Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung [1 ed.] 9783428502561, 9783428102563

Das Zivilprozessrecht trennt strikt zwischen dem Parteivortrag einerseits und der Parteivernehmung andererseits. Mit dem

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Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung [1 ed.]
 9783428502561, 9783428102563

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Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft

Band 138

Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung Von

Michael Kruse

Duncker & Humblot · Berlin

M I C H A E L KRUSE

Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dörner

Dr. Dirk Ehlers

Band 138

Dr. Ursula Nelles

Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung

Von Michael Kruse

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kruse, Michael: Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung / Michael Kruse. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 138) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10256-8

D 6 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-10256-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Fakultät für Rechtswissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Mein aufrichtiger Dank gilt vor allem Herrn Prof. Dencker. Er hat mich und diese Arbeit in jeder Hinsicht gefördert und betreut. Vor allem danke ich für die schöne und fruchtbare Zeit an seinem Institut. Herrn Prof. Stein danke ich für die (groß-)zügige Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn Prof. Welp für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Schließlich bedanke ich mich für anregende Diskussionen und tatkräftige Hilfe bei Torsten Schmitz, Petra Velten, Michael Rietmann, Joachim Enk und meinem Vater.

Münster, im November 2000

Michael Kruse

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

Erstes Kapitel

Tatsachenvortrag der Parteien

13

I.

Überblick

13

II.

Einführung

13

III. Parteiprozeß

16

IV. Verlesung des Anklagesatzes

24

V.

Die Vernehmung des Angeklagten

31

1.

Die Einrichtung der Vernehmung

31

2.

Die Funktion der Vernehmung des Angeklagten nach herrschender Auffassung 35

3.

Die gesetzlichen Grundlagen a)

b)

39

Die Sonderrolle des Geständnisses

40

aa) Der Begriff vom Geständnis

40

bb) Verständnis des historischen Gesetzgebers

41

cc) Vorbehalt

44

Der Begriff des Beweismittels

45

aa) Der Begriff des Beweismittels in der Literatur

46

bb) Der Begriff des Beweismittels für die weitere Untersuchung

47

cc) Der Angeklagte als Beweisobjekt

48

dd) Ergebnis

49

c)

Der Begriff der Vernehmung

50

d)

Pflicht zum Erscheinen und Anordnung des persönlichen Erscheinens... 51

e)

Verlesung eines richterlichen Protokolls

53

aa) Entstehungsgeschichte des § 254 StPO

54

bb) Protokollverlesung und Beweismitteleigenschaft

57

cc) Urkundenbeweis

59

dd) Zusammenfassung

60

Inhaltsverzeichnis

8

4.

f)

Fragerecht

61

g)

Zusammenfassung

63

Eigener Ansatz

63

a)

Grenzen einer Definition

64

b)

Die Rolle des Angeklagten als Aussageperson

65

c)

Vergleich mit dem Zivilprozeß

68

aa) Die Erklärungsrechte im Zivilprozeß

70

d)

bb) Die Parteivernehmung

77

cc) Das Geständnis im Zivilprozeß

80

dd) Prozeßmodell des historischen Gesetzgebers

82

Konsequenzen

83

aa) Grundlagen

83

bb) Die Konsequenzen im einzelnen

84

( 1 ) Umfang und Inhalt der Einlassung

84

(2) Gegenstand der Einlassung

86

(3) Würdigung der Einlassung

88

(4) Vertretung in der Einlassung

91

(5) Zulässigkeit von Vorhalten

95

(6) Zusammenfassung

99

VI. Weitere Beteiligte

100

1.

Der Privatkläger

102

2.

Nebenkläger

105

a)

Rückblick auf die RStPO

106

b)

Mitwirkung des Nebenklägers an der Sachverhaltsfeststellung

3.

4.

107

Sonstige Beteiligung des Verletzten

111

a)

Adhäsionsverfahren

111

b)

Sonstige Befugnisse des Verletzten

113

Zusammenfassung

114 Zweites Kapitel

Die Beweisaufnahme

115

I.

Einleitung

116

II.

Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung

117

III. Der Beweisantrag 1.

Definition

118 118

Inhaltsverzeichnis 2.

Beweisbehauptung

120

a)

120

b)

Beweisbehauptung als Erklärungsrecht

122

c)

Die Abgrenzung zum Beweisermittlungsantrag

123

aa) Vermutungsrechtsprechung

123

d) 3.

Inhalt der Beweisbehauptung

bb) Bestimmtheit der Tatsachenbehauptung

130

Fazit

135

Die Beweismittel

136

a)

Anforderung an die Bestimmtheit des Beweismittels

136

b)

Austausch von Beweismitteln derselben Kategorie

137

c)

Austausch der Beweismittelkategorien

141

d)

Ergebnis

149

IV. Die Ablehnungsgründe 1.

V.

Struktur der Ablehnungsgründe

150 151

2.

Unzulässigkeit der Beweiserhebung

152

3.

Offenkundigkeit

153

4.

Ohne Bedeutung

154

5.

Schon erwiesen

156

6.

Völlige Ungeeignetheit des Beweismittels

157

7.

Unerreichbarkeit

160

8.

Prozeßverschleppungsabsicht

161

9.

Wahrunterstellung

165

10. Sachkunde des Gerichts

169

11. Gegenteil bereits erwiesen

171

12. Augenschein/Auslandszeugen

172

13. Zusammenfassung

174

Der Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht

176

1.

Bedeutung für die Entscheidung

177

2.

Sonstige Ablehnungsgründe

177

3.

Verhältnis von Aufklärungspflicht und Beweisablehnungsgründen

184

4.

Beweisantizipationsverbot

189

a)

Beweismittel

191

b)

Beweistatsache

194

c)

Beweisprognose

197

d)

Zusammenfassung

198

10

Inhaltsverzeichnis 5.

Erweiterte Aufklärungspflicht gemäß § 245 I StPO

199

6.

Einschränkung der Aufklärungspflicht, Schätzklauseln

200

7.

Verhältnismäßigkeitsprinzip

201

VI. Zusammenfassung

202 Drittes

Kapitel

Sonstige Erklärungsrechte (§§ 257, 258 StPO)

206

I.

Einleitung

206

II.

Befragung gemäß § 257 StPO

206

III. Schlußvorträge gemäß § 258 I StPO

209

IV. Das letzte Wort des Angeklagten

211 Schluß

218

Literaturverzeichnis

222

Sachverzeichnis

234

Einleitung Wie immer ein Angeklagter sich in der Hauptverhandlung verhält - der Umgang mit seiner Einlassung oder auch seinem Schweigen bereitet in der Praxis Schwierigkeiten. Nach weit über lOOjähriger Geltung der Strafprozeßordnung haben sich zwar Kriterien herausgebildet, die eine rechtliche Bewertung des Verhaltens des Angeklagten im Prozeß zulassen. Diese sind aber vor allem von der Praxis aus Zweckmäßigkeitserwägungen und nicht aus dem Gesetz entwikkelt worden. Dabei stehen die Ergebnisse oft in krassem Gegensatz zum Gesetzestext. An dieser Stelle mag der Hinweis auf § 244 I StPO genügen: „Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme." Diese Trennung von Einlassung und Beweisaufnahme wird allseits weginterpretiert, die Einlassung als Beweisaufnahme im weiteren 1, im materiellen 2 oder im untechnischen3 Sinne bezeichnet4. Trotz der in den Ergebnissen erreichten weitgehenden Einmütigkeit bestehen erhebliche Unsicherheiten im Umgang mit dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten. Es ist bislang nicht gelungen, die Rolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung widerspruchsfrei zu beschreiben, und die bisherigen Definitionsversuche weisen erhebliche Brüche in der Argumentation auf. Diese Unsicherheiten beruhen vor allem darauf, daß die gesetzlichen Regelungen der Hauptverhandlung eine klare Dogmatik vermissen lassen. Der Gesetzgeber von 1877 hat zweifelsohne einen Kompromiß abgeliefert, der die letzte Stringenz vermissen läßt. Es galt, etwas völlig Neues zu schaffen. Der alte Inquisitionsprozeß hatte ausgedient. Die Zeit der Aufklärung verlangte nach einem gerechteren Verfahren. Als Vorbilder dienten die Partikulargesetze der Länder ebenso wie ausländische Verfahrensordnungen, insbesondere die französische und die englische Ordnung. Aus allen Gesetzen versuchte man das Beste herauszufiltern 5, so daß die zugrundeliegenden Verfahrensprinzipien nicht in reiner Form verwirklicht sind. Zudem wurden zahlreiche neue Institutionen eingeführt. Die Verunsicherung des Gesetzgebers wird sehr eindrucksvoll beschrie-

1

Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244, Rn. 2; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 11, Rn. 16. KK-Herdegen, § 244, Rn. 2. 3 Roxin, § 25, Rn. 1. 4 Zu weiteren „Vokabeln" vgl. SK-Rogali, Vor § 133, Rn. 124; Prittwitz, S. 201 ff., jeweils m. w. N. 2

5

Vgl. hierzu auch die Einleitung der Motive, Hahn, S. 71.

Einleitung

12

ben in der Einleitung des Berichts der Kommission zur Vorberathung des Entwurfs 6. Auch der Zeitdruck - die zeitgleich entworfene Zivilprozeßordnung 7 und das Gerichtsverfassungsgesetz 8 waren fertiggestellt und sollten in Kraft treten 9, zum anderen galt bereits das neue Reichsstrafgesetzbuch, dem man nun mit einer neuen Prozeßordnung den Durchbruch verschaffen wollte 10 - mag Ursache dafür gewesen sein, daß im Gesetzgebungsverfahren nicht alle Details zufriedenstellend ausdiskutiert werden konnten. So ließ bereits der damalige Gesetzgeber erkennen, daß er für weitere Reformen durchaus offen war und diese schon bald erwartete 11. Eine dogmatische Aufarbeitung der Strukturen der Hauptverhandlung will diese Arbeit angehen. Die Eingrenzung des Themas läßt sich dem Titel weitestgehend entnehmen. Zum einen soll sich die Untersuchung auf die Hauptverhandlung beschränken. Vor allem das Ermittlungsverfahren weist eigene Strukturen auf und soll aus der Untersuchung weitestgehend ausgegrenzt werden. Zum anderen geht es um die Möglichkeiten der Parteien, durch Erklärungen auf die „Sachverhaltsfeststellung" Einfluß zu nehmen. Damit gemeint ist vor allem der Kern der strafprozessualen Wahrheitsfindung, die Feststellung aller für die Schuld- und Straffrage erheblichen Tatsachen. Die Einflußnahme der Beteiligten auf die Erörterung von Rechtsfragen bleibt hingegen außer Betracht, ebenso die Feststellung allein prozessual erheblicher Tatsachen. Schwerpunkt der Untersuchung soll die Rolle des Angeklagten sein. Diese isoliert zu untersuchen erscheint aber wenig aussichtsreich: Die Wechselwirkung mit den Einflußmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft 12 kann ebensowenig ausgeblendet werden wie die Interaktion mit der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Die Fragestellung läßt sich also wie folgt präzisieren: Wie klärt das Gericht den Sachverhalt auf und wie wird es dabei von dem Staatsanwalt und dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger beeinflußt? Diese komplexe Frage muß entfächert werden. Der Gang der Untersuchung soll sich dabei an dem im Gesetz vorgezeichneten Gang der Hauptverhandlung orientieren (siehe vor allem §§ 243 ff. StPO) mit folgenden markanten Stationen: Verlesung des Anklagesatzes und Vernehmung des Angeklagten (1. Kapitel), Beweisaufnahme (2. Kapitel), Erklärungen gemäß § 257 StPO und Schlußvorträge (3. Kapitel). 6

Hahn, S. 1532 ff. ZPO vom 30.1.1877. 8 G V G vom 27.1.1877. 9 Die sogenannten Reichsjustizgesetze traten am 1.10.1879 in Kraft. 10 Vgl. den Bericht der Kommission des Reichstages, Hahn, S. 1536. 11 Wie Fn. zuvor; vgl. auch Schäfer in LR, 24. Aufl., Bini., Kap. 4, Rn. 2. 12 Gemeint ist auch das, was sich hinter dem Stichwort „Waffengleichheit" verbirgt, vgl. etwa Müller, NJW 1976, S. 1063; Kohlmann, FS Peters, S. 311; SK-Rogali, vor § 133, Rn. 106 ff. Vor allem aber läßt sich eine Prozeßrolle nicht isoliert definieren; das Verhältnis zu den anderen Verfahrensbeteiligten bestimmt die Rolle entscheidend mit. 7

Erstes Kapitel

Tatsachenvortrag der Parteien

I. Überblick Die Strafprozeßordnung beschreibt dezidiert den Ablauf der Hauptverhandlung. Die einleitenden Vorschriften des § 243 I, II StPO sind organisatorischer Art. Die Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung beginnt mit der Verlesung der Anklageschrift durch den Staatsanwalt und die sich daran anschließende Vernehmung des Angeklagten zur Sache, also dem Tatsachenvortrag der Parteien. Dieser Parteivortrag bildet die Grundlage für die Sachverhaltsfeststellung. Der Ablauf der Hauptverhandlung bis zu diesem Zeitpunkt des Parteivortrages wird in der Einführung (II.) skizziert. Der Parteibegriff wird auch für die Verfahrensbeteiligten des Strafverfahrens bewußt wiederbelebt, ohne hieran neue Inhalte knüpfen zu wollen; das bedarf allerdings einer Begründung (III.). Sodann werden die Parteierklärungen näher untersucht; vorab die Verlesung der Anklageschrift (IV.) und dann die Vernehmung des Angeklagten zur Sache (V.). Letztere bildet den Schwerpunkt der Arbeit, geht es doch vor allem darum, die Rolle des Angeklagten zu definieren. Die bislang wohl unbestrittene Auffassung, die Vernehmung des Angeklagten diene zumindest auch der Wahrheitsfindung, soll in Frage gestellt und mit einem anderen Prozeßmodell konfrontiert werden, das den Angeklagten ausschließlich als „Verfahrenssubjekt" sieht. Abschließend wird auch die Rolle weiterer Verfahrensbeteiligter angedacht (VI.), allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht vorrangig darum, die erarbeitete Rollenbeschreibung des Angeklagten auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen und durch den Vergleich mit den Verfahrensrollen anderer Beteiligter argumentativ zu unterstützen.

II. Einführung Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf zur Sache (§ 243 I 1 StPO). Dann stellt der Vorsitzende fest, ob der Angeklagte und der Verteidiger anwesend sind und die Beweismittel herbeigeschafft, insbesondere die geladenen Zeugen und Sachverständigen erschienen sind (§ 243 I 2 StPO). Diese Rege-

14

1. Kap. : Tatsachenvortrag der Parteien

lung ist rein organisatorischer Art 1 . Es soll festgestellt werden, ob eine Hauptverhandlung durchgeführt werden kann2. Notwendige Beteiligte müssen erschienen sein (vgl. §§ 226, 230, 145 I StPO). Die Beweismittel sollen präsent sein, damit noch im gleichen Termin Beweis erhoben und die Einheit der Hauptverhandlung gewahrt werden kann. Diese frühe Feststellung ermöglicht es dem Vorsitzenden, fehlende Beweismittel noch herbeizuschaffen oder gegebenenfalls die Aussetzung anzuordnen, um überflüssiges 3 Prozessieren zu vermeiden4. Keinesfalls sollen durch das Präsentieren aller verfügbaren Beweismittel der Angeklagte oder die Laienrichter beeindruckt werden. Der umsichtige Vorsitzende wird Zeugen regelmäßig zu einem späteren Zeitpunkt und zeitlich gestaffelt laden, um unnötige Wartezeiten zu vermeiden. So sieht es auch das Gesetz in § 214 II StPO5 vor. Bei umfangreicheren Verfahren sollten daher noch keine (oder zumindest nicht alle) Zeugen zu diesem frühen Zeitpunkt geladen werden. Auch die in der Praxis durchaus übliche6 gleichzeitige Belehrung aller Zeugen gemäß § 57 StPO in diesem Verfahrensstadium rechtfertigt nicht deren gleichzeitige Ladung. Sie ist im übrigen vom Gesetz nicht vorgesehen und wenig sachdienlich. Zum einen wird diese Sammelbelehrung der eigentlichen Bedeutung der Belehrung nicht gerecht und stuft sie zur Förmlichkeit ab7. Es ist doch ein erheblicher Unterschied, ob ein Polizeibeamter, der regelmäßig als Zeuge vor Gericht aussagen muß, zu belehren ist oder jemand, der erstmals mit der Zeugenrolle konfrontiert ist. Wesentlich wirkungsvoller dürfte die individuelle, auf den Zeugen zugeschnittene Belehrung sein8. Zum anderen wird ein Teil der Beweisaufnahme vorgezogen 9, der in diesem rein organisatorischen Stadium verfehlt ist. Das Gesetz grenzt die verschiedenen Phasen der Hauptverhandlung deutlich voneinander ab, vor allem die Feststellungen gemäß § 243 I 2 StPO von der Vernehmung des Angeklagten (§ 243 II 2, IV StPO) und von der Beweisaufnahme (§ 244 I StPO). Eine Sammelbelehrung mag

1

Vgl. auch die Begründung zum Entwurf des StPÄG, BT-Dr. IV/178, S. 40: „enthält nur ergänzende verfahrenstechnische Vorschriften". 2 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 5. 3 Vgl. § 229 IV StPO. 4 So auch die Motive, Hahn, S. 191 und 1581. 5 Siehe ergänzend Nr. 116 IV RiStBV. 6 Schellenberg, S. 79: „entspricht überwiegender Praxis"; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 11, Rn. 10: „weitverbreitete forensische Praxis". 7 Vgl. dagegen Nr. 130 RiStBV. 8 Für eine individuelle Belehrung auch Schellenberg, S. 80. 9 Vgl. § 57 (i. V. m. § 72): Vor der Vernehmung sind die Zeugen zur Wahrheit zu ermahnen ...

II. Einführung

15

zwar praktikabel sein 10 und dem Gesetz nicht ausdrücklich widersprechen 11 jedenfalls legt die Strafprozeßordnung eine individuelle Belehrung unmittelbar vor der Vernehmung eines jeden Zeugen zumindest nahe, und eine solche kann ihren Zweck wesentlich effektiver erfüllen. Die Zeugen verlassen den Sitzungssaal (§ 243 II 1 StPO), um von dem weiteren Geschehen unbeeinflußt zu bleiben. Dann vernimmt der Vorsitzende den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse (§ 243 II 2 StPO). Hierin liegt noch keine Sachverhaltsaufklärung: Das Gericht ist noch nicht mit der Sache befaßt. Der Gegenstand der Verhandlung - die Sache - ist noch gar nicht bekanntgegeben. Die Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse dient vielmehr der Identitätsfeststellung 12. Allerdings hat sich das Gericht im Rahmen der Feststellungen gemäß § 243 I 2 StPO bereits von der Identität des Angeklagten überzeugen müssen; nur so kann es feststellen, ob der Angeklagten erschienen ist. Die Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse erfüllt daher so recht keine Funktion 13 . Dementsprechend sollte sich die Vernehmung auf ein Minimum beschränken, etwa auf die Frage, ob der Erschienene die Person sei, gegen die die Strafsache soeben aufgerufen wurde. Die in der Praxis übliche Feststellung weiterer Daten 14 ist überflüssig und gesetzeswidrig, wenn sie sich - was oft der Fall ist - auf Tatsachen bezieht, die für die Schuld- oder Straffrage relevant sind. Nach solchen Daten darf nur aufgrund einer vorangegangenen Belehrung gemäß § 243 IV 1 StPO gefragt werden. Darauf verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz (§ 243 III 1 StPO). Hier wird das Gericht zum ersten Mal mit der Sache, dem zu beurteilenden Sachverhalt, befaßt. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet die Tat, welche sie dem Ange-

10 Vor allem die Protokollvordrucke enthalten regelmäßig an dieser Stelle den Hinweis auf die (Sammel-)Belehrung der Zeugen, vgl. etwa Schäfer, S. 443. Die Urteile werden somit zwar unter diesem Gesichtspunkt revisionssicher, doch wird dadurch die Förmlichkeit der Belehrung nur unterstützt; die Vorsitzenden sollten statt dessen sich und den Zeugen die Bedeutung der Aussage durch individuelle Belehrungen vor Augen führen. 11 So zumindest die Begründung zum StPÄG, BT-Dr. IV/178, S. 40: „Die Neufassung hindert nicht, daß die Zeugen vorher gemeinsam zur Wahrheit ermahnt und auf die Bedeutung des Eides hingewiesen werden (§ 57)." Man kann das Gesetz aber auch anders interpretieren: Zunächst hat der Vorsitzende nur das Vorhandensein aller Beweismittel zu prüfen (§ 243 I 2 StPO); erst vor ihrer Vernehmung sind die Zeugen zu belehren, § 57 StPO. 12 Allg. Auffassung, statt aller Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 11. 13 Vgl. hierzu Kruse, RuP 1998, S. 162 ff., 163. 14 Die Gerichte orientieren sich regelmäßig an § 111 OWiG, ζ. T. gehen sie (weit) darüber hinaus.

16

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

klagten zur Last legt, sowie Zeit und Ort ihrer Begehung 15 . Die Funktion der Verlesung des Anklagesatzes wird noch näher zu untersuchen sein 16 . Festzuhalten ist jedoch schon an dieser Stelle, daß es sich inhaltlich um die Aufstellung einer (zu beweisenden) Tatsachenbehauptung handelt, und zwar um die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Strafa/7-

spruchs 17 ähnlich einer Klage im Zivilprozeß, vgl. § 253 II Nr. 2 ZPO. Die Staatsanwaltschaft behauptet ein bestimmtes Geschehen, einen Sachverhalt. Diese Behauptung hat das Gericht zur Kenntnis zu nehmen und im Rahmen seiner Möglichkeiten das Geschehen aufzuklären, darüber Beweis zu erheben. Doch zuvor darf der Angeklagte sich zur Anklage äußern 18 , um die Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen 19 . Auch hier handelt es sich der Sache nach um (vom Gericht zu berücksichtigende) Tatsachenbehauptungen. Der Angeklagte tut seine Version des Geschehens kund - oder er schweigt. Grundlage ftir die (weitere) Sachverhaltsfeststellung durch das Gericht ist also der Tatsachenvortrag der „Partei-

I i i . Parteiprozeß Der kundige Strafprozeßrechtler wird die provokative Formulierung vom „Parteiprozeß" sofort aufgreifen und berichtigen: Der deutsche Strafprozeß sei ein Amtsprozeß; es herrsche der Amtsaufklärungsgrundsatz, der Untersuchungsgrundsatz, das Instruktionsprinzip bzw. die Inquisitionsmaxime 21 ; so lehren es die Lehrbücher 22 und Kommentare 23 .

15 Vgl. § 200 I 1 StPO; die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Vorschriften betreffen die Subsumtion, also eine Rechtsfrage, die ausgeklammert werden soll. 16 S. 28 ff. 17 Die Hervorhebungen entsprechen dem Wortlaut des § 253 II Nr. 2 ZPO. 18 Vgl. § 243 IV 1 StPO. 19 Vgl. § 243 IV 2 i. V. m. § 136 II StPO. 20 Planck, S. 172, beschreibt die „Thätigkeit der Partheien" wie folgt: „Die eigentliche Aufgabe der Partheien ist, das Gericht durch Vorlage des erforderlichen Stoffs zur Aburtheilung in den Stand zu versetzen." 21 Die Bezeichnungen sind synonym und werden ζ. T. nebeneinander verwendet. 22 Ausführlich zu den Prozeßmaximen, Roxin, §§ 11 ff, § 15; Beulke, Rn. 15 ff.; Kühne, S. 89 ff.; Krey, Band II, Rn. 120 ff. 23 Vgl. etwa KK-Pfeiffer, Einleitung, Rn. 3 ff., 7; Schäfer in LR, 24. Aufl., Einl. Kap. 13, Rn. 44 ff.

III. Parteiprozeß

17

Die Ermittlung des wahren Sachverhaltes ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses 24 . Ergänzt w i r d die Charakterisierung des Strafprozesses m i t dem Hinweis, er sei gerade kein Parteiprozeß wie das zivilrechtliche Verfahren 2 5 . Es darf also als gesichertes Allgemeinwissen angesehen werden, daß es sich beim Strafprozeß eben nicht um einen Parteiprozeß handelt. Das war nicht immer so. Gerade in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der RStPO wurde der Strafprozeß, ohne das zu problematisieren, als Parteiprozeß bezeichnet 2 6 . Auch der Gesetzgeber selbst verwendete den B e g r i f f v o m Parteiprozeß übrigens mehrfach 2 7 . Wie kommt es nun, daß ein Gesetz, das insoweit inhaltlich keine Änderung erfahren hat, einmal als Parteiprozeß bezeichnet w i r d und ein anderes M a l diese Bezeichnung vehement 2 8 abgelehnt wird? Es liegt w o h l daran, daß der Strafprozeß ein Zwitterwesen darstellt. K a u m eines der Prinzipien, mit denen er zutreffend umschrieben werden soll, erfährt nicht zahlreiche Ausnahmen. Die Bezeichnung mit einem Schlagwort 2 9 ist daher oftmals nicht falsch oder richtig, sondern vielmehr eine Frage der Definition. Der Streit um die treffende Vokabel ist inhaltlich wenig aussagekräftig. Gleichwohl soll

24

Zur Begründung wird regelmäßig die Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 57, 250, 275 zitiert - und damit aus dem Zusammenhang gerissen. Das BVerfG hat in der Entscheidung zum Ausdruck gebracht, daß die Wahrheitsfindung durch verfahrensrechtliche Vorschriften - es ging um die Anwendung des § 251 II StPO auf behördlich geheimgehaltene Zeugen - nicht zum Nachteil des Angeklagten gekürzt werden dürfe, um das Schuldprinzip sicherzustellen: „Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann." Isoliert verwendet erweckt das Zitat den Anschein, als rechtfertige die Erforschung der Wahrheit auch die Beschneidung von Verfahrensrechten; so wird das Zitat jedenfalls regelmäßig (miß-)verstanden. 25 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. 9; KK-Pfeiffer, Einleitung, Rn. 2 und in der Abgrenzung zum Zivilprozeß besonders deutlich Peters, S. 15 ff. Vgl. zum Meinungsstand auch LR-Rieß, Einl. Abschnitt I, Rn. 53 ff. 26 Vgl. etwa Hugo Meyer, S. 8; Bennecke-Beling, S. 373 ff.; Beling, S. 132 und passim; Birkmeyer, S. 144, 376 ff.; Ulimann, S. 235 ff. und passim; Hellweg, S. 131; Kries, S. 219; vor Inkrafttreten der RStPO Planck, S. 162 ff. und passim; Zachariae, Handbuch, II, S. 77 f., 371; weitere Nachweise bei Peters, S. 102. Siehe neuerdings auch Klug, ZRP 1999, S. 288 ff. 27 Im Gesetzestext selbst allerdings nur in § 380 II (Abs. 4 heutiger Fassung) und 503 V RStPO. Auch ein Antrag Wollfsons zur Fassung des § 202 (dem heutigen § 239 II entsprechend) enthielt den Begriff „Parteien"; er wurde angenommen (vgl. Hahn, S. 840), letztlich aber nicht Gesetz. (Vgl. auch noch die §§ 336 und 356 StGB, die unstreitig auch den Angeklagten als Partei erfassen.) In den Materialien wird der Parteibegriff jedoch vielfach verwandt, vgl. etwa Hahn, S. 147, 152, 189, 506 f., 830, 832 f., 846; 1356 f.; 1361; 1574; 1900 f. Auch die Bezeichnung der Verfahrensbeteiligten als „Gegner" (siehe §§ 303 S. 1, 308 I 1, 311 a I 1, 347 I 1 StPO) deutet auf einen Parteiprozeß hin. 28

Vor allem Peters, S. 101 f. Selbst in den Motiven zur RStPO wird vor dem Umgang mit solchen Ausdrücken gewarnt, siehe Bericht der Kommission, bei Hahn, S. 1533. 29

2 Kruse

18

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

die Frage noch einmal aufgeworfen werden, weil gewisse Schlagworte sich durchgesetzt haben, und man sich daran gewöhnt hat, Inhalte daran zu knüpfen, die so nicht immer zutreffen. Da das gängige Verständnis vom Parteiprozeß offensichtlich geprägt ist von den Gegensätzen des Strafprozesses und des Zivilprozesses, sollen auch diese gegensätzlichen Prinzipien kurz aufgegriffen und in die zutreffende Relation gesetzt werden. Nochmals: Die Verfahrensprinzipien sollen weder in Abrede gestellt, noch neu definiert werden. Es soll nur verdeutlicht werden, daß die Definitionen in gewissem Umfang beliebig sind und sich aus solchen Schlagworten keine Argumente für die inhaltliche Beschreibung der Rollen der Verfahrensbeteiligten gewinnen lassen. Die Prozeßmaximen, die den Strafprozeß charakterisieren, sind neben den an dieser Stelle nicht interessierenden 30 Grundsätzen der Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, freien Beweiswürdigung und des rechtlichen Gehörs 31 vor allem der Anklagegrundsatz, das Legalitätsprinzip, der Ermittlungsgrundsatz (bzw. Amtsaufklärungsgrundsatz) und die Offizialmaxime. Das Legalitätsprinzip bindet die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und soll daher ausgeklammert werden. Der (An-)Klagegrundsatz besagt, daß ein gerichtliches Verfahren durch eine Klage bedingt ist. Dieser ist kein für den Strafprozeß typischer Grundsatz; er findet sich in allen Verfahrensordnungen wieder 32 , auch wenn ihm im Strafprozeß historisch eine besondere Bedeutung zukommt 33 . Die Offizialmaxime beinhaltet die Strafverfolgung durch den Staat vom Amts wegen. Dieser Grundsatz ist also ebenfalls nicht kennzeichnend für die Struktur der Hauptverhandlung - und ist überdies durchbrochen im Bereich der Privatklagedelikte (§§ 374 ff. StPO). Es bleibt also vor allem der Ermittlungsgrundsatz als die - strafprozessuale - Hauptverhandlung kennzeichnend. Der „Ermittlungsgrundsatz" umschreibt sicherlich zutreffend das, was das Gesetz in den §§ 155 II, 244 II StPO anordnet: Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind; das Gericht ist zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigt und verpflichtet. Der den Strafprozeß treffend kennzeichnende Begriff vom Ermittlungsgrundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt 34.

30 Hier deshalb nicht interessierend, weil sie nicht speziell den Strafprozeß charakterisieren, sondern für alle Verfahrensordnungen Geltung beanspruchen. 31 Die Aufzählung ist noch nicht vollständig, vgl. etwa die Übersichten bei Roxin, § 11, Rn. 1 f. und Pfeiffer, Einleitung, Rn. 1 ff. 32 Sprichwörtlich: „Wo kein Kläger, da kein Richter." 33 Der Anklagegrundsatz wurde immer als Gegenmodell zum Inquisitionsprinzip gehandelt. Vgl. hierzu auch Eb. Schmidt, Geschichte, S. 198 ff. 34 Man denke etwa an § 244 III - V StPO und an die Beweisverbote.

III. Parteiprozeß

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Die synonym verwendeten Schlagworte von der Instruktionsmaxime bzw. der Inquisitionsmaxime sollten vermieden werden, da sie den Strafprozeß nur sehr unzureichend kennzeichnen und eher falsche Inhalte suggerieren. Das Wort Inquisition ist historisch belegt und untrennbar verbunden mit der Vorstellung vom mittelalterlichen Inquisitionsprozeß, in dem der Richter zugleich der Ankläger war, und der vorrangig darauf gerichtet war, den Angeklagten durch ein erfoltertes Geständnis zu überfuhren 35. Die Lektüre der §§ 136, 136 a StPO mag in diesem Zusammenhang genügen zum Beleg dafür, daß der heutige Strafprozeß mit dem so verstandenen Inquisitionsprozeß keinerlei Gemeinsamkeiten aufweist. Auch die Instruktionsmaxime umschreibt den Strafprozeß nur unzureichend. Das Gericht instruiert sich nicht selbst. Es ist darauf angewiesen, daß Staatsanwaltschaft und Angeklagter Tatsachen behaupten, von deren Richtigkeit sich das Gericht dann überzeugen kann. Auch die Benennung möglicher Beweismittel erfolgt regelmäßig durch die Staatsanwaltschaft oder den Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft beherrscht das Ermittlungsverfahren. Sie ermittelt den Sachverhalt und stößt dabei auf mögliche Beweismittel. Die Beweise werden von ihr 3 6 erhoben 37, die Ergebnisse aktenkundig gemacht (§ 168 b StPO). In der Anklageschrift werden die erheblichen Beweismittel aufgezählt (§ 200 I 2 StPO). Diese Aufzählung ist nicht verbindlich, aber sicherlich richtungsweisend für das Vorgehen des Gerichts in der Beweisaufnahme. Die gerichtliche Tätigkeit in der Hauptverhandlung baut daher auf den Vorgaben auf, die sich aus den Akten ergeben. Die staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit hat maßgeblichen Einfluß auf die gerichtliche Aufklärungspflicht. Auch der Angeklagte bestimmt die Richtung der Ermittlungen schon im Ermittlungsverfahren maßgeblich mit. Er kann den Gang der Ermittlungen nicht nur durch gezielten Informationsfluß steuern, sondern auch Beweiserhebungen beantragen (vgl. § 136 I 3, 163 a II, 166 StPO) 38 . Der Gang der Hauptverhandlung ist daher durch die Akten im wesentlichen vorgezeichnet. Allein die Bezeichnung „Ermittlungsgrundsatz" ist also grundsätzlich geeignet, die Hauptverhandlung des Strafprozesses zu charakterisieren und von der mündlichen Verhandlung des Zivilprozesses abzugrenzen. Dabei ist aber zweierlei zu bedenken: Der Ermittlungsgrundsatz gilt nicht uneingeschränkt 39 - und 35

Gegen die Bezeichnung „Inquisitionsprinzip" auch Beulke, Rn. 21. Faktisch vorwiegend von der Polizei (vgl. §§ 161, 163 StPO). 37 Bzw. ihre Erhebung beantragt, wenn eine richterliche Untersuchungshandlung erforderlich ist, § 162 StPO. 36

38 Auch im späteren Verlauf des Strafverfahrens kann er Beweiserhebungen beantragen, vgl. §§201 1,219 StPO. 39

Vgl. Fn. 34, Kap. 1. I. ü. erlaubt § 408 StPO die Verurteilung durch Strafbefehl allein aufgrund hinreichenden Tatverdachts nach Aktenlage, also ohne eigene Ermittlungen; auch die Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153 ff. StPO ist ohne Ausermitt2*

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

zweitens: Er gilt partiell in jeder Verfahrensordnung. Wenn in Lehrbüchern der Gegensatz zwischen Strafprozeß und Zivilprozeß herausgearbeitet und mit dem Begriffspaar „Ermittlungsgrundsatz" und „Verhandlungsgrundsatz" belegt wird, ist das eine Halbwahrheit. Im Zivilprozeß gilt grundsätzlich der Verhandlungsgrundsatz, aber ebensowenig uneingeschränkt wie im Strafprozeß der Ermittlungsgrundsatz. Schon § 138 I ZPO belegt, daß es auch im Zivilprozeß um die Suche nach der materiellen Wahrheit geht 40 , wenn den Parteien aufgegeben wird, sich vollständig und der Wahrheit gemäß zu erklären. Auch der Streit um die Frage, ob das Gericht seiner Entscheidung ein falsches Geständnis zugrunde legen muß 41 , erhellt, daß die Verhandlungsmöglichkeit der Parteien nicht grenzenlos sein kann. Soweit es um die Steuerung der Beweisaufnahme geht, ist der Grundsatz, daß das Gericht an die von den Parteien bezeichneten Beweismittel gebunden ist, nur für den Zeugenbeweis durchnormiert. Alle anderen Beweismittel können auch von Amts wegen erhoben werden (vgl. §§142 - 144 ZPO). Sogar die Partei selbst kann von Amts wegen zum Beweismittel erklärt werden: §§ 287 I 2, 3, 448 ZPO! Und übersieht eine Partei einen Beweisantritt durch Benennung eines Zeugen, hat das Gericht auf einen entsprechenden Antrag hinzuwirken, § 139 I ZPO. Auch aus den §§ 136 II, IV und 139 ZPO ergibt sich, daß das Gericht erheblichen Einfluß auf die Sachverhaltsaufklärung nimmt. Und schließlich liegt die Prozeßleitung - wie im Strafprozeß, § 238 I StPO - beim Vorsitzenden: Der Vorsitzende leitet die mündliche Verhandlung, § 136 I ZPO. Die Parteien können insoweit nicht „verhandeln", etwa durch Bestimmung der Reihenfolge der Beweiserhebungen Einfluß auf die Sachverhaltsaufklärung nehmen42. Insoweit bietet sogar die Strafprozeßordnung die größeren Einflußmöglichkeiten durch die - wenn auch praktisch kaum relevante - Vorschrift des § 239 I StPO. Ein solches Kreuzverhör sieht die ZPO nicht vor. Die oft beschworene Gegensätzlichkeit von Strafprozeß und Zivilprozeß ist so ausgeprägt also nicht, wie es das Begriffspaar Ermittlungsgrundsatz/ Verhandlungsgrundsatz zunächst suggeriert. Es hängt mit dem hinter dem Strafanspruch stehenden öffentlichen Interesse zusammen, daß die Ermittlung der Wahrheit im Strafprozeß von überragender Bedeutung ist. Das gilt aber nicht

lung des Sachverhaltes möglich; § 245 I 2 StPO stellt die Erhebung weiterer Beweise zur Disposition der Parteien und des Gerichts. 40 Vgl. auch Walter, S. 293, m. w. N. Kritisch zur Wahrheitspflicht allerdings unten, S. 60 ff. 41 Vgl. Thomas/Putzo, § 288, Rn. 7 m. w. N. 42 Bei der Fassung der strafprozessualen Vorschriften über die Verhandlungsleitung und die Fragerechte dienten die Vorschriften der CPO als Vorbild, vgl. vor allem die Begründung Bährs seiner Anträge, zitiert bei Hahn, S. 830 und 841, sowie die gleichlautenden Stellungnahmen von Krätzer, bei Hahn, S. 829, und Hanauer, bei Hahn, S. 841.

III. Parteiprozeß

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nur für den Strafprozeß, sondern für alle Streitgegenstände, hinter denen ein öffentliches Interesse steht. So erklärt sich die Geltung des Ermittlungsgrundsatzes auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 86 VwGO) oder auch in den Familien- und Kindschaftssachen nach dem sechsten Buch der Zivilprozeßordnung 43. In all diesen Verfahren ist der Streitgegenstand der Verfügung der Parteien entzogen. So gibt es konsequenterweise auch kein Anerkenntnis 44. Jedenfalls sind die suggerierten Gegensätze zwischen Strafprozeß und Zivilprozeß nur graduell. Je wesentlicher die Bedeutung des Klagegegenstandes ist, desto intensiver hat das Gericht die „materielle" Wahrheit zu erforschen. Das öffentliche Interesse an der Feststellung ist dabei nur ein - wenn auch der wesentliche - Aspekt. Die gesamte Rechtsordnung verlangt vom Gericht die Aufklärung einer Tatsache nur, wenn der Ermittlungsaufwand verhältnismäßig ist. Die Möglichkeit der Parteien, über den Prozeßstoff zu streiten, ist immer in Relation zu setzen zur Bedeutung der (erheblichen) Tatsache45. Die Verfahrensordnungen unterscheiden sich daher vor allem durch den Grad des Interesses, das hinter dem Klagegegenstand steht. Je größer das (öffentliche) Interesse ist, desto gründlicher hat das Gericht unabhängig von dem Parteivortrag Aufklärung zu betreiben, um die Wahrheit zu finden 46. Die in den Verfahrensordnungen ausgeprägten Maximen sind nur Grundsätze und unterliegen der Relativität. Ein weiterer die ZPO charakterisierender Grundsatz ist die Dispositionsmaxime, für die es kein Pendant im Strafprozeß gibt. Danach steht es den Parteien frei, über den Verfahrensgegenstand zu verfügen, und zwar auch nach Klageerhebung. Der Kläger etwa kann die Klage zurücknehmen oder auf den Anspruch verzichten, der Beklagte kann den Anspruch anerkennen. Solche Möglichkeiten bestehen im Strafprozeß grundsätzlich 47 nicht. Eine Klagerücknahme (auch) 43

§§ 616 f., 640 ZPO; vgl. auch § 12 FGG. Nur die ZPO kennt ein Anerkenntnis (§ 307), schließt es aber in den vom Ermittlungsgrundsatz beherrschten Verfahren aus, §§ 617, 640 I ZPO. 45 So erklären sich die Vorschriften, die es dem Gericht erlauben, Tatsachen zu schätzen, etwa die Einkünfte des Täters (§ 40 III StGB) oder die Schadenshöhe (§ 287 ZPO). 46 Auch in den Motiven findet sich diese Begründung fur die Abweichung von Strafverfahren und Zivilverfahren, siehe Hahn, S. 1534 f.: „Die Verschiedenheit der Objekte, welche den Gegenstand des Rechtsstreits in dem Civilprozesse und den Gegenstand der Untersuchung und der Aburtheilung in dem Strafprozesse bilden, steht einer gleichmäßigen Organisation beider Prozesse entgegen und duldet nicht, daß da, wo das Gemeinwesen selbst in höchstem Grade interessili und betheiligt ist und die Strafpflicht des Staats in Frage kommt, ohne Weiteres auf ein Verfahren zurückgegriffen werde, welches völlig gleiche Parteirechte mit dem vollen Dispositionsbefugnisse der Parteien voraussetzt." 44

47 Die Privatklage kann allerdings jederzeit zurückgenommen werden, § 391 StPO. Auch die Anschlußerklärung des Nebenklägers kann widerrufen (§ 402 StPO), der Antrag des Verletzten auf Entschädigung zurückgenommen werden (§ 404 IV StPO).

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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durch die Staatsanwaltschaft ist aber mit den Grundprinzipien der Strafprozeßordnung nicht unvereinbar 48; in den Motiven wurde § 156 (§ 154 RStPO) damit begründet, die Vorschrift entspreche dem in Deutschland schon jetzt geltenden und wohlbegründeten Rechte; die Staatsanwaltschaft könne zwar in gewissem Sinne als Partei aufgefaßt werden, eine Verfugung über die Klage könne ihr aber nicht eingeräumt werden 49 . Die die Verfahrensordnungen kennzeichnenden Schlagworte erweisen sich nur als Grundsätze, die durch zahlreiche Ausnahmen durchbrochen werden. Sie geben daher nur Tendenzen vor. Aus solchen Vokabeln können zuverlässige Argumente für die Auslegung des Verfahrensrechts nicht gewonnen werden. Aus der Geltung des Ermittlungsgrundsatzes kann daher auch nicht - wie es die h. M. vorgibt - geschlossen werden, daß es im Strafprozeß keine Parteien gebe. Zwar benutzt die ZPO den Begriff der Partei 50, während die StPO vom Staatsanwalt und Angeklagten spricht 51 . Damit ist aber noch nicht bewiesen, daß es im Strafprozeß keine Parteien gibt. Das ist vielmehr eine Frage der Definition. Eine solche Definition des Begriffs „Partei" könnte etwa lauten: Partei ist diejenige Person, von welcher oder gegen welche die staatliche Rechtsschutzhandlung begehrt wird 5 2 - oder ähnlich: Partei ist derjenige, von dem oder gegen den bei Gericht Rechtsschutz begehrt wird 5 3 . Unter diese Definitionen lassen sich Staatsanwalt54 und Angeklagter im Strafprozeß mühelos subsumieren. Der Staatsanwalt begehrt bei Gericht die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegen den Angeklagten. Allenfalls die Neutralitätspflicht der Staatsanwaltschaft ist untypisch fiir eine Parteistellung. Sie hat nicht einseitig alles zu ermitteln, um eine Bestrafung zu erwirken, sondern hat dafür Sorge zu tragen, daß aufgeklärt wird, ob der Strafanspruch verwirkt ist (vgl. vor allem § 160 II StPO). Das hängt aber weniger 48 Bei Strafbefehlsverfahren ist die Klagerücknahme auch durch die Staatsanwaltschaft vorgesehen, § 411 III 1 StPO. Vgl. zudem §§ 153 c III, 153 d II StPO. Schließlich soll die Staatsanwaltschaft die Klage nach allg. Auffassung zurücknehmen dürfen, wenn das Verfahren gemäß § 153 I oder § 153 a I eingestellt werden soll, Kleinknecht/MeyerGoßner, § 156, Rn. 5; LR-Rieß, § 156, Rn. 8; KK-Schoreit, § 156, Rn. 3; HK-Krehl, § 156, Rn. 3; AK-Schöch, § 156, Rn. 5. Für das beschleunigte Verfahren vgl. § 419 III StPO und Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 419, Rn. 9. 49

Vgl. Vgl. 51 Vgl. verwendet Kap. 1. 50

52

Hahn, S. 147. nur §§ 128 ff., 273 f., 278 f., 282 f. ZPO. §§ 245 II 1, 248 S. 2, 251 II 1, 255, 257 I, II, 258 StPO. In § 380 IV StPO der Gesetzgeber allerdings den Begriff der Parteien, siehe auch Fn. 27,

Tilch, S. 1285. Creifeld, S. 912; Köhler, S. 289; ähnlich Brockhaus, Bd. 14, S. 261. 54 Auch der Gesetzgeber bezeichnete den Staatsanwalt „in gewissem Sinne als Partei", Motive, Hahn, S. 147. Für den Parteibegriff im Strafverfahren auch Blomeyer, GA 1970, S. 172 f. 53

III. Parteiprozeß

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mit ihrer Rolle im Prozeß zusammen als vielmehr mit dem öffentlichen Amt, das sie wahrnimmt. Grundsätzlich ist der Staat gehalten, die Wahrheit zu ermitteln und nur berechtigte Ansprüche durchzusetzen. Das gilt für alle Behörden und folgt unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip 55. Im übrigen ist die Neutralität nicht negativer Bestandteil der Definition des Begriffs Partei 56 . Es dürfte also kaum Unbehagen hervorrufen, auch im Strafprozeß von Parteien zu sprechen. Das wird noch deutlicher im Privatklageverfahren 57, wo den Privatkläger eine Neutralitätspflicht nicht trifft. Die in den oben zitierten Definitionen enthaltenen Einschränkungen, „den Begriff der Partei gibt es nur außerhalb des Strafprozesses " 5 8 bzw. Partei „ (im Zivilprozeß) " 5 9 lassen sich nur mit dem eta-

blierten Verständnis 60 erklären, wonach es sich beim Strafprozeß eben nicht um einen Parteiprozeß handeln soll. Eine inhaltliche Begründung dafür gibt es nicht.Als Ergebnis dieses Abschnitts bleibt festzuhalten: Der Ermittlungsgrundsatz charakterisiert treffend den Strafprozeß, wenn man sich vor Augen hält, daß dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt gilt und die Unterschiede zum Verhandlungsgrundsatz im Zivilprozeß nur graduell sind. Aufgrund dieses Unterschiedes mag man nun den Zivilprozeß einen Parteiprozeß nennen, während man den Strafprozeß als Amtsprozeß bezeichnet. Zwingend ist das nicht. Auch die Beteiligten des Strafprozesses lassen sich mühelos als Parteien definieren. Jedenfalls ist es nicht widersprüchlich, daß in einem Parteiprozeß der Ermittlungsgrundsatz herrscht. Es sei noch einmal an die Familiensachen gemäß §§ 606 ff. ZPO erinnert, wo niemand auf die Idee kommt, bei den Beteiligten handele es sich nicht um Parteien. Im folgenden soll daher der Parteibegriff zugrunde gelegt werden. Daran sollen keine neuen Inhalte geknüpft werden. Es soll nur die Grundlage für eine andere Sichtweise geschaffen werden, die die „Parteistellung" vor allem des Angeklagten stärker herausstreicht als dies gemeinhin üblich ist.

55 Gemeint ist vor allem das, was mit dem Prinzip der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung4' umschrieben wird. Vgl. für das Verwaltungsverfahren etwa § 24 I, II VwVfG. 56 Im englischen oder amerikanischen Strafverfahren gilt ebenfalls die Neutralitätspflicht der Behörden (Herrmann, S. 174 ff., 193 ff.); dennoch wird dort üblicherweise vom Parteiprozeß gesprochen. 57 Vgl. nochmals § 380 IV StPO. 58 Tilch, S. 1285. 59 Creifeld, S. 912; Brockhaus, Band 14, S. 261. 60 Ältere Lexika enthalten solche Einschränkungen nicht, vgl. etwa Baumann, Staatslexikon, S. 402; aus späterer Zeit Stier-Solomon/Elfter, S. 393, dort wird der Parteibegriff auch für das Strafverfahren ausdrücklich bejaht: „Ob und wieviele Parteien es im Strafprozeß gibt, ist streitig. Falls man jedoch an den Oberbegriff „Prozeß" im Einklang mit der historischen Entwicklung und der kulturellen Auffassung aller modernen Staaten festhalten will, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß wir es auch hier stets mit zwei Parteien zu tun haben" (S. 394).

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1. Kap. : Tatsachenvortrag der Parteien

IV. Verlesung des Anklagesatzes Die Sachverhaltsfeststellung beginnt mit dem Tatsachenvortrag der Parteien. Das Gesetz fordert zunächst den Ankläger auf, den Anklagesatz zu verlesen, § 243 III 1 StPO 61 . Der Anklagesatz ist der wesentliche Teil der Anklageschrift 62 . Er ist legaldefiniert in § 200 I 1 StPO und bezeichnet „den Angeklagten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften". Die Bezeichnung des Angeklagten dient seiner Identifizierung. Insoweit kann auf das zu § 243 II 2 StPO Gesagte verwiesen werden 63. Auch hierzu sei angemerkt, daß jedenfalls Angaben zum Beruf und zum Familienstand für die Identifizierung nicht erforderlich und daher im Anklagesatz nicht 64 anzuführen sind 65 . Regelmäßig handelt es sich bei diesen Tatsachen um solche, die für die Rechtsfolgenbemessung - insbesondere die Tagessatzhöhe - erheblich sind. Soweit im Ermittlungsverfahren festgestellt 66, sind sie allenfalls im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen anzuführen 67. Das ist deshalb von Bedeutung, weil nur der Anklagesatz68 und nicht das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen verlesen wird, so daß die strafzumessungsrelevanten persönlichen Verhältnisse frühestens in der Vernehmung des Angeklagten zur Sache angesprochen werden und eine vorzeitige Beeinflussung der Schöffen bzw. Bloßstellung des Angeklagten so vermieden wird. Die Bezeichnung der Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung ist der Kern des Anklagesatzes. (Die weitere Bezeichnung der gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften betreffen die Subsumtion, also die Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt, und sind daher für die Untersuchung ohne Bedeutung.) Die Staatsanwaltschaft klagt den Ange-

61 Im Privatklageverfahren verliest der Richter den Eröffnungsbeschluß, § 384 II StPO. Zu weiteren Besonderheiten in anderen Verfahren vgl. Kleinknecht/MeyerGoßner, § 243, Rn. 14. 62 Vgl. LR-Rieß, § 200, Rn. 6. 63 S. 17. 64 Anders Nr. 110 II a RiStBV. 65 Soweit die Merkmale nicht für die Tatbestandsmäßigkeit von Bedeutung sind, etwa bei §§ 177, 203 StGB; dann allerdings gehören sie zur Bezeichnung der Tat. 66 Vgl. hierzu §§ 136 III, 163 a III 2, IV 2 StPO. 67 Vgl. auch Nr. 110 II g RiStBV. 68 Faktisch werden die im Anklagesatz aufgeführten persönlichen Verhältnisse regelmäßig nicht verlesen, da sie bereits im Rahmen der Vernehmung des Angeklagten gemäß § 243 II 2 StPO angesprochen wurden. Der SitzungsVertreter der Staatsanwalt ergänzt dann sinngemäß: Der Angeklagte, Personalien wie bereits festgestellt, vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 15; Schäfer, S. 299.

IV. Verlesung des Anklagesatzes

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schuldigten an, zu einer bestimmten Zeit 69 und an einem bestimmten Ort 7 0 eine Straftat begangen zu haben. Sie „legt ihm folgenden Sachverhalt zur Last" 71 ; es folgt eine Beschreibung des Tatgeschehens. Ort und Zeit werden nach Möglichkeit noch konkreter bezeichnet und der Sachverhalt beschrieben mit allen Tatsachen, die eine Subsumtion unter die Strafvorschrift ermöglichen. Das ist in der Terminologie der Zivilprozeßordnung - der Grund des erhobenen Anspruchs 11, die Behauptung der die (An-)Klage 73 begründenden Tatsachen74. Diese Sachverhaltsschilderung - die Tat im prozessualen Sinne75 - hat das Gericht zur Kenntnis zu nehmen und daran die weitere Sachverhaltsaufklärung zu orientieren (vgl. auch § 155 StPO). Die Funktion der Verlesung des Anklagesatzes läßt sich damit wie folgt beschreiben: Die klagebegründenden Tatsachen werden behauptet, von deren Richtigkeit sich das Gericht aufgrund der Beweisaufnahme zu überzeugen hat. Dies ist selbstverständlich, wird es auch gemeinhin nicht so deutlich formuliert. Üblich ist es, den Zweck der Verlesung der Anklageschrift damit zu umschreiben, das Gericht solle über den Prozeßgegenstand informiert werden 76 . Das macht in der Sache keinen Unterschied: Sobald das Gericht durch die Klage Kenntnis von der Tat erlangt (informiert ist), hat es dem Anklagebegehren nachzugehen und den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären - das bestimmen die Vorschriften der §§ 244 II, 155 StPO. Die Verlesung des Anklagesatzes dient vornehmlich der Information der Richter, die mit der Sache noch in keiner Weise befaßt sind, also der Schöf69 Die Zeitangabe beschränkt sich auf die Bezeichnung des Tattages oder des Zeitraumes, wenn sich ein genaues Datum nicht ermitteln läßt. 70 Regelmäßig durch Bezeichnung der Gemeinde, in der die Tat verübt wurde. Bezeichnung von Zeit und Ort sind sehr allgemein gehalten und, da in der Konkretisierung genauere Angaben folgen, in der Regel überflüssig. Sie ermöglichen aber durch optische Hervorhebung die Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen der (Nicht-)Verjährung und der örtlichen Zuständigkeit. 71 So die gängige einleitende Formulierung, vgl. Schmitz/Ernemann/Frisch, S. 12; Rahn/Schäfer, S. 29 ff., mit Hinweisen auf regionale Unterschiede. 72 So die Formulierung des § 253 II Nr. 2 ZPO. 73 Interessanterweise benutzt der Gesetzgeber der StPO dieselbe Terminologie wie in der ZPO: „Klage"; vgl. etwa§§ 151, 152, 155, 156, 157, 160, 170, 171, 175 StPO. 74 Im zivilprozessualen Schrifttum wird von den „klagebegründenden Tatsachen" gesprochen, vgl. statt aller Baumbach/Lauterbach-Hartmann, § 253, Rn. 32. 75 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 200, Rn. 7. 76 Vgl. statt aller Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 13. Davon zu unterscheiden ist die Funktion der Anklageschrift. Ihr wird eine doppelte Bedeutung beigemessen: Die Umgrenzung des Tatvorwurfs (sog. Umgrenzungsfunktion) und Information aller Beteiligten (sog. Informationsfunktion), vgl. etwa LR-Rieß, § 200, Rn. 2. Die Umgrenzungsfunktion ist aber mit der Klageerhebung erfüllt; auf die spätere Verlesung kommt es nicht an. Auch die Information richtet sich in diesem Stadium des Prozesses an andere Beteiligte, vgl. dazu den nachfolgenden Text.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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fen 77 . Dieser Zweck wird vereitelt, wenn die Verlesung des Anklagesatzes unterbleibt. Die Information und Instruktion der Richter ist aber von so wesentlicher Bedeutung, daß ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 243 III 1 StPO grundsätzlich die Revison begründen kann 78 . In „ganz einfach gelagerten Fällen" soll allerdings ausnahmsweise das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler ausgeschlossen werden können 79 , wenn sich die Richter im Laufe der Verhandlung vom Verfahrensgegenstand unterrichten können. Damit wird die Funktion der Verlesung des Anklagesatzes allerdings mißachtet. Es geht nicht darum, daß die Richter sich im Laufe der Verhandlung orientieren können, welchen Verfahrensgegenstand sie zu beurteilen haben80. Vielmehr sollen sie vorab mit den Tatsachenbehauptungen der Staatsanwaltschaft konfrontiert werden, um alle weiteren Tatsachenbehauptungen und Beweiserhebungen einordnen und abgleichen zu können. Ein Beruhen des Urteils auf einem solchen Verfahrensfehler läßt sich daher niemals ausschließen, wenn Richter mitgewirkt haben, die den Verhandlungsgegenstand nicht von Anfang an kannten. Der Zweck der Verlesung der Anklageschrift ist nur dann nicht tangiert, wenn keine Schöffen beteiligt sind. Nur bei Verhandlungen vor dem Strafrichter kann daher ein Beruhen des Urteils auf einem solchen Verstoß ausgeschlossen werden. Nach h. M. soll die Verlesung des Anklagesatzes darüber hinaus den anderen Verfahrensbeteiligten Gewißheit darüber verschaffen, auf welche Tat sie ih-

77 Die Berufsrichter kennen regelmäßig den Tatvorwurf, da sie im Zwischenverfahren die Eröffnung beschlossen haben, vgl. § 199 I StPO i. V. m. §§ 30 II, 76 I 2 GVG. 78 Allgemeine Auffassung, vgl. etwa BGH, NJW 1982, S. 1057; NStZ 1986, S. 39, 374; NStZ 1995, S. 200; zur Verlesung des Eröffnungsbeschlusses nach altem Recht: BGHSt 8, 283 f. 79 Wie Fn. zuvor und neuerdings OLG Hamm, NStZ-RR 1999, S. 276 (mit teilweise zutreffender Begründung). Eine praktikable Abgrenzung gibt die Rechtsprechung indes nicht vor. Daß eine sieben Angeklagte und drei Tatkomplexe umfassende Anklage keine einfache Sache darstellt, meint der BGH ausdrücklich feststellen zu müssen (BGH, NStZ 1986, S. 374; vgl. auch BGH, NStZ 1982, S. 431: verwickelter Betrugssachverhalt). Ebenso seien vier ähnlich gelagerte Vergewaltigungen wegen der „Verwechselungsgefahr" keine einfache Sache (BGH, NStZ, 1984, S. 521, vgl. auch BGH, NStZ 1986, S. 39, vier ähnlich gelagerte Diebstähle), wohl aber sexueller Mißbrauch von Kindern in vier Fällen, die sich „lediglich durch die Person der Geschädigten deutlich voneinander unterschieden" (BGH, NStZ 1995, S. 200), ebenfalls ein versuchter Totschlag (BGH, NJW 1982, S. 1057). Die Beliebigkeit dieser Rechtsprechung kritisieren auch LR-Hanack, § 337, Rn. 258 und Krekeler, NStZ 1995, S. 300. 80

Mit anderen Worten: Es geht nicht an, daß die Richter erst aufgrund der Beweisaufnahme ein Tatgeschehen rekonstruieren, ohne zu wissen, ob es sich dabei um die angeklagte Tat handelt. Jeder einzelne Richter muß wissen, ob er sich in den Grenzen des § 155 StPO bewegt. Auch die Einordnung und Würdigung einer Aussage oder eine sinnvolle ergänzende Befragung (§ 240 StPO) ist nicht möglich, wenn der Tatvorwurf unbekannt ist, vgl. auch Danckert, StV 1988, S. 285 f.

IV. Verlesung des Anklagesatzes

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re Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben81. Soweit damit Staatsanwalt und Verteidiger gemeint sind, ist kaum anzunehmen, daß sie völlig unvorbereitet in die Hauptverhandlung gehen. Im übrigen hat der Staatsanwalt die Anklageschrift in den Akten (er verliest den Anklagesatz) und dem Verteidiger ist sie mitgeteilt, d. h. eine Abschrift übersandt worden 82 , so daß beide sich jederzeit, auch während der Hauptverhandlung, noch über den Tatvorwurf unterrichten können 83 . Für die Einrichtung ihres Angriffs- bzw. Verteidigungsvorbringens sind zudem die Angabe der Beweismittel und, soweit vorhanden, das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen von ebenso großer Bedeutung wie die Schilderung des Tatgeschehens selbst84 - und diese Teile der Anklageschrift werden gerade nicht verlesen. Soweit schließlich die Information des Angeklagten als (weiterer) Zweck der Verlesung gesehen wird 8 5 , so kann ebenfalls auf § 201 I StPO verwiesen werden 86. Dem Angeklagten ist die Anklageschrift bereits frühzeitig mitgeteilt worden. Daß er nach einem Ermittlungsverfahren und der verantwortlichen Vernehmung (§ 163 a I 1 StPO) nicht weiß, welche Vorwürfe gegen ihn erhoben werden, dürfte die Ausnahme sein 87 . Allenfalls der Angeklagte, der regelmäßig vor Gericht steht, mag im Einzelfall nicht wissen, warum gegen ihn verhandelt wird. In diesem Fall ist ihm aber zur Ermöglichung der Verteidigung - Einsicht in die gesamte Anklageschrift mit dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zu gestatten88. Schließlich soll nach gängigem Verständnis die Verlesung der Anklageschrift die Information der Öffentlichkeit bezwecken89. Auch das ist jedoch nur ein Nebeneffekt der Verlesung und dürfte vom Gesetz kaum bezweckt sein. Jedenfalls ist die in

81 KK-Treier, § 243, Rn. 23; ähnlich LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 50; SK-Schlüchter, § 243, Rn. 25; KMR-Paulus, § 243, Rn. 46; BGH, NJW 82, 1057; BGH, NStZ 1995, S. 200. 82

Vgl. § 201 I StPO i. V. m. § 145 a I, III StPO. Der Verteidiger, dem eine Vorbereitung nicht möglich war, kann zudem die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragen, § 265 IV StPO (vgl. hierzu Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 265, Rn. 44 und auch die speziellen Regelungen des § 145 II, III StPO). Jedenfalls einem Antrag auf Unterbrechung wird das Gericht regelmäßig stattgeben müssen. 83

84 Das wurde auch im Gesetzgebungsverfahren der RStPO erkannt, vgl. die Diskussion bei Hahn, S. 802 ff. 85

YMK-Paulus, § 243, Rn. 46: „insbesondere dem Angeklagten". Zutreffend bemerkt das OLG Celle in StV 1998, S. 531, 532, daß die Verlesung des Anklagesatzes nicht die Mitteilung nach § 201 StPO ersetzen kann. 87 Vgl. auch die §§ 136 I 1, 163 a III 2, IV 1 StPO. 88 Erwägenswert scheint es auch, dem Angeklagten Einsicht in die gesamten Akten zu gewähren, wenn dies für seine Verteidigung hilfreich erscheint. 89 LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 50; KMR-Paulus, § 243, Rn. 46. 86

28

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

§§169 ff. GVG garantierte Öffentlichkeit des Verfahrens nicht verletzt 90 , wenn die Verlesung des Anklagesatzes unterbleibt 91. Die Verlesung gemäß § 243 III 1 StPO muß sich auf den Anklagesatz beschränken. Hierdurch wird den Schöffen aufgezeigt, innerhalb welcher Grenzen sich der Erkenntnisprozeß zu entwickeln hat, § 155 StPO. Die weiteren Teile der Anklageschrift, insbesondere die Angabe der Beweismittel und die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, dürfen hingegen nicht verlesen werden. Das Gesetz ist hier eindeutig (§§ 200 I 1, 243 II 1 StPO) und trennt bewußt den Anklagesatz von der Anklageschrift 92. Auch der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die bisher unbeteiligten Richter sollen möglichst unbeeinflußt an die Sachaufklärung herangehen. Das ist im Schrifttum herrschende Auffassung 93 und wird auch durch die Materialien zur RStPO belegt; in § 197 II des Entwurfs von 1873 war ursprünglich vorgesehen, daß der Staatsanwalt den Inhalt der Anklageschrift mitteilt 94 . Man entschied sich dann aber dafür, den Eröffnungsbeschluß durch das Gericht verlesen zu lassen, um eine Beeinflussung (der Geschworenen) zu vermeiden; man fürchtete um die Unbefangenheit der Schöffen, wenn der Staatsanwalt die (Beweismittel und Ermittlungsergebnisse enthaltende, § 198 RStPO) Anklageschrift verlesen würde 95 . Seit 196496 schreibt die Strafprozeßordnung zwar die Verlesung des Anklagesatzes vor; inhaltlich entspricht dieser aber dem Eröffnungsbeschluß früherer Fassung. Eine Änderung war gerade nicht bezweckt, vielmehr wurde der An90 Auf § 338 Nr. 6 StPO ist eine Revision, die das Unterlassen der Verlesung des Anklagesatzes rügt, ersichtlich noch nicht gestützt worden. 91 Auch im Zivilprozeß ist es der Öffentlichkeit wegen der extensiven Anwendung des § 137 II 1 ZPO kaum möglich, der Verhandlung ohne Aktenkenntnis zu folgen, ohne daß deshalb an einen Verstoß gegen §§ 169 ff. GVG auch nur gedacht wird. 92 Vgl. auch die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 7. Februar 1962, BT-Dr. IV/178, S. 38: Dem Anklagesatz „kommt eine besondere Bedeutung zu". „Daher ist in Absatz 1 des § 200 eine deutliche Scheidung zwischen dem Anklagesatz und dem übrigen Teil der Anklageschrift vorgesehen". 93 SK-Schlüchter, § 243, Rn. 26; LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 51; UK-Julius, § 200, Rn. 24 f.; Roxin, § 44, Rn. 4; Danckert, StV 1988, S. 283. Nach a. A. (Kissel,* § 30, Rn. 2 ff. und in KK, § 30 GVG, Rn. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 30 GVG, Rn. 2, jeweils m. w. N. zum Streitstand) bestehen keine Bedenken gegen eine Akteneinsicht durch Schöffen (nach Terhorst, MDR 1988, S. 809, ist sie „in besonderen Verfahrenssituationen sogar unabdingbar geboten"). Den Verstoß gegen § 243 III 1 StPO vermag diese Auffassung allerdings nicht zu rechtfertigen, dementsprechend beschränkt sich ihre Argumentation verkürzend auf einen möglichen Verstoß gegen § 261 StPO. Für eine Akteneinsicht der Schöffen neuerdings auch Hillenkamp, FS Kaiser, S. 1437, 1443 f f , m w. N. zum Streitstand in Fn. 35 f. 94

Schubert/Regge, S. 23. Vgl. Hahn, S. 1581 f. und die Diskussionsbeiträge S. 802 ff., 842 f. Siehe auch die Quellenangaben bei Schubert/Regge, S. 385, 527, 555. 96 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19.12.1964, BGBl. Teil 1, S. 1067. 95

IV. Verlesung des Anklagesatzes

29

klagesatz als selbständiger Teil der Anklage legaldefmiert (§ 200 I 1 StPO) und die Verlesung bewußt auf den Anklagesatz beschränkt 97. Auch die Rechtsprechung anerkennt diesen Zweck und hält die Verlesung eines Anklagesatzes, der Beweiswürdigung enthält, für unzulässig98. Es läßt sich dann auch kaum ausschließen, daß die Verlesung eines solchen fehlerhaften Anklagesatzes für die Überzeugungsbildung der Schöffen zumindest mitbestimmend war 99 . Allerdings will eine Auffassung aus § 30 GVG ein Recht der Schöffen auf Akteneinsicht ableiten 100 . Wenn die Schöffen die Akten kennen, sind die Bedenken gegen die Verlesung der gesamten Anklageschrift (oder eines Beweiswürdigung enthaltenden Anklagesatzes) in der Tat nicht mehr so gravierend. Sie bleibt aber jedenfalls gesetzeswidrig: § 243 III 1 StPO schreibt bewußt vor, nur den Anklagesatz zu verlesen. An diesem Einwand kommt die abweichende Auffassung nicht vorbei. Im übrigen ist ihre Argumentation wenig überzeugend. Die Schöffen haben nicht deshalb ein Akteneinsichtsrecht, weil die Berufsrichter die Akten kennen. Die Aktenkenntnis des Vorsitzenden ist unerläßlich, um die Verhandlung vorbereiten und sinnvoll leiten zu können. Die weiteren Berufsrichter kennen die Akten möglicherweise aus dem Zwischenverfahren. Denn das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht hat über die Eröffnung des Verfahrens zu entscheiden, § 199 I StPO. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Das Gericht bleibt für die Hauptverhandlung zuständig, auch wenn

97

§ 243 III 1 StPO; vgl. hierzu die amtliche Begründung, BTDr. IV/178, S. 38 ff. BGH, StV 1988, S. 282 (Verlesung eines Beweiswürdigung enthaltenden Anklagesatzes); vgl. auch BGHSt 13, 73, wo ein Schöffe in die Anklageschrift des Beisitzenden Einsicht genommen hat. Neuerdings tendiert der 3. Senat des BGH jedoch zur Gegenauffassung. Noch ausdrücklich offengelassen, diese Tendenz jedoch ausgesprochen in BGHSt 43, 36, 39, hat er in BGHSt 43, 360 entschieden, daß die Verlesung eines die wesentlichen Ermittlungsergebnisse enthaltenden Beschlusses gemäß § 209 II StPO nicht gegen die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) verstößt. Er ließ zwar offen, ob ein Verstoß gegen § 243 II StPO vorliege (S. 361) und wies ausdrücklich auf die Unterschiede zu dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift hin (S. 362). Durch die mit obiter dicta gespickte Entscheidung soll aber offensichtlich eine Wende in der Rechtsprechung vorbereitet werden. 98

99

Vgl. BGHSt 13, 73, 75, jedenfalls „bei dem umfangreichen, nur schwer zu übersehenden Sachverhalt". Mit gleicher Begründung (: umfangreich) kommt der BGH in StV 1988, S. 282 allerdings - völlig unverständlich - zum entgegengesetzten Ergebnis: Das Verfahren gegen 7 Angeklagte dauerte 30 Tage. „Daß unter diesem Umständen der verlesene Anklagesatz noch irgendwie überzeugungsbildende Wirkung entfalten konnte, scheidet aus." Daß der Anklagesatz auf die Überzeugungsbildung der Laienrichter keinerlei Einfluß ausübt, läßt sich niemals sicher feststellen. Zudem läßt sich gerade bei umfangreichen Anklagesätzen niemals ausschließen, daß die Laienrichter während der Verlesung des Anklagesatzes Notizen machen und diese ihrer Entscheidung zugrunde legen. Kritisch zur Beruhensfrage auch Danckert, StV 1988, S. 285. 100 Kissel , § 30, Rn. 2 ff. und in KK, § 30 GVG, Rn. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 30 GVG, Rn. 2, jeweils m. w. N. zum Streitstand; Terhorst, MDR 1988, S. 809.

30

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

ein Richterwechsel stattgefunden hat. Unter den Voraussetzungen des § 209 I StPO kann sogar vor einem anderen Gericht eröffnet werden. Die Kenntnis der Akten resultiert also allein aus der Tatsache, daß das Gericht (ohne Schöffen: §§ 30 II, 77 I GVG) schon einmal mit der Sache befaßt war. Im übrigen ist die Akteneinsicht durch die beisitzenden Richter weder vorgeschrieben noch wird sie praktiziert. Regelmäßig wird nur aufgrund der Darstellung des Berichterstatters beraten und entschieden101. Bei Beteiligung von Schöffen in der Hauptverhandlung gilt nichts anderes. Ihnen werden die entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt gemacht. Die Tatsache, daß eine Entscheidung unter Mitwirkung der Schöffen in keiner Beziehung zur Urteilsfällung stehen kann (vgl. die Formulierung des § 30 GVG), suspendiert nur von den Regeln des Strengbeweises 102, erfordert aber keine Akteneinsicht aller Richter. I. ü. müssen alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt gemacht und erörtert werden - dies nicht nur gegenüber den Schöffen, sondern auch gegenüber den sonstigen Verfahrensbeteiligten, um ihnen rechtliches Gehör zu gewähren, vgl. § 33 I StPO. Aktenkenntnis der Schöffen ist daher nicht erforderlich und widerspricht dem Gesetzeszweck; die Schöffen sollen möglichst unbefangen in die Hauptverhandlung gehen 103 . Mit der Verlesung des Anklagesatzes wird das Gericht mit der Sache also erstmals befaßt - und zwar mit der Tat im prozessualen Sinne. Er bildet die „Basis der Verhandlung" 104 . Die Schöffen sollen mit dem Prozeßgegenstand vertraut gemacht werden 105 . Die Staatsanwaltschaft stellt ihre Behauptungen auf, die das Gericht nun zu überprüfen und aufzuklären hat. 106

101 Aus § 30 GVG ließe sich also ebenso herleiten, daß die beisitzenden Richter keine Einsicht in die Akten nehmen dürfen. Der Vergleich des Gerichts in der Hauptverhandlung und im Zwischenverfahren ist aber schon deshalb fragwürdig, weil die Entscheidungsgrundlage regelmäßig eine andere ist. Im Zwischenverfahren wird grundsätzlich nur nach Aktenlage entschieden. 102 Insbesondere erlaubt § 251 III StPO die Verlesung von Schriftstücken. 103 In diesem Sinne auch Nr. 126 III S. 1 RiStBV. 104 So jedenfalls wollte der Abg. Herz die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, der inhaltlich dem heutigen Anklagesatz entspricht, verstanden wissen, Hahn, S. 807. 105 Auch diese Aussage findet sich in den Materialien: „Durch diese Verlesung (seil, des Eröffnungsbeschlusses, der Verf.) würden die Geschworenen und Richter ausreichend unterrichtet, um was es sich handele, ohne daß jedoch irgend eine Präokkupation derselben stattfände", Hahn, S. 842. 106 Auch das Rollenverständnis des Gesetzgebers von 1964 geht in diese Richtung. Das StPÄG (siehe Fn. 96, Kap. 1) wollte die „richtige Verteilung der Rollen in der Hauptverhandlung" klarstellen; „Das Hauptverfahren beruht auf der Anklage des Staatsanwalts. Daher ist es sachgemäß, daß der Staatsanwalt in der Hauptverhandlung seine Anklage auch selbst verliest." (so die amtliche Begründung, BTDr. IV/178, S. 40).

V. Die Vernehmung des Angeklagten

31

V. Die Vernehmung des Angeklagten Auf die Verlesung der Anklageschrift folgt die Belehrung des Angeklagten. Er ist daraufhinzuweisen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, § 243 IV 1 StPO. Ist er zur Äußerung bereit, wird er nach Maßgabe des § 136 II StPO zur Sache vernommen, § 243 IV 2 StPO. Der Angeklagte hat also zwei Möglichkeiten, auf die Anklagevorwürfe zu reagieren: Er kann sich dazu äußern und seine Version des Geschehens kundtun - er kann aber auch schweigen. Darauf ist er hinzuweisen. Schweigt der Angeklagte, folgt unmittelbar die Beweisaufnahme, § 244 I StPO. Das Gericht hat dann aufgrund der zur Verfügung stehenden oder von den Parteien angebotenen Beweismittel den von der Staatsanwaltschaft aufgestellten Tatsachenbehauptungen nachzugehen und den Sachverhalt aufzuklären. Ist der Angeklagte hingegen zur Äußerung bereit, ist er zur Sache zu vernehmen. Diese Einlassung des Angeklagten ist der Schlüssel zur Definition der Rolle des Angeklagten im geltenden Strafprozeß; an ihr entbrennen alle Streitigkeiten um die Einordnung des Angeklagten ins Prozeßgefüge. Die Vernehmung des Angeklagten zur Sache soll daher eingehend untersucht werden. Nach einem kurzen Überblick über die Einrichtung der Vernehmung (1.) soll der Widerspruch untersucht werden, der die grundlegenden Definitionsprobleme der Beschuldigtenrolle beherrscht: Nach herrschender Auffassung, die kurz dargestellt wird (2.), ist die Einlassung des Angeklagten Beweismittel. Gemäß § 244 I StPO gehört die Vernehmung aber offensichtlich nicht zur Beweisaufnahme. Dieser Widerspruch zwischen dem Gesetz und der herrschenden Lehre wird aufgezeigt (3.). Abschließend wird ein eigener Ansatz mit seinen Konsequenzen im einzelnen dargestellt, der die Rolle des Angeklagten teilweise neu definiert (4.).

1. Die Einrichtung der Vernehmung Die Vernehmung des Angeklagten erfolgt mündlich 107 . Das legt bereits der Begriff der Vernehmung nahe: Vernehmung ist die mündliche Befragung von Zeugen und Sachverständigen sowie der Parteien und des Beschuldigten108. Im übrigen gilt im Strafprozeß der „Mündlichkeitsgrundsatz", wonach mündlich zu verhandeln ist und nur 1 0 9 der mündlich vorgetragene und erörterte Prozeßstoff 107 Zu den Ausnahmen bei sprachbehinderten Angeklagten vgl. § 186 GVG und LRGollwitzer, § 243, Rn. 88. 108 Brockhaus, Bd. 19, S. 538; ähnlich Tilch, S. 999: „die formalisierte Anhörung einer Person vor Gericht zur Erörterung und Aufklärung des Prozeßstoffes", Hervorhebung vom Verf. 109 Vorbehaltlich des § 249 II StPO.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

32

dem Urteil zugrunde gelegt werden darf 110 . Schließlich belegt auch der Gegenschluß aus § 136 I 4 StPO, daß die Einlassung mündlich zu erfolgen hat. Damit ist aber nur festgestellt, daß der Angeklagte seine Äußerung mündlich in die Hauptverhandlung einführen muß; es bleibt ihm aber unbenommen, seine Aussage vorzubereiten - auch schriftlich. In diesem Fall ist es zulässig, daß der Angeklagte die schriftliche Ausarbeitung in der Hauptverhandlung verliest 111 ; darin liegt kein Verstoß gegen das Mündlichkeitsprinzip - und einen Vortrag in freier Rede schreibt das Gesetz nicht vor 1 1 2 . In der Literatur wird das allerdings überwiegend 113 anders gesehen; danach ist die Verlesung einer Verteidigungsschrift nicht zulässig 114 . Begründet wird das nicht. Vielmehr wird unisono auf zwei Judikate verwiesen 115 . Doch auch in den zitierten Entscheidungen findet man keine Begründung 116 ; der Bayerische Verfassungsgerichtshof verweist auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Der Bundesgerichtshof wiederum nimmt zwei Entscheidungen des Reichsgerichts in Bezug 117 . Allein in der zeitlich ersten Entscheidung des Reichsgerichts 118 findet sich der Ansatz einer Begründung: „Daraus (seil, den Vorschriften der §§ 136, 243 StPO) ergibt sich, daß der Angeklagte seine Vertheidigung mündlich vorzutragen hat, ihm aber die Vorlegung einer Vertheidigungsschrift mit dem Verlangen, daß sie von dem Vorsitzenden berücksichtigt werden solle, nicht gestattet ist." Das ist völlig zutreffend und folgt aus dem Mündlichkeitsprinzip: Das Vorlegen einer Verteidigungsschrift ist keine

110

Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 261, Rn. 7; Roxin, § 44, Rn. 1. Vgl. auch BGH, MDR 1980, S. 986, wonach die Verlesung schriftlich vorbereiteter Anworten auf schriftliche Fragen zulässig ist, wenn der Angeklagte ansonsten zu einer Einlassung nicht bereit ist. Diese Entscheidung widerspricht aber der sonstigen Rechtspraxis, vgl. den folgenden Text. 112 Anders z. B. § 137 II ZPO. 113 Eine Verlesung für zulässig halten Salditi , StV 1993, S. 444, Fn. 25; Pfeiffer, § 243, Rn. 10; „im Einzelfall" auch Schellenberg, S. 91, Fn. 138. 1,4 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 30; KK-Tolksdorf § 243, Rn. 44; KMR-Paulus, § 243, Rn. 35; LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 88; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 11, Rn. 14; Gössel, § 23 C II. 1,1

115

BGHSt 3, 368 und BayVerfGHE 24, 178 = MDR 1972, 209. Der BGH war in der Entscheidung BGHSt 3, 368 gar nicht mit der Frage befaßt, ob die Vernehmung mündlich zu erfolgen hat. Gerügt war eine Verletzung des § 258 StPO, da dem Angeklagten untersagt worden war, sein letztes Wort zu verlesen. Dennoch führte der BGH aus, daß Erklärungen nach der verfahrensrechtlichen Regelung der §§ 243 III, 136 StPO mündlich abzugeben seien. „Aus keiner verfahrensrechtlichen Vorschrift ergibt sich aber, daß der Angeklagte seine Ausführungen zum letzten Wort nur in freier Rede machen dürfe." Die Differenzierung leuchtet nicht ein. Es gibt auch keine Vorschrift, die es dem Angeklagten verbietet, Erklärungen abzulesen; aus §§ 243 III, 136 II StPO folgt das jedenfalls nicht. 116

117 118

RGRspr 4, 563; RG, Das Recht 1903, Nr. 2524 (S. 486). RGRspr 4, 563.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

33

(mündliche) Erklärung 1 1 9 . Mehr aber besagt das Mündlichkeitsprinzip nicht das Verlesen einer Schrift ist zulässig 1 2 0 . Die herrschende Auffassung läßt sich daher nicht begründen 1 2 1 ; sie beruht w o h l auf einer oberflächlichen Lektüre des Reichsgerichtsurteils 1 2 2 und einer unreflektierten Übernahme der Rechtsprechung. Dem Angeklagten ist Gelegenheit zu geben, sich i m Zusammenhang zu äußern 1 2 3 . Ob dies auch aus einer analogen Anwendung des § 69 I 1 StPO f o l g t 1 2 4 , kann dahinstehen. Jedenfalls ergibt sich dieses Recht des Angeklagten schon aus seiner Stellung als Partei des Prozesses. Er hat das in Art. 103 I GG garantierte Recht, sich umfassend zum Prozeßgegenstand zu äußern 1 2 5 . Eine Unterbrechung oder inhaltliche Einschränkung 1 2 6 ist nur in den sehr engen Grenzen zulässig, in denen das rechtliche Gehör versagt werden darf, vor allem bei einem M i ß b r a u c h 1 2 7 . Eine ergänzende Befragung 1 2 8 des Angeklagten ist selbst119

Vgl. BGH, NJW 1994, S. 2904, 2906 (insoweit in BGHSt 40, 211 nicht abgedruckt), allerdings darf das Gericht eine schriftliche Erklärung des Angeklagten verlesen und muß es unter Umständen aufgrund der Aufklärungspflicht (a. a. O.). In dieser Entscheidung läßt der BGH i. ü. ausdrücklich offen, ob die Verlesung einer Erklärung zulässig ist. 120 Vgl. auch § 249 I 1 StPO, der gerade die Wahrung des Mündlichkeitsprinzips bezweckt, LR-Gollwitzer, § 249, Rn. 2. 121 Interessanterweise soll nach dieser herrschenden Auffassung die Verlesung einer vorgefertigten Schrift im Rahmen des letzten Wortes statthaft sein (LR-Gollwitzer, § 258, Rn. 32; SK-Schlüchter, § 258, Rn. 14; KK-Diemer, § 258, Rn. 21; KMR-Paulus, § 258, Rn. 10; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 11, Rn. 21; BayVerfGH, MDR 1972, S. 209), ohne auf diese Differenzierung einzugehen. Das erscheint widersprüchlich; fur eine abweichende Beurteilung von Einlassung und letztem Wort gibt es keinen Grund, siehe dazu unten, S. 83, 208 (Für Erklärungen gemäß § 257 StPO ist es dem Gericht sogar möglich, den Verfahrensbeteiligten aufzugeben, Anträge schriftlich zu stellen, § 257 a StPO.) 122 Im Leitsatz der Entscheidung RGRspr 4, 368 heißt es allerdings (ohne Bezug auf die Gründe), daß die Verlesung einer Verteidigungsschrift unzulässig sei! 123 Vgl. BGHSt 13, 358, 360 f.; BGHSt 19, 93, 97; BayObLG, MDR 1953, S. 756; KMR-Paulus, § 243, Rn. 34; SK-Schlüchter, § 243, Rn. 45; LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 80; Eisenberg, Rn. 842; Kuckuck, S. 185 f. 124 Vgl. zum Streitstand, LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 79, m. w. N. in Fn. 176, 181. 125 Auch Rüping, Gehör, S. 159 f., leitet den Anspruch auf eine zusammenhängende Äußerung aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs ab; OLG Schleswig in SchlHA 1973, S. 186 leitet dieses Recht („auch im Hinblick a u f ) aus Art. 6 I, II MRK ab. 126 Selbstverständlich müssen die Ausführungen des Angeklagten Sachbezug aufweisen; insoweit darf auf die Kommentierungen zu § 258 StPO verwiesen werden, etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 258, Rn. 25 f.: „der Angeklagte darf das Recht nicht mißbrauchen"; vgl. auch OLG Schleswig, SchlHA 1973, S. 186. 127 Vgl. Rüping, Gehör, S. 162, 177 oder die Kommentierungen zu Art. 103 I GG, etwa Schmidt-Aß mann in Maunz/Dürig, Rn. 85 ff, wobei zu beachten ist, daß im Strafprozeß besonders enge Grenzen gelten: Auch bei schwerwiegenden Störungen ist dem Angeklagten in jedem Fall Gelegenheit zu geben, sich zur Anklage zu äußern, vgl. § 231 b I 2 StPO. Siehe auch S. 84.

3 Kruse

34

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

verständlich zulässig, und genauso selbstverständlich muß der Angeklagte diese Fragen nicht beantworten. Er ist v ö l l i g frei in dem, was er sagt und wann er es sagt 1 2 9 . Daraus folgt auch, daß mit dem erklärten Einverständnis des Angeklagten von der in § 243 StPO vorgeschriebenen Reihenfolge abgewichen werden d a r f 1 3 0 und Teile der Beweisaufnahme in die Vernehmung des Angeklagten zur Sache integriert werden können oder die Einlassung erst der Beweisaufnahme nachfolgt 1 3 1 . Gegen den W i l l e n des Angeklagten ist ein Abweichen von der Vorschrift des § 243 StPO jedoch unzulässig: Der Angeklagte hat das Recht, sich vor der Beweisaufnahme zusammenhängend zur Sache 1 3 2 zu äußern. Bei der Einrichtung der Vernehmung ist die Subjektstellung des Angeklagten somit konsequent verwirklicht. Er ist Prozeßsubjekt und bestimmt nach freiem Willen, in welchem Umfang er von seinem Recht Gebrauch macht, sich zur Sache zu äußern. Es steht ihm nicht nur frei zu entscheiden, ob er sich überhaupt zur Sache erklärt. Er bestimmt auch den Umfang und den Zeitpunkt 128 Nicht aber das Abarbeiten eines Fragekataloges, vgl. KMR-Paulus, § 243, Rn. 34; LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 80 m. w. N. in Fn. 180; Salditi , StV 1993, S. 443; Wegemer, NStZ 1981, S. 248. Anders KK-Tolksdorf § 243, Rn. 44; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 31, mit (Fehl-)Zitat (gemeint ist wohl OLG Köln, MDR 1956, S. 695). 129 Vgl. hierzu BGH, NStZ 1986, S. 370. 130 Der BGH (BGHSt 13, 358, 360; BGHSt 19, 93, 97; BGH, StV 1990, S. 245; BGH, StV 1991, S. 148) und Teile der Literatur {Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 1; KK-Tolksdorf, § 243, Rn. 3; LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 3, 7) fordern „angemessene" bzw. „triftige" Gründe und „keinen Widerspruch" von Angeklagtem oder Verteidiger. Dazu folgendes: Der Angeklagte muß in Kenntnis der Rechtslage ausdrücklich zustimmen (vgl. auch SK-Schlüchter, § 243, Rn. 3 m. w. N.). Die Erwägung des BGH, die Zustimmung werde stillschweigend durch Unterlassen eines Widerspruchs erteilt (BGHSt 19, 93, 97), ist - jedenfalls beim unverteidigten Angeklagten - lebensfremd. Die Angeklagten kennen regelmäßig ihr Recht nicht, auf die Gestaltung der Einlassung Einfluß zu nehmen - selbst manche Richter (an)erkennen dieses Recht nicht - und können daher gar nicht widersprechen. Die Anforderung des Bundesgerichtshofs, der Angeklagte müsse gegen unrechtmäßiges Praktizieren Widerspruch erheben, ist eine allgemein zu beobachtende und sehr bedenkliche Tendenz in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte (vgl. etwa BGHSt 38, 214, 225 f.; BGH, NStZ 1996, S. 200, 202; 291, 293; StV 1996, S. 360, 361; BayObLG, NStZ 1996, S. 66; OLG Celle, NStZ 1996, S. 68; OLG Stuttgart, NStZ 1997, S. 405; weitere Nachweise bei Burhoff StV 1997, S. 435; kritisch zur Widerspruchslösung auch Fezer, StV 1997, S. 57; SK-Rogali, Vor § 133, Rn. 178 m. w. N.). Andererseits kommt es neben der wirksam erklärten Zustimmung auf die Zweckmäßigkeit der Reihenfolge nicht mehr an, da der Angeklagte über den Zeitpunkt seiner Sacheinlassung frei verfugen kann. (Selbstverständlich sollte der Vorsitzende eine Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen Reihenfolge aber nur vorschlagen, wenn es dafür sachliche Gründe gibt!) 131 Mit der Folge, daß die Vernehmung zur Sache als verfahrensrechtliches Stadium mit allen rechtlichen Konsequenzen (vgl. §§ 6 a S. 3, 16 S. 3, 222 a II, 222 b I 1 StPO) beendet ist. Auch darauf ist der Angeklagte hinzuweisen. 132 Das heißt: zum Tatvorwurf und zu den für die Rechtsfolgen bedeutsamen Tatsachen.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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seiner Einlassung. Alle Abweichungen von den gesetzlichen Vorgaben sind nur mit seiner Zustimmung möglich. Das alles ist allgemeine Auffassung. Auch kann er eine vorgefaßte Schrift ablesen. Die (nur) insoweit abweichende h. M. erwies sich als nicht tragfähig. Nach allgemeiner Auffassung ist die Vernehmung demnach so einzurichten, daß die Subjektstellung des Angeklagten vollständig gewahrt bleibt.

2. Die Funktion der Vernehmung des Angeklagten nach herrschender Auffassung Im folgenden soll dargestellt werden, welche Funktion der Vernehmung des Angeklagten gemäß § 243 IV 2 StPO nach herkömmlichem Verständnis beigemessen wird. Daß eine konturenscharfe Einordnung bislang nicht gelungen ist, wurde bereits behauptet. Der Nachweis ftir diese Behauptung soll durch die Darstellung des „Streitstandes" erfolgen. Die Vernehmung zielt darauf ab, es dem Angeklagten vorweg zu ermöglichen, seine Verteidigung zusammenhängend zu fuhren und das Gericht zu veranlassen, bei der folgenden Beweisaufnahme den von ihm geltend gemachten Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Dieses Zitat findet sich - sinngemäß - in nahezu allen Kommentaren zur Strafprozeßordnung 133. Damit ist ziemlich genau das umschrieben, was das Gesetz in § 243 IV 2 i. V. m. § 136 II StPO anordnet: Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Mit anderen Worten: Der Angeklagte soll Gelegenheit haben, sich gegen den Anklagevorwurf zu verteidigen und ihm günstige Tatsachen zu behaupten. Den Kommentarstellen läßt sich aber andererseits mit gleicher Deutlichkeit entnehmen, daß die Verteidigung nicht der einzige Zweck der Vernehmung sei - sie diene auch der Wahrheitsermittlung. Gemeint ist damit: der Überführung des Angeklagten - oder anders ausgedrückt: Der Angeklagte soll auch veranlaßt werden, die Tat (oder genauer gesagt: ihn belastende Tatsachen) einzugestehen. So jedenfalls lassen sich die Erläuterungen zu § 243 StPO verstehen, wonach sich der Angeklagte mit seiner Sachäußerung als Beweismittel zeige 134 , der Vorsitzende außer der Verpflichtung, dem Angeklagten ausreichende Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, nur den allgemeinen Grundsatz zu beachten

133 Vgl. etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 243, Rn. 28; LR-Gollwitzer, Rn. 77; SK-Schlüchter, § 243, Rn. 42; KK-Tolksdorf, § 243, Rn. 41. 134 SK-Schlüchter, § 243, Rn. 48.

3!

§ 243,

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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habe, alles zu tun, um die Wahrheit zu ergründen 135 bzw. die Vernehmung auf Ermittlung der Wahrheit ausgerichtet sei 136 . Diese Zitate ließen sich beliebig ergänzen; auch die Lehrbücher zur Strafprozeßordnung äußern sich sinngemäß ebenso lj7 . Aber schon der kurze Überblick dürfte die Linie der herrschenden Meinung erkennen lassen: Die Vernehmung des Angeklagten zur Sache dient zum einen seiner Verteidigung, wenn er entlastende Tatsachen behauptet, zum anderen aber auch seiner Überführung, wenn er belastende Tatsachen eingesteht. Interessanterweise findet man solche Aussagen zu der indifferenten Doppelfunktion einer Erklärung nur anläßlich der Vernehmung des Angeklagten zur Sache. Die anderen Erklärungsrechte des Angeklagten (vgl. vor allem §§ 257, 258 StPO) werden ausschließlich als Verteidigungsrechte gesehen138. Obwohl die Problemstellung dieselbe ist, wird dort nirgends diskutiert, ob solche Erklärungen auch eine Beweisfunktion haben können, wenn der Angeklagte belastende Tatsachen zugesteht. Mit dieser Bestimmung der doppelten Funktion der Vernehmung des Angeklagten einher geht die problematische Einordnung der Stellung des Angeklagten im Strafprozeß. Einerseits ist er unumstritten Prozeßsubjekt, und aus dieser Subjektstellung folgt sein Anspruch, mit seinem Verteidigungsvorbringen gehört zu werden. Andererseits ist aber ebenfalls nahezu unumstritten, daß der redende Angeklagte Beweismittel und damit Objekt des Verfahrens ist; entschließt er sich zur Einlassung, gehört die Vernehmung nach ganz herrschender Meinung zur Beweisaufnahme. Diese beiden Kernaussagen zur Qualifizierung der Stellung des Angeklagten im Strafprozeß lassen sich nicht miteinander vereinbaren, sie sind widersprüchlich. Die Einlassung des Angeklagten kann nicht die Ausübung eines Prozeßrechts darstellen und zugleich Beweismittelqualität haben. Diesen Widerspruch bemerkt auch die herrschende Auffassung und versucht zu vermitteln: Von einer Doppelstellung des Beschuldigten ist die Rede 1 3 9 ; er sei nicht nur Prozeßsubjekt, sondern auch Beweismittel, aber nicht im technischen Sinne 140 , seine Einlassung gehöre zur Beweisaufnahme im weite-

135

LR-Gollwitzer, § 243, Rn. 80. Kleinknecht/Meyer-Goßner, (allerdings zu) § 136, Rn. 14. 137 Roxin, § 25, Rn. 1; Beulke, Rn. 179; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 11, Rn. 16. 138 Vgl. dazu unten, S. 204, 208f. 139 Müller-Dietz, ZStW 93 (1991), S. 1217; KMR-Lesch, vor § 133, Rn. 12; SKRogall, Vor § 133, Rn. 122: „einzigartige Doppelrolle"; Rüping, Gehör, S. 161: „Doppelfunktion der Vernehmung"; LR-Hanack, §136, Rn. 35: „Doppelcharakter"; zum Schweizerischen Strafprozeßrecht: Huber, S. 47. Kritisch zur Doppelrolle neuerdings Weigend, Selbstbestimmung, S. 150, der zutreffend zwischen „Angaben des Beschuldigten" und dem „Geständnis" differenziert, beides aber als Beweismittel bezeichnet. Roxin, § 25, Rn. 1. 136

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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ren Sinne 141 . Der Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen, gipfelt in der Annahme, der Angeklagte sei nur zeitweise Beweisobjekt, nämlich dann, wenn er sich zur Sache äußere 142. Der unbefriedigende Stand der Dogmatik wurde in der Literatur bereits mehrfach 143 dargestellt. Auf diese erschöpfenden Darstellungen soll an dieser Stelle ergänzend verwiesen werden. Denn schon die oben beispielhaft angeführten Zitate belegen, daß eine dogmatisch befriedigende Einordnung der Einlassung des Angeklagten bislang nicht gelungen ist. Doch auch die von der herrschenden Meinung abweichenden Auffassungen lassen eine konsequente Einordnung der Stellung des Angeklagten im Prozeß vermissen. Am deutlichsten gegen die Beweismitteleigenschaft des Beschuldigten spricht sich Prittwitz 144 aus. Die fast einhellige Ansicht bezeichne den Beschuldigten nur deshalb als Beweismittel, weil seine Einlassung als Urteilsgrundlage dienen könne und § 261 StPO die freie Würdigung der Beweisaufnahme erlaube, worunter auch die Einlassung fallen müsse 145 . Tatsächlich folge die Verwertbarkeit der Einlassung aber schon aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör, weshalb es der zweifelhaften Einordnung als Beweismittel und Verfahrensobjekt nicht bedürfe 146 . Dieser Auffassung ist zuzugeben, daß sie eine klarere Bestimmung der Verfahrensrolle des Beschuldigten zuläßt. In den dogmatischen Konsequenzen ist der Ansatz aber halbherzig, weil die Einlassung des Beschuldigten wie jede andere Beweiserhebung der freien Beweiswürdigung unterliegen soll 1 4 7 . Im Ergebnis unterscheidet sich dieser Ansatz daher kaum von der „einhelligen Auffassung' 4. Sein Verdienst liegt vor allem in den klareren Begrifflichkeiten. Ähnlich deutlich formuliert Degener 148 : Zweck der Vernehmung des Beschuldigten ist gemäß § 136 Abs. 2 ausschließlich die Gewährung rechtlichen 141 Rogali , S. 34; Walder, S. 65; nach Kuckuck, S. 184, keine Beweisaufnahme im „formal-technischen" Sinne. Zu weiteren terminologischen Wirrungen vgl. SK-Rogali, Vor § 133, Rn. 122 ff. und Prittwitz, S. 201 f. 142 Dahs, S. 50 ff. So jedenfalls versteht Prittwitz, S. 206, die Ausführungen von Dahs. Diese sind aber im Hinblick auf die Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht ganz eindeutig. Zwar heißt es: „Die Stellung des Angeklagten ist jedoch auch innerhalb einzelner prozessualer Vorgänge nicht einheitlich" (S. 50), er sei persönliches Beweismittel bei Aussagen, §§ 243 II, 136 (S. 51) und „Erlärungen mit Beweismittelcharakter sind nicht Ausdruck des Gehörsanspruchs" (S. 52); auf S. 86 spricht er aber davon, daß § 243 StPO die Gelegenheit zur Stellungnahme gebe, was der Stellung eines Prozeßsubjekts entspreche. 143 Insbesondere Prittwitz, S. 200 ff.; vgl. aber auch Walder, S. 61 ff.; Rogali , S. 31 ff.; Kuckuck., S. 184 f f ; Grünwald, S. 59 ff.; Krause, S. 68 ff. 144 S. 221 ff. 145 Prittwitz, S. 218, 224. 146 S. 219 und passim. 147 S. 224. 148 GA 1992, S. 462.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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Gehörs. 149 Allerdings schließe § 136 Abs. 2 es nicht aus, belastende Aussagen zu Beweiszwecken zu verwerten; insoweit figuriere der Beschuldigte als Beweismittel im materiellen Sinne. Der Fehler der herrschenden Meinung liege aber darin, diese Nebenprodukte überzubewerten, die Überfuhrungsc/ja^ce zum Vernehmungszwed: emporzustilisieren 150. Die Ansicht Degeners ist der Auffassung von Prittwitz also ähnlich. Beide sehen den Zweck der Vernehmung des Beschuldigten nicht in der Wahrheitserforschung, sondern ausschließlich in der Verteidigung und der Gewährung rechtlichen Gehörs. Während Prittwitz aber die Beweismitteleigenschaft des Beschuldigten konsequent leugnet, sieht Degener in der belastenden Aussage ein Beweismittel als Nebenprodukt der Vernehmung. Alle weiteren Auffassungen legen auch sprachlich die Doppelstellung des Angeklagten zugrunde, messen der Vernehmung des Beschuldigten einen doppelten Zweck bei, setzen aber verschiedene Schwerpunkt». Nach Kuckuck besitzt das Gehör „einen Eigenwert und dient nicht primär dazu, eine sachgerechte Entscheidung zu ermöglichen. Die Vernehmung ist eine Erscheinungsform des Gehörs." Die Verteidigung des Angeklagten „beansprucht daher die unbedingte Vorherrschaft vor seiner - wie immer gearteten - Beweisfunktion" 1 5 1 . Auch Rüping legt den Schwerpunkt auf die Verteidigung: „Wie das Gehör allgemein dient die Vernehmung sowohl der Verteidigung als auch der Sachaufklärung. Für Äußerungen zur Sache ergibt sich der Vorrang der Verteidigung aus ihrer gesetzlichen Umschreibung im Rahmen der Vernehmung" 152 . Die Diskussion um die Stellung des Angeklagten dreht sich also im wesentlichen um die Frage, wo der Schwerpunkt der Vernehmung liegt 153 : auf der Gewährung rechtlichen Gehörs oder der Beweismitteleigenschaft - oder mit anderen (Schlag-)Worten: auf der Subjektstellung oder der Objektstellung des Angeklagten. Der Versuch einer deutlichen Trennung von Einlassung und Beweisaufnahme wurde bisher nicht unternommen 154, obwohl das Gesetz dies nahelegt: Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme

149

Hervorhebung vom Verf. A. a. O.; Hervorhebungen dort. 151 Kuckuck, S. 183. 152 Rüping, Gehör, S. 159. 153 Symptomatisch Walder, S. 62: „ist...ein solcher Entscheid (seil, ob die Vernehmung der Verteidigung oder der Wahrheitsermittlung dient, der Verf.) mitunter schwierig". Vgl. auch LR-Hanack, § 136, Rn. 35: Umstr. ist, ob die Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren primär seiner Verteidigung oder der Sachverhaltsaufklärung dient. Bezeichnend ist auch, daß Lesch in ZStW 1999, S. 624 ff. vehement gegen die Auffassung Degeners argumentiert (S. 625 f.), daraus aber kaum andere Konsequenzen ableitet (S. 642 ff.). 150

154

Zu dem Modell von Prittwitz

siehe S. 45.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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(§ 244 I StPO) 155 . Die gesetzliche Unterscheidung wird vielmehr durch die Verwendung indifferenter Vokabeln weginterpretiert 156 , oder es wird offen ausgesprochen, daß die eigene Auffassung der gesetzlichen Konzeption nicht entspricht: § 244 I StPO sei geeignet, Verwirrung zu stiften; richtig müsse es heißen „folgt die weitere Beweisaufnahme" 157. Dieses gängige Verständnis von der Doppelstellung des Angeklagten ist mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen. Dem Angeklagten steht es frei, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 243 IV 1 StPO). Es ist unbestritten, daß aus seinem Schweigen keinerlei Schlüsse gezogen werden dürfen. Schon deshalb kann nicht der Zweck jeder Vernehmung (zumindest auch) darin liegen, die Wahrheit zu erforschen. Nur wenn der Angeklagte zur Äußerung bereit ist, läßt sich sinnvoll nach der Funktion der Einlassung fragen. Das müßte auch die „herrschende Auffassung" konzedieren. Die oben zitierten Aussagen zur Doppelfiinktion der Vernehmung sind also zumindest ungenau. Doch auch wenn man die Doppelrolle auf den sich äußernden Angeklagten reduziert, widerspricht sie der gesetzlichen Konzeption.

3. Die gesetzlichen Grundlagen Die Strafprozeßordnung geht davon aus, daß es sich bei der Einlassung des Angeklagten nicht um ein Beweismittel handelt. Diese Behauptung soll nachfolgend belegt werden. Die insoweit relevanten Vorschriften gehen im wesentlichen auf die Fassung der RStPO zurück. Die Argumentation wird sich daher vor allem auch auf historische Quellen stützen. Dabei wird sich zunächst zeigen, daß nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers dem Geständnis eine Sonderrolle zukommt, sich diese aber nicht im Gesetzestext niedergeschlagen hat (a). Bei der Analyse der gesetzlichen Grundlagen ist das Geständnis daher auszuklammern. Zunächst wird geklärt, wie die Strafprozeßordnung den Begriff „Beweismittel" verwendet (b). Die Einlassung des Angeklagten im Rahmen der Vernehmung zur Sache ist kein Beweismittel in diesem Sinne (c). Auch die weiteren Vorschriften sollen untersucht werden, aus denen die h. M. Argumente für die These herleitet, die Vernehmung des Angeklagten stelle auch einen Akt der Beweisaufnahme. Es wird sich zeigen, daß diese Argumente nicht zwingend sind und die angeführten Vorschriften sich schlüssig interpre-

155 Vgl. auch § 238 I StPO: die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises. 156 Siehe Nachweise in Fn. 141 ff., Kap. 1. 157 Krause, S. 73, Hervorhebung dort. So einfach ist es indes nicht; auch an anderen Stellen differenziert das Gesetz, vgl. unten, S. 47.

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

tieren lassen, wenn man die im Gesetz angelegte terminologische Trennung der Vernehmung des Angeklagten und der Beweisaufnahme konsequent umsetzt.

a) Die Sonderrolle des Geständnisses Das Geständnis spielt in der heutigen strafprozessualen Dogmatik kaum eine Rolle 158 . Das war nicht immer so. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts - vor und nach Inkrafttreten der RStPO - widmete nahezu jedes Handbuch 159 dem Geständnis ein besonderes Kapitel und zahlreiche Aufsätze 160 setzten sich mit der Bedeutung des Geständnisses auseinander. Historisch ist dieses Interesse leicht erklärt: Der Inquisitionsprozeß war auf die Erlangung eines Geständnisses als das wesentliche Beweismittel 161 gerichtet. Auf der Grundlage des reformierten Prozesses wollte man sich davon lösen und die Rolle des Angeklagten als Verfahrenssubjekt stärken. Ganz wollte man auf das Geständnis als Erkenntnisquelle aber nicht verzichten. Der Gesetzgeber unterließ es jedoch, die Funktion des Geständnisses zu regeln. Wohl deshalb ist sie bis heute ungeklärt.

aa) Der Begriff vom Geständnis Der Gesetzgeber der Strafprozeßordnung verwendet den Begriff vom Geständnis allerdings an zwei Stellen: in § 254 und § 362 Nr. 4. Beide Vorschriften betreffen aber andere Verfahrensstadien und lassen damit für die vorliegende Untersuchung keine zwingenden Rückschlüsse zu. Der Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 4 StPO setzt ein durch rechtkräftiges Urteil abgeschlossenes Verfahren voraus. Aus der Regelung kann also nichts für die hier interessierende Frage abgeleitet werden, wie ein Geständnis im laufenden Verfahren zu bewerten ist. Im übrigen erfaßt die Vorschrift auch das außergerichtliche Geständnis. Die Vorschrift des § 254 I StPO hingegen regelt die Einführung eines im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren abgelegten Geständnisses in die 158 Vgl. dazu Dencker, ZStW 1990, S. 51, m. ζ. N. Daran hat sich bis heute wenig geändert. 159 Vgl. etwa Birkmeyer, S. 457 ff.; Zachariae, S. 431 ff.; A. Bauer, S. 31 ff.; Hellweg,, S. 218 ff.; Holtzendorff, S. 260 ff.; Kitka, Beweislehre, S. 35 ff.; Geyer, S. 721 ff. 160 Etwa Walther , CrArch 1851, S.225 ff.; Brauer, ZDSt 1843, S. 454 ff.; Heinzerling, ZDSt 1843, S. 181 ff.; Henschel, Beilage zu GS 1909, S. 1 ff.; Kitka, ZDSt 1842, S. 149 ff.; Schäffer, GS 1853, S. 387 ff.; Sundelin, GA 1858, S. 624 ff. 161 Beweismittel aber nicht in dem Verständnis, das der StPO zugrundeliegt. Die Verurteilung durfte sich auf ein Geständnis stützen. Es war aber - in heutiger Terminologie - kein Beweismittel, sondern Verfahrenshandlung. Ein solches Geständnis machte den Beweis überflüssig, ähnlich wie im Zivilprozeß, § 288 I ZPO.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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Hauptverhandlung. Auch hieraus können - entgegen verbreiteter Ansicht - keine zuverlässigen Rückschlüsse für die Einlassung in der Hauptverhandlung gezogen werden, da dem Angeklagten im Ermittlungsverfahren eine ganz andere Rolle zukommt 162 . Der Gesetzgeber selbst verwendet den Begriff vom Geständnis also nicht im Zusammenhang mit der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Der Begriff vom Geständnis muß demnach unabhängig vom Gesetz bestimmt werden. Es gibt im wesentlichen zwei Möglichkeiten, das Geständnis zu definieren. Zum einen kann man darunter die Erklärung des Angeklagten verstehen, die in der Anklageschrift bezeichnete Tat begangen zu haben. In diesem Sinne verstand der Inquisitionsprozeß das Geständnis. Es war eine Verfahrenshandlung, Voraussetzung fiir eine Verurteilung und für die gerichtliche Entscheidung bindend. Dieses Verständnis vom Begriff des Geständnisses ist für den heutigen Strafprozeß ohne Erkenntniswert. Ein solches bindendes Geständnis kennt die Strafprozeßordnung nicht. Auch wenn der Angeklagte die Tat gesteht, entscheidet das Gericht aufgrund freier Überzeugung (§261 StPO). In den deutschen Strafprozeß fügt sich daher von vornherein nur die andere Definition vom Geständnis163: die (zusammenhängende) Schilderung eigener Wahrnehmungen, die den Anklagevorwurf stützen. Das Geständnis ist ein Erlebnisbericht des Angeklagten. Daraus folgt, daß nur solche Tatsachen zugestanden werden können, die der Angeklagte selbst wahrgenommen haben kann 164 . Selbstverständlich muß das Geständnis nicht umfassend sein; es kann sich auf bestimmte Tatsachen beschränken. Es ist ein Bericht über einen Ausschnitt von Wahrnehmungen, dessen Grenzen der Angeklagte bestimmt und nicht der Anklagesatz. Der so zu definierende Begriff vom Geständnis wird nachfolgend zugrunde gelegt.

bb) Verständnis des historischen Gesetzgebers In den Materialien zur RStPO finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß man das Geständnis des Beschuldigten als elementare Quelle für die Überzeugungsbildung des Gerichts erachtete. In den Motiven zu § 136 StPO 165 heißt es:

162

Vgl. zu dieser Vorschrift S. 53 ff. Für die Untersuchung von Interesse ist selbstverständlich nur das in der Hauptverhandlung abgelegte Geständnis. 164 Der Angeklagte kann also ζ. B. gestehen, daß er nach gewissem Alkoholkonsum noch mit dem Auto gefahren ist und sich dabei nicht mehr in der Lage fühlte, das Auto sicher zu fahren. Der Nachweis der (absoluten) Fahrunsicherheit obliegt aber dem Gericht. Der Angeklagte kennt nicht die Blutalkoholkonzentration und kann diese daher nicht gestehen. 165 § 123 in der Zählung des damaligen Entwurfes. 163

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1. Kap. : Tatsachenvortrag der Parteien

„Die Vernehmung werde, wenn und insoweit der Beschuldigte geständig ist, als freiwillig dargebotenes Untersuchungsmittel auch im heutigen Verfahren von größtem Wert sein." 166 In der Voruntersuchung sollte die Vernehmung des Beschuldigten in Abwesenheit des Verteidigers geführt werden. „Der Entwurf konnte sich der Erwägung nicht verschließen, daß die Vernehmung des Beschuldigten, ungeachtet sie den letzteren nicht zu einem Geständniß nöthigen soll, immerhin ein wichtiges Untersuchungsmittel bleibt, auf welches man in vielen Fällen so gut wir ganz verzichten würde, wollte man dem Vertheidiger gestatten, bei der Vernehmung anwesend zu sein und den Beschuldigten von jeglicher Auslassung, zu welcher dieser geneigt sein möchte, zurückzuhalten." 1 6 7 Diese Äußerungen findet sich im Zusammenhang mit Vorschriften über das Ermittlungsverfahren bzw. die Voruntersuchung 168. An versteckter Stelle findet sich jedoch ein Hinweis, daß auch das in der Hauptverhandlung abgelegte Geständnis als Beweismittel angesehen wurde: In den Motiven zu § 247 RStPO 169 wandte man sich gegen die „Englische Rechtsübung", wonach „es eines Juryverdikts nicht bedürfe, wenn der Angeklagte guilty plaidire." „Dem Entwurf mußte der Gedanke fern bleiben, daß der Angeklagte unter Verzicht auf eine Beweisführung sich der Anklage unterwerfen dürfe; der Entwurf erblickt in dem Geständnisse nur ein Beweismittel, nicht einen Ersatz fur den Schuldigspruch." 170 „Dem Geständnisse darf also im Strafverfahren nur die Bedeutung eines Beweismittels beigelegt werden. Mag es auch als ,regina probationum' anerkannt werden, es bleibt doch in den Kreis der probationes gebannt und kann niemals den Schuldspruch ersetzen." 171 In den Materialien finden sich weitere Anhaltspunkte dafür, daß dem (in der Hauptverhandlung abgelegten) Geständnis eine besondere Rolle zukommt. Ein solcher Anhaltspunkt findet sich an versteckter Stelle noch im heutigen Gesetzestext: Bestreitet der Angeklagte... neu hervorgetretene Umstände..., so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen, § 265 III StPO. Diese Vorschrift geht auf einen Antrag des Abgeordneten Becker zurück, der bei neuen Tatsachen eine Aussetzung der Verhandlung auf Antrag des Angeklagten verlangte; Absatz 2 seines Antrags lautete: „Die vorstehenden Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die erst in der Verhandlung ermittelten Umstände vom Angeklagten zugestanden sind." 172 Die Gesetz gewordene Formulierung ging auf einen Vorschlag der Kommission zurück; eine inhaltliche Änderung

166 ]6 Ί 168 169 170 171 172

Hahn, S. 138. Hahn, S. 163. Zur Bedeutung des § 254 StPO siehe unten, S. 53 ff. Hahn, S. 220 f., Hahn, S. 220. Hahn, S. 221. Siehe Hahn, S. 873 f., Hervorhebung vom Verf.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

43

war damit nicht bezweckt 173 . Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, daß das Geständnis nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine Sonderrolle einnahm, ergibt sich aus der Vorschrift des § 211 II 1 RStPO. Danach war das Geständnis Voraussetzung für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens: „Auch kann der Amtsrichter in dem Falle der Vorführung des Beschuldigten mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ohne Zuziehung von Schöffen zur Hauptverhandlung schreiten, wenn der Beschuldigte nur wegen Uebertretung verfolgt wird und die ihm zur Last gelegte That eingesteht." Schließlich erhellt die Diskussion um die Einführung einer besonderen Belehrungsvorschrift 174, daß dem Geständnis eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Eine Belehrung im Rahmen der (ersten) Vernehmung des Inhalts, dem Angeklagten zu eröffnen, daß seine Aussage in der Hauptverhandlung als Beweismittel gegen ihn benutzt werden könne, wurde vorgeschlagen; der Antrag wurde aber nicht angenommen, da man fürchtete, der Beschuldigte werde darin eine Art von Drohung, eine Abmahnung vom Einlassen auf die Vernehmung erblicken, deswegen die Auskunft verweigern. 175 Man wollte auf das Geständnis als Erkenntnisquelle nicht verzichten, zumal es regelmäßig auch Tatsachen beinhalte, die die Handlung in milderem Licht erscheinen lasse. Gerade solche Tatsachen, welche sich auf die Vorgänge im Innern des Täters beziehen, seien von Bedeutung nicht nur für die Strafzumessung, sondern auch für die Subsumtion.176 Für den Antrag auf besondere Belehrung sprach sich Gneist aus. Er interpretierte die Vorschriften über die Vernehmung so: Der Beschuldigte sei zunächst zu fragen, ob er sich schuldig bekenne oder nicht; (nur) im letzteren Fall solle er vorläufig mit weiteren Fragen verschont werden; es seien ihm die Beweise vorzufuhren 177 . Diese Sammlung von Quellen dürfte hinreichend belegen, daß der Gesetzgeber dem Geständnis eine besondere Bedeutung zumaß 178 . Das Geständnis wurde auch unter der Geltung der RStPO als „regina probationum" betrachtet. Das Gericht sollte auf das Geständnis ein verurteilendes Erkenntnis stützen können. Damit einher sollte eine Verkürzung der Beweisaufnahme gehen, wenn das Gericht dem Geständnis Glauben schenkte. Eine gesetzliche Regelung zu der Be-

173 Vgl. Hahn, S. 1587 f.: „Selbstverständlich, wie dies das Eingangs gebrauchte Wort,bestreitet' an die Hand giebt, bezieht sich diese Bestimmung nicht auf den Fall, in welchem der Angeklagte diese Umstände zugesteht..." m

Hahn, S. 701 ff.. Hahn, S. 701 ff., 702. 176 Schwarze, bei Hahn, S. 701. 177 Gneist, bei Hahn, S. 702, siehe auch Gneist, Vier Fragen, S. 80 ff., 85. 178 Zur Diskussion um die Bedeutung der Vernehmung des Angeklagten im historischen Schrifttum siehe Herrmann, S. 60 ff. Vgl. auch die historischen Nachweise bei Lesch, Strafprozeßrecht, S. 118 ff, inhaltsgleich in ZStW 1999, S. 626 ff. und KMR, vor § 133, Rn. 19 ff. 175

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

deutung des Geständnisses fehlt 179 . Die StPO differenziert nicht nach dem Inhalt der Einlassung des Angeklagten, obwohl sich daran der weitere Ablauf der Hauptverhandlung orientiert - und nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers wohl auch orientieren darf 180 .

cc) Vorbehalt Die Sonderrolle des Geständnisses als „wichtiges Untersuchungsmittel" ist sachlich begründet, im Gesetz gibt es für sie allerdings keine näheren Anhaltspunkte. Auch mit der gängigen Dogmatik läßt sie sich nicht befriedigend erklären. Zu viele Unsicherheiten sind mit der Doppelfiinktion der Vernehmung des Angeklagten verknüpft, selbst wenn man sie auf Äußerungen des Angeklagten zur Sache beschränken wollte. Das undefinierbare Konglomerat aus Subjektund Objektstellung läßt prognostizierbare Ergebnisse nicht zu. Man sollte daher auf das Schlagwort „Doppelrolle" verzichten und statt dessen akzeptieren, daß der Angeklagte Erklärungen grundsätzlich als Verfahrenssubjekt abgibt - und nur dem Geständnis eine Sonderrolle als Erkenntnismittel besonderer Art zukommt: Der Angeklagte hat als Partei des Prozesses die Möglichkeit, durch Tatsachenbehauptungen auf das Verfahren Einfluß zu nehmen. Das sind Parteierklärungen, wie sie grundsätzlich jeder Verfahrensbeteiligte abgeben kann. Hat der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat tatsächlich begangen, befindet er sich in einer besonderen Situation, die ihn regelmäßig von sonstigen Verfahrensbeteiligten unterscheidet: Er selbst hat Tatsachen wahrgenommen, die Gegenstand der Beweisaufnahme sind, und er ist damit Erkenntnisquelle. Zwar kann er nicht gezwungen werden, dieses Sonderwissen zu offenbaren, denn es

179 Auf diesen Mißstand weist schon Glaser, Handbuch, S. 618 ff., hin. - Daß nur dem Geständnis, nicht der Vernehmung des Angeklagten per se, diese - gesetzlich nicht geregelte - Sonderrolle zukommt, verkennt neuerdings auch Lesch (wie Fn. zuvor). Er sieht einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt dafür, daß der Angeklagte in seiner Vernehmung der Inquisition unterliege, in § 244 II StPO (Strafprozeßrecht, S. 123, ZStW 1999, S. 634 f. und KMR, vor § 133, Rn. 30). Die Aussage des Angeklagten ist aber nach den gesetzlichen Regeln gerade kein Beweismittel (siehe S. 47). 180 Auch im Schrifttum war völlig unumstritten, daß dem glaubhaften Geständnis diese verfahrensabkürzende Wirkung zukam, vgl. etwa Stenglein, S. 417 („Es liegt im Ermessen des Richters, zu prüfen, ob das Geständnis dermaßen Glauben verdient, daß das Urteil darauf allein gestützt werden kann"); Zachariae, S. 312 („versteht sich von selbst"); Glaser, Handbuch, S. 606 („das Vorhandensein kann dazu beitragen, andere Beweise, deren Aufnahme sehr zeitraubend sein würde, entbehrlich zu machen"), siehe dort auch die Nachweise in Fn. 7; ders., Gutachten, S. 430 („könne eine Vereinfachung des Verfahrens begründen"); Planck, S. 179 („das Geständnis kann eine fernere Beweisführung überflüssig machen"); Löwe, § 243, Rn. 2 („Es ist völlig zulässig, eine Verurteilung des Angeklagten ausschließlich auf das Geständniß desselben zu gründen"); Ulimann, S. 461 („kann namentlich bei vorliegendem Geständniss die Beweisaufnahme entfallen").

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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steht ihm frei, sich zur Sache zu äußern. Es kann ihm aber auch nicht verwehrt werden, dieses (Täter-)Wissen in den Prozeß einzubringen. Wenn er sich dazu entschließt, seine Wahrnehmungen vom Tathergang zu schildern, hat das Gericht diese auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen; das Geständnis des Angeklagten wird damit quasi zum Gegenstand der Beweisaufnahme. Der Angeklagte kann also nicht nur frei darüber entscheiden, ob er sich überhaupt zur Sache äußert, sondern auch darüber, in welcher Funktion er seine Äußerung tätigt: als verteidigende Einlassung (Verfahrenshandlung) oder als Geständnis (Erkenntnismittel). Mit einer solchen Differenzierung zwischen Parteierklärungen und dem Geständnis als besondere Erkenntnisquelle gewinnt auch die Rolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung scharfe Konturen: Erklärungen des Angeklagten sind grundsätzlich Verfahrenshandlungen; der Angeklagte hat aber auch die Möglichkeit, seine Wahrnehmungen in Form eines Geständnisses in die Hauptverhandlung einzubringen. Die Strafprozeßordnung bezeichnet die Äußerung des Angeklagten im Rahmen seiner Vernehmung zur Sache (sachlich zutreffend) nicht als Beweismittel. Sie enthält aber auch keine Regelung zur besonderen Funktion des Geständnisses als Erkenntnismittel. Eine solche gesetzliche Regelung 181 wäre wünschenswert, um die Trennung von Parteierklärung und Geständnis zu formalisieren und die Einlassung des Angeklagten zu strukturieren. Die nachfolgenden Untersuchungen zur Rolle des Angeklagten im Strafverfahren beziehen sich aber auf die gesetzlichen Grundlagen. Die Ausführungen stehen daher unter dem Vorbehalt, für das Geständnis des Angeklagten mangels gesetzlicher Regelung keine Geltung zu beanspruchen.

b) Der Begriff des Beweismittels Als Beweisaufnahme bezeichnet die Strafprozeßordnung das Stadium der Hauptverhandlung zwischen Vernehmung des Angeklagten (§ 244 I StPO) und den Schlußvorträgen (§ 258 I StPO). Beweisaufnahme ist die Erforschung der Wahrheit durch Beweiserhebungen 182. Die Beweiserhebung erfolgt durch Einführung von Beweismitteln in den Prozeß. Bevor geklärt werden kann, ob auch der Angeklagte bzw. dessen Einlassung Beweismittel ist, muß der Begriff des Beweismittels definiert werden. Denn die Bezeichnung ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint.

181

Siehe dazu unten, S. 217 f. Daß die Strafprozeßordnung mit der Beweisaufnahme die Summe der einzelnen Beweiserhebungen beschreibt, läßt sich dem Gesetzestext recht zuverlässig entnehmen, vgl. §§ 244 I, II, III 1, 2, 245, 246 I, 257 I, II, 258 I. 182

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

aa) Der Begriff des Beweismittels in der Literatur Im strafprozessualen Schrifttum findet man unter dem Stichwort Beweismittel regelmäßig den Hinweis, man habe zwischen persönlichen und sachlichen Beweismitteln zu unterscheiden 183; dann folgt eine Aufzählung der „gesetzlichen" Beweismittel: Zeuge, Sachverständiger, Urkunde, Augenschein und mit dem Hinweis auf dessen Sonderstellung: der Angeklagte 184 . Eine Definition des Beweismittels findet man indes selten 185 . Diese Aufzählung der Beweismittel ist zugeschnitten auf die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Im Ermittlungsverfahren hat die Einordnung einer Erkenntnisquelle in eines der „gesetzlichen" Beweismittel keinerlei Funktion. So lohnt es nicht die Mühe, die schriftliche Anzeigenerstattung als Urkunden- oder Zeugenbeweis zu qualifizieren, oder das aufgezeichnete Telefongespräch als Zeugen- oder Augenscheinsbeweis. Im übrigen ist eine Einordnung auch nicht immer möglich. Teilweise werden „Beweismittel" erst anläßlich des Ermittlungsverfahrens erstellt bzw. konserviert. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Von dem mitgeschnittenen Telefongespräch wird eine Abschrift erstellt; die Einordnung als Urkundenbeweis ist im Ermittlungsverfahren dann zufällig. Es spielt eben keine Rolle, auf welchem Wege 186 die Ermittlungsbehörden von einer Tatsache Kenntnis erlangen; die Beweiserhebung ist nicht formalisiert. Im Ermittlungsverfahren setzt das Gesetz einen anderen Begriff vom Beweismittel voraus und verwendet ihn auch (vgl. etwa §§ 94 I, 102, 111 I 1, 112 II Nr. 3 a, 172 III 1, 174 II StPO 187 ); es meint damit alle Erkenntnisquellen 188, ohne ζ. B. zwischen Urkunden und Augenscheinsobjekten zu differenzieren, was besonders deutlich wird in der Aufzählung des § 97 V StPO: Schriftstücke, Ton-, Bildund Datenträger, Abbildungen und andere Darstellungen.

183 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl., Rn. 49; KK-Pfeiffer, Einleitung, Rn. 94 f f ; Kramer, Rn. 120; Ranft, Rn. 450; Beulke, Rn. 179; Rüping, Strafverfahren, Rn. 462. Auch das Gesetz kennt diese Unterscheidung zwischen persönlichen und sachlichen Beweismitteln, vgl. etwa § 112 II Nr. 3 a und b StPO. 184 Wie Fn. zuvor. 185 Etwa bei Alsberg/Nüse/Meyer, S. 165: „Personen und Sachen, mit denen dem Gericht die Überzeugung vom Vorliegen oder NichtVorliegen von Tatsachen oder Erfahrungssätzen vermittelt werden kann." Ansonsten ist der Begriff in Wörterbüchern definiert: alles, was dem Richter Wahrnehmungen über den Beweisgegenstand ermöglichen oder vermitteln soll (Meyers Lexikon, Band 4, S. 90); dasjenige Mittel, durch das ein Beweis geführt werden kann (Köbler, S. 59); anders jedoch Ulsamer, S. 174: die Strafprozeßordnung stellt einen Katalog zur Verfügung. 186 Gemeint ist damit natürlich nur: durch welches „Beweismittel". 187 Vgl. zudem für das Zwischenverfahren §§ 200 I 2, 211, 214 IV 1, 219, 221 StPO und für das Wiederaufnahmeverfahren § 359 Nr. 5 StPO. 188 Vgl. hierzu die Definition des (Sach-)Beweismittels bei Kleinknecht/MeyerGoßner, § 94, Rn. 5: „alle beweglichen und unbeweglichen Sachen, die unmittelbar fiir die Tat oder die Umstände ihrer Begehung Beweis erbringen."

V. Die Vernehmung des Angeklagten

47

Doch auch bezogen auf das Stadium der Hauptverhandlung ist die übliche Aufzählung der Beweismittel noch zu ungenau. Denn sie bezieht sich allein auf die im Strengbeweisverfahren zu ermittelnden Tatsachen, also auf die fur die Schuld- und Straffrage relevanten 189. Daß das Gericht daneben auch in der Hauptverhandlung prozessuale Fragen freibeweislich, das heißt ohne strikte Bindung an die Vorgaben der §§ 244 ff. StPO klären kann, ist unumstritten 190 . Nun mag man die Einholung einer amtlichen Auskunft noch unter den Begriff der (nur eben nicht strengbeweislichen) Zeugenvernehmung fassen 191; hinsichtlich der Befragung des Verteidigers oder des Staatsanwaltes (etwa: vor Verhängung eines Ordnungsmittels erkundigt sich das Gericht nach dem Verbleib eines Zeugen) geht das nicht, da ihre Verfahrensrolle mit der Zeugenfunktion unvereinbar ist. Ebensowenig ist der Richter Zeuge, der eine dienstliche Äußerung (etwa gemäß § 26 III StPO) abgibt. Der im Schrifttum gebräuchliche Begriff vom Beweismittel ist daher nur für einen sehr begrenzten Ausschnitt des Strafverfahrens zutreffend. Er bezieht sich nur auf die formalisierte Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung gemäß §§ 244 ff. StPO.

bb) Der Begriff des Beweismittels für die weitere Untersuchung Dieses enge Verständnis vom Begriff des Beweismittels soll auch im folgenden zugrunde gelegt werden, beschränkt sich die Untersuchung doch auf die „Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung", also genau auf den Teil der Hauptverhandlung, in dem die Regeln des Strengbeweises gelten. Und nach diesem engen Verständnis ist die Einlassung des Angeklagten kein Beweismittel, die Vernehmung des Angeklagten also keine Beweiserhebung. Insoweit ist der Gesetzeswortlaut zwingend. Daß die Vernehmung des Angeklagten nicht zur Beweisaufnahme zählt, ist in § 244 I StPO eindeutig formuliert 192 und folgt auch aus § 238 I StPO, der die Vernehmung des Angeklagten neben die Aufnahme des Beweises stellt. Gemäß § 243 I 2 stellt der Vorsitzende fest, ob der Angeklagte (und der Verteidiger) anwesend und die Beweismittel herbeigeschafft sind. Die Beweisablehnungsgründe des § 244 beziehen sich auf die Be-

189 Darüber hinaus ist umstritten, ob der Strengbeweis auch fur prozeßerhebliche Tatsachen gilt, die die Urteilsgrundlage unmittelbar beeinflussen, vgl. zum Streitstand Eisenberg, Rn. 38 ff. m. w. N; LR-Gollwitzer, § 244, Rn. 3 ff. 190 Vgl. aber Fn. zuvor. 191 Allerdings wird die Amtsperson nicht als Zeuge gemäß §§ 48 ff. StPO vernommen; sie wird regelmäßig nicht belehrt (§ 57 StPO), nicht zur Person vernommen (§ 68 StPO) und auch nicht veranlaßt, die Kenntnisse im Zusammenhang anzugeben (§ 69 I 2 StPO). 192 Entsprechend die Formulierung des 324 II StPO.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

48

weismittel Zeugen und Urkunden (Abs. 3), Sachverständige (Abs. 4) und Augenschein (Abs. 5) 1 9 3 . Die Pflicht zur Erhebung präsenter Beweismittel (§ 245 StPO) bezieht sich ebenso auf die Beweismittel Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein. Als persönliche Beweismittel bezeichnet § 251 StPO den Zeugen, Sachverständigen und Mitbeschuldigten 194 . Der Mitangeklagte hingegen ist als Verfahrensbeteiligter kein Beweismittel: § 257 StPO trennt dessen Vernehmung von den einzelnen Beweiserhebungen 195. Die Strafprozeßordnung unterscheidet ihrem Wortlaut nach also recht deutlich zwischen der Vernehmung des Angeklagten und der Beweisaufnahme. Die Einlassung des Angeklagten ist kein Beweismittel in der Terminologie des Gesetzes. Diese Argumentation mag zunächst recht formal anmuten; der Wortlaut des Gesetzes legt sie jedoch nahe, und die Trennung der Einlassung des Angeklagten von der Beweisaufnahme läßt sich auch inhaltlich umsetzen. Zuvor bedarf es jedoch noch folgender Klarstellung:

cc) Der Angeklagte als Beweisobjekt Der Angeklagte liefert auch Beweistatsachen; er ist also Erkenntnisquelle, etwa wenn er Zeugen gegenübergestellt 196 oder fotografiert (§ 81 b StPO), körperlich untersucht (§ 81 a StPO) oder sein Fernmeldeverkehr abgehört wird (§ 100 a StPO). Mit dieser Begründung wird erklärt, daß sich die Subjektstellung des Angeklagten sowieso nicht streng durchhalten lasse, der Angeklagte also auch Beweismittel 197 und damit Objekt des Verfahrens sei. Der Vergleich 193 Ein Beweisantrag auf Vernehmung des Angeklagten sieht die Strafprozeßordnung ersichtlich nicht vor (dessen Vernehmung ist der Beweisaufnahme zwar vorgelagert; wenn er aber geschwiegen hat, ist ein Beweisantrag auf Vernehmung des Angeklagten zumindest denkbar), und das nicht etwa deshalb, weil es ihm freisteht, sich zur Anklage zu äußern (dieses Aussageverweigerungsrecht kann auch Zeugen zustehen, vgl. §§52 ff. StPO), sondern weil er kein Beweismittel ist. 194 Die Aufnahme des Mitbeschuldigten in § 251 StPO ist deshalb erforderlich, weil nur das Protokoll einer Vernehmung als Beschuldigter, nicht aber als Zeuge, existiert, und seiner Vernehmung als Zeuge in der Hauptverhandlung ein Hinderungsgrund entgegensteht. Zur ungenauen Terminologie des Gesetzes vgl. Grünwald, FS Klug, S. 496, Fn. 13. 195

Auch § 247 S. 1 differenziert zwischen Mitangeklagten und Zeugen. Die gesetzliche Grundlage dafür (bzw. ob es eine solche gibt) ist umstritten, vgl. die Nachweise bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 58, Rn. 9. 197 Die Verwendung des Begriffs Beweismittel hat in diesem Zusammenhang nicht die soeben festgestellte Bedeutung. Er wird hier im Sinne von Erkenntnisquelle verwendet und bezieht sich auch vorrangig auf das Stadium des Ermittlungsverfahrens. Im übrigen ist die Formulierung vom „Angeklagten als Beweismittel" ungenau. Nicht der Angeklagte (bzw: Beschuldigte) selbst ist Beweismittel, vielmehr existieren Erkenntnisquellen, auf die die Ermittlungsbehörden nicht zugreifen können, ohne in die Rechte des Beschuldigten einzugreifen, vgl. dazu den nachfolgenden Text. 196

V. Die Vernehmung des Angeklagten

49

ist indes unzutreffend. Soweit es um die Beweismitteleigenschaft geht, ist zu differenzieren zwischen der Beweismittelerlangung durch Eingriffe in Rechte des Beschuldigten und dem Beschuldigten als Aussageperson. Denn Objekt des Verfahrens ist der Angeklagte nur dann, wenn in seinen „Rechtskreis" eingegriffen wird, um existente Beweisquellen zu sichten oder sicherzustellen. Darauf ist vor allem das Ermittlungsverfahren angelegt. Es erlaubt - unter dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - den (unter Umständen auch zwangsweisen) Zugriff auf existente Erkenntnisquellen und das (unter Umständen auch heimliche) Beobachten von Geschehensabläufen. Der Beschuldigte kann daher auch selbst Erkenntnisquellen produzieren, etwa indem er das Tatwerkzeug in seiner Wohnung aufbewahrt, den Tatort nochmals aufsucht, sich via Telefon oder Brief gegenüber Dritten mitteilt oder das Tatgeschehen in einem Tagebuch „verarbeitet". Daraufhaben die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich Zugriff, unter bestimmten Voraussetzungen auch zwangsweise oder heimlich. Im Rahmen der Vernehmung 198 ist jedoch jegliche (zwangsweise oder heimliche) Beeinflussung des Willens untersagt. In seinen Erklärungen ist der Angeklagte autonom, er ist ausschließlich Verfahrenssubjekt. Über die ihm bekannten Tatsachen kann er frei verfugen. Niemand hat darauf einen Zugriff. Er kann den Informationsfluß beliebig steuern und darf nicht gezwungen werden, aktiv an seiner Überführung mitzuwirken. Der Angeklagte ist daher niemals Beweismittel oder Objekt des Verfahrens, wenn er Erklärungen abgibt.

dd) Ergebnis Der Gesetzgeber verwendet 199 den Begriff des Beweismittels in der Hauptverhandlung in dem Sinne, daß er darunter nur Urkunden, Augenscheinsobjekte, Zeugen und Sachverständige versteht. Die Einlassung des Angeklagten (und damit auch jede sonstige Erklärung) ist kein Beweismittel in diesem Sinne. Er gibt seine Erklärungen als Prozeßsubjekt ab - auch dann, wenn er zur Sache aussagt.

198

Der Streit um den Begriff der Vernehmung („formeller" bzw. „materieller" Vernehmungsbegriff, vgl. etwa Beulke, Rn. 115 m. w. N.) ist für die Situation der richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung unerheblich. 199 Vgl. nur §§ 244 II, 245 II, 249 StPO. 4 Kruse

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

50

c) Der Begriff der Vernehmung Die Strafprozeßordnung schreibt vor, daß der Angeklagte zur Sache vernommen wird (§ 243 IV 2 StPO). Der Begriff der Vernehmung könnte nahelegen, daß es sich bei der Einlassung des Angeklagten doch um einen Akt der Beweisaufnahme handelt. Denn unter einer Vernehmung versteht der allgemeine Sprachgebrauch das auf Klärung des Sachverhalts gerichtete Fragen durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht 200 . Dementsprechend schreiben die Prozeßordnungen vor, daß die persönlichen Beweismittel Zeuge und Sachverständiger vernommen werden (§§ 69, 72 StPO, inhaltlich vergleichbar die §§ 396, 402 ZPO), ebenso die Parteien des Zivilprozesses im Rahmen der Beweisaufnahme gemäß §§ 445 ff. ZPO. Dagegen haben die Parteien als Verfahrensbeteiligte das Recht, Erklärungen abzugeben, haben Anspruch auf rechtliches Gehör und werden daher gehört oder angehört 201. Um die erstrebte Abkehr vom „peinlichen Verhör" des mittelalterlichen Inquisitionsprozesses deutlicher zu machen, hätte eine solche Formulierung von der Anhörung des Angeklagten sicherlich klarstellende Funktion gehabt 202 . Der historische Gesetzgeber verstand den Begriff der Vernehmung aber auch im Sinne von Gehörsgewährung. Schon der erste Entwurf aus dem Jahre 1870 spricht von der Vernehmung des Beschuldigten 203 , stellt aber in § 10 einleitend klar, daß der Fällung des Urtheils eine mündliche Verhandlung vorhergehen muß, in welcher der Beweis aufzunehmen sowie der Angeklagte zu hören ist. Die vom Bundesrat eingesetzte Kommission zur Beratung des Entwurfs schlug im Mai 1873 eine sprachliche Änderung vor, allerdings nur für die Hauptverhandlung. Der § 197 (dem heutigen § 243 StPO entsprechend) sollte wie folgt gefaßt werden: „Die Verhandlung beginnt mit der Befragung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse." „Sodann wird der Angeklagte über die Anklage und die zu seiner Rechtfertigung gegen dieselbe vorzubringenden Thatsachen gehört", und in § 198 sollte der Begriff „Vernehmung" durch „Be-

200

Meyers Lexikon, Band 24, S. 494; ähnlich Köbler, S. 303: „eine meist mündliche Befragung einer Person über verfahrensrechtlich bedeutsame Umstände'4. Vgl. demgegenüber Tilch, Band 3, S. 999: „die formalisierte Anhörung einer Person vor Gericht zur Erörterung und Aufklärung des Prozeßstoffes", Hervorhebung vom Verf. 201 Vgl. etwa §§ 129 a, 130 Nr. 4, 138, 139 I 1 ZPO: „Erklärungen/erklären"; § 278 I 2 ZPO: „gehört"; § 278 III ZPO: „Gelegenheit zur Äußerung". 202 In der ersten Beratung im Reichstag kritisierte der Abgeordnete Hänel, es werde „das Gehör des Angeschuldigten verwechselt mit dem Verhör des Angeschuldigten", da „in dem wichtigsten Falle der Vernehmung", in der gerichtlichen Voruntersuchung, der Verteidiger ausgeschlossen sei, zitiert bei Hahn, S. 507. 203 §§ 119, 135, 137 ff., 163, 207 f. des Entwurfs, abgedruckt bei Schubert/ Regge, S. 48 ff.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

51

fragung" ersetzt werden 204 . Einen Monat später faßte die Kommission „den generellen Beschluß", „die Worte ,Befragung des Angeklagten4 überall zu ändern in ,Vernehmung des pp. 4 4 4 2 0 5 . So war in dem dem Bundesrat vorgelegten Entwurf wieder von der Vernehmung des Angeklagten die Rede, während in dem Entwurf nach Erster Lesung noch von der Anhörung und Befragung des Angeklagten gesprochen wurde 206 . Trotz der spärlichen Materialien zu den Beratungen der Kommission läßt sich zuverlässig vermuten, daß allein aus Gründen einer (überkommenen und) einheitlichen Sprachregelung letztlich auch fiir die Hauptverhandlung die „Vernehmung des Angeklagten" vorgeschrieben wurde. Der Begriff der „Vernehmung 44 besagt also nichts dafür, daß der Angeklagten als Aussageperson Beweismittel ist. Die Begriffswahl des historischen Gesetzgebers ist - zumindest was die Hauptverhandlung betrifft - nicht mit Inhalten verknüpft, sondern eher zufällig. Aus dem Zusammenhang der Regelungen ergibt sich deutlich, daß der Angeklagte kein Beweismittel ist. Seine Vernehmung erfolgt nach Maßgabe des § 136 StPO, also zum Zwecke seiner Verteidigung. Die Neufassung des § 243 IV StPO durch das StPÄG 1964 207 bringt dies noch etwas deutlicher zum Ausdruck: „Sodann wird der Angeklagte darauf hingewiesen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern."

d) Pflicht zum Erscheinen und Anordnung des persönlichen Erscheinens Auch die Möglichkeit, das persönliche Erscheinen des Angeklagten in der Hauptverhandlung anzuordnen (§ 236 StPO), hat nicht den Zweck, ihn als Beweismittel herbeizuschaffen. Die Vorschriften über die Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§§ 230 ff. StPO) verfolgen unstreitig 208 den Zweck, das rechtliche Gehör des Angeklagten zu sichern. Der Angeklagte soll nicht verurteilt werden, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, sich umfassend zum Anklagevorwurf zu äußern und zu verteidigen. Dieser (einzige) Zweck der Anwesenheitspflicht ergibt sich zwingend aus dem Gesamtkontext der gesetzlichen Regelungen. Gegen den ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung grundsätzlich nicht statt (§ 230 I 204

Schubert/Regge, S. 210, Hervorhebungen vom Verf. Die Begründungen und Diskussionen der Kommission sind nicht protokolliert, a. a. Ο., S. 10. 205 Schubert/Regge, S. 257. 206 Vgl. §§ 197 und 198 des Entwurfs, abgedruckt bei Schubert/Regge, S. 276. 207 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19.12.1964, BGBl. Teil 1, S. 1067. 208 Allerdings soll die Anwesenheitspflicht des Angeklagten - mit unterschiedlicher Gewichtung der Zwecke - auch der Aufklärung des Sachverhaltes dienen, zum Stand der Auffassungen Stein, ZStW 97, S. 305 f.; LR-Gollwitzer, § 230, Rn. 1, jeweils m. w. N. Vgl. dazu den nachfolgenden Text. 4*

52

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

StPO). Entfernt sich der Angeklagte, führt er seine Verhandlungsunfâhigkeit schuldhaft herbei oder wird er wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer entfernt, so kann ohne den Angeklagten weiterverhandelt werden, wenn dieser Gelegenheit hatte, sich zur Anklage zu äußern (vgl. im einzelnen §§ 231 II, 231 a I 2, 231 b I 2 StPO). Gegen den abwesenden Angeklagten darf nur bei geringer Straferwartung und nach vorherigem Hinweis verhandelt werden (§ 232 StPO) 209 , und auf seinen Antrag hin kann der Angeklagte von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden werden (§ 233 StPO); im letzteren Fall muß er durch einen beauftragten oder ersuchten Richter vernommen werden. Nach diesen Vorschriften wird also ohne den Angeklagten verhandelt, wenn dessen Pflicht zum Erscheinen gegenüber der zu erwartenden Strafe unverhältnismäßig erscheint 210 ; das Protokoll über eine richterliche Vernehmung muß dann aber zur Wahrung rechtlichen Gehörs verlesen werden (§§ 232 III, 233 III 2 StPO). 211 Die Strafprozeßordnung stellt also in den Vorschriften über die Anwesenheitspflicht des Angeklagten ausschließlich dessen rechtliches Gehör sicher. Erst nach der Vernehmung darf ohne ihn weiterverhandelt werden, und in Bagatellsachen darf die Vernehmung durch Verlesung eines richterlichen Protokolls ersetzt werden. Auf den Inhalt der Erklärungen des Angeklagten, etwa auf ein Geständnis, stellt das Gesetz ebensowenig ab wie auf einen einfachen Sachverhalt oder eine klare Beweislage 212 . Es geht also nicht (auch) darum, den Angeklagten als Beweismittel herbeizuschaffen und, wenn dessen Anwesenheit zur Aufklärung des Sachverhalts nicht (mehr) erforderlich erscheint, auf ihn zu verzichten. Die Pflicht zum Erscheinen (und Verbleiben) liegt ausschließlich

209 Diese gesetzlichen Vorgaben des Strafrahmens werden durch § 408 a StPO ζ. T. konterkariert. Danach kann ein Strafbefehl mit wesentlich schärferen Rechtsfolgen (§ 407 II StPO) ergehen, wenn der Durchführung einer Hauptverhandlung das Ausbleiben oder die Abwesenheit des Angeklagten oder ein anderer wichtiger Grund entgegensteht. Das ist eine äußerst bedenkliche Vorschrift, zumal ein Hinweis entsprechend dem § 232 StPO nicht erforderlich ist und die Ersatzzustellung (ζ. T. sogar die öffentliche Zustellung) nach h. M. zulässig sein soll (vgl. zum Streitstand m. w. N.: Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 409, Rn. 20 f.). 210 Im Ordnungswidrigkeitenverfahren war das Regel-Ausnahme-Verhältnis konsequenterweise umgekehrt, siehe § 73 OWiG a. F. Durch das Gesetz zur Änderung des OWiG vom 26. Januar 1998, BGBl. 1998, Teil 1, S. 156, ist § 73 OWiG den strafprozessualen Vorschriften (§§ 232 f. StPO) allerdings angenähert worden. 211 Schließlich können auch Rechtsbehelfe des Angeklagten verworfen werden, wenn er ausbleibt (§§ 329 I 1, 412). Hinter diesen Regelungen steckt die gesetzliche Vermutung, daß derjenige, der nicht erscheint, auf sein Rechtsmittel verzichtet, vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 329, Rn. 2, so auch der Abg. Pfaffenrott, zitiert bei Hahn, S. 1019; neuerdings wird vermehrt auch auf den Gedanken der Verwirkung abgestellt, vgl. LR-Gollwitzer, § 329, Rn. 77 m. w. N. 212

Vgl. die Formulierung in § 407 StPO; der Vorläufer dieser Vorschrift, §212 StPO, erlaubte das beschleunigte Verfahren, „wenn der Sachverhalt einfach ist".

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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im Interesse des Angeklagten. Das bestätigt auch ein Blick in die Motive: Das Kontumazialverfahren sei grundsätzlich ausgeschlossen, „weil Prozeßformen, welche als unentbehrlich zum Schutze des Angeklagten zu erachten seien, nicht dem Verzicht des letzteren unterworfen werden können. Mag auch dem Angeklagten gestattet sein, im Laufe der Hauptverhandlung Schweigen zu beobachten, so ist doch schon in seiner persönlichen Gegenwart und in der ihm damit gegebenen Möglichkeit, jederzeit zu seiner Vertheidigung in den Gang der Hauptverhandlung eintreten zu können, eine Garantie fiir die Zulässigkeit des Verfahrens zu suchen, welche selbst unter ausdrücklicher Einwilligung des Angeklagten nicht entbehrt werden kann. Nur bei geringfügigen strafbaren Handlungen wird man aus dem Ausbleiben des Angeklagten die Fiktion eines Verzichts auf seine Vertheidigung herleiten und deshalb Ausnahmen von der aufgestellten Regel zulassen dürfen" 213 . „Der Entwurf will ausschließen, daß der Angeklagte ungehört verurtheilt werde" 214 . Die Vorschrift des § 236 StPO will nur sicherstellen, daß es letztlich die Entscheidung des Gerichts ist, eine Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchzuführen. „Ein unbedingtes Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung auszubleiben, ist in keinem Falle anzuerkennen" 215.

e) Verlesung eines richterlichen

Protokolls

Eine Vorschrift allerdings scheint die herrschende Meinung zu stützen, nach der die Einlassung des Angeklagten (zumindest auch) zur Beweisaufnahme gehört. Gemäß § 254 I können Erklärungen des Angeklagten, die in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesen werden. Der Wortlaut ist insoweit eindeutig: Erklärungen des Angeklagten sind Beweismittel. Nun darf die Verlesung nur zum Zwecke der Beweisaufnahme über eine Geständnis erfolgen. Diese Vorschrift ließe sich also leicht mit der Sonderrolle des Geständnisses erklären. So ganz fugt sie sich dennoch nicht in das hier entwickelte Verfahrensmodell ein. Denn zum einen sind Gegenstand der Beweisaufnahme Erklärungen des Angeklagten. Diese offene Formulierung erlaubt auch die Verlesung belastender Äußerungen, die nicht als Geständnis gedacht waren. Die Differenzierung zwischen Parteierklärungen und dem Geständnis als besondere Erkenntnisquelle verliert an Trennschärfe, wenn dem Gericht die Entscheidung überlassen wird, ob eine Erklärung belastend ist - und damit ein Geständnis. Zum anderen erlaubt § 254 I StPO die Beweisaufnahme über eine frühere Erklärung unabhängig von dem 213 2,4 215

Hahn, S. 185. Hahn, S. 186, Hervorhebung dort. Hahn, S. 188, Hervorhebungen dort.

54

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

Prozeßverhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Daher soll auch diese Vorschrift näher untersucht werden, zumal ihr in der Diskussion um die Verfahrensrolle des Angeklagten eine erhebliche Argumentationskraft zugemessen wird. Die Analyse wird ergeben, daß sich zuverlässige Rückschlüsse fiir die Rolle des Angeklagten als Aussageperson aus § 254 I StPO nicht ziehen lassen. Das folgt aus der Entstehungsgeschichte. Die bisherige (historische) Argumentation zu dieser Vorschrift beschränkt sich vor allem auf die Zeit ab 1874, also auf die bei Hahn veröffentlichten Materialien. Aufschlußreich ist aber vor allem die Entwicklung in den Beratungen des Bundesrates, die in dem 1989 erschienenen Quellenband von Schubert/Regge veröffentlicht sind. Daher lohnt es sich, die Genese des § 254 StPO noch einmal nachzuzeichnen (aa). Des weiteren ist § 254 I eine Vorschrift mit Ausnahmecharakter und läßt daher Rückschlüsse auf einen Grundsatz, wonach der Angeklagte Beweismittel sei, nicht zu (bb). Vor allem aber besagt § 254 StPO deshalb nichts zur Rolle des Angeklagten als Aussageperson, weil die Vorschrift einen Urkundenbeweis regelt (cc).

aa) Entstehungsgeschichte des § 254 StPO Kaum eine Vorschrift der RStPO unterlag so vielen Änderungen wie die des § 254 I, kaum eine Vorschrift war so wenig durchdacht. Das sei nachfolgend belegt: Der erste Entwurf aus dem Jahre 1870 enthielt die Vorschriften der §§ 213, 214, aus denen sich die §§ 250 - 254 RStPO entwickelten. Sie sollen, da sie Aufschluß über das ursprüngliche Grundverständnis dieses Regelungskomplexes gibt, im Wortlaut wiedergegeben werden 216 : §213: Die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls an Stelle der unmittelbaren Vernehmung ist unzulässig. Ausnahmen finden nur statt, wenn ein am Erscheinen in der Hauptverhandlung behinderter Zeuge oder Sachverständiger dieserhalb anderweit vernommen worden ist (§ 196); wenn ein Mitglied einer landesherrlichen Familie Zeugniß abgelegt hat (§ 82); oder wenn ein Zeuge, Sachverständiger oder Mitschuldiger verstorben oder in Geisteskrankheit verfallen oder sein Aufenthalt nicht zu ermitteln gewesen ist. In diesen Fällen kann die Verlesung nur durch Gerichtsbeschluß angeordnet, auch muß der thatsächliche Grund derselben verkündet und bemerkt werden, ob die Beeidigung der vernommenen Person stattgefunden hat.

2,6

Abgedruckt bei Schubert/Regge,

S. 48 ff., 78.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

55

§ 214: Bei der Vernehmung eines Angeklagten, Zeugen oder Sachverständigen darf das Protokoll über dessen frühere Vernehmung zur Unterstützung seines Gedächtnisses oder zur Feststellung oder Hebung von Widersprüchen verlesen werden. Die Vorschriften des § 213 enthielten also den Grundsatz, daß die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nicht durch die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls ersetzt werden darf und regelte zugleich abschließend („Ausnahmen finden nur statt") die Ausnahmen von diesem Grundsatz. Der Regelungsgehalt des § 214 ist demgegenüber ein ganz anderer: Die zu vernehmende Person ist in der Hauptverhandlung anwesend und das Protokoll über die eigene frühere Vernehmung darf als Vernehmungshilfe zum Zwecke der Unterstützung des Gedächtnisses oder zur Feststellung oder Behebung von Widersprüchen verlesen werden. Der von der preussischen Ministerialkommission überarbeitete Entwurf vom Januar 1873 217 enthielt keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen, doch verschob er die Ausnahmen von dem Grundsatz (§ 204), daß Zeugen und Sachverständige in der Hauptverhandlung zu vernehmen sind, in einen eigenständigen § 205. Daß diese Ausnahmen abschließend sind, wird dadurch nicht mehr so deutlich, zumal die Formulierung des ersten Entwurfs „Ausnahmen finden nur statt" nicht übernommen wurde. Eine inhaltliche Änderung war damit aber ersichtlich nicht bezweckt. Die Vorschrift des §214 wurde unverändert übernommen (als § 206). Erst in den Beratungen der vom Bundesrat eingesetzten StPO-Kommission enthielten die Vorläufer des § 254 StPO eine selbständige Bedeutung. Das Kommissionsmitglied Wiener stellte am 15. Mai 1873 den Antrag, in § 206 die Worte „eines Angeklagten" zu streichen und eventuell folgenden neuen Absatz zu machen: „Bei der Befragung des Angeklagten darf das Protokoll über frühere gerichtliche Vernehmungen nur zum Zwecke der Feststellung oder Hebung von Widersprüchen zwischen seinen in jenen Protokollen gemachten Angaben und seinen Auslassungen in der Hauptverhandlung sowie zur Feststellung früher abgegebener Zugeständnisse verlesen werden" 218 . Die Kommission entschied sich letztlich für die Einfügung eines § 206 a : „Gerichtlich zu Protokoll genommene Erklärungen des Angeklagten können zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein abgegebenes Zugeständniß oder zur Feststellung oder Hebung von Widersprüchen zwischen seinen Angaben in der Hauptverhandlung und in dem vorangegangenen Verfahren verlesen werden." 219 Mit kleineren

217 218 219

Abgedruckt bei Schubert/Regge, S. 113 ff., 132. Zitiert nach Schubert/Regge, S. 212. Wie Fn. zuvor.

56

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

sprachlichen Änderungen ging diese Vorschrift in die Entwürfe über, die dem Bundesrat 220 und dem Reichstag 221 zur Beratung vorgelegt wurden. In den Beratungen der Reichtstagskommission222 war vor allem die Fassung des § 253 StPO (damals § 214) äußerst umstritten. Nach lebhafter Diskussion 223 beschloß man in erster Lesung, die Vorschrift ersatzlos zu streichen. In zweiter Lesung wurde sie nach ebenfalls lebhafter Diskussion 224 in anderer Fassung wiederhergestellt, die dann im wesentlichen225 Gesetz wurde und noch heute Gültigkeit hat. Diese Fassung sollte die Verlesung von protokollierten Aussagen auf die absolut notwendigsten Fälle beschränken. Der Abgeordnete Lasker, auf dessen Antrag die Fassung letztlich zurückgeht, begründete seinen Antrag wie folgt: „Die mündliche Verhandlung werde dieses Charakters beraubt, wenn der Richter, die Mühe eingehender Befragung des Zeugen scheuend, allzu rasch nach dem dargebotenen Auskunftsmittel greife. Solchen Mißbräuchen solle die seinem Antrage gegebene Redaktion schärfer entgegentreten als die Fassung des Entwurfs. So weit der Wortlaut eines Gesetzes Dies vermöge, werde dem Richter nahe gelegt, daß er nur im Fall äußerster Nothwendigkeit, erst wenn der Zeuge erkläre, er könne sich nicht erinnern, und nur in Bezug auf denjenigen Punkt, auf welchen sich der Zeuge nicht erinnern könne, oder wenn der Widerspruch auf keine andere Weise sich feststellen oder heben lassen, zur Verlesung aus den Akten schreiten dürfe. Erkläre beispielsweise der Zeuge oder der Angeklagte, daß er mit Bewußtsein die Aussage ändere, weil er jetzt mit Bestimmtheit des Vorgangs sich erinnere, so sei die Verlesung ungestattet."226 Neu war vor allem der Vorschlag, die Verlesung und dessen Grund im Protokoll zu vermerken. Dies begründete Lasker wie folgt: „Eine Konstatierung über die Verlesung und deren Grund im Sitzungsprotokoll verlange Redner deshalb, weil es sich um eine sehr wesentliche Abweichung vom ordentlichen mündlichen Verfahren handle, und weil die Grundlage dafür geschaffen werden müsse, einer mißbräuchlichen Ausbeutung der Befugnis durch das Rechtsmittel der Revision zu begegnen" 227 . Die Diskussion um § 254 StPO (damals § 215) war in der Reichstagskommission demgegenüber recht bescheiden. Ein Antrag auf Streichung der Vor220

§ 212 des Entwurfs 1873, Schubert/Regge, S. 293 ff., 329. § 215 des Entwurfs 1874, Hahn, S. 4 ff., 29. 222 Hierzu ausfuhrlich Kuckuck, S. 130 ff. 223 Vgl. i. e. Hahn, S. 858 ff. 224 Hahn, S. 1365 ff. 225 Nur die Anordnung der Protokollierung, die auch fiir die Verlesung von Protokollen des Angeklagten gelten sollte, wurde in den § 255 StPO gezogen, vgl. hierzu Hahn, S. 1510. 226 Zitiert bei Hahn, S. 1367. 227 Wie Fn. zuvor. 221

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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schrift wurde zurückgezogen. Ansonsten einigte man sich darauf, „daß die soeben zu §214 gefaßten Beschlüsse auf §215 konsequent auszudehnen seien" 2 2 8 . Daß die Überlegungen zur Übertragbarkeit der Beschlüsse auf die Vorschrift des § 254 StPO nicht ausgereift waren, belegt schon die Tatsache, daß die Anordnung der Protokollierungspflicht für die Verlesung von Aussagen des Angeklagten vergessen wurde 229 . Im übrigen führt die Übertragung der Grundsätze des § 253 auf § 254 auch zu inhaltlichen Unstimmigkeiten, die von der Kommission offensichtlich nicht bemerkt wurden 230 . Die Übertragung der Formulierung des Abs. 2 („Dasselbe kann geschehen") läßt zum einen offen, ob nur die Verlesung richterlicher Protokolle zulässig ist. Zum anderen berücksichtigt die identische Formulierung des Abs. 2 in den §§ 253 und 254 nicht, daß die Verlesung gemäß § 253 I StPO zur Unterstützung des Gedächtnisses erfolgt, die gemäß § 254 I StPO zum Zwecke der Beweisaufnahme. Wegen der unklaren Formulierung ist noch heute umstritten, ob § 254 II StPO einen Vorhalt durch Verlesen oder einen Urkundenbeweis regelt. Im übrigen ist völlig unverständlich, warum gemäß § 254 I StPO zum Zwecke der Beweisaufnahme nur ein Geständnis und nicht auch eine entlastende frühere Aussage verlesen werden darf. Die Übertragung der Grundsätze des § 253 StPO auf § 254 StPO darf daher wohl als wenig durchdacht bezeichnet werden. Die wechselvolle Entstehungsgeschichte und die eher zufällige Endfassung des § 254 StPO lassen jedenfalls - das sollten die Ausführungen gezeigt haben - keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Vorstellung des historischen Gesetzgebers von der Rolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu.

bb) Protokollverlesung und Beweismitteleigenschaft Die Vorschrift des § 254 I StPO hat Ausnahmecharakter. Auch deshalb läßt sie Rückschlüsse auf ein grundlegendes Verständnis des Gesetzgebers nicht zu. Die Entstehungsgeschichte der §§ 253, 254 StPO belegt, daß die Verlesung einer eigenen früheren Aussage gegenüber der in der Hauptverhandlung anwesenden Person als Vernehmungshilfe, als Vorhalt durch Verlesen konzipiert war. Erst durch die getrennte Regelung von Vorhalten gegenüber Zeugen und Sachverständigen einerseits und dem Angeklagten andererseits erhielt die Verlesung von früheren Aussagen des Angeklagten den weiteren Zweck, Beweis über ein Geständnis zu erbringen. Daneben konnte dem Angeklagten seine frühere Aussage aber auch zum Zwecke der Feststellung oder Hebung von Wider-

228

Vgl. Hahn, S. 1371. Vgl. hierzu die Bemerkung des Abg. Schwarze, Hahn, S. 1510. 230 Die mißglückte Fassung der Vorschriften ist heute allgemein anerkannt (vgl. nur die Zitate bei Kuckuck, S. 15 f.) und gibt Anlaß zu zahlreichen Kontroversen. 229

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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Sprüchen vorgelesen werden 231 . Durch die unklare Endfassung der RStPO werden diese Zusammenhänge verschleiert; vor allem die Fassung des § 254 II StPO läßt sich so lesen, daß auch diese Verlesung zum Zweck der Beweisaufnahme erfolgt. Erst die Entstehungsgeschichte verdeutlicht, daß allein die Verlesung gemäß § 254 I StPO zum Zwecke der Beweisaufnahme erfolgt, die Regelungen der §§ 253, 254 II StPO hingegen einen Vorhalt durch Verlesen regeln 232 . Die Beschlüsse zu § 253 StPO wurden auf § 254 StPO übertragen. „Dasselbe" in § 254 II StPO bezieht sich daher auf § 253 StPO. Allein § 254 I StPO regelt einen Urkundenbeweis 233. Auf das im Vorverfahren freiwillig vom Angeklagten abgelegte Geständnis glaubte der Gesetzgeber als Beweismittel nicht verzichten zu können. Als verfahrensrechtliche Absicherung beschränkte er die Verlesbarkeit auf richterliche Protokolle. Für den historischen Gesetzgeber war es offensichtlich eine Selbstverständlichkeit, daß zum Zwecke der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nur Protokolle solcher Ermittlungen verlesen werden durften, die von einem Richter durchgeführt worden sind. Für die richterliche Augenscheinseinnahme folgt das aus § 249 I 2 StPO, fiir Vernehmungen des Angeklagten aus § 254 I StPO und § 233 II, III 2 StPO 234 . Auch die Protokolle von Zeugen durften zu Beweiszwecken nur dann verlesen werden, wenn die Vernehmung durch einen Richter erfolgte. Gemäß § 250 RStPO (in der heutigen Zählung § 251 StPO) war nur die Verlesung richterlicher Protokolle erlaubt. Die Verlesung nichtrichterlicher Protokolle wurde erst durch die Vereinfachungsverord-

231

Vgl. die Fassung der Entwürfe 1873 und 1874: „Erklärungen des Angeklagten [...] können zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis oder zur Feststellung von Widersprüchen [...] verlesen werden. 232 In diesem Sinne Steinhausen, anläßlich einer Konferenz des preußischen Justizministers Leonhardt, zitiert bei Schubert/Regge, S. 557, zur Verlesung gemäß § 253 StPO heutiger Fassung: Steinhausen bemerkt, daß es sich hier (anders als bei al. 3 des §213) nicht um eine Handlung der Beweisaufnahme, sondern um eine prozeßleitende Verfügung handele. Der Entwurf einer Strafprozeßordnung aus dem Jahre 1908 spricht in den §§ 244, 245 (entsprechend §§ 253 f. heutiger Fassung) ausdrücklich von „vorhalten". In der amtlichen Begründung heißt es dazu: „Die in den §§ 244, 245 enthaltenen Vorschriften über Vorhaltungen und Verlesungen entsprechen den §§ 252, 253 der geltenden Strafprozeßordnung, bringen aber stellenweise den Gedanken, der diesen Vorschriften zu Grunde liegt, deutlicher zum Ausdruck." 233

Im einzelnen ist hinsichtlich des Regelungsgehaltes der §§ 253, 254 StPO mancherlei umstritten. Da diese Fragen fiir die Rolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung nur sekundäre Bedeutung haben, soll eine Auseinandersetzung mit dem Schrifttum an dieser Stelle nicht erfolgen. Eine noch immer aktuelle Darstellung des Streitstandes bietet die umfassende Monographie von Kuckuck, S. 116 f f , 151 ff. 234 Vgl. auch § 415 IV StPO; der historische Gesetzgeber kannte ein Sicherungsverfahren jedoch nicht.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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nung 235 aus dem Jahre 1943 (!) zugelassen, und diese Regelung wurde von der Bundesgesetzgebung236 beibehalten. Der Ausnahmecharakter des § 254 I StPO ist damit wohl hinreichend belegt: Nur diese Vorschrift - das dürfte die historische Auslegung hinreichend belegt haben 237 - erlaubt den Urkundenbeweis über die frühere Aussage einer in der Hauptverhandlung erschienenen Person. Ausnahmsweise darf das richterliche Protokoll über ein Geständnis zum Zwecke der Beweisaufnahme verlesen werden. Die Vorschrift unterstreicht damit die Sonderrolle des Geständnisses. Nur das im Rahmen einer richterlichen Vernehmung freiwillig dargebotene Untersuchungsmittel darf als Beweis verlesen werden. Daß auch sonstigen Erklärungen des Angeklagten (die faktisch belastend wirken können, aber nicht als Geständnis abgegeben wurden) Beweismittelcharakter zukommen kann, läßt sich daraus nicht folgern.

cc) Urkundenbeweis Vor allem deshalb lassen sich aus § 254 I StPO keine Rückschlüsse auf die Rolle des Angeklagten als Aussageperson ziehen, weil die Vorschrift (nur) die Verlesung eines Protokolls zuläßt, also eine Regelung des Urkundenbeweises beinhaltet. Zwar gibt das Protokoll eine Einlassung des Angeklagten wieder. Durch die Niederschrift wird aber ein neues Beweismittel geschaffen: eine Urkunde - und die Verlesung einer Urkunde berührt nicht die Subjektstellung des Angeklagten als Aussageperson. Ein solches Denken in den Kategorien des Strengbeweises prägt die Vorschriften über die Hauptverhandlung. Sie regeln, in welchem Umfang Zeugen 235 Art. 4 der Dritten Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29.5.1943, RGBl., Teil 1, S. 342, 343. (Die Vorschrift des § 251 II StPO wurde letztmals geändert durch das StVÄG 1987 vom 27.1.1987, BGBl., Teil 1, S. 475.) 236 Art. 3 Nr. 113 VereinhG vom 12.9.1950, BGBl., Teil 1, S. 455, 492, mit der lapidaren Begründung: „Die Regelung wurde von den drei Zonen im wesentlichen übernommen. Der Entwurf schließt sich ihnen darin an", BTDr., 1. Wahlperiode, Nr. 530, vom 9. Februar 1950, S. 47. Die Systemwidrigkeit der Vorschrift wurde offensichtlich nicht erkannt. Dem damaligen Gesetzgeber kann man aber deshalb keinen Vorwurf machen, weil er das Recht von nationalsozialistischem Gedankengut befreien wollte. „Es handelte] sich dabei um eine besonders dringliche Arbeit, die mit größter Beschleunigung durchgeführt werden muß[te]" und zu diesem Zweck wurde das Recht auf den Zustand von 1933 zurückgeführt oder das Zonenrecht auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt. „Das vorliegende Gesetz trägt Übergangscharakter; es will also nur das Fundament bilden, auf dem in einem zweiten Abschnitt der Gesetzgebung die notwendigen Reformarbeiten durchgeführt werden sollen", vgl. die einleitende Begründung, a. a. O., S. 3. 237 Nach gängigem Verständnis regelt allerdings auch § 253 StPO einen Urkundenbeweis, vgl. zum Meinungsstand den Nachweis in Fn. 233, Kap. 1.

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

und Sachverständige zu vernehmen, Urkunden zu verlesen und Objekte in Augenschein zu nehmen sind. Auf welche ursprüngliche Quelle das Beweismittel zurückgeht, ist dabei unerheblich. Durch die Transformation in eine andere Kategorie unterliegt es nur deren Regeln. Offenbart sich daher der Beschuldigte einer anderen Person, kann diese als Zeuge vernommen werden; der vom Beschuldigten stammende Brief unterliegt den Regeln des Urkundenbeweises, ebenso das protokollierte Geständnis238. Die Verlesung protokollierter Geständnisse läßt die Subjektstellung des Angeklagten daher unberührt. Daß die Möglichkeit der Verlesung früherer Geständnisse die Aussagefreiheit jedenfalls praktisch aushöhlt, steht außer Frage. Der historische Gesetzgeber teilte diese Vorbehalte nicht, was sich nur mit diesem (aus heutiger Sicht naiven) Denken in Beweismittelkategorien erklären läßt. Seine Bedenken gegen die Verlesung von Vernehmungsprotokollen rührten ausschließlich daher, daß man den Grundsatz der Mündlichkeit 239 gefährdet sah 240 . Die Beeinträchtigung der Subjektstellung des Angeklagten wurde nicht weiter thematisiert.

dd) Zusammenfassung Die Vorschriften des § 254 StPO haben nach einer wechselvollen Entstehungsgeschichte eine wenig durchdachte Endfassung bekommen. Der Regelungsgehalt des § 254 I StPO hat Ausnahmecharakter. Aus ihm lassen sich keine stichhaltigen Argumente fiir das Verständnis des historischen Gesetzgebers von der Verfahrensrolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung herleiten, sondern allenfalls fiir die Sonderrolle des Geständnisses. Dem oben 241 gefundenen Ergebnis jedenfalls, daß die Vernehmung des Angeklagten kein Akt der Beweisaufnahme ist, widerspricht die Vorschrift des § 254 I StPO schon deshalb nicht, weil sie einen Urkundenbeweis regelt und die Parteirolle des Angeklagten als Aussageperson unberührt läßt 242 .

238 Im Rahmen der Diskussion um § 252 StPO erklärte der Abgeordnete Lenz sehr plastisch, daß eine freiwillig gemachte Aussage eine „historisch gewordene Thatsache" sei, welche dem Gericht vorzuenthalten kein Grund vorliege, vgl. Hahn, S. 1901. 239 Nach meinem Verständnis ist allerdings der Unmittelbarkeitsgrundsatz tangiert. Der Mündlichkeitsgrundsatz besagt lediglich, daß schriftliche Urkunden verlesen werden, nicht aber, daß der Verfasser einer Urkunde zu vernehmen ist. 240 Vgl. hiezu etwa die Diskussion in der Reichstagskommission zu § 253, Hahn, S. 858 f f , 1365 ff.; ausdrücklich der Abgeordnete Struckmann (S. 1366): „Die Kommission habe in erster Lesung den § 214 deshalb beseitigt, weil die Mehrheit der Ansicht war, diese Bestimmung stehe mit dem Grundsatz der Mündlichkeit im Widerspruch". 241 S. 47 f. 242 Auch nach britischem oder amerikanischem Verfahrensrecht darf das, was ein Beschuldigter im Vorverfahren sagt, gegen ihn verwendet werden (vgl. Huber, S. 11 ff,

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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f) Fragerecht Gemäß § 240 I StPO hat der Vorsitzende den beisitzenden Richtern auf Verlangen zu gestatten, Fragen an den Angeklagten, die Zeugen und Sachverständige zu richten. Auch der Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger und den Schöffen steht das Recht zu, den Angeklagten unmittelbar zu befragen, § 240 II StPO. Die Gleichstellung des Angeklagten mit den Zeugen und Sachverständigen und die umfassende Möglichkeit aller Verfahrensbeteiligter, den Angeklagten zu befragen, könnte man als Indiz dafür werten, daß die Vernehmung des Angeklagten doch der Wahrheitsfindung dient und damit zumindest materiell zur Beweisaufnahme gehört. Dieses Indiz ist aber nicht zwingend. Die historische Auslegung wird ergeben, daß sich auch diese Vorschrift nicht bruchlos in das System der Strafprozeßordnung einfügt. Nach der ursprünglichen Fassung der RStPO hatte der Vorsitzende den Angeklagten zu vernehmen. Ein ergänzendes Fragerecht anderer Verfahrensbeteiligter war nicht vorgesehen. In der Ersten Lesung der Reichstagskommission wurde zwar ein Antrag von Bähr angenommen, der eine ergänzende Befragung von Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen durch Mitglieder des Gerichts vorsah 243 , zugleich aber das Subamendement des Abgeordneten von Puttkamer, „an den Angeklagten" zu streichen 244. Der Angeklagte sollte also bewußt keiner Befragung durch weitere Beteiligte ausgesetzt werden, weil man fürchtete, „aus reiner Liebe zum Inquiriren werde eine freie Konkurrenz eröffnet, um den Angeklagten auszufragen. Wenn so viele Personen sich an der Befragung betheiligten, könnte ein wirkliches Kesseltreiben entstehen."245 Bähr versuchte, seinen Antrag zu rechtfertigen: „Die Stellung gehöriger Fragen gereiche dem Angeklagten ebenso sehr zum Vortheil als zum Nachtheil. Die Möglichkeit, die man ihm gewähre, die Sache aufzuklären, könnte ihm unter Umständen von großem Vortheil sein. Die Befragung des Angeschuldigten sei also, dafern kein Mißbrauch getrieben werde, durchaus nicht Nachtheiliges, sondern etwas ganz Natürliches und für den Angeklagten eine Wohlthat." 246 Aus dieser Begründung wird deutlich, daß man eine ergänzende Befragung des Angeklagten durchaus auch zum Schutz des Angeklagten verstand, um Mißverständnissen vorzubeugen. Eine Befragung durch weitere Beteiligte wurde aber bewußt ausgeschlossen. Aus diesem Grunde wurde auch § 203 (§ 240 heutiger Fassung)

26 ff.; Thaman, S. 489 ff., 518). Ein Widerspruch mit dem Parteiprozeß wird darin nicht gesehen. 243 Antrag Bähr, dem § 201 hinzuzusetzen: Der Vorsitzende hat jedem Mitglied des Gerichts auf Verlangen zu gestatten, Fragen an den Angeklagten, sowie an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen, siehe Hahn, S. 828. 244 Hahn, S. 830, 832. 245 So Gneist, zitiert bei Hahn, S. 830. 246 Bähr, zitiert bei Hahn, S. 831.

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

dahingehend geändert, daß die Beteiligten weitere Fragen „an Zeugen und Sachverständige" richten können 247 . Diese Klarstellung erfolgte, „weil nach der Fassung des Entwurfs die Gefahr bestehe, daß auch der Angeklagte zu einem Objekte fur Fragen von allen Seiten werden könne. Den Angeklagten solle Niemand befragen als der Vorsitzende." 248 Erst durch Art. 3 Nr. 108 des Vereinheitlichungsgesetzes aus dem Jahre 1950 249 wurde der Angeklagte in die Vorschrift des § 240 I StPO aufgenommen 250 . Der Vorschlag zur Änderung des § 240 StPO stammte vom Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht. Eine nähere Begründung findet man jedoch nicht. Die Befragung auch des Angeklagten sei „etwas, was vor 1933 zwar nicht vorgeschrieben, aber üblich gewesen sei" 2 5 1 . Auch die Vorschrift über das Kreuzverhör wurde durch das Vereinheitlichungsgesetz 252 wieder hergestellt, ohne den Angeklagten darin einzubeziehen253. Ein grundlegend anderes Verständnis von der Rolle des Angeklagten in der Hauptverhandlung lag der Gesetzesänderung aber nicht zugrunde, eine inhaltliche Änderung war nicht bezweckt 254 . Die wenig durchdachte Einbeziehung des Angeklagten in die Vorschrift des § 240 I StPO sollte eine inhaltliche Änderung des Gesetzes nicht bezwecken. Sie widerspricht aber der ursprünglichen Konzeption des historischen Gesetzgebers. Dieser hat eine Befragung durch weitere Beteiligte gerade ausgeschlossen, um ein Inquirieren zu verhindern. Für das Verständnis der ursprünglichen Rolle des Angeklagten im Strafverfahren hat diese Vorschrift also keine Aussagekraft. Versteht man die ergänzende Befragung des Angeklagten jedoch als Möglichkeit, Mißverständnissen vorzubeugen und offen zu prozessieren, gewährleistet sie eine effektive Verteidigung. So verstanden läßt die ergänzende Befragung (selbstverständlich unter der Gewähr, auch einzelne Fragen unbe-

247

Der Antrag von Herz u. a. wurde angenommen, Hahn, S. 841. So Gneist, Hahn, S. 840. 249 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950, BGBl. Teil 1, S. 455. 250 Zur Entstehungsgeschichte und kritisch zur Gesetzesänderung Niethammer, JZ 1951, S. 132 ff. 251 Verhandlungen des (23.) Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht des Deutschen Bundestages über das Rechtsvereinheitlichungsgesetz, 1. Wahlperiode, Protokoll der Sitzung vom 16. Mai 1950, S. 61. 252 Art. 3, Nr. 107. 253 Hätte der Gesetzgeber ihn als Beweismittel verstanden, hätte er ihn konsequenterweise dem Kreuzverhör unterwerfen müssen. 254 Vgl. zudem die Anmerkung in Fn. 236, Kap. 1, wonach mit dem Vereinheitlichungsgesetz inhaltliche Änderungen gegenüber dem bis 1933 bestehenden Recht nicht beabsichtigt waren. 248

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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antwortet zu lassen, ohne befurchten zu müssen, daß daraus nachteilige Schlußfolgerungen gezogen werden) die Subjektstellung des Angeklagten unberührt; zum Beweismittel wird der Angeklagten dadurch nicht.

g) Zusammenfassung Der historische Gesetzgeber trennt bewußt und durchgängig zwischen der Vernehmung des Angeklagten und der Beweisaufnahme. Stichhaltige Argumente gegen eine solche strikte Trennung ergeben sich aus der Strafprozeßordnung nicht. Der Begriff der Vernehmung läßt sich auch als Form der Gewährung rechtlichen Gehörs verstehen, was partiell auch im Gesetz Ausdruck gefunden hat (§ 243 IV 1 StPO). Die Pflicht zum Erscheinen dient ebenfalls ausschließlich der Gewährung rechtlichen Gehör. Auch die Möglichkeit, ein protokolliertes Geständnis zum Zwecke der Beweisaufnahme zu verlesen, besagt nichts für die Beweismitteleigenschaft des Angeklagten als Aussageperson; denn § 254 I StPO enthält eine Regelung zum Urkundenbeweis. Die Vorschrift ist von nebulösem Ursprung und hat Ausnahmecharakter; auch deshalb vermag sie das sonstige Regelungsgefüge nicht außer Kraft zu setzen, wonach die Vernehmung des Angeklagten nicht zur Beweisaufnahme zählt. Das Fragerecht gemäß § 240 StPO fugt sich nicht in das System der StPO ein: in der ursprünglichen Fassung der RStPO war eine Befragung des Angeklagten durch weitere Beteiligte bewußt ausgeschlossen worden, um ein Inquirieren zu verhindern; mit der nachträglichen Einbeziehung des Angeklagten war eine inhaltliche Änderung nicht bezweckt. Diese Vorschrift des § 240 StPO läßt sich jedoch auch als Gehörsnorm interpretieren. Sie ermöglicht es, Mißverständnissen vorzubeugen und den Prozeßstoff offen zu erörtern. Die Möglichkeit der Befragung durch andere Beteiligte macht den Angeklagten aber nicht zum Beweismittel.

4. Eigener Ansatz Die Vernehmung des Angeklagten gehört nach dem Text der Strafprozeßordnung nicht zur Beweisaufnahme. Die indifferente Formulierung von der „Doppelstellung" des Angeklagten im Strafprozeß ist mit dem Gesetz also nicht in Einklang zu bringen, jedenfalls zu ungenau. Die Vernehmung des Angeklagten dient nicht der Wahrheitserforschung (der Angeklagte kann frei entscheiden, ob er sich zur Sache äußern oder will oder nicht), auch dann nicht, wenn der Angeklagte von seinem Recht Gebrauch macht, sich zur Anklage zu äußern. Er gibt seine Erklärungen grundsätzlich als Partei ab in Ausübung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Nur ausnahmsweise, wenn der Angeklagte ein Geständnis (ein Erlebnisbericht von der Tat) ablegen will, sind seine Äußerungen Erkenntnismittel im Verfahren. Auf der Grundlage dieser Diffe-

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

renzierung zwischen Parteierklärung und Geständnis als besonderem Erkenntnismittel soll nun versucht werden, in einem zuvor abgesteckten Rahmen (a) die Rolle des Angeklagten widerspruchsfrei zu definieren und auch inhaltlich die Erklärungsrechte von der Beweisaufnahme abzugrenzen (b). Zur Verdeutlichung soll das entwickelte Modell den Regeln der Zivilprozeßordnung gegenübergestellt werden (c). Einige der sich aus diesem Rollenverständnis ergebenden Konsequenzen werden anschließend dargestellt (d).

a) Grenzen einer Definition Bevor die Rolle des Angeklagten zusammenfassend beschrieben wird, soll nochmals auf die Gültigkeitsgrenzen einer Definition hingewiesen werden. Zunächst geht es nur um die Rolle als Angeklagten als Aussageperson. Daß in dessen Rechtskreis eingegriffen werden kann, um Beweismittel zu erlangen, läßt seine Stellung als Aussageperson unberührt und ist fiir die Bestimmung der Hauptverhandlungsstrukturen im Strafprozeß ohne Bedeutung. Der folgende Versuch einer Definition beschränkt sich also darauf, die Rolle des Angeklagten als Aussageperson zu beschreiben. Eine weitere Einschränkung folgt daraus, daß sich die Untersuchung auf die Stellung des Angeklagten in der Hauptverhandlung beschränkt. Zwar liegt die Vermutung nahe, daß sich die Rolle des Angeklagten im gesamten Strafprozeß einheitlich definieren läßt. Sicher ist das indes nicht. Eine solche Behauptung bedürfte einer eingehenden Begründung, die hier nicht geleistet werden kann. Denn der historische Gesetzgeber, dessen Prozeßverständnis auch die geltende Gesetzesfassung bestimmt, hat die Position des Beschuldigten im Verlauf des Strafverfahrens unterschiedlich stark ausformuliert. So unterschied er zwischen der Rolle des Beschuldigten im Vorverfahren und der des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Exemplarisch sei auf die Regelung des § 190 II RStPO hingewiesen, wonach die Vernehmung des Beschuldigten in der Voruntersuchung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers erfolgte. Der Gesetzgeber, der zwar bestrebt war, „der Vertheidigung schon in der Voruntersuchung die gebührende Anerkennung zu verschaffen, konnte sich der Erwägung nicht verschließen, daß die Vernehmung des Beschuldigten, ungeachtet sie den letzteren nicht zu einem Geständniß nöthigen soll, immerhin ein wichtiges Untersuchungsmittel bleibt, auf welches man in vielen Fällen verzichten würde, wollte man dem Vertheidiger gestatten, bei der Vernehmung anwesend zu sein und den Beschuldigten von jeglicher Auslassung, zu welcher dieser geneigt sein möchte, zurückzuhalten." 255 Auch sonst finden sich zahlreiche Hinweise

255 So die Begründung zum Entwurf, Hahn, S. 163; zur Stellung der Verteidigung in der Voruntersuchung auch S. 121 f.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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darauf, daß der Gesetzgeber die Rolle des Beschuldigten und die des Angeklagten unterschiedlich verstanden wissen wollte: „Das inquisitorische Prinzip soll daher nach dem Entwurf auch künftig in der Voruntersuchung mehr als in der Hauptverhandlung, welche letztere sich durchweg in der Anklageform bewegt, zur Geltung gelangen." 256 Daß der Angeklagte darüber hinaus auch Rechtsansichten äußern darf, ist selbstverständlich. Dieser Aspekt soll aber im folgenden ebenfalls unberücksichtigt bleiben, geht es doch um die Sachverhaltsaufklärung in der Hauptverhandlung. Auch (weitere) Verfahrenshandlungen darf er im Rahmen der Vernehmung vornehmen, etwa Beweis- oder Ablehnungsanträge stellen. Dieser Aspekt soll ebenfalls zunächst 257 ausgeklammert bleiben. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich daher auf den Angeklagten als Aussageperson in der Hauptverhandlung, soweit er durch Erklärungen auf die Sachverhaltsfeststellung Einfluß nehmen kann 258 . In diesen Grenzen soll nachfolgend die Rolle des Angeklagten beschrieben werden.

b) Die Rolle des Angeklagten als Aussageperson Die Strafprozeßordnung trennt die Vernehmung des Angeklagten und dessen weitere Erklärungen 259 von der Beweisaufnahme ab. Der Angeklagte ist kein Beweismittel, wenn er in der Hauptverhandlung Erklärungen abgibt. Eine gesetzlich nicht näher definierte Sonderrolle nimmt das Geständnis ein; es ist be-

256 Hahn, S. 153 f., dort auch weitergehende Hinweise auf die Strukturdifferenzen von Vorverfahren und Hauptverhandlung. Ebenso deutlich die Einleitung zur Ersten Beratung im Plenum des Reichstags, Hahn, S. 500: „In dem Sinne, daß der Richter beschränkt wäre auf Hören, Prüfen und Entscheiden, kennt unser Entwurf das akkusatorische Prinzip nicht, auch nicht für die Hauptverhandlung, in welcher die Anklageform zur Geltung gebracht wird, in welcher Angriff und Vertheidigung in kontradiktorischer Prozedur ihre besondere Vertretung haben. Daß das die Hauptverhandlung vorbereitende Verfahren überhaupt wenig von der Reform des Strafprozesses berührt ist, daß es ein schriftliches, in Folge davon auch ein geheimes geblieben, daß es ein Inquisitionsprozeß auch in der Form, übrigens mit Beseitigung der Schroffheiten dieses Prozesses, geblieben ist, das ist bekannt." Vgl. auch noch Hahn, S. 506 f. und S. 1569 ff. 257

Das Beweisantragsrecht wird allerdings unten, Kapitel 2, näher untersucht, da es Einfluß auf die Sachverhaltsfeststellung nimmt. Sonstige Verfahrenshandlungen, die keinen direkten Bezug zur Klärung der Schuld- und Straffrage haben, bleiben jedoch gänzlich unberücksichtigt. 258 Die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen dient nicht diesem Zweck (siehe S. 15) und bleibt daher unberücksichtigt. 259 Zu den Schlußvorträgen vgl. zunächst § 258 I StPO („Nach dem Schluß der Beweisaufnahme ..."); näher zu den Erklärungen des Angeklagten außerhalb seiner Vernehmung in Kapitel 3. 5 Kruse

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

sonderes Erkenntnismittel. Aufgrund dieser Vorgaben läßt sich die Rolle des Angeklagten als Aussageperson nur wie folgt beschreiben: Die Vernehmung soll dem Angeklagten die Gelegenheit geben, sich zu verteidigen, § 136 II StPO. Sie ist Ausfluß seiner Subjektstellung; der Angeklagte ist autonom in seinen Erklärungen. Die Möglichkeit der Einlassung sichert dem Angeklagten den Anspruch auf rechtliches Gehör, also das Recht auf die Gelegenheit, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen - so wird der Geltungsbereich des Art. 103 I GG regelmäßig beschrieben 260. Dem Anspruch, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen äußern zu können, entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen - auch das ist allgemeine Grundrechtsdogmatik 261 . Die Vorschriften über die Vernehmung des Angeklagten sind demnach Gehörsnormen. Sie sind Ausfluß des grundgesetzlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch auf rechtliches Gehör ist in der Strafprozeßordnung an mehreren Stellen ausformuliert 262 ; diese Vorschriften gehen z. T. weit über den im Grundgesetz verankerten Mindeststandard hinaus. Nachfolgend wird der Begriff vom „rechtlichen Gehör" in diesem weiten Sinne als prägnantes Schlagwort verwendet: Gemeint ist damit der Gehörsanspruch, wie er in der StPO durch zahlreiche Vorschriften ausformuliert ist. Das Gericht hat die Erklärungen bei der Entscheidungsfindung also zu berücksichtigen, als Kehrseite des Anspruchs, sich zu äußern. Die Vernehmung des Angeklagten - vorbehaltlich eines Geständnisses - und seine weiteren Erklärungen gehören dagegen nicht zur Beweisaufnahme. Das ist kein Widerspruch. Den Schlüssel für ein solch differenziertes Verständnis vom Gegenstand der Beweisaufnahme einerseits und der Überzeugungsbildung des Gerichts andererseits gibt das Gesetz selbst: §261 StPO unterscheidet zwischen dem Ergebnis der Beweisaufnahme und der Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Verhandlung. Es ist zwar üblich geworden, den § 261 StPO oberflächlich zu lesen und die Beweiswürdigung mit der Überzeugungsbildung

260 Vgl. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103, Rn. 67, 85 ff.; v. Münch/KunigKunig, Art. 103, Rn. 9, jeweils m. N. zur Rechtsprechung. 261 Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103, Rn. 67, 94 ff.; v. Münch/Kunig-Kunig, Art. 103, Rn. 10, jeweils m. N. zur Rechtsprechung. 262 Vgl. vor allem § 33 StPO; nach allgemeiner Auffassung sind auch die Erklärungsrechte gemäß §§ 257, 258 StPO Ausfluß rechtlichen Gehörs. Vgl. auch LR-Rieß, Einl. Abschn. H, Rn. 71 ff.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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gleichzusetzen263. Die Würdigung der Beweise ist aber nur ein Teilaspekt der Überzeugungsbildung; neben den Beweismitteln gibt es eine eigenständige Kategorie von Verfahrenserklärungen. Der Sache nach ist das unumstritten: Das Gericht habe alles, was vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten in verfahrensrechtlich zulässiger Weise eingeführt und erörtert worden sei, bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, insbesondere alle Erklärungen von Verfahrensbeteiligten - das kann man in allen gängigen Werken zum Strafprozeßrecht nachlesen264. Und in diese Kategorie von Erklärungen sind auch die des Angeklagten einzuordnen. Der Angeklagte hat allerdings die Möglichkeit, eine Einlassung besonderen Inhalts in Form des Geständnisses abzugeben. Auch dies folgt aus seiner Subjektstellung. Es darf ihm nicht verwehrt werden, sein besonderes Täterwissen in den Prozeß einzuführen. Das Geständnis unterscheidet sich von den sonstigen Parteierklärungen. Diese sind Verfahrenshandlungen; sie sind vom Gericht, vor allem in ihrem argumentativen Charakter, zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Geständnis ist aber Erlebnisbericht; es beinhaltet die Schilderung eigener Wahrnehmungen und ähnelt damit strukturell dem Zeugenbeweis. Der Angeklagte kann zwar nicht gezwungen werden, ein Geständnis abzulegen, er kann auch frei entscheiden, in welchem Umfang er sich geständig einläßt, und er unterliegt auch dann nicht der Wahrheitspflicht, wenn er ein Geständnis ablegt; das Geständnis ist daher kein Beweismittel. Das Gericht hat das Geständnis aber wie ein Beweismittel zu würdigen und bei der Überzeugungsbildung zu berücksichtigen. Das Geständnis ist ein Erkenntnismittel sui generis. Dies also ist die wesentliche Erkenntnis, daß die Erklärungen des Angeklagten grundsätzlich Verfahrenshandlungen sind. Sie gehören zum Inbegriff der Verhandlung, nicht aber zur Beweisaufnahme. Es gibt demnach drei Kategorien von Quellen für die Überzeugungsbildung: Die Beweismittel, das Geständnis als Erkenntnismittel sui generis und die Parteierklärungen der Verfahrensbeteiligten. Diese differenzierte Sichtweise ermöglicht es, die Stellung des Angeklagten in der Hauptverhandlung widerspruchsfrei zu beschreiben. Seine Erklärungen sind an dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu messen. Und an diesem Maßstab soll sich die weitere Untersuchung zunächst265 orientieren. Er erlaubt eine 263 Die Kommentierungen zu §261 StPO trennen regelmäßig nur sprachlich zwischen Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung. Als Überzeugungsbildung beschreiben sie den Grad der Gewißheit; der Prozeß der Überzeugungsbildung wird regelmäßig mit der Beweiswürdigung gleichgesetzt. 264 Statt aller Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 261, Rn. 5. 265 In den Kapiteln zwei und drei soll versucht werden, diesen Maßstab für den Anwendungsbereich der Strafprozeßordnung zu konkretisieren.

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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hinreichend genaue Definition der Rolle des Angeklagten. Zugleich ist die Geltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für Erklärungen des Angeklagten unumstritten. Schon durch die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes kann der Umgang mit Erklärungen des Angeklagten sehr viel genauer bestimmt werden als es das gängige Erklärungsmodell von der „Doppelrolle des Angeklagten" vermag.

c) Vergleich mit dem Zivilprozeß Die oben vorgeschlagene differenzierte Lesart des § 261 StPO findet Parallelen im Zivilprozeß. Auch die Zivilprozeßordnung unterscheidet zwischen den Erklärungen der Parteien und der Beweisaufnahme, und § 286 ZPO formuliert bewußt 266 noch deutlicher als §261 StPO, daß die Beweisaufnahme nur ein Teil der Grundlagen fur die Überzeugungsbildung ist: „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei." Der Vergleich von Strafprozeßordnung und Zivilprozeßordnung bedarf heutzutage allerdings einer Rechtfertigung, ist es doch üblich geworden, nur die Gegensätze beider Prozeßordnungen herauszustreichen und vor einem Vergleich zu warnen. Daß es jedoch auch zahlreiche Gemeinsamkeiten gibt, ist schnell dargelegt. Beide Gesetze gehen im wesentlichen auf Entwürfe des preußischen Justizministers Leonhardt zurück 267 und sind als Reichsjustizgesetze zeitgleich 268 in Kraft getreten. Ziel der Gesetzgebung war es, die bestehende Rechtszersplitterung aufzuheben und ein einheitliches Verfahrensrecht durchzusetzen269. Beide Gesetze wurden zeitgleich von denselben Gesetzgebungsor266

In der Begründung des Entwurfs zu § 249 (dem heutigen § 286 entsprechend) heißt es: „Der Grundsatz, daß der Richter die Thatfrage frei zu würdigen habe, ist nicht auf das Ergebnis der Beweisführung beschränkt, sondern im Anschlüsse an den nordd. Entw. § 455 (Prot. II. S. 745, 746) auf den gesammten Inhalt der Verhandlungen ausgedehnt worden. Diese Ausdehnung ist durch die Konsequenz und inneren Gründe geboten. Soll die Entscheidung des Richters über die Wahrheit einer Thatsache auf seine Überzeugung gestützt werden, so ist es - insbesondere bei sogenanntem künstlichen Beweise - schlechterdings unmöglich, diejenigen Momente, welche sich aus den Erklärungen der Parteien ergeben, von den durch eine Beweisaufnahme erbrachten Momenten zu sondern und in ihrer Bedeutung hinter dieser zurücktreten zu lassen." {Hahn, CPO, S. 275). 267 Entwurf einer Strafprozeßordnung für den Norddeutschen Bund, November 1870 (abgedruckt mit Begleitschreiben von Leonhardt bei Schubert/Regge, S. 47 ff.); Entwurf einer Deutschen Civilprozeßordnung, März 1871 (abgedruckt mit Begleitschreiben von Leonhardt bei Schubert/Regge, CPO, S. 39). 268 Am 1. Oktober 1879. 269 Landau, S. 161 ff.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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ganen erlassen 2 7 0 ; auch die einzelnen Gremien waren zum T e i l personenidentisch besetzt 2 7 1 . A u f die Gemeinsamkeiten beider Prozeßordnungen wurde i m Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nicht nur mehrfach ausdrücklich hingewiesen 2 7 2 ; sie werden auch deutlich durch zahlreiche Querverweise der Verfahrensgesetze untereinander 2 7 3 und die einheitliche Inbezugnahme des Gerichtsverfassungsgesetzes 274 . Die Gemeinsamkeiten gelten vor allem für Grundprinzipien, die aus Anlaß der Reform in beide Gesetze Eingang gefunden haben, so auch das Prinzip der freien Überzeugungsbildung 2 7 5 . Bei so viel Gemeinsamkeiten läßt sich kaum bestreiten, daß beiden Prozeßordnungen ein in den Grundzügen einheitliches Prozeßverständnis zugrunde liegt, zumal den im Gesetzgebungsverfahren beteiligten Juristen eine Prozeßrechtswissenschaft geläufig war, die nicht strikt zwischen Z i v i l - und Strafprozeß unterschied. So war es damals durchaus üblich, in Monographien beide Prozeßordnungen in die Untersuchung einzubeziehen. Aus diesen Gründen rechtfertigt sich der vergleichende Blick auf die Regelungen der Zivilprozeßordnung.

270 Aufschlußreich zu den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens: Landau, S. 184 ff.; zur Justizkommission des Reichstages auch Schubert/Regge, S. 21 ff., 25. 271 So vor allem die vom Reichstag eingesetzte Kommission zur Beratung der Justizgesetze, vgl. Hahn (StPO), S. 549 und Hahn (CPO), S. 525; interessante Hinweise zu den Biographien der einzelnen Mitglieder bei Schubert/Regge, StPO, S. 22 ff. Auch der Justizausschuß des Bundesrates war ζ. T. personenidentisch besetzt ÇSchubert/Regge, StPO, S. 461 und Schubert/Regge, CPO, S. 855), ebenso die Kommission im preußischen Staatsministerium (,Schubert/Regge, StPO, S. 605 und Schubert/Regge, CPO, S. 887). 272 Vgl. etwa die Vorbemerkung zum Entwurf einer StPO vom Januar 1873: „Er (seil, der Entwurf, der Verf.) steht mit dem bereits veröffentlichten Entwürfe einer Deutschen Civilprozeß=Ordnung, sowie dem noch ungedruckten Entwürfe eines Gesetzes, welches die Aufgabe hat, die zur Einführung der beiden Prozeß=Ordnungen erforderlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfassung zu geben, im engsten und untrennbaren Zusammenhange", abgedruckt bei Schubert/Regge, S. 113. 273 Vgl. die Nachweise bei Schäfer in LR, 24. Aufl., Einl., Kap. 1, Rn. 2. 274 § 1 StPO, § 1 ZPO, § 2 EGGVG. 275 In den Motiven zur StPO heißt es: „Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedarf gegenwärtig nicht mehr der Rechtfertigung; er liegt allen in neuerer Zeit ergangenen deutschen Strafprozeßordnungen zu Grunde" (Hahn, S. 197). Gerade in diesem Punkt verweisen die Materialien zur CPO (Hahn, CPO, S. 275) auf den Strafprozeß: „Seit in dem deutschen Strafverfahren der Grundsatz, daß die Thatfrage der freien Würdigung des Richters unterliege, praktische Geltung erlangt hat, ist in Doktrin, Praxis und Gesetzgebung das Streben, auch in dem Civilprozeßverfahren den Richter bei Beurtheilung der Thatfrage von den gesetzlichen Fesseln zu befreien, mit einer solchen Entschiedenheit hervorgetreten, daß eine fiir das deutsche Reich bestimmte Prozeßordnung, wenn sie sich nicht dem Vorwurfe des Rückschritts aussetzen will, genöthigt ist, sich der auf Beseitigung der gesetzlichen Beweisregeln gerichteten Bewegung anzuschließen."

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

Im folgenden soll sich die vergleichende Untersuchung auf die Erklärungen des Angeklagten beschränken 276. Für den Zivilprozeß bedeutet das zunächst eine Darstellung der Erklärungsrechte der Parteien 277 (aa) und deren Abgrenzung zur Parteivernehmung (bb). Das Geständnis ist in der Zivilprozeßordnung ausdrücklich geregelt und daher in die Untersuchung einzubeziehen (cc). Die Gegenüberstellung der zivilprozessualen Vorschriften über die Gewährung rechtlichen Gehörs und die Beweisaufnahme wird Rückschlüsse auch für den Strafprozeß und das Prozeßrechtsverständnis des historischen Gesetzgebers zulassen (dd).

aa) Die Erklärungsrechte im Zivilprozeß Eine dem § 243 StPO vergleichbare Regelung über den Gang der Verhandlung findet sich in § 137 ZPO. Dessen Absatz 2 regelt die „Erklärungsrechte" der Parteien: Die Vorträge der Parteien sind in freier Rede zu halten; sie haben das Streitverhältnis in tatsächlicher (und rechtlicher) Beziehung zu umfassen. Den Inhalt der Erklärungen regelt § 138 ZPO: Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben; jede Partei hat sich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären (§ 138 I, II ZPO). Schließlich hat nach § 139 I ZPO der Vorsitzende dahin zu wirken, daß die Parteien über alle erheblichen Tatsachen sich vollständig erklären, insbesondere auch ungenügende Angaben der geltend gemachten Tatsachen ergänzen und die Beweismittel bezeichnen; zu diesem Zweck hat er den Sach- und Streitstand zu erörtern und Fragen zu stellen. Auch im Zivilprozeß beginnt die mündliche Verhandlung also - allerdings nach der Stellung der Anträge (§ 137 I ZPO) - mit dem Tatsachenvortrag der Parteien. Die Parteien geben die Tatsachen vor, mit denen das erkennende Gericht sich auseinanderzusetzen hat. Auch die Reihenfolge des Parteivortrages ist vorgegeben - wenn auch nicht ausdrücklich durch das Gesetz, so doch bedingt durch den Klagegrundsatz: Der Kläger bestimmt durch seinen Vortrag den Streitgegenstand. Zunächst hat der Kläger die klagebegründenden Tatsachen vorzubringen, dann der Beklagte seine Verteidigungsmittel (vgl. auch § 282

276 Die Rolle des Staatsanwaltes soll nicht näher untersucht werden. (Zur Funktion der Verlesung des Anklagesatzes siehe oben, S. 24 ff. Daß der Anklagesatz kein Beweismittel ist, gleichwohl die Überzeugungsbildung des Gerichts beeinflußt, wurde dort nachgewiesen.) Zur Rolle weiterer Beteiligter siehe unten, S. 100 ff. 277 Genaugenommen müßte die Vernehmung des Angeklagten mit den Erklärungsrechten des Beklagten verglichen werden. Die ZPO trennt indes nicht zwischen der Rolle des Klägers und des Beklagten. Deshalb werden die Erklärungsrechte der „Parteien" dargestellt, wenngleich faktisch durchaus auch im Zivilprozeß Unterschiede je nach Prozeßrolle zu beobachten sind.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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ZPO). Diese gesetzliche Konzeption von einem mündlichen Streitgespräch kommt zwar faktisch kaum zur Anwendung, weil regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, auf die vorbereitenden Schriftsätze zu verweisen (§ 137 III 3 i. V. m. § 129 ZPO) - wenn nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 128 II, III ZPO). Jedenfalls, wenn auch durch bloße Bezugnahmen auf Schriftsätze, führen die Parteien bzw. ihre Bevollmächtigten den Tatsachenstoff zu Beginn in die mündliche Verhandlung ein. Erst aufgrund der so geschaffenen Tatsachenbasis kann das Gericht entscheiden, ob weitere Sachverhaltsaufklärung durch eine Beweisaufnahme erforderlich ist. Doch auch die Gegensätze zum Strafprozeß werden durch diese grundlegenden Vorschriften bereits sehr deutlich: Die Parteien müssen sich äußern. Eine solche Pflicht des Angeklagten kennt der Strafprozeß gerade nicht. Doch ist diese Pflicht, sich zu äußern, nicht in dem Sinne zu verstehen, daß die Parteien notfalls gezwungen werden könnten, sich zu äußern 278. Es handelt sich - in verbreiteter zivilrechtlichen Terminologie - eher um eine Obliegenheit; es ist keine Pflicht, sondern eine Last 279 . Unterläßt es eine Partei, den Vortrag des Gegners zu bestreiten, wird dieser Vortrag als unstreitig der Entscheidung zugrunde gelegt (vgl. § 138 III ZPO). Nicht vorgetragener Tatsachenstoff bleibt unberücksichtigt. Auch der Beklagte des Zivilprozesses muß sich also nicht unbedingt (vollständig) äußern 280 ; auch er hat das Recht, „sich zur Klage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen."281 Indem er schweigt, läßt er aber eine Verteidigungsmöglichkeit ungenutzt. Der Unterschied zwischen Strafprozeß und Zivilprozeß besteht also vor allem darin, daß die Partei des Zivilprozesses beweispflichtig sein und durch ihr Schweigen Rechtsnachteile282 erleiden kann 283 .

278

Wie ζ. B. die persönlichen Beweismittel Zeugen und Sachverständige. Vgl. Jauernig, § 26 I. Das ist im zivilprozessualen Schrifttum allerdings umstritten, vgl. Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn. 1; Stein/Jonas-Schumann, Einleitung, Rn. 237 f.; Musielak-Stadler, § 138, Rn. 1. 280 Mehr noch: Er hat - im Gegensatz zum Angeklagten - grundsätzlich (vgl. jedoch §141 ZPO) die Möglichkeit, dem Prozeß fernzubleiben; mit der Folge jedoch, daß gegen ihn ein Versäumnisurteil ergehen kann, vgl. § 331 ZPO. 281 In der Terminologie des § 243 IV 1 StPO. 282 Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, gelten als zugestanden, § 138 III ZPO. Die Parteien können jedoch auch verpflichtet sein, ihnen nachteilige Tatsachen vorzutragen. Eine solche Verpflichtung kann sich aus der Nähe einer Partei zu Tatsachen und Beweisen ergeben (vgl. BGH, NJW 1990, S. 3151 f.; Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn. 22). Ob das Schweigen zu einer Umkehr der Beweislast fuhren (so Stein/Jonas-Leipold, § 286, Rn. 121) oder den Schluß auf die Wahrheit der Tatsache rechtfertigen kann (so Zöller-Greger, § 286, Rn. 14), ist umstritten. 283 Das ist im Strafprozeß nur faktisch möglich, wenn der Angeklagte für ihn günstige Tatsachen nicht vorträgt und für deren Vorliegen keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich sind, so daß sie auch nicht von Amts wegen aufgeklärt werden. 279

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß die Parteien den Streitstoff bestimmen und das Gericht nur die vorgetragenen Tatsachen berücksichtigen darf 284 . Die Parteien haben also die Herrschaft über den Tatsachenstoff. Faktisch beherrschen jedoch auch die Parteien des Strafprozesses meistens den Tatsachenstoff, denn was die Ermittlungsbehörden noch nicht ermittelt und der Beschuldigte noch nicht vorgetragen hat, wird regelmäßig auch das Gericht nicht aufklären können, da es dann keine Anhaltspunkte fiir eine weitere Aufklärung hat. Der Unterschied zum Zivilprozeß besteht also vor allem darin, daß die Parteien des Strafprozesses das Gericht nicht daran hindern können, auf bereits ermittelte (aktenkundige) oder noch zu ermittelnde Erkenntisquellen zuzugreifen. Doch wird es auch im Zivilprozeß kaum jemals vorkommen, daß die Parteien dem Gericht wesentliche Tatsachen vorenthalten. Jede Partei ist daran interessiert, die fiir sie günstigen Tatsachen in den Prozeß einzuführen, weshalb regelmäßig alle erheblichen Tatsachen in Bezug genommen werden 285 . Und wenn eine Partei die Erheblichkeit einer Tatsache verkennt, hat der Vorsitzende die Partei aufzuklären und auf eine Ergänzung des Vortrags hinzuwirken (§ 139 I ZPO). Faktisch hat der Vorsitzende also dafür zu sorgen, daß alle erheblichen Tatsachen in den Prozeß eingeführt werden. Wie gesehen, sind die Unterschiede des Parteivortrags im Zivil- und Strafprozeß (zumindest faktisch) so groß nicht. Ein wesentlicher Unterschied bleibt aber noch festzuhalten: Die Parteien des Zivilprozesses unterliegen der Wahrheitspflicht, § 138 I ZPO. Eine solche Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, schreibt die Strafprozeßordnung dem Angeklagten - bewußt 286 - nicht vor. Doch auch die Wahrheitspflicht der Parteien im Zivilprozeß ist relativ. Sie bezieht sich prinzipiell nur auf Tatsachen, die Gegenstand der eigenen Wahrnehmung waren. Denn nur hinsichtlich solcher Tatsachen hat die Partei eine Vorstellung davon, ob sie wahr sind oder nicht. Darüber hinaus dürfen die Parteien auch Tatsachen behaupten, von denen sie nicht überzeugt sind und deren Vorliegen sie nur vermuten 287 ; sie dürfen sogar im Eventualverhältnis Behauptungen aufstellen, die sich widersprechen 288. Das ergibt sich mittelbar aus § 138 IV 284

Sog. Verhandlungsgrundsatz. Ζ. Τ wird die Bezugnahme auf günstige Tatsachen sogar fingiert, etwa bei den unter dem Stichwort „gleichwertiges Parteivorbringen" (streitig) diskutierten Fällen. Vgl. BGH, NJW-RR 1995, S, 685: „Nach allgemeinem Grundsatz ist davon auszugehen, daß der Prozeßgegner sich ein fur ihn günstiges Vorbringen der Gegenseite zumindest hilfsweise zueigen macht, insbesondere, wenn es nicht im Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen steht." 285

286

Vgl. hierzu die Motive, Hahn, S. 138 f. Das ist unstreitig, vgl. Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn. 2. Nur die Grenzen sind i. e. umstritten; regelmäßig sollen solche Tatsachen unberücksichtigt bleiben dürfen, die „ins Blaue hinein" gemacht wurden, vgl. etwa Baumbach/Lauterbach-Hartmann, § 138, Rn. 17; Musielak-Stadler, § 138, Rn. 6. 288 Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn. 2. 287

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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ZPO, der die Unterscheidung von solchen Tatsachen, die Gegenstand der eigenen Wahrnehmung sind, und anderen Tatsachen zugrunde legt. Danach darf jede Partei auch solche Tatsachen behaupten und bestreiten, die sie nicht selbst wahrgenommen hat, von deren Wahrheitsgehalt sie also nicht überzeugt sein kann. Auch aus der Möglichkeit, Beweisanträge zu stellen, folgt, daß die behaupteten Tatsachen nicht wahr sein müssen.289 Diese Abweichung zur Stellung des Angeklagten im Strafprozeß aber bleibt: Die Partei des Zivilprozesses darf nicht bewußt lügen, d. h. wahrheitswidrig über solche Tatsachen berichten, die Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung waren. Insoweit verpflichtet § 138 I ZPO zur Wahrheit. Dennoch bleibt ein Verstoß gegen diese Vorschrift im laufenden Prozeß sanktionslos. Erkennt das Gericht, daß eine Partei gelogen hat, bleibt die Äußerung unberücksichtigt. Das folgt aber schon aus dem Grundsatz der freien Überzeugungsbildung, § 286 I 1 ZPO: Als unwahr erkannte Tatsachen sind der Entscheidung nicht zugrunde zu legen 290 . Weitere Konsequenzen, etwa den Ausschluß vom weiteren Vortrag, schreibt die Zivilprozeßordnung aber nicht vor, obwohl solche durchaus denkbar sind und anläßlich der Einführung der Wahrheitspflicht auch diskutiert OOl ΛΛΛ wurden . Die Lüge hat nicht einmal kostenrechtliche Konsequenzen Selbstverständlich kann sie in Folgeprozessen relevant werden, ζ. B. in einer Schadensersatzklage oder auch in einem Strafverfahren. Doch solche Auswirkungen kann auch die Lüge eines Angeklagten im Strafverfahren haben. Die Wahrheitspflicht im Rahmen der Parteierklärung erscheint allerdings als Fremdkörper auch (bzw. gerade) im Zivilprozeß. Die Parteien sollen den Tatsachenstoff in den Prozeß einführen, soweit sie ihn für erheblich erachten und berücksichtigt wissen wollen. Dabei kommt es noch nicht darauf an, ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen. Soweit sie unstreitig sind, legt das Gericht sie der Entscheidung zugrunde. Erst wenn feststeht, daß über erhebliche Tatsachen gestritten wird, stellt sich die Frage, ob die Tatsachen wahr sind; und die Überzeugungsbildung erfolgt dann gegebenenfalls aufgrund einer Beweisaufnahme.

289

Vgl. hierzu Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn 11. Mit dieser Feststellung begnügt sich das Gericht. Es kann nicht verpflichtet sein festzustellen, ob die Partei bewußt die Unwahrheit gesagt hat. Der Nachweis der Lüge ist praktisch kaum möglich und vom Verfahrensziel nicht mehr gedeckt. Vgl. auch Stein/Jonas-Leipold, § 138, Rn. 10: zu einer solchen Prüfung „besteht daher in der Regel kein Anlaß". 290

291

Von Sanktionen habe man deshalb abgesehen, weil man fürchtete, durch Anordnung von Kosten- oder Ungebührstrafen die ernste sittliche Bedeutung der Wahrheitspflicht eher abzuschwächen als zu erhöhen, vgl. Volkmar, JW 1933, S. 2427. 292 Bei der erkannten Lüge handelt es sich allenfalls um ein erfolgloses Angriffsoder Verteidigungsmittel i. S. d. § 96 ZPO. Die Vorschrift stellt aber nicht darauf ab, ob eine Behauptung wahr ist, vor allem spielt es keine Rolle, was die Partei für eine Vorstellung vom Wahrheitsgehalt der Tatsache hatte.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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Soweit es auf den Wahrheitsgehalt einer Parteierklärung ankommt, ist die Partei erforderlichenfalls gemäß §§ 445 ff. ZPO zu vernehmen. Die Wahrheitspflicht, die sich - wie gezeigt - sowieso nur ganz begrenzt 293 einfordern läßt, widerspricht dem Verhandlungsgrundsatz, der es den Parteien grundsätzlich ermöglicht, den Umfang der Aufklärungspflicht zu bestimmen. Im übrigen konterkariert sie die Funktion der Parteivernehmung. Der wesentliche Unterschied im Parteivortrag ist damit weithin relativiert. Der Zivilprozeß schreibt zwar eine Wahrheitspflicht vor; diese läßt sich jedoch nicht durchgehend einfordern und erweist sich als Fremdkörper im Prozeßgefüge. Die Wahrheitspflicht ist interessanterweise auch erst nachträglich in die Zivilprozeßordnung eingefügt worden - durch das Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933 294 . Zuvor war es im zivilprozessualen Schrifttum herrschende Meinung, daß die Parteien keine Pflicht zur Wahrheit hatten 295 . Diese Gesetzesnovelle hat „die Wahrheitspflicht auf ein Gesetz aufgepfropft, das diese Wahrheitspflicht nicht gekannt hatte" 296 . Zusammengefaßt bleibt festzuhalten: Die Erklärungsrechte der Parteien im Zivilprozeß haben den Zweck, es den Parteien zu ermöglichen, den Tatsachenstoffen in den Prozeß einzuführen und gründen auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör mit der Konsequenz, daß das Gericht alle vorgetragenen Tatsachen bei der Überzeugungsbildung zu berücksichtigen hat. Daraus folgt sogleich, daß die Parteien sich nicht äußern müssen. Die in der Zivilprozeßordnung angeordnete Pflicht, sich umfassend zu äußern (§ 138 I, II ZPO), entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Erklärungslast: Die Parteien haben das Recht, sich zu äußern; machen sie davon keinen Gebrauch, bleiben die nicht vorgetragenen Tatsachen unberücksichtigt, und nicht bestrittener Tatsachenvortrag gilt als zugestanden. Des weiteren müssen die behaupteten Tatsachen nicht Gegenstand eigener Wahrnehmung gewesen sein und auch nicht der Wahrheit entsprechen. Die in der Zivilprozeßordnung angeordnete Wahrheitspflicht (§ 1381 ZPO) läßt 293

Nämlich hinsichtlich solcher Tatsachen, die Gegenstand der eigenen Wahrnehmung waren. Daran knüpft sich ein weiteres - praktisches - Problem: Wie soll das Gericht im Zweifelsfalle feststellen, ob die umstrittene Tatsache Gegenstand eigener Wahrnehmung einer Partei war (vgl. auch Fn., 290, Kap.l)? Dieser Nachweis kann mitunter sehr viel schwieriger sein als der Nachweis der Wahrheit oder Unwahrheit der Tatsache selbst. 294

RGBl. I, 1933, S. 780. Vgl. etwa Goldschmidt, Prozeß, S. 125 ff., m. ζ. N.; anders jedoch Hellwig, S. 40 ff. 295

296

Bernhardt, JZ 1963, S. 246. Ähnlich schon Goldschmidt, JW 1931, S. 2446: „Der Entwurf beseitigt den Parteibetrieb und erschüttert weiter die Verhandlungsmaxime." „Eine Abkehr mindestens vom Geist der Verhandlungsmaxime ist es, wenn der Entwurf eine Wahrheitspflicht der Parteien aufstellt." Vgl. auch die Ausführungen zu § 290 ZPO, unten, S. 80 ff.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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sich nur sehr begrenzt aufrechterhalten, nämlich nur für Tatsachen, die Gegenstand der eigenen Wahrnehmung waren - und auch hinsichtlich solcher Tatsachen hat jede Partei die Möglichkeit, sich nicht zu erklären. Im übrigen erscheint die Wahrheitspflicht auch fur diesen begrenzten Tatsachenstoff als Fremdkörper im gesetzlichen Verständnis von den Erklärungsrechten. Diese werden vom Gesetzgeber verstanden als Verfahrenshandlungen, als prozessuale Handhabe, auf die Sachverhaltsfestellung im Prozeß Einfluß zu nehmen. Sie dienen aber nicht der Wahrheitsfindung und sind keine Beweismittel 297 . Etwas anderes folgt auch nicht aus § 141 ZPO. Gemäß Abs. 1 dieser Vorschrift soll das Gericht das persönliche Erscheinen beider Parteien anordnen, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Die Parteien müssen also erscheinen, um bei der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. In Verbindung mit der Wahrheitspflicht (§ 138 I ZPO) und der Möglichkeit, gegen die nicht erschienene Partei ein Ordnungsgeld festzusetzen (§141 III 1 ZPO), deutet diese Regelung darauf hin, daß die Parteien bei der Wahrheitsfindung mitzuwirken haben. Dennoch ist die Regelung des § 141 ZPO nicht in diesem Sinne zu verstehen. Sie hat allein klarstellende Funktion: Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung aufgestellte Parteibehauptungen sollen klargestellt oder vervollständigt werden, nicht aber sollen streitige Tatsachen aufgrund der Parteiausfuhrung als festgestellt oder widerlegt behandelt werden 298 . Die Anhörung nach § 141 ZPO ist keine Beweiserhebung - das ist ganz herrschende Meinung 299 . Diese allgemeine Auffassung läßt sich auch aus der Gesetzgebungsgeschichte begründen. Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf einer Civilprozeßordnung aus dem Jahre 1874 enthielt keine dem § 141 ZPO vergleichbare Vorschrift. Eine solche wurde erstmals in der Ersten Lesung der vom Reichstag eingesetzten Kommission diskutiert, und zwar als Ergänzung zu § 126 (dem heutigen § 139 ZPO entsprechend), also im Rahmen der richterlichen Aufklärungspflicht. Der Abgeordnete Mayer beantragte, „dem § 126 als letzten Absatz hinzuzufügen: Das Gericht kann das persönliche Erscheinen der Parteien zur Aufklärung der Sache anordnen. Welche Folgen das Nichterscheinen nach sich ziehe, bleibt dem richterlichen Ermessen anheimgegeben."300 Nur der erste Satz des Antrags wurde angenommen und der Redaktionskommission empfohlen zu 297 Ausführlich hierzu Brehm, S. 230 f f , 240 ff. Im neueren zivilprozessualen Schrifttum finden sich jedoch auch Bemühungen, die Anhörung und die Parteivernehmung einander anzunähern (siehe etwa Meyke, MDR 1987, S. 358); für eine Verschmelzung der Institute lege ferenda Polyzogopoulos, S. 143 ff., zustimmend Kollhosser, ZZP 91, 1978, S. 106. 298 Stein/Jonas-Leipold, § 141, Rn. 2; Zöller-Greger, § 141, Rn. 1. Wie Fn. zuvor und Polyzogopoulus, S. 116 und passim; Brehm, S. 231 f.; BGH, NJW-RR 1988, S. 394, 395. 300 Hahn, CPO, S. 564.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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erwägen, „ob der Antrag als eigener Paragraph oder als letzter Absatz des § 126 aufzunehmen sei" 3 0 1 . Ein weitergehender Antrag des Abgeordneten Struckmann zur Regelung der Folgen des Ausbleibens der geladenen Partei 302 wurde abgelehnt. In der Zweiten Lesung der Kommission wurde nochmals die Streichung der Vorschrift über das persönliche Erscheinen - inzwischen § 126 b — diskutiert, da sie der Verhandlungsmaxime widerspreche und unbegründete Vorbehalte gegenüber der Anwaltschaft zum Ausdruck bringe 303 ; jedenfalls sollte die Vorschrift nach einem weiteren Antrag auf den Parteiprozeß begrenzt bleiben 304 . Beide Anträge wurden abgelehnt und die Möglichkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens wurde letztlich Gesetz: „Das Gericht kann das Erscheinen einer Partei zur Aufklärung des Sachverhältnisses anordnen" 305 . Diese Anordnung ist also auch nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers als Ergänzung zur richterlichen Aufklärungspflicht zu verstehen, wonach das Gericht auf die Erläuterung unklaren und Ergänzung versehentlich unvollständigen Parteivortrags hinzuwirken hat. Der Wahrheitsfindung dient die Anordnung des Erscheinens dagegen nicht 306 , zumal die erschienene Partei nicht verpflichtet ist, Angaben zu machen 307 . Auch § 141 III ZPO belegt, daß die Anordnung des persönlichen Erscheinens ein „wirksames Mittel der sachlichen Prozeßleitung" 308 ist, dessen heutige Fassung im wesentlichen auf die Änderungen der sog. „Emminger Verordnung" 3 0 9 zurückgeht. Danach kann gegen die nicht erschienene Partei ein Ordnungsgeld festgesetzt werden; dies gilt aber nicht, wenn ein Vertreter entsendet wird, „der zur Aufklärung des Tatbestandes in der Lage und zur Abgabe der gebotenen Erklärungen, insbesondere zu einem Vergleichsabschluß, ermächtigt ist". Es kommt also nicht darauf an, daß die Partei persönlich erscheint, um als Beweismittel vernommen werden zu können. Vielmehr ist erforderlich, daß prozeßfördernde Erklärungen abgegeben werden. Die Vorschrift dient also vor

301

Hahn, CPO, S. 566. Antrag des Abgeordneten Struckmann zu § 126 a III: „Bleibt die Partei ohne genügende Gründe in dem zu ihrer persönlichen Befragung angeordneten Termine aus, so ist die Frage, sofern sie ihr in dem Beschlüsse mitgetheilt war, als auf die dem Gegener vortheilhaftere Weise beantwortet anzusehen", vgl. Hahn, CPO, S. 564. 303 Hahn, CPO, S. 954. 304 Hahn, CPO, S. 954. 305 § 132 CPO, in der Fassung vom 30. Januar 1877. 306 Auch die entsprechende Vorschrift der Strafprozeßordnung dient ausschließlich der Sicherung rechtlichen Gehörs, siehe S. 51 ff. 307 Vgl. etwa Thomas/Putzo, § 141, Rn. 4. 308 So Baumbach/Lauterbach-Hartmann, § 141, Rn. 1. 309 Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13.2.1924, RGBl., Teil I, S. 135. 302

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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allem der Förderung des Verfahrens 310 ; der Sachvortrag soll klargestellt und die mündliche Erörterung des Rechtsstreit ermöglicht werden.

bb) Die Parteivernehmung Neben den „Erklärungen" der Parteien kennt die Zivilprozeßordnung auch die Parteivernehmung, geregelt in den §§ 445 ff. ZPO. Die Vorschriften über die Parteivernehmung sind durch Gesetz vom 27. Oktober 1933 311 eingefügt worden und haben die alten Vorschriften über den Parteieneid abgelöst. Nach der gesetzlichen Konzeption handelt es sich bei der Parteivernehmung um einen Akt der Beweisaufnahme. Das belegt schon die amtliche Überschrift des zehnten Titels „Beweis durch Parteivernehmung", aber auch der Text der gesetzlichen Normen selbst. Das Verfahrenssubjekt, die Partei, kann also Gegenstand der Beweisaufnahme sein, Beweisobjekt. Im Rahmen der Parteivernehmung ist die Partei Beweismittel. Daraus läßt sich zuverlässig rückschließen, daß es sich bei der Anhörung der Parteien gemäß § 138 ZPO eben nicht um einen Akt der Beweisaufnahme handelt, und die Erklärungen insoweit nicht Gegenstand der Beweiswürdigung sind. Das oben gewonnene Ergebnis ist damit bekräftigt. Nach der gesetzlichen Konzeption handelt es sich bei Parteierklärungen grundsätzlich um die Ausübung von Verfahrensrechten, um die Gewährung rechtlichen Gehörs, bei der Parteivernehmung hingegen um Beweisaufnahme. Diese im Gesetz deutlich angelegte Trennung von Parteierklärung und Parteivernehmung, also von Tatsachenbehauptung und Beweisaufnahme, läßt sich auch durch die Einführung der Wahrheitspflicht nicht relativieren. Wie oben gezeigt, kann die Wahrheitspflicht für den Sachvortrag der Parteien nur in einem ganz begrenzten Rahmen Geltung beanspruchen - und erscheint dennoch als Fremdkörper 312. Im Rahmen der Parteivernehmung gilt die Wahrheitspflicht uneingeschränkt und sie bedarf auch keiner ausdrücklichen 313 gesetzlichen Regelung. Sie ergibt sich aus der Natur der Sache „Beweisaufnahme". Auch im übrigen gelten die für eine Beweisaufnahme typischen Regeln: Die Anordnung der Parteivernehmung erfolgt durch Beweisbeschluß (§ 450 I 1 ZPO); die Par310

Vgl. auch Baumbach/Lauterbach-Hartmann, § 141, Rn. 2. Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27.10.1933, RGBl. I, S. 780. 3,2 Vgl. oben, S. 73. 313 Die Wahrheitspflicht im Rahmen der Parteivernehmung ergibt sich indirekt aus § 451 ZPO i. V. m. § 395 I ZPO und § 452 II ZPO. I. ü. stellt § 154 StGB die eidliche Falschaussage einer Partei unter Strafe. (Die Beschränkung auf eidliche Aussagen ist darauf zurückzuführen, daß bei Erlaß des RStGB die Partei des Zivilprozesses Beweis nur durch Eid erbringen konnte.) 311

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

78

teivernehmung beschränkt sich auf bestimmte (streitige) Beweistatsachen (vgl. § 445 I ZPO a. E., § 446 ZPO a. E. und passim); diese Tatsachen müssen Gegenstand der eigenen Wahrnehmung gewesen sein, denn nur darüber kann man Auskunft erteilen 314 ; die Partei hat sich vollständig und der Wahrheit gemäß zu erklären (§ 451 ZPO i. V. m. § 395 I ZPO) und diese Aussage gegebenenfalls zu beeiden (§ 452 ZPO); schließlich unterliegt die Aussage der freien Beweiswürdigung (§ 453 ZPO). Indes bestehen auch Unterschiede zu der Beweiserhebung durch sonstige Beweismittel: Die Parteivernehmung ist subsidiär, d. h. ihre Anordnung erfolgt nur, wenn der Beweis mit anderen Beweismitteln nicht gefuhrt werden kann 315 ; ein Antrag auf Parteivernehmung ist nicht zu berücksichtigen, wenn er Tatsachen betrifft, deren Gegenteil das Gericht für erwiesen erachtet (§ 445 II ZPO); schließlich kann die Parteivernehmung nicht erzwungen werden (§ 446 ZPO; vgl. auch § 454 ZPO). Damit erhält die Partei Vernehmung eine nur ergänzende Funktion. Hinter dieser Regelung steht ersichtlich die Skepsis des Gesetzgebers gegenüber der Wahrheitstreue der beteiligten Parteien. Sie haben Interesse am Ausgang des Verfahrens und werden regelmäßig versuchen, die Tatsachen fur sie günstig darzustellen. Die Parteivernehmung ist damit nur ein Hilfsbeweismittel zur Vervollständigung der Beweisführung durch andere Beweismittel. Der Gesetzgeber läßt sogar ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung zu und schließt die Parteivernehmung aus, wenn das Gericht vom Gegenteil überzeugt ist (§ 445 II ZPO). Durch die Regelung des § 454 ZPO wird die Subjektstellung der Parteien weitestgehend gewahrt. Es liegt in ihren Händen, sich zum Beweismittel und damit Objekt des Verfahrens machen zu lassen. Es gibt keinerlei Zwangsmittel, die Durchführung der Vernehmung zu ermöglichen 316 . Die Weigerung, sich vernehmen zu lassen bzw. diese Aussage zu beeiden, kann jedoch vom Gericht frei gewürdigt werden (§§ 446, 453 II, 454 ZPO). Diese faktische Mitwirkungspflicht ist keine Besonderheit der Par314

Das ist selbstverständlich und in der Natur des Personalbeweises begründet: eine Person kann nur über das berichten, was sie wahrgenommen hat. Damit ist natürlich nicht vorausgesetzt, daß die Partei die Tatsache selbst unmittelbar wahrgenommen hat (in diesem Sinne ist wohl auch Baumbach/Lauterbach-Hartmann, § 445, Rn. 7 zu verstehen) - aber das ist nichts besonderes und gilt auch fiir den Zeugen- und Sachverständigenbeweis. In der Fassung der CPO vom 30. Januar 1877 war der Beweis durch Eid entsprechend beschränkt; gemäß § 410 war die Eideszuschiebung nur über solche „Tatsachen zulässig, welche in Handlungen des Gegners, seiner Rechtsvorgänger oder Vertreter bestehen oder welche Gegenstand der Wahrnehmung dieser Person gewesen sind" (vgl. hierzu auch Hahn, CPO, S. 331 und die entsprechende Eidesformel in § 424 CPO). Die ZPO hat eine entsprechende Beschränkung nur in § 455 II ZPO noch beibehalten. 315

Vgl. im einzelnen die Voraussetzungen der §§ 445 - 448 ZPO. Die Regelung des § 141 III 1 ZPO ist deshalb erstaunlich, weil es dort nur um die Aufklärung von Ungenauigkeiten geht und dennoch ein Ordnungsgeld verhängt werden kann. Sinnvoll wäre ein Zwangsmittel allenfalls zur Durchsetzung der Beweisaufnahme durch Parteivernehmung. 3,6

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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teivernehmung. Die Zivilprozeßordnung geht davon aus, daß die Parteien die Beweismittel vorlegen, soweit sie Einfluß darauf haben. Anstatt unmittelbaren Zwang auf die Parteien auszuüben, begnügt sich die Zivilprozeßordnung mit dieser mittelbaren Zwangswirkung, die unterlassene Mitwirkung (auch) zum Nachteil der vereitelnden Person würdigen zu können 317 . Als wesentliche Erkenntnis bleibt damit festzuhalten: Die Parteivernehmung ist - in Abgrenzung zur Anhörung der Partei - Beweisaufnahme 318. Im Gegensatz zu anderen Beweismittel ist die Anordnung der Parteivernehmung aber nur subsidiär zulässig. Die Zivilprozeßordnung enthält eine Ausnahmeregelung für die Beweiserhebung durch Parteivernehmung unter engen Voraussetzungen. Eine solche Vernehmung des Angeklagten als Gegenstand der Beweisaufnahme regelt die Strafprozeßordnung nicht. Als Verfahrenssubjekt kann es dem Angeklagten zwar nicht verwehrt sein, ein Geständnis abzulegen; er kann belastende Tatsachen in Form eines Erlebnisberichtes zugestehen. Der Angeklagte kann aber hinsichtlich entlastender Tatsachen nicht „Zeuge in eigener Sache" sein. Eine mögliche Erklärung dafür, daß - im Gegensatz zur Partei im Zivilprozeß - der Angeklagte im Strafprozeß nicht Zeuge in eigener Sache sein kann, findet sich in den Beweislaststrukturen. Die Zivilprozeßordnung verteilt die Beweislasten auf die Parteien. Grundsätzlich hat jede Partei die für sie günstigen Tatsachen zu beweisen. Ist ein vollständiger Beweis durch andere Beweismittel nicht möglich, bleibt oft nur die Parteivernehmung. Denn als Sachvortrag hat die Parteierklärung keinen Beweiswert. Im Strafprozeß gibt es eine solche Beweislastverteilung nicht. Es genügt die Behauptung des Angeklagten; das Gericht hat diese Tatsache dann von Amts wegen aufzuklären. Bleiben nach der Beweiserhebung Zweifel, ist die Tatsache zu Gunsten des Angeklagten zu unterstellen, „in dubio pro reo". Da eine Beweislastentscheidung zu Ungunsten des Angeklagten nicht ergehen darf, ist es nicht erforderlich, daß er als Zeuge in eigener Sache auftritt. Die (entlastende) Behauptung des Angeklagten bedarf keines Beweises. In manchen ausländischen Strafverfahrensordnungen ist allerdings festgelegt, daß der Angeklagte mit seinem Einverständnis als Zeuge vernommen werden kann, so nach britischem oder (anglo-)amerikanischem System. Der

317 Vgl. auch Münks, S. 179; Musielak-Huber, § 446, Rn. 1; Stein/Jonas-Leipold, § 446, Rn. 8: „Die ohne Angabe von Gründen erklärte Weigerung rechtfertigt regelmäßig den Schluß auf die Wahrheit der unter Beweis gestellten Tatsachen." 318 Vgl. Baumbach/Lauterb ach-H artmann, Übers § 445, Rn. 1 f.; Musielak-Huber, § 445, Rn. 1; Polyzogopoulos, S. 114 und passim; Münks, S. 175 f.; aus diesem Grunde können Erklärungen im Rahmen einer Parteivernehmung auch kein Geständnis enthalten, Orfanides, NJW 1990, S. 3174 ff.; BGH, NJW 1995, S. 1432; vgl. zum Streitstand Hülsmann, NJW 1997, S. 617 ff.

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

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Grundsatz „in dubio pro reo" wird dort aber anders verstanden: Der Angeklagte ist in gewissem Grade beweispflichtig für die geltend gemachten entlastenden Tatsachen319. Insofern ist die Möglichkeit einer Vernehmung des Angeklagten (in Form einer Beweiserhebung) konsequent. Auch diese Prozeßordnungen unterscheiden i. ü. zwischen den Erklärungsrechten als Verfahrenshandlungen (etwa dem Abschluß eines Vergleiches) und der förmlichen Vernehmung im Rahmen der Beweisaufnahme über streitige Tatsachen320.

cc) Das Geständnis im Zivilprozeß Die Zivilprozeßordnung regelt in den §§ 288 - 290 ZPO Wirkung, Wirksamkeit und Widerruf des (gerichtlichen 321 ) Geständnisses. Gemäß § 288 I ZPO bedürfen die von einer Partei behaupteten Tatsachen insoweit keines Beweises, als sie im Laufe des Rechtsstreits von dem Gegner bei der mündlichen Verhandlung oder zum Protokoll eines beauftragten oder ersuchten Richters zugestanden sind. Damit läßt sich das Geständnis eindeutig den Erklärungsrechten der Parteien zuordnen. Das Geständnis ist Verfahrenshandlung, nicht aber Gegenstand der Beweisaufnahme 322, da der Beweis zugestandener Tatsachen gerade nicht erforderlich ist 3 2 3 . Die oben 324 aufgezeigten Konsequenzen für die Erklärungsrechte gelten somit auch für das Geständnis. Die zugestandene Tatsache muß insbesondere nicht Gegenstand der eigenen Wahrnehmung gewesen sein und der Wahrheit entsprechen 325; auch ist eine SachVerhaltsschilderung nicht erforderlich: das Geständnis ist Verfahrenshandlung und kann sich in der Äußerung erschöpfen, die behauptete Tatsache werde zugestanden. Diese Einordnung des Geständnisses als Verfahrenshandlung ist unstreitig 326 . Schon der Gesetzgeber hat sie deutlich zum Ausdruck gebracht, indem er sich auf die Grundsätze des gemeinen Rechts berief: Leitend war der Gedanke, daß das gerichtliche Geständnis 319

Vgl. hierzu Schmid, § 22, Ziffer 7, und ausführlich Herrmann, S. 219 ff., 225 ff. Eine rechtsvergleichende Analyse wäre interessant und sicherlich sehr aufschlußreich, würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 321 Das außergerichtliche Geständnis hat im Prozeß keine Funktion. Es kann allenfalls Beweis über das Vorliegen eines außergerichtlichen Geständnisses erhoben und dieses dann als Indiz gewürdigt werden. Gleiches gilt übrigens im Strafprozeß. 322 Siehe auch BGH, NJW 1995, S. 1432: „Geständnis und Beweisaufnahme schließen sich gemäß § 288 I ZPO gegenseitig aus." 323 So die Formulierung des § 288 I ZPO; vgl. hierzu auch Bülow, S. 224 ff. 324 S. 70 ff. 325 Zöller-Greger, § 288, Rn. 7, anders jedoch Orfanides, NJW 1990, S. 3174. Vgl. zur Wahrheitspflicht § 290 ZPO und den nachfolgenden Text. 326 Vgl. etwa Baumbach/Lauterbach-Hartmann, Einf §§ 288 - 290, Rn. 3; MusielakHuber, § 288, Rn. 6; Thomas/Putzo, § 288, Rn. 1; Bernhardt, JZ 1963, S. 246. 320

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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„kein die Überzeugung des Richters bestimmendes Beweismittel, sondern eine durch Verzicht auf den Beweis bewirkte Disposition über das streitige Recht ist" 3 2 7 . Das Geständnis ist also Ausfluß des Verhandlungsgrundsatzes. Eine vom Gegner behauptete und zu beweisende (weil für ihn günstige) Tatsache wird zugestanden und damit unstreitig und für das Gericht als bindend festgestellt. Gegenüber dem bloßen Nichtbestreiten hat das ausdrückliche Zugestehen aber die weitere Konsequenz, daß ein Widerruf nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist: Die widerrufende Partei muß beweisen, daß das Geständnis nicht der Wahrheit entspricht und durch einen Irrtum veranlaßt war (§ 290 S. 1 ZPO). Auch daraus ergibt sich, daß ein Geständnis nicht der Wahrheit entsprechen muß 328 . Denn der Widerruf setzt neben dem Beweis der Unwahrheit der zugestandenen Tatsache zusätzlich den Beweis des Irrtums voraus. Mit anderen Worten: Der Beweis der Unwahrheit der Tatsache allein genügt nicht; das Gericht bleibt an das Geständnis gebunden329. Diese Vorschriften über das Geständnis waren bereits in der CPO 3 3 0 vorhanden und blieben bis heute unverändert 331 . Zusammenfassend läßt sich festhalten: Das gerichtliche Geständnis im Zivilprozeß ist kein Akt der Beweisaufnahme. Es ist Verfahrenshandlung und bewirkt, daß das Gericht an den zugestandenen (und damit übereinstimmenden) Parteivortrag gebunden ist. Das Geständnis stellt eine Möglichkeit dar, sich zu dem Parteivortrag des Gegners zu erklären. Oftmals ist der Vortrag günstiger Tatsachen nur möglich, wenn zugleich nachteilige Tatsachen zugestanden werden. Eine Einwendung oder Einrede etwa setzt regelmäßig das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen voraus. Durch ein Geständnis kann daher der Prozeßstoff auf das Wesentliche konzentriert werden; es ermöglicht ein prozessuales Taktieren.

327

Hahn, CPO, S. 278. Siehe auch BGH, NJW 1995, S. 1432, 1433. 329 In der neueren zivilprozessualen Literatur ist diese Bindungswirkung allerdings umstritten, vgl. zum Meinungsstand Pawlowski, MDR 1997, S. 7 m. ζ. N. 330 §§ 261 - 263 in der Fassung vom 30. Januar 1877; fast identisch schon die §§ 237 - 239 des ersten Entwurfs aus dem Jahre 1871, abgedruckt bei Schubert/Regge, CPO, S. 43 ff., 60. 331 Ein weiterer Beleg dafür, daß sich die Wahrheitspflicht mit dem Prozeßrechtsverständnis des damaligen Gesetzgebers (und auch dem aktuellen Gesetzestext!) nicht deckt. 328

6 Kruse

82

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

dd) Prozeßmodell des historischen Gesetzgebers Aus der Gegenüberstellung mit den Regeln der Zivilprozeßordnung lassen sich für den Strafprozeß Rückschlüsse ziehen. Der Gesetzgeber der Reichsjustizgesetze hatte eine bestimmte Vorstellung von der Sachverhaltsfeststellung im Prozeß. Dieses Prozeßmodell spiegelt sich sowohl in der Strafprozeßordnung als auch in der Zivilprozeßordnung wider. Der Vergleich von Erklärungsrechten in den beiden Verfahrensordnungen hat gezeigt, daß durchaus weitreichende Parallelen bestehen, die das hiesige Verständnis vom Strafprozeß unterstützen. Der Angeklagte ist Partei des Strafprozesses und er ist ausgestattet mit allerlei Rechten. Insbesondere hat er das Recht, sich zum Anklagevorwurf umfassend zu äußern und sich dagegen zu verteidigen. Diese Erklärungen sind als Prozeßhandlungen zu verstehen und mit dem Parteivortrag im Zivilprozeß zu vergleichen. Die Erklärungen sind Tatsachenvortrag, mit dem das Gericht sich auseinanderzusetzen hat; sie sind Ausfluß des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Erklärungen des Angeklagten gehören (vorbehaltlich des Geständnisses) aber nicht zur Beweisaufnahme, ebensowenig die Anhörung der Partei im Zivilprozeß; Parteierklärungen sind keine Beweismittel. Im Gegensatz zum Zivilprozeß kennt der Strafprozeß auch keine Beweiserhebung durch „Parteivernehmung", da der Angeklagte niemals beweispflichtig ist und sein (entlastender) Vortrag dem Urteil prinzipiell zugrunde zu legen ist, soweit das Gericht sich nicht aufgrund einer Beweisaufnahme vom Gegenteil überzeugt 332. Nach der für den Straf- und Zivilprozeß einheitlichen Vorstellung des (historischen) Gesetzgebers erfolgt der Erkenntnisprozeß vor Gericht also auf zwei Ebenen: Zum einen liefert der Vortrag der Parteien den Tatsachenstoff, den das Gericht (mindestens) zugrunde zu legen hat. Die Klage begrenzt den Streitgegenstand; hiergegen kann sich der Beklagte bzw. Angeklagte verteidigen. Soweit der erhebliche Vortrag sich widerspricht, hat das Gericht Beweis zu erheben (im Zivilprozeß den Zeugenbeweis allerdings nur auf Antrag), den Beweis zu würdigen und sich abschließend eine Überzeugung zu bilden. Gelangt das Gericht auch nach einer Beweisaufnahme zu keiner eindeutigen Überzeugung, hat es nach der Beweislast zu entscheiden. Im Strafprozeß gilt darüber hinaus der Amtsaufklärungsgrundsatz. Die Parteien können nicht unkontrolliert über den Tatsachenstoff verfügen, da hinter dem Strafanspruch - wie im übrigen

332

Eine „Parteivernehmung" des Staatsanwaltes regelt das Gesetz deshalb nicht, weil der Staatsanwalt regelmäßig kein taugliches (Personal-)Beweismittel ist. Er hat nichts wahrgenommen, was für die Sachverhaltsaufklärung von Bedeutung sein könnte. Andernfalls (solche seltenen Ausnahmefälle sind denkbar) ist er als Zeuge zu vernehmen. Eine gesetzliche Regelung ist aber dennoch nicht erforderlich, da der Staatsanwalt, der nur die Behörde vertritt, in diesen Fällen aus seiner Position als Sitzungsvertreter regelmäßig entlassen wird (vgl. den Rechtsgedanken des § 22 Nr. 5 StPO und hierzu Kleinknecht/Meyer-Goßner; Vor § 22, Rn. 3 ff.).

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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auch hinter den Familien- und Kindschaftssachen nach der ZPO - ein öffentliches Interesse an der Wahrheitsermittlung steht.

d) Konsequenzen Nach einer kurzen Zusammenfassung der Grundlagen des soeben entwikkelten Prozeßmodells (aa) soll gezeigt werden, welche Auswirkungen es hat, wenn man die Erklärungsrechte des Angeklagten ausschließlich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ableitet und auf das gängige Konstrukt von der „Doppelrolle" des Angeklagten verzichtet (bb).

aa) Grundlagen Der Angeklagte ist Partei des Strafprozesses. Als solche hat er das Recht, Erklärungen abzugeben. Insbesondere kann er Tatsachen behaupten, die fur den Prozeßgegenstand, also die Tat im prozessualen Sinne, von Bedeutung sind. Dieses Recht ist Ausfluß des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Es beinhaltet das Recht, zu den von der Anklage vorgetragenen Tatsachen Stellung zu nehmen und neue Tatsachen zu behaupten. An diesem (allgemeinen) Maßstab des rechtlichen Gehörs 333 werden sich die folgenden Ausführungen zunächst334 orientieren. Daraus folgt, daß die herauszuarbeitenden Konsequenzen allgemeingültig sind, soweit der Schutzbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör reicht. Sie beschränken sich daher nicht auf ein bestimmtes Verfahrensstadium (etwa die Vernehmung des Angeklagten), sondern gelten für die gesamte mündliche Verhandlung. Sie gelten des weiteren für alle Verfahrensbeteiligten 335. Ausgerichtet sind die folgenden Ausführungen aber an der Vernehmung des Angeklagten zur Sache. Dort werden die Konsequenzen am deutlichsten, sind die Ergebnisse am umstrittensten. Die Übertragung auf weitere Erklärungsrechte des Angeklagten wird später (im dritten Kapitel) untersucht. Die Gültigkeit dieses Erklärungsansatzes für weite-

333

In seiner strafprozessualen Ausformung, siehe S. 66. Erst in den nachfolgenden Kapiteln soll versucht werden, diesen Maßstab fiir den Strafprozeß, insbesondere für den Umgang mit Erklärungen des Angeklagten, zu konkretisieren. 335 Ob dem Staatsanwalt ein grundrechtlicher Anspruch auf rechtliches Gehör zusteht, ist umstritten (vgl. LR-Rieß, Einl. Abschn. H, Rn. 79, m. w. N.); jedenfalls hat er aufgrund der einfachgesetzlichen Vorschriften einen Anspruch auf rechtliches Gehör. 334

*

1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

84

re Beteiligte ist weitgehend anerkannt und berührt die Thematik dieser Untersuchung nur sekundär, bleibt daher im folgenden außer Betracht 336 .

bb) Die Konsequenzen im einzelnen Im folgenden sollen einige der Konsequenzen aufgezeigt werden, die sich aus der oben entwickelten Deutung der Erklärungsrechte des Angeklagten ergeben. Die aufzuzeigenden Konsequenzen haben nicht den Anspruch, etwas völlig Neues zu schaffen; die Ergebnisse werden vielmehr regelmäßig schon in Rechtsprechung und Literatur diskutiert und sind z. T. sogar unumstritten. Soweit die Ergebnisse unstreitig sind, wird sich das hier entwickelte Modell aber als geeignet erweisen, Begründungsdefizite auszugleichen.

(1) Umfang und Inhalt der Einlassung Eine erste Konsequenz ist bereits oben 337 bei der „Einrichtung der Vernehmung4' angesprochen worden: Die Erklärungen des Angeklagten dürfen weder inhaltlich noch zeitlich beschränkt werden. Der Angeklagte hat das Recht, sich jederzeit zu äußern, ohne dabei auf bestimmte Inhalte beschränkt zu sein. Dabei sind die in der Strafprozeßordnung ausformulierten Rechte ihrer Natur nach zum Teil beschränkt auf bestimmte Zeitpunkte; die Erklärungsrechte gemäß § 257 StPO etwa bestehen nach jeder einzelnen Beweiserhebung, das letzte Wort gestattet § 258 StPO nach den Schlußvorträgen. Dabei handelt es sich aber nur um speziell ausformulierte Erklärungsrechte des Angeklagten an prozessual bedeutsamen Schnittstellen. Auch ohne spezielle Regelungen hat der Angeklagte das Recht, jederzeit Erklärungen abzugeben338. Das gilt auch fiir die Vernehmung des Angeklagten gemäß § 243 IV 2 StPO. Diese erfolgt zwar nach der Verlesung des Anklagesatzes und vor der Beweisaufnahme. Es ist aber unumstritten, daß der Angeklagte einen anderen Zeitpunkt seiner Vernehmung bestimmen kann, indem er zunächst die Einlassung verweigert und sie zu einem späteren Zeitpunkt nachholt. Auch inhaltlich unterliegt der Angeklagte in seinen Erklärungen keinerlei Vorgaben. Er kann sich jederzeit zum Prozeßgegenstand äußern. Auch nicht zum Prozeßgegenstand gehörende Erklärungen sind vom Gericht zunächst ent-

336

Die Rolle weiterer Beteiligter wird nur angedeutet im letzten Abschnitt dieses Kapitels, S. 100 ff. 337 S. 31 ff. 338 Das war auch für den (historischen) Gesetzgeber selbstverständlich, vgl. Hahn, S. 864.

V. Die Vernehmung des Angeklagten

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gegenzunehmen, da sich die Erheblichkeit regelmäßig erst nachträglich zuverlässig beurteilen läßt. Allenfalls dann, wenn der Angeklagte sein Recht zur Äußerung mißbraucht 339 , kommt - nach vorheriger Abmahnung - eine Entziehung des Wortes in Betracht 340 . Diese inhaltliche Schranke des Äußerungsrechts stellt aber die Subjektstellung des Angeklagten nicht in Frage; es handelt sich dabei vielmehr um ein allgemeines Phänomen. Jedes Recht kann mißbraucht werden, und durch schrankenlose Ausübung von Verfahrensrechten läßt sich ein Prozeß sabotieren. Unter dem Stichwort „Rechtsmißbrauch" wird daher diskutiert, ob und in welchen Grenzen die zweckwidrige Ausübung von Verfahrensrechten unterbunden werden kann 341 . Diese Grenzen rechtsmißbräuchlichen Verhaltens können hier nicht abgesteckt werden. Wesentlich ist die Erkenntnis, daß es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, das die Verfahrensrolle des Angeklagten unberührt läßt. Nicht nur den Inhalt seiner Erklärungen bestimmt der Angeklagte; er entscheidet auch, ob er sich äußern will. Er hat das Recht, nicht die Pflicht, sich zu äußern. Er kann sich daher auch ausschließlich zu bestimmten Tatsachen erklären, zu anderen Tatsachen hingegen schweigen. Er muß selbstverständlich keine Fragen beantworten. Inhalt und Zeitpunkt der Erklärungsrechte des Angeklagten sind in der Hauptverhandlung des Strafprozesses grundsätzlich inhaltlich und zeitlich unbegrenzt. 342 Diese Aussagen folgen aus dem hier entwickelten Konzept, nach dem der Angeklagte Verfahrenssubjekt ist und die Vernehmung der Wahrung seines

339

Es ist allerdings zweifelhaft, ob es einen allgemeinen Grundsatz gibt, wonach die mißbräuchliche Ausübung prozessualer Rechte unzulässig ist. Der Begriff des Mißbrauchs weist überdies keine scharfen Konturen auf. Vgl. dazu den nachfolgenden Text. 340 In den Kommentierungen zu § 243 findet sich allerdings interessanterweise (im Gegensatz zu den Rechten aus §§ 239 f., 244, 257, 258 StPO) kein Hinweis auf eine Beschränkung des Äußerungsrechts unter dem Aspekt des Mißbrauchs. Dort wird - noch weniger greifbar - auf die Befugnis des Vorsitzenden zur Verhandlungsleitung verwiesen. Das ist jedoch irreführend: § 238 I StPO rechtfertigt nicht die (beliebige) Beschneidung prozessualer Rechte. Das folgt auch aus den Motiven zu dieser Vorschrift, Hahn, S. 189: „Die zur Sicherung des Verfahrens geschaffenen Förmlichkeiten und die zum Schutz des Angeklagten gewährten Vertheidigungsmittel würden wesentlich an ihrem Wert verlieren, wenn dem Vorsitzenden gestattet wäre, sich nach seinem diskretionären Ermessen, so oft es ihm zur Ermittlung der Wahrheit dienlich erscheint, über dieselben hinwegzusetzen." 341 Vgl. zum Meinungsstand LR-Gollwitzer, Vor § 266 ff., Rn. 49 ff.; KK-Pfeiffer, Einl., Rn. 22 a; Rüping, JZ 1997, S. 865; Niemöller, StraFo 1996, S. 104; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl., Rn. 111 m. ζ. N. Einen umfassenden Überblick bietet auch die Monographie von Kudlich (Meinungsstand S. 42 f f ; praktizierte Mißbrauchsfälle S. 259 ff), der die gesetzliche Regelung einer allgemeinen Mißbrauchsklausel vorschlägt, S. 360. Jedenfalls muß man das Problem als globales erkennen und die Lösung nicht in der Beschneidung einzelner Verfahrensrechte suchen. 342 Vgl. zum Ganzen schon oben, S. 31 ff.

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1. Kap.: Tatsachenvortrag der Parteien

Anspruchs auf rechtliches Gehör dient. Sie entsprechen aber zugleich der allgemeinen Auffassung. Diese bleibt eine Begründung allerdings schuldig. Zwar kann sie die Doppelstellung des Angeklagten herausstreichen und darauf rekurrieren, daß der Angeklagte auch Verfahrenssubjekt ist. Die völlige Freiheit in der Erklärung verträgt sich aber schlechterdings nicht mit der Idee, der Angeklagte sei (auch) Beweismittel. Es wäre dies ein Unikum, wenn ein Beweismittel, ohne durch ein Beweisthema begrenzt zu sein, Inhalt, Zeitpunkt und Umfang der Beweiserhebung selbst bestimmt 343 . Gegen eine „Doppelrolle" des Angeklagten spricht im übrigen auch, daß sich damit dessen Verfahrensrolle immer erst nachträglich feststellen läßt. Sie hängt zum einen davon ab, ob der Angeklagte sich überhaupt einläßt. Denn der schweigende Angeklagte trägt keine Erkenntnisse bei. Sie hängt des weiteren aber auch vom Inhalt der Erklärung ab. Nur solche Einlassungen sind Beweismittel, die erhebliche - und zwar: belastende - Tatsachen enthalten. Denn wenn der Angeklagte den Tatvorwurf bestreitet, wird dies regelmäßig nicht als Beweismittel qualifiziert. Schließlich läßt sich auch die Frage, ob eine Erklärung belastend wirkt, oft erst im Nachhinein zuverlässig beantworten. Eine solche Differenzierung nach dem Inhalt der Erklärung ist methodisch fragwürdig und kann zu einer allgemeingültigen Rollenbeschreibung des Angeklagten nichts beitragen. Solche Unsicherheiten werden vermieden, wenn man den Angeklagten als Partei anerkennt, dessen Erklärungen grundsätzlich Verfahrenshandlungen sind und nur ausnahmsweise - als Geständnis - Erkenntnismittel.

(2) Gegenstand der Einlassung Der Angeklagte ist nicht verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Die Lüge ist sanktionsfrei. Das ist nahezu 344 unumstritten. Diskutiert wird allenfalls, ob der Angeklagte moralisch verpflichtet ist, die Wahrheit zusagen; diese Frage spielt für die rechtliche Beurteilung indes keine Rolle und wird daher zu recht als bedeutungslos bezeichnet345. Die andere Frage, ob der Ange343 Die Beschränkung der Äußerungsfreiheit in Mißbrauchsfällen ist keine Besonderheit der Vernehmung des Angeklagten, sondern entspricht der gängigen Dogmatik zum Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör, vgl. etwa Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103, Rn. 83. 344 Vgl. zum Meinungsstand Rogali , Der Beschuldigte, S. 52 ff. Die Gegenauffassung Horas, S. 71 - 73