Grenzstellenfunktion in Unternehmen aus (Luhmann 1999; siehe 3.4), die in der PR-Literatur gemeinhin als Boundary Spanning (Dozier und Broom 1995; Fawkes 2007) bezeichnet wird. Der darin inhärente Interessenkonflikt liegt in der Bearbeitung der divergierenden Logiken der Öffentlichkeit auf der einen, und der eigenen Organisation, auf der anderen Seite. Während für die Öffentlichkeit Fragen der Wahrhaftigkeit und Relevanz die entscheidenden Kriterien für die kommunizierten Themen sind, liegt
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es im Interesse der Organisation, diese so persuasiv wie möglich zu gestalten um den eigenen, strategischen Interessen zu dienen, vor allem um dadurch Unterstützung zu generieren. Während die Kritiker dieser Media Relations den Aspekt des Spins und seine persuasive, einseitige Wirkung betonen (Miller und Dinan 2008), fokussieren Proponent:innen der symbiotischen Beziehung (Bentele und Nothhaft 2008) auf gegenseitige Anpassungsleistungen beider Systeme. Aufgrund der rasanten Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden, existentiellen Krise des Journalismus (Pöttker 2013), ist das Konfliktpotenzial dieser Bruchlinie noch einmal deutlich angestiegen. Gab es pro Journalist:in im Jahr 1999 in den USA noch 1,9 PR-Praktiker:innen, hat sich dieses Verhältnis bis 2019 auf 1:6,4, deutlich zu Ungunsten des Journalismus, verändert (Bureau of Labor Statistics 2019). Aus Sicht der Public Relations stellt sich das Problem, dass der Journalismus im Zuge dieser Krise zunehmend an Glaub- und Vertrauenswürdigkeit verliert, was sich langfristig auch negativ auf die Unternehmenskommunikation auswirkt. Diese Entwicklung ist insofern besorgniserregend, als dass die zweite, traditionelle Bühne der Unternehmenskommunikation, die Werbung, diesen Wegfall an Glaub- und Vertrauenswürdigkeit nicht kompensieren kann. Im Gegenteil, die Evolution werblichen Contents hin zu Praktiken wie Sponsored Content oder Native Advertising, ist in dieser Hinsicht selbst problematisch.
3.2 Sponsored Content und Native Advertising – Persuasion durch Paid Media Unter Werbung versteht man gemeinhin einen geplanten Kommunikationsprozess in dem „gezielt Wissen, Meinungen, Einstellungen und/oder Verhalten über und zu Produkten, Dienstleistungen, Unternehmen, Marken oder Ideen“ (Siegert und Brecheis 2017, S. 12) beeinflusst werden sollen. Durch ihre permanente Präsenz im öffentlichen Raum, in Massenmedien und sozialen Medien, sind Individuen zunehmend skeptisch gegenüber Werbung eingestellt (Nielsen 2015) und zeigen nicht selten negative kognitive und affektive Reaktionen auf diese (siehe Abschn. 2). Viele Unternehmen und Organisationen gehen daher dazu über, Content so auszuspielen, dass dessen werbliche Natur nur schwer oder gar nicht zu erkennen ist. Statt wie üblich bezahlte Werbeanzeigen zu schalten, setzen Unternehmen immer öfter zusätzlich auf gesponserten Content, vor allem auf digitalen Plattformen und in sozialen Medien (Boerman et al. 2017). Anders als klassische
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Werbebanner ist dieser Content in Form, Stil und Auftritt sehr eng an den redaktionellen Inhalt des jeweiligen Mediums, in dem er ersch emeinhin als Native Advertising bezeichnet (Wojdynski und Evans 2016). Anders als bei Earned Media erfolgt im Falle von Paid Media keine Moderation durch das journalistische System. Die Werbebotschaft des Unternehmens gelangt also nahezu ungefiltert, wenngleich unter Maßgabe der Einhaltung der Kennzeichnungspflichten, in den redaktionellen Teil des jeweiligen Mediums und orientiert sich an den Rezipient:innen lediglich in ihrer gleichzeitigen Rolle als potenzielle Kund:innen. Auch wenn dieser Content gesetzlichen Vorgaben folgend als Werbung gekennzeichnet ist, wird dieser Hinweis von den Rezipient:innen oftmals übersehen (Wojdynski und Evans 2016). Damit wird durch Sponsored Content und Native Advertising die systemische Abgrenzung zwischen Anzeigen und Redaktion aufgeweicht. Aus ethischer Perspektive ist Paid Media, wie auch Earned Media, stets unter Manipulationsverdacht. Durch die Praktiken des Content Marketings wird dieserder Verdacht noch verstärkt, dass die Nachrichtenmedien vor allem Wirtschaftsund Regierungsinteressen dienen und weniger der Öffentlichkeit (Herman und Chomsky 2002). Diese Konstruktion von Zustimmung durch aktives Framing und Zugangskontrolle entspricht, auf die Akteursebene heruntergebrochen, der Rolle des Propagandisten (Fawkes 2007), der auf Aspekte wie Wahrhaftigkeit im Rahmen des Persuasionsversuchs nur bedingt Rücksicht nehmen muss. Verschwimmt bei Earned Media die Trennung zwischen Journalismus und Unternehmenskommunikation, so verschwimmt bei Paid Media die Transparenz und Zurechenbarkeit von Quellen und damit die Legitimations- und Glaubwürdigkeitszuschreibung der Botschaften selbst (Johnson und Kaye 2004). Diesem Vorwurf der (illegitimen) Einflussnahme auf die Konstruktion von Öffentlichkeit konnten Unternehmen schon immer dadurch entgehen, dass sie Medien in Gestalt von Corporate Publishing (Weichler 2014), selbst herausgaben, bspw. in Form von Mitarbeiter:innenzeitschriften, ohne dabei die Agenda jener Nachrichtenmedien zu beeinflussen, die eine wichtige Rolle in der Herstellung von Öffentlichkeit spielen. Doch auch diese Schaffung eigener publizistischer Wirklichkeiten, in Form von Owned Media, birgt Konfliktpotenzial.
3.3 Die Kreation wünschenswerter Wirklichkeiten durch Owned Media Aus organisationaler Perspektive werden Public Relations gemeinhin als Managementfunktion von Organisationen definiert (Grunig und Hunt 1984; Zerfaß
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2010), bei der Kommunikation einen Beitrag zum Organisationserfolg leisten soll. Genau wie auch beim Content Marketing generell steht die positive Gestaltung von Reputation und Image (Einwiller 2014), auf der Basis einer strategischen Vision, im Zentrum. Merten (1992, S. 44) sieht dagegen in dieser Form der Kommunikation einen „Prozess intentionaler und kontingenter Konstruktion wünschenswerter Wirklichkeiten durch Erzeugung und Befestigung von Images in der Öffentlichkeit“. Owned Media erlauben es Unternehmen, eigenständig digitale Erlebnis- und Markenwelten zu kreieren, die voll und ganz auf die jeweilige Strategie der Unternehmen zugeschnitten sind und damit keinen journalistischen Kriterien Genüge tun müssen – anders als beispielsweise Presseaussendungen. Im Gegensatz zur Werbung ist aber der Content nicht eng auf ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Marke fokussiert, sondern kann einen komplexen Sachverhalt darstellen und framen und somit langfristig einen Resonanzboden für Marken- und Produktbotschaften generieren. Auch erlaubt die Einbindung narrativer Erzähltechniken im Rahmen von Corporate Storytelling (Pulizzi 2012) und der Einsatz prozeduraler Rhetorik im Rahmen von PR (Seiffert und Nothhaft 2015), eine viel umfassendere Ansprache von Stakeholdern als über Earned und Paid Media. Diese wünschenswerten Wirklichkeiten unterliegen allerdings keiner nennenswerten externen (kritischen) Reflexion, von der Ko-Orientierung (Verˇciˇc 2015) an den angesprochenen Stakeholdern einmal abgesehen. Die derartig erzeugte kommunikative Wirklichkeit ist nicht den Idealen einer Verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit (Burkart 1993) verpflichtet, d. h. sie kann, aber muss sich nicht an Normen und Regeln orientieren, die auch das Gemeinwohl im Blick haben, sondern fokussieren sich in der Regel lediglich auf die OrganisationsStakeholder-Dyade im Sinne der Organisation-Public-Relationships (Broom et al. 1997). Kommunikator:innen nehmen in diesem Prozess die Rolle von Relationship Manager:innen (Fawkes 2007) ein, deren Aufgabe in der Anbahnung und Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Stakeholdergruppen besteht. Diese können auch im Sinne eines outside-in Themenmanagements in den Prozess des Content Marketing eingebunden werden. Aus allen drei Formen der Kommunikation, derer sich Content Marketing bedient, ergeben sich spezifische Probleme und Interessenkonflikte, die sich nur schwer oder gar nicht auflösen lassen. Vor allem der Widerspruch zwischen dem Anspruch einer Gemeinwohlorientierung, wie er im Ansatz der Corporate Social Responsibility zum Ausdruck kommt, und dem Versuch, den eigenen Partikularinteressen zur Durchsetzung zu verhelfen, sorgt immer wieder für Konflikte in der Kommunikationspraxis von Unternehmen.
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Earned, Owned, Paid Media – Inhärente Konflikte im Content-Marketing
In Anlehnung an Steinmann et al. (1993) und basierend auf der Rollentheorie von Katz und Kahn (1978) können Interessenkonflikte im Content-Marketing als Rollenkonflikte der beteiligten Akteure konzeptualisiert werden. Content Marketing ist dabei auf mehreren Ebenen konfliktbehaftet: • Inter-Rollen-Konflikte, welche die Kommunikator:innen mit sich selbst austragen • Intra-Sender-Konflikte, welche die Kommunikator:innen innerhalb ihrer Organisation, sowie ihren Auftrag-/Arbeitgeber insgesamt austragen • Inter-Sender-Konflikte, welche Kommunikator:innen stellvertretend für ihre Organisation mit Stakeholdern und der Öffentlichkeit austragen • Systemische Konflikte, die sich auf gesellschaftlicher Ebene aus der Praxis des Content Marketings ergeben Außerhalb dieses analytischen Schemas stehen systemische Konflikte, die sich indirekt aus den Rollen-Konflikten ergeben und erst langfristig wirksam werden. Dennoch ist es notwendig auch solche nicht-intendierten Effekte von ContentMarketing zu reflektieren, da diese wiederum die darunterliegenden systemischen Konfliktebenen beeinflussen.
4.1 Inter-Rollen-Konflikte Auf der Mikroebene, der Ebene der konkreten Kommunikationsoperationen (Szyszka 2017) entstehen Inter-Rollen-Konflikte, welche die Praktiker:innen mit sich selbst austragen. Zum einen sind viele Kommunikator:innen das Kind zweier Welten, bspw. wenn sie eine journalistische Ausbildung hinter sich haben, dann aber in der Organisationskommunikation arbeiten. Die unterschiedlichen Selbstverständnisse, die beiden Berufsfeldern zu eigen sind, geraten notwendigerweise in Konflikt, wenn Situationen entstehen, bei denen die Normen und Werte beider Felder nicht komplementär oder kongruent sind. Die daraus resultierenden Entscheidungen müssen in ihren Konsequenzen entweder über Trade-Offs (Tetlock et al. 2000) und damit verbundenen Rechtfertigungen verarbeitet werden, oder mittels kognitiver Dissonanz (Festinger 1957) und Selbst-Täuschung (SeiffertBrockmann und Thummes 2017). Zum anderen sind Kommunikator:innen per se
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in einer Zwitterfunktion. Als Grenzstellen ist ihr Auftrag seitens des Systems von Natur aus widerspruchsvoll: „Einerseits geht er auf die Idealdarstellung des Systems […]. Außerdem haben aber die Grenzstellen für Frieden an der Grenze zu sorgen, für Ausgleich von Spannungen, für Beschwichtigungen des Publikums […]. Diese Seite ihres Auftrages zwingt sie, Verantwortung […] zu übernehmen, Initiativen zu ergreifen, Rollenverpflichtungen über die Grenze hinweg einzugehen, zu verheimlichen oder zu verteidigen […]“ (Luhmann 1999, S. 223-224)
In der PR-Forschung wird diese doppelte Funktion der Kommunikationsermöglichung zwischen der Organisation und ihren relevanten Teilöffentlichkeiten als Boundary Spanning bezeichnet (Dozier und Broom 1995). Auch wenn Autor:innen wie Grunig und Hunt (1984) sich stets bemüht haben symmetrische Kommunikation, und damit Win–Win-Szenarien, ins Zentrum der organisationalen Kommunikation zu rücken, sind im Falle von Zero-Sum-Entscheidungen, bei denen die Interessen beider Seiten gegeneinander abgewogen werden müssen, Konflikte vorprogrammiert. Neben die Rolle des Boundary Spanners gegenüber der medienvermittelten Öffentlichkeit, tritt jetzt jene des Relationship Managers (Fawkes 2007), der:die als Grenzstelle zwischen der relevanten Gruppe und der Organisation fungiert. Konkurrierten im Rahmen von Earned Media der:die innere Journalist:in mit der:dem inneren PR-ler:in, tritt jetzt noch die Sicht des Mitglieds einer Community hinzu, in das sich Praktiker:innen hineinversetzen müssen. Damit kommt es zu einer Interferenz von mindestens drei Rollenbildern, die gemanagt werden muss. Beispiele für Inter-Rollen-Konflikte sind am besten an den Berufs- und Bildungsbiografien von Kommunikator:innen nachvollziehbar. Mitarbeiter:innen im Content Marketing haben oftmals eine journalistische Ausbildung durchlaufen und orientieren sich dann mitunter stärker an den normativen Vorgaben des Journalismus als beispielsweise der PR (Branchenethik – siehe Bentele 2015). Die unterschiedlichen Kodizes beider Funktionssysteme geraten dabei mitunter in Konflikt und sorgen dafür, dass Mitarbeiter:innen in Einzelfällen eine Abwägung der jeweiligen Normen vornehmen und zudem noch den Ansprüchen ihres Arbeitgebers (Organisationsethik) gerecht werden müssen. Hinzu kommen individualethische Trade-Offs, bei denen bestimmte Aufgaben in Verbindung mit bestimmten Auftraggebern (bspw. problematische Branchen wie Waffenproduktion) zu inneren Konflikten führen.
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4.2 Intra-Sender-Konflikte Der Versuch, konsistentes Content Marketing zu betreiben, steht per se vor dem Problem einer Integration der Prozesse und Botschaften (Bruhn 2014). Diese Integrationsleistung führt dahingehend zu Konflikten, als dass die beteiligten Abteilungen sich untereinander koordinieren müssen. Auf Seiten der Kommunikator:innen führt das zu Aushandlungsproblemen auf Basis der verschiedenen Logiken, die intern moderiert werden müssen (die aber auch von Dienstleistern navigiert werden müssen), so sie sich nicht gleich komplett in einer Person kristallisieren, die dann Kommunikation, Marketing und Stakeholder-Beziehungen gleichermaßen berücksichtigen muss. Auch alternative Ansätze wie das Konzept der flexiblen Integration (Christensen et al. 2008), das Polyphonie (Christensen et al. 2015) – Vielstimmigkeit – in das Zentrum organisationaler Kommunikation rückt, lösen dieses Problem nicht auf. Entweder erwartet der Auftraggeber von seinen Kommunikator:innen, dass sie in der Abwägung der verschiedenen Logiken stets die richtige Entscheidung treffen, oder sie müssen die Vielstimmigkeit und die damit verbundenen Friktionen aushalten. Eine Moderations- und/oder Mediationsleistung fällt in jedem Fall an. Einerseits sollen Kommunikator:innen die Expertise von Spezialist:innen besitzen, wenn es um die Ausführung der jeweiligen operativen Tätigkeit geht. Andererseits sollen sie als Generalist:innen alle relevanten Bereiche automatisch mitdenken und somit der Entstehung von Konflikten entgegenwirken. Zudem sind Intra-Sender-Konflikte auch Ausdruck organisationaler Politik-, Macht- und Kulturfragen (Niederhäuser und Rosenberger 2017) und damit ein Ausdruck der internen Konkurrenz der Abteilungen um Einfluss. Neben den praktischen Fähigkeiten, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind, müssen Kommunikator:innen auch auf den sozialen und politischen Landkarten des Unternehmens navigieren und sich gegebenenfalls durchsetzen können. Die Auflösung solch interner Strukturen, wie sie mit der Einführung integrierter Konzepte oder flacher Hierarchien oftmals vorgeschlagen werden, schaffen dabei keine Abhilfe. Sie verlagern den Wettbewerb um internes Ansehen lediglich auf die Schultern der individuellen Mitarbeiter:innen, die nun jeweils für sich um Status kämpfen und nicht mehr für ihre Gruppe innerhalb der Organisation. Beispiele für Intra-Sender-Konflikte sind dann die oftmals divergierenden Vorstellungen zwischen den einzelnen Abteilungen des Unternehmens hinsichtlich der Erstellung und Umsetzung des Contents. Klassischerweise sind das vor allem Konflikte zwischen der Kommunikations- und der Marketingabteilung, aber auch mit der Compliance-, der Rechtsabteilung oder Investor Relations, bspw. in Fragen der Risk Disclosures (Taylor et al. 2010). Daneben sind auch unterschiedliche
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Auffassungen zwischen Unternehmen und Dienstleistern in dieser Kategorie zu sehen.
4.3 Inter-Sender-Konflikte Inter-Sender-Konflikte sind schließlich all jene Konflikte, die sich aus den unterschiedlichen Zielen der am Prozess beteiligten Stakeholdergruppen und Organisationen ergeben. Auch hier tragen Kommunikator:innen diese Konflikte als Stellvertreter:innen in den Arenen der öffentlichen Kommunikation aus. Wie schon auf der organisationalen Mesoebene sind auch im größeren, gesellschaftlichen Maßstab unterschiedliche Entscheidungslogiken am Werk, die zu unterschiedlichen Beurteilungen des gleichen Problems aus der Sicht der beteiligten Akteure führen. Im Verhältnis zwischen Unternehmen und Nachrichtenmedien ist das immer dann zu beobachten, wenn die Unternehmen sich ungerecht behandelt fühlen und in ihrer Fremddarstellung durch Journalist:innen tendenziöse Berichterstattung ausmachen. Die Medienarbeit der Unternehmen, die dieser wahrgenommen „Einseitigkeit“ entgegenwirken sollen, ist dann, je nach Betrachtungsposition, entweder ein illegitimer Persuasionsversuch, oder ein Beitrag zum Meinungspluralismus. Im Verhältnis zu Stakeholdern ergibt sich der Konflikt aus dem Spannungsverhältnis zwischen legitimer Information und zu starker Persuasion. Content Marketing ist immer auch ein Versuch der Bewusstseinsbildung aufseiten der Adressat:innen, die diesem Versuch positiv, neutral, aber auch ablehnend gegenüberstehen können. Ist die Kongruenz der Interessen zwischen Stakeholdern und Unternehmen, bzw. Neutralität dem Content gegenüber, nicht gegeben, steigt die Wahrscheinlichkeit des Konflikts. Hinzu kommt, dass mit der Erweiterung der Kanäle im Rahmen von Owned Media sich auch das dem Content-Marketing innewohnende Konfliktpotenzial steigert. Nicht nur folgen Kommunikationskanäle ihren eigenen medialen Logiken, auch führt die Möglichkeit der Beobachtung durch Dritte, die gar nicht zu den Zielgruppen der Unternehmenskommunikation zählen, zu vermehrten Konflikten. Die Zunahme von sog. Shitstorms (Himmelreich und Einwiller 2015), vor allem in sozialen Medien, verdankt sich der inhärenten Mobilisierungslogik ebendieser Medien.
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4.4 Systemische Konflikte Die von Merten (1992) formulierte Definition von Public Relations als Konstruktion von wünschenswerten Wirklichkeiten lässt sich ohne Weiteres auch auf Content Marketing insgesamt anwenden. Content Marketing als Kommunikationspraxis, die komplette Marken- und Community-Welten für ihre Stakeholder schafft, hat gesellschaftliche Implikationen, weit über Unternehmenskommunikation, Journalismus und Öffentlichkeit hinaus. Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen, genauso wie das generelle Image eines Unternehmens, entwickelt über ihren unmittelbaren Beitrag zur Wertgeneration für das Unternehmen hinaus auch nicht-intendierte Effekte auf gesellschaftlicher Ebene. Die virtuellen Welten, die Content-Marketing erzeugt, haben langfristig auch ganz realweltliche Konsequenzen. So dauerte es Jahrzehnte bis Rauchen als krebserregend und gesundheitsgefährdend in der Öffentlichkeit bezeichnet werden durfte; gegen den erbitterten Widerstand der Tabakkonzerne (Oreskes und Conway 2012), die um ihre Werbeikonen wie den Marlboro-Mann komplette wünschenswerte Wirklichkeiten aufgebaut hatten. Die Liste lässt sich anhand von Volkswagens Dieselgate, der Bekämpfung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen durch die Erdölindustrie, oder der Subventionierung der Agrarindustrie, um nur einige zu nennen, lange fortsetzen. Anders als die in den vorherigen Abschnitten beschriebenen Konflikte, lassen sich diese systemischen Brüche nur schwer überbrücken, geschweige denn lösen. Inter-Rollen-, Intra-Sender- und Inter-Sender-Konflikte laufen letztlich auf Entscheidungssituationen hinaus, bei denen es keine Win–Win-Zone gibt und folglich ein Trade-Off vorgenommen oder Verständigung zwischen den Konfliktparteien erzielt werden muss. Bei systemischen Konflikten ist aufgrund der Langfristigkeit der kultivierenden Effekte des Content Marketings eine solche Entscheidungssituation für die Beteiligten gar nicht gegenwärtig. Die Konsequenzen der Entscheidungen, die gar nicht als solche wahrgenommen werden, liegen in der fernen Zukunft und keine noch so reflexive Profession (van Ruler und Verˇciˇc 2005) kann diese absehen. Earned und Paid Media lassen sich, aufgrund ihrer lediglich punktuellen, unidirektionalen Kommunikation, nur begrenzt narrativ einsetzen. Owned Media sind dagegen geradezu prädestiniert episodisches Storytelling zu betreiben, d. h. eine Geschichte systematisch und über einen langen Zeitraum hinweg aufzubauen, mit dem Unternehmen, seinen Marken und Produkten im Zentrum. Welche langfristigen Effekte dieses Corporate Storytelling (Boje 1991) hat, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Es scheint nur sicher, dass Unternehmen von diesem Instrument in Zukunft eher mehr als weniger Gebrauch machen werden.
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Fazit
Der Versuch, die dem Content Marketing inhärenten Konflikte zu analysieren und zu erfassen kann nur unvollständig sein. Im vorliegenden Beitrag wurde dies einerseits anhand der Unterteilung in die verschiedenen Kommunikationskanäle, die Content Marketing zur Verfügung stehen – Earned Media, Owned Media und Paid Media – vorgenommen. Andererseits erfolgte die Analyse über die jeweilige Ebene der Kommunikation und der dort entstehenden Konflikte (siehe Tab. 1). Anders als in der analytischen Betrachtung lassen sich die Rollen, die Kanäle und die Konfliktlinien in der Realität der Kommunikationspraxis nicht sauber voneinander trennen. Content Marketing ist immer ein Mix aus verschiedenen Kommunikationsmaßnahmen, der sowohl Earned, als auch Owned und Paid Media integriert. Genauso ist von einer Gleichzeitigkeit der Konflikte auf den verschiedenen Ebenen auszugehen, die sich gegenseitig überlagern. Alle diese Konflikte haben ihren Ursprung letztlich in der Frage, wie sich Partikularinteresse und Gemeinwohl zueinander verhalten; wie sehr das eine über das andere dominieren darf. Praktiker:innen rechtfertigen Content Marketing unter anderem mit der Notwendigkeit, Stakeholdern Informationen mit Mehrwert zu liefern, um einen Kontrapunkt zu negativem Journalismus zu setzen, ihr eigenes Unternehmen gegenüber anderen Mitbewerber:innen zu positionieren und insgesamt einen Beitrag zum Meinungspluralismus zu leisten. Kritiker:innen verweisen darauf, dass Content Marketing aus einer wirtschaftlichen Machtposition heraus ein viel stärkeres Persuasionspotential hat, als angemessen wäre. Darum soll vor allem der Journalismus eine kritische Einordnung dieser Kommunikation leisten und damit ein Gegengewicht zur diskursiven Macht der Unternehmen schaffen. Vor dem Hintergrund der Krise der Medien (Brüggemann et al. 2012) und des Journalismus (Pöttker 2013) erscheint es fragwürdiger denn je, dass dies gelingen kann. Eine alternative Möglichkeit bietet der Versuch, individuelle, organisationale und branchenweite Normen und Regeln zu setzen (Bentele 2015), die bereits im Entstehungsprozess des Content Marketings greifen und zu starke Persuasion auf Kosten der Rezipient:innen verhindern. Doch auch hier ist mit Blick auf die fehlenden Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten Skepsis angebracht. Die große Unbekannte in all dem sind letztlich die Kommunikator:innen selbst. Sie stehen vor der gewaltigen Aufgabe, diese Konflikte auszutragen, die in der Folge ihrer Tätigkeit anfallen. Sie sollen dabei Expert:innen für spezifische Themen und Kanäle sein, gleichzeitig aber auch als Generalist:innen ein breites Verständnis für alle relevanten Aspekte der Kommunikation besitzen. Sie müssen Marketing, Public Relations, Werbung und Journalismus gleichzeitig denken, die Folgen ihrer Handlungen abschätzen und sich in ihre Stakeholder hineinversetzen
Kommunikator:in ↔ Stakeholder Content-Marketing-Logik ↔ Community-Logik
Kommunikator:in ↔ Journalist:in
PR-Logik ↔ Redaktionslogik
Gemeinwohl vs. Partikularinteresse
Grunig und Hunt (1984); Dozier und Broom (1995)
Inter-Rollen-Konflikte auf der Mikroebene
Intra-Sender-Konflikte auf der Mesoebene
Inter-Sender und systemische Konflikte auf der Makroebene
Literatur
Broom et al. (1997); Bruning und Ledingham (1999); Kent und Taylor (1998)
Storytelling
Glaubwürdigkeit und Vertrauen
Relationship Manager
Boundary Spanner
Dominante Logik
Owned Media
Dominante Rolle
Earned Media
Tab. 1 Konfliktpotenziale im Content Marketing
Fawkes (2007); Herman und Chomsky (2002); Holtzhausen (2000)
Werbelogik ↔ Anzeigenlogik
Kommunikator:in ↔ Rezipient:in/Kund:in
Persuasion
Propagandist
Paid Media
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können. Sie müssen Content-Producer:innen, Storyteller und Kommunikationsmanager:innen gleichzeitig sein. Und das alles soll, idealerweise, auf einer soliden ethischen Basis stehen, die sie situativ korrekt zum Einsatz bringen. Die Informations- und Kommunikationstechnologien haben eine zunehmende Segmentierung des Publikums ermöglicht und damit dem Content Marketing feinere Werkzeuge als je zuvor an die Hand gegeben. Das Verschwimmen der Grenzen in der öffentlichen Kommunikation, in den kommunizierenden Organisationen und in den Individuen selbst, lässt aber jene, die Content Marketing letztlich planen und durchführen, selbst ohne festen Bezugspunkt zurück. Es ist die zentrale Verantwortung von Organisationen, ihre Kommunikator:innen mit diesen Konflikten nicht alleine zu lassen.
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Moralische Perspektiven von Rezipient:innen auf Wert- und Interessenkonflikte beim Einsatz künstlicher Intelligenz in der strategischen Kommunikation Timo Lenk und Kerstin Thummes Zusammenfassung
Die voranschreitende Automatisierung wirft in nahezu allen Gesellschaftsbereichen Wert- und Interessenkonflikte zwischen den Partikularinteressen von Organisationen und Individuen einerseits, und dem Gemeinwohl andererseits auf. Im Kontext strategischer Kommunikation wurde der (potenzielle) Einsatz von künstlicher Intelligenz, etwa in Form von Chatbots oder Mikrotargeting, bisher hauptsächlich aus ethischer Perspektive oder aus Sicht von Kommunikationspraktier:innen untersucht. Der vorliegende Beitrag stellt auf Basis der Ergebnisse aus drei explorativen Gruppendiskussionen zu sechs Szenarien, die den Einsatz von algorithmischen Systemen in der strategischen Kommunikation thematisieren, erste Erkenntnisse zur Perspektive der Rezipient:innen vor. Diese verhandeln starke Wert- und Interessenkonflikte zu Fragen der Manipulation, des Datenschutzes und der Kontrolle. Zugleich ist ein eher oberflächliches Wissen über die Technik und deren Grenzen damit verbunden, dass Mythen und Dystopien reproduziert werden, und dass die Technik anthropomorphisiert wird.
T. Lenk (B) · K. Thummes Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Thummes E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_10
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Schlüsselwörter
Künstliche Intelligenz • Automatisierung • Algorithmen • Werbung • Public Relations • Mikrotargeting • Social Bots • Ethik • Wertkonflikte • Moralisches Entscheidungsverhalten
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Moralische Herausforderung: Künstliche Intelligenz in der strategischen Kommunikation
Die fortschreitende Automatisierung von Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen durch Algorithmen, die mit der Bezeichnung künstliche Intelligenz (KI) assoziiert wird, stellt die Gesellschaft insgesamt und Organisationen als Anwender solcher Technologien im Besonderen vor Wert- und Interessenskonflikte. Auch in vielen Facetten moderner strategischer Kommunikation, etwa beim Einsatz von Mikrotargeting oder von Chatbots, spielen Algorithmen eine zentrale Rolle. Dies zeigte sich bereits in Obamas Wahlkampagnen 2008 und 2012 (Bimber 2014) und noch deutlicher im Skandal um Cambridge Analytica (Gregory und Halff 2020). Wert- und Interessenskonflikte können sich dabei vor allem zwischen dem Partikularinteresse der persuasiven Selbstdarstellung des kommunizierenden Akteurs und gesellschaftlich verankerten Freiheitsrechten von Personen in ihrer Rolle als Rezipient:innen der strategischen Kommunikation ergeben (hierzu auch: Dudenhausen und Wiencierz 2022). Zudem sind mögliche gesellschaftliche und individuelle Vorteile automatisierter datengestützter Kommunikation, etwa die Mobilisierung von Nicht-Wähler:innen, die Passung von Informationsangeboten zu persönlichen Interessen, Erleichterungen im Alltag und im Arbeitsleben, oder die Schaffung einer transparenteren Informationspolitik, gegen die Gefahren von Datenmissbrauch, Manipulation und einem zunehmenden Machtgefälle zwischen Organisationen und ihren Anspruchsgruppen abzuwägen (Zuboff 2019). Je fortgeschrittener die algorithmischen Systeme, desto grundsätzlicher werden die Wert- und Interessenkonflikte, die sie aufwerfen: Ist es wünschenswert, dass auch soziale oder kreative Aufgaben im Rahmen der strategischen Kommunikation ganz ohne menschliche Eingriffe erledigt werden? Inwiefern können kommunizierende Maschinen im Auftrag von Organisationen Verantwortung gegenüber Einzelnen und der Gesellschaft übernehmen? Während die Entscheidung über den Einsatz algorithmischer Systeme meistens in der Hand von Organisationen liegt, betreffen deren Folgen vor allem die Anspruchsgruppen der Organisationen, die sie implementieren. Deswegen ist es, jenseits der grundsätzlichen ethischen Reflektion (Haller und Kruschinski 2020;
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Torresen 2018), aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht relevant zu untersuchen, wie automatisierte strategische Kommunikation in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Erkenntnisse über die moralischen Urteile der Rezipient:innen von strategischer Kommunikation können Aufklärungsarbeit ermöglichen und so dazu beitragen, gesellschaftliche Gefahren der Automatisierung abzuwenden oder Chancen auszuschöpfen. Auch aus Sicht der strategischen Kommunikation von Organisationen, die algorithmische Systeme nutzen, sind Kenntnisse über öffentliche Erwartungshaltungen unabdinglich, um die Interessen der Betroffenen im Sinne der gesellschaftlichen Legitimation in die Abwägung möglicher Wert- und Interessenkonflikte einfließen lassen zu können. Bisher wurden moralische Urteile über Möglichkeiten der Automatisierung in der strategischen Kommunikation hauptsächlich aus Sicht der Kommunikator:innen beleuchtet (Panda et al. 2019; Zerfass et al. 2020). Studien zur Perspektive der Rezipient:innen in der Bevölkerung liegen nur zu anderen Anwendungsfeldern der Automatisierung vor. Beispielsweise deuten die Ergebnisse des sogenannten „Moral Machine“-Experiments zum autonomen Fahren auf eine relative große und ethisch durchaus bedenkliche Bereitschaft der Befragten hin, Menschenleben in Unfallsituationen nach Nützlichkeit gegeneinander abzuwägen (Awad et al. 2018). Der vorliegende Beitrag beleuchtet moralische Spannungsfelder automatisierter strategischer Kommunikation (Abschn. 2) und stellt Ergebnisse einer explorativen Studie dazu vor, wie verschiedene Formen und Situationen automatisierter strategischer Kommunikation in der Bevölkerung moralisch bewertet werden. Welche Wert- und Interessenkonflikte nehmen Rezipient:innen überhaupt zur Kenntnis? Inwiefern spielen Nutzenkalküle dabei eine Rolle? Zur Untersuchung dieser Fragen wurden sechs Szenarien zum Einsatz von KI in der strategischen Kommunikation entwickelt, die als Vignetten in empirischen Studien eingesetzt werden können (Abschn. 3). Die Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie in Form von drei Gruppendiskussionen zu diesen Vignetten werden dargestellt und diskutiert (Abschn. 4).
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Grundlagen, Formen und Spannungsfelder automatisierter strategischer Kommunikation
Künstliche Intelligenz bezeichnet im weitesten Sinne Computersysteme, die auf Algorithmen basieren. Bei einem Algorithmus handelt es sich um eine klar definierte Sequenz von Rechenschritten, die einen Input in einen Output übersetzt
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(Cormen et al. 2009, S. 5). Ein Meilenstein in der Entwicklung von algorithmischen Systemen ist der Prozess des maschinellen Lernens. Maschinelles Lernen meint, dass ein solches System durch rekursive Prozesse die Algorithmen optimiert, auf deren Basis es operiert (Atkinson 2016, S. 3). Dadurch „lernt“ die künstliche Intelligenz, Probleme immer besser zu lösen. Findet dieser rekursive Prozess parallel auf mehreren Ebenen in sogenannten künstlichen neuronalen Netzen statt, spricht man von „deep learning“ (Atkinson 2016, S. 3). In der Forschung und Entwicklung zu KI werden Anwendungen nach dem Grad ihres technischen Potenzials in schwache KI und starke KI bzw. eingeschränkte KI („narrow AI“) und generelle KI („Artificial General Intelligence“), kurz AGI, unterschieden (Goertzel 2014; Nilsson 2010, S. 388 f.; Scharre et al. 2018, S. 5). Dabei ist es präziser, von eingeschränkter als von schwacher KI zu sprechen, denn darunter werden solche künstlichen Systeme verstanden, die zu dem Zweck programmiert werden, klar umrissene Arbeitsschritte in Perfektion auszuführen (Bostrom 2014, S. 14). Ein solches Computersystem ist nicht schwach, sondern funktioniert extrem domänenspezifisch. In ihrer Domäne arbeiten diese Systeme deutlich effizienter als ein Mensch, sie sind aber nicht variabel. Eingeschränkte KI kommt schon heute in vielen Bereichen zum Einsatz, etwa beim Hochfrequenzhandel an Aktienmärkten, bei Kamerasystemen, die automatisch Gesichter erkennen, und bei Suchmaschinen wie der von Google (Bostrom 2014, S. 18 ff.) und wirkt sich insofern massiv auf das gesellschaftliche Leben aus (Atkinson 2016, S. 3). Eine AGI, die (noch) nicht existiert, wäre im Kontrast dazu variabel imstande, alle intellektuellen Probleme zu meistern, die auch ein Mensch zu meistern imstande ist (Goertzel 2014, S. 2). Auch das Verhältnis zwischen strategischer Kommunikation und KI rückt zunehmend in den Fokus von Forschung und Praxis. Trotz extensiver Diskussionen in Branchenzeitschriften über die Potenziale von künstlicher Intelligenz berichten allerdings nicht viele Organisationen, diese in ihrer Kommunikation tatsächlich einzusetzen (Zerfass et al. 2020, S. 378 f.). Daher hat die Literatur zu KI in der strategischen Kommunikation einen eher prognostischen Charakter. So wird etwa diskutiert, welche Funktionen und Aufgaben von PR von Computersystemen übernehmen werden könnten und welche nicht. Im Fokus stehen dabei Bereiche wie Kreativarbeit, also das Erstellen von Kommunikationsinhalten und -formen, der persönliche Kontakt zu Anspruchsgruppen, der vielleicht durch Bots ersetzt werden könnte (oder schon wird), und das Potenzial zum kritischen Denken und Reflektieren, das Maschinen auch langfristig eher abgesprochen wird (Galloway und Swiatek 2018). Galloway und Swiatek (2018) sehen dabei das Potenzial der Technik weniger darin, Menschen zu ersetzen, sondern menschliche Arbeit durch einen alternativen Blick auf Daten, etwa durch Big Data-Analysen,
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zu bereichern. PR-Praktiker:innen selbst haben ein ambivalentes Verhältnis zu den Aussichten, die KI für ihre Branche bietet. Einerseits sehen sie das Potenzial, dass KI ihre Arbeit durch Datenanalysen unterstützt und ihnen banale Routineaktivitäten abnimmt (Panda et al. 2019, S. 197). Andererseits bestehen auch Vorbehalte, etwa darüber, ob Computersysteme menschliche Arbeitskraft entbehrlich machen könnten (Panda et al. 2019, S. 208). Insgesamt offenbart sich die aktuelle Situation als diffus. Während Praktiker:innen den Wandel, der sich in ihrem Arbeitsfeld durch KI vollzieht, aktuell als eher unerheblich einschätzen, hängt das Thema zugleich wie ein DamoklesSchwert über dem Feld. In das Vakuum, dass durch das fehlende Verständnis von der Technik unter Kommunikationsverantwortlichen entsteht (Zerfass et al. 2020, S. 385), können Mythen über Potenziale und Gefahren treten, die diese (vermeintlich) mit sich bringt. So kommen auch in der PR-Forschung zusehends Ängste darüber zum Ausdruck, wie sich Computersysteme in Zukunft entwickeln und welche Potenziale sie entfalten werden (Bachmann 2019; Galloway und Swiatek 2018). Mythen über KI entstehen auch deshalb, weil sich die Kommunikation über Automatisierung nicht darauf konzentriert, was Computersysteme aktuell leisten können, sondern was sie in Zukunft eventuell leisten könnten (Natale und Ballatore 2017, S. 7). Die Spekulationen reichen von Heilsversprechen bis zu dystopischen Szenarien über den Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen und der Gefahr, die Kontrolle über Maschinen zu verlieren (Cave und Dihal 2019, S. 75 ff.; Bostrom 2014). Das Entstehen von Mythen ist stark damit verbunden, dass im Kontext von KI bestimmte Sprachbilder als Frames verwendet werden. Eine zentrale Tendenz besteht dabei darin, die Technik zu anthropomorphisieren – sie also mit menschlichen Attributen zu charakterisieren (Atkinson 2016, S. 5; Natale und Ballatore 2017, S. 7). Schon der Begriff der Intelligenz impliziert, eine Maschine könne alle Funktionen ausführen, die ein menschlicher Verstand auszuführen imstande ist (Cave und Dihal 2019, S. 74). Das führt beispielsweise zu Spekulationen darüber, ob Maschinen kreativ sein können oder nicht (Broeckmann 2019; Galloway und Swiatek 2018). Sprachliche und bildliche Frames werden dabei nicht nur wesentlich von der Popkultur, vor allem durch Science-Fiction, unterfüttert (Atkinson, 2016, S. 8 f.). Sie werden zum einen auch von Akteuren vermittelt, die in die Entwicklung von KI investieren, wie etwa Google (Cave und Dihal 2019, S. 76), und zum anderen entstehen sie in einem kontinuierlichen Diskurs zwischen Befürworter:innen und Kritiker:innen von Automatisierung (Natale und Ballatore 2017, S. 2). In diesem Prozess der Bedeutungskonstruktion ist auch
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kritisch zu reflektieren, welche Rolle Public Relations dabei spielt, wenn Organisationen durch strategische Frames über künstliche Intelligenz ihre monetären Interessen durchzusetzen versuchen (Bourne 2019, S. 121). Durch den Einsatz von Computersystemen in allen Bereichen der Gesellschaft ergeben sich diverse moralische Fragen und Probleme, beispielsweise im Hinblick auf Überwachung oder Diskriminierung (Kavanagh 2019, S. 13). Im Kontext von strategischer Kommunikation betrifft das etwa den Einsatz von Algorithmen-basierten Big-Data-Analysen, von denen vermutet wird, dass sie die Macht kapitalstarker Organisationen erweitern (Bachmann 2019; Gregory und Halff 2020, S. 2). Auch die massive Nutzung von Chatbots (Arsenijevic und Jovic 2019, S. 21) oder sogenannter selbstlernender künstlicher Sprachsysteme zur Persuasion erscheint problematisch. Stock et al. (2016, S. 4160) kommen zu dem empirischen Schluss, dass Menschen deren Einsatz erst einmal moralisch ablehnen, und Nyström und Stibe (2020) resümieren, dass strategische Akteure kein System einsetzen sollten, mit dem sie nicht selbst interagieren wollen würden. Zusammenfassend herrscht zum Thema KI eine komplexe Grundsituation mit zwei Spannungsdimensionen. Zum einen entwickeln sich die Anwendungsmöglichkeiten von KI-Technik rasant, während das Wissen über deren Funktionsweise und die tatsächlichen Potenziale sowohl unter PR-Praktiker:innen als auch in der breiten Öffentlichkeit als sehr begrenzt zu bezeichnen sind. Zum anderen – das ist die zweite Spannungsdimension – verbreiten sich auf diesem Nährboden utopische und dystopische Mythen, während zur selben Zeit ernsthafte moralische Implikationen des Technikeinsatzes zu diskutieren sind. In dieser Grundsituation ist es relevant zu untersuchen, wie unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft, die sich als Rezipient:innen mit dem (potenziellen) Einsatz von KI durch Organisationen konfrontiert sehen, diesen Einsatz moralisch bewerten.
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Rezipient:innensicht auf automatisierte Formen strategischer Kommunikation
3.1 Methodisches Vorgehen: Gruppendiskussionen zu KI-Szenarien Im Rahmen eines Forschungsseminars im Master Strategische Kommunikation an der WWU Münster wurden im Juli 2018 sechs Szenarien zur Automatisierung der strategischen Kommunikation von Organisationen entwickelt. Zugrunde liegt ein breites Verständnis von strategischer Kommunikation als „purposeful communication activities by organizational leaders and members to advance the
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organization’s mission“ (Hallahan et al. 2007, S. 27). Entwickelt wurden drei Grundszenarien in jeweils zwei Variationen, bei denen Automatisierung menschliche Fähigkeiten ersetzt: 1) symbolische Kommunikation, die sich an Normen orientiert und Empathie auszudrücken imstande ist, 2) Kreativität und schließlich 3) persönliche Meinungsbildung und freies Entscheiden. Das bereitet den Boden für starke Wert- und Interessenkonflikte, weil diese Fähigkeiten in bestimmter Hinsicht das Menschsein definieren. Inhaltlich drehen sich zwei der sechs Szenarien um den Austausch mit Journalist:innen, zwei um den Kreationsprozess von Werbespots, und zwei um automatisierte Kaufempfehlungen und -entscheidungen auf Basis von Big-Data-Analysen. Die jeweils zwei Szenarien zu jedem Thema unterscheiden sich anhand der technischen Kapazität und der Autonomie der jeweiligen KI. Es handelt sich entweder um eine eingeschränkte KI oder um eine AGI, bei denen entweder in letzter Instanz Menschen über das Handeln der KI entscheiden oder nicht. Sowohl eingeschränkte KI als auch AGI können potenziell autonome oder nicht-autonome Systeme sein. Die Szenarien werden in Abschn. 3.2 beschrieben. Um die Szenarien zu testen und erste Erkenntnisse über die Bewertung automatisierter strategischer Kommunikation durch Rezipient:innen zu gewinnen, wurden insgesamt drei leitfadengestützte Gruppendiskussionen durchgeführt. In diesem Gruppendiskussionen wurden die sechs Szenarien den Teilnehmenden in Form von textlichen Vignetten vorgelegt, deren Funktion es ist, die Szenarien in wenigen Sätzen zu skizzieren (Aguinis und Bradley 2014, S. 353). Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte aus den persönlichen Netzwerken der Seminarteilnehmer:innen, wobei darauf geachtet wurde, keine engen Bekannten einzubeziehen. Eine der Gruppen wurde ausschließlich mit Personen besetzt, denen aufgrund ihres Berufs (z. B. Softwareentwickler:in) oder ihrer Ausbildung (z. B. Studium der Wirtschaftsinformatik) eine besonders hohe Technikaffinität unterstellt werden konnte, um Anhaltspunkte darüber zu gewinnen, ob diese Bevölkerungsgruppe den Einsatz von Algorithmen anders beurteilt als weniger technikaffine Gruppen. Die erhöhte Technikaffinität konnte anhand einer Kurzbefragung mit standardisierten Items der 5-stufigen Affinity for Technology Interaction (ATI) Scale bestätigt werden (Franke et al. 2019, siehe Tab. 1). In Bezug auf die Faktoren Geschlecht, Alter und sozioökonomischer Status wurde auf eine möglichst heterogene Zusammensetzung der Gruppen geachtet, wobei nur in einer Gruppe eine Altersspanne von deutlich mehr als 10 Jahren realisiert werden konnte (siehe Tab. 1). Entlang des Leitfadens durchliefen die Diskussionen drei Abschnitte: 1) eine Aufwärmphase, in der ausgehend von persönlichen Nutzungserfahrungen mit Sprachassistenzsystemen das Verständnis und die emotionale Haltung zu KI
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Tab. 1 Zusammensetzung der Gruppendiskussionen Drei Gruppendiskussionen Gruppe 1 (n = 7)
Gruppe 2 (n = 9) – technikaffin
Gruppe 3 (n = 7)
Geschlecht
3 Frauen, 4 Männer
2 Frauen, 7 Männer
4 Frauen, 3 Männer
Geburtsjahr
1955 bis 1997
1982 bis 1998
1987 bis 1998
Tätigkeit
3 Studierende, 4 Berufstätige
5 Studierende, 4 Berufstätige
5 Studierende, 2 Berufstätige
Technikaffinität (Mittelwert)
2,718
4,058
3,616
besprochen wurde, 2) der Hauptteil zur Diskussion der sechs Vignetten und 3) eine Abschlussrunde mit einer vergleichenden Bewertung aller Vignetten. Um einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu schaffen, wurde in der ersten Phase eine allgemeine Definition von KI diskutiert. Dabei wurde aber weder ein festes Verständnis vorgegeben noch festgelegt, wie die einzelnen Szenarien zu klassifizieren sind. Die Diskussion zu den Vignetten erfolgte jeweils anhand einer offenen Frage nach der persönlichen Meinung und moralischen Einschätzung der beschriebenen Anwendungen. Zur vergleichenden Bewertung in der Abschlussrunde wurden ausgedruckte grafische Darstellungen der Vignetten gemeinsam an einer Pinnwand angeheftet. Am linken Ende der Pinnwand wurden die Szenarien angebracht, deren Realisierung als am wünschenswertesten eingestuft wurde und am rechten Ende die Szenarien, deren Umsetzung als am wenigsten wünschenswert empfunden wurde. Es war auch möglich, Szenarien als gleichwertig einzustufen. Die Gruppendiskussionen dauerten jeweils rund 1,5 h und wurden aufgezeichnet und transkribiert. Die Auswertung der Diskussionen zu den einzelnen Szenarien erfolgte in Anlehnung an die zusammenfassende Inhaltsanalyse nach Mayring (2015).
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3.2 Herleitung von Szenarien eingeschränkter und genereller künstlicher Intelligenz in der strategischen Kommunikation Die sechs in den Gruppendiskussionen verwendeten Szenarien wurden auf Basis existierender Formen von Automatisierung in der strategischen Kommunikation von Unternehmen entwickelt. Drei von ihnen beschreiben den Einsatz von eingeschränkter KI, der heute bereits praktiziert wird. Die Szenarien, in denen der Einsatz von AGI beschrieben wird, sind Fiktion und existieren in dieser Form nicht. Sie wurden einbezogen, weil sie Utopien bzw. Dystopien darstellen, die als Frames in fiktionalen wie nicht-fiktionalen Medieninhalten vermittelt werden (Cave und Dihal 2019, S. 74) und bei denen es daher wahrscheinlich ist, dass die Teilnehmer:innen diese mit KI assoziieren. Vor diesem Hintergrund sollte der Aspekt untersucht werden, ob die Teilnehmenden solche fiktiven Szenarien eher als unrealistisch wahrnehmen, oder ob sie sich in ihren Bedenken mit Blick auf die Zukunft der Technik bestärkt fühlen und sich entsprechend äußern. Die ersten beiden Szenarien thematisieren den Einsatz von KI im Austausch eines Unternehmens mit Journalist:innen. Das System, das anstelle menschlicher Pressesprecher:innen eingesetzt wird, trägt die Bezeichnung Robert. In der ersten Vignette (V1) handelt es sich um eine eingeschränkte KI, die ähnlich wie andere „intelligent personal assistants“ (Alepis und Patsakis 2017, S. 17.841) – z. B. Siri von Apple oder Cortana von Microsoft – auf Basis von Filteralgorithmen und Audiosensoren Informationen bereitstellt, indem sie Keywords aus Fragesätzen extrahiert. Da Robert dabei vorgegebene Statements reproduziert, ist er nicht autonom, wie im fiktionalen zweiten Szenario (V2). In V2 stellt Robert ein adaptives persuasives System (Nyström und Stibe 2020; Stock et al. 2016) dar, das autonom arbeitet und sich dabei an den Zielen der Organisation orientiert. Er ist ein menschlich anmutender Androide mit natürlicher Sprachverarbeitung, wie sie einer AGI, bzw. einer KI auf menschlichem Intelligenzniveau, unterstellt wird (Bostrom 2014, S. 14). Dabei weist Robert alle non- und paraverbalen Verhaltensnuancen auf, die menschliche Pressesprecher:innen charakterisieren. Gleichzeitig verfügt er über die analytischen Fähigkeiten eines Computers und hat über das Internet Zugang zum gesamten digitalisierten Wissen der Menschheit. V1) Felix ist Journalist und interessiert sich für die Social-Media-Kampagne eines großen Schokoladenherstellers, zu der bereits eine Pressemitteilung von der verantwortlichen PR-Abteilung herausgegeben wurde. Für Nachfragen der Presse hat der Schokoladenhersteller den Chatbot Robert installiert. Robert reagiert auf telefonische Anfragen, indem seine elektronische Stimme die Journalisten nach ihrem Anliegen
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fragt, und ihnen dann passende Statements vorliest, die von den Mitarbeitern der PR-Abteilung für mögliche Nachfragen zu diesem Thema vorbereitet wurden. V2) Felix ist Journalist und interessiert sich für die Social-Media-Kampagne eines großen Schokoladenherstellers. Also besucht er die nächste Pressekonferenz. Dort stellt er Fragen an den Pressesprecher Robert. Robert ist ein Androide – eine KI in einem menschlich wirkenden Körper. Er reagiert mit einer menschlichen Stimme intuitiv auf die Fragen von Felix. Er entscheidet selbstständig, welche Informationen er an die Journalisten weitergibt.
Die beiden nächsten Szenarien beschreiben, wie KI den Kreativprozess in der Produktion eines Werbespots übernimmt. Das Algorithmen-basierte System, das dabei zum Einsatz kommt, heißt AI-CD Beta. Kreativität – nicht im Sinne von Inspiration, sondern der Rekombination von Elementen (z. B. von Musikschnipseln) – ist eine menschliche Eigenschaft, die schon heute von KI raffiniert simuliert werden kann (Nilsson 2010, S. 654). In der ersten Vignette (V3) handelt es sich um eine nicht-autonome eingeschränkte KI, die auf Basis von Zielgruppenanalysen und Websuchen einzelne Elemente für Dreh und Postproduktion vorschlägt. In V4 ist AI-CD Beta auf eine Weise kreativ, die über Rekombination hinausgeht. Denn sie fügt nicht nur Elemente, wie z. B. Kameraaufnahmen, zusammen, sondern erstellt sie selbst. AI-CD Beta ist autonom, denn der von ihr kreierte Werbespot geht vor der Ausstrahlung nicht mehr über den Schreibtisch eines Menschen. V3) Carol ist Vorsitzende einer Filmagentur, die sich auf TV-Werbespots spezialisiert hat. Die KI-Anwendung AI-CD Beta unterstützt die Kreativabteilung bei der Produktion, indem sie auf Basis von Zielgruppeninformationen Bausteine wie Musik und Drehorte vorschlägt. Carols Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheiden sich, ob sie diese Vorschläge übernehmen oder andere kreative Entscheidungen treffen. V4) Carol ist Vorsitzende einer Filmagentur, die sich auf TV-Werbespots spezialisiert hat. Für die Werbespots ist hier allerdings kein Mensch, sondern AI-CD Beta verantwortlich – eine KI, die in der Agentur alle Kreativprozesse übernimmt. D.h. AI-CD Beta schreibt zunächst Drehbücher und plant Filmsequenzen. Liegt dann das Filmmaterial vor, ist die KI auch für die Nachbearbeitung zuständig – sie entscheidet also über Schnitt, Ton und Musik. An den Werbespots, die schließlich im TV zu sehen sind, war folglich kein Mensch beteiligt.
Die letzten beiden Szenarien beziehen sich auf Alexa, den Sprachassistenten von Amazon und thematisieren den Aspekt des freien Entscheidens und Handelns. Zwischen beiden Szenarien gibt es keinen Unterschied in Bezug auf die Kapazität der KI, es handelt sich jeweils um eingeschränkte KI. Der Unterschied
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besteht darin, dass Alexa einmal als autonome Variante (V5) und einmal als nicht-autonome Variante (V6) auftritt. V5) Lina benutzt Alexa. Alexa verwendet Audio-Sensoren, um aufzuzeichnen, welche Markennamen in den persönlichen Gesprächen von Lina genannt werden. Am nächsten Tag wird ihr die Werbung einer Uhrenmarke angezeigt, über die sie sich unterhalten hat. V6) Lina benutzt Alexa. Alexa verwendet Audio-Sensoren, um aufzuzeichnen, welche Markennamen in den persönlichen Gesprächen von Lina genannt werden. Alexa hat auch Zugriff auf Daten zur Mediennutzung, u.a. zum Surfverhalten, und zum Kaufverhalten von Lina. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich Lina von allen Marken, die in den Gesprächen genannt werden, tatsächlich für den Kauf der Uhr einer bestimmten Marke entscheiden würde. Daher bestellt Alexa die Uhr selbstständig.
3.3 Ausgewählte Ergebnisse zu wahrgenommenen Wert- und Interessenkonflikten In der Aufwärmphase zeigte sich, dass die Teilnehmenden insgesamt über ein eher geringes Vorwissen zu KI verfügten, das sich auf die Nennung einzelner Beispiele wie Sprachassistenten beschränkte. Auch die technikaffine Gruppe konnte sich hier nicht deutlich absetzen. Zudem wurde in allen Diskussionen eingangs ein weites Spektrum emotionaler Zustände von Optimismus und Neugier über Gelassenheit bis hin zu Angst geäußert, wobei viele eine ambivalente Haltung gegenüber KI einnahmen. Im Hauptteil der Diskussionen zu den einzelnen Szenarien wurden u. a. Fragen des Datenschutzes, der Fairness im Kommunikationsverhältnis zwischen Organisation und Anspruchsgruppen, der Manipulation, des Kontrollverlusts und der Transparenz diskutiert. Es kristallisierten sich deutlich zwei Voraussetzungen heraus, unter denen eine positive Bewertung von automatisierten Formen der strategischen Kommunikation für die Teilnehmenden infrage kommt: zum einen die Möglichkeit zu erkennen, dass es sich um automatisierte Kommunikation handelt und zum anderen die Möglichkeit, die Technik selbst, z. B. durch Voreinstellungen oder Ein-/Aus-Schalter, kontrollieren zu können. „Wenn es einfach Roboter sind und […] ich weiß es das ganze Gespräch über nicht, dann ist es gruseliger. Wenn sie jetzt irgendwie ein rot blinkendes Lämpchen noch irgendwo haben, dann ist das was anderes.“ (TA6 #01:27:48-0#)
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„…es geht einfach darum, dass plötzlich so eine künstliche Intelligenz für mich Entscheidungen trifft, die ich gar nicht mehr mitbestimmen kann […]. Deswegen wäre das für mich schon sehr grenzwertig.“ (TC2 #01:14:47-5#) Unter diesen Voraussetzungen wurden im Verlauf aller Diskussionen Vorteile von Automatisierung in der strategischen Kommunikation benannt, insbesondere in Form von Arbeitserleichterungen für die Organisation sowie mehr Komfort im Alltag und auf persönliche Interessen abgestimmte Informationen für Rezipient:innen. „…ich finde das eigentlich okay, weil ich das auch durchaus sehr praktisch finde, wenn ich mich in die Lage der Mitarbeiter hineinversetzte, die wahrscheinlich mit Anfragen gleicher Art überrollt werden.“ (TA4 #00:39:34-6#) „Individualisierte Werbung finde ich gut. Wenn das auf mich zugeschnitten wird und ich davon profitieren kann, dann macht das Sinn. […] Beim anderen Punkt finde ich eine Grenze überschritten. Hier kann ich mich selbst nicht mehr entscheiden, das finde ich falsch.“ (TB9 #01:12:28–2#) Wert- und Interessenkonflikte wurden dann sichtbar, wenn diese Vorteile aus Sicht der Teilnehmenden mit Gefahren der Manipulation einhergehen, wobei manche eher einen Missbrauch der KI durch Menschen befürchteten und andere die Verselbstständigung der KI. „Und je nachdem, wer die Maschine füttert mit diesen Daten […] kann ja auch beeinflussen, was für eine Art von künstlicher Intelligenz entsteht. Das macht mir mehr Angst.“ (TA6 #00:29:31-6#) „Dass man so eine Intelligenz dann nicht mehr beherrschen kann, auch nicht mit einer Programmiersprache, weil sie über die Intelligenz des Menschen weitaus hinausgeht.“ (TB9 #00:20:47-0#) Auffällig ist, dass die meisten der benannten Werte und Interessen, die für oder gegen Automatisierung sprechen, an individuellen Nutzenmotiven anknüpfen (s. o. TC2 #01:14:47-5#, TA4 #00:39:34-6#, TB9 #01:12:28-2#). Das wird auch an diesem Beispiel deutlich: „Wenn man super gestresst ist und 10 Sachen gleichzeitig machen muss, dann ist das [V6 Alexa] sicherlich eine tolle Alternative […].“ (TB4 #00:08:12-3#") Zugleich wurden gesellschaftliche Folgen nur vereinzelt benannt: „Aber ich habe irgendwie so die starke Intuition, dass sich da so Unternehmen mit immunisieren, abschirmen und dass das für eine Gesellschaft, für das Zusammenleben und für ein gutes Leben nicht förderlich ist.“ (TA3 #00:43:31-7#) In den Diskussionen zum Werbe-Szenario zeigten sich bei einigen Teilnehmenden fehlende Werbekompetenz und deutliche Anzeichen für den ThirdPerson-Effekt (Huck und Brosius 2007), da sie insbesondere die eigene Anfälligkeit für Werbewirkungen als gering einschätzten:
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„Bei Werbespots hat man immer die Möglichkeit auszumachen, etwas anderes zu machen, bzw. das zu ignorieren.“ (TB6 #01:34:24-5#) „… aber ich zumindest mag mir einbilden, dass ich vergleichend vorgehe bei Kaufentscheidungen, mir Testberichte und so angucke, und das Marketing und das Design von der Kampagne eher ein Imagedingen ist.“ (TC1 #00:57:17-3#) Nur in der technikaffinen Gruppe wurde auch ein möglicher gesellschaftlicher Nutzen der Automatisierung durch einen Zugewinn an Chancengleichheit und Transparenz thematisiert: „Aber man kann natürlich auch auf Seiten des Herstellers sagen, […] man würde keine Bevorzugung haben. Also da wäre es ja, ich will schon fast sagen besser. Dann wäre es nicht dieses: ‚Kennste nicht hier und da.‘ Und man hätte für jeden die gleiche Auskunft.“ (TB4 #00:39:40-2#) Das Abschlussranking zu der Frage, als wie wünschenswert die Teilnehmenden die Realisierung der Szenarien in Relation zueinander einstufen, legt sowohl in Bezug auf die Bewertung des Faktors der kognitiven Kapazität der dargestellten KI (eingeschränkte KI v. generelle KI), als auch in Bezug auf die Bewertung des Status ihrer Autonomie (autonom v. nicht-autonom) eindeutige Interpretationen nahe. Der Einsatz von AGI wurde insgesamt als deutlich weniger wünschenswert eingestuft als der Einsatz von eingeschränkter KI (Abb. 1). Zudem zeichnet sich deutlich die Tendenz ab, dass autonome Handlungen von KI (Interaktionen, Veröffentlichungen, Kaufentscheidungen), bei denen in letzter Entscheidungsinstanz kein Mensch interveniert, skeptischer gesehen werden als der Einsatz von KI als unterstützendes System (Abb. 1). Die Teilnehmenden, die den Einsatz autonom arbeitender KI als am wenigsten wünschenswert beurteilten, sprachen sich insbesondere deshalb dagegen aus, weil es aus ihrer persönlichen Sicht problematisch ist, wenn in Entscheidungsprozessen der moralische Kompass eines Menschen und dessen Emotionen fehlen. Sie befürchten, dass es dann durch den Einsatz von autonomer KI eher zu Manipulation kommt. Es besteht also die Erwartung, dass Kommunikationsverantwortliche sich moralischen Grundsätzen verpflichtet fühlen und entsprechend Interessen der Anspruchsgruppen in ihren Entscheidungen berücksichtigen. „Also ich meine der Roboter soll ja ruhig soweit die Drehbücher und Filmsequenzen vorbereiten, aber dass sie ohne Übersicht des Menschen veröffentlicht werden, das ist natürlich aus meiner Sicht überhaupt nicht okay. Denn der kann ja nicht moralisch denken, der hat kein soziales Gewissen und wie kann man ihm da vertrauen ohne dass man selber als Mensch nochmal rüber guckt.“ (TA1 #00:54:25-1#) Dieses Problem wurde allerdings nicht von allen Teilnehmenden gleichermaßen wahrgenommen. Einige assoziierten mit dem Begriff der strategischen
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AI-CD Beta unterstützt Kreavleistung
AI-CD Beta unterstützt Kreavleistung
AI-CD Beta unterstützt Kreavleistung
Robert als Chatbot
Alexa – individualisierte Werbung Robert als KI Pressesprecher
Robert als Chatbot
AI-CD-Beta übernimmt Kreavleistung Robert als KI Pressesprecher
Robert als Chatbot
Robert als KI Pressesprecher
Alexa – individualisierte Werbung
AI-CD Beta übernimmt Kreavleistung
Alexa – autonomes Kaufverhalten
Alexa – individualisierte Werbung
Alexa – autonomes Kaufverhalten
AI-CD Beta übernimmt Kreavleistung
Alexa – autonomes Kaufverhalten
Legende = nicht-autonome KI
= autonome KI
= eingeschränkte KI
= generelle KI
Abb. 1 Abschlussrankings der drei Diskussionsgruppen visualisiert nach kognitiver Kapazität und Grad der Autonomie der dargestellten KI
Kommunikation, und insbesondere mit Werbung und Pressekonferenzen, ohnehin stark selektive, wenn nicht gar manipulative Darstellungen und projizierten die Gefahr, als Rezipierende Manipulation ausgesetzt zu sein, nicht primär auf den Einsatz von KI. „Ich glaube mir wäre es tatsächlich egal, weil ich sagen würde: Naja, gut. [..] wenn der Roboter da steht, der sich da einen zusammenlügt und alle mit Antworten abspeist, dann ist das auch nicht anders als bei einem Menschen.“ (TB5 #01:31:40-7#) Das deckt sich mit den quantitativen Resultaten von Stock et al. (2016, S. 4160), nach denen Persuasion durch ein technisches System statt durch einen
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Menschen moralisch nicht deutlich unterschiedlich bewertet wird. Allerdings wurden in den Diskussionen an einen Menschen durchaus andere Erwartungen hinsichtlich Moral, Wertschätzung und Empathie gerichtet. Zudem äußerten die Teilnehmer:innen teilweise Zweifel daran, dass eine KI mit menschenähnlichen Attributen entwickelt werden könnte: „Kreativprozesse bzw. diese Kreativität die ist für mich einfach ein eigenstehendes Merkmal für Menschen bzw. lebende Lebewesen. Also wie soll ein Roboter kreativ sein?“ (TA2 #00:55:17-6#s) „Bei einer geringen Datenlage allein mit der Vorstellungskraft kann man schon Schlüsse ziehen, und das könnte eine Maschine bisher auf jeden Fall nicht und es wird hoffentlich auch noch sehr lange dauern, bis sie es könnte." (TB3 #00:18:13-1#) Insgesamt geht aus den Gruppendiskussionen hervor, dass Formen automatisierter strategischer Kommunikation durch Rezipierende durchaus positiv bewertet werden, wenn sie einen persönlichen Nutzen stiften oder Arbeitserleichterungen mit sich bringen. Als problematisch betrachteten es die Teilnehmenden, wenn Transparenz und Kontrolle über die Technik auf dem Spiel stehen und Manipulation zu befürchten ist.
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Diskussion und Fazit
Der vorliegende Beitrag verdeutlicht die Vielfalt moralischer Implikationen und Urteile im Kontext der Automatisierung von strategischer Kommunikation. Insgesamt haben die Teilnehmenden Wert- und Interessenkonflikte eher individualistisch verhandelt und den Einsatz von Algorithmen und Automatisierung in der Rolle von Konsument:innen bewertet. Dabei wurden zum einen der individuelle Wunsch nach Komfort durch Technik sowie nach Informationen artikuliert, die auf persönliche Interessen abgestimmt sind. Zum anderen wurde auch eine Arbeitserleichterungen für Praktiker:innen als nachvollziehbarer Grund für Automatisierung anerkannt. Obwohl auch Konsequenzen für Gesellschaft und Gemeinwohl thematisiert wurden, richtete sich die Diskussion damit stärker an Partikularinteressen aus. Besonders ablehnende Reaktion lösten die Szenarien aus, in denen ein Algorithmen-basiertes System autonom kommuniziert, Inhalte publiziert, oder in anderer Form handelt, ohne dass Menschen in letzter Instanz darüber entscheiden. Interessant wäre, ob sich dieses Urteilsmuster in weiteren explorativen und quantitativen Studien reproduzieren lässt. Wenn Rezipient:innen bei der Aussicht auf eine voranschreitende Automatisierung strategischer Kommunikation von Organisationen vor allem ihren
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persönlichen Nutzen maximieren und Schaden von sich abwenden wollen, oder sich in die Perspektive der Organisation hineinversetzen, dann beinhaltet das die Gefahr, dass Gemeinwohlinteressen bei der Entwicklung und Implementation von Software in den Hintergrund rücken könnten. In Bezug auf dieses Resultat sind aber auch zwei methodische Kritikpunkte an den durchgeführten Gruppendiskussionen zu erwähnen. Erstens wurden die Teilnehmenden lediglich offen zu ihrer persönlichen Einschätzung befragt, um Diskussionen anzuregen, und nicht explizit dazu, wie sie die Konsequenzen für das Gemeinwohl einschätzen. Hier ist es denkbar, dass durch Ankereffekte Gruppendynamiken entstanden sind, durch die der Gesprächsfokus hin zu individuellen Perspektiven tendierte. Zweitens könnten die Resultate durch den Faktor des persönlichen Involvements der Teilnehmenden leicht verzerrt worden sein. So thematisiert das Szenario eines automatisierten Kaufprozesses durch Alexa (V6) den direkten Zugriff auf Geld und Kontodaten – ein Thema, das für viele Menschen besonders sensibel ist. Im Abschlussranking kamen alle Gruppen entsprechend zu dem Konsens, dass V6 als am wenigsten wünschenswert einzuordnen sei. Da es sich bei Alexa in dieser Variante technisch noch um eine eingeschränkte KI handelt, wurde hier zudem das Muster durchbrochen, dass die Teilnehmenden ansonsten den Einsatz von genereller KI insgesamt als weniger wünschenswert empfanden als den Einsatz von eingeschränkter KI (Abb. 1). Da es sich zugleich um ein Szenario handelt, das – zumindest technisch – als umsetzbar erscheint, lässt sich zudem vermuten, dass die Teilnehmenden den Einsatz autonom arbeitender algorithmischer Systeme als weniger wünschenswert erachten, wenn das technische Potenzial und die damit verbundenen Gefahren bereits existieren, als wenn diese noch abstrakt in der Zukunft liegen oder fiktiver Natur sind. Ein interessanter Anknüpfungspunkt für weitere Untersuchungen wäre in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit sich der Einsatz autonomer algorithmischer Systeme, der zunächst Ressentiments verursacht, in der Wahrnehmung von Rezipient:innen mit der Zeit normalisiert. Eine weitere explorative Erkenntnis betrifft das Verständnis, das Rezipient:innen von der Technik und den Potenzialen ihres Einsatzes bzw. deren Grenzen haben. Die Gruppendiskussionen deuten darauf hin, dass nicht nur unter Kommunikationspraktiker:innen das Verständnis von Algorithmen und Automatisierung eher oberflächlich ist (Zerfass et al. 2020), sondern auch unter Rezipient:innen, die sich mit deren potenziellen Einsatz in der strategischen Kommunikation durch Organisationen konfrontiert sehen. Hinzu kommt der Eindruck einer eher rudimentären Werbe- und Medienkompetenz unter den Teilnehmenden. Das Vakuum, dass durch diese Kombination entsteht, wurde in den Gruppendiskussionen zum einen durch affektive Komponenten gefüllt – etwa durch den
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Ausdruck diffuser und ambivalenter Gefühle und Angst vor der Technik. Zum anderen wurden Mythen reproduziert und die Technik wurde sprachlich anthropomorphisiert. So wurde etwa Manipulation nicht nur durch die Unternehmen befürchtet, die die Algorithmen-basierten Systeme kontrollieren – ein absolut zentraler moralischer Gesichtspunkt – sondern durchaus auch durch eine künstliche Intelligenz selbst, die sich plötzlich der Kontrolle durch den Menschen entzieht. Zwar wurden Mythen durch die AGI-Szenarien in bestimmter Hinsicht vorgegeben, aber es wurde in keinem der Szenarien impliziert, dass eine solche starke KI selbst Motive entwickeln und zu einem manipulativen Akteur werden könnte. Obwohl auch Skepsis geäußert wurde, waren Bedenken zu dieser Art von Kontrollverlust, den die Teilnehmenden selbst in die Szenarien hineinprojiziert haben, sehr präsent. Ängste und Mythen scheinen also leicht an die Stelle des Wissen darüber zu treten, was technisch tatsächlich machbar ist, und wie sich strategische Kommunikation generell auf Rezipierende auswirken kann. Es ist jedoch einschränkend zu berücksichtigen, dass die Hürden, eigene Skepsis am Realitätsbezug der Szenarien zu äußern, dadurch relativ hoch waren, dass die Szenarien den Teilnehmenden im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung vorgelegt wurden. Dennoch kann festgehalten werden, dass zu der grundsätzlichen Aufgabe, die Werbe- und Medienkompetenz in der Bevölkerung zu erhöhen, auch die Aufgabe tritt, über die Mechanismen und Potenziale von Algorithmen stärker aufzuklären. Ein zentraler kritischer Punkt war aus Perspektive der Teilnehmenden das Thema Transparenz, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens hielten sie es für bedenklich, wenn durch fehlende Hinweise suggeriert wird, bei den technischen Systemen handele es sich um menschliche Akteure. Der zweite Transparenzaspekt bezieht sich darauf, auf welcher Datenbasis ein entsprechendes technisches System operiert. Die Gruppendiskussionen geben Hinweise darauf, dass Rezipient:innen ein Mitbestimmungsrecht über autonome algorithmische Systeme fordern, insbesondere wenn sie auf ihre persönlichen Daten zugreifen. Das ist ein deutlicher Fingerzeig für Unternehmen, die Automatisierung von Kommunikationsfunktionen transparent zu betreiben. Neben der Gefahr der Intransparenz wurde in den Diskussionen ein Grundmisstrauen in die strategische Kommunikation von Unternehmen artikuliert. Da Vertrauen offenbar eine erhebliche Rolle dabei spielt, ob Rezipient:innen den Einsatz von Big-Data-Anwendungen durch gemeinwohlorientierte Organisationen akzeptieren (Wiencierz 2018, S. 113), sollten auch Unternehmen, die Teile ihrer strategischen Kommunikation durch algorithmische Systeme automatisieren wollen, mit besonderer Umsicht handeln und die Interessen aller Anspruchsgruppen frühzeitig einbeziehen. Für quantitative Folgeprojekte bedeutet
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das bestehende Grundmisstrauen, dass die moralische Bewertung des Einsatzes von KI in der strategischen Kommunikation statistisch bereinigt werden muss um die moralische Bewertung von strategischer Kommunikation an sich. Resümierend lässt sich festhalten, dass der Einsatz von Algorithmen in der strategischen Kommunikation mit starken Wert- und Interessenkonflikten sowohl zwischen den Partikularinteressen von Unternehmen und Rezipient:innen, als auch zwischen den Partikularinteressen von Unternehmen und dem Gemeinwohl einhergeht. Ein entscheidender erster Schritt hin zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den praktischen und moralischen Implikationen von Automatisierung besteht darin, technologische Fakten von Fiktionen zu unterscheiden. Die Gefahren von Intransparenz und Manipulation durch Organisationen sind bereits heute real. Um so entscheidender ist es, dass Unternehmen, die Algorithmen verantwortungsvoll einsetzen wollen, diese Gefahren im Austausch mit ihren Stakeholder:innen thematisieren und bei der Implementation adressieren.
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Werthaltungen und Verantwortungsübernahme: Umgangsformen mit Interessen- und Wertkonflikten
Der Wertekompass von PR-Berater*innen in ethischen Konflikten Eine explorative Q-Studie Swaran Sandhu und Anna-Lena Hildebrand Zusammenfassung
Die PR-Beratung steht vor ethischen Dilemmata, die sich aus der Doppelstruktur eines Beratungsverhältnisses ergeben. Berater*innen müssen sich zum einen loyal gegenüber ihren Arbeitgebern verhalten und zugleich die Kundenanforderungen berücksichtigen. Die PR-Forschung hat diese Doppelstruktur aus einer ethischen Perspektive bislang nicht diskutiert. Uns interessiert, welche ethischen Konflikte in der PR-Beratung auftreten können. Nach einer theoretischen Ableitung relevanter Kategorien der Gesinnungsund Verantwortungsethik für die PR wurden Szenarien entwickelt, die mit der Q-Methode bei PR-Berater*innen untersucht wurden. Die Q-Methode ist für explorative Forschungsfragen gut geeignet, da sie bereits bei geringen Fallzahlen zur Typenbildung herangezogen werden kann. Aus der Befragung von PR-Berater*innen ließen sich drei Idealtypen berechnen: 1) der aktive Gesinnungsethiker, 2) der Unbestechliche und 3) der passive Profi. In der Berufspraxis überlagern sich die Idealtypen und bilden teilweise Schnittmengen. Obwohl PR-Ethik als wichtiges Feld von Berufsverbänden und der PR-Forschung ausgeflaggt wird, werden PR-Berater*innen erst im Berufsalltag mit ethischen Fragestellungen konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit S. Sandhu (B) Hochschule der Medien, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] A.-L. Hildebrand Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 K. Thummes et al. (Hrsg.), Wert- und Interessenkonflikte in der strategischen Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35695-8_11
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den Idealtypen ermöglicht erste Formen der Selbstreflexion und kann z. B. zur Weiterbildung von angehenden PR-Berater*innen eingesetzt werden. Schlüsselwörter
PR-Ethik • Kommunikationsberatung • Q-Methode • Gesinnungsethik Verantwortungsethik • PR-Beratung
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•
Einführung und Problemstellung
In diesem Beitrag untersuchen wir ethische Konfliktfälle in der PR-Beratung mittels einer explorativen Q-Studie. Dabei gehen wir zunächst auf die Relevanz der Kommunikationsberatung im Rahmen der PR-Forschung und mögliche ethische Konflikte ein (Abschn. 2). Daran anschließend stellen wir die Q-Methode vor, die sich für explorative Forschungsdesigns gut eignet, um subjektive Wahrnehmungen zu systematisieren und in Typen zu überführen (Abschn. 3). In Abschn. 4 diskutieren wir die Ergebnisse und liefern im letzten Abschn. 5 einen Ausblick zu weiteren Forschungsfragen.
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PR-Beratung und Ethik
2.1 PR-Beratung als Arbeitsfeld und Sozialisationsinstanz Wir verstehen unter PR-Beratung eine vertraglich definierte und in der Regel bezahlte, zeitlich befristete Dienstleistung für Organisationen, die sowohl operative als auch strategische Aufgaben umfasst und im Kern eine kommunikative Problemstellung lösen soll (siehe etwa Fuhrberg 2010, S. 37, 2019; Röttger und Zielmann 2009a, S. 40; Szyszka 2009, S. 61; Schöller 2018, S. 27; Tebrake 2019, S. 27 für aggregierte Definitionen). Die PR-Beratung ist ein wichtiges Arbeitsfeld, das nicht im Zentrum der PRForschung steht (siehe etwa Röttger und Zielmann 2009b; Fuhrberg 2010, 2019; Röttger 2013; Hoffjann 2018; Schöller 2018). Dies überrascht in zweifacher Hinsicht. Erstens hat die PR-Beratung einen hohen Einfluss auf die Gestaltung organisationaler Kommunikationsprozesse. Zweitens ist die PR-Beratung wichtig für die berufliche Sozialisation beim Berufseinstieg in die PR-Branche. Der Einfluss von PR-Beratung wird unter anderem deutlich anhand von Branchenauszeichnungen wie zum Beispiel dem Deutschen PR-Preis. In vielen prämierten Projekten haben Agenturen planend aber auch operativ mitgewirkt.
Der Wertekompass von PR-Berater*innen in ethischen Konflikten
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Die Bedeutung der Sozialisationsfunktion zeigt sich durch die Anzahl der Beschäftigten. Verlässliche Zahlen der Kommunikationsberatung liegen zwar nur begrenzt vor, ältere Schätzungen gehen aber von ca. 10.000 bis 12.000 beschäftigten Personen aus (Szyszka et al. 2009, S. 200). Im Branchenverband GPRA e. V. sind 38 Agenturen mit rund 2800 Mitarbeitern organisiert, die im Jahr 2018 einen Umsatz von 384 Mio. Euro erzielt haben (GPRA 2020).
2.2 Ethik und Entscheidung: zwischen Gesinnung und Verantwortung Die PR-Ethik beschäftigt sich mit „dem moralisch-sittlichen Handeln von PRPraktikern und den Normen, die diesem Handeln zugrunde liegen“ (Bentele 2015, S. 1071) und wird vor allem als Handlungsethik verstanden. Darunter versteht Bentele die individuelle als auch organisationsbezogene Verantwortung bezogen auf das berufliche Handeln. Ethische Fragestellungen und Güterabwägungen z. B. bei Entscheidungen können auf individueller, auf der Ebene der Organisation oder auf Berufsfeldebene vorgenommen werden. Im Rahmen dieser Arbeit interessieren uns vor allem die Konflikte (also die Güterabwägung) zwischen individueller und organisationsbezogener Ebene. Auf der individuellen Ebene kommen persönliche Wertesets und Moralvorstellungen zum Tragen. Diese werden vor allem durch verschiedene Sozialisationsinstanzen (Familie, Freunde, Erziehungssystem, Religion) geprägt und verfestigt. Nach Max Weber lässt sich zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Endreß 2020, S. 67 f.) unterscheiden. Die Gesinnungsethik setzt moralische Werte und Einstellungen höher als die Folgen einer Handlung während die Verantwortungs- oder Erfolgsethik vor allem das Ergebnis, also die Konsequenz einer Entscheidung behandelt. Auf der Ebene der Organisation können Vorgaben oder Selbstverpflichtungen eine wichtige Rolle spielen. Teilweise sind diese durch die Mitgliedschaft in Berufsverbänden definiert. Beispielsweise verpflichten sich PR-Beratungen, die im Berufsverband GPRA Mitglied sind, nach den Regeln des deutschen Kommunikationskodex zu arbeiten (GPRA 2020). Zudem definieren Organisationen selbst bestimmte ethische Verhaltensregeln oder führen Schulungen durch. Die PR-Ethik wird sowohl national als auch international durch die entsprechenden Berufsverbände als normative Setzungen und Kodizes entwickelt, die als Handlungsorientierung für das Berufsfeld gelten sollen. Im deutschsprachigen Raum gilt vor allem der Kommunikationskodex (Bentele 2015; Bentele und Seidenglanz 2018; Rademacher 2020) als wichtigste Zusammenfassung ethischer
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Grundsätze, die von den großen Berufsverbänden (DPRG, BdP/BdKom, GPRA) getragen werden.
2.3 Ethik in der PR-Beratung: ein empirisch blinder Fleck Die empirische Forschung zur deutschsprachigen PR-Ethik ist „gewissermaßen blind“ (Rademacher 2010, S. 283). Ethische Fragestellungen in der Kommunikationsberatung werden in der Forschung empirisch kaum diskutiert (als Ausnahme etwa für die politische Kommunikationsberatung z. B. Opitz und Vowe 2008). Die Ergebnisse des European Communication Monitors 2020 zeigen jedoch, dass die Berufspraxis1 stark von ethischen Herausforderungen geprägt ist: 40 % der deutschen Befragten gaben an, dass sie im letzten Jahr mit mehreren ethischen Herausforderungen konfrontiert waren (Zerfass et al. 2020, S. 20). Die höchste Anzahl von ethischen Konflikten gab es im Bereich der Beratung (ebd. S. 22, alle Befragten) und von allen Arbeitsfeldern war das der Beratung am stärksten von ethischen Konflikten betroffen (ebd. S. 23). Idealtypisch sind folgende Konfliktkonstellationen für in Agenturen angestellte Berater*innen denkbar: 1. Innerhalb der Beratung verstößt eine Arbeitsanweisung a) gegen den Kommunikationskodex (Branchenethik) oder b) gegen individuelle Wertvorstellungen (individuelle Ethik). 2. Anforderungen des Auftraggebers: ein Kundenwunsch verstößt a) gegen den Kommunikationskodex (Branchenethik) oder b) gegen individuelle Wertevorstellungen. 3. Auftraggeber und Beratung haben die Absicht, bewusst oder unbewusst gegen a) den Kommunikationskodex oder b) individuelle Wertvorstellungen zu verstoßen. 4. Auftraggeber und Beratung widersprechen sich in den Anforderungen, z. B. a) Auftraggeber schlägt eine Aktion vor, die gegen den Kommunikationskodex verstößt und die PR-Beratung will diese nicht durchführen oder b) in umgekehrter Konstellation. Die Aufstellung zeigt: ethische Konflikte entstehen zwischen individuellen Wertesets, organisationalen Vorgaben und Anforderungen des Auftraggebers (hierzu 1
Die nachfolgenden Zahlen basieren nur auf den deutschen Antworten aus der Umfrage und sind nicht repräsentativ, was Fallzahlen und Erhebungsmethode (Selbstrekrutierung) angeht: und dienen nur als Indikator.
Der Wertekompass von PR-Berater*innen in ethischen Konflikten
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auch: Seiffert-Brockmann et al. 2022). Berater*innen können bei Konflikten in „Sandwich“-Positionen geraten und müssen zwischen diesen drei Ebenen Entscheidungen fällen. Werte gelten im Allgemeinen als eine Orientierungshilfe (Haedrich 1994; Schwartz 2003; Welzel 2009). So richten Individuen ihr Handeln gemäß der eigenen Vorstellung des Wünschenswerten aus (Klages 1977; Kluckhohn 1951). Dahinter steckt jedoch ein komplexes Konstrukt, das auf verschiedenen Variablen, etwa persönlichen Erfahrungen, kultureller Umgebung und Erziehung basiert (Joas 2004; Funiok 2011). Ein persönliches Werteset klar zu begründen, abzugrenzen und zu artikulieren gestaltet sich daher als herausfordernd – es kann weniger als ein Regelkatalog oder ein Nachschlagewerk verstanden werden, sondern vielmehr als ein innerer Kompass. Dieser dynamische und implizite Charakter von Werten muss bei der Operationalisierung empirischer Forschung berücksichtigt werden.
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Exploratives Forschungsdesign mit der Q-Methode
3.1 Die Q-Methode: an der Schnittstelle quantitativer und qualitativer Verfahren Die Q-Methode ist ein Rangordnungsverfahren, das von dem britischen Psychologen und Physiker William Stephenson (1935, 1953) geprägt wurde. Ziel der Q-Methode (Brown 1986, 1993; McKeown und Thomas 1988) ist es, komplexe Meinungs-, Einstellungs- und Wertestrukturen aus subjektiver Perspektive zu erfassen und dann wechselseitig in Beziehung zu setzen. Dazu werden zunächst Statements generiert (Q-Sample oder Q-Set, nachfolgend Q-Sample), die dann in eine Rangfolge gebracht werden (Q-Sort). Diese individuellen Rangfolgen werden anschließend statistisch zueinander in Verbindung gestellt und es werden Typen gebildet.
3.2 Forschungsdesign und Operationalisierung Für die Erhebung erhalten die Proband*innen ein Set an ausgedruckten Karten bezüglich eines Themenbereichs. Das Q-Sample kann beispielsweise in Form von Statements, Adjektiven oder auch Bildern vorgelegt werden. Statements können dabei auftreten in Form von „opinions, plans, questions, options or strategies“ (Eden et al. 2005, S. 416). Das Q-Sample kann je nach Forschungsintention
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unterschiedlich generiert und konzipiert werden. Es wird allgemein zwischen drei Arten von Q-Samples unterschieden (Brown 1986, 1993; McKeown und Thomas 1988; Müller und Kals 2004): 1. Naturalistic samples basieren auf mündlichen oder schriftlichen Aussagen der Proband*innen, die zuvor bspw. aus Interviews oder Gruppendiskussionen zum Forschungsthema generiert werden. 2. Ready-made samples werden aus der Fachliteratur des Gegenstandsbereiches – etwa empirischen Studien oder etablierten Theorien und Konzepten – abgeleitet. Ihnen liegt somit Forschung zugrunde. 3. Standardisierten Q-samples finden beispielsweise in der Differentialpsychologie Anwendung und entstehen aus standardisierten Persönlichkeitstests. Eine weitere Unterscheidung findet sich im Design des Samples. Unstrukturierte Samples werden, wie der Name zeigt, ohne ein dahinterstehendes System entwickelt und haben dadurch einen rein explorativen Charakter. Die Statements gehören keiner fest zugeordneten Kategorie an und haben damit nicht den Anspruch daran, alle potenziellen Unterbereiche abzudecken (McKeown und Thomas 1988; Wolf 1988). Strukturierte Samples hingegen gehen auf theoretische Konstrukte, Dimensionen oder Kategorien zurück (Müller und Kals 2004). Eine feste Anzahl an Statements ist einer Kategorie oder Bedingung angehörig, wodurch eine einheitliche Anzahl pro Kategorie entsteht. Aufgrund des noch wenig erforschten Themenbereichs greift die vorliegende Studie auf ein strukturiertes ready-made Sample zurück. Ethische Konflikte erstrecken sich auf einer Bandbreite an unterschiedlichsten Themenbereichen im Berufsalltag von PR-Berater*innen. Dementsprechend wurden in einem ersten Schritt Konfliktfelder aus der Literatur abgeleitet (z. B. Becher 1996; Bentele 2015; Förg 2004; Rademacher 2010), die im Berufsalltag von Berater*innen potentiell zu finden sind, etwa Kodizes und Regeln, Legalität vs. Legitimität oder Loyalitätsverpflichtungen. Ergänzend zur Fachliteratur und zu den ethischen Richtlinien der PR-Kodizes wurden auch andere Quellen für die Kategorienerstellung hinzugezogen. Ausschlaggebend war der vorhandene Bezug von Berater*innen zum Konflikt. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das umgangssprachliche Sprichwort Der Zweck heiligt die Mittel, das als potenzielle Richtlinie in Konfliktsituation gelten kann und insbesondere aufgrund der untersuchten Ethikdimensionen relevant für die Thematik ist. Insgesamt wurden 13 Kategorien identifiziert. Für jede Kategorie wurde im Anschluss ein verantwortungsund ein gesinnungsethisch orientiertes Statement formuliert. Als Beispiel: Innerhalb der Kategorie Wertloyalität als Egoismus lauten die zwei Statements: 1) „In
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Abb. 1 Raster mit 25 Statements. (Quelle: Eigene Darstellung nach Müller und Kals (2004)
einem professionellen Umfeld wäre es egoistisch, eigene Werte voran zu stellen“ (verantwortungsethisch) und „Persönliche Prinzipien haben immer Vorrang“ (gesinnungsethisch). Diese Vorgehensweise wurde auch für die restlichen Kategorien übernommen (für eine Übersicht aller Kategorien und Statements, siehe Tab. 5 im Anhang). Eine der Kategorien besitzt lediglich ein Statement. Um gleichwertig viele Statements für die Verantwortungs- sowie die Gesinnungsethik vorzuweisen, wurde es jedoch neutral behandelt und dient lediglich des pyramidenförmigen Rasteraufbaus mit nur einer zugelassenen Extremkategorie an den äußeren Polen (−4 und +4) bei Nutzung einer 9-stufigen Skala (Abb. 1). Das finale Q-Sample enthält 25 Statements. Es wurde zuvor in einem Pretest mit rund 40 Studierenden getestet und danach überarbeitet.
3.3 Ablauf der Untersuchung Die Erhebung fand im Januar 2018 mit insgesamt 14 Berater*innen (sechs männlich und acht weiblich) einer deutschen GPRA-Agentur persönlich statt. Alle Proband*innen haben zu Beginn der Erhebung ihr schriftliches Einverständnis für die Befragung gegeben und zusätzlich einen allgemeinen Fragebogen mit demografischen Daten ausgefüllt, zudem wurden teilweise ergänzende Interviews geführt. Die Proband*innen wurden einzeln gebeten, einen Kartenstapel (das QSample) mit den 25 ausgedruckten Statements in zufälliger Reihenfolge in zwei Schritten zu sortieren. Zuerst wurden die Karten in drei Stapel eingeteilt: 1) stimme zu/für mich charakteristisch 2) neutral/unsicher 3) stimme nicht zu/für mich nicht charakteristisch. Dies hilft, einen Überblick über die Aussagen zu
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erhalten und erleichtert die finale Sortierung (Watts und Stenner 2012). Anschließend folgte die für die Q-Methode speziell vorgesehene Zuteilung in ein Raster. Die Form des Rasters (Anzahl der Statements, Länge der Skala) kann beliebig für das Forschungsvorhaben angepasst werden. Man unterscheidet zwischen vorgegebenen (forced) und offenen (unforced) Q-Sorts. Die offene Sortierung eignet sich vor allem zur explorativen Hypothesenbildung. Der Vorteil an vorgegebenen Q-Samples hingegen besteht darin, dass Zustimmung und Ablehnung gleichermaßen abgefragt werden. So können alle Statements besser in Relation zueinander gesetzt werden. In der vorliegenden Studie haben wir uns für ein vorgegebenes Verteilungsverfahren mit 25 Statements auf einer 9-stufigen Skala mit nur einem einzelnen Statement an den Extrempolen entschieden (siehe Abb. 1). Nachdem die Proband*innen ihre Sortierung und die Fragebögen abgeschlossen hatten, wurde das fertig bearbeitete Q-Sort fotografiert und später für die Auswertung digitalisiert.
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Ergebnisdiskussion
4.1 Gütekriterien und Faktorenbildung Für die Auswertung wurde das speziell für die Q-Methode entwickelte Programm Ken-Q Analysis (Banasick 2018) herangezogen. Im ersten Schritt wird mit der Datenbasis eine Q-Korrelationsmatrix der Q-Sorts (14 × 14) errechnet, die die Grundlage für die faktorenanalytische Q-Technik bildet (Mowrer 1953). Das Kaiser–Meyer–Olkin–Kriterium (KMO = .62) und ein hoch signifikanter Bartlett-Test (p < .001) deuten auf vorhandene Korrelationen zwischen den untersuchten Items der Personen und damit die grundsätzliche Eignung der Daten für die darauffolgende Hauptkomponentenanalyse (Principal Component Analysis, kurz PCA) hin. Die PCA setzt zudem voraus, dass die Daten intervallskaliert und annähernd normalverteilt sind. Durch das spezielle Design der Q-Sets sind diese beiden Bedingungen ebenfalls erfüllt. Mithilfe von statistischen Kriterien (Eigenwert und Scree-Plot) wurde die Anzahl der zu extrahierenden Faktoren bestimmt. Der Eigenwert (Eigenvalue) bestimmt als Maßstab, welcher Anteil der Varianz der Ausgangsvariablen durch den jeweiligen Faktor erklärt werden kann (Backhaus et al. 2018). Auf Grundlage des Kaiser-Kriteriums (Eigenwerte > 1) und des Scree-Plots wurden drei Faktoren extrahiert, die insgesamt 64 % der Gesamtvarianz in den Items erklären können. In Tab. 1 ist eine Übersicht der extrahierten Faktoren zu sehen.
Der Wertekompass von PR-Berater*innen in ethischen Konflikten
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Tab. 1 Hauptkomponentenanalyse mit Oblimin-Rotation Alter, Geschlecht
Rotierte Faktorladung
Kommunalitäten (h2 )
Faktor 1 b1
35, M
.83
.70
b2
31, M
.86
.79
b3
33, W
.51
.49
b10
26, W
.59
.59
b12
26, M
.68
.54
b13
32, M
.68
.48
Faktor 2 b4
32, M
.72
.69
b5
28, W
.55
.58
b6
35, W
.62
.67
b7
31, W
.75
.57
b11
31, M
.88
.85
b14
31, W
.56
.40
b8
32, W
−.67
.78
b9
32, W
.67
.73
Faktor 3
Eigenwert
Erklärte Varianz (%)
5.87
29.00
1.67
25.00
1.33
10.00
Anmerkung. Kumulierte Gesamtvarianz: 64.00 %. KMO = .62, Bartlett-Test auf Sphärizität: