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German Pages 354 Year 1973
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 207
Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems Eine Untersuchung zur rechtlichen Stellung des Deutschen Bundestages
Von
Heinhard Steiger
Duncker & Humblot · Berlin
HEINHARD STEIGER
Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems
Schriften zum öffentlichen Band 207
Recht
Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems Eine Untersuchung zur rechtlichen Stellung des Deutschen Bundestages
Von
Prof. D r . H e i n h a r d Steiger
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Alle Rechte vorbehalten © 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1973 bei Buchdruckerei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed In Germany
ISBN 342802832 5
Vorwort Die Abhandlung ist i m Wintersemester 1970/71 von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie wurde überarbeitet, ergänzt und auf den Stand von Ende 1971 gebracht. I n einigen Teilen konnte die Entwicklung bis zum Sommer 1972 noch i m Druck berücksichtigt werden. Ich habe vielfachen Dank für die vielfältigen Hilfen zu sagen, die m i r die Fertigstellung dieser Untersuchung erst ermöglicht haben. Er gilt i n erster Linie meinen verehrten Lehrern des Rechts, Herrn Prof. Hans Ulrich Scupin und Herrn Prof. Hans J. Wolff. Sie haben, jeder auf seine Weise, nicht nur diese Arbeit durch Anregungen und Hinweise gefördert, sondern die A r t und Weise der wissenschaftlichen Problemsicht und Problembewältigung maßgeblich beeinflußt. Dank zu sagen habe ich auch den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Beamten der Bundestagsverwaltung, die m i r während eines mehrmonatigen Studienaufenthaltes i m Deutschen Bundestag reiche Unterstützung haben zukommen lassen. Insbesondere Herr M i n i sterialrat Werner Blischke hat m i r die Probleme der praktischen Arbeit des Bundestages aufgezeigt und m i r wertvolle Impulse vermittelt. Danken möchte ich jenen Institutionen, die m i r finanzielle Hilfen gewährten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat m i r ein mehrjähriges Habilitationsstipendium bewilligt. Der Deutsche Bundestag hat einen namhaften Zuschuß zu den Druckkosten bereitgestellt. Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann danke ich, daß er auch diese Schrift i n seine Reihe „Schriften zum öffentlichen Recht" aufgenommen hat. Münster, den 1. Dezember 1972 Heinhard Steiger
Inhaltsverzeichnis Einführung I. Problembestimmung
15
I I . Zuständigkeiten des Bundestages
18
I I I . Verfassungsrecht und Wirklichkeit
22
Erster
Teil
Grundlagen Kapitel 1: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages § 1 Hechtsquellen der Zuständigkeiten im allgemeinen I. Arten der Rechtsquellen I I . Grundgesetzliche Rechtsquellen
31 31 31 31
I I I . Gesetzliche Rechtsquellen
32
I V . Sonstige Rechtsquellen
33
§2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht I. Die Bestandteile
34 34
1. Allgemeines 2. Die Geschäftsordnung vom 6.12.1951
34 35
3. Vereinbarungen i m Ältestenrat
36
I I . Der Rechtscharakter
37
1. Bisher vertretene Ansichten 2. Rechtssatzbegriff
37 37
3. Parlamentsrecht als Organisationsrecht
40
I I I . Verhältnis zu anderen Rechtsnormen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Aufassung des Bundesverfassungsgerichts Die Geschäftsordnung als Satzung Der Begriff der Satzung Unanwendbarkeit des Satzungsbegriffs Eigenerzeugtes Organrecht Nebenordnung von Gesetz und eigenerzeugtem Organrecht . .
41 41 41 41 42 43 44
8
nsverzeichnis I V . Ungeschriebenes Organrecht
45
V. Der Parlamentsbrauch
48
Kapitel 2: Fragen der Organschaft
50
§ 3 Der Rechtscharakter des Bundestages
50
I. Organ und Körperschaft 1. 2. 3. 4.
Organ Die konstitutionelle Körperschaftstheorie Der Wandel zum Staatsorgan Der Doppelcharakter des Bundestages
I I . Der Grundsatz der Diskontinuität 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Sein Inhalt nach der herrschenden Meinung Seine Herkunft Der Stand der Meinungen über seine rechtliche Geltung Seine Voraussetzungen in der Vergangenheit Versuche seiner Begründung in der Gegenwart Die eigene Ansicht
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten I. Organ und Organwalter I I . Das Abgeordnetenamt 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zum Begriff des Amtes Abgeordnetenamt und Kollegialorgan Das Organ waltergrundverhältnis Das Amtswalterverhältnis Das Statusverhältnis Kein Organcharakter
§ 5 Das Plenum des Bundestages I. Rechtsstellung
50 50 51 55 56 57 57 58 59 61 64 66 67 67 69 69 70 71 75 76 81 81 81
1. Grundlagen 2. Regierungsmehrheit und Opposition
81 83
3. Zur Funktion der öffentlichen Beratungen
87
I I . Das Verfahren 1. 2. 3. 4. 5.
Grundlagen Die Tagesordnung Die Rednerfolge Das Rederecht der Abgeordneten Beschlußfassung
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages I. Allgemeines
90 90 90 94 98 101 105 105
nsverzeichnis 1. Grundlagen 2. Einzelämter 3. Kollegiale Einrichtungen des Bundestages
β
I I . Die Fraktionen 1. 2. 3. 4.
105 105 106 107
Die Bildung Die Einrichtung Die interne Organisation Zuständigkeiten und Rechtsstellung
107 107 111 114
I I I . Der Ältestenrat
117
IV. Die Ausschüsse
119
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Bildung, Errichtung und Einrichtung Die Vertretung der Fraktionen in den Ausschüssen Die Besetzung der Ausschußvorsitze Die Zuständigkeiten Delegation von Zuständigkeiten des Plenums auf Ausschüsse Das Verfahren Die Rechtsstellung
V. Die Enquête-Kommissionen Kapitel 3: Das repräsentativ-parlamentarische Verfassungsordnung der Bundesrepublik Die Problemlage
119 123 128 129 135 140 146 147
Regierungssystem in der 152 152
§7 Demokratie und repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 153 I. Stellungnahmen im Schrifttum 1. Die Thesen Carl Schmitts 2. Die Thesen Hans Kelsens 3. Die Thesen der Neuen Linken I I . Direkte und indirekte Demokratie
153 153 156 157 159
1. Der repräsentative Parlamentarismus als mögliche rechtliche Organisationsform der Demokratie 159 2. Der repräsentative Parlamentarismus als notwendige politische Organisationsform der modernen Gesellschaft 163 3. Demokratie und Homogenität 165 §8 Das repräsentativ-parlamentarische Regierungssystem und der Parteienstaat 167 I. Stellungnahmen i m Schrifttum
167
1. Die Thesen von Gerhard Leibholz
167
2. Neuere Stellungnahmen
169
I I . Die Funktion der Parteien
169
1. Der Stand der Diskussion
169
10
nsverzeichnis 2. Bestimmung der politischen Willensbildung 171 3. Zur Stellung der Parteien im Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß 173 4. Zur Funktion der Wahl im Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß 176 5. Die Zuständigkeiten der Partei 180 6. Zum Verhältnis von Parteien und Fraktionen 182
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
184
I. Die These der Unvereinbarkeit mit dem Parteienstaat
184
I I . Die Funktionen des freien Mandates i m einzelnen
188
1. Die organisatorische Funktion
188
2. Die kommunikative Funktion
192
I I I . Freies Mandat und Parteizugehörigkeit des Abgeordneten
198
1. Abgeordneter und Partei bzw. Fraktion 2. Fraktionswechsel und Verlust des Mandates
198 201
Zweiter Teil
Die Rechtsstellung des Bundestages bei der Regierungsbildung Kapitel 1 : Die Regierungsbildung geschichte
in der jüngeren deutschen Verfassungs-
§10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung I. Grundzüge
203 203 203
I I . Die Regelung in der Reichsverfassung vom 16.4.1871 und die Praxis 204 I I I . Die Regelung in der Reichsverfassung vom 11.8.1919 1. Ihre theoretischen Grundlagen 2. Die dualistische Stellung des Reichskanzlers 3. Politische Voraussetzungen §11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik I. Die herrschende Meinung im Schrifttum I I . Die Mindermeinungen i m Schrifttum
205 205 210 211 212 212 215
1. Vorrang des Reichstages
215
2. Vorrang des Reichspräsidenten
217
I I I . Die politische Praxis 1. Vorrang des Reichstages 2. Gleicher Rang von Reichstag und Reichspräsident 3. Vorrang des Reichspräsidenten
221 221 223 225
nsverzeichnis I V . Die Bestellung der Ministerpräsidenten in den Ländern V. Würdigung
229 230
Kapitel 2 : Die Bestellung des Bundeskanzlers und die Regierungsbildung im Bund 232 §12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten I. Freiheit und Gebundenheit der Ausübung 1. 2. 3. 4.
232 232
Die These Die Ansichten in der Literatur Entstehungsgeschichte Die Praxis bis 1969
232 232 234 235
I I . Rechtliche Voraussetzung der Ausübung
237
1. 2. 3. 4.
Fehlen der Präsentation eines Kandidaten durch die Fraktionen Prüfungsrecht des Bundespräsidenten Rechtliche Bindung des Vorschlagsrechts Kritik der h. L. von der Vorschlagsfreiheit
I I I . Die Stellung des Präsidenten in den Vorverhandlungen § 13 Die Wahl des Bundeskanzlers
237 238 239 242 244 245
I. Die Regelung des Grundgesetzes
245
I I . Zur Ersetzbarkeit des Wahlaktes
348
1. Ausschluß von Legalitätsreserven im Normalfall
248
2. Die Regelung für den \ erteidigungsfall
249
I I I . Die Koalitionsabsprache 1. 2. 3. 4.
Inhalt der Koalitionsabsprachen Rechtliche Qualifizierung der Koalitionsverhandlungen Die Partner der Koalitionsabsprachen Die Verbindlichkeit der Koalitionsabsprachen
§ 14 Die Ablösung des Bundeskanzlers I. Das sog. konstruktive Mißtrauensvotum
250 251 253 256 259 266 266
1. Die systematische Einordnung der Art. 67 und Art. 115 h Abs. 2 GG 266 2. Die Entstehungsgeschichte 268 3. Die Ergänzungen durch die Geschäftsordnung des Bundestages 270 I I . Die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG I I I . Weitere Formen der Bekundung der Mißbilligung
270 273
1. Die Praxis des Bundestages 273 2. Der Stand der Diskussion i m Bundestag und in der Literatur 274 3. Das Vertrauensfrage-Ersuchen 277
12
nsverzeichnis IV. Die K r i t i k am konstruktiven Mißtrauensvotum 1. Vereinbarkeit mit dem parlamentarischen System 2. Keine Verhinderung von Regierungskrisen
287 287 290
§ 15 Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages 292 I. Die Ernennung
292
1. Ernennungspflicht 2. Ernennungsfreiheit 3. Außerordentliches Ernennungsrecht ohne Wahl
292 298 des Bundespräsidenten
I I . Entlassung
302
I I I . Die Auflösung des Bundestages 1. 2. 3. 4. 5. 6.
298
Die Regelung des Art. 63 Abs. 4 G G Vergleich mit der Regelung des Art. 25 W R V Die Funktion der Auflösung gem. Art. 63 Abs. 4 GG Die Regelung des Art. 68 Abs. 2 GG und ihre Funktion Die Rechtsfolgen der Auflösung Die Stellung des Bundenpräsidenten
§16 Die Regierungsbildung
303 303 303 304 305 307 307 311
I. Der Vorgang der Regierungsbildung
311
1. Die organisatorischen und personellen Aspekte der Regierungsbildung 311 2. Die Regierungsbildungen bis 1969 I I . Die Mitwirkungszuständigkeiten des Bundestages
313 318
1. Die organisatorische Regierungsbildung 318 2. Die personelle Regierungsbildung 320 3. Die Zuständigkeiten des Bundespräsidenten i m Verhältnis zum Bundestag 324 I I I . Mißbilligung des Bundestages gegenüber Ministern 1. Begründung eines Mißbilligungsrechtes 2. Wirkung einer Mißbilligung IV. Zum Verhältnis von Bundestag und Bundesregierung
325 325 327 327
Schrifttumsverzeichnis
329
Namenverzeichnis
341
Sachwortverzeichnis
345
Abkürzungsverzeichnis Abg.
=
AdG
= Archiv der Gegenwart
Abgeordneter
AO
=
AöR
= Archiv des öffentlichen Rechts
Arbeitsordnung
BGBl. I
= Bundesgesetzblatt Teil I
BGH
=
BGHZ
= Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BHO
= Bundeshaushaltsordnung v. 19. August 1968 (BGBl. I S. 1284)
Bundesgerichtshof
BK
=
Bundeskanzler
BReg
=
Bundesregierung
BT/Btg
= Deutscher Bundestag
BVerfG
=
BVerfGE
= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Bundesverfassungsgericht
BVerfGG
= Gesetz über das Bundesverfassungsgericht v. 12. März 1951 (BGBl I S. 243)
BVerwGE
= Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
CDU
=
Christlich-Demokratische Union Deutschlands
CSU
=
Christlich-Soziale Union in Bayern
DDP
= Deutsche Demokratische Partei
DJZ
= Deutsche Juristenzeitung
DöV
= Die öffentliche Verwaltung
Drs.
s
DVB1
= Deutsches Verwaltungsblatt
FAZ
=
FDP
= Freie Demokratische Partei
GG
= Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GGO I I
= Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil I I
GO
=
GOBT
= Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages v. 6. Dezember 1951 in der Fassung v. 22. M a i 1970 (BGBl. I S. 628)
Drucksache Frankfurter Allgemeine, Zeitung für Deutschland
Geschäftsordnung
HDtStr/HdbDtStr = Handbuch des Deutschen Staatsrechts JöR
= Jahrbuch des öffentlichen Rechts
14
Abkürzungsverzeichnis
JZ
=
KPD
= Kommunistische Partei Deutschlands
Juristenzeitung
KZSS
= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
LT
=
Landtag
nds/ns
=
niedersächsisch
NJW
= Neue Juristische Wochenschrift
NZZ
= Neue Zürcher Zeitung
Prot.
=
PVS
= Politische Vierteljahresschrift
Protokoll
RT
=
Reichstag
SPD
=
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Sten. Ber.
= Stenographische Berichte
Sten. Prot.
=
Stenographische Protokolle
SRP
=
Sozialistische Reichspartei
SZ
= Süddeutsche Zeitung
USPD
= Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
WDtStrL
= Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer
WRV
= Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)
Ζ
=
Zentrum
Z. f. Par.
= Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZRP
=
Zeitschrift für Rechtspolitik
Einführung I. Problembestimmung Der moderne Staat ist, u m seine Kennzeichnung durch Hermann Heller aufzunehmen, „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" 1 . Er findet seinen rechtfertigenden Zweck darin, die konkrete Freiheit aller einzelnen als Voraussetzung ihrer Selbstverwirklichung unter der Bedingung ihrer wachsenden gesellschaftlichen Verbundenheit, der daraus sich ergebenden Beschränkungen und des notwendigen und zunehmenden Zusammenwirkens, d. h. das soziale Rechtsprinzip, zu gewährleisten. Die maßgebende Funktion 2 der organisationsrechtlichen Rechtssätze des Verfassungsrechtes, insbesondere des Verfassungsgesetzes ist also, den Staat i n der Bildung seiner Organe und der Ausübung der Staatsgewalt so zu organisieren, daß die ständige Erfüllung dieses Zweckes gesichert ist. Die rechtliche Stellung des Bundestages ist i n diesen derart funktional bestimmten Zusammenhang einzuordnen. Der Parlamentarische Rat hat 1949 die repräsentativ-parlamentarische Demokratie und die organisatorische Gewaltteilung i m Grundgesetz als tragende Organisationsprinzipien der neu zu errichtenden staatlichen deutschen Teilordnung zugrundegelegt, u m die Bundesrepublik zu befähigen, jenem genannten Anspruch an den modernen Staat zu genügen, den das Grundgesetz i n A r t . 1 und A r t . 20 GG i n sich aufgenommen hat. Damit w i r d dem Bundestag die zentrale rechtliche Stellung i n der staatlichen Organisation der Bundesrepublik zur Ausübung der Staatsgewalt zugewiesen. Daher obliegt es i h m i n einem wesentlichen Ausmaß, i n Zusammenwirken m i t anderen Organen, den politischen Gestaltungswillen für die staatlich-gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik nach innen und für ihre Stellung nach außen zu bilden und i n seinen Entscheidungen zur Lösung der sich jeweils stellenden Probleme zur Geltung zu bringen. Ob und wieweit i h m das tatsächlich gelingt, ist eine andere Frage. M i t der Entscheidung für die repräsentativ-parlamentarische Demokratie hat der Parlamentarische Rat zwar an die deutsche Verfassungs1 2
Heller: Staatslehre S. 228 ff. Krawietz: Recht, insbesondere der zweite Abschnitt S. 39 ff.
16
Einführung
tradition angeknüpft. I n der näheren Ausgestaltung jener verfassunggestaltenden Grundentscheidung 3 i n den einzelnen Regelungen des Grundgesetzes hat er diese Tradition aber fortentwickelt und ist über sie hinausgegangen. So mag der Rückgriff auf diese Tradition, i n ihrer — europäisch geprägten — geistesgeschichtlichen Komponente und i n ihrer — deutschen — verfassungsgeschichtlichen Komponente, die Grundlage mancher Regelung des Grundgesetzes i n gewissen Aspekten erhellen. Aber Ausgangspunkt der Untersuchung der Stellung des Bundestages müssen die rechtlichen Regeln des Grundgesetzes bleiben, wie sie i n zwanzigjähriger politischer Praxis der Anwendung die Wirklichkeit der Organisation der Bundesrepublik geformt haben. Es ist insbesondere methodisch falsch, den Ansatzpunkt zur Analyse der Stellung des Bundestages i n einer vorgegebenen Theorie des Parlamentarismus zu suchen, soweit diese Theorie nicht i n den Regeln des Grundgesetzes nachweisbar formend und ordnend für die Organisation der Bundesrepublik ihren hinreichenden rechtlichen Ausdruck gefunden hat. Daher führt es notwendig zu falschen Ergebnissen, wenn i n neueren, vornehmlich politikwissenschaftlichen Untersuchungen über Stellung und Funktion des Bundestages i n der Organisation der Bundesrepublik der Funktionenkatalog als Grundlage der Analyse aufgenommen wird, den der englische Verfassungsrechtler Walter Bagehot i m Jahre 1867 für das englische Unterhaus aufgestellt hat 4 . Demgegenüber muß als Ansatz einer Untersuchung der rechtlichen Stellung und Funktion des Bundestages die organisationsrechtliche Gewaltteilung und -verschränkung zur Ausübung der Staatsgewalt, wie sie i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik, insbesondere 8 Dazu Wolff : Rechtsgrundsätze, insbes. S. 47 ff., und Verwaltungsrecht I § 25 I I S. 120 f. 4 Walter Bagehot: The English Constitution, with an Introduction by the Earl of Balfour, 1. Aufl. London 1867, Reprint London 1942, p. 115 - 155: 1. The elective function (115 -117), 2. the expressive function (117), 3. the teaching function (117[8]), 4. the informing function (118[9]), 5. the function of legislation (119[20]); der Rückgriff auf Bagehot findet sich ausdrücklich bei: Hennis: Bundestag S. 28; Schäfer: Bundestag S. 15; Maier u. a.: Parlamentsverständnis S. 15 Nr. 2.22.1; anders Loewenberg: Parlamentarismus S. 15. Während Hennis und Schäfer völlig unkritisch diesen Rückgriff vornehmen, wird in der Untersuchung von Maier eine kritischere Haltung eingenommen. Nur scheinbar wird von den genannten Autoren eine kontinental-europäische und auch deutsche staatstheoretische Tradition von Montesquieu bis Carl Schmitt fortgesetzt. Diese Tradition findet darin ihren Grund, daß englische staatsorganisatorische Regeln für die zu bildende politisch-staatliche Organisation auf dem Kontinent im 19. Jahrhundert das Vorbild des Ausgangspunktes gaben. Diese Tradition ist daher eine theoretische und verfassungspolitische. Anders die genannten politikwissenschaftlichen Untersuchungen. Sie untersuchen und beurteilen die Tätigkeit des Bundestages unmittelbar an Hand jenes Funktionenkataloges, ohne ihn daraufhin zu befragen, ob er überhaupt auf das deutsche politische System und seine im Grundgesetz geregelte rechtliche Organisation paßt.
Einführung i m Grundgesetz geregelt ist, aufgenommen werden. Diese Ordnung ist ein komplexes, rechtlich-funktionelles System der Zusammenordnung verschiedener Organe. Allgemeine Grundlage dieses Systems ist zwar gemäß A r t . 20 GG die herkömmliche Unterscheidung i n gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt. Jedoch ist diese Unterscheidung selbst weder erschöpfend noch genügend differenziert. Vor allem aber ist sie i n den organisationsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes nicht so konsequent durchgeführt, daß sie das organisatorische System der Bundesrepublik hinreichend und zutreffend zu erfassen vermag. Keine dieser drei Staatstätigkeiten, die modal nach ihren Funktionen unterschieden sind, weshalb sie als Staatsfunktionen oder genauer als Staatsgewaltfunktionen bezeichnet werden, ist einem einzigen Organ i n vollem Umfange zugewiesen. Jede von ihnen ist durch das Grundgesetz i n mehrere die Staatsgewalt selbst i m modernen Staat allererst begründende 5 Wahrnehmungszuständigkeiten verschiedener Organe zerteilt 8 . Viele dieser Wahrnehmungszuständigkeiten haben außerdem ihrerseits an mehr als einer Staatsgewaltfunktion Anteil. Die Untersuchung muß sich somit den Zuständigkeiten des Bundestages zuwenden, i n deren Ausübung dessen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zur Gestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung sich vollziehen. Sie muß aber auch die m i t jenen Zuständigkeiten i n Zusammenhang stehenden Zuständigkeiten der anderen beteiligten Organe, des Bundespräsidenten, der Bundesregierung und des Bundesrates m i t einbeziehen, u m die rechtliche Stellung des Bundestages i m Gesamtgefüge der durch das Grundgesetz geregelten staatlichen Organisation der Ausübung der Staatsgewalt zu erfassen. Die rechtliche Stellung des Bundestages ist eine konstitutionell gebundene. Der Bundestag ist nicht souverän i n dem Sinne, daß er frei über die Staatsgewalt oder auch nur die Gesetzgebung bzw. deren Ausübung verfügen könnte 7 . Er ist pouvoir constitué, nicht pouvoir constituant. Rechtlich geordnete Beziehungen, die die rechtliche Stellung des Bundestages weitgehend bestimmen, bestehen aber nicht nur zwischen dem Bundestag und den anderen Verfassungsorganen des Bundes, sondern durch die Eingliederung der Bundesrepublik i n umfassendere zwischenstaatliche und überstaatliche Organisationen zu deren Organen, insbesondere zu denen der Europäischen Gemeinschaften 8 . 5
Böckenförde: Organisationsgewalt S. 74. Staatsfunktion ist also nicht gleich Zuständigkeit. 7 Es ist daher zumindest mißverständlich, wenn Schäfer (Bundestag, S. 35) den Bundestag als „Souverän" bezeichnet und im Hinblick auf Art. 24 G G meint, er könne „über seine Souveränität, und damit über die des Staates, dessen Repräsentant und Vertreter er ist, verfügen". 8 Darauf hat bereits hingewiesen, Partsch, W D t S t r L Heft 16 S. 97 ff. β
2
Steiger
18
Einführung I I . Zuständigkeiten des Bundestages
Die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung, insbesondere des Grundgesetzes, ordnet dem Bundestag Tätigkeiten zu, die auch i n früheren deutschen Verfassungsgesetzen der jeweiligen Volksvertretung zugeordnet waren, nämlich Zuständigkeiten i n der Gesetzgebung und solche der Kontrolle der vollziehenden Gewalt. Der Bundestag hat aber auch Zuständigkeiten zugewiesen erhalten, die für frühere Volksvertretungen so nicht bestanden, nämlich Kreationszuständigkeiten für die Organwalter anderer Verfassungsorgane. Er wählt den Bundeskanzler, einen Teil der Richter des Bundesverfassungsgerichts und w i r k t als Teil der Bundesversammlung an der Wahl des Bundespräsidenten mit. Die Wahl des Regierungschefs ist von besonderer verfassunggestaltender Bedeutung. Denn durch die Zuordnung dieser letztgenannten Zuständigkeit ist eine Entwicklung des repräsentativparlamentarischen Systems i n Deutschland abgeschlossen, die i n der Weimarer Republik begonnen hat. Die Zuständigkeit w i r d Ansatz für eine Mitwirkungszuständigkeit des Bundestages bei der Regierungsbildung insgesamt, obwohl diese i m Grundgesetz nicht genannt ist. Die Zuständigkeiten legen die organisatorische Grundlage für das Verhältnis von Bundestag und Bundeskanzler bzw. Bundesregierung bei der Ausübung der Staatsgewalt. Durch die Wahl des Bundeskanzlers vermittelt der Bundestag als einziges unmittelbar volksgewähltes Bundesorgan dem Bundeskanzler und durch die mit der Wahl verbundene M i t w i r k u n g des Bundestages an der Regierungsbildung insgesamt der Bundesregierung und derem Handeln die notwendige demokratische Legitimation und Sukzession. Vor allem aber setzt der Bundestag durch die Wahl des Bundeskanzlers und seine M i t w i r k u n g bei der Auswahl der Minister die personellen Voraussetzungen, damit von dem Regierungsorgan, dem die auf politische Führung, Leitung, Initiierung gerichtete Regierungsfunktion vornehmlich zugewiesen ist, nur eine vom Bundestag bzw. seiner Mehrheit gewünschte oder jedenfalls gutgeheißene sachliche Politik geführt wird. Daraus folgt jedoch weder rechtlich noch politisch m i t Notwendigkeit, daß die Wahl des Bundeskanzlers und die damit gegebenen Mitwirkungsrechte bei der Regierungsbildung, also die Personalentscheidungen, das eigentliche Zent r u m der Funktion des Bundestages ausmachten 83 . Das wäre nur dann richtig, wenn der Bundestag selbst keine oder nur noch nachvollziehende sachliche Entscheidungen zu treffen hätte und die Gestaltung nur noch oder doch vorrangig dem Regierungsorgan obläge. Das ist aber nicht der Fall. Nicht nur muß der Bundestag die von der Regierung ergriffenen 8a
So ζ. B. Hennis: oben Fußnote 4.
Einführung
19
Initiativen und Entscheidungen zur politischen Gestaltung gutheißen, d. h. selbst darüber abschließend entscheiden, was allein schon die Regierung zur Beachtung der politischen Meinungen i m Bundestag zwingt; der Bundestag erweist sich immer wieder aber auch selbst als ein A k t zentrum für eigene politische Initiativen und Entscheidungen, sei es, daß er auf das Regierungsorgan einwirkt, das diese Initiativen aufnimmt und umsetzt, sei es, daß er sie selbst unmittelbar vor allem i n der Gesetzgebung verwirklicht. Sachlich verwirklicht der Bundestag die von i h m gewünschte Politik zunächst durch die Zuständigkeiten i n der Gesetzgebung, die Gesetzesinitiative aus der Mitte des Bundestages und den Gesetzesbeschluß über die von allen Initiativberechtigten vorgelegten Gesetzesentwürfe. Denn die Gesetzgebung ist die für fast alles innere staatliche Handeln maßgebende staatliche Tätigkeit. Auch dort, wo kein Vorbehalt zu ihren Gunsten besteht, besteht doch ihr Vorrang. Der Gesetzesbeschluß ist i h r rechtlicher Kern. I m modernen sozialgestaltenden Rechtsstaat hat der Satz „gouverner c'est légiférer" weiterreichende Bedeutung als je. Die Bundesregierung bedarf, wenn sie die Regierung als Teil der vollziehenden Gewalt i. S. des A r t . 20 GG führen w i l l , des Bundestages, u m ihre Pläne und Vorstellungen i n rechtliche Ordnung gießen zu können. Die Gesetzgebung ist auch für das gesellschaftliche Leben i m allgemeinen von stets wachsender Bedeutung und programmiert die Verhaltensweisen der Bürger zueinander i n der immer komplexer werdenden technisch-industriellen Zivilisation m i t ihren vielen gegenseitigen Abhängigkeiten. Sie ist so die maßgebende Funktion der staatlichen wie der gesellschaftlichen Ordnung. Dem Bundestag werden i m Grundgesetz weiterhin bestimmte Zuständigkeiten der Kontrolle der vollziehenden Gewalt zugewiesen, so das Untersuchungsrecht, das Recht, Mitglieder der Bundesregierung vor das Plenum und die Ausschüsse zu rufen, u m sie dort zu befragen, die Kontrolle der Bundeswehr durch die Einrichtung des Wehrbeauftragten, die Kontrolle der Telefonabhörung. Allerdings ist der Katalog der Kontrollzuständigkeiten des Bundestages i m Grundgesetz unvollständig. Er w i r d durch i n anderen Rechtsquellen niedergelegte Zuständigkeiten ergänzt, so insbesondere durch die i n der Geschäftsordnung des Bundestages geregelten verschiedenen Fragerechte. Weitere Formen der Kontrolle haben sich i n der Praxis entwickelt, so vor allem die Anforderungen von Berichten der Bundesregierung an den Bundestag. Es gibt zwar einige gesetzlich festgelegte Berichtspflichten, aber die Mehrzahl der Berichte geht auf Beschlüsse des Bundestages zurück. I m Grundgesetz nicht festgelegt sind Zuständigkeiten der sachlichen M i t w i r k u n g bei der Ausübung der Regierungsfunktion i. e. S., soweit sie nicht Gesetzgebung ist. Eine solche M i t w i r k u n g hat sich aber bereits i n 2·
20
Einführung
der Weimarer Republik entwickelt, und sie w i r d i n der Gegenwart immer stärker. Es handelt sich bei dieser Entwicklung nicht u m eine solche außerhalb des Verfassungsrechts. Sie ist grundgelegt i n der Zuständigkeit des Bundestages, den Bundeskanzler zu wählen. Damit w i r d die Regierungsfunktion auch inhaltlich der M i t w i r k u n g des Bundestages nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich zugänglich. Denn die Wahl des Bundeskanzlers ist, wie bereits bemerkt, die personelle Voraussetzung, u m die von der Mehrheit des Bundestages gewünschte sachliche Politik durchzuführen. Diese w i r d bereits zum Inhalt der der Wahl vorhergehenden Verhandlungen. Durch die Verknüpfung der organisatorischen Regierungsbildung m i t der M i t w i r k u n g an der Regierungsfunktion werden die anderen, nicht auf die Gesetzgebung bezogenen Zuständigkeiten des Bundestages, vor allem die Kontrollzuständigkeiten funktionell verändert. Nur die Untersuchungsrechte, zu denen auch die Kontrolle der Bundeswehr durch den Wehrbeauftragten und die Kontrolle der Telefonabhörungen zählen, bleiben reine Kontrollzuständigkeiten. A l l e anderen, insbesondere die Zuständigkeiten, die Bundesregierung zu befragen, Berichte anzufordern, u. ä. erweitern ihre Funktion zu M i t w i r kungszuständigkeiten. Die Haushaltsgesetzgebung, i m konstitutionellen Staatsrecht als Kontrollzuständigkeit begriffen, deren Ausdehnung zu einer Mitwirkungszuständigkeit i m preußischen Verfassungskonflikt scheiterte, w i r d nunmehr zur Mitwirkung, soweit sie der gesetzfreien Regierung dort, wo sie finanzieller M i t t e l bedarf, die notwendigen Voraussetzungen schafft, ohne doch i m übrigen das Handeln der Bundesregierung rechtlich zu regeln. Ähnliches gilt für die Zuständigkeit des Bundestages, der Ratifizierung bestimmter völkerrechtlicher Verträge durch Gesetz zuzustimmen. Die Praxis hat zudem i n den fortlaufenden Koalitionsverhandlungen u. ä. ein zusätzliches, mehr informelles Instrument der M i t w i r k u n g geschaffen. Es findet äußerlich ein Wandel von nachfolgender zu vorgängiger Kontrolle statt. Aber i n Wahrheit ist es ein funktioneller Wandel von Kontrolle zur Mitwirkung. Friesenhahn kommt zu dem Schluß, daß die Regierungsfunktion „Regierung und Parlament gewissermaßen zur gesamten Hand" zusteht 9 . Die Zuständigkeiten des Bundestages i m organisatorisch-rechtlichen Gesamtsystem des Grundgesetzes nimmt der Bundestag als ein körperschaftliches Kollegialorgan wahr. Das bedingt, daß, u m die Zuständigkeiten ausüben zu können, der Bundestag der funktional adäquaten inneren organisatorisch rechtlich geordneten Strukturen und Verfahren bedarf um die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse und damit die Gestaltungsfunktion rational, einsehbar, nachvollziehbar und kontrollierbar zu steuern. Diese Strukturen und Verfahren setzt sich der Bundestag selbst i n der Eigenzuständigkeit, die Handhabung seiner eigenen 9
Friesenhahn: W D t S t r L , Heft 16 S. 33.
Einführung Angelegenheiten, das sind aber seine Wahrnehmungszuständigkeiten, zu ordnen, d. h. der Geschäftsordnungsautonomie. Da diese innere Organisation den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen dient, sind nach R. v. Mohl „Geschäftsordnungsfragen, Machtfragen". Die Regelungen können zudem behindernd oder bewegend wirken. Nichts macht das deutlicher, als die seit einigen Jahren geführte Diskussion u m die innere Reform des Bundestages, die ihren Grund darin hat, seine Funktionsfähigkeit i m Hinblick auf die Erfüllung seiner Gestaltungsfunktion (wiederherzustellen, jedenfalls aber zu verbessern. Die Skizze der Zuständigkeiten des Bundestages hat gezeigt, daß diese i n einem funktionalen Zusammenhang stehen, der durch den Bezug auf die zentrale rechtliche Stellung des Bundestages i n der Ausübung der Staatsgewalt zur Gestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik und ihrer Stellung nach außen bestimmt wird. Die Geschäftsordnungsautonomie w i r k t zwar i n ihrer Ausübung nicht unmittelbar auf die Gestaltung der allgemeinen Ordnung ein, sie beeinflußt sie aber mittelbar durch die Regelung der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse i m Bundestag. Die Ausübung der Zuständigkeit zur Wahl des Bundeskanzlers w i r k t durch die Personalentscheidung, aber auch nur indirekt auf die Entscheidung zur Lösung der Probleme der Sachbereiche und damit deren Gestaltung ein. Die Zuständigkeiten zur Gesetzgebung, zur Kontrolle und M i t w i r k u n g an der Regierungsfunktion sind unmittelbar auf die Gestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung bezogen. I n ihrer Ausübung vollziehen sich die sachbezogenen Willensbildungsund Entscheidungsprozesse des Bundestages. N u r eine Gesamtuntersuchung kann auch ein Gesamtbild von der rechtlichen Stellung des Bundestages ergeben. Zunächst ist es aber erforderlich, da bisher umfassende und eingehende rechtswissenschaftliche Analysen fehlen, die Fragen der inneren Organisation des Bundestages und die Probleme der Kanzlerwahl und Regierungsbildung zu klären. Wenn auch durchaus i n ihrem funktionalen Bezug auf die Erfüllung der ordnenden Gestaltungsfunktion des Bundestages unterschieden, so sind sie doch auch insofern wieder verbunden, als sie die organisatorischen Grundlagen für die Erfüllung der sachlichen Zuständigkeiten schaffen. Es scheint daher sachlich angemessen und geraten, sie i n einer Untersuchung zusammenzufassen. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf diese beiden Zuständigkeiten, bzw. Zuständigkeitskomplexe. Die sachlichen Zuständigkeiten sollen den Gegenstand späterer, getrennter Abhandlungen bilden.
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Einführung I I I . Verfassungsrecht und Wirklichkeit
1. Eingangs w a r gesagt worden, daß es die Funktion der verfassungsorganisationsrechtlichen Rechtssätze ist, die Ausübung der Staatsgewalt rechtlich so zu organisieren, daß die ständige Erfüllung des sozialen Rechtsprinzips gesichert sei. Die rechtssatzmäßig begründeten Zuständigkeiten sollen die Wirklichkeit der Ausübung der Staatsgewalt, des Handelns der Organe durch ihre Organwalter regeln und ordnen. Dieser Bezug der Rechtssätze auf die Gestaltung der Wirklichkeit staatlichen Handelns bedeutet zweierlei. Zum einen w i r d das Verfassungsrecht erst i n der politischen Praxis wirksam und lebendig und vermag erst i n ihr die Ordnung des Staates wirklich zu gestalten. Zum anderen ist eben diese Verwirklichung selbst aber auch von der politisch-sozialen Wirklichkeit und deren Wandel abhängig. Es besteht also eine Wechselbezüglichkeit zwischen dem gesollten Verfassungsrecht und der politisch-sozialen W i r k lichkeit. Die Bewältigung der Problematik, die i n der genannten Wechselbezüglichkeit liegt, ist eine der schwierigsten Fragen der rechtswissenschaftlichen Theorie. Die Problematik kann an dieser Stelle nicht i m einzelnen erörtert oder gar gelöst werden. Einige allgemeine Bemerkungen müssen genügen, u m die Methode, die i n dieser Untersuchung befolgt wird, i n Umrissen rechtstheoretisch zu begründen und zu erläutern. Recht regelt Verhaltensweisen, das organisatorische Verfassungsrecht die Verhaltensweisen der Organe durch ihre Organwalter, indem es bestimmte Verhaltensweisen als gesollte festlegt. Es motiviert und legalisiert das i h m entsprechende tatsächliche Verhalten. Indem sich die Organwalter normgemäß verhalten, w i r d die Wirklichkeit der politischen Herrschaftsausübung gestaltet. Modernes Recht nimmt diese Gestaltungsw i r k u n g von vornherein i n sich auf und regelt das Verhalten final, zielbestimmt auf von i h m beabsichtigte Wirkungen hin. Das Recht w i r d zu einer Funktion von Zweck und Mittel. „Das positive Recht entspringt demzufolge dem zielstrebigen Denken des Gesetzgebers 10 ." Es w i r d dadurch zum funktionalen Recht 11 . Das gilt auch für das moderne Verfassungsrecht. Schon der Anfang der modernen Verfassungsbewegung hat eine funktionale Tendenz, die i n dem Ursprung der Verfassungsbewegung i n der Aufklärung begründet liegt. I n der Gegenwart ist der A k t der Verfassungsgebung ein bewußter, rational-funktionaler A k t der Staatsgestaltung 12 . Das gilt i m besonderen Maße für das Grundgesetz, durch 10
Krawietz: Recht S. 69. Ebenda S. 71. 12 „Das Moment bewußten, planmäßigen, organisierten Zusammenwirkens" betont im Anschluß an Heller auch Hesse: Grundzüge S. 4. 11
Einführung dessen Inkraftsetzen und Verwirklichung die Bundesrepublik als Staat allererst entstand. Das Grundgesetz zielte von vornherein darauf, die politisch-soziale Wirklichkeit des neu zu gründenden staatlichen Gemeinwesens i n bestimmter Weise zu gestalten. Es bedient sich dabei einerseits inhaltlicher, werthafter Festlegungen, vor allem i n A r t . 1 und den Grundrechten, i n den verfassunggestaltenden Grundentscheidungen und andererseits i n der organisatorischen Ordnung der Verfahren, u m die Entscheidungs- und Wirktätigkeit der staatlichen Organe zu regeln. Beide Inhalte des Grundgesetzes sind notwendig aufeinander bezogen. Die Gestaltungsfunktion des Rechts geht zwar von gegebenen Voraussetzungen aus, ist aber auf die Zukunft gerichtet. Es w i l l zukünftige Wirklichkeit ordnen und formen. Diese w i r d i n der Rechtsetzung antizipiert. Das Verfassungsrecht insbesondere w i l l Wirklichkeit auf lange Zeit gemäß den i h m zugrundeliegenden werthaften aber auch zweckbestimmten Vorstellungen gestalten, also nicht einen einmaligen, dann abgeschlossenen Zustand erreichen, sondern einen von i h m gewollten Zustand des staatlich-gesellschaftlichen Lebens herstellen, unter ständig wechselnden Bedingungen der politisch-sozialen Wirklichkeit aufrechterhalten und u. U. immer neu verwirklichen. Da die Antizipierung zukünftiger Wirklichkeit in jedem F a l l begrenzt ist, entstehen für das Verfassungsrecht besondere Probleme. Eines dieser Probleme ist das Verhältnis von Beweglichkeit und Starrheit des Verfassungsrechts 13 . Das Verfassungsrecht ist die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen rechtlichen Ausdrücke der Verfassung als Grundordnung des Staates. Das Verfassungsgesetz ist nur ein formal besonders hervorgehobener Teil des Verfassungsrechts. Es enthält i. a. allerdings auch die besonders grundlegenden Entscheidungen, aber durchaus nicht alle und auch nicht i n allen Einzelheiten. Das gilt ζ. B. für das Verfassungsorganisationsrecht des Grundgesetzes. Es regelt, wie unter I I bereits dargelegt, nur einige Zuständigkeiten des Bundestages und diese auch noch unvollkommen. So schreibt es zwar vor, daß der Bundestag den Bundeskanzler zu wählen habe. Aber der Prozeß der Auswahl der Kandidaten, der zu diesem Wahlakt führt und diesen für eine vordergründige Betrachtung weithin nur noch als amtliche und öffentliche Bestätigung einer vorher bereits außerhalb des Bundestages getroffenen Entscheidung erscheinen läßt, ist weder i m Grundgesetz noch sonst geregelt. Es bleibt offen. Ähnlich ist es bei anderen Zuständigkeiten, so ζ. B. auch beim Gesetzgebungsverfahren. Das Grundgesetz begnügt sich damit, punktuell einige wesentliche und entscheidende Stationen der Verfahren festzulegen und zu regeln, das Erreichen dieser Stationen aber dem freien Spiel der politischen Kräfte und der staatlichen Organe i n den gesetzten 18
Dazu Hesse: Grundzüge S. 16 ff.
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Rahmen zu überlassen 14 . Es ist für verschiedene politische Praxis offen. Die Anwendung der Zuständigkeitsregeln ist insoweit durchaus beweglich. Gerade darin liegt die Möglichkeit des Verfassungsgesetzes begründet, über eine längere Zeit hinweg, bei sich wandelnder politisch-sozialer Wirklichkeit seine Funktion zu erfüllen. Das Verfassungsgesetz der Vereinigten Staaten von Amerika ist das Musterbeispiel eines derartig offenen Verfassungsgesetzes, das i n nunmehr fast 200 Jahren i n einer völlig gewandelten Wirklichkeit wirksam geblieben ist. Allerdings ist es ein weitverbreiteter I r r t u m vor allem außerhalb der Rechtswissenschaft, jedoch durch deren positivistische Richtung genährt, den rechtlichen Normen nur eine zweitrangige Funktion „ i n the books" oder als „dignified parts" ohne reale Bedeutung zuzuschreiben, während die Wirklichkeit, die „efficient parts" sich außerhalb abspiele. Die Normen bleiben der allseits anerkannte Rahmen möglichen und zugelassenen Handelns, zumindest dort, wo das Verfassungsrecht i n seinen wesentlichen Teilen i n einem geschriebenen Verfassungsgesetz niedergelegt ist. Die Stationen der Verfahren müssen erreicht werden, insofern w i r k e n sie auf die Wege ein, die überhaupt begehbar sind, als sie gewisse Wege ausschließen, andere besonders erschweren und dergleichen. Ohne die Normen wären die Prozesse rechtlich und damit politisch beliebig. Das Recht erst macht sie geordnet, durchschaubar und auch berechen- und damit steuerbar. Die Funktion der Rechtsnormen w i r d nicht erfüllt, wenn sie i m bloßen Sollen verbleiben. Sie müssen die Verhaltensweisen tatsächlich motivieren. Denn die Gestaltung der Wirklichkeit geschieht nicht durch das Sollen einer Handlung, sondern durch ihren Vollzug. Dieser Vollzug kann dem Sollen entsprechen, hinter i h m zurückbleiben, auch darüber hinausgehen 15 . Indem die Organwalter des Bundestages dessen Zuständigkeiten normgemäß wahrnehmen, nicht oder nicht v o l l wahrnehmen oder die Zuständigkeiten überziehen, bestimmen sie die wirkliche Stellung und Funktion des Bundestages i n einer den Vorstellungen des Grundgesetzgebers 16 mehr oder weniger entsprechender Weise. So entsteht die „ w i r k liche Verfassung" i. S. von Hesse 17 , die aber besser als Wirklichkeit des Verfassungsrechts, oder als Verfassungsrechtswirklichkeit bezeichnet wird. Sie ist das konkretisierte oder aktualisierte Verfassungsrecht. Die Aktualisierung vollzieht sich durch alle drei modi der Staatsgewaltfunktionen, nicht nur durch Gesetzgebung und (Verfassungs-)rechtsprechung, sondern gerade auch i n den sonstigen Tätigkeiten. 14
Hesse: Grundzüge S. 18. Krawietz: Recht S. 71; für das Verfassungsrecht ähnlich Hesse: Grundzüge S. 17 ff. 16 Das ist eine heuristische Abstraktion und nicht mit dem Parlamentarischen Rat gleichzusetzen. 17 Grundzüge S. 17 ff. 15
Einführung Angesichts der Offenheit des Grundgesetzes kann diese Verfassungsrechtswirklichkeit sehr verschieden sein; jedenfalls konnte sie sich anfangs i n durchaus verschiedene Richtungen entwickeln. Durch die politische Praxis haben sich aber bestimmte Richtungen herausgebildet, die nunmehr die Verfassungsrechtswirklichkeit bestimmen. 2. Einige solcher Entwicklungen sind irreversibel. Aber die Verfassungsrechtswirklichkeit kann sich auch wandeln. Dieser Wandel kann beruhen auf einem Wandel oder einer Neuinterpretation der zugrundeliegenden Wertvorstellungen, einem Wandel der sozialen-politischen Wirklichkeit und damit der Bedingungen der Realisierung der von der Norm gewollten Zwecke, einem Wandel dieser Zwecke selbst, einem Wandel i n der Zuständigkeitswahrnehmung durch die Organwalter. Da diese Variablen sich gegenseitig beeinflussen, w i r d der Wandel der einen Variablen den Wandel anderer oder aller nach sich ziehen, was wieder zurückwirkt. Das führt dann zum Wandel der Verfassungsrechtswirklichkeit, wenn die Zuständigkeitsnorm anders als vorher angewandt wird. Dieser Vorgang vollzieht sich ohne Veränderung des Wortlautes des Verfassungsgesetzes. Dessen semantischer Ausdruck bleibt bestehen. Wie weit das möglich ist, hängt von der Beweglichkeit des Verfassungsgesetzes ab. Dieses ist kein Detailgesetz, wie ein Gesetz zur Regelung des Milchverkaufs m i t strikten Regeln. Aber es kann, worauf Wagner kritisch aufmerksam macht, dahin interpretiert werden 1 8 . Es bekommt dann dieselbe inhaltliche Enge, w i r d auf einen ganz bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit bezogen, beschränkt die Möglichkeiten der Handlungsweisen i n immer weitergehendem Maße. A u f den Wandel der politisch-sozialen Wirklichkeit kann dann nicht mehr durch eine Ausschöpfung der Zuständigkeiten i n eine neue Richtung, durch eine veränderte Handhabe des unveränderten Verfassungstextes geantwortet werden. Es bedarf der ständigen Textänderung, wie sie sonst nur technische Detailregelungen zu erfahren pflegen 19 . Darin liegt die Gefahr, daß angesichts des raschen Wandels der politisch-sozialen Wirklichkeit, diese m i t dem Verfassungsrecht nicht mehr bewältigt werden kann, wenn etwa die Verfassungsänderung scheitert. Entweder werden dann die notwendigen Lösungen der Probleme nicht erbracht, oder es entwickeln sich außerhalb des Verfassungsrechts andere Wege des Entscheidungs- und Wirkungsprozesses. Ein Beispiel ist die Überlagerung der grundgesetzlichen Regeln des Föde18
Wagner: Verfassungsverständnis S. 605 ff. Hier scheint eine durchaus unterschiedliche Funktion und Wirkung der Verfassungsrechtsprechung in den U S A und der Bundesrepublik deutlich zu werden. Während nach dem Zeugnis von Loewenstein (Verfassungsrecht I I S. 36) der Supreme Court durch seine Verfassungsinterpretation die notwendige Wandlung der Verfassungsrechtswirklichkeit erst ermöglicht, hat das Bundesverfassungsgericht nach Aussage von Wagner (Verfassungsverständnis S. 606 f.) die Entwicklung eher blockiert und zur Versteinerung des Verfassungsrechts geführt. 19
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ralismus durch die verschiedensten anderen Verfahren, das Verhältnis von Bund und Ländern und der Länder untereinander zu regeln, etwa durch Verträge. Der Wandel vollzieht sich i n der Verfassungsrechtswirklichkeit. Aber er ergreift auch die Normen des Verfassungsrechts selbst. Denn die intendierte, auf die Gestaltung der Wirklichkeit gerichtete Finanldetermination der Norm wandelt sich. Insoweit ist es auch ein Verfassungsrechtswandel. Die Norm erhält eine neue Funktion; ζ. B. könnten die Zuständigkeiten des Bundesrates der i m Bundestag i n Opposition befindlichen, i m Bundesrat aber die Mehrheit der Stimmen kontrollierenden Partei dazu dienen, ihre i m Bundestag nicht zu verwirklichenden Vorstellungen über den Bundesrat durchsetzen. Diese Entwicklung deutete sich seit dem Herbst 1969 für die 6. Wahlperiode des Bundestages an. I n den USA hat das Vetorecht des Präsidenten einen derartigen Funktionswandel durchgemacht 20 . Das Verfassungsrecht w i r d zunächst nicht aufgehoben, beseitigt, außer Geltung gesetzt. Eine bisher nicht erkannte oder entdeckte Möglichkeit w i r d i m Hinblick auf die Bewältigung einer neuen Lage konkretisiert. Natürlich erhebt sich sofort die Frage des Rechtsmißbrauchs, des verfassungsrechtlichen détournement de pouvoir, ζ. Β. bezüglich der Zuständigkeiten des Bundesrates. Wo die Grenzen eines solchen Funktionswandels einer Norm liegen, ist schwer und nur i m Einzelfall festzustellen. Sie selbst schwanken i n der Zeit. Was gestern noch als verfassungsrechtswidrig erschien, kann morgen durchaus als verfassungskonform allseits akzeptiert werden, wie schon G. Jellinek zu Recht hervorhob 2 1 . Die ständige Wechselbezüglichkeit von Recht und Wirklichkeit, die wesentlich i n der Zeit Konturen gewinnt, läßt eindeutig dauernde Aussagen nicht zu 2 2 . Alle Aussagen über die Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme sind an bestimmte Voraussetzungen i n einer bestimmten Zeit gebunden. Nichts zeigt das deutlicher als das Institut des overruling des Supreme Court der USA, dem, wie Wagner zu Recht bedauert, i n der deutschen Verfassungsrechtsprechung nichts entspricht. Doch ist gegebenenfalls entgegen der Annahme von Hesse auch eine Verfassungsrechtswirklichkeit contra constitutionem normatam möglich 2 3 . Für die Verfassung von 1871 hat Jellinek mehrere Beispiele genannt 24 . Er versteht sogar „Verfassungswandel" zunächst i n diesem engen Sinn, daß 20
Loewenstein: Wesen S. 18. G. Jellinek: Verfassungsänderung S. 9. 22 Hier liegt der eigentliche Grund für den oben wiedergegebenen Einwand von Heinz Wagner gegen das herrschende Verfassungsverständnis. Dieses nimmt die gestaltende Funktion des Verfassungsrechts in der Zeit nicht zur Kenntnis. 23 Grundzüge S. 20. 24 So den Wandel des Bundesrates des Kaiserreiches von einem periodisch zusammentretenden zu einem ständig versammelten Organ entgegen Art. 12 14 RV, Verfassungsänderung S. 22 ff. 21
Einführung das geschriebene Verfassungsrecht ohne formelle Aufhebung durch die Praxis seiner Wirksamkeit beraubt wird. Diese von dem Verfassungsrecht eindeutig abweichende Praxis ist aber nur das Extrem des Verfassungsrechtswandels und läßt sich auch nicht i n jedem Falle feststellen. Denn die Verfassungsrechtssätze sind offen und verschiedener Anwendung fähig. Ein eindeutiger Sinn, der nur eine ganz bestimmte Handlungsmöglichkeit gewährt, läßt sich oft gar nicht feststellen. Oft widerspricht eine neue Praxis nur der bisherigen. Aber beide sind rechtlich vom Normgehalt her gedeckt. Sofort erhebt sich erneut die Frage, wie es u m die Verfassungswidrigkeit derartiger Praxis steht. Jellinek hat i n dem angeführten Fall des Bundesrates deutlich gemacht, daß dieser Wandel auf der necessitas beruht habe. Als nur periodisch tagendes Organ hätte der Bundesrat seine Aufgaben nach der Reichsverfassung gar nicht mehr wahrnehmen können. Hier ist also durch die Veränderung der Wirklichkeit nicht der Funktionenwandel einer Norm eingetreten, sondern u m die Funktion des Bundesrates und die seiner Zuständigkeiten erfüllen zu können, findet ein Normwandel statt. Ähnliches gilt für die anderen von Jellinek genannten Beispiele. Das geschriebene Verfassungsrecht w i r d abrogiert durch ungeschriebenes Verfassungsrecht; denn das neue Verhalten des Kaisers, den Bundesrat nicht alljährlich zu schließen, ist nicht nur tatsächlich gegeben, sondern es w i r d als gesollt angesehen 25 . Die Wechselbezüglichkeit zwischen Verfassungsrecht und Wirklichkeit führt also u. U., u m die i m positiven Recht selbst zum Ausdruck gekommene, also nicht etwa i h m aus den verschiedenen Gründen insbesondere politischer Wünschbarkeit von außen unterlegten Funktion des Rechts aufrechtzuerhalten, um, i n der Terminologie Niklas Luhmanns, das politische System i m Hinblick auf seine Funktion zu stabilisieren, i n Einzelfällen über die bloße Wandlung des Verfassungsrechts zur ungeschriebenen, gewohnheitsrechtlichen Aufhebung einzelner Normen oder aber zur Ergänzung des Verfassungsrechts. Es kann aber zum Dritten eine Praxis geben, die außerhalb des Verfassungsrechts steht, seiner funktional bestimmten Ordnung entgegensteht. Sie ist nicht darauf gerichtet, das Verfassungsrecht, sondern eine von anderen Voraussetzungen herkommende Motivation zu v e r w i r k lichen. Dabei kommt es nicht eigentlich darauf an, ob das Verfassungsrecht bewußt unterlaufen wird, oder ob es einfach als gleichgültig dahingestellt bleibt. Es handelt sich zunächst nicht u m verfassungsrechtliche Wirklichkeit. Sie kann zu einer solchen werden, wenn sie als gesollte 25 Philip Zorn bemerkt, es wäre tatsächlich ein Zeichen schwerster Zerrüttung der Gesundheit des Reichsorganismus, wenn der Kaiser den Bundesrat alljährlich schlösse, wozu er allerdings rechtlich befugt sei. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Band: Das Verfassungsrecht, 2. Aufl. Berlin 1895, S. 160.
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anerkannt wird. Dann aber ist das alte Verfassungsrecht vernichtet und neues entstanden. I n der politischen Theorie vor allem w i r d gelegentlich das Verfassungsrecht der Verfassungswirklichkeit entgegengestellt. Diese Gegenüberstellung geht vor allem auf Ferdinand Lassalle zurück 2 6 . Zu Recht hat aber Hesse festgestellt, daß die Behauptung eines solchen Widerspruchs das Problem verschiebt 27 . Unterschieden werden müssen vielmehr das Verfassungsrecht, die Verfassungsrechtswirklichkeit und die politischsoziale Wirklichkeit, die dem Verfassungsrecht nicht entspricht oder i h m sogar widerspricht. Die letztgenannte hat als solche keine normative Kraft, sondern ist nur i m Sein angesiedelt. 3. Für die zu befolgende Methode der nachfolgenden Untersuchung der rechtlichen Stellung des Bundestages i m organisatorischen System der Bundesrepublik ergibt sich aus der vorstehenden nur umrißhaften theoretischen Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit folgendes. Die Untersuchung kann sich nicht auf eine bloße juristische „Exegese der einschlägigen Verfassungsartikel und die Ermittlung ihres Sinnes i m Zusammenhang des übrigen Verfassungsrechts" beschränken 28 . Sie muß vielmehr die Forderung aufgreifen, daß „eine Beschreibung des Parlamentarismus bedeutet, Staatsrecht als Wissenschaft eines Lebenden zu betreiben" 2 9 . Die Untersuchung muß die, sich unter gewissen Umständen durchaus verändernde Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Organe i n der Zeit durch die Organwalter m i t i n sich aufnehmen. Sie muß also auch den Vorbereitungsprozeß der Wahl des Bundeskanzlers, der rechtlich selbst nicht geregelt ist, oder die Vorbereitung des Gesetzesbeschlusses, die i m Gesetzgebungsverfahren nur teilweise rechtlich geordnet ist, aber m i t ihnen auch für die Rechtswissenschaft eine Einheit bilden, u. ä. m i t untersuchen. Sie muß so die Verwirklichung des Verfassungsrechts selbst zum Gegenstand nehmen 30 . Nur so kann es gelingen, die Funktion des Verfassungsrechts auch i n seiner Wandlung rechtswissenschaftlich zu erfassen, ohne daß der rechtswissenschaftlichen Betrachtung zunächst und schließlich dem Recht selbst die Wirklichkeit entgleitet. Es sind sowohl die Voraussetzungen des Rechts, seine geistesgeschichtlichen, seine werthaften oder ideellen Axiome und seine tatsächlichen Ausgangspunkte wie auch seine finalen Determinationen und ihre untereinander je wechselnden Beziehungen unter den Bedingungen der sich wandelnden Wirklichkeit i n die Untersuchung einzubeziehen. Das 28
Verfassungswesen S. 34. Grundzüge S. 20. So H. Schneider: Regierungsbildung S. 1330. 29 Scheuner in der Aussprache zu den Referaten von Friesenhahn und Partsch, W d t S t r L Heft 16 S. 122. 80 I n ähnliche Richtung gehen die Bemühungen von Wahl (Stellvertretung S. 12) allerdings aus zum Teil anderen Gründen. 27
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Einführung bedeutet, eine Vielfalt von Bezugspunkten und Relationen sind zu berücksichtigen. Die Analyse gelangt daher selbst notwendig nur zu relativen Aussagen i n diesem Bezugssystem, i n dem das Verfassungsrecht sich verwirklicht. Die Konstanz der Aussagen ist gebunden an die Konstanz und den Wechsel der Wirklichkeit, die das Verfassungsrecht gestaltet, aber auch der Interpretation der Vorgegebenheiten, etwa werthafter Grundlagen, die sich ebenfalls wandeln kann. Jedoch muß auch kritische Distanz vor allem zur Praxis gewahrt bleiben, die an den Normen des Verfassungsrechts gemessen werden muß. Entscheidend ist, daß die Erfüllung der Funktion des organisatorischen Verfassungsrechts, vor allem seiner grundsätzlichen Regelungen gesichert ist, nämlich die Ausübung der Staatsgewalt so zu regeln, daß der eingangs genannte allgemeine Zweck der Bundesrepublik gewahrt ist.
ERSTER T E I L
Grundlagen Erstes Kapitel
Rechtsquellen des Rechts des Bandestages § 1 Rechtsquellen der Zuständigkeiten im allgemeinen I. Arten der Rechtsquellen Zuständigkeiten als Berechtigungen und Verpflichtungen werden durch Rechtssätze begründet. Damit scheiden als Rechtsquellen, d. h. Erkenntnisgründe für das Bestehen von Zuständigkeiten, diejenigen Rechtsquellen aus, die selbst keine Rechtssätze darstellen, sondern der Konkretisierung durch solche bedürfen; das sind die Rechtsgrundsätze und die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen 1 . Rechtssätze können geschrieben oder ungeschrieben sein. Als geschriebene sind sie an eine bestimmte Form der In-Geltung-Setzung gebunden: Verfassungsgesetz, Gesetz, Verordnung, Geschäftsordnung u. ä. Das ungeschriebene Recht entsteht bezüglich des Gegenstandes der vorliegenden Untersuchung allermeist durch die als Ausdruck einer Rechtsüberzeugung vorgenommenen Praxis des Bundestages und der anderen politischen Organe, nicht durch die Rechtsprechung. I m Rahmen der ungeschriebenen Rechtssätze entfalten die Rechtsgrundsätze und verfassunggestaltenden Grundentscheidungen ihre Bedeutung, da aus der Beziehung zu ihnen weitgehend der Rechtscharakter jener fließen kann. Sie sind also mittelbare Rechtsquellen. I I . Grundgesetzliche Rechtsquellen I n jedem Betracht erste Rechtsquelle der Zuständigkeiten des Bundestages sind die Zuständigkeitsnormen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz bildet den Bundestag und errichtet ihn, d. h. ordnet sein Bestehen an, bestimmt den Aufgabenkreis, weist grundlegende Zuständigkeiten zu, * Wolff : Verwaltungsrecht I 8 § 251 und I I S. 118 ff.
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
bestimmt Verfaßtheit des Organs und seine Stellung innerhalb der Gesamtorganisation 2 . Es ist nicht notwendig, daß alle Zuständigkeiten bereits i m Grundgesetz festgelegt sind. Das kann i n anderen Rechtsvorschriften geschehen. Das GG enthält abschließend nur die Zuständigkeiten i m Rahmen der Gesetzgebungsfunktion, das Initiativrecht (Art. 76 Abs. 1 GG) und die Zuständigkeit zum Gesetzesabschluß (Art. 77 GG). Die Kreationszuständigkeiten sind vollständig m i t Ausnahme der Bestellung der deutschen Organwalter zwischenstaatlicher und überstaatlicher parlamentarischer Versammlungen. Die Zuständigkeiten zur Ordnung seines innerorganisatorischen Bereichs ordnet A r t . 40 Abs. 1 GG dem Bundestag zu. Sehr unvollständig ist die Kontrollfunktion des Bundestages i m Grundgesetz geregelt. Es fehlt das ganze Fragerecht, von den großen Anfragen bis zur Fragestunde. Nur andeutungsweise ist die Teilnahme des Bundestages an der Regierungsfunktion, soweit sie nicht Gesetzgebung ist, i m Grundgesetz aufgenommen. Das Grundgesetz ist also zwar erste, aber nicht vollständige Rechtsquelle der Zuständigkeiten des Bundestages. Die Analyse der dort genannten Zuständigkeiten allein würde die Rechtsstellung des Bundestages nur unvollständig wiedergeben. Da der Bundestag Verfassungsorgan ist, ist seine Bildung und Errichtung materiell Verfassungsorganisationsrecht. Vor allem die Frage, ob eine Teilhabe an der Regierungsfunktion besteht und welchen Umfang sie hat, betrifft die Verfassungsorganisation i n ihrem Kern, nämlich die „Gewaltenverteilung". Die politische Ordnung, die Staatsform w i r d dadurch bestimmt. Da dieses Recht i m Grundgesetz nicht eigentlich geregelt, sondern nur angedeutet ist, nimmt es am formalen Rang des Verfassungsgesetzes, des Grundgesetzes, nicht teil. Es besteht also ein umfassendes materielles Verfassungsrecht, das nicht zugleich formelles Verfassungsrecht ist, daher, da es zudem weitgehend auch ungeschrieben ist und sich nur i n der Praxis manifestiert, i n Inhalt und Umfang schwankt und i n seiner Rechtsqualität selbst jeweils neu festgestellt werden muß.
Ι Π . Gesetzliche Rechtsquellen Die grundgesetzlichen Zuständigkeiten des Bundestages werden i n fast allen Bereichen durch gesetzlich begründete ergänzt und erweitert, aber auch ausgefüllt. Es ist nicht notwendig, diese hier schon aufzuzählen. 2 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 45 ff.; mit etwas abgewandelter A b grenzung beider: Wolff: Verwaltungsrecht I I 3 § 74 I I I und I V .
§ 1 Rechtsquellen der Zuständigkeiten im allgemeinen
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Herkömmlich werden Gesetz i m formellen Sinn und Gesetz i m materiellen Sinn unterschieden. Unter dem ersten w i r d der i n einem bestimmten Verfahren erlassene und i n bestimmter Weise veröffentlichte Rechtssetzungsakt verstanden, unter dem zweiten der Rechtssatz. Das Gesetz hat eine bestimmte Rangstufe i n der Hierarchie der Normen. Diese Rangstufe w i r d bestimmt durch die Form des Erlasses i n einem durch das Verfassungsgesetz festgelegten Verfahren. Sie begründet die Geltung, die Bindungswirkung, d. h. die Gesetzeskraft, und vor allem den Vorrang der i n i h m enthaltenen Regelung. Nur auf diesen Begriff kommt es daher i m vorliegenden Zusammenhang an. Damit ist ausdrücklich nichts über den Vorbehalt des Gesetzes gesagt. Weder der Rechtssatzbegriff als verfassungstheoretischer Begriff 3 , noch der formelle Gesetzesbegriff sagen darüber etwas aus. Der Vorbehalt als Teil der Funktionentrennung und Verteilung kann nicht gewonnen werden durch theoretische Begriffsbildung, wie es die konstitutionelle Staatslehre versuchte 4 , sondern muß aus der verfassungsrechtlichen Regelung erschlossen werden 5 , die selbst allerdings auch die Tradition i n sich aufnimmt.
IV. Sonstige Rechtsquellen Die Gruppe des sonstigen geschriebenen Rechts umfaßt heterogene Gruppen, unter ihnen als bedeutendste Gruppe das geschriebene, eigenerzeugte, innere Parlamentsrecht. Das eigenerzeugte, innere Parlamentsrecht, nach A r n d t die Summe „aller Regelungen, die kraft der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie vom Parlament i n Geschäftsordnungsangelegenheiten getroffen werden" 6 , umfaßt geschriebenes und ungeschriebenes Recht. Geschriebenes Recht ist zunächst die kodifizierte Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages v. 6. 12. 1951, i n der durch die Reformbeschlüsse von 1969 und 1970 geformten Fassung v. 22. Mai 1970, soweit sie nicht bloß deklaratorisch anderswo, ζ. B. i m Grundgesetz begründetes Recht aufnimmt. Dazu gehören aber auch die verschiedenen Anlagen. Dieses geschriebene autonome Parlamentsrecht ist i n seinem Rechtscharakter erheblich umstritten. Darauf ist i m folgenden Paragraphen einzugehen. Von dem Rechtscharakter hängt es ab, ob es lediglich eine Hilfsquelle oder eine selbständige Rechtsquelle für die Zuständigkeiten des Bundestages ist. Weitgehende Handlungen des Bundestages und sei3 4 5 β
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Wolff: Verwaltungsrecht I 8 § 24 I I c 1 S. 113. Jesch: Gesetz S. 18 ff. Böckenförde: Organisationsgewalt S. 84. Geschäftsordnungsautonomie S. 16.
Steiger
1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages ner Organe, Organteile und Mitglieder finden nur i n i h m eine Stütze, so die Verabschiedung von Entschließungen, die Interpellationen i n ihren verschiedenen Formen, die Rechte des erst durch die kodifizierte Geschäftsordnung gebildeten und eingerichteten Ältestenrates, der Ausschüsse und Fraktionen. Das Rederecht und das Initiativrecht, zwar durch das Grundgesetz als Rechte des Amtswalterverhältnisses gewährleistet, werden durch die Regelungen der Geschäftsordnung näher ausgestaltet, aber damit auch i n ihrer Ausübung bestimmten, einschränkenden Regeln unterworfen. Das geschriebene autonome Parlamentsrecht bestimmt damit, unabhängig von seinem Rechtscharakter, wesentlich die A r t , wie aber auch den Inhalt und den Modus der Zuständigkeiten des Bundestages. Es ist der Wichtigkeit nach dem Grundgesetz sicher ebenbürtig. Da nicht nur die Begründung, sondern auch die Maßbestimmung der Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten Regelung von Zuständigkeiten ist, sind gegebenenfalls auch noch andere geschriebene Rechtsquellen, wie Verordnungen, Abkommen zwischen Bund und Ländern, heranzuziehen.
§ 2~Das eigenerzeugte Parlamentsrecht I. Die Bestandteile 1. Besonders diskutiert w i r d der Rechtscharakter des eigenerzeugten Parlamentsrechts, insbesondere der geschriebenen Geschäftsordnung 1 . Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden: Inwieweit ist das eigenerzeugte Parlamentsrecht Recht, d.h. hier objektives Recht, und welchen Rang nimmt es ein 2 ? Unter dem eigenerzeugten Parlamentsrecht werden hier alle geschriebenen und ungeschriebenen Rechtssätze verstanden, die auf Grund der Zuständigkeit des A r t . 40 Abs. 1 Satz 1 GG vom Bundestag durch Beschluß erlassen oder durch Verhalten bezeugt werden. Es w i r d hier als eigenerzeugtes Parlamentsrecht bezeichnet, weil es staatliches Recht ist, das nur und ausschließlich der Bundestag selbst beschließt und gibt, also hinsichtlich der Erzeugung, nicht aber hinsichtlich der Qualität sich von 1 Zu Recht weist aber Arndt (Geschäftsordnungsautonomie S. 136) darauf hin, daß das gesamte, eigenerzeugte (autonome) Parlamentsrecht in die Frage nach dem Rechtscharakter einbezogen werden muß. 2 Es ist diese letzte Frage, die sich hinter der Frage verbirgt, ob die geschriebene Geschäftsordnung Gesetz, Satzung, Verordnung sei, da der Rang in der Hierarchie der geschriebenen Rechtsnormen durch die Form bestimmt wird.
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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dem anderen staatlichen Recht abhebt. Der herkömmliche 3 , auch von A r n d t verwendete Ausdruck „autonomes Parlamentsrecht" erweckt zumindest die Assoziation, es handele sich u m eigenes, nicht-staatliches Recht des Bundestages, wie das gemeinhin als „autonom" bezeichnete, meist als Satzung erlassene Recht der Tarifpartner, Kirchen, Kammern, Gemeinden, Universitäten und anderer Körperschaften nicht staatliches, sondern eigenes, wenn auch u. U. öffentliches Recht dieser Körperschaften ist 4 . 2. Die formelle „Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages" vom 6. 12. 1951 ist der K e r n des geschriebenen eigenerzeugten Parlamentsrechts, soweit sie nicht Vorschriften anderer Rechtsquellen nur deklaratorisch wiederholt 5 . Sie ist nach einem gesetzgebungsähnlichen Verfahren m i t drei Lesungen und Ausschußberatungen vom Plenum des Bundestages verabschiedet worden. Seither hat dieser Kernbestand i m Sommer 1969 und i m Mai 1970 i n einigen Abschnitten eine umfassendere Reform erfahren, die aber nur einen Anfang der seit einigen Jahren diskutierten Parlamentsreform darstellt. Hinzu treten einige wenige frühere förmliche Änderungen, so ζ. B. i n § 96 GOBT, nachdem das BVerfG die ursprüngliche Fassung für verfassungswidrig erklärt hatte 6 , und durch Einfügung des Abschnitts X a über den Wehrbeauftragten 7 . Die Geschäftsordnung wurde aber i m Laufe der Zeit durch 6 Anlagen ergänzt. Sie wurden teilweise vom Bundestag als Plenum 8 , teilweise von anderen Gliederungen des Bundestages beschlossen9. Soweit der Bundestag als Plenum selbst die Anlagen beschlossen hat, besteht kein Zweifel, daß sie Bestandteil des geschriebenen eigenerzeugten Parlamentsrechts sind. Die Anlage 3 über Immunitätsangelegenheiten ist vom Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Grund einer Ermächtigungsnorm i n § 114 Abs. 2 GOBT beschlossen worden. Auch hier besteht daher kein Zweifel über die Zugehörigkeit zum geschriebenen eigenerzeugten Parlamentsrecht. 3
z. B. Pereis, Reichstagsrecht. Wie hier scheint auch Arndt die Worte „Autonomie" und „autonom" lediglich auf die Erzeugung, nicht auf die Qualität zu beziehen, Geschäftsordnungsautonomie S. 15 ff. Siehe im einzelnen unten S. 41 ff. 5 So wiederholt z. B. § 4 Abs. 1 GO wörtlich Art. 63 Abs. 1 GG und nimmt § 1 Abs. 1 GO bei der Regelung der ersten Einberufung des Bundestages nach einer Neuwahl bereits in Art. 39 Abs. 3 GG genannten Fristen auf. 6 BVerfGE 1,144. 7 Dadurch erhielt derselbe eine Redepflicht vor dem Bundestag auferlegt im Anschluß an die Auseinandersetzungen mit und um den Wehrbeauftragten Heye. 8 Anlagen 1,4 - 6. 9 Anlage 2: Vereinbarung des Ältestenrates v. 26.1.1955; Anlage 3: Beschlossen v. Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung v. 19.6. 1961. 4
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.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
3. Schwierig sind die Vereinbarungen i m Ältestenrat einzuordnen. Z u ihnen gehört nicht nur die Anlage 2 über die Zwischenfragen, sondern dazu zählen noch manche andere Ergänzungen. So bestand früher die Vereinbarung v. 26. 4. 1955, nach der vor Eintritt i n die Tagesordnung jedes Mitglied die Aufsetzung eines Punktes beantragen konnte, wenn i m Ältestenrat keine Einigung darüber zustande kam. Über den Antrag wurde m i t Mehrheit entschieden. § 26 Abs. 3 GOBT a. F. sah demgegenüber vor, daß der Widerspruch von 5 Mitgliedern die Aufsetzung eines nicht auf der Tagesordnung stehenden Punktes verhindern solle. 1970 wurde dieses Verfahren durch förmliche Änderung der §§ 24 und 26 GOBT i n die Geschäftsordnung eingeordnet. A m 8. 11. 1966 wurde aber ncch entsprechend der Vereinbarung verfahren und durch Mehrheitsbeschluß der Antrag der SPD auf die Tagesordnung gesetzt, den damaligen Bundeskanzler Erhard aufzufordern, die Vertrauensfrage gem. A r t . 68 GG zu stellen 10 . Die die Aufsetzung ablehnende CDU/CSU-Fraktion berief sich nicht auf § 26 Abs. 3 GO, m i t dessen Hilfe sie bei 246 Abgeordneten die Behandlung hätte ohne weiteres verhindern können, und ein Abweichungsbeschluß gemäß § 127 GO wurde nicht gefaßt. Die Vereinbarung wurde also ebenso eingehalten, wie die Zwischenfragen nach der Vereinbarung Anlage 2 nunmehr regelmäßig ablaufen. Der Ältestenrat ist jedoch gem. § 6 Abs. 3 Satz 5 GO insoweit kein Beschlußorgan 11 , er kann also keinesfalls den Bundestag bindende Beschlüsse fassen. Es kann m. E. aber kein Zweifel bestehen, daß der Bundestag durch sein entsprechendes Handeln auch schon vor der förmlichen Änderung der GOBT zum Ausdruck gebracht hat, daß der Inhalt der Vereinbarung v. 26. 4. 1955 geltendes Recht sein solle, und daß er die Vereinbarung sanktioniert hat, obwohl kein Beschluß gefaßt wurde. Die Regelung war von der Geschäftsordnungszuständigkeit des Bundestages erfaßt. § 26 Abs. 3 GO war insoweit abgeändert. Aber, obwohl eine schriftliche Formulierung vorlag, konnte man die genannten Regeln nicht dem geschriebenen eigenerzeugten Parlamentsrecht, sondern mußte sie dem ungeschriebenen Recht zuordnen. Denn es lag zwar eine Aufzeichnung vor, aber kein durch ausdrücklichen Beschluß festgestellter Text. Es wurde gemäß einer schriftlichen Anregung des Ältestenrates verfahren, wobei die Überzeugung bestand, daß dieses rechtens sei. Hier lag also ein eigenerzeugtes ungeschriebenes Parlamentsrecht vor. Das gilt noch gegenwärtig für die — nunmehr als Anlage 4 — genannte Regelung der Zwischenfragen, die entsprechend der Vereinbarung i m Ältestenrat gehandhabt werden. Oft stehen derartige Vereinbarungen i m Ältestenrat am Anfang eines solchen Gewohnheitsrechtes 12 . Seine Bildung ist i m übrigen später darzulegen. 10
Sten. Ber. V. Legislaturperiode, 70. Sitzung v. 8.11.1966 S. 3280 Β ff. Unten S. 118. Es liegt nahe, diesen Vorgang mit der sogenannten Selbstbindung der Verwaltung zu vergleichen. Die parlamentarische Praxis geht von dem Be11 12
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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I I . D e r Rechtscharakter 1. I n F r a g e s t e h t zunächst, ob das eigenerzeugte P a r l a m e n t s r e c h t o b j e k t i v e s Recht sei. Hatschek h a t es i m ganzen v e r n e i n t 1 3 , J e l l i n e k t e i l w e i s e 1 4 . I n neuester Z e i t h a t A r n d t , g e s t ü t z t a u f d e n h e r k ö m m l i c h e n Rechtssatzb e g r i f f , die A n s i c h t v e r t r e t e n , es stelle k e i n e solchen Rechtssätze d a r , sei aber „ i n t e r n e s R e c h t " a u f e i n e r „ a n d e r e n R e c h t s g r u n d l a g e " des B u n d e s t a g e s 1 5 . D i e h. M . sieht es als Recht a n 1 6 . D i e F r a g e i s t z u b e j a h e n . D e m A r g u m e n t v o n Hatschek, eine R e g e l w e r d e i m h u n d e r t e r s t e n F a l l n i c h t b e f o l g t u n d sei d a h e r k e i n e Rechtsr e g e l 1 7 , ist entgegenzuhalten, daß abgesehen d a v o n , daß v i e l e Rechtsr e g e l n h ä u f i g n i c h t b e f o l g t w e r d e n , eine A b w e i c h u n g v o n der Regel selbst n u r nach gewissen Regeln, ζ. B . d e r E i n s t i m m i g k e i t oder der q u a l i f i z i e r t e n M e h r h e i t 1 8 , m ö g l i c h ist, i m K o n f l i k t s f a l l also die Regel g i l t . 2. Z u r B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e ist k u r z der Rechtssatzbegriff a u f z u n e h m e n . A u s z u g e h e n ist v o n Haenels theoretischer
Grunddefinition,
daß Rechtssatz j e d e r Satz des o b j e k t i v e n Rechts sei 1 9 . E i n e G l e i c h s e t z u n g Scheuß des Ältestenrates aus, die Venva^ungsOraxis, die 7ur Selbstbindung führt, von Verw^ltun^svorc-chriften. Eine eingehendere Prüfung ergibt ie^och, daß das nur äußere Ähnlichkeiten sind. Die ..Seibstbindung der Verwaltung" ist rechlich keine Selbstbindung. Die Verwaltung handelt auf Grund einer sie bindenden Norm. Nur räumt diese ihr ein bestimmtes Ermessen ein. Dieses Ermessen ist außer durch diese Norm durch den Gie^'chheitssatz gebunden. Zumindest durch diesen ist die Verwaltung gebunden, wenn sie. vor allem Rehmen der leistenden Verwaltung, ohne die Grundlage einer Rechts^oTn h ^ n ^ t . Die Q ; Verwaltung kor^rpfipiprf diese Normen ledifüch, intern sie d*e V rfyie chsm^ßstäbe, d. h. die Tatbestände, n^'cht aber die Rechtsfolgen setzt. Sie bindet p*ch also nicht selbst, sondern fü^t die Bindungen, denen sie unterMegt. aus. Der Begriff „Seibstbindung der Venvaltung" ist insoweit rrrßverständlich, wenn nicht irreführend. Wenn eine Norm ausgefüllt wird, die ein Ermessen einräumt, entsteht nicht einmal neues ungeschriebenes Recht. Die parlamentarische Praxis auf Grund eines Beschlusses des Ältestenrates bezeugt hingegen eine ungeschriebene Norm, die das Handel η als ein Gesolltes vorsteht. Diese Norm gehört dem autonomen Geschäftsordnungsrecht an: sie, nicht etwa der im internen Organisationsrecht unanwendbare G^ichheitssatz, steuert das Hand e l der Organwalter. Zur Entstehung von ungeschriebenem Parlamentsrecht unten S. 45 ff. 13 Hatschek: Parlamentsrecht S. 42 ff.; dazu Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. ) 50 ff. 14 Jellinek: Besondere Staatslehre, S. 253 f. 15 Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 156 - 165; so wohl auch Achterberg: Grundzüge S. 15. 16 Das geht aus der Kennzeichnung der geschriebenen Geschäftsordnung als „autonomer Satzung" im Anschluß vor allen an Laband (Staatsrecht S. 319) und Pereis (Reichstagsrecht S. 3) hervor; ζ. B. v. Manqoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. I V 1 S. 914 f.; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 21; Trossmann: Parlamentsreoht S. 123; Schäfer: Bundestag S. 58; BVerfGE 1, 148; Wahl: Stellvertretung S. 98. 17 Parlamentsrecht S. 42. 18 § 127 GOBT verlangt 2/3 Mehrheit, in anderen Fällen genügt der Widerspruch einer noch geringeren Zahl von Abgeordneten, ζ. B. § 24 Abs. 3 GOBT. 19 Haenel: Gesetz S. 116 ff.
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
von Rechtssatz und materiellem Gesetz ist theoretisch nicht begründet. Sie hat ihren bestimmten, verfassungsgeschichtlichen Ort und diente dazu, den Vorbehalt des Gesetzes zu definieren 20 . Weder w i r d durch diesen das Recht allgemein definiert, noch ist dieser Vorbehalt theoretisch feststehend, sondern verfassungsrechtlich wandelbar. Die Definition Haenels ist noch zu unbestimmt, da zu allgemein. Was ist denn „objektives Recht"? Theoretisch w i r d das durch Hans J. Wolffs Definition näher bestimmt: „Rechtssatz ist der geschriebene oder ungeschriebene Ausdruck jeder auf das äußere Verhalten von Menschen bezüglichen abstrakten und generellen Anordnung (Norm), die auftritt m i t dem Anspruch, verbindlich zu sein, weil sie m i t dem Rechtsprinzip übereinstimmt, und die als ,positiver' Rechtssatz juristisch und damit idR sozial gilt 2 1 ." Jede derartige A n ordnung ist Rechtssatz, unabhängig davon, ob sie eine Verpflichtung oder eine Berechtigung betrifft, sei es, indem sie sie begründet, sei es, indem sie sie aufhebt oder i n irgendeiner Weise beeinflußt, also etwa modifiziert. Als rechtstheoretische Begriffe sind die herkömmlichen Rechtssatzdefinitionen der Abgrenzung von Willenssphären gegeneinander oder von Eingriff i n Freiheit und Eigentum 2 2 nicht zu halten. Sie definieren das Recht nicht, sondern teilen es. Sie entsprechen aber auch nicht der konkreten verfassungsrechtlichen Lage der Gegenwart. Natürliche, vorgegebene Herrschaft gibt es i m modernen Verfassungsstaat nicht, wie sie etwa dem Monarchen zukam. Staatsgewalt ist i n Zuständigkeiten gebunden, die der rechtlichen Begründung bedürfen und nicht mehr nur wie i m konstitutionellen Staat dem Maße nach bestimmt werden 2 3 , öffentliche Gewalt w i r d ohne Ausnahme i n Berechtigungen und Verpflichtungen, deren Begründung, Aufhebung und Änderung, also i n Rechtssätzen, ausgedrückt. Eine natürliche Residualgewalt, eine absolute Praerogative, eine „Stunde der Exekutive" gibt es nicht 2 4 , weshalb ζ. B. eine Notstandsverfassung notwendig ist, nicht allerdings ein bestimmtes Aussehen derselben. Allerdings gehört zur Staatsgewalt die Kompetenz-Kompetenz, die Zuständigkeit, neue Zuständigkeiten zu begründen. Sie kann sich damit selbst ausdehnen und sich ihren Aufgaben entsprechende M i t t e l verschaffen, aber i m Rahmen der Verfassung. Sie 20 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 62; Jesch: Gesetz S. 1 0 - 2 4 ; Rupp: Grundfragen S. 26. 21 Verwaltungsrecht I 8 § 24 I I c 2 S. 113, umstritten ist, ob der Rechtssatz notwendig abstrakt und generell sein muß, dagegen Volkmar: Rechtssatz S. 258 f. Die Frage kann hier offenbleiben. 22 Wolff : Verwaltungsrecht I 8 § 24 S. 113; Böckenförde: Gesetz S. 237. 28 Krüger: Staatslehre S. 835; Böckenförde: Organisationsgewalt S. 74. 24 Auch Krüger, der die Allmacht der Staatsgewalt als General- und Blankovollmacht in der Gegenwart am stärksten betont (Staatslehre S. 827), sieht es als notwendig an, jedenfalls zu regeln, wer den Staatsnotstand als Auslöser einer weitgehend entverfaßten Prärogative zu erklären hat und wem die Bewältigung des Staatsnotstandes obliegen soll (Staatslehre S. 837).
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
39
ist daher keine General- und Blankovollmacht, wie Krüger meint 2 3 . Die Zweck-Mittel-Relation 2 6 ist zweifach bedingt, nämlich von der Bejahung des Zwecks durch die Verfassung und durch die Erlaubtheit des Mittels. Der Staat ist insofern nicht allmächtig, da er zwar für die allgemeinen Zwecke, die Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit nach innen und außen i m weiten Sinne, aber nicht für alle möglichen, etwa Ausdehnung des Staatsgebietes durch Eroberung (Erweiterung des Lebensraumes), tätig werden darf 2 7 . Aber auch für die anerkannten Zwecke ist nicht jedes M i t t e l gestattet. Die Staatsgewalt ist prinzipiell begrenzt. I m öffentlichrechtlichen Bereich kann daher i n Aufnahme der Definition Böckenfördes als Rechtssatz definiert werden die Begründung und verbindliche Maßbestimmung von Berechtigungen und Verpflichtungen (Zuständigkeiten) zur Ausübung öffentlicher Gewalt und Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten 28 . Diese, auf das öffentliche Recht beschränkte Rechtssatzdefinition ist keine Vorbehaltsdefinition und auch keine rechtstheoretische, sondern eine verfassungstheoretische. Sie w i l l den öffentlich-rechtlichen Bereich als den objektiv-allgemeinen Bereich amtsbezogenen, fremdnützigen Handelns erfassen. Sie ist vor allem geeignet, das organschaftliche Handeln einzubeziehen, das nicht m i t der Schrankenziehungsformel und schon gar nicht m i t der Eingriffsformel hinreichend erfaßt werden konnte. Denn beide sind individualistisch-eigennützig orientiert, was aber organschaftliches Handeln nicht ist. Die Organwalter müßten als Organe m i t eigenen Kompetenzen angesehen werden, u m die Formeln auf ihr Handeln anwendbar zu machen. Das aber würde, wie Böckenförde zu Recht bemerkt, zur Zersplitterung der Staatseinheit führen 2 9 . Organisatorische Regelungen, auch die inneren, sind somit als zuständigkeitsbegründende u. ä. Regelungen Rechtssätze. Das gilt auch für das eigenerzeugte Parlamentsrecht. 25
Staatslehre S. 829. Sie wird von Krüger (Staatslehre S. 828 ff.) als systematische Begründung der Staatsgewalt gedeutet. Das ist zwar richtig, hängt aber als abstraktes Prinzip so lange in der Luft, wie Krüger eine Lehre von den Staatszwecken als solche für nicht möglich hält (Staatslehre S. 196 und Buch I I I ) . Hier weist Krügers Werk einen fundamentalen Mangel auf, der seine eigenen Intentionen aufzuheben geeignet ist. Die „Zwecklosigkeit" des Staates macht ihn zum Instrument aller Zwecke. Irgendwo muß ein materieller Bezugspunkt festgelegt werden, aus dem heraus er sich rechtfertigen, kritisieren, verändern, entwickeln läßt, der zwar historisch wandelbar ist, der aber allererst Staat als Gebilde der Wirklichkeit konstituiert. 27 Dies ist der eigentliche Sinn des Verbotes des Angriffskrieges in Art. 26 GG. 28 Organisationsgewalt S. 74; so jetzt auch: Hoppe: Organstreitigkeiten S. 183 ff. 29 Organisationsrecht S. 73 Fußnote 9. 26
40
1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
3. Das eigenerzeugte Parlamentsrecht ist inneres Organisationsrecht des Bundestages, durch das die innere Gliederung, die Zuständigkeiten der Ämter, der Organteile und der eigenen Organe, der Geschäftsbetrieb und das Verfahren bei Wahrnehmung der Zuständigkeiten des Bundestages und die A r t und Weise der Zuordnung bestimmter Handlungen zu i h m sowie die Disziplinarordnung geregelt wird. Es ist ein Recht der Zusammenordnung der Willenskundgebungen vieler zu einer formellen, m i t bestimmten Rechtswirkungen ausgestatteten Willensentscheidung des Organs Bundestag. Es gehört somit zum Innenrechtsbereich des Staates als Juristischer Person 30 . Diese Zuordnung des eigenerzeugten Parlamentsrechts zum Organisationsrecht übersieht Arndt. Sein Mißverständnis des Organ- und Amtswalterverhältnis des Abgeordneten 31 als ein aus dem Frühkonstitutionalismus herrührendes, aber nicht näher charakterisiertes, öffentlichrechtliches, mitgliedschaftliches Statusverhältnis, das Übersehen der konstitutiven Bedeutung des inneren Geschäftsordnungsrechts für die Bestimmung eines Verhaltens der Abgeordneten als rechtserheblichen Beschluß des Organs Bundestag, die ungeprüfte Übernahme des m i t dem Gesetz i m materiellen Sinne identifizierten, historisch-konventionellen Rechtssatzbegriffes führen i h n zu der eigentümlichen Lösung, die zur Rede stehenden Normen seien keine Rechtssätze, aber „internes Recht", also zu einer nicht gerechtfertigten Teilung des objektiven Rechts. Denn den Rechtscharakter bestreitet A r n d t nicht, begründet aber auch nicht die Kriterien des Unterschiedes von Rechtssatz-Recht und Nicht-RechtssatzRecht. Der Amtscharakter des Abgeordnetenmandates ist später eingehend darzulegen 32 . Das eigenerzeugte Parlamentsrecht weist allererst dem Abgeordnetenamt innerhalb des Bundestages als körperschaftlichem Organ einen großen Teil der Zuständigkeiten zu und regelt des Näheren die Ausübung der i n anderen Rechtsquellen begründeten Zuständigkeiten. Es handelt sich also u m organisationsrechtliche Regeln innerhalb des körperschaftlichen Organs Bundestag, also insofern u m Regeln i m Innenorganbereich. Organisationsrecht aber ist entgegen der verengenden, von A r n d t aufgenommenen Rechtssatztheorie Recht, auch wenn es „internes Recht" ist 3 3 . 30
Zur Unterscheidung von Innen- und Außenrechtsbereich: Wolff : Verwaltungsrecht I I 3 , § 73 l e S. 35; Hoppe: Organstreitverfahren S. 132ff.; Rupp: Grundfragen S. 19 ff.; auch Böckenförde: Organisationsgewalt S. 75. 31 Das teilt Arndt allerdings, wie oben dargelegt, mit fast der ganzen h. L. Aus ihm fließt auch die von Arndt gesuchte Regelungsbefugnis des Amtswalterverhältnisses. 32 § 4 I I unten S. 69 ff. 33 So ausdrücklich nunmehr auch bei gleicher Kennzeichnung als Innenrecht: Wahl: Stellvertretung S. 99. Er geht dabei, wie die vorliegende Untersuchung, von den Hans J. Wolff gelegten theoretischen Grundlagen der Lehre der Organschaft aus, im einzelnen das folgende Kapitel.
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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I I I . Verhältnis zu anderen Rechtsnormen 1. Ist das eigenerzeugte Parlamentsrecht Recht, so ist die nächste Frage, welchen Rang es einnimmt. Das BVerfG hat es dem Grundgesetz und dem formellen Gesetz untergeordnet 34 . Auch A r n d t meint, es könne kein Recht des allgemeinen Gewaltverhältnisses sein, w e i l es als solches unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen würde 3 5 . Diese allgemeine Meinung übersieht, daß A r t . 40 Abs. 1 GG eine eigene Zuständigkeit des Bundestages neben seiner Gesetzesbeschlußzuständigkeit begründet, was eher für eine Nebenordnung als für eine Unterordnung von eigenerzeugtem Parlamentsrecht unter das Gesetzesrecht spricht 36 . Sie steht aber vor allem i m Widerspruch zu der weitverbreiteten (ebenfalls vom BVerfG geteilten) Auffassung, es handele sich u m materielles Verfassungsrecht 37 . 2. Die h. L. bezeichnet die kodifizierte Geschäftsordnung als autonome Satzung^ 8 . Nachteil dieser Definition ist, daß das ungeschriebene eigenständige Parlamentsrecht aus dieser Qualifikation herausfällt. Man w i r d geschriebenes und ungeschriebenes eigenständiges Parlamentsrecht aber zusammenfassen, vor allem den gleichen Rang einräumen müssen, da das ungeschriebene Parlamentsrecht Regeln der kodifizierten Geschäftsordnung zu verdrängen vermag. Die Qualifikation als autonome Satzung ist i n letzter Zeit, nachdem sie jahrzehntelang unangefochten war, wieder von Böckenförde, Schneider, A r n d t und Achterberg i n Frage gestellt worden. A r n d t bestreitet allerdings, wie dargelegt zu Unrecht, den Rechtssatzcharakter der Regeln des autonomen Parlamentsrechts und deswegen auch den Satzungscharakter. Er bezeichnet sie als „internes Recht", wie nun auch Achterberg, bei dem aber die Begründung fehlt, so daß man nicht feststellen kann, ob er A r n d t auch i n dieser folgt. Dagegen spricht, daß er von „Innenrechtssatz" spricht. 3. Die autonome Satzung ist die „abstrakte idR generelle i n bestimmter Form hoheitlich einseitig erlassene Rechtssetzung eigenständiger, dem Staat eingeordneter Verbände . . . zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten", die „aus einer vom Staat eingeräumten eigenen Rechtssetzungsgewalt des Verbandes hervorgehen" 39 . Sie ist „Willensakt eines selbständigen Rechtssubjekts i m Verhältnis zu seinen Gliedern und i m Gegensatz 34 BVerfGE 1, S. 148; so auch v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. I V 2 mit weiteren Verweisen; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 22; Ritzel-Bücker: Handbuch S. 198. 35 Geschäftsordnungsautonomie S. 159. 36 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 124 f. für die Geschäftsordnungszuständigkeit der Bundesregierung gem. Art. 65 Satz 3 GG. 37 Siehe unten S. 43 f. 38 BVerfGE 1, S. 148; Ritzel-Bücker: Handbuch S. 198; weitere Nachweise bei K. F. Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 138 ff. mit Kritik. 39 Wolff: Verwaltungsrecht I 8 § 2 5 I X a S. 132.
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
zu einem übergeordneten Rechtssubjekt, niemals Willensakt eines Organs eines körperschaftlichen Verbandes i m Verhältnis zu diesem Verband selbst" 40 . Die autonome Satzung ist nicht staatliches Recht, sondern „eigenes Recht der autonomen Gesamtheit", das aus einer eigenen Rechtsquelle fließt, die zu erschließen der Staat dem Verband nur die Fähigkeit verliehen hat 4 1 . Der Verband erhält einen „pouvoir", nicht nur eine „compétence". Den Sinn autonomer Rechtssetzung kennzeichnet Schneider, „unerläßliches M i t t e l eigenverantwortlicher und eigenständiger Ordnung von Lebens Verhältnissen und Lebensbereichen" zu sein, „die der Staat selbst nicht zu reglementieren wünscht oder nicht zu reglementieren vermag", da er als freiheitlicher Staat es den Gruppen der Gesellschaft weitgehend selbst überläßt, ihre Verhältnisse zu- und untereinander zu arrangieren 42 . Die autonome Rechtsetzungsgewalt ist damit auf den Freiheitsraum des Staatsbürgers bezogen. Diesen soll sie sichern. Sie ist ein M i t t e l der Gesellschaft, nicht des Staates, wie die dem Staat zwar eingeordneten aber eigenständigen Körperschaften selbst dem gesellschaftlichen mehr als dem staatlichen Bereich zugehörig sind. 4. Dieser Begriff der autonomen Satzung ist für die Volksvertretung nur i m Rahmen der „constitutionellen Theorie" anwendbar, der zufolge die Versammlung als „politischer Verein" erst konstituiert war, wenn sie sich Geschäftsordnung und Organe gegeben hatte 4 3 . Die Geschäftsordnungsautonomie flöß ursprünglich aus diesem Körperschaftscharakter und wurde als subjektives Recht, als eigene Rechtsmacht zur Regelung eigener Angelegenheiten, d. h. der dem „politischen Verein", dem „corps politique" zustehenden subjektiven Rechte, insbesondere der Gesetzgebung, begründet und gefordert 44 . Die Geschäftsordnungsautonomie ist dem Bundestag heute hingegen als eigenständigen, unabhängigen Verfassungsorgan eingeräumt, damit er seine anderen Zuständigkeiten entsprechend der i m Grundgesetz vorgenommenen Zuständigkeitsordnung unabhängig wahrnehmen kann. Die Geschäftsordnungsautonomie ist nicht mehr M i t t e l zur Sicherung der materiellen Unabhängigkeit eines „Gewalt"trägers, der Volksvertretung, von dem anderen, dem Monarchen, bei der Erfüllung eigener Rechte, sondern M i t t e l der funktionalen Unabhängigkeit eines Organs von einem anderen und kommt daher nicht mehr nur dem Bundestag, sondern auch dem Bundesrat und vor allem 40
Jellinek: Besondere Staatslehre S. 252. So treffend Schneider: Satzung S. 523 f.; auch Fleiner: Institutionen S. 80; BVerwGE 6, 249. 42 Schneider (Satzung S. 521),der den Unterschied von Verordnung als Akt delegierter staatlicher Rechtsetzung und autonomer Satzung als Akt eingeräumter nichtstaatlicher Rechtsetzung eingehend darlegt. 43 Hatschek: Parlamentsrecht S. 33 ff. 44 Sieyes: Schriften S. 251, 254; Mayer: Staatsrecht S. 140, Fußnote 11. 41
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
43
der Bundesregierung zu. Der Bundestag ordnet seine „Geschäfte"; das sind aber nichts anderes als eben die Bereiche staatlicher Kompetenzen als Gegenstände seiner staatlichen Wahrnehmungszuständigkeiten 45 , also staatliche Angelegenheiten. Das sind aber gerade nicht „eigene" Angelegenheiten i m herkömmlichen Sinn. Wenn auch die eigene innere Organisation des Bundestages als Körperschaft Gegenstand des eigenerzeugten Parlamentsrechts ist, so doch eben die innere Organisation eines staatlichen körperschaftlichen kollegialen Organs, die organschaftlichen Rechte des Organs, Ämter, Organteile und deren Rechtsbeziehungen untereinander. Gegenstand der Regelungsbefugnis ist also ein Teil der staatlichen Organisation. Der i m folgenden Kapitel zu erörternde Doppelcharakter des Bundestages als körperschaftlichem, staatlichem Organ läßt die Geschäftsordnungsautonomie zwar als Eigenzuständigkeit der Körperschaft aber gleichzeitig als staatliche Wahrnehmungszuständigkeit des Organs erscheinen. 5. Damit ist der hier zugrundegelegte, auf innerstaatliche Körperschaften bezogene Begriff der autonomen Satzung nicht auf die kodifizierte Geschäftsordnung anwendbar 4 6 . Seine Abänderung erscheint aber nicht sinnvoll, wenn er seinen Sachgehalt bewahren soll. Es ist i. ü. überraschend, wenn auch von denen, die dem Reichstag bzw. Bundestag körperschaftlichen Charakter absprechen, trotzdem die kodifizierte Geschäftsordnung als Satzung bezeichnet w i r d 4 7 . M i t der Satzung hat das eigenerzeugte Parlamentsrecht das Element der Selbstregelung gemein. Eigene Angelegenheit ist nur die Selbstregelung, nicht aber das Geregelte selbst, die Wahrnehmung der staatlichen Zuständigkeiten. M i t der Verordnung hat das Geschäftsordnungsrecht die Eigenschaft gemein, staatliches Recht zu sein, wenn auch nicht i m Über-Unterordnungsverhältnis, sondern eben i m gleichgerichteten Verhältnis. Da es sich u m die Ordnung innerhalb eines körperschaftlichen Verfassungsorgans handelt, hat sie materiell verfassungsrechtlichen Charakter. Böckenförde hat für das autonome Organisationsrecht eines unmittelbaren Verfassungsorgans den Begriff „Verfassungssatzung" vorgeschlagen 48 . Wenn auch auf die Geschäftsordnung der Bundesregierung bezogen, läßt sich dieser Begriff auf die geschriebene Geschäftsordnung 45 Wolff: Verwaltungsrecht I I 8 § 72 I c 1, S. 14; Böckenförde: Organisationsgewalt S. 47. 46 So Jellinek: Besondere Staatslehre S. 253; Böckenförde: Organisationsgewalt S. 120 Fußnote 24. 47 z.B. Laband (Staatsrecht S. 319), von dem die Charakterisierung als „statutarisches" Recht ausgeht, v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. L V 1, S. 914 f.; Schunck in der Neubearbeitung des Kommentars von Giese, der selbst diese Charakterisierung ablehnte: Giese-Schunck: Kommentar S. 102. 48 Organisationsgewalt S. 122 ff.; ebenso jetzt auch Wolff: Verwaltungsrecht I 8 § 25 I X a.
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
des Bundestages doch übertragen. Allerdings berücksichtigt dieser Ausdruck nicht, daß die kodifizierte Geschäftsordnung des Bundestages nur der geschriebene Teil des eigenständigen Parlamentsrechts ist, neben dem durchaus gleichrangigen ungeschriebenen Parlamentsrecht steht. Die Verfassungssatzung des Bundestages ist daher eingegliedert i n ein umfassenderes „eigenerzeugtes internes Organrecht". Eigenerzeugtes internes Organrecht haben alle Kollegialorgane, die ihre inneren orgenschaftlichen Rechtsbeziehungen selbst regeln. Handelt es sich aber u m Verfassungsorgane, so bekommen sie einen speziellen Charakter, eine zusätzliche Qualität: Sie gehören materiell dem Verfassungsrechtskreis zu. Sie sind „sekundäres Verfassungsrecht", „ergänzendes Verfassungsrecht" 49 . 6. Die Rangfrage muß nach diesem materiellen Charakter entschieden werden. Böckenförde hat für die Geschäftsordnung der Bundesregierung m i t guten Gründen gegen die Nachordnung hinter das Gesetz Stellung genommen 50 . Das dort Ausgeführte gilt auch für das gleichgeartete eigenerzeugte Parlamentsrecht. Denn dieses Recht ist, wie dargelegt, verfassungsergänzendes Recht. Die Geschäftsordnungen beider Organe sind „Verfassungssatzungen" bzw. eigenerzeugte Organordnungen von Verfassungsorganen. Böckenfördes Argumentation ist die folgende: Er stellt zunächst fest, das Kollisionsproblem zwischen eigenständigem Organrecht und Gesetz sei kein Rang-, sondern ein Kompetenzproblem. Das GG begründe durch seine Regelung in A r t . 65 Satz 4 für die Bundesregierung eine verfassungsunmittelbare Kompetenz, die dem Gesetzgeber nicht zur Disposition steht. Die Zuständigkeit sei zudem keine abstrakte, sondern auf die Geschäftsordnung der Bundesregierung bezogen, also auf einen gegenständlich bestimmten Bereich, m i t h i n eine Sachkompetenz. Diese unterliege keinem besonderen Gesetzesvorbehalt und sei so dem Gesetzgeber entzogen und als gesetzesfreier Eigenbereich der Regierung konstituiert. Damit seien Kollisionen zwischen Gesetz und Geschäftsordnung der Bundesregierung uninteressant, da sie von der Materie her verfassungsmäßig nicht stattfinden könnten. Nach außen nehme daher gegenüber anderen Rechtsquellen die eigenständige Organordnung an dem Rang der Verfassung teil, der selbst sie allerdings untergeordnet sei. Diese Darlegungen gelten i n gleicher Weise auch für die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages. A r t . 40 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Entscheidungsnorm i m Falle der tatsächlichen Kollision einer Bestimmung des eigenerzeugten Organrechts und einer gesetzlichen Bestimmung. Die bisherige Lehre bezüglich des Ranges verkennt durch die 49 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 124; Wahl (Stellvertretung S. 99 f.), der primäres und sekundäres Verfassungsrecht zutreffend als „strukturellen Unterschied" deutet. 50 Organisationsgewalt S. 124 f.
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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Fixierung auf die Charakterisierung der kodifizierten Geschäftsordnung als Satzung oder als Verordnung das eigentliche Verhältnis von A r t . 40 Abs. 1 Satz 2 und A r t . 77 GG und appliziert lediglich das allgemeine Rangschema. Da beide Zuständigkeiten verfassungsunmittelbar sind, beide verschiedene vorbehaltlos zugewiesene Sachbereiche betreffen und beide gleichrangig nebeneinander stehen, bedarf es soweit also Geschäftsordnungsangelegenheiten durch Gesetz geregelt werden, einer gegenständlichen Zuweisung durch das Grundgesetz, wie das ζ. B. für die Wahlprüfung geschehen ist. Die Geltung der diesbezüglichen Normen der kodifizierten Geschäftsordnung beruhen nicht auf der Geschäftsordnungsautonomie, sondern sind nur deklaratorisch i n diese aufgenommen, sind also kein eigenständiges Parlamentsrecht. Die rangmäßige Unterordnung unter das Gesetz und damit die Begründung eines Gesetzesvorbehalts würde aber auch zur Folge haben, daß Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsident indirekt auf die funktionale Unabhängigkeit des Bundestages Einfluß nehmen könnten.
I V . Ungeschriebenes Organrecht Neben die geschriebenen Rechtsquellen treten die des ungeschriebenen Rechts, die i. a. aber unpräzise nach der Wortprägung Savignys 5 1 als Gewohnheitsrecht bezeichnet werden. Gerade für die Zuständigkeiten des Bundestages spielt dieses ungeschriebene Recht eine ausschlaggebende Rolle: Der ganze Bereich der Zuständigkeiten zur Teilhabe an der Regierung ist ungeschriebenen Rechts. Auch für die innere Organisation sind weite Teile i n ungeschriebenen Rechtssätzen niedergelegt. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen dem, was bloßer Brauch ist, und dem, was schon Rechtssatz ist, immer schwierig und nur für die einzelne Regelung zu treffen 6 2 . Ein Verhalten selbst ist nicht Norm 5 3 . Es kann verbunden sein mit dem Wollen einer dieses Verhalten als gesollt darstellenden Norm; es kann das „mitgemeinte Ernstbegehren" eines Rechtssatzes enthalten 5 4 . Ob ein rein tatsächliches Verhalten ein solcher Hinweis ist, ist davon abhängig, ob das Verhalten als ein rechtlich gesolltes vorgestellt wird. Bei dem be51 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1840; dazu und zum weiteren Mokre: Theorie S. 14. Zum Gewohnheitsrecht des weiteren: Kelsen: Rechtslehre S. 9 und S. 231 ff.; Wolff : Verwaltungsrecht I 8 § 25 I I I S. 122 f.; Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Kopenhagen 1947, S. 132 ff. 52 Siehe dazu auch Hatschek: Parlamentsrecht S. 18 ff. 53 Mokre: Theorie S. 154; Kelsen: Rechtslehre S. 9. 54 Mokre: Theorie S. 162 ff. Mokres Theorie bezieht sich auf die durch lange Dauer etc. bestimmte Gewohnheit, gilt aber aus den noch darzulegenden Gründen für Rechtsbildung durch ein Verhalten allgemein.
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
kanntesten und verbreitetsten Tatbestand, an den ein solcher Hinweis geknüpft wird, bei der Gewohnheit, kommt es darauf an, ob sie als tatsächliche Übung, die man aber auch lassen könnte, eingenommen w i r d oder aber i n der Überzeugung, sich rechtlich so und nicht anders verhalten zu müssen, und diese Vorstellung auch bei denen gegeben ist, denen gegenüber sich so verhalten wird. Negativ gewendet: Ein der Gewohnheit nicht entsprechendes Verhalten muß nicht nur als unüblich oder ungehörig, sondern als Rechtsverstoß angesehen und entsprechend von den Rechtsgenossen mißbilligt werden. Welches aber sind die Indizien, nach denen ein Handeln dahin bestimmt werden kann, ob es auf einem ungeschriebenen Rechtssatz ruht oder nur Brauch ist? Meist w i r d auf lang dauernde und gleichmäßige Übung verwiesen. Dieses Indiz kann aber nur für Gewohnheitsrecht gelten, das jedoch nicht das gesamte ungeschriebene Recht ausmacht, was allerdings weithin angenommen wird. Gewohnheit ist als solche jedoch keine Rechtsquelle. Sie muß erst als solche anerkannt werden. Der Sollenscharakter muß m i t der Gewohnheit als zunächst nur tatsächlicher Erscheinung verbunden werden. Deswegen t r i t t ja auch immer die Forderung nach der opinio necessitatis hinzu. Diese kann aber gerade als ein Hinzutretendes nicht aus der Übung selbst geschlossen werden. Andererseits ist es möglich, daß ein bloß einmaliges Verhalten als Präjudiz für künftiges Verhalten gedacht ist, also Ausdruck einer „mitgemeinten Ernstbegehrung" eines Rechtssatzes sein soll 5 5 . Dieses Ernstbegehren ist hier wie dort festzustellen. Die weitgehende Gleichsetzung von Gewohnheitsrecht und sonstigem ungesatztem Recht ist für die Gegenwart, so scheint es, ein Ergebnis der historischen Rechtsschule, nach der die Rechtsentstehungslehre selbst Lehre vom Gewohnheitsrecht ist 5 6 . Die Rückführung des Rechts auf Gewohnheit hatte als Manifestation des Volksgeistes i n der Gewohnheit ihren guten theoretischen Sinn. I n der Gegenwart aber, i n der die Rechtsbildung zwar auch, aber nicht mehr ausschließlich und vor allem i n sehr geringem Maße als Verwirklichung des Volksgeistes, sondern als bewußt rationaler, gewollter Vorgang zur Steuerung des sozialen Lebens zu verstehen ist, ist die lang dauernde Übung nicht mehr notwendiges und hinreichendes Erfordernis für die Entstehung unge55 Mokre (Theorie S. 170) hebt diesen Unterschied innerhalb des ungeschriebenen, von ihm ungesetzt genannten Rechts hervor und betont ihn gerade für das Verfassungsrecht. Für die Qualität wie für den Ursprung des Sollens macht das aber keinen Unterschied, sondern nur für die Gegebenheit der beiden Gruppen des ungeschriebenen Rechts. 56 Mokre: Theorie S. 13 ff.; dazu auch Dieter Nörr: Zur Entstehung der gewohnheitsrechtlichen Theorie, Festschrift für Wilhelm Felgenträger, Göttingen 1969, S. 353 - 366, S. 353, der aber im übrigen den Ursprung der juristischen Lehre vom Gewohnheitsrecht im 2. Jh. n. Chr. ansetzt.
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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schriebenen Hechts. Das Gewohnheitsrecht i m strengen Sinn ist nur noch ein Teil des ungeschriebenen Rechts. I n den anglo-sächsischen Ländern, wo die Tradition der Bildung ungeschriebenen Rechts nicht wie bei uns abgerissen ist, ist diese Einsicht i n die rechtsbildende K r a f t eines einzigen Präjudiz durchaus vorhanden. Sie kann auch nicht auf Richterrecht beschränkt werden, sondern findet sich gerade i m Parlamentsrecht. Die massenhafte, lange, gleichmäßige Anwendung erscheint daher nur als ein Indiz von geringem Anzeigewert. Ein anderes Indiz ist richterliche Anwendung, die aber i n diesem Bereich relativ selten ist. Vor allem w i r d man auf die Begründung abstellen müssen, mit der ein Verhalten i m Bundestag eingenommen w i r d und m i t der es aufgenommen wird, insbesondere von der Bundesregierung und anderen Organen. Eine einigermaßen sichere Entscheidung w i r d sich immer erst i m Wiederholungsfall treffen lassen. Aber neben diesen subjektiv-psychologistischen Indizien gibt es ein objektives Indiz i n dem sachlichen Zusammenhang des ungeschriebenen Rechts m i t den Aufgaben des Bundestages. Da gerade organisatorisches Recht funktional bezogen auf diese Aufgaben ist, also auf bestimmte Komplexe von sachlichen Gegenständen, die dem Bundestag zur Erledigung zugewiesen sind 5 7 , weist ein enger und funktional notwendiger Zusammenhang von bestimmten Verhalten darauf hin, daß dieses als ein rechtliches, gesolltes verstanden wird. Das parlamentarische ungeschriebene Recht ist weitgehend ein „Präjudizien"recht. Schwierig ist die Feststellung, wann ein Verhalten rechtlich für die Zukunft maßgebendes Präjudiz und wann es nur aus praktischen Gründen eingenommenes Verhalten ist. Auch die erste Wiederholung ist nur Indiz, da die Rechtsüberzeugung fehlen kann. So w i r d seit der ersten Wahl Paul Lobes (SPD) zum Reichstagspräsidenten ein Gewohnheitsrecht angenommen werden müssen, daß die stärkste Fraktion den Präsidenten stellt, wenn auch bezüglich der Person nach Rücksprache m i t den anderen Fraktionen 5 8 ; aber es dürfte bisher angesichts 67
Wolff : Verwaltungsrecht I I 3 § 721 c 1, S. 14. Schäfer (Bundestag S. 93) spricht allerdings nur von „Parlamentsbrauch". Aber die Praxis aller deutscher Volksvertretungen ist so eindeutig und unbestritten, daß hier eine Rechtsüberzeugung besteht. I n der Geschäftsordnung des niedersächsischen Landtages (GO η. s. LT) v. 28. Juni 1967 ist in § 8 Abs. 1 den Fraktionen nach ihrer Stärke ein Vorschlagsrecht für den Präsidenten und den Vizepräsidenten eingeräumt. I n Nordrhein-Westfalen besteht keinerlei Bindung, aber „selbstverständlich" stellte 1966 die SPD den Landtagspräsidenten, nachdem sie stärkste Fraktion im Landtag geworden war, und mußte sie den Präsidentensessel 1970 wieder der C D U zur Verfügung stellen, als diese die Stellung als stärkste Fraktion zurückerlangt hatte. Auch bei der ersten Wahl des Bundestagspräsidenten Dr. Gerstenmaier ist das Recht der stärksten Fraktion, den Kandidaten zu benennen, nicht bestritten, sondern nur die Form des 58
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1.1. Kap.: Rechtsquellen des Rechts des Bundestages
der Praxis bloßer Brauch sein, daß vier Vizepräsidenten der Zahl nach sich auf die Fraktionen verteilen 5 9 . Ein Verhalten muß also für die Zukunft, für eine unbestimmte Anzahl von Fällen gleicher A r t gelten sollen. Wolff hat daher nunmehr darauf abgestellt, allerdings bezogen auf das Gewohnheitsrecht, daß das Verhalten derart sei, daß einem A b weichen das Gleichheitsgebot entgegenstehe 60 . Das kann aber bereits bei einmaligem Verhalten, das m i t Überzeugung rechtlicher Gebotenheit oder Gewährung eingenommen wird, der Fall sein. Dem eigenerzeugten ungeschriebenen Parlamentsrecht werden nur generell-abstrakte Regelungen angehören können 6 1
V. Der Parlamentsbrauch Wenn auch kein Recht und damit keine Rechtsquelle als Erkenntnisquelle, so ist der Parlamentsbrauch doch eine Hilfsquelle für die Auslegung der Rechtsquellen, aber auch der Ansatz für das Entstehen neuer Rechtsquellen. Hatschek hat für i h n den Begriff „Konventionairegeln" herangezogen, i h n allerdings auf die gesamte Geschäftsordnung, also das innere, eigenerzeugte Parlamentsrecht als Ganzes angewandt, dessen Rechtscharakter selbst er damit abstritt 6 2 . Dem kann nicht gefolgt werden, da, wie bereits dargelegt, das innere, eigenerzeugte Parlamentsrecht als solches aus Rechtssätzen besteht. Aber Hatschek ist doch, worauf A r n d t hingewiesen hat, insoweit zuzustimmen, als die parlamentarische Praxis auch einen nicht geringen Teil von Konventionalregeln oder Parlamentsbrauch aufweist. Auch diese beruhen oft auf langer Übung, aber ihnen fehlt die Rechtsüberzeugung. Sie gelten als praktisch, aber nicht als rechtlich verbindlich 6 3 . Parlamentsbrauch ist etwa, daß die Redner i n den Debatten Vorgehens der CDU/CSU-Fraktion kritisiert worden. Sten. Ber. 2. Deutscher Bundestag, 55. Sitzung 16.11.1954, S. 2696 A - D, dazu F. K. Fromme, F A Z 17.10.1969 S. 2. 59 Schon die Zahl der Vizepräsidenten steht nicht eindeutig fest, siehe die Auseinandersetzungen, ob zwei oder vier 1961, Der Spiegel 1961 Nr. 44, S. 24. § 8 Abs. 1 GO nds L T legt demgegenüber fest, daß jede Fraktion einen Vizepräsidenten stellt. 60 Wolff : Verwaltungsrecht I 8 § 25 I I I a (ohne diesen Bezug die Vorauflagen). 61 a. A. Arndt (Geschäftsordnungsautonomie S. 17), der auch individuell-konkrete und individuell-abstrakte Regelungen hinzuzählt. Zu den Abgrenzungen i. a. siehe Volkmar: Rechtssatz S. 258 f. Die Frage, ob ein Rechtssatz begriffsnotwendig generell-abstrakt sein muß, wie Wolff (Verwaltungsrecht I 8 § 24 I I c 2 S. 113) meint, kann in diesem Zusammenhang offenbleiben. 62 Hatschek: Parlamentsrecht S. 18 ff. und S. 40 ff.; dazu Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 150 ff. 83 Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu den conventions des englischen Verfassungsrechts, denen durchaus verbindliche Kraft zukommt, etwa der Convention, daß die Königin nur auf den und nach dem Rat des PrimeMinisters politisch handeln kann.
§ 2 Das eigenerzeugte Parlamentsrecht
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des Plenums von den Fraktionen bestimmt und früher oft auch die Dauer der Redezeit für jeden interfraktionell festgelegt wurde 6 4 . Eine solche Regelung kann einem nicht vorgesehenen, redewilligen Abgeordneten trotz ihrer langen Übung nicht entgegengehalten werden. Wann sie zu einem Rechtssatz erstarken, ist schwer festzustellen, sicher dann, wenn eine Berufung auf sie entgegengesetzte Begehren damit erfolgreich abgeschlagen worden sind, daß sie Rechtscharakter erlangt haben.
64 Schäfer: Bundestag, S. 99; Loewenberg: Parliament S. 210. Das findet zwar eine Stütze in den Geschäftsordnungen der Fraktionen, die jedoch nicht zum staatlichen organisatorischen Parlamentsrecht gehören. Jedoch wird hier ein Verfahren zur Bildung eines solchen Rechts sichtbar.
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Steiger
Zweites Kapitel
Fragen der Organschaft § 3 Der Rechtscharakter des Bundestages I. Organ und Körperschaft 1. Der Rechtscharakter des Bundestages als ein unmittelbares Verfassungsorgan des Bundes w i r d dadurch bestimmt, daß es ein kollegiales, körperschaftliches Organ ist, dessen Organwalter die „Mitglieder des Bundestages" oder „Abgeordneten" auf Zeit von der wahlberechtigten Bevölkerung der Bundesrepublik gewählt werden. Der Modus der Bestellung der Abgeordneten braucht für den vorliegenden Zusammenhang nicht behandelt zu werden. Durch den körperschaftlichen kollegialen Charakter des Bundestages ergeben sich jedoch inner organisatorische Probleme für die Rechtsstellung der Organwalter und die Gliederung des Organs. Eigentliches, Staatsgewalt ausübendes Staatsorgan, d. h. innerorganisatorisches eigenständiges, institutionelles Subjekt von Zuständigkeiten zur transitorischen Wahrnehmung der Eigenzuständigkeiten des Staates 1 , w i r d die Volksvertretung erst seit dem späten Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Gleichzeitig wurde die Verwendung des Begriffes „Körperschaft" für dieses Organ umstritten. Das Grundgesetz selbst bezeichnet den Bundestag als Körperschaft i n A r t . 59 Abs. 2 GG. Wolff spricht von „Kollegialkörperschaft" 2 . Maunz sieht i n i h m ein „körperschaftliches Organ" 3 , und Hans Schneider spricht i h m „eigene korporative Rechte zur Erfüllung seiner Aufgabe" zu 4 . Die h. M. lehnt den Körperschaftscharakter ab. Allerdings sind die Gründe unterschiedlich. Die einen stützen sich auf den Mangel der Rechtsfähigkeit 5 ; die anderen be1
So in Anlehnung an Wolff : Verwaltungsrecht I I 3 § 741 f. Verwaltungsrecht I I 3 § 84 I I I d 5. 3 Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar, Art. 38 Rdnr. 7. 4 Satzung S. 526, obwohl er den Satzungscharakter der kodifizierten Geschäftsordnung ablehnt. 5 So anscheinend Giese-Schunck: Grundgesetz S. 97; Karl Schweiger in: Die Verfassung des Freistaates Bayern, begr. von Hans Nawiasky, 2. Aufl. von Carl Leuser, Erich Gerner, Karl Schweiger, Hans Zacher, München 1964, Art. 13 Rdnr. 3 für den bayr. Landtag; gegen Körperschaftscharakter auch: v. Mangoldt-Klein: Kommentar, Vorb. Art. 38 I I I 2 c, S. 871. 2
§ 3 Der Hechtscharakter des Bundestages
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rufen sich darauf, daß die Volksvertretung staatliche Funktionen, K o m petenzen, nicht aber subjektive Rechte wahrnähme 6 » 7 . 2. Der Streit beruht auf der geschichtlichen Wandlung des Körperschaftsbegriffs. Die Auffassung, daß die Volksvertretung eine Körperschaft sei, geht ursprünglich zurück auf die englische Theorie vom Parlament und ihre französische, insbesondere von Sieyès und der französischen Revolution geprägte Form 8 . Diese sogenannte konstitutionelle Theorie sah i n der Volksvertretung ein „corps politique", das das Volk repräsentierte und dadurch dieses selbst zur politischen Einheit brachte. I n i h m machte die Gesellschaft ihre eigenen Rechte gegenüber denen der Monarchen geltend. Bereits Montesquieu hatte i n Kapitel V I des X I . Buches „De l'esprit des lois" den Ausdruck „corps" als Träger der „puissances" verwandt und vom „corps législatif" gesprochen. Das „peuple en corps" bzw. seine Repräsentanten „en corps" sollen die „puissance législative" haben, da nur frei sei, wer durch sich selbst regiert werde. Hier klingt bereits an, was bei Sieyès deutlich ausgeführt w i r d : Die Rechtssetzung ist eigene Angelegenheit des Volkes i n seiner Repräsentierenden Versammlung; sie ist nicht Teil der öffentlichen Gewalt. Der König hat daher kein Vetorecht. „Es ist allgemein anerkannt, daß der Nation allein das Recht gehört, die Abgaben zu bewilligen. Was heißt das eigentlich, Abgaben bewilligen? Das heißt, jeden Bürger verpflichten, einen Teil seines Eigentums zur Erhaltung des Gemeinwesens herzugeben. Der allein macht das Gesetz, welcher i n denen, welche es angeht, die moralische Verpflichtung, sich demselben zu unterwerfen, erzeugt. Die Staatskasse kann wohl den Steuerschuldigen, welchen das Gesetz verpflichtet, verfolgen; die öffentliche Gewalt kann wohl die Vollziehung desselben sichern, allein das Gesetz ist weder das Werk der Staatskasse noch der Gewalt. Es ist nur der bekanntgemachte Wille dessen, der das Recht zu verpflichten hat 9 ." Gegen das königliche Veto wandte sich Sieyès i n einer Rede vor der Nationalversammlung u. a. m i t folgenden Argumenten: „Die einzige vernünftige Erklärung, welche man von dem Gesetz geben kann, ist: das Gesetz den Ausdruck des Willens der Regierten zu nennen. Die Regierer 6 Jellinek: Staatslehre, S. 544 ff., S. 566 ff.; ders.: Besondere Staatslehre, S. 253; Anschütz: Staatsrecht S. 144; Hatschek: Parlamentsrecht S. 39; Böckenförde: Organisationsgewalt S. 117 und 120. 7 Achterberg (Grundzüge S. 27) unterscheidet „Organ" und „verfassungsrechtlich vorgesehene Institution", erläutert die Unterscheidung aber nicht näher. 8 Nach Hatschek stammt die Bezeichnung „gesetzgebende Körperschaft" aus der Dumonf sehen Bearbeitung der Jeremy Bentham „Essay on political tactics", Parlamentsrecht S. 35; siehe auch Altmann: Rechtscharakter S. 752. 9 Übersicht über die Vollziehungsmittel zum beliebigen Gebrauch der Stellvertreter Frankreichs in dem Jahr 1789 zur Wiederherstellung der Finanzen und zur Gründung einer Staatsverfassung, in: Sieyes, Schriften, 2. Bd. S. 203.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
können sich desselben ganz oder zum Teil nicht bemächtigen, ohne mehr oder weniger sich dem Despotismus zu nähern 1 0 ." Hindern sei machen und das Ministerium bzw. die königliche Gewalt halte durch das Veto den Nationalwillen auf, was ein gegen die ganze Nation gerichteter Verhaftsbrief sei. Die vollziehende Gewalt habe keinen Teil an der Gesetzgebung; denn alle hätten bei der Beratung der individuellen Willen aller zur Bildung des Gesetzes beigetragen, so daß nichts mehr existiere, was noch herbeigerufen werden müsse 11 . Der National-Wille aber kommt durch die Versammlung zur Geltung. Die Nation übt ihre Rechte aus, welche sie ihren Repräsentanten anvertraut, die für den Gegenstand ihres Auftrages dieselbe Macht haben wie die Nation selbst 12 . „Was ist eine Nation?" fragt Sieyès i n seiner Schrift über den dritten Stand. Er antwortet: „Eine Gesellschaft von Verbundenen, welche unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und deren Stelle durch eine und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten w i r d 1 3 . " Der dritte Stand, das „umfaßt alles, was der Nation gehört", muß seine Rechte durch sich selbst i n seinen Vertretern wahrnehmen 1 4 . Die Versammlung als besonderer Wille der Nation muß sich daher selbst seine Form geben, da sie „sich sonst gegen die Nation und die Vernunft strafbar machen würde" 1 5 . Hier ist die Versammlung als eigenständiger Verband konstituiert, als Träger eigener Rechte, nicht als Inhaber von Zuständigkeiten, eines „pouvoir" i m gegenständlichen Sinn, nicht von „fonctions". Sie ist nicht Organ, sondern Vergegenwärtigung der Nation und ihres National-Willens. Mirabeau nennt die Versammlung eine „association politique", ein „moi morale", das m i t Einstimmigkeit den „pacte social" bilden müsse, der das Mehrheitsprinzip einführe 1 6 . Zu Recht kennzeichnet Hatschek diese Auffassung der Versammlung als die von einem politischen Verein. Regierung und Volk bzw. dessen Repräsentanten haben innerhalb der Gesamtordnung des Staates eigene Rechte zu den Gewalten, die sie nicht nur ausüben, sondern innehaben. Die Charte von 1814, nicht mehr aus dem pouvoir constituant des Volkes hervorgegangen, sondern vom König oktroyiert, hob die Gegenüberstellung trotzdem nicht auf. Sie ändert sie nur, indem sie den König zum Träger der Staatsgewalt erklärte und dem corps legislativ lediglich ein Mitwirkungsrecht einräumte. Damit änderte die Gegenüberstellung nur ihre Grundlage, nicht aber ihre Schärfe. 10 11 12 13 14 15 16
Schriften S. 502. Politische Schriften S. 505 ff. Politische Schriften S. 286 f. Was ist der dritte Stand, Politische Schriften S. 57. S. 57,74. Politische Schriften S. 255. Zitiert nach Hatschek: Parlamentsrecht S. 34 F N 2.
§ 3 Der Rechtscharakter des Bundestages
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Mohl schreibt dazu: „Von Anfang an war eine scharfe Trennung und wesentliche Gegeneinanderstellung der Regierung und der Volksvertreter als Grundlage aufgestellt es entstand die schwierige Aufgabe, zwei voneinander unabhängige und i n ihren Principien verschiedenartige Gewalten, welche keinen gemeinschaftlichen Höheren über sich erkannten, vereinigt und i m Streben nach gleichem Ziel zu erhalten 1 7 ." Diese Auffassung der strengen Trennung und so des Vereinscharakters der Versammlung ging auch i n die deutsche Theorie und Praxis von Regierung und Volksvertretung ein. Hatschek zitiert mehrere Belege aus dem Frühkonstitutionalismus 1 8 . Das kam besonders deutlich auch i n der Streitfrage zum Ausdruck, ob die Verfassung oktroyiert werden könne oder ob zu ihrem Wesen die Vereinbarung zwischen Monarch und Volk, repräsentiert durch die Ständeversammlung, gehöre. Die konstitutionelle Theorie nahm das letzte an, wobei sie soweit ging, selbst oktroyierte Verfassungen i n durch konkludente Anerkennung vereinbarte Verfassungen umzudeuten 19 . Sie ging davon aus, daß König und Volk gemeinsam die verfassungsgebende Gewalt innehätten, jeder aus eigenem Recht. Die Verfassung war für diese Lehre Vertrag zwischen Volk und König. Davon gingen zunächst auch die Einberufungen von verfassungsgebenden Nationalversammlungen 1848 durch den Bundestag für den Deutschen Bund, wie durch den König für Preußen aus. Diese nahmen dann allerdings ihrerseits auf Grund der National- oder Volkssouveränität ein Alleinentscheidungsrecht für sich i n Anspruch 20 . Aber auch diese, der französischen von 1789 entsprechende Auffassung stellte die Nation dem Monarchen gegenüber. I n jedem Fall waren das Volk und die dieses zur Darstellung bringende Versammlung m i t eigenen, subjektiven nichtstaatlichen Rechten ausgestattet. Es hatte eigene Rechtsmacht. Die Versammlung konstituierte sich, indem sie sich die Geschäftsordnung und die definitiven Organe gab 21 . Das war eindeutig für die verfassungsgebende, übertrug sich aber auch auf die gesetzgebende Versammlung. Gemäß dem bis 1918 geltenden monarchischen Prinzip war der Monarch Träger, Inhaber der Staatsgewalt. Die Kammern hatten lediglich M i t w i r kungsrechte, oft nicht sehr weitgehender A r t , und waren bis 1918 i n Einberufung, Auflösung, oft auch Organisation vom Monarchen abhängig 2 2 . Ihre wenigen Rechte beruhten auf Konzessionen der Monarchen. 17
Mohl: Auffassung S. 40. Parlamentsrecht S. 34 f. 19 Huber: Verfassungsgeschichte I S . 318. 20 Huber: Verfassungsgeschichte Bd. 2, S. 619 ff. und S. 585. 21 Hatschek: Parlamentsrecht S. 35. 22 I m einzelnen Huber: Verfassungsgeschichte I S. 343 f.; K. F. Arndt: schäftsordnungsautonomie S. 19 ff. 18
Ge-
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Aber das war nur eine Seite; denn diese Position wurde von den K a m mern gerade nicht akzeptiert. Sie behaupteten immer, eigene Rechte zu haben, aus eigener Rechtsmacht des repräsentierten Volkes zu handeln, die der Monarch einschränkte. Der Korporationsgedanke war die Basis für die Forderung nach Selbstkonstituierung, Autonomität 2 3 . Durch die erwähnte Umdeutung i n vereinbarte Verfassung wurde diese Auffassung verfassungstheoretisch begründet 24 . M o h l zieht daher ausdrücklich den Vergleich der deutschen Verhältnisse, die sich auch m i t der preußischen Verfassung nicht geändert haben, m i t den französischen: „Über die Thatsache der allgemeinen Annahme des französischen Dogmas von der scharfen Trennung der Regierungsgewalt und des Rechtes der Ständeversammlungen kann kein Zweifel obwalten. I n sämtlichen seit 1815 entstandenen deutschen Verfassungsurkunden ist die Vereinigung der gesammten Staatsgewalt i n den Händen des Fürsten, so wie die Beschränkung der Stände auf Beschwerden nach vollzogener und auf ausnahmsweise Zustimmung zu Gesetzen, Steuerumlagen und etwa Verträgen m i t den unzweideutigsten Worten ausgesprochen 25 ." Nicht Rechte aus Innehabung der Staatsgewalt, sondern „der einem Theile oder der Gesamtheit der Unterthanen zustehende Einfluß auf Staatsgeschäfte" w i r d durch die Repräsentanten besorgt 26 . Es fand, wie noch v. Seydel für den Reichstag betonte, keine Nebenordnung zu dem Bundesrathe statt: „Der Reichstag besitzt ebensowenig wie ähnliche Versammlungen i n den Bundesstaaten eine Herrscher- oder Amtsgewalt über die Reichsangehörigen. Er steht zu dem Bundesrathe ebensowenig i n einem Verhältnis der Nebenordnung, wie der Landtag zum König 2 7 ." Er ist „Organ der Beherrschten gegenüber den Herrscherrn" 28 . Diesen, d. h. den verbündeten deutschen Herrschern, stehen die Hoheitsrechte, d. i. aber die Staatsgewalt, zu, i n deren Ausübung sie sich durch die Einschaltung des Reichstages als Organ der Beherrschten selbst beschränkt haben. Mitwirkung, Genehmigung, Kenntnisnahme und Überweisung seien die Formen der Beteiligung 2 9 . 23
ζ. B. Zitat bei O. Mayer: Staatsrecht, S. 140 F N 11. Es ist daher m. E. nicht ganz zutreffend, wenn Hub er (Verfassungsgeschichte Bd. 1 S. 653) ausführt, die Rechte oder Gewalt der Kammern sei derivativer, nicht originärer Art gewesen. Das stimmt vom monarchischen Prinzip, nicht aber von der konstitutionellen Theorie her. Was aber „galt", ist angesichts des scharfen Gegensatzes nicht zu sagen. 25 Auffassung S. 50. 26 Gedanke S. 8 f. 27 Seydel: Reichstag S. 352. 28 Reichstag S. 358. Es ist also nicht zutreffend, wenn Meyer-Anschütz meinen, mit dem Frühkonstitutionalismus habe sich die repräsentative Versammlung aus einer Korporation mit subjektiven Rechten in ein Organ mit staatlichen Funktionen verwandelt; Meyer-Anschütz: Lehrbuch S. 329 f. Das trat erst später ein. 29 Reichstag S. 356 f.; ders.: Commentar, S. 192. 24
§ 3 Der Rechtscharakter des Bundestages
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3. Aber noch vor 1848 hatte v. Rotteck bereits begonnen, die Auffassung der gegenständlichen Teilung der Staats- oder politischen Gewalt aufzugeben, und eine Verteilung zur Ausübung auf verschiedene Organe vertreten. Die Organe sind Teilnehmer der Ausübung der Gewalt, deren Funktionen er nicht jeweils einem, sondern mehreren Organen zuweist. Allerdings finden sich bei i h m noch Ausdrücke wie „Persönlichkeit" für die Volksvertretung. Er spricht auch teilweise von „Innehabung" einzelner Gewalten durch die Persönlichkeiten 30 . Die Teilung ist eine „subjective" zwischen den beiden „Persönlichkeiten". Aber der Gedanke der i m Gesamtwillen der Nation ruhenden Einheit der Staatsgewalt, die nur zur Ausübung den Persönlichkeiten überwiesen wird, beginnt Gestalt anzunehmen. Das Gegenüber beginnt bei Rotteck i n ein Nebeneinander überzugehen. I n der Staatslehre des Spätkonstitutionalismus setzt sich die Lehre von der Organeigenschaft des Reichstages als herrschende Lehre durch 31 . Die Lehre von dem Körperschaftscharakter w i r d ausdrücklich, insbesondere von Meyer-Anschütz und Jellinek zurückgewiesen. Meyer-Anschütz ordnen aber noch „der Gesamtheit der Staaten" die Trägerschaft der Reichsgewalt zu 3 2 . Von Laband w i r d noch die Meinung vertreten, der Reichstag habe nicht einen Teil der Staatsgewalt zur Ausübung erhalten, sondern Kaiser und Bundesrath seien bei der Regierung an Zustimmung bzw. Kontrolle des Reichstags gebunden 33 , obwohl Subjekt, d. h. Träger der Reichsgewalt, das Reich, also der Staat selbst ist 3 4 . Hier liegt ein Widerspruch, auf den Jellinek zu Recht aufmerksam macht 3 5 . Denn Voraussetzung für die Ansicht, der Reichstag sei Organ, ist die Aufgabe der Lehre, der Monarch sei allein Träger der Staatsgewalt. Träger der Staatsgewalt wird, u m dem Dualismus Monarch — Volk zu entgehen, der Staat selbst 36 . U m den Reichstag als staatliches Organ staatsrechtlich einzuordnen, ist es notwendig, daß seine Akte als solche der staatlichen Gewalt selbst angesehen werden und nicht nur als Akte des „Organs der Beherrschten gegenüber den Herrschern" (v. Seydel); das ist für die 30
Artikel „Constitution", v. Rotteck-W eicker: Staats-Lexikon, 3. Bd., S. 529. v. Rönne: Staats-Recht I,S.237; in der ersten Auflage (unter dem Titel : Das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, Leipzig 1872, S. 162) hatte Rönne nur von einem „Organ der Gesammtheit der Angehörigen des Deutschen Reiches", nicht aber von einem „Organ der Reichsgewalt" gesprochen; Laband: Staatsrecht S. 272 ff.; Meyer-Anschütz: S. 330, 478 ff.; Jellinek: Staatslehre S. 545 f., 582 ff.; A. Arndt: Staatsrecht S. 115. Allerdings finden sich noch einzelne Stimmen, die die staatliche Organeigenschaft mit dem Argument bestreiten. es kämen nur partikuläre gesellschaftliche Interessen im Reichstag zum Ausdruck, dagegen eingehend: G. Jellinek: Staatslehre S. 578. 32 Staatsrecht S. 473. 33 Staatsrecht S. 274. 34 Staatsrecht S. 89 ff. 35 Staatslehre S. 552 Fußnote 2. 36 Außer Laband insbesondere Jellinek: Staatslehre S. 552 ff. 31
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I. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
Staatsrechtstheorie der Gegenwart selbstverständlich, war es aber für die des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht, da sie noch teilweise unter dem Einfluß der konstitutionellen Theorie stand. Nicht subjektive Rechte, sondern staatliche Funktionen, nicht Eigenzuständigkeiten, sondern Wahrnehmungszuständigkeiten machen die rechtliche Stellung des Reichstages als Organ aus, i m Unterschied zu dem ursprünglich auf die Volksvertretung angewandten substantiellen Begriff der Korporation. Zwar sollen durch die Volksvertretung die Vorstellungen, Interessen, Ziele und Zwecke der Vertretenen verwirklicht werden. Aber der substantielle Korporationsbegriff ist doch nicht mehr anwendbar, da nicht eigene substantielle „Gewalt" der Gesellschaft einer anderen, der des Monarchen gegenübergestellt wird. Schon der Reichstag der Weimarer Republik und nunmehr auch der Bundestag werden auch von den Verfassungsgesetzen als Organe bezeichnet. Sie üben den Teil der ihnen zugewiesenen einheitlichen Staatsgewalt gemäß ihren Wahrnehmungszuständigkeiten aus 37 . 4. Aber die Innehabung von eigenen subjektiven Rechten oder Eigenzuständigkeiten ist für den Begriff der Körperschaft i m allgemeinen organisationsrechtlichen Sinn nicht maßgeblich. Es gibt auch nicht-rechtsfähige Körperschaften, denen nur organisatorische Rechtssätze zugeordnet sind 3 8 . Der Körperschaftsbegriff bezeichnet eine gewisse organisatorische Struktur i m Unterschied zu anderen. „Körperschaft ist", i n der Definition von Wolff, „die organisatorische Zusammenfassung einer kraft Zurechnung willens- und handlungsfähigen Personenmehrheit die — unabhängig vom Wechsel der einzelnen Mitglieder — eine rechtliche Einheit bildet" 3 9 . Schwierig ist es, die Personenmehrheit zu bestimmen, der zugerechnet wird. Diese können auch als die „Träger" der Körperschaft bezeichnet werden; denn Träger sind nach Wolff diejenigen, denen die „Wirksamkeit der Organisation rechtselementar zuzurechnen ist", oder „deren Willen durch sie und i n ihr zur Geltung k o m m t " 4 0 . Rechtstechnisch w i r d das Handeln der Abgeordneten des Bundestages nicht ihnen selbst, sondern der Bundesrepublik zugerechnet, da sie als Organwalter des 37 Kelsen (Hauptprobleme S. 4465 ff.) bestritt die Organqualität der Legislative überhaupt, des Monarchen wie des Parlamentes, da es mit den Mitteln und „in den Grenzen streng juristischer Konstruktion nicht möglich ist, die Erzeugung des Staatswillens als Funktion der Staatsperson aufzufassen". Der Gesetz gebungsprozeß sei „sozialer Natur". Diese Lehre hat Kelsen später, wenn auch nicht ausdrücklich, aufgegeben, wenn er in der Staatslehre (S. 263) unter anderen auch die Volksvertretung als Erzeugungsorgan behandelt, da mit der Lehre von der Einheit von Staat und Rechtsordnung und der Stufenfolge der Rechtserzeugung auch die Gesetzgebung in den Bereich des Rechtes als eine Rechtserzeugungsstufe einbezogen worden war. 38 Wolff: Verwaltungsrecht I I §§ 71 I I I c, 84 I I I a. 39 Wolff: Verwaltungsrecht I I 3 § 84 I I a 1. 40 Wolff : Verwaltungsrecht I I 3 § 71 I I I b.
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Organs Bundestag handeln. Die Bundesrepublik ist insoweit Träger des Bundestages als Organ. Die Bundesrepublik wiederum hat das Volk oder die Staatsbürger als Träger. Ihnen w i r d das Handeln des Bundestages letzten Endes zugerechnet. Aber die Staatsbürger sind nicht die M i t glieder des Bundestages. Als solche kommen nur die Abgeordneten i n Frage. Ihr Wille kommt auch tatsächlich zunächst i m Bundestag und durch ihn zur Wirkung. Dabei ist es unerheblich, daß es ein sozialrepräsentierender Wille ist. A u f diesen tatsächlich zur Geltung kommenden Willen allein kann es für die Bestimmung der Trägerschaft einer Körperschaft nur ankommen. Wenn auch die Zurechnung bei den Abgeordneten i n bezug auf den Bundestag als Verfassungsorgan nicht haltmacht, so w i r d die W i r k samkeit des Bundestages zunächst und unmittelbar rechtselementar doch ihnen zugerechnet. Die Organwalter des Bundestages sind somit zugleich Träger der Körperschaft 41 . Die Kollegialorgane unterscheiden sich von den anderen Arten der Körperschaften 42 vor allem dadurch, daß sie keine eigenen, gemeinsamen Angelegenheiten, sondern die der Organisation wahrnehmen, der sie angehören. Ihre „Angelegenheiten" sind ihre Wahrnehmungszuständigkeiten, nicht Eigenzuständigkeiten. Der Bundestag hat gemäß A r t . 40 GG allerdings die Geschäftsordnungsautonomie erhalten, das Recht also, sich selbst und die Erledigung seiner Arbeit, d. h. die tatsächliche Wahrnehmung seiner staatlichen Wahrnehmungszuständigkeiten selbständig regelhaft zu organisieren. I n diesem Selbstorganisationsrecht oder dieser Geschäftsordnungsautonomie hat er eine Eigenzuständigkeit als Körperschaft. Was das für das i n dieser Zuständigkeit ergehende Geschäftsordnungsrecht bedeutet, ist oben erörtert worden 4 3 .
I I . Der Grundsatz der Diskontinuität 1. Als Organ ist der Bundestag vom Wechsel seiner Organwalter unabhängig 44 . Er ist institutionalisiertes Subjekt seiner Zuständigkeiten. Er ist also kontinuierlich und identisch, auch über die Beendigung der Wahl41 Die vorstehenden nur andeutenden Bemerkungen zum Begriff der Trägerschaft zeigen seine Problematik innerhalb einer verschachtelten Organisation. Sie ist relativ je nach der Fragestellung und auch abgestuft. 42 Wolff unterscheidet nach den Bedingungen der Mitgliedschaft außerdem Gebiets-, Real-, Personal- und Bundkörperschaften, Verwaltungsrecht I I § 84 I I I d. 48 Oben § 2 S. 42 f. 44 Wie hier v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. I I I 5 b S. 900 f. mit Verweisen auf BVerfGE 4,192. Anders Achterberg (Grundzüge S. 21 und 27), der in der Wahl der Abgeordneten und deren Wahlannahme die Bildung und in dem Ende der Wahlperiode die Beendigung des Parlamentes als Organ sieht. Demgegenüber komme dem Parlament als „verfassungsrechtlich vorgesehener Institution" Dauerunabhängig vom Organwalterbestand zu. Achterbergs Dar-
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Perioden hinaus. Trotzdem hat sich der aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie stammende Grundsatz erhalten, daß alle Vorlagen m i t Ausnahme der Petitionen, die zum Zeitpunkt des Endes der Wahlperiode vom Bundestag nicht erledigt sind, verfallen, gleichgültig i n welchem Stadium sie sich befinden. Sie dürfen i n der neuen Wahlperiode nicht mehr behandelt werden, wenn sie nicht formell neu eingebracht werden. Die Behandlung muß dann auch von vorn beginnen. Hergeleitet w i r d diese sachliche Diskontinuität gerade aus der persönlichen Diskontinuität 4 5 . Eine derartige sachliche Diskontinuität gilt für kein anderes Organ 4 6 . Sie stellt erhebliche praktische Probleme, insbesondere für die Gesetzgebung, bei der wichtige und komplizierte Vorhaben oft nicht i n einer Legislaturperiode zu Ende gebracht werden können, und alle Arbeit dann oft vergebens war und wiederholt werden muß. Das scheint heute nicht mehr sinnvoll. Aber die Diskontinuität hat auch erhebliche theoretische Probleme zur Folge. Denn sie stellt die Organkontinuität und -identität geradezu i n Frage, wie auch die allgemeine wenn auch unkorrekte Redeweise vom ersten, zweiten etc. Bundestag anzeigt. Die Kontinuität des Organs aber besteht nicht u m seiner selbst willen, sondern u m der Dauer und damit der Stabilität der staatlichen Organisation willen, die erst dadurch i n die Lage versetzt wird, die langfristigen Probleme und Aufgaben kontinuierlich zu lösen. I m Wandel des Grundsatzes der Diskontinuität und seiner Begründung w i r d der Wandel der Stellung des Repräsentativvorgangs vom reagierenden zum agierenden Staatsorgan besonders deutlich. Deshalb sei auch ausführlicher darauf eingegangen. 2. Der Grundsatz der sachlichen Diskontinuität stammt nach seinem Inhalt und seiner Ausgestaltung aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie 47 . Dort galt er jedoch für die Sitzungsperiode, nicht für die legungen an diesem Punkt leiden unter einer erheblichen Unklarheit der Terminologie, die nirgendwo näher erläutert wird. 45 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. I I I 5 b S. 899 f. mît Verweisen; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 17, S. 39/7: Schweiger: Diskontinuität; Scheuner: Nutzen; Trossmann: Parlamentsrecht S. 246; wohl auch Wolff (Verwaltungsrecht I I 3 § 75 I d 2), der von „Diskontinuität der W i l lensbildung" spricht. Gegen die Geltung dieses Grundsatzes hat sich, soweit zu sehen ist, nur ausgesprochen K. Müller: Gesetzgebung. Gegen den Ausdruck „persönliche Diskontinuität": Achterberg: Grundzüge S. 29. Er unterscheidet formelle und materielle Diskontinuität. Unter der ersten versteht er die Beendigung des Parlamentes, der Tätigkeit seiner Organe und seiner Organwalter. Die Unterscheidung von persönlicher Diskontinuität unter Fortbestand des abstrakt-institutionellen Organs stifte nur Verwirrung. Das Gegenteil ist aber der Fall. Nicht die Unterscheidung verschiedener Gegenstände verwirrt, sondern deren Vermischung. 48 Weder der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten noch eine Regierungsneubildung unterbricht den Gesetzgebungsprozeß. 47 Er wird sogar auf die ständestaatliche Tradition zurückgeführt, Scheuner: Nutzen S. 511; eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Wolfensberger: Diskontinuität S. 13 ff. Sie ist zwar in vielen Punkten bedenklich. Er weist aber zu Recht darauf hin, daß die durch den Landtagsabschied herbeigeführte Dis-
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Legislaturperiode als solche. Er wurde unbefragt i n das Staatsrecht der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik und von dort i n das der Bundesrepublik übernommen und nur von den — entfallenen — Sitzungsperioden auf die Legislaturperioden übertragen 48 . Er fand sich nie als formelles Verfassungsrecht irgendwo niedergelegt, sondern erschien schriftlich formuliert zum ersten M a l 1851 i n der Geschäftsordnung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtages. Aber auch diese Fixierung wurde nicht als Neuschöpfung verstanden, sondern als bloße Kodifikation bereits bestehenden Rechts 49 . Sie galt der Abwehr von Versuchen, zwischen 1851 und 1853 i m Abgeordnetenhaus die Diskontinuität zugunsten einer Kontinuität zu durchbrechen. Gegenwärtig enthält § 126 GO BT eine entsprechende Vorschrift. 3. Der rechtliche Charakter der sachlichen Diskontinuität ist umstritten. Einigkeit besteht i n zweierlei Hinsicht. § 126 GOBT hat nach einhelliger Auffassung keine konstitutive, sondern nur deklaratorische W i r kung. Die sachliche Diskontinuität w i r d vielmehr allgemein als Gewohnheitsrechtssatz angesehen 50 . Die Frage aber ist, ob dieser dem Verfassungsrecht zugehört oder nicht. Die erstgenannte Auffassung ist die ältere. Sie stammt aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Sie hatte aber damals ihren Grund darin, daß die Diskontinuität auf das verfassungsmäßig garantierte Recht des Monarchen gegründet war, die Volksvertretung zu berufen und zu schließen 51 , wobei i m übrigen zwikontinuität der Ständeversammlungen eine rein natürliche und selbstverständliche „war". Denn die Ständeversammlungen wurden aus besonderen Anlässen zur Erledigung bestimmter Angelegenheiten einberufen. I m Landtagsabschied wurde deren Erledigung kundgetan. Zudem war die rechtliche Stellung der Ständeversammlungen eine ganz andere. Gerade deswegen ist aber die Rückführung der Diskontinuität in jenes ganz anders geartete Staatsrecht höchst fragwürdig. I n der englischen Entwicklung sieht er das „missing link" zwischen der deutschen ständestaatlichen und konstitutionellen Entwicklung, S. 40. Die englische Entwicklung ist eingehend dargestellt von Hatschek: Englisches Staatsrecht I, S. 333 - 363. 48 Anschütz: Kommentar Art. 24 Anm. 8, S. 193: „Gewohnheitsrecht, welches, da es durch die Eigenart des alten Staatsrechts nicht spezifisch bedingt war, unbedenklich als weitergeltend anzusehen ist." 49 So hatte vorher schon Robert v. Mohl (Staatsrecht S. 597) im Jahre 1840 den Abbruch aller Geschäfte durch die Entlassung des Landtages dargetan. Zu den Vorgängen in Preußen 1851 - 53 v. Rönne: Staatsrecht 1. Bd. 1. Abt. S. 165, Fußnote 1 und 2. Abt. S. 308, Fußnote 3. Dazu auch den Kommissionsbericht Aktenstück Nr. 18 der Zweiten Kammer, Sten. Ber. über die Verhandlungen, Session 1850/51, Zweite Kammer, Dritter Band, Anlagen, Berlin 1851, S. 146. 60 Einen ausführlichen Versuch der Begründung gibt: Wolfensberger: Diskontinuität S. 50 ff. Er sieht darin im Anschluß an Hatschek (Parlamentsrecht S. 25) „ein aus Organisationsparallelismus erwachsenes konstitutionelles Gewohnheitsrecht" (S. 57 ff.), obwohl er i. a. vom „Brauch der Diskontinuität" spricht (z. B. S. 51, 72). 51 So u. a. auch Wolfensberger: (Diskontinuität S. 2) und vor allem bei der Darstellung des den „Organisationsparallelismus" begründenden englischen Staatsrechts vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, S. 25 ff.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
sehen sachlicher und persönlicher Diskontinuität nicht unterschieden wurde bzw. die letztgenannte gar keine Rolle spielte 52 . Sie galt also gerade nicht als Gewohnheitsrecht 53 . Die Übernahme in die Weimarer Verfassung konnte sich darauf nicht berufen, sie also nicht i n dem formellen Verfassungsgesetz selbst verankern 5 4 . Erst seit 1919 setzte sich überhaupt die These, es handele sich u m Gewohnheitsrecht, durch. Anschütz verwarf dann auch konsequent den verfassungsrechtlichen Charakter, wobei er nur von dem Verfassungsgesetz ausging 55 . I h m folgt i n der Gegenwart Klein 5 8 . Aber Hatschek 57 und i h m folgend verschiedene Autoren der Gegenwart 5 8 rechnen ihn nach wie vor dem Verfassungsrecht zu. Der Reichstag zwischen 1919 und 1933 und der Bundestag haben nicht eindeutig Stellung bezogen und die verfassungsrechtliche Qualität als Rechtsproblem nicht entschieden. U m aber Zweifel zu vermeiden, hat der Reichstag der Weimarer Republik den Rechtssatz i n einem Falle, u m die Weiterbehandlung der Strafrechtsreform zu erreichen, durch m i t verfassungsändernder Mehrheit angenommenes Gesetz durchbrochen 59 . I m Zuge der gegenwärtigen Strafrechtsreform tauchte die Frage wiederum auf, nachdem ersichtlich wurde, daß der Regierungsentwurf von 1962 i n der vierten Wahlperiode nicht mehr abschließend beraten werden konnte. I n einem internen Gutachten des Sonderausschusses Strafrecht wurde auch hier ein verfassungsänderndes Gesetz vorgeschlagen, u m die Weiterbehandlung i n der fünften Wahlperiode ohne neue formelle Einbringung zu ermöglichen 80 . Eine gewisse Stützung dieser Ansicht versucht Maunz dadurch, daß er das Diskontinuitätsprinzip aus „dem Prinzip der sich periodisch erneuernden Repräsentation (Art. 20 I I Satz 2, 38 I Satz 1; 39 I Satz 1) herleiten w i l l " 8 1 . Allerdings spricht A r t . 79 GG nur von Änderungen „des 52
I m einzelnen unten S. 61 ff. a. A. wohl nur Meyer-Anschütz: Lehrbuch S. 360 Fußnote 11, dagegen aber ausdrücklich A. Arndt: Kommentar zur Reichsverfassung von 1871, zu Art. 24. 54 Das übersehen Hatschek (Staatsrecht I S. 410), der sich auf die Bismarksche Verfassung beruft, und Trossmann (Parlamentsrecht S. 247 ff.), wenn er sich auf die aHe Rechtsanschauung zur Begründung der verfassungsrechtlichen Qualität des Rechtssatzes der sachlichen Diskontinuität bezieht und meint, die Rechtsanschauung habe sich nicht nur nicht geändert, sondern es habe auch gar keine Veranlassung dazu bestanden. 55 Kommentar Art. 24 Anm. 8, S. 193. 56 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. I I I 5 b, S. 899; ebenso: Groß: Entwicklung S. 114. 57 Staatsrecht I S. 410. 58 Außer Trossmann auch Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 17, S. 39/7; Schweiger: Diskontinuität S. 162. Unklar Achterberg: (Grundzüge S. 30), der für das Intraorganverhältnis die Frage als „Scheinproblem" abtut, im übrigen aber den Verfassungsrechtscharakter bejaht. 59 Gesetz zur Fortführung der Strafrechtsreform v. 31. 3.1928 (RGBl I S. 135): „Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen,..., nachdem zur Vermeidung von Zweifeln festgestellt wird, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind." 60 Sonderausschuß Strafrecht, Hausdrucksache 9800/1964, S. 10 ff. 61 Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 16, S. 39/7. 53
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Grundgesetzes", also des Verfassungsgesetzes. Die Lösung der Frage sei hier zunächst dahingestellt. Gegen die Fortgeltung der sachlichen Diskontinuität wendet Müller folgendes ein 6 2 . Er sieht unter Berufung auf die ältere Literatur und die ältere Praxis ihren Ursprung i n dem Recht des Monarchen des konstitutionellen Staatsrechts, die Repräsentationsorgane zu Sitzungsperioden zu berufen und zu schließen. A n diese Schließung der Sitzungsperioden knüpfe die Diskontinuität an. I m übrigen sei die Abhängigkeit der Kammer von dem Schließungsrecht des Monarchen ein M i t t e l gewesen, um zu verhindern, daß der Landtag als permanentes zweites Staatsorgan sich neben dem König etabliere. Durch die Diskontinuität habe der Monarch die Möglichkeit gehabt, die Gesetzgebungsarbeit des Landtages einzuschränken, wenn es i h m politisch opportun geschienen habe. Das Notverordnungsrecht gemäß A r t . 63 pr. Verf. sei nicht schwer zu konstruieren gewesen. Ein Gewohnheitsrecht habe sich aus dieser Rechtslage bis 1919 nicht gebildet; denn die Diskontinuität sei m i t Verfassungsrang für die Sitzungsperioden aus dem Recht des Monarchen der Einberufung und Schließung der Kammer gefolgt. Das Ende der Legislaturperiode durch Ablauf oder Auflösung sei gleichzeitig ein solches der Sitzungsperiode gewesen, die für sich bereits die Diskontinuität zur Folge gehabt habe. Diese Voraussetzungen des Diskontinuitätsprinzips hätten sich m i t der Verfassung von 1919 geändert. Die Sitzungsperioden des Reichstages seien tatsächlich entfallen. Der Reichstag habe das Selbstversammlungsrecht besessen. A n die Sitzungsperioden hätte daher die Diskontinuität nicht mehr anknüpfen können, sondern nur noch an die Legislaturperiode. Müller w i l l auf die Legislaturperiode die Diskontinuität deshalb nicht übertragen, weil die Stellung der Parlamente sich durch das Selbstversammlungsrecht entscheidend verändert habe. Sie hätten zudem eine größere Machtfülle gegenüber der Regierung als früher erhalten. Als Verfassungsrecht habe es die Diskontinuität 1919 daher nicht mehr gegeben. Gewohnheitsrecht habe sich seitdem nicht gebildet, da sich auch eine entsprechende Verfassungsübung nicht contra principia constitutionis durchsetzen könne. Grundlage sei weder Verfassungs- noch Gewohnheitrecht, sondern lediglich § 126 GOBT. Der Bundestag könne, aber müsse nicht alle alten Vorlagen ex ovo erneuern. 4. Müller hat zutreffend erkannt, daß die Schließung der Volksvertretung durch den König die Diskontinuität begründet, dieses Faktum jedoch unzulänglich interpretiert. Die Schließung führte, wie durch zahlreiche 62
K. Müller: Gesetzgebung S. 506 - 508.
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Stellen von Coke bis Hatschek zu belegen ist, zum Ende der Volksvertretung als Korporation i n dem dargelegten konstitutionellen Sinn. Lord Coke erklärt: „For every several session of parliament is i n law a several parliament" 6 3 . Robert v. Mohl sagt, durch die Entlassung, nicht erst durch die Auflösung, werde „der Landtag beendigt" 6 4 , v. Rönne sieht i n der Schließung des Landtages den Verlust der „kollegialen Eigenschaft" der Kammern 6 5 . Thudichum vertritt die Ansicht, „der Reichstag hört als Corporation auf zu bestehen", wenn er geschlossen w i r d 6 6 . Hatschek faßt die Praxis des preußischen Abgeordnetenhauses dahin zusammen, „jede neu zusammentretende parlamentarische Körperschaft, sei es daß sie nach Schluß einer Legislaturperiode oder nach Schluß einer Session zusammentritt, konstituiert sich von neuem". Mag dieser Satz noch zweifelhaft sein, so bringt doch der folgende klar zum Ausdruck, daß die „neu zusammentretende parlamentarische Körperschaft" eine „neue Körperschaft" ist, denn es heißt: „Jede so durch Konstitutionsakt festgelegte Geschäftsordnung gilt nur für die Dauer der parlamentarischen Körperschaft, welche sich auf die Weise neu konstituiert hat. Also ev. für die Dauer der Legislaturperiode oder einer Session 67 ." Außer den genannten Ausführungen von Gneist 6 8 bestätigen das auch Ausführungen, die Friedrich Julius Stahl als Mitglied des Herrenhauses machte. Er sah nur den König als permanenten Faktor der gesetzgebenden Gewalt an: „Jeder andere Faktor der Gesetzgebung entsteht und vergeht unaufhörlich 6 9 ." Auch bei 63 Institutes of the Laws of England I V , p. 27 zitiert bei Hatschek : Englisches Staatsrecht, 1. Band S. 333 Fußnote 1. Darauf hat sich auch ausdrücklich Rudolf von Gneist berufen, als im preußischen Landtag 1862 im Zusammenhang mit dem Verfassungskonflikt die Frage zur Debatte stand, ob durch die Auflösung des Abgeordnetenhauses auch die Diskontinuität des Herrenhauses herbeigeführt werde (Drs. 84, Sten. Ber. der Sitzungsperiode 1862/63, Haus der Abgeordneten, 6. Bd. Anlagen, S. 627 - 637). Es war in diesem Zusammenhang, daß Gneist die Existenz eines europäischen konstitutionellen Staatsrechts behauptete. Der Anlaß der Auseinandersetzung zwischen Herrenhaus, das seine Kontinuität behauptete, und Abgeordnetenhaus, das dessen Diskontinuität vertrat, zeigt im übrigen die politischen Bedeutung des Grundsatzes. Es ging um das Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit. Die zweite Kammer wollte es in der vom Herrenhaus vor der Auflösung vom März 1862 beschlossenen Fassung nicht annehmen, scheute sich aber wohl, den Konflikt zu verschärfen und wich daher auf diese Frage aus. 64 Staatsrecht S. 597. 65 Rönne: Preußisches Staatsrecht, 1. Band, 2. Abt. S. 308. ββ Thudichum: Verfassungsrecht, S. 163. 67 Parlamentsrecht S. 37. 68 Zwar waren sie aus Anlaß der Auflösung des Abgeordnetenhauses gemacht, bezogen sich aber auf das Herrenhaus, das nicht aufgelöst worden war; aber dessen Session war durch die Auflösung der zweiten Kammer beendet. Deutlicher war v. Rönne, der in einem Gutachten zur selben Frage ausdrücklich die Ansicht vertrat, das Herrenhaus höre als „Körperschaft" zu existieren auf, wenn auch die es bildenden Personen vorhanden seien, siehe die in Fußnote 63 zitierte Drucksache. 69 Sten. Ber. über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 13. November 1852 einberufenen Kammern, Erste Kammer, Erster Band,
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Stahl bezog sich diese Äußerung auf die Session. Wenn das Ende der Legislaturperiode, sei es durch Ablauf der Wahlperiode, sei es durch Auflösung, stärker i n den Blick kam und zum Anknüpfungspunkt wurde, bewirkte sie doch nur ein Hinausschieben der Diskontinuität der Körperschaft als solcher. Gneist sprach i n Anlehnung an Blackstone von „natürlichem" bzw. von „bürgerlichem Tod" des Parlaments durch Beendigung der Legislaturperiode bzw. durch Auflösung 7 0 . Eine Kontinuität des Organs als solchem war auch für die Vertreter dieser Richtung nicht gegeben, ja noch u m so weniger. Die Vorlagen werden nur bei der jeweils berufenen und neu konstituierten Versammlung oder nach der Mindermeinung allenfalls bei der jeweils neu gewählten Körperschaft eingebracht und werden m i t ihrem Ende durch die Schließung oder durch das Ende der Legislaturperiode bzw. die Auflösung notwendigerweise hinfällig. Nicht also die Schließung oder die anderen Ereignisse selbst, sondern das damit eintretende rechtlich bewirkte tatsächliche Ende der Versammlung, der Verlust der „kollegialen Eigenschaft", der i n der damaligen Terminologie sogenannte „natürliche" oder „bürgerliche Tod", bewirken den Verfall der Vorlagen. Folgerichtig wurden seinerzeit alle Vorlagen hinfällig, auch die Petitionen, die gem. § 126 GOBT heute von der sachlichen Diskontinuität ausgenommen sind. Diesen eigentlichen Kern der Schließung hat Müller übersehen. Aber auch Scheuner spricht i h n nicht an. Jedoch gerade die von i h m betonte Fortführung der alten ständischen Tradition i m Konstitutionalismus bestätigt sie. Müller hebt weiterhin darauf ab, die Diskontiuität sei ein M i t t e l der Krone gewesen, die Wirksamkeit der Volksvertretungen zu beschränken. Diese Darstellung meint etwas durchaus Zutreffendes. Es galt bis zu Laband der Grundsatz, daß die Volksvertretungen nicht an der Staatsgewalt Anteil hatten, sondern die Träger derselben, nämlich die Monarchen, nur kontrollierten und sie i n der Ausübung der Staatsgewalt beschränkten 71 . Bestimmte Zuständigkeiten, ζ. B. das eigene Initiativrecht der Mitglieder des Reichstages bei der Gesetzgebung, standen dazu i n einem gewissen Widerspruch, und Georg Jellinek lehnte diese These zu Recht schon für den Reichstag des Kaisserreiches ab. Aber sie war herrschend. Das ausschließliche Recht des Monarchen der Berufung und Schließung stützte sie. I n der Tat war es eine Zeit des Übergangs. Die vorherrschende Grundhaltung war noch immer, daß die Volksvertretung auf Fragen der Exekutive „antwortete", daß jene nicht eigentlich selbständig handelte, sondern immer nur auf Anregung der Exekutive. Die Exekutive war verpflichtet, i n vielen Fällen, insbesondere i n der Gesetzgebung, die Mitwirkung, die Übereinstimmung m i t den Volksvertretungen herbeizu56. Sitzung v. 4. M a i 1853 S. 1002. Auf Stahl beruft sich später Georg Jellinek: Staatslehre S. 346 Fußnote. 1. 70 Oben Fußnote 63. 71 Dazu oben S. 55f.
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führen. Aber die Funktion der Volksvertretungen bestand i n der Reaktion, nicht der Aktion. Die Exekutive, also die Regierung, als Organ war nicht von der Volksvertretung und deren Vertrauen abhängig. Auch das ist zu bedenken. I n diesem System war es nur folgerichtig, daß die Schließung des Reichstages oder der anderen Volksvertretungen durch die Exekutive alle Vorlagen hinfällig werden ließ. Denn die Schließung erfolgte ja nach dem Willen der Exekutive, die dabei auch davon ausging, daß die für sie wichtigen Angelegenheiten erledigt waren bzw. daß sie die sie nicht oder nicht mehr interessierenden Vorlagen durch die Schließung abwürgen wollte. Durch die Pflicht, i n bestimmten Zeiträumen, oft zu bestimmten Tagen die Volksvertretungen einzuberufen, entfiel zwar das Ermessen der Exekutive, die Volksvertretungen nicht wie i n ständischer Zeit die Ständeversammlungen nur zur Erledigung bestimmter Angelegenheiten und jeweils neu zu berufen. Aber es blieb dabei, daß die von der Volksvertretung unabhängige Exekutive die Steuerungsfunktion hatte 7 2 . 5. Seit 1919 sind beide Voraussetzungen entfallen. Schon der Reichstag wurde ein kontinuierliches Organ, dessen Organwalter zwar i n gewissen, meist regelmäßigen Zeitabständen neu bestellt werden mußten, das aber als solches Kontinuität bewahrte 7 3 . Das gilt, wie dargelegt, auch für den Bundestag. Die ausschließliche Zuständigkeit des Reichstages und nunmehr des Bundestages zum Gesetzesbeschluß macht aus der M i t w i r k u n g an der Entscheidung die Entscheidung selbst. Trotzdem w i r d an der sachlichen Diskontinuität des Bundestages festgehalten; sie w i r d nunmehr aber eindeutig nur an die persönliche Diskontinuität der Organwalter gebunden. Man hat sie fraglos übernommen, wie die oben zitierte Bemerkung von Anschütz zeigt 74 . Wie bereits Müller dargelegt hatte und hier präzisiert wurde, ist die dort zum Ausdruck gekommene Auffassung von Anschütz nicht zutreffend 75 . Aber Theorie und Praxis haben übereinstim72
Der enge Zusammenhang der Diskontinuität mit dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie kommt ganz deutlich in der Dissertation von Wolfensberger zum Ausdruck, der, nachdem dieses Staatsrecht bereits vergangen war, es noch einmal ausführlich darstellt und zu dem Schluß kommt: „Der Grundsatz der Diskontinuität gibt also gewissermaßen den Takt an und kann wie ein Zügel wirken, um das Parlament zu lenken bzw. zum Stillstand zu bringen" (S. 72). Den Zügel hielt der Monarch! Allerdings weist er auch darauf hin, daß die Diskontinuität in verschiedenen Staaten und zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Wirkungen und verschiedene Richtungen der Wirkung gehabt habe (S. 73 f.). 73 Art. 24 W R V sah zwar auch die Unterteilung der Wahlperiode in „Tagungen", gleich Sitzungsperioden, vor, wurde aber nicht praktisch. Der Reichstag tagte in Permanenz. I m Grundgesetz sind nur noch Sitzungen vorgesehen. Die Sommerferien trennen nicht Sitzungsperioden voneinander, sondern nur Sitzungen. 74 Oben Fußnote 48. 75 Hingegen hatte Stahl in der oben Fußnote 69 angeführten Sitzung des Herrenhauses die Kontinuität u. a. mit dem Argument verneint, daß „mit
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mend die Fortgeltung, nunmehr übertragen auf die Legislaturperiode, angenommen. Argumente, die für die Diskontinuität vorgebracht werden, beziehen sich zunächst auf den Bundestag selbst. Ihr Kern ist, daß der Bundestag i n der neuen Zusammensetzung für sein politisches Handeln, für seine Ausübung der Staatsgewalt frei sein soll von nach den Vorstellungen der früheren Organwalter gefaßten Vorschlägen. Es soll i h m die radikale Möglichkeit des völlig neuen Anfangs gegeben werden. Das steht hinter dem Argument, ein Gesetz dürfe nicht „zwei Väter" haben 76 . Auch i n der These, die „neue Körperschaft" (!) solle „das politische Gedankengut, das ihrer Zusammensetzung entspringt, unvermengt m i t altem zur Geltung bringen" 7 7 und nicht m i t „Anträgen belastet werden, die vielleicht gerade auf die parteipolitische Struktur des alten Bundestages zugemessen waren" 7 8 , kommt das deutlich zum Ausdruck. Ganz allgemein w i r d die sachliche Diskontinuität heute m i t der persönlichen Diskontinuität verknüpft 7 9 , sehr i m Gegensatz zur Theorie vor 1919, die diesen Unterschied nicht einmal kannte. Scheuner aber stellt außerdem auch noch darauf ab, daß die neue Regierung, der die Gesetzesinitiative als „ein K e r n s t ü c k . . . leitender, planender, programmierender Bestimmung der Ziele und der Richtung des Staates" zustehe, nicht m i t dem Ballast der früheren Vorlagen belastet sein dürfe 8 0 . Hier erscheint wieder der ursprüngliche Gedanke, daß die Exekutive agiert und die Volksvertretung reagiert. Insoweit geht die Frage nach dem Recht der Behandlung früherer Vorlagen durch die neue Abgeordnetenschaft nicht nur den Bundestag an, sondern m i t diesem Recht werden die Rechte anderer der Permanenz der legislativen Gewalt der Kammern", die „constitutionelle Monarchie in die republikanische Staatsform" übergehe. Ähnlidh argumentierte 1871 der Abg. Windthorst im Reichstag, Sitzung v. 10. M a i 1871, Sten. Ber. S. 641 f. 76 Schweiger: Diskontinuität S. 161; von Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. I I I 5 b. Es hat formell in jedem Fall nur einen Vater, den Bundestag als Organ. Es könnte allenfalls etwas anderes gelten für die Gesetze, die von der einen Abgeordnetenschaft beschlossen worden sind, über die aber die neue Abgeordnetenschaft nach einem Einspruch des Bundesrates oder einem Vermittlungsverfahren erneut zu beschließen hat. Allerdings w i l l Achterberg (Grundzüge S. 29) anscheinend die Diskontinuität dafür, anders als die h. M., nicht gelten lassen. Aber auch hier ist im Auge zu behalten, daß der Bundestag als Organ handelt. Auch in anderen Organen berührt der Organwalterwechsel nicht die „Vaterschaft" der von dem Organ getroffenen Entscheidung. I m übrigen scheint hier die Deutung des Gesetzgebungsverfahrens als Prozeß der Entscheidung durch. Die Schwäche des Arguments selbst leugnet auch Scheuner nicht (Nutzen S. 512). 77 Schweiger: Diskontinuität S. 162 f. 78 Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 17, S. 39/7 Anm. 4 S. 44. 79 Achterberg (ibid.) sieht die Gefahr, daß die Gewissensfreiheit des Abgeordneten beeinträchtigt werden könne, wenn er alte Vorlagen weiterbehandeln müsse. Die formelle Pflicht bindet ihn aber inhaltlich nicht. Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 16 mit Verweisen; Trossmann: Parlamentsrecht S. 246. 80 Nutzen S. 513. 5
Steiger
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Organe verknüpft. Es wurde oben bereits darauf hingewiesen, daß Scheuner anscheinend auch die Organkontinuität verneint. Damit finden sich bei i h m die alten Gründe wieder, wenn auch durch die Anknüpfung an die „neue" Regierung entsprechend abgewandelt, aus denen i n der konstitutionellen Monarchie und vorher die Diskontinuität sich folgerichtig ergab 81 . Da die Organkontinuität bereits hervorgehoben wurde, ist noch das erste Argument auszuräumen. Scheuner nimmt damit allerdings ein Argument auf, das bereits i n der Weimarer Zeit i n anderer, nämlich eher verfassungsdogmatischer A r t vorgetragen worden war. Es wurde die Ansicht vertreten, daß gem. A r t . 68 WRV nur die jeweils amtierende Reichsregierung Vorlagen einbringen könnte 8 2 . So w i r d diese These heute nicht mehr vertreten; so ist auch Scheuner nicht zu verstehen. Es geht sicherlich auch u m die „neue" Regierung. Aber diese selbst ist eine Folge des „neuen" Bundestages. Wäre es anders, müßten alle Vorlagen auch bei einem Regierungswechsel während der Legislaturperiode hinfällig werden. Der Wechsel der Regierung 1966 war, bezogen auf den Inhalt ihrer Politik, wesentlich grundsätzlicher als die Neubildungen der Regierungen 1953, 1957, 1961. Die Regierung ist nicht nur vom Vertrauen des Bundestages abhängig, sie w i r d wie eingehend darzutun ist, aus i h m heraus positiv gebildet und weithin programmatisch festgelegt. Weiterhin ist das Initiativrecht i m Gesetzgebungsverfahren der Mitglieder des Bundestages nicht nur nach der verfassungsrechtlichen Struktur, sondern auch tatsächlich keineswegs die Ausnahme. Die Funktion der Gesetzgebung ist durch die Kernzuständigkeit des Gesetzesbeschlusses dem Bundestag zent r a l zugeordnet. Nicht die „neue" Regierung, sondern die „neue" Zusammensetzung der Organwalter des Bundestages ist zu Recht nunmehr maßgebliches Kriterium. 6. Die Diskontinuität beruht auf dem fortbestehenden Doppelcharakter des Bundestages. Als Repräsentanz und damit als Körperschaft ist auch er am Ende der Legislaturperiode, wenn alle Mitglieder die Mitgliedschaft verlieren, zu Ende, wenn er auch als Organ fortbesteht. Der Grundsatz der Diskontinuität muß diesem Doppelcharakter angepaßt werden. Das bedeutet, daß die Vorlagen, da sie beim Organ Bundestag eingebracht werden, dem die Zuständigkeiten zugewiesen sind, nicht „automatisch 81 Nicht von ungefähr betont er die Kontinuität des Grundsatzes der Diskontinuität seit der Ständezeit gegen K. Müller, der Diskontinuität des Grundsatzes nachzuweisen sucht. 82 Poetzsch-Heffter: Staatsleben JöR 1929, S. 141. Das würde die Diskontinuität der Regierung bedeuten, wie sie im Hinblick auf die Gesetzgebung von v. Rönne sogar für die Krone vertreten wurde, weil alle an der Gesetzgebung beteiligten Organe nur gleichzeitig, eben während der Session handeln könnten. Diese Ansicht ist im Grunde folgerichtig. Daß sie heute nicht mehr vertreten wird, begünstigt die Regierung gegenüber dem Bundestag bei Regierungswechsel während der Legislaturperiode. Es zeigt sich aber vor allem ein mangelndes theoretisches Verständnis der Diskontinuität.
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ihre Erledigung" finden (Maunz), nicht „hinfällig" werden (Klein). Sie bleiben anhängig. Das Organ bleibt m i t den Vorlagen befaßt. Das w i r d auch für die Petitionen allgemein angenommen 83 . Man kann aber nicht den Rechtscharakter des Bundestages je nach Zuständigkeiten und deren Wahrnehmungen spalten 84 . Jedoch w i r d die Verpflichtung zur Erledigung, insbesondere zur Behandlung und Beschlußfassung der Gesetzesentwürfe beendet. Denn nur diese Verpflichtung belastet die neue Abgeordnetenschaft oder neue Repräsentanz. Hingegen kann sie von sich aus auf Grund der aus der fortbestehenden Organzuständigkeit sich ergebenden Berechtigung, diese Vorlagen weiter zu behandeln, diese, wenn sie es w i l l , i n dem Zustand, i n dem sie sich befinden, wiederaufnehmen. Die Kontinuität des Organs und die Stabilität der Organisation ist gewahrt; aber auch der Wechsel der Repräsentanten w i r d v o l l wirksam. A u f Einzelheiten ist i m Rahmen der Gesetzgebung einzugehen, w e i l dort dieser Grundsatz praktisch am bedeutsamsten ist. Der Grundsatz der Diskontinuität bedeutet keinen Abbruch, sondern eine Unterbrechung des Verfahrens zur Behandlung eines Antrages. Er gehört aber notwendig dem Verfassungsrecht an. Die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages genügt nicht, u m i h n zu begründen oder formelles Verfassungsrecht einschränkend auszubilden. Denn der Anspruch etwa der Initiativberechtigten beruht auf A r t . 76 GG. Er kann nur durch Verfassungsrecht, nicht durch Geschäftsordnungsrecht des Bundestages allein 8 5 beseitigt werden 8 6 .
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten I. Organ und Organwalter Handeln kann der Bundestag nur durch seine Organwalter, die Abgeordneten. Sie versehen seine Zuständigkeiten unter seinem Namen. I h m w i r d ihr Verhalten als dem Berechtigungs- und Verpflichtungssubjekt rechtstechnisch transitorisch zugerechnet, und zwar unvermittelt, da sie 83 Trossmann: Parlamentsrecht S. 240. Achterberg (Grundzüge S. 29) verweist zur Begründung auf den Grundrechtscharakter des Petitionsrechts. 84 Das tat aber der Bundestagsabgeordnete Ewers, der die Ansicht vertrat, die Gesetzesvorlagen richteten „sich nicht an den Bundestag als Organ, sondern als gewähltes Parlament", Sten. Ber. 1. Legislaturperiode, 179. Sitzg. v. 6.12. 1951, S. 7460 D. 85 K. F. Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 110 ff. 86 Die Frage der Diskontinuität der Organe und Organteile des Bundestages ist im Gesamtzusammenhang der inneren Organisation des Bundestages zu behandeln, unten § 6.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Mitglieder des Bundestages sind 1 . I m Organwalter hat die organisatorische Zurechnungsstufenfolge staatlicher Willensbildung und Entscheidung ihr bewegendes, tätiges Zentrum. Der Organwalter als physische Person ist der tatsächlich Handelnde, derjenige, der konkret Zuständigkeiten der Juristischen Person Staat wahrnimmt. Als kollegiale Organwalter besorgen die Abgeordneten die „ i m Organ zusammengefaßten Geschäfte der organisierten Vielheit" 2 . Da es sich u m kollegiale Organwalter m i t kongruenten Zuständigkeiten eines kraft „der Einheitsbeziehung der Zuständigkeiten" einheitlichen Kollegialorgans handelt, erscheint der Gesetzesbeschluß, der Kreaktionsakt, der Kontrolloder Gestaltungsakt des Bundestages als vielgliedrige Einheit, ähnlich dem Facettenauge eines Insekts. Die Einheit ist eine rechtlich statuierte. Dieses Verhältnis der Organwalter zu ihrem Organ ist die Grundlage der Rechtsstellung des Abgeordneten. Die teilweise schwierigen Einzelprobleme des Organwalterverhältnisses werden i n den nachfolgenden Erörterungen nur insoweit behandelt, als sie für das Gesamtthema erheblich und vor allem problematisch sind. Maßgeblich für die Rechtsstellung des Abgeordneten ist das Parlamentsrecht; das sind nach Hatschek und K. F. A r n d t die Regeln des Grundgesetzes, einiger Gesetze und vor allem des Geschäftsordnungsrechts, die Organisation und Zusammensetzung des Bundestages bestimmen, seine Funktionen und sein Verfahren regeln und auf die Frage A n t w o r t geben, wie jene Funktionen mittels des bestehenden Verfahrens und der Organisation verwirklicht werden 3 . Zum Parlamentsrecht i m weiteren Sinne gehören auch die Geschäftsordnungen der Fraktionen. Als körperschaftliche Gliederungen des Bundestages4 haben sie eine eigene Rechtssetzungsautonomie 5 . Diese ist aber i m wesentlichen auf die Regelung des fraktionsmitgliedschaftlichen Verhältnisses der Abgeordneten beschränkt. Die i n den Fraktionsordnungen zugunsten einer Fraktionssolidarität des Bundestages enthaltenen Regeln zur Ausübung der Zuständigkeiten durch die Abgeordneten, ζ. B. bezüglich der Antragstellung, der Rede i m Plenum, der Arbeit i n den Ausschüssen, entfalten rechtlich bindende K r a f t für die Fraktionsmitglieder nur insoweit, als sie die Zuständigkeiten über die Regelung des Grundgesetzes und des Geschäftsordnungsrechts des Bundestages hinaus nicht einschränken. So kann die Ausübung des Antragsrechts nicht an die Zustimmung oder Billigung der Fraktion oder eines ihrer Organe gebunden 1 Siehe zum folgenden insbesondere: Wolff : Vertretung S. 224-280; ders.: Verwaltungsrecht I I §§ 73, 74; Rupp: Grundfragen S. 19 - 103. 2 Wolff : Vertretung S. 235. 3 K. F. Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 15; ähnlich auch Achterberg: Grundzüge S. 9. 4 Zum Rechtscharakter der Fraktionen im einzelnen unten § 6 I I . 5 Dazu unten S. 110.
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten
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werden®. Wohl aber erscheint es zulässig, den Abgeordneten zu verpflichten, vor Antragstellung innerhalb der Fraktion einen gewissen Geschäftsgang einzuhalten 7 . II. Das Abgeordnetenamt 1. Als Organwalter haben die Abgeordneten ein öffentliches staatliches A m t inne 8 . Dem Wandel der Volksvertretung vom politischen Verein zum Staatsorgan entspricht also die Wandlung des Abgeordneten vom „Volksvertreter" zum Amtswalter. Organisationsrechtlich ist A m t — ebenfalls normativ — „ein auf einen Menschen bezogener, institutionalisierter Komplex von Wahrnehmungszuständigkeiten" 9 . Es ist, wie das Organ, ideeller Zurechnungspunkt. Als „institutionalisierter" Komplex ist es von seinem jeweiligen Amtswalter oder Amtsinhaber gelöst. I n der Institutionalisierung der Zuständigkeiten i n einem Komplex definieren diese die Aufgaben und Zwecke als objektive Maßstäbe der Amtswaltung, die dem jeweiligen Amtswalter unabhängig von seiner Person zur Verwirklichung aufgegeben sind. Der Amtswalter eines öffentlichen Amtes nimmt nicht seine persönlichen Interessen wahr, sondern die allgemeinen Interessen der politischen, d. h. staatlichen Einheit, zu deren Organisation das A m t gehört und die ihm i n den sachlichen Zuständigkeiten des Amtes zugeordnet sind 1 0 . Dem Amtswalter w i r d jedoch i n der Erfüllung der Aufgaben und Zwecke des Amtes, insbesondere i n dem politischen und daher m i t weitgehendem Ermessen ausgestatteten Abgeordnetenamt ein gewisser Handlungsspielraum eingeräumt. I n diesem Handlungsspielraum w i r d die Persönlichkeit des Amtswalters durchaus für das A m t wirksam. Zwar kommt es darauf an, daß der Amtswalter sein Handeln entsprechend den Erfordernissen des Amtes — soziologisch entsprechend seiner Rolle als Amtswalter — motiviert 1 1 . Aber dadurch w i r d nicht die natürliche, private Persönlich6
Anders Schäfer: Bundestag S. 149. z. B. § 13 AO CDU/CSU-Fraktion, § 5 GO SPD-Fraktion. 8 Art. 48 Abs. 2 GG; h. L. v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 38 Anm. I V 2 mit weiteren Nachweisen; Köttgen: Abgeordnete S. 220; ders.: Amt S. 130 f. und 138; Henke: Recht S. 7 ff. und S. 90ff.; mit unklaren Begriffen: Hennis: Amtsgedanke S. 57 - 7 0 ; Jellinek (System, S. 167), wenn man statt des bei ihm verwendeten Ausdrucks „Organ" „Organwalter" setzt. Das liegt nahe, weil Jellinek selbst den Abgeordneten an anderer Stelle (S. 172 Fußnote 1) als Teilorgan bezeichnet, dann allerdings auch dieses kurzschließend als Organ definiert, weil es an der Bildung des Staatswillens beteiligt sei. a. A. Achterberg (Grundzüge S. 31), der unter „Amt" anscheinend zu eng nur das Amt des Beamten ansieht. 9 Wolff: Verwaltungsrecht I I 3 § 73 I c S. 27; ähnlich: Krüger: Staatslehre S. 256; „Amt als instituierte Zuständigkeit". 10 Wolff : Verwaltungsrecht I I § 73 I c 1. 11 Gerade der Amtscharakter des Abgeordnetenverhältnisses hat für die Abgeordneten daher erhebliche Bedeutung. 7
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
keit zugunsten einer höheren, öffentlichen Persönlichkeit „ausgemerzt", w i r d i h m nicht „die alte Natur" genommen und „eine neue Natur eingepflanzt", wie Krüger es für den Amtswalter für notwendig hält 1 2 . Die A r t und Weise, wie die Abgeordneten ihr A m t ausfüllen, die Zwecke und A u f gaben wahrnehmen, gestaltet letzten Endes die Stellung und Funktion des Bundestages i n der Verfassungsrechtswirklichkeit. Sie bewirken, wie bereits dargetan, unter anderen Faktoren auch den Verfassungsrechtswandel. Die verfassungsrechtliche Untersuchung hat keine Motivationsforschung zu betreiben. Aber sie hat dieses Handeln m i t i n den Blick zu nehmen. 2. Das Abgeordnetenamt als auf die Person bezogener Komplex von Zuständigkeiten, die der Abgeordnete versieht, w i r d bestimmt durch seine Einordnung i n den Bundestag als Kollegialorgan und dessen Zuständigkeiten 13 . Da es sich u m ein Kollegialorgan handelt, sind alle Ämter grundsätzlich gleichberechtigt 14 . Die Ämter sind „modal aufeinander bezogen mit kongruenten Zuständigkeiten" 1 5 . Das Abgeordnetenamt ist die Stelle, i n der die Zuständigkeiten des Bundestages versehen werden. Das bedeutet für das Organ, daß seine Zuständigkeiten hinsichtlich der Wahrnehmung i n Amtszuständigkeiten aufgegliedert und i h m durch die Ämter zugerechnet werden. Für das A m t folgt aus dieser Bestimmtheit durch die Organzuständigkeiten, daß die Amtszuständigkeiten nicht eigenständig sind, sondern gebunden und bedingt durch jene. Solche Zuständigkeiten sind vor allem die Antrags-, Abstimmungs-, Interpellations- und Fragezuständigkeiten, wie sie ζ. T. i m Grundgesetz, vor allem aber i n der Geschäftsordnung des Bundestages rechtssatzmäßig festgelegt sind. Auch wenn sie zum Teil nur von Gruppen von Abgeordneten wahrgenommen werden können, sind sie doch jedem einzelnen A m t zugeordnet. Es sind organinterne Wahrnehmungszuständigkeiten ohne unmittelbare selbständige Außenwirkung. Diese Ämter und die einzelnen Akte der Wahrnehmung der Amtszuständigkeiten müssen zum einheitlichen Organ und zum einheitlichen Organhandeln zusammengefaßt werden. Es bedarf außer der Zuständigkeitsnormen für die einzelnen Ämter auch noch solcher Organisationsnormen, die die mehreren physischen Willenserklärungen zu einem einheitlichen Organwillen zur rechtlichen Einheit des Organaktes-Beschlusses zusammenfassen und so das Verfahren regeln, i n dem die Beschlüsse und Akte des Organs Zustandekommen10. Das sind die Abstimmungs- und Mehrheitsregeln, aber auch solche, die die Vorbereitung der Willensäußerungen regeln, also wiederum die Normen des 18 13 14
I I I a. 15
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H. Krüger: Staatslehre S. 265 ff. Zum Verhältnis Amt und Organ: Dreier: Amt § 5 1 b. Dagtoglou: Kollegialorgane S. 33 ff.; Wolff: Verwaltungsrecht I I § 75 Wolff: Wolff:
Verwaltungsrecht I I § 731 c 1. Vertretung S. 243 ff.
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten
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Parlamentsrechts, vor allem des Geschäftsordnungsrechts. Das Parlamentsrecht als Organisationsrecht hat so eine doppelte ambivalente Funktion, einerseits die Zuständigkeiten des Bundestages auf die Abgeordneten als Organwalter umzusetzen, andererseits deren Handlungen so zusammenzufassen, daß sich ein Beschluß des Bundestages i m Rechtssinne ergibt. I n dieser doppelten Funktion w i r d sichtbar, daß man nicht von einem „Durchgriff" der rechtlichen Verpflichtungen der juristischen Person über das Organ und das A m t auf die Organwalter sprechen kann, sondern von einer „Umsetzung" sprechen muß 1 7 . Denn das Organ hat eine einheitliche Verpflichtung, die aber durch 500 Organwalter m i t je einem eigenen A m t versehen wird. Die eine Zuständigkeit w i r d also rechtstechnisch i n 500 aufgespalten, u m die i n Ausübung vorgenommenen 500 Handlungen wieder zu einem Beschluß zusammenzufassen. Erst die Zusammenfassung der Amtsausübungen aller Abgeordneten i n einem formellen organisatorischen Verfahren ergibt einen dem Organ zurechenbaren und dessen Verpflichtung, ζ. B. über einen Gesetzesantrag zu beschließen, erfüllenden A k t . 3. Der Abgeordnete steht i m Hinblick auf sein A m t i n einem bestimmten Rechtsverhältnis, dem Amtswaltergrundverhältnis. Das Amtswaltergrundverhältnis des Abgeordneten wurde früher als Ehrenamtsverhältnis verstanden 18 . Wesentliches K r i t e r i u m dafür war, daß es nebenberuflich ausgeübt wurde, wenn es auch bestimmte Inkompatibilitäten m i t anderen Berufen, etwa dem öffentlichen Dienst, gab und gibt. Gegenüber dieser Kennzeichnung als Ehrenamtsverhältnis werden aber heute jedenfalls für den Bundestagsabgeordneten Vorbehalte geltend gemacht, oder sie w i r d ganz abgelehnt. Es habe eine „Zuständigkeitsausweitung der Volksvertretung" stattgefunden, die u. a. dazu geführt habe, die u r sprüngliche Trennschärfe zwischen Amtsrecht und Parlamentsrecht aufzulockern 19 . Die „volle Zeit und K r a f t " des Abgeordneten werde durch die Arbeit i m Bundestag i n Anspruch genommen 20 . Der Abgeordnete werde zum Berufspolitiker 2 1 . 17
So zu Recht Wolff : Vertretung S. 244 und Rupp: Grundfragen S. 84 f. Anschütz: Kommentar Art. 40 Anm. 2 S. 239; Tartarin-Tarnheyden (Rechtsstellung S. 145), der iedorh durch die Verbindung „gesellschaftliches Ehrenamt" dieses aus der staatlichen Organisation herausnimmt. Auch als Ehrenamtsverhältnis bezieht sich das AbgeordnetenverhäUnis auf ein staatliches Amt. Als gesellschaftliches Amt konnte das Abgeordnetenamt allenfalls zur Zeit der konstitutionellen Theorie angesehen werden, als der Volksvertretung der Charakter eines Staatsorgans abgesprochen wurde. Das galt schon nicht mehr für das späte Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, ζ. B. G. Jellinek: System S. 158. 19 Röttgen: Abgeordnete S. 207. 20 Der frühere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier aniäßlich der ersten Beratung des Gesetzentwurfes zur Einführung der Abgeordnetenpension. V. Legislaturperiode, 152. Sitzg. v. 7. 2.1968, Sten. Ber. S. 7841 Α. 21 Dazu ν . d. Heydte-Sacherl: Soziologie S. 201 ff. 18
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I. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
Diese Einwände gegen das Verständnis des Abgeordnetenverhältnisses als Ehrenamtsverhältnis weisen auf einen Funktionenwandel des Abgeordnetenamtes hin. Er ist der eigentliche Grund des Wandels des Abgeordnetenverhältnisses; die gewachsene zeitliche und intellektuelle Inanspruchnahme ist nur eine Folge, oder ein Indiz. Sie gilt für die Landtagsabgeordneten bei weitem nicht i n dem Maße. Sie können i n der überwiegenden Zahl i h r Abgeordnetenamt noch nebenberuflich ausüben. Trotzdem ist auch für sie die Bezeichnung des Grundverhältnisses als Ehrenamtsverhältnis fraglich geworden. Die von Köttgen erwähnte Zuständigkeitsausweitung der Volksvertretung ist nicht nur quantitativer, sondern vor allem qualitativer A r t . Sie ist i n der Einführung für den Bundestag i n den Grundzügen zusammenfassend dargestellt worden. Der Bundestag ist durch die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung organisationsrechtlich — wenn auch nicht unbedingt tatsächlich — i n das Zentrum der Ausübung der staatlichen Entscheidungsfunktion gerückt. Auch der Wandel der allgemeinen funktional-organschaftlichen Stellung der Volksvertretung vom bloß zustimmenden, allenfalls mitwirkenden, jedenfalls nur reagierenden Reichstag des Kaiserreiches zum mitführenden, entscheidenden, agierenden Bundestag wurde bereits i m Grundsatz behandelt. Bei der Untersuchung der einzelnen Zuständigkeiten des Bundestages w i r d diesem Wandel i m einzelnen nachzugehen sein. Die qualitative Veränderung der Funktion des Bundestages allgemein bedingt eine Veränderung des Abgeordnetenamtes und damit des Amtswaltergrundverhältnisses des Bundestagsabgeordneten. Der Abgeordnete erfüllt grundlegende, w e i l programmierende, zwecksetzende Entscheidungsfunktionen i m Hinblick auf die Gestaltung der gesamten Ordnung für fast alle Bereiche des staatlich-gesellschaftlichen Lebens der Bundesrepublik. Das gleiche t u t der Landtagsabgeordnete für das jeweilige Land, wenn auch unter zeitlich nicht so ausgedehnter Inanspruchnahme und inhaltlich nicht so umfassender Weise. Während i n der Zeit des Konstitutionalismus die Funktion des Abgeordneten der des Beamten im monarchischen Staat bei der Erfüllung der staatlichen Funktion durchaus nachstand, ist die Funktion des Abgeordneten i n der repräsentativparlamentarischen Demokratie zu einer maßgebenden Funktion geworden 2 2 . Politik zu machen, ist Beruf geworden 23 . Die Bezeichnung des Grundverhältnisses des Abgeordneten als Ehrenamtsverhältnis vermag diesem Funktionswandel i n der Tat nicht mehr zu entsprechen. Wolff hat für die rechtliche Erfassung des Grundverhältnisses eines Amtswalters drei Gruppen von Kriterien aufgestellt. Sie sind dergestalt 22 Das hat Weiterungen für das Abgeordnetenamt im Verhältnis zur Herrschaft überhaupt, auf die unten § 4 I I I noch einmal zurückzukommen ist. 23 Dazu M. Weber: Politik; Drath: Entwicklung S. 297 ff.
§ 4 Die echtsstellung des Abgeordneten
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aufeinander bezogen, daß jeweils ein K r i t e r i u m der nachfolgenden Gruppe je eines der vorhergehenden weiter differenziert 24 . I n der ersten Gruppe werden neben dem Ehrenamtsverhältnis das Berufsamts- und das Repräsentantenverhältnis unterschieden. Die zweite Gruppe umfaßt die Unterscheidungen Dienstverhältnis und Auftragsverhältnis. A l l e r dings meint „Auftrag" hier nur, daß der Amtswalter mit der Wahrnehmung des Amtes durch die Berufung i n das A m t beauftragt ist. Auftragsverhältnis meint nicht, daß er an die Weisungen eines Auftraggebers gebunden ist 2 5 . Die dritte Gruppe enthält die Unterscheidungen politisches, Beamten-, Richter-, Wehrverhältnis oder ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis besonderer A r t . Diese Einteilung der Grundverhältnisse bedarf an einer Stelle einer Korrektur. Denn Repräsentantenämter können auch Berufsämter sein, jedenfalls dann, wenn irgendein anderer Beruf nebenher nicht ausgeübt werden darf, wie beim Bundespräsidenten oder einem Minister, oder ein anderer Beruf nebenher nicht ausgeübt wird, oder werden kann, wie es beim Berufspolitiker tatsächlich der Fall ist. Andererseits können gewisse Repräsentanten durchaus i n einem Ehrenamtsverhältnis stehen. Die Schwierigkeit der Unterscheidung w i r d noch größer, wenn bedacht wird, daß auch nach Wolff jeder Walter eines öffentlichen Amtes repräsentiert 26 . Das Repräsentantenverhältnis ist also den beiden anderen Grundverhältnissen der ersten Gruppe nicht nebengeordnet, sondern differenziert innerhalb derselben. Es gehört daher nicht dieser Gruppe an, sondern der zweiten oder dritten, die die Grundverhältnisse der ersten Gruppe differenzieren. Das Repräsentantenverhältnis entspricht dem i n der dritten Gruppe enthaltenen politischen Verhältnis. Politisch ist das Verhältnis dann, wenn die Funktion des wahrzunehmenden Amtes auf die Gestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Grundordnung des gemeinsamen Lebens der sozialen Gruppe insgesamt oder i n den einzelnen Sachbereichen bezogen ist, wenn sie auf Programmierung und Zwecksetzung für weiteres staatliches Handeln gerichtet ist, u m so die staatliche Einheit zu bewirken und zu erhalten. Das ist — neben anderen—die Aufgabe von Repräsentanten. Das politische Verhältnis und das Repräsentantenverhältnis fallen zusammen. Das letztgenannte gehört also der dritten von Wolff bezeichneten Gruppe an und bildet als solches ein Differenzierungsmerkmal gegenüber der ersten und der zweiten Gruppe. Das Amtswaltergrundverhältnis des Bundestagsabgeordneten läßt sich nunmehr entsprechend der maßgeblichen Entscheidungsfunktion des A b 24
Verwaltungsrecht I I § 73 I I I b 1. Nur so ist zu verstehen, daß Wolff das Ministerverhältnis als ein Repräsentanten- und Auftragsverhältnis bezeichnet. Denn der Repräsentant ist von Weisungen gerade frei. 26 Verwaltungsrecht I I § 73 I I I d 2. 25
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I. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
geordnetenamtes wie folgt bestimmen. Es ist zunächst Berufs-Amtsverhältnis, da es nicht neben-, sondern hauptberuflich ausgeübt wird. Es ist weiterhin i n der Terminologie Wolffs Auftragsverhältnis. Es ist zum dritten Repräsentantenverhältnis. Diese besondere Bestimmung des Grundverhältnisses des Bundestagsabgeordneten, als Amtswalter, als Berufs-, Amts-, Auftrags- und Repräsentanten-(politisches)Verhältnis fand ζ. B. seinen Ausdruck i n der Lösung der Alters- und Hinterbliebenenversorgung, die nicht staatspensionsähnlich, sondern versicherungsrechtlich vorgenommen wurde, u m so dem „status sui generis" des Abgeordneten besser zu entsprechen 27 . Das Amtswaltergrundverhältnis enthält verschiedenartige Rechte und Pflichten. Die eine Gruppe bezieht sich auf die Wahrnehmung des Amtes, d. h. auf die Ausübung der i n i h m zusammengefaßten Zuständigkeiten. Sie werden i m Amtswalterverhältnis konkretisiert. Die andere Gruppe umfaßt die persönlichen Rechte und Pflichten, durch die die Erfüllung der aus dem Organ- bzw. Amtswalterverhältnis sich ergebenden Amtsberechtigungen und -Verpflichtungen durch den Amtswalter gesichert werden. Sie machen den personalrechtlichen Status aus 28 . Es empfiehlt sich, diese Unterscheidung zu machen, sowohl i m Hinblick auf den Modus der Begründung der Rechte und Pflichten als auch i m Hinblick auf die Durchsetzung dieser Rechte und Pflichten 29 . Die Unterscheidung beruht darauf, wie näher zu zeigen sein wird, daß i m Organwalterverhältnis die Rechte des Organwalters auf Waltung oder Versehung der Berechtigungen und Verpflichtungen des Organs bzw. des Amtes gehen, also ein Geschäftsbesorgungsverhältnis, i m Statusverhältnis aber subjektive Rechte des Amtswalters als Person i n Rede stehen. Dieser Unterschied w i r d gerade i n bezug auf das Abgeordnetenverhältnis vor allem vom BVerfG i m A n schluß an eine w o h l auf Georg Jellinek zurückgehende, aber ungenaue Terminologie übersehen 80 . Er w i r d aber auch i n der Literatur nicht immer gemacht, was zu erheblicher Verwirrung führt 8 1 . 27 Abg. Berger als Berichterstatter des Bundestagsvorstandes, 2. Lesung des Gesetzentwurfes, Sten. Ber. 5. Legislaturperiode 161. Sitzg. v. 27.3.1968, S. 8503 D. 28 Der Inhalt dieser Untscheidung findet sich auch bei Wolff angelegt, Verwaltungsrecht I I § 73 I I I 3. 29 Demgegenüber scheint Dreier (Amt § 5 I a) das Rechtsverhältnis als solches, d. h. also das Amtswaltergrundverhältnis als Status zu bezeichnen, den er dem Amt als institutionalisierten Aufgabenkreis gegenüberstellt. 80 G. Jellinek: System S. 166 ff.; BVerfGE 20, 103; 10, 10 f.; 6, 447 ff.; 4, 149; 2,164. 81 z. B. K. F. Arndt (Geschäftsordnungsautonomie S. 160 f.); bei diesem führt die ungenaue Scheidung z. B. zu der Annahme eines dem besonderen Gewaltverhältnis ähnlichen Verhältnis zwischen Bundestag und Abgeordneten. Das Amtswalterverhältnis ist aber ganz anders geartet, siehe Rupp: Grundfragen S. 39 ff., insbesondere: S. 41. Das BVerfG zählt zum Status sowohl das Rederecht wie den Anspruch auf Diäten; das erste ist dem Amt, das zweite dem Status zugeordnet, siehe im einzelnen unten S. 59 Fußnote 3. Bei Georg Jellinek
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten
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Das Amtswalterverhältnis und das Statusverhältnis sind selbst ebenfalls Rechtsverhältnisse, die aber gegenüber dem Amtswaltergrundverhältnis nicht selbständig sind, sondern auf i h m aufruhen 3 2 . Sie konkretisieren das Amtswaltergrundverhältnis. Für das Abgeordnetenverhältnis fallen allerdings die drei genannten Rechtsverhältnisse dergestalt zusammen, daß bereits das Grundverhältnis selbst alle Rechte und Pflichten des Abgeordneten festlegt. Denn das Grundverhältnis verpflichtet und berechtigt den Abgeordneten zur Wahrnehmung einer bestimmten Amtsstelle, i n die er durch Wahl und deren Annahme berufen wird. 4. Der Inhalt des Amtswalterverhältnisses w i r d vor allem bestimmt durch die „Pflicht, die Amts-, hier auch Organfunktionen", zu versehen. § 16 GOBT statuiert diese Pflicht ausdrücklich dahin, daß der Abgeordnete verpflichtet ist, „an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen". Aber sie ergibt sich auch ohne dem aus dem Organwalterverhältnis als Amtsverhältnis 3 3 . Es ist seine Pflicht, auch die Rechte der Juristischen Person wahrzunehmen, w e i l er über sie nicht verfügen kann 3 4 . Allerdings ist ein Ermessen des Organs auch ein Ermessen des Amtswalters. Aber es wäre pflichtwidrig, wenn die Abgeordneten ζ. B. ein Kontrollrecht des Bundestages nicht versehen würden. Da diese Pflicht durch das Grundgesetz begründet ist, das das Abgeordnetenamt gebildet und weitgehend errichtet hat, ist sie durch niederrangiges Recht nur i n gewissem Rahmen aufhebbar. Eine Einschränkung der Redefreiheit über ein gewisses Maß hinaus behindert den Abgeordneten i n seiner Amtspflicht, da er die Zuständigkeiten seines Amtes nicht ordnungsgemäß wahrnehmen kann. Das Amtswalterverhältnis enthält außerdem Nebenpflichten, wie die Schweigepflichten bei Geheimsachen 35 . Wie bereits oben dargelegt, statuieren die Fraktionsordnungen keine Amtspflichten. ist bereits dieser Unterschied angelegt, wenn er die „sog. Mitgliedsrechte" (System S. 169) von persönlichen Rechten (S. 170 f.) unterscheidet. Allerdings ist er durch eine mangelhafte Erfassung des Organwalterverhältnisses selbst noch nicht klar ausgeführt. Auch Achterberg (Grundzüge S. 31 ff.) unterscheidet nicht hinreichend und deutlich. So ist unklar, was mit „rechtlicher Stellung" gemeint ist, zu der wohl Art. 38 GG, Indemnität, Immunität und Inkompatibilität, nicht aber Rederecht, Antragsrecht, Anwesenheitspflicht im Bundestag und Zeugnisverweigerungsrecht, Akteneinsichtsrecht u. dgl. gehören. 32 Wolff: Verwaltungsrecht I I § 73 I I I a. 33 Wolff: Verwaltungsrecht I I § 73 I I I 2 d. 34 Wolff : ibid. Ähnlich bereits G. Jellinek (System S. 172), der aus diesem Grunde zu Recht die ursprüngliche, später nicht wiederholte These Labands zurückweist, der Abgeordnete sei dem Staate juristisch zu nichts verpflichtet, weil nur der Reichstag Organ sei, Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1894, S. 221. Allerdings ist der Abgeordnete in der Tat nicht Organ, sondern Organwalter, aber das Ergebnis ist das gleiche. 85 Anhang 5 zur GOBT. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Pflichtenseite nur sehr schwach ausgebildet ist, dazu Röttgen: Abgeordnete S. 207 ff. Seinen Grund hat das u. a. auch darin, daß der Abgeordnete weisungs- und auftragsfrei ist.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Zum Organwalterverhältnis gehört aber auch das Recht, die Organfunktionen bis zum Amtsverlust zu versehen 36 , allerdings nur als Waltungszuständigkeit, d. h. insbesondere auch an den Plenarsitzungen teilnehmen und auch an wenigstens einem Ausschuß tätig werden zu können 3 7 . Das Organwalterverhältnis ist also ein fremdnütziges Rechtsverhältnis, und zwar zum Nutzen letzten Endes des Trägers der Juristischen Person, zu der das A m t gehört, für die Abgeordneten des Volkes. Die Sicherung der Fremdnützigkeit als ideelles Anliegen der Trennung von A m t und Person, die Bezogenheit des Amtes auf dieZwecke des Gemeinen Wohls ist auf diese Weise organisationsrechtlich gewährleistet. Das Organwalterverhältnis des Abgeordneten hat einen spezifischen Charakter durch A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Organwalter ist weisungsfrei. Die Wählerschaft, obwohl Kreationsorgan, ist i h m nicht hierarchisch übergeordnet. Auch andere können ihn hinsichtlich seiner Amtsausübung rechtlich nicht verbindlich m i t Weisungen versehen. Das Organwalterverhältnis des Abgeordneten ist daher ein hierarchisch unabhängiges und eigenständiges Rechtsverhältnis. Es unterscheidet sich dadurch erheblich von dem des Beamten, Soldaten und auch des Richters. Die Berechtigungen aus dem A m t können i m Wege des Organstreitverfahrens, nicht i m Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden 3 8 . 5. Ist das Amtswalterverhältnis nur auf Waltung der Berechtigungen und Verpflichtungen gerichtet, so bleiben die persönlichen Rechte aus der Rechtsstellung als Organwalter unberücksichtigt, insbesondere das von Wolff so benannte Recht zum A m t 3 9 , aber auch andere subjektive Rechte und Pflichten. Sie sind i n dem das Organwalterverhältnis ergänzenden Statusverhältnis zusammengef aßt. 36
Wolff : Verwaltungsrecht I I § 73 I I I c 3 S. 37. Wolff: Vertretung S. 272; das meint wohl auch Jellinek (System S. 176). Das hat Konsequenzen für die Geschäfts- und Disziplinarordnung. Das BVerfG übersieht auch diesen Unterschied, wenn es das Rederecht dem Abgeordneten selbst als Befugnis zuweist, BVerfGE 10, 12. Seine Befugnis besteht aber nur darin, das Rederecht auszuüben, zu versehen, das seinerseits eine Amtsberechtigung ist. Deswegen kann der Bundestag im Rahmen des Art. 40 GG in gewissen Grenzen, etwa des Zeitpunktes und der Dauer, auch darüber verfügen. Wäre das ein subjektives Recht aus Art. 38 GG, wäre diese Verfügung unmöglich. Wie hier aber ausdrücklich bereits Jellinek (System S. 169), der allerdings einerseits statt korrekt von „Amt" ungenau von „Organ" spricht und andererseits auf Grund der verfehlten Impermeabilitätslehre den sie begründenden Normen den Rechtscharakter abspricht. — Zweifehaft ist hingegen, ob fraktionslose Abgeordnete von der Ausschußarbeit ausgeschlossen werden können, weil keine Fraktion sie benennen wird. 38 BVerfGE 6, 445 - 449. Allerdings wird auch hier wieder vom Status unterschieden vom Amtswalterverhältnis ausgegangen. Das letzte ist aber wohJ gemeint. 39 Vertretung S. 265. 87
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten
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Das Statusverhältnis umfaßt einerseits Rechte, andererseits Pflichten. Beide sind nicht unmittelbar auf die Wahrnehmung der Berechtigungen und Verpflichtungen des Amtes gerichtet, sondern sollen die Person des Organwalters, des Abgeordneten so stellen, daß er sie wahrnehmen kann. Status w i r d hier verstanden als ein Komplex von subjektiven Rechten und Pflichten eines Organ-(Amts-)waiters, die i h m i m Hinblick auf die Sicherung der Organ-(Amts-)waltung gewährt werden. Status ist damit einerseits nicht als „natürliches Herrschaftsverhältnis" und andererseits nicht als inhaltlich bestimmtes Rechtsverhältnis verstanden. Der erste Begriff, w o h l i n der die moderne Rechtsentwicklung deutenden These „from status to contract" zugrundegelegt 40 , deutet Status als einen durch Geburt, Abstammung, Heirat, Eintritt erworbenen, durch Herkommen, Umweltordnung geordneten, nur am Rande durch Recht geregelten Stand. Er ist i n diesem Sinne ein Substanzbegriff. Das gilt auch für den durch besondere inhaltliche Kriterien, wie ζ. B. Würde, bestimmten, gegenüber dem vorhergehenden, aber engeren Statusbegriff. So versteht Köttgen den Statusinhaber als „Würdenträger" 4 1 , der sich ausdrücklich gegen Jellineks Verständnis des Status als einer Formalkategorie wendet 4 2 . Er kann sich auf A r t . 33 GG berufen. Aber eine besondere Würde gibt es angesichts des A r t . 1 Abs. 1 GG und der Grundrechte nur insoweit, als sie nicht auf die Person, sondern auf die besondere Rechtsstellung, soziologisch ausgedrückt auf die besondere Rolle bezogen ist. Köttgen selbst weist i m Anschluß an Carl Schmitt darauf hin 4 3 . Status läßt sich daher nur noch als funktionaler Begriff rechtfertigen. Sein Inhalt ist i n der Gegenwart nicht wesensmäßig vorgegeben, sondern ist i n der jeweils konkreten, verfassungsrechtlichen Lage auf Grund des Rechts jeweils neu zu bezeichnen. Nur so könnte auch A r t . 33 Abs. 5 GG richtig interpretiert werden. Jellineks und Wolffs Statuslehre entsprechen daher durchaus der Situation des modernen, durch die Grundrechte einerseits und die objektive Organisation andererseits gekennzeichneten Staates. Allerdings w i r d der Begriff i m vorliegenden Zusammenhang enger gefaßt als bei Jellinek. Aber wie dort w i r d normativ auf die Rechte und Pflichten der Person abgestellt. I m Zusammenhang dieser Untersuchung, die die Zuständigkeiten des Bundestages zu ihrem Gegenstand hat, kann auf eine einzelne Darlegung 40
Vgl. etwa: Böckenförde: Organisationsgewalt S. 70 f. Köttgen: Abgeordnete S. 215. Er betrifft die personale Existenz. 42 Abgeordnete S. 204. 43 Abgeordnete S. 199; wenn er dann (S. 215) allerdings aus der Anerkennung der Würde des Menschen herausliest, ein Rang, eine spezielle differenzierende Würde begründendes Statusrecht sei nicht verfassungsfremd oder gar verfassungswidrig, so erscheint diese Interpretation zumindest zweifelhaft. 41
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
der Rechte und Pflichten des Statusverhältnisses verzichtet werden. Zu ihnen gehören die Indemnitäts- und Immunitätsrechte 44 , die Ansprüche auf Entschädigungen einschließlich der Pensionen, sowie bestimmte protokollarische Rechte. Da sie auf das A m t bezogen sind, nicht auf die Person als solche, sind sie schwerlich als Privilegien zu deuten 45 . Dazu gehören aber auch die Pflichten, gegebenenfalls bei Annahme der Wahl andere Ämter, Berufe, Verbindungen oder dergleichen aufzugeben oder zu lösen, sofern diese als m i t dem Mandat inkompatibel gelten. Das w i r d insbesondere aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes für Beamtenstellungen gesetzlich vorgeschrieben. Das Problem braucht hier nicht erörtert zu werden 4 6 . Je weiter der Amtscharakter des Mandates funktional entwickelt wird, desto weiterreichend w i r d notwendigerweise der Anwendungsbereich des Inkompatibilitätsgrundsatzes. Diese Rechte werden, jedenfalls zum Teil, ebenfalls i n Organstreitverfahren geltend gemacht, da sie zur Rechtsstellung des Organwalters i. a. gehören 47 . Zum Status gehören aber auch Pflichten, wie Ordnungspflichten bei den Sitzungen. Insofern gibt es auch ein Disziplinarrecht, wenn es auch rudimentär ist. Seine Entwicklung ist dringend notwendig, vor allem, da es das Recht zu schwerwiegenden Eingriffen ohne geordnetes Verfahren enthält. Hierzu w i r d auch eine Treuepflicht gehören, wenn diese auch nicht i n einem Eid beschworen wird. Sie ergibt sich u. a. aus der Hauptnorm, die den Status regelt und diesen i n besonderer Weise m i t dem A m t und dem Organwalterverhältnis verbindet, A r t . 38 GG. Ein eigentliches Dienstrecht wie bei Beamten besteht jedoch nicht. § 22 GOBT sieht vor, daß sich der Bundestag eine Ehrenordnung geben kann. Als i m Jahr 1970 ein Abgeordneter einen Scheinübertritt von einer Fraktion zu einer anderen vorspiegelte, i n welchem Vorgang auch Beratungsverträge i n Höhe von 400 000,— D M für den Abgeordneten eine Rolle spielten, forderte der damalige Bundestagspräsident den Erlaß einer Ehrenordnung und die Einsetzung eines Ehrenrates 48 . Es wurde mehrere Monate lang geprüft, wie eine solche Ehrenordnung aussehen sollte. Man kam zunächst dahin, daß eine Ehrenordnung nicht am Platze sei, sondern eine bloße Verhaltensordnung genüge. I m wesentlichen ging es darum, die Einnahmequellen der Abgeordneten und deren honorierte wie nicht honorierte, ständigen wie einmaligen Verbindungen zu Inter44 a. A. Röttgen: Abgeordnete S. 205 ohne Begründung: wie hier ζ. B. Jellinek: System S. 169 ff. 45 Darauf ist nicht näher einzugehen. Als Privileg wird etwa die Immunität gedeutet von Beyer: Immunität. 46 Dazu neuestens mit Verweisen: Heinrich Probst: Zur Frage der Vereinbarkeit von Amt und Mandat, Staats- und Kommunalverwaltung 1970, S. 315 318. 47 BVerfGE 4, 149 f. für die Diäten. Zweifelhaft ist es für die Indemnitätsund Immunitätsrechte. 48 Schindler: Ehrenordnung S. 453.
§ 4 Die Rechtsstellung des Abgeordneten
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essentengruppen durch Selbsterklärungen bei genereller A r t wie i n besonderen Fällen, vor allem bei bestimmten Gesetzgebungsvorhaben aufzudecken und zu kontrollieren 4 9 . Aber es kam bis zum Herbst 1971 nicht zu einer Verabschiedung der Verhaltensordnung. Sie betrifft i n jedem Fall das Statusverhältnis des Abgeordneten. Denn sie ordnet nicht die Ausübung seiner Zuständigkeiten, sondern legt i h m persönliche Pflichten auf, die i h n allerdings für seine Amtswaltertätigkeit „bessern" sollen. Vor allem soll seine Amtstätigkeit von seinen sonstigen Tätigkeiten, Rollen und deren Interessen getrennt werden 5 0 . Der Erlaß einer Verhaltensordnung hat seinen rechtfertigenden Grund i n dem öffentlichen Amtscharakter des Abgeordnetenmandates. I h r Inhalt ist auf die genannte Funktion bezogen, worin sie ihre Grenze findet. Die Schwierigkeit liegt i n ihrer Durchsetzung. Das Abgeordnetenamt kann nicht entzogen werden. Auch eine wesentliche Behinderung ist sicher unzulässig, etwa durch Sitzungsausschluß oder dergleichen. Allenfalls gesetzliche Inkompatibilitätsregelungen könnten w i r k l i c h eine völlige Loslösung des Abgeordneten von anderen Interessen erreichen. Aber das würde andererseits eine grundlegende Änderung der gegenwärtigen Struktur zur Folge haben. Wolff hat als K e r n des Status das Recht und die Pflicht zum A m t bezeichnet 51 . Darunter versteht Wolff „ein objektives Recht des Organwalters (der Organwalterperson) gegenüber der Juristischen Person und jedem anderen, ihn, solange er Organwalter ist, als solchen zu dulden, gegenüber der Juristischen Person insbesondere, sein kompetenzgemäßes Organverhalten für und gegen dieselbe gelten zu lassen". Dieses Recht zum A m t ist die rechtliche Grundlage für die Rechte aus dem Amt, wie auch die Pflicht zum A m t rechtliche Grundlage der Pflichten aus dem A m t ist. Es schafft die Verklammerung der beiden Rechtsverhältnisse, des Amtswalterverhältnisses und des Statusverhältnisses. Denn einerseits w i r d das Recht zum A m t meist erst greifbar i n den Organwaltungsrechten; diese aber entfallen i n dem Augenblick, wo das Recht zum A m t entfällt. Das bedeutet für den Abgeordneten, daß sein Recht gegenüber dem Staat, kompetenzgemäß zu handeln und sein kompetenzgemäßes Handeln dem Bundestag auch zuzurechnen, nicht geschmälert werden darf. Das könnte ζ. B. dadurch geschehen, daß man den Abgeordneten trotz tatsächlicher Fähigkeit hindert, an Parlamentsbeschlüssen mitzuwirken. Daher ist der vollständige Ausschluß von fraktionslosen Abgeordneten von der Ausschußarbeit m. E. unzulässig. Zumindest beratende Stimme muß ihnen zugebilligt werden. Die zeitweise Ausschließung eines Abgeordneten von Sitzungen hat Grenzen. Es bedarf sowohl eines geordneten Verfahrens, wie auch einer inhaltlichen Präzisierung. Die §§ 42 f GOBT 40 60 51
F A Z v. 3.3. und 5. 3.1971 sowie „Das Parlament" Nr. 9 v. 27.2.1971 S. 7 f. Dazu Krüger: Staatslehre S. 267. Vertretung S. 265 ff.; dazu jetzt auch Hoppe: Organstreitigkeiten S. 172.
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I. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
sind verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Einen gewissen Schutz findet das Recht zum A m t i n strafrechtlichen Bestimmungen. Durchsetzbar ist es i m Organstreitverfahren 52 . Außerdienstliche Verhaltenspflichten, wie bei Beamten, bestehen nicht. Es ist auch sehr fraglich, ob solche überhaupt noch begründbar sind 5 3 . Der positivrechtliche Ausdruck der funktionalen Beziehung von A m t und Status des Abgeordneten, das Scharnier zwischen ihnen ist A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Wie dargelegt, gibt diese Vorschrift dem Organwalterverhältnis einen besonderen Rechtscharakter der Weisungsfreiheit und der hierarchischen Ungebundenheit und Eigenständigkeit. Gleichzeitig bestimmt A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG den Status. Denn Gewissen ist persönlich, nicht amtlich. A r t . 38 GG bestimmt daher zunächst den Status des Abgeordneten, nicht das A m t 5 4 . Jedoch wäre das A m t anders nicht zu versehen. Die aufgezählten Zuständigkeiten lassen sich nicht wie die eines Beamten wahrnehmen, da sie allgemein nicht zweckerfüllend, sondern zwecksetzend sind. A r t . 38 GG begründet keine Wahrnehmungszuständigkeit, sondern ein subjektives Recht auf Freiheit des Gewissens, aber die Freiheit besteht zur Wahrnehmung der Amtsrechte und -pflichten. „Die A r t und Weise der Amtsführung b l e i b t . . . einer nicht justitiablen Gewissensentscheidung des einzelnen Statusinhabers überlassen 55 ." Freiheit der Amtsführung ist begründet i n den Aufgaben, die zwecksetzender A r t sind. Darüber hinaus sichert, wie Henke zu Recht hervorgehoben hat, dieser personalrechtliche Status der Gewissensfreiheit das öffentliche A m t als solches, ermöglicht erst, es inhaltlich als ein an allgemeinen Zwecken ausgerichtetes zu erfüllen 5 6 . Der verfassungsrechtliche Status der Abgeordneten hat i n der Gewissensfreiheit seinen Kern. Es ist daher notwendig, das A m t selbst, auf das diese Freiheit bezogen ist, vor Ideologisierungen und unkontrollierbaren inhaltlichen Anreicherungen freizuhalten. Gewissensfreiheit und ihr entsprechende Gewissenspflicht bei der Amtsführung ordnen das personalrechtliche Verhältnis zu Außenstehenden, Partei, Wählern, Verbänden, aber eben i m Hinblick auf die Stellung i m Amt. Aber dieses A m t selbst wird, wie näher auszuführen sein wird, inhaltlich geprägt durch die A r t und Weise der Wahrnehmung, zu der die verfassungsrechtlich gebilligte, ja gewünschte, parteimäßige Gebundenheit der Abgeordneten 52
BVerfGE 2,166. Oben S. 77. 54 So wohl auch, wenn auch nicht ganz klar, Röttgen: Amt S. 140. 55 Röttgen: Amt S. 140. 56 Recht S. 91; siehe auch v. Mangoldt-Rlein: Kommentar Art. 38 Anm. I V 4 a S. 889. 53
§ 5 Das Plenum des Bundestages
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gehört. Wenn das aber so ist, dann ist die Gewissensfreiheit der Amtsausübung, also der Status, davon betroffen. 6. Organ ist der Abgeordnete nicht, wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt 5 7 . Wo er als solches bezeichnet wird, liegt eine Verwechselung von Organ und Organwalter bzw. keine säuberliche Trennung vor 5 8 . Zuständigkeiten, deren Wahrnehmung durch den Abgeordneten der Juristischen Person Bundesrepublik unvermittelt durch den Bundestag zugerechnet werden, hat das Abgeordnetenamt nicht, so daß es nicht gleichzeitig Organ ist. Es ist auch nicht Unterorgan des Bundestages.
§ 5 Das Plenum des Bundestages I. Die Rechtsstellung 1. Als Organ stellt sich der Bundestag i m Plenum dar 1 . D. h., alle Z u ständigkeiten des Bundestages werden regelmäßig endgültig von den Organwaltern nur i n pleno gemeinsam wahrgenommen. N u r was das Plenum tut, w i r d der Körperschaft Bund als Organhandeln zugerechnet, von wenigen noch zu behandelnden Ausnahmen abgesehen. Das schließt nicht aus, daß das Handeln einzelner Ämter oder Ämterzusammenfassungen bereits vorläufig auch Handeln des Bundestages ist. Als Körperschaft hat der Bundestag i m Plenum sein Hauptorgan 2 . Das Plenum ist seine Mitgliederversammlung. I h m sind die Eigenzuständigkeiten des Bundestages als Körperschaft als Wahrnehmungszuständigkeiten zugewiesen. Das sind die Zuständigkeiten, die sich auf seine eigene Organisation beziehen, also seine Geschäftsordnungsautonomie. A l l e r dings nimmt das Plenum diese Zuständigkeiten nicht allein wahr. Ä l t e stenrat, Ausschüsse und Fraktionen, aber auch der Präsident haben ebenfalls Wahrnehmungszuständigkeiten innerhalb der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages erhalten. Die vorstehende Unterscheidung w i r d i. a. nicht gemacht. Sie ist vor allem theoretischer A r t . Praktisch könnte sie aber i n bezug auf prozeßrechtliche Fragen werden, ohne daß dem hier näher nachgegangen werden kann. 67
So auch Achterberg: Grundzüge S. 31. So bereits bei Jellinek: System S. 158; aber auch v. Mangoldt-Klein (Kommentar Art. 38 Anm. I V , 1 S. 887), der sogar gleichzeitig von Organwalter, Organ und Institution spricht; BVerfGE 4,149 „Verfassungsorgan". 1 Berg: Übertragung S. 23 mit Verweisen. 2 Ähnlich Hauenschild: Wesen S. 183. 58
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Steiger
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Das Plenum versammelt sich selbst. Besondere Zeitpunkte, an denen es zusammentreten muß, sind, ausgenommen für den Zusammentritt nach der Neuwahl, anders als i n A r t . 24 WRV, nicht vorgeschrieben. Nach einer Neuwahl muß es spätestens am dreißigsten Tag nach der Wahl zusammentreten, jedoch nicht vor dem Ende der Wahlperiode des letzten Bundestages (Art. 39 GG). Die Frist kann sich also ausnahmsweise verlängern 3 . Die erste Sitzung w i r d gem. § 1 Abs. 1 GOBT vom Präsidenten des „alten Bundestages", d. h. der vergangenen Legislaturperiode einberufen 4 . Der Bundestag ist nach dem ersten Zusammentritt für die vierjährige Wahlperiode (Art. 39 GG) rechtlich konstituiert und eingerichtet, wenn er auch tatsächlich nicht ständig Plenarsitzungen abhält. I n sich abgeschlossene Sitzungsperioden kennt der Bundestag nicht. Zwischen den einzelnen Sitzungen können nur längere oder kürzere sitzungsfreie Zeiten liegen. Den Schluß und Wiederbeginn der Sitzungen bestimmt der Bundestag selbst. A u f Antrag von einem D r i t t e l der Mitglieder des Bundestages, des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers ist der Präsident des Bundestages verpflichtet, den Bundestag zu einer Sitzung einzuberufen. Das schließt das Recht ein, daß der oder die Antragsteller auch die Tagesordnung bestimmen können. Das Recht des Bundestages, über die Tagesordnung i n verschiedenen Formen zu verfügen, ist i n diesem Fall eingeschränkt; die entsprechenden Vorschriften der Geschäftsordnung sind dahin zu interpretieren, daß jedenfalls der oder die Antragsteller ihre sachlichen Ausführungen, u m deretwillen sie die Einberufung verlangt haben, machen und evtl. auch i m Rahmen ihrer sonstigen Zuständigkeiten Anträge stellen können. Ohne diese Rechte wäre das Recht, die Einberufung des Bundestages zu verlangen, funktionslos 5 . Das bedeutet insbesondere für die Opposition eine Stärkung ihrer Minderheitenrechte. Für den Bundespräsidenten ist die Funktion der Zuständigkeit umstritten 6 . Es ist eine Krisenzuständigkeit. Sie w i r d vor allem dazu eingesetzt werden können, u m die Wahl des Kanzlers gem. A r t . 63 GG einzuleiten. Aber es ist, entgegen der h. M., nicht einsichtig, warum der Bundespräsident nicht auch eine Botschaft an den Bundestag sollte richten können. Die Abgeordneten sind verpflichtet, an den Sitzungen teilzunehmen, auch an den Sondersitzungen. Das gehört zu ihren Amtspflichten und ist 3
v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. V 1 a S. 903. Dazu Ritzel/Bücker: Handbuch/Kommentar § 1 Anm. 2 und 4. Der bisher amtierende Präsident genießt daher gem. Art. 49 GG auch zwischen den Wahlperioden gewisse Abgeordnetenrechte. 5 Wie hier: Schäfer: Bundestag S. 89; Wollmann: Stellung S. 124 gerade auch unter Hinweis auf den Minderheitenschutz; a. A. v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 39 Anm. V 2 d S. 906; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 39 Rdnr. 24 S. 39/10. β Dazu v. Mangoldt-Klein und Maunz-Dürig-Herzog ibid. 4
§ 5 Das Plenum des Bundestages
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i n § 16 GOBT als Pflicht zur Teilnahme an den Arbeiten des Bundestages niedergelegt. Ein Fehlen kann den Bundestag gegebenenfalls arbeitsunfähig machen. Eine Reservezuständigkeit gibt es nur i m Verteidigungsfall, nicht aber i m Normalfall. Stehen dem tatsächlichen Zusammentreten des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlußfähig, so kann der Gemeinsame Ausschuß aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates m i t zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Hälfte seiner Mitglieder an Stelle dieser beiden Organe den Verteidigungsfall feststellen (Art. 115 a Abs. 2 GG) und nach förmlicher Feststellung der Verhinderung oder Beschlußunfähigkeit des Bundestages m i t den gleichen Mehrheitserfordernissen deren Rechte wahrnehmen (Art. 115 e GG). A u f die m i t diesem allerdings nicht privativen Übergang der Rechte des Bundestages auf den Gemeinsamen Ausschuß verbundenen Probleme kann hier nicht näher eingegangen werden 7 . Es war nur darauf hinzuweisen, daß außer i n diesem einen Fall eine Reservezuständigkeit für den Bundestag nicht vorgesehen ist, wenn dieser arbeitsunfähig ist. 2. Das Grundgesetz spricht i n seinen einschlägigen Vorschriften vom Bundestag als einem einheitlichen Organ. I h m sind die verschiedenen Zuständigkeiten zugewiesen. Aber auch der Verfassungsjurist kann bei der Analyse der Rechtsstellung des Bundestages, vor allem wenn er die Verfassungsrechtswirklichkeit zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, nicht übersehen, daß der Bundestag zunächst tatsächlich m i t zwei Zungen spricht, der der Mehrheit und der der Minderheit. Er kann sich nicht damit beruhigen, daß die Beschlüsse oder Entscheidungen der Mehrheit rechtlich die Organakte des Organs Bundestag darstellen. Vielmehr muß er berücksichtigen, daß die Wirklichkeit der Teilung des Organs Bundestag i n Mehrheit und Minderheit ihren Ursprung i n der verfassungsrechtlich gestalteten Organisation des Bundes selbst ihren Grund hat. Die Zuweisung der Befugnis, den Bundeskanzler zu wählen und damit die Bundesregierung aus sich hervorzubringen, ist der Grund dieser Teilung. Es bildet sich eine Mehrheit, die den Bundeskanzler, der ihre politischen Vorstellungen i n die Tat umsetzen soll und w i l l , wählt und i h n die von i h m i n Absprache m i t der Mehrheit gebildete Regierung i n der weiteren politischen Tätigkeit unterstützt, die Regierungsmehrheit. Dieser Mehrheit gegenüber steht die Minderheit, die den Bundeskanzler nicht gewählt hat und zu i h m i n Opposition steht, d. h. seine Tätigkeit bekämpft, ja ihn zu Fall bringen möchte, u m einen Bundeskanzler an seine Stelle zu setzen, der ihre politischen Vorstellungen verwirklicht. Dieser 7 Dazu Herzog: Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 115 a Rdnr. 57 - 70 und Art. 115 e; Eberhard Menzel: Bonner Kommentar Art. 115 a Rdnr. 55 - 58 und Jost Delbrück: Bonner Kommentar Art. 115 e; ders.: Kritische Bemerkungen zur Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses, DöV 1970, S. 229 234.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Gegensatz zieht sich durch weite Teile der Tätigkeit des Bundestages und kommt i n mehr oder minder starkem Maße immer zum Ausdruck. Wenn diese Teilung des Bundestages i n zwei, i. a. festgefügte Lager auch nach außen h i n die Rechtswirkung seiner Beschlüsse nicht berührt, so hat sie doch nach innen für die Gestaltung seiner eigenen Tätigkeit, d. h. für den verfahrensmäßig organisationsrechtlich geordneten Entscheidungsprozeß innerhalb des Bundestages Konsequenzen, sowohl für die Verfahren i m Plenum, als auch für die Verfahren i n den einzelnen Gliederungen des Bundestages. Die Teilung hat aber auch darüber hinaus Konsequenzen für das Verhältnis des Bundestages zur Bundesregierung. Es ist hier nicht der Ort, eine Theorie der Opposition zu entwickeln 8 . Insbesondere muß die sehr wichtige Frage offen bleiben, was Opposition funktional bedeutet, etwa die Unterscheidung von formaler Opposition und materieller Opposition 9 . Es kommt i m vorliegenden Zusammenhang nur darauf an, auf der Grundlage der Regelungen des Grundgesetzes die Ausprägung und die Relevanz der inneren Teilung des Bundestages i n Regierungsmehrheit und Opposition für das Verfahren des Bundestages i n seinen Entscheidungsprozessen und für sein Verhältnis zur Bundesregierung zu erörtern. I n vielen Reformvorschlägen w i r d zunächst kritisiert, daß die Teilung nicht hinlänglich i m Verfahren berücksichtigt sei, für das der Gegensatz von Regierung und Regierungsmehrheit einerseits und Opposition andererseits zum grundsätzlichen Ausgangspunkt gemacht w i r d 1 0 . Diese Vorschlägelegen jedoch nicht die konkrete verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik, sondern ein theoretisch, vielfach an der zum Idealtypus des modernen parlamentarischen Regierungssystems stilisierten englischen Regierungsform orientiertes abstraktes Verständnis des Verhältnisses von Regierungsmehrheit und Oposition zugrunde 11 . 8 Zum Schrifttum: Kluxen (Hrsg.): Parlamentarismus Sechster Teil S. 391 471 mit Aufsätzen von Kluxen, Landshut, Kirchheimer, Friedrich, Teil E der Bibliographie S. 500, sowie: Hans-Gerd Schumann: Die Opposition — Stiefkind der deutschen Forschung?, Der Staat Bd. 5 (1966) S. 81 - 95 mit weiteren H i n weisen. Die Literatur ist fast ausschließlich politologischer Art. Rechtswissenschaftliche Untersuchungen fehlen. 9 Dazu Schumann: a.a.O. S. 88 ff. Allerdings wird hier zunächst ein formaler Begriff der parlamentarischen Opposition zugrundegelegt. Das ist insofern gerechtfertigt, als angesichts von Art. 21 Abs. 2 GG und der 5 %>-Klausel eine echte und vor allem wirkungsvolle Fundamentalopposition jedenfalls im Bundestag nicht wirksam werden dürfte. Selbst eine weitgehende materielle Opposition, die diese Grenze aber nicht überschreitet, wie sie etwa die SPD bis 1960 und die CDU/CSU in bezug auf die Ostpolitik in der Zeit bis zum Abschluß dieser Arbeit (Herbst 1971) darstellten, hat mit der Regierungsmehrheit einheitliche Grundlagen und unterscheidet sich in vielen Fragen nur graduell in ihren Vorstellungen von dieser. 10 So vor allem Hennis : Bundestag S. 32; Hereth: Reform durchgehend. 11 Zu diesem m. E. verfehlten Ansatz bereits oben S. 16 f.
§ 5 Das Plenum des Bundestages
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Das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition i n der Tätigkeit des Bundestages gestaltet sich verschieden je nach den Zuständigkeiten, die er jeweils wahrnimmt. Entsprechend ist auch das Verhältnis zur Bundesregierung unterschiedlich. Zwar ist der Gegensatz zwischen beiden „Lagern" ständig vorhanden, aber er prägt sich doch verschieden aus. Er kann hier nur i n den Grundzügen skizziert werden und ist i m einzelnen bei der Behandlung der jeweiligen Zuständigkeiten darzustellen. Für die Kreationszuständigkeit ist er offensichtlich. Von dort her ist er auch grundgelegt. Bei der Gesetzgebung hat sich i n der bisherigen Praxis weitgehend eine Kooperation des gesamten Bundestages und eine gewisse Gegenüberstellung zur Bundesregierung durchgehalten. Gerade hier setzt allerdings eine sehr weitgehende K r i t i k an der Tätigkeit auf der Basis der amicabilis compositio des Bundestages ein 1 2 . Sie geht von der bereits zurückgewiesenen These aus, daß die Gesetzgebung zu Unrecht i m Vordergrund der Arbeit des Bundestages stehe, und er zuviel K r a f t und Zeit i n die Detailarbeit am Gesetz lege 18 . Nach dem Grundgesetz ist der Bundestag für den Gesetzesbeschluß zuständig. I m modernen industriellen sozialen Rechtsstaat ist das Recht vorrangiges M i t t e l der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Diese muß die gesamte Gesellschaft und alle relevanten Gruppen und ihre Interessen und Bedürfnisse befriedigen. Eine Kooperation aller widerspricht daher nicht nur nicht den Vorstellungen einer befriedeten Gesellschaft, sondern ist erforderlich. Wenn die Parteien i m Bundestag als dem entscheidenden Organ sie anstreben und möglichst weitgehend praktizieren, verstoßen sie nicht gegen Wesen und Geist des parlamentarischen Systems, sondern sie erfüllen eine weitgehende Erwartung. Das schließt nicht aus, daß auch i n wichtigen Gesetzesvorhaben der Gegensatz Regierungsmehrheit - Oppositionsminderheit zum Tragen kommt. Aber schon die rechtlich begründete Notwendigkeit, grundlegende Entscheidungen wegen der damit gegebenenfalls verbundenen Verfassungsänderungen m i t einer großen Mehrheit zu treffen, eine Notwendigkeit, die i n England nicht besteht, zwingt zur Kooperation 1 4 . Nur i m Rahmen einer Kooperation kann zudem die Opposition ihre Alternati worstellungen konkret verwirklichen und ist 12
Hereth: Reform S. 24 ff.: „Die Kooperationsorientierung der Arbeitsweise des Bundestages scheint uns ein wesentlicher Defekt der deutschen politischen Ordnung zu sein" (S. 25). 18 Oben S. 19. 14 Das wurde in der 6. Legislaturperiode z.B. bei der Neugestaltung des Beamtenbesoldungsrechts deutlich. Die CDU/CSU wollte einer Änderung der grundgesetzlichen Kompetenzregelung zugunsten des Bundes nur zustimmen, wenn vorher Klarheit über die gesetzliche Ausführung bestand. Da die Regierung keine entsprechende Konzeption entwickelte, übernahm der Innenausschuß diese Aufgabe, wo sie in Zusammenarbeit aller Fraktionen erarbeitet wurde, F A Z v. 4.3.1971.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
nicht auf einen erst i n der Zukunft liegenden, zudem ungewissen Positionswechsel angewiesen, der zudem gegebenenfalls zu spät käme, u m gegebene Entwicklungen wieder zu ändern 15 . Aus dieser auf verschiedenen Gründen beruhenden Zusammenarbeit innerhalb des Bundestages ergibt sich dann auch eine unabhängigere Stellung des Bundestages als solchem einschließlich der Regierungsmehrheit gegenüber der Bundesregierung, wenn diese auch nur i n seltenen Fällen zu einer Opposition des Bundestages als solchem zur Bundesregierung führt 1 6 . Anders als beim Gesetzgebungsverfahren ist das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition bei der M i t w i r k u n g an der Regierungsfunktion und der Kontrolle der Bundesregierung. Hier bestimmt i n der Tat weitgehend der mehr oder weniger weitreichende Gegensatz der politischen Vorstellungen. Hier müssen weitgehend Kontroversen und gegebenenfalls bestehende Konflikte ausgetragen werden. Dadurch w i r d die Regierungsmehrheit zur Regierung gedrängt und die Oppositionsminderheit steht beiden gegenüber. Aber auch das Anstreben und die Demonstration der Einigkeit i n grundlegenden Fragen, ζ. B. der Außenpolitik nach innen wie nach außen können politisch notwendig sein und haben ihren legitimen Ort 1 7 . Die Kontrolle obliegt zudem als Zuständigkeit dem gesamten Bundestag. U m wirksam wahrgenommen werden zu können, muß auch die Regierungsmehrheit daran teilnehmen. Es gibt hinreichend Beispiele i n der Geschichte der Bundesrepublik, die die Ohnmacht einer nur der Minderheit überlassenen Kontrolle erweisen. Es sei nur an die SpiegelAffäre des Jahres 1962 erinnert. Jeder Abgeordnete hat die Amtspflicht der Kontrolle. Auch die Ausübung der konkreten Kontrollfunktion, die nicht nur auf einen späteren Rollenwechsel über den Wahlakt hinzielt, kann also den Bundestag insgesamt i n Opposition zur Regierung bringen. Die kurze Skizze zeigt, daß es einseitig und der deutschen Verfassungsrechtswirklichkeit nicht angemessen ist, den früheren Gegensatz Volksvertretung - Regierung vollständig durch einen Gegensatz Regierung und Regierungsmehrheit gegen Oppositionsminderheit zu ersetzen. Die gegenwärtige innere Organisation des Bundestages legt ihn auch nicht zugrunde. Sie einseitig daraufhin völlig umzugestalten, wie es von einigen Reformern verlangt wird, widerspricht der gewachsenen und wirksamen 15
Zur Zusammenarbeit im Gesetzgebungsverfahren: Kralewski-Neunreither: Verhalten, Zweiter Teil S. 107-Schluß; Loewenberg: Parliament p. 305 ff.; Maier: Parlamentsverständnis S. 11 f. und S. 42 ff. 18 Beispiele sind die Behandlung des Freiwilligengesetzes von 1955, des Reisegesetzes von 1960, dazu Loewenberg: Parliament S. 310 ff. Hingewiesen sei auch auf die vergeblichen Versuche des Arbeitsministers Blanck, zu Beginn der sechziger Jahre eine Sozialreform durchzusetzen. 17 Das übersieht Hereth (Öffentlichkeitsfunktion S. 32 ff. und Reform S. 24 ff.), der zu einseitig die Notwendigkeit, Kontroversen und Konflikte auszutragen, betont.
§ 5 Das Plenum des Bundestages
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deutschen „Politischen K u l t u r " , zu der Ausgleich und Kooperation notwendig gehören und gehören müssen. Andererseits ist i m Grundgesetz das Gegenüber von Regierung und Bundestag i n gewissem Maße beibehalten. Er ist keine nur „juristisch formale F i k t i o n " 1 8 . Schon die Tatsache, daß er i m Selbstverständnis der Abgeordneten eine wichtige Rolle spielt 1 9 , deutet auf seine Bedeutung hin, die auch i n der Praxis des Bundestages immer wieder mitbestimmend w i r k t , also nicht nur platonisch bleibt. Weder ist die Regierung ein „Ausschuß" des Bundestages oder auch nur seiner Mehrheit, noch ist die Mehrheit bloßes Vollzugsinstrument der Regierungspolitik 20 . Die innere Teilung des Bundestages i n Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit ist also zwar Bestandteil der Verfassungsrechtswirklichkeit und als solcher ein bestimmender, i n der Analyse zu berücksichtigender Faktor. Aber auch er steht i n Zusammenhang mit anderen Faktoren und darf nicht einseitig überbetont werden, weder für die Analyse noch für die weitere Gestaltung. 3. Die Funktionen der gem. A r t . 42 GG notwendigen öffentlichen Beratungen des Plenums sind innerhalb der einzelnen Zuständigkeiten des Bundestages unterschiedlich. Es lassen sich aber einige allgemeine Grundaussagen machen. Die Beratungen sollen Diskussionen ermöglichen, i n Rede und Gegenrede vor allem nach innen zu überzeugen suchen, um so eine auf Richtigkeit der Entscheidung gerichtete Rationalität wirksam werden zu lassen 21 . Die auf die Hervorbringung der richtigen Entscheidung gerichtete Rationalität des Verfahrens ist allerdings keine auf das Wahre, Dauernde, Wesen gerichtete Rationalität, sondern eine durch die Verhältnisse, deren Relationen und Proportionen, i n denen das zu entscheidende Problem sich darbietet, bestimmte Rationalität 2 2 . Der Entscheidungsprozeß als solcher soll, zweitens, nach außen, zur Öffentlichkeit der Gesamtgesellschaft hin, sichtbar und verstehbar und damit kontrollierbar und kritisierbar werden. Es geht also insoweit nur 18 So Hereth: Reform S. 33. Zum Vorwurf des juristischen Formalismus unten S. 285 f. 19 Dazu die oben Fußnote 15 zitierten Ausführungen von Maier; auch die Zitate bei Hereth (Reform S. 45), die dipper allerdings pauschal als „irrige Grundbehauptung" bezeichnet. Frage ist: „Wer irrt?" 20 So erklärte der Abgeordnete Emde (FDP) in der 9. Sitzung der V. Wahlperiode des Bundestages vom 1.12.1965 (Sten. Ber. S. 232 Β f.), daß weder die F D P noch die CDU, die derzeit als Koalitionspartner vereint waren, „Vortrupp der Regierung" seien, und er behielt sich ausdrücklich das Recht vor, sich „als Gegensatz selbst zur eigenen Regierung zu fühlen". 21 Hier wird ein von Schmitt (Lage S. 5 - 23 und S. 41 - 64) vor allem dargestellter Gedanke wieder aufgegriffen, allerdings, wie im Text gezeigt, erheblich modifiziert. 22 Dazu Ciaessens: Rationalität.
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darum, Information zu geben, was überhaupt vor sich geht, u m was es sich handelt, welche Probleme bestehen, welche Argumente es gibt, i n welcher Richtung die Entscheidung gefunden wird. Das ganze Verfahren, auch i n den Ausschüssen, ist dadurch gekennzeichnet. Aber die öffentlichen Beratungen i m Plenum zeichnen sich von den nicht-öffentlichen Beratungen i n den Ausschüssen doch eben dadurch aus, daß sie die Diskussion nicht nur zwischen den Abgeordneten bzw. deren Zusammenschlüssen i n den Fraktionen führen, sondern zwischen Bundestag und öffentlich gewordenen Meinungen, Vorstellungen und Interessen ermöglicht. Die Diskussion i m Plenum w i r d nicht nur vor dem Publikum geführt, sondern auch m i t ihm, sollte es jedenfalls 23 . Die Pressefreiheit war und ist ein notwendiges komplementäres Institut der öffentlichen Plenarberatungen, ebenso andere Formen der Kommunikation zwischen Publik u m und Bundestag. Die politische Willensbildung ist i n gesellschaftliche und staatliche Willensbildung zu unterscheiden. Die öffentlichen Plenarberatungen sind Teil der staatlichen Willensbildung, aber sie sind öffentliche Willensbildung, u m von der gesellschaftlich-politischen Willensbildung nicht abgeschnitten zu werden. Zum dritten soll die Entscheidung, ζ. B. also das Gesetz, gegenüber der Gesamtgesellschaft begründet bzw. seitens der Opposition die Ablehnung und gegebenenfalls die Alternative dargestellt werden. Der Unterschied gegenüber den vorhergenannten Funktionen der öffentlichen Verhandlung liegt darin, daß bereits Entschiedenes, Hervorgebrachtes nach außen nunmehr dargelegt und gestützt oder kritisiert und verworfen w i r d 2 4 . Es w i r d dabei nicht vornehmlich informiert, sondern möglichst unmittelbar durch die Darstellung der Gründe und Gegengründe motiviert i m Hinblick auf die Formierung der politischen Unterstützung der vorgetragenen Entscheidungsprogramme, vor allem auch i n den nächsten Wahlen 2 5 . Es wäre eine theoretische, den Blick vereinseitigende und damit falsche Aussage über die verfassungsrechtlich geformte Wirklichkeit, würde nur die eine oder die andere als die wesenhafte, eigentliche Funktion der öffentlichen parlamentarischen Beratung genommen. I n einer geschichtlichen, durch das Verfassungsrecht und die politische Praxis bestimmten Lage mag die eine oder andere Funktion i m Vordergrund stehen. Eine von abstrakten theoretischen Ansätzen einseitig die Reformen prägende Heraushebung nur einer Funktion würde aber zu einer Entleerung der öffentlichen Beratung i m Bundestag führen. Wurde früher insbesondere von Carl Schmitt die erste Funktion besonders hervorgehoben 28 , so t r i t t 23
Dazu auch Dietrich: Funktion S. 91 ff. Diese betont Hennis : Rechtfertigung S. 104. 25 I m einzelnen Steiger: Funktion durchgehend; zur Darstellungs- und Motivationsfunktion auch: Dietrich: Funktion S. 90. 28 Die oben Fußnote 21 zitierten Stellen. 24
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jetzt die dritte Funktion i n der wissenschaftlichen Theorie nach vorne. Gleichzeitig w i r d die erste Funktion zurückgewiesen. Hauptrepräsentant dieser Richtung ist Hennis 2 7 . Er hat Schmitt die These entgegengesetzt, i n der Debatte solle Verantwortung und Begründung der Politik nach außen h i n erfolgen, aber nicht i n der Diskussion, sondern i n einer A r t von Erklärungen, Gegenerklärungen, Angriffen und Verteidigung, nicht i m H i n blick auf noch Hervorzubringendes, sondern auf bereits Entschiedenes 28 . Bei beiden erklärt sich die einseitige Betonung aus ihrer unterschiedlichen, grundsätzlichen, theoretischen Auffassung vom parlamentarischen System 29 . Es ist auch nicht zutreffend, daß die Entscheidungen immer schon gefallen sind, bevor sie i m Plenum debattiert werden. Die Auseinandersetzungen u m die Wehrpolitik zu Beginn der fünfziger Jahre betrafen durchaus offene Sachprobleme. Auch die erste Lesung eines Gesetzentwurfes leitet einen Entscheidungsprozeß oft erst ein. Die vorgetragenen Argumente wirken durchaus auf die Entscheidungen ein. Hennis und Hereth überinterpretieren die dargestellte Trennung i m Bundestag zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Wenn Hereth gerade i n diesem Zusammenhang sich gegen die amicabilis compositio wendet und die Austragung der politischen Kontroverse, des Konfliktes zwischen Regierung und Opposition ins Zentrum der parlamentarischen Tätigkeit rücken w i l l , so hätte er auch erörtern müssen, was diese einseitige Akzentuierung für die politische K u l t u r i n der BRD für Folgen hätte. Es w i r d gar nicht gefragt, ob die Voraussetzungen dafür i n der politischen Wirklichkeit der BRD gegeben sind 3 0 . Die Parteistaatlichkeit w i r d einseitig überbetont. Hinter Hereths und Hennis' Theorien steht auch die Zurückdrängung der gesetzgeberischen Tätigkeit des Bundestages, die mehr und mehr der Regierung überlassen werden soll. Daß der Bundestag tatsächlich über der Gesetzgebungsarbeit andere wesentliche Auseinandersetzungen versäumt hat, insbesondere i n der Zeit der Großen Koalition i n bezug auf die damals aufbrechenden Konflikte i n der Gesellschaft, vor allem m i t der jüngeren Generation, ist allerdings nicht zu leugnen. Aber es wäre wenig geholfen, nun i n das gegenteilige Extrem zu verfallen. Wenn aber die Gesetzgebungstätigkeit des Bundestages zu seinen wesentlichen Aufgaben gehört, gehört auch, wie dargelegt, 27
Bundestag S. 26 - 36. Ähnlich jetzt Hereth (Öffentlichkeitsfunktion S. 30 f.), der auf der Grundlage seiner These des strikten Gegenübers von Regierungsmehrheit und Opposition die These vertritt, daß „die Darstellung von Kontroversen zwischen den politischen Gruppen das Hauptziel institutioneller Reformen" sein müsse. 29 Oben S. 16. 80 Hereth weist allerdings in einer neueren Veröffentlichung (Reform S. 49) darauf hin, daß als Voraussetzung noch eine „gemeinsame Welt" gegeben sein müsse, es aber in Deutschland noch immer an einem „commonwealth" fehle. 28
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I. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
die amicabilis compositio dazu und dann kann die öffentliche Debatte nicht nur Darstellung von Kontroversen und Konflikten, sondern muß auch rationale Debatte sein. Die Reformbemühungen u m die Gestaltung der Arbeit des Bundestages auch i n der öffentlichen Debatte müssen alle Funktionen m i t einbeziehen, wenn sie der Komplexität des modernen Regierungsprozesses, an dem der Bundestag i n seinen verschiedenen Zuständigkeiten i n verschiedener Weise teil hat, gerecht werden wollen. Die Schwierigkeit, Reformen zu verwirklichen, mag u. a. darin liegen, daß diese Komplexität nicht als solche erfaßt wird, sondern immer wieder einseitig reduziert werden soll.
I I . Das Verfahren 1. Die Regelungen des Verfahrens bei den Beratungen des Plenums zerfallen i n zwei Gruppen. I n einer Gruppe werden die Regeln zusammengefaßt, die für alle Beratungen gelten. Die zweite Gruppe umfaßt die Spezialregelungen für die Wahrnehmung der einzelnen Zuständigkeiten. Nur die erste Gruppe steht i m vorliegenden Zusammenhang zur Untersuchung. Die Regeln finden sich zum geringeren Teil i m Grundgesetz, insbesondere i n Art. 42 GG. Dort ist die Öffentlichkeit der Beratungen des Plenums geregelt. Weiterhin ist die Grundregel für die Abstimmungen dort niedergelegt. Danach ist zu einem Beschlüsse des Bundestages die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der Mitglieder erforderlich. I n anderen Vorschriften werden Sonderregelungen für besondere Abstimmungen festgelegt. Der weitaus größere Teil der Verfahrensregeln für die Plenarberatungen ist i n der Geschäftsordnung des Bundestages niedergelegt, insbesondere i n Abschnitt V I I . A u f einige für die Erfüllung der Funktion des Bundestages als Entscheidungsorgan besonders wichtige Verfahrensprobleme sei i m folgenden eingegangen. 2. Einige der wichtigsten Fragen betreffen die Festsetzung der Sitzungstermine und die Aufstellung der Tagesordnung. Denn dabei fallen die Entscheidungen darüber, was zur Beratung und Entscheidung durch den Bundestag kommt. Gemäß § 6 GOBT w i r d ein längerfristiger Arbeitsplan i n Vereinbarungen des Ältestenrates aufgestellt. Er hat zwar vorläufigen Charakter, da er Änderungen wegen vorrangiger Behandlung aktueller und eilbedürftiger Gegenstände und auch aus anderen Gründen nicht ausschließt; aber es w i r d doch ein Arbeitsrahmen ausgearbeitet. Es sollen Plenarwochen nach Fachbereichen gebildet werden. Dieser Arbeitsplan soll nach dem
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Bericht des Geschäftsordnungsausschusses zu dieser durch die Geschäftsordnungsreform von 1969 eingeführten Neuerung eine Frist von drei Monaten erfassen 31 . Festgelegt werden nicht die einzelnen Tagesordnungen. Das ist so lange i m voraus gar nicht möglich. Aber es w i r d doch ein Gerippe aufgestellt, i n das die anfallenden Vorlagen mehr oder weniger passend eingefügt werden. Damit ist eine überschaubare Ordnung i n gewissem Maße gegeben, auf die sich die Abgeordneten i n etwa einstellen können. Welcher A r t diese Fachbereiche sein werden, soll sich aus der durch den Ältestenrat maßgebend gestalteten Praxis entwickeln. Eine Festlegung, wie sie die vom Bundestagspräsidenten von Hassel eingesetzte Kommission aus Abgeordneten und Bundestagsbeamten zur Reform der Geschäftsordnung dem Geschäftsordnungsausschuß vorgeschlagen hatte, ist von dieser ausdrücklich abgelehnt worden. Entscheidend soll sein, daß von der Sache her zusammengehörende oder sich doch berührende und beeinflussende Vorlagen und sonstige Anträge zusammen behandelt werden sollen. Eine Flexibilität muß notwendigerweise erhalten bleiben. Ein starres Schema darf sich nicht daraus entwickeln 3 2 . Innerhalb dieses Rahmenplans werden dann die einzelnen Sitzungen anberaumt und deren Tagesordnung festgelegt. Grundsätzlich liegt die Befugnis, die Sitzungen anzusetzen und darin eingeschlossen auch die Befugnis die Tagesordnung der jeweils nächsten Sitzung zu bestimmen, beim Bundestag selbst (Art. 39 Abs. 3 Satz 1 GG). I n der Praxis hatte sich jedoch schon bald das folgende Verfahren herausgebildet, das seit der Reform vom Frühjahr 1970 i n den §§ 24 ff. GOBT auch schriftlich niedergelegt ist. Der Plan für die Abfolge der Sitzungen und die Tagesordnung werden auf Grund von Vereinbarungen i m Ältestenrat aufgestellt, es sei denn der Bundestag beschließt vorher. Diesen Vereinbarungen gehen Beratungen i n den Fraktionen vorauf, d. h. i n ihren verschiedenen Gremien wie den Vorständen, den zuständigen Arbeitskreisen und den Vollversammlungen 3 3 . I n diesen Fraktionsberatungen, die bei den Regie81 Drs. V/4373, darin: A. Anlage zum Schreiben des Bundestagspräsidenten v. 9. Juni 1969 an die Mitglieder des Bundestages, Nr. 4 Bericht des Abg. Mommer S. 4, Begründung zu § 6 S. 6. Dazu jetzt auch Ritzel-Bücker: Handbuch und Kommentar § 6 Anm. I I 4. 32 Ritzel-Bücker (ibid.) weisen auf die doppelte Funktion der Ordnung nach Fachbereichen hin. Nicht nur soll nach innen eine bessere Übersicht über die anstehende Arbeit ermöglicht werden, sondern auch nach außen soll größere Klarheit und Transparenz der Sachzusammenhänge erreicht und damit ein weit erreichendes Interesse der Bevölkerung geweckt werden. Allerdings hat die Neuerung eine bessere Berichterstattung über die Arbeit des Bundestages nicht bewirkt. Selbst dem interessierten Bürger bleibt der Zugang weitgehend verschlossen. Bis zum Herbst 1971 war die Zusammenfassung nach Fachbereichen noch nicht erfolgt. Es wird eine Koppelung mit den verschiedenen Berichten der Bundesregierung erwogen. Es läßt sich also noch nicht sagen, ob die genannten Funktionen erfüllt werden. 83 § 3 Abs. 3 b Arbeitsordnung CDU/CSU-Fraktion: „Die Fraktionsvollver-
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. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
rungsfraktionen auch Beratungen m i t dem zuständigen Minister, seinem Stellvertreter und den Mitgliedern der jeweils betroffenen Ministerien, anderen Regierungsmitgliedern und vor allem auch den Kanzler einschließen können, w i r d die „Marschroute" für die Beratung festgesetzt. Es werden auch die Redner der Fraktion bestimmt und der Inhalt der Reden richtungsmäßig festgelegt. Bei kontroversen Gegenständen kann es i n diesem Vorstadium schon zu erheblichen Schwierigkeiten kommen, die i m Extremfall dazu führen können, daß die Beratung des Gegenstandes, ζ. B. eines Gesetzentwurfes, weit hinausgeschoben wird, gegebenenfalls gar nicht zustande kommt. Entsprechend diesen Beratungen einigen sich die Vertreter der Fraktionen i m Ältestenrat über die Gestaltung der Tagesordnung 34 . Sie w i r d den Abgeordneten sowie der Bundesregierung und dem Bundesrat mitgeteilt. Da es sich u m eine Vereinbarung handelt, muß sie einstimmig erfolgen. Es gibt keine Mehrheitsentscheidung. Der Ältestenrat faßt aber insoweit keine rechtsverbindlichen Beschlüsse, sondern macht nur Vorschläge 35 . Die Tagesordnung gilt als festgestellt, wenn das Plenum ohne Widerspruch i n die Beratung des 1. Punktes der Tagesordnung m i t dessen Aufruf eingetreten ist, also durch stillschweigende Zustimmung. Vor Aufruf des Punktes 1 kann jeder Abgeordnete eine Änderung der Tagesordnung, Aufnahme oder Absetzung eines Tagesordnungspunktes beantragen, wenn der Antrag spätestens bis 18.00 Uhr des Vortages beim Präsidenten eingegangen ist. Das gibt der Mehrheit insbesondere die Möglichkeit, i m Falle einer Nichteinigung i m Ältestenrat doch einen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, den die Opposition nicht behandelt haben möchte. Es ist also ein M i t t e l der Mehrheit gegen die Minderheit, nicht umgekehrt 3 6 . Die Tagesordnung der einzelnen Sitzungen w i r d i. a. wochenweise festgelegt. Aber jeder Tag gilt als neue Sitzung, für die ein Stück der „Wochenordnung" als eigene Tagesordnung g i l t 8 7 . Sammlung berät die Tagesordnung der Bundestagssitzungen auf Grund von Berichterstattungen der Arbeitskreise"; dazu: Loewenberg: Parliament p. 305 sv und Beispiele p. 310 - 325; dazu: Schulte: Manipulateure S. 76 ff. und Hirsch: Diktatur passim. 34 Zu den Einzelheiten: Loewenberg: Parliament p. 203 sv und 307; Schäfer: Bundestag S. 212. 35 Die Stellung des Ältestenrates hat sich insoweit auch durch die Geschäftsordnungsreform vom Sommer 1969 nicht geändert, § 6 Abs. 2 GOBT. 36 So konnte die SPD-Fraktion am 8. Nov. 1966 den Antrag, den damaligen Bundeskanzler Erhard zu ersuchen, die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG zu stellen, nur dadurch auf die Tagesordnung bringen, daß sie mit der F D P Fraktion die Mehrheit hatte und diese für die Aufsetzung stimmte. Die Regierungsparteien waren anomaler Weise in der Minderheit. — Die Minderheit kann in besonderen Fällen allenfalls mit Auszug drohen, was gegebenenfalls zur Beschlußunfähigkeit, jedenfalls aber nach außen zu einem „schlechten Eindruck" für die Mehrheit führen kann. I m Juni 1971 erwog die CDU/CSU diesen Schritt, um eine dem „17. Juni angemessene" Tagesordnung durchzusetzen. Erst nach langen Verhandlungen kam eine Einigung im Ältestenrat zustande, F A Z v. 12. Juni und v. 15. Juni 1971.
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Die Herrschaft über die Tagesordnung steht also ausschließlich dem Bundestag selbst zu. Alle Vorlagen sind unabhängig vom Initianten gleichberechtigt. Insbesondere haben Regierungsvorlagen keinen irgendwie gearteten Vorrang gegenüber Anträgen, Anfragen oder sonstigen Vorlagen aus der Mitte des Hauses, vor allem nicht gegenüber solchen der Oppositionsfraktionen. Eher das Umgekehrte ist der Fall. Die Regierung hat keinen bestimmenden Einfluß auf die Tagesordnung. Das englische Prinzip, daß die Regierung die Arbeit des Unterhauses leitet, der Opposition hingegen i. a. nur K r i t i k und nur eine geringe Zeit für ihre Vorlagen reserviert, gilt i n Deutschland nicht 3 8 . Dieser Zustand ist von Hennis kritisiert worden, und es wurde die Übernahme des englischen Prinzips empfohlen 39 . Auch hierfür ist sein grundsätzlicher, an Bagehots Interpretation des englischen Verfassungsrechts ausgerichteter Ansatz über die Stellung des Bundestages maßgebend. Das entspricht aber nicht nur nicht der deutschen Tradition, die, wenn notwendig, aufgegeben werden könnte. Es entspricht aber auch nicht dem dargelegten Verhältnis von Bundestag und Bundesregierung. Es besteht weder nach dem Grundgesetz noch i n der Wirklichkeit ein absoluter Führungsanspruch des einen noch des anderen Organs. Sondern beide stehen gleichberechtigt nebeneinander, soweit ihre jeweiligen Zuständigkeiten reichen. Die Zuständigkeitsverteilung erweist sich auch hier als ein sehr diffiziles Gebilde gegenseitiger Hemmungen und Abhängigkeiten. Ein verfassungsorganisatorisches Prinzip läßt sich nicht einfach von einem Staat i n einen anderen m i t unterschiedlichen politischen und rechtlichen Strukturen übertragen. Es fehlt i m Bundestag wie dargelegt die eindeutige Frontstellung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, wie sie i m englischen Unterhaus vorliegt. Es fehlt daher die Basis. Nicht nur die Grundstruktur des Bundestages müßte grundlegend verändert werden, u m Hennis' Vorstellungen durchzusetzen, sondern die verfassungsnormativen Grundlagen des gegenwärtigen Systems. Es er37 Es kann also an jedem Sitzungstag vor Aufruf des ersten Beratungsgegenstandes der neuen Sitzung ein Gegenstand neu aufgesetzt werden, wie § 24 Abs. 2 S. 2 GOBT ausdrücklich sagt. 38 Es scheint, als ob durch den Übergang der Vertretung der Interessen der Bundesregierung im Ältestenrat vom Bundesratsminister auf den Minister im Kanzleramt im Herbst 1969 der Einfluß der Regierung auf die Gestaltung der Tagesordnung stärker geworden ist. 39 Hennis : Bundestag S. 33. Auch Hereth (Öffentlichkeitsfunktion S. 41 ff.) beklagt, daß die Regierung nicht das Führungsorgan der Mehrheit im Parlament sei, sondern die Fraktionsvorstände auch der der Mehrheitsparteien ein zweites Machtzentrum der Mehrheitsparteien seien. Er kritisiert diesen Zustand von seinem Ansatz der Gegenüberstellung von Mehrheit und Opposition. Dieser bereits oben kritisierte Ansatz erweist sich nunmehr als rein normativ und nicht empirisch gefunden, „um so schlimmer für die Wirklichkeit"! Dann hätte aber der normative Anspruch näher begründet werden müssen; ein aus England oder sonst wo bezogener Parlamentarismusbegriff reicht dafür nicht hin.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
gibt sich die Fragwürdigkeit der Methode, auf ganz anderen Grundlagen verfassungsrechtlicher Zustände gewachsene Verhaltensweisen auf die deutschen Verhältnisse übertragen zu wollen. Es würde doch etwas ganz anderes daraus werden. 3. I m Hinblick auf die drei genannten Funktionen der öffentlichen Beratungen ist die Rednerfolge bei den Beratungen i m Plenum ein wichtiges Problem. Es ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß das Haus i n eine Mehrheit, die den Bundeskanzler gewählt hat und die Regierung trägt, und i n eine Minderheit, die den Bundeskanzler nicht gewählt hat und zur Regierung i n Opposition steht, zerfällt. Es ist weiter dadurch bestimmt, daß die Mitglieder der Bundesregierung und deren Beauftragte gemäß A r t . 43 Abs. 2 GG jederzeit i m Plenum und i n den Ausschüssen gehört werden müssen. Wenn nicht gerade ein Abgeordneter spricht oder eine Abstimmung läuft, muß ihnen das Wort erteilt werden, das sie beliebig lange halten können. Dasselbe gilt für die Mitglieder des Bundesrates 40 . Der Bundestag berät also nicht allein. Die Walter anderer Verfassungsorgane können sogar weitergehender als die Organwalter des Bundestages i n seine Aussprachen eingreifen. Ein entsprechendes Recht steht dem Bundestag weder gegenüber der Bundesregierung noch gegenüber dem Bundesrat zu. Er befindet sich durch diese Regelungen gegenüber Bundesregierung und Bundesrat i n einer schwächeren Stellung. Den beiden Organen w i r d damit ein erheblicher Einfluß auf die jeweiligen Entscheidungsprozesse i m Bundestag eingeräumt. Denn sie können zwar keine formellen Anträge stellen 41 , aber informelle Vorschläge machen. Sie können ihre Vorstellungen und Argumente vortragen und vor allem jederzeit auf Gegenargumente sofort antworten, was die Abgeordneten nicht können. Die Schranke des Mißbrauchs ist sehr weit. Dieses Recht ist aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie überkommen. Es erscheint sehr fraglich, ob es i m Staatsrecht der parlamentarischen Demokratie noch berechtigt ist 4 2 . Die unbefragte Übernahme der Regelung zunächst i n die WRV und dann i n das Grundgesetz überrascht; denn sie hat ihren Ursprung i n einem Vorrang des Regierungsorgans als Träger der Staatsgewalt. Das ist nicht mehr der Fall. Diente die Regelung ursprünglich der Vertretung der Interessen und 40
h. L. v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 43 Anm. I V S. 937 ff. mit Verweisen; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 43 Rdnr. 10 ff.; Trossmann: Parlamentsrecht S. 207 ff. 41 Unten S. 95. 42 Überraschend ist die Einräumung derselben Rechte auch an den Bundesrat; damit ist wieder die Regelung des Art. 9 R V von 1871 hergestellt. Nur war damals der Bundesrat Träger der Staatsgewalt des Reiches und sein Regierungsorgan, jedenfalls in der ursprünglichen Konzeption. Unter der W R V hatten die Länderregierungen ähnliche Rechte im Reichstag. I m Grunde findet hier eine Vermischung und Verwischung, dazu noch in durchaus einseitiger Weise, von verschiedenen Gewaltträgern statt.
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Forderungen der Krone und ihrer Regierung gegenüber der Volksvertretung 4 8 , so ist eine entsprechende Funktion heute nicht mehr die allein maßgebende. Die Abhängigkeit der Bundesregierung vom Bundestag i m parlamentarischen System der Rechtsordnung des Grundgesetzes führt dazu, daß die Bundesregierung m i t diesem Recht nicht nur ihre Politik i m Bundestag darlegt und rechtfertigt, sondern auch denselben unterrichtet, i h n i n den Stand setzt, seine Zuständigkeiten sachgemäß auszuüben, und von i h m auch die Billigung und Unterstützung zu erlangen sucht. Aber eine verengende Auslegung des Wortlautes ist angesichts der Eindeutigkeit des Wortes „jederzeit" über die gegenwärtige Praxis hinaus nicht möglich. Die Rechte von Bundesregierung und Bundesrat sind aktive, gestaltende Teilhaberrechte, sie gehen über die bloße Hemmung hinaus. Die h. L. nimmt an, daß die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates als solche auch Anträge stellen dürfen, die über die i m Grundgesetz genannten Anträge hinausgehen. Aus A r t . 43 Abs. 2 GG ergibt sich das nicht. Anhörung heißt nicht, daß die Anzuhörenden auch notwendig das Recht haben müssen, formell Anträge zu stellen. Als Begründung für das Antragsrecht heißt es, es sei „selbstverständlich" 44 . Das erscheint unbegründet. Ein allgemeines Antragsrecht geht über das Recht aus A r t . 76 GG, Gesetzentwürfe einzubringen, bei weitem hinaus. Es würde die berechtigten Organe i n den Stand setzen, den Ablauf der Arbeit des Bundestages dadurch weitgehend zu kontrollieren und zu gestalten, daß sie, vor allem die Bundesregierung, ständig Sachanträge i n ihrem Sinne stellte, über die der Bundestag zu beschließen hätte. Z u bestimmen, wer i m Bundestag Anträge stellen kann, unterliegt der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages, soweit nicht vorgehendes Recht solche enthält. Derartige allgemeine Antragsrechte sind jedoch weder i m Grundgesetz noch i n der Geschäftsordnung des Bundestages vorgesehen 45 . § 33 GOBT versucht, für die Rednerfolge i n der komplexen Situation einige Grundsätze aufzustellen. Der Anfang einer allgemeinen Aussprache und meist auch der Verlauf der Abfolge der Redner einschließlich ihrer Redezeit w i r d durch Vereinbarungen i m Ältestenrat geregelt. Die Vereinbarungen schließen auch die geplanten Ministerreden ein, was eine spontane Meldung und die Pflicht zu deren Berücksichtigung durch 43 So eindeutig v. Rönne: Preußisches Staatsrecht 3 § 130 Fußnote 1, 2. Bd., S. 442, 5. Aufl., § 34 Fußnote 1, Bd. 2, S. 392. 44 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 43 Anm. I V 4 S. 938; Maunz-DürigHerzog: Kommentar Art. 43 Rdnr. 24. 45 Wie hier Schäfer: Bundestag S. 210; Trossmann: Parlamentsrecht S. 16. Kritisch von seiner Auffassung her konsequent Hereth: Reform S. 34; allerdings können auch die englischen Regierungsmitglieder nur in ihrer Eigenschaft als Unterhausabgeordnete Anträge einbringen.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
den Präsidenten allerdings nicht ausschließt. Aber immerhin w i r d das Recht der Regierung aus A r t . 43 Abs. 2 GG doch etwas i n den allgemeinen Ablauf der Debatte eingefügt 46 . Aber bei längerer Aussprache w i r d dem Präsidenten die Pflicht auferlegt, die Reihenfolge zu bestimmen, wenn nicht auch hier wieder Zwischenvereinbarungen, oft sogar sehr informell nur zwischen den parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen nicht selten über die Köpfe der Redner, der Fraktionen und des Präsidenten hinweg getroffen werden. Eine strikte Reihenfolge gibt es nicht. Vielmehr ist eine sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung zu erreichen. Die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen hat den Präsidenten bei der Rednerfolge zu leiten. A u f die Rede eines Ministers oder seines Beauftragten soll eine abweichende Meinung zu Wort kommen. Damit soll erreicht werden, daß die Funktion der Beratungen, wie sie eingangs dargestellt wurden, auch w i r k l i c h erfüllt werden können und nicht mehrere Vertreter der gleichen Ansicht, Minister und Mitglieder der Regierungsparteien hintereinander reden. Damit hat sich die Ansicht der SPD gegenüber der der CDU/CSU i n einem längeren Streit durchgesetzt. Er betraf das Verhältnis von Regierung, Regierungsmehrheit und Oppositionsparteien. Er ging darum, ob i n den Aussprachen die Zweiteilung des Hauses i n Regierungsmehrheit und Opposition zur Grundlage der Redeordnung gemacht werden solle, dergestalt, daß auf einen Vertreter der Regierungsmehrheit einschließlich Bundesregierung ein Vertreter der Oppositionsparteien antworten solle. Obwohl der Streit erledigt ist, ist er doch für die Auffassung vom parlamentarischen System von grundsätzlicherer Bedeutung. Hinter i h m standen die zwei verschiedenen Auffassungen über das parlamentarische Regierungssystem, aber auch zwei verschiedene Methoden der Betrachtung. Die erste Meinung ging von der deutschen Verfassungstradition und von einem Gegenüber von Bundestag und Bundesregierung aus 47 . Die zweite Auffassung sah i n Deutschland eine ähnliche Entwicklung gegeben wie i n England und übertrug das Modell von dort 4 8 . Es ist dazu oben eingehend Stellung genommen worden. 46 Eine volle Eingliederung der Reden der Regierungsmitglieder in die Gesamtzeit einer Debatte fand in der 1. Lesung der Ostverträge am 23., 24., 25.2. 1972 statt, in der die Redezeit der Regierung auf die Gesamtredezeit der Regierungsfraktionen SPD und F D P voll angerechnet wurde, ein sicherlich entscheidender Schritt im Verhältnis Regierung—Regierungsfraktionen—Opposition. 47 So der Abgeordnete Rasner (CDU/CSU) in der 1. Beratung des Antrags Drs. V/396 der SPD, V/48. Sitzg. v. 16. Juni 1966 Sten. Ber. 2320 D ff. und ders.: Herrschaft S. 103. 48 So der Abgeordnete Friedrich Schäfer (SPD) in derselben Beratung Sten. Ber. S. 2318 D ff.; ders.: Bundestag S. 214; Hennis : Bundestag S. 32; Hereth: Öffentlichkeitsfunktion durchgehend. Die Untersuchung von Maier u. a. (Paria-
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Die „Traditionalisten" übersahen die nicht nur praktische, sondern verfassungsrechtliche Änderung der inneren Teilung des Bundestages i n Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit. Insofern ist auch eine gewisse Annäherung an die englische Situation gegeben. Aber die Unterschiede sind, wie bereits dargelegt, noch immer erheblich. Die Frage kann daher nicht einheitlich gelöst werden. Vielmehr sind Unterschiede danach zu machen, was beraten wird, eine Gesetzesvorlage, eine Regierungserklärung, eine Anfrage, ein Bericht der Regierung oder ein Untersuchungsbericht eines Untersuchungsausschusses. Für die Gesetzesberatung i n der ersten Lesung könnte es durchaus sinnvoll sein, daß nach der Begründung einer Regierungvorlage durch den Minister erst die Regierungsfraktionen sprechen bzw. deren stärkste, w e i l sie ja letzten Endes die Entscheidung fällen, und erst dann die Oppositionsfraktionen. Die Begründung durch ein Mitglied der Regierung ist keine Stellungnahme der Regierungsfraktionen. Für große Anfragen und Beratungen über Regierungserklärungen gilt etwas anderes. Für sie treffen die Gesichtspunkte des Gegenübers von Regierung m i t den sie tragenden Fraktionen und Oppositionsfraktionen eher zu. Denn es ist für sie zu bedenken, daß i n der Beratung Diskussion zu herrschen hat, die m i t dem ersten Redner nach der Begründung bzw. dem Ausschußbericht begonnen hat 4 9 . Auch die Minister sind nur Diskutanten. Insofern ist die neue Regelung i n § 33 Abs. 1 GOBT eine — gegenüber früherer Praxis — notwendige Reform. Auch A r t . 43 Abs. 2 Satz 2 GG darf nur so angewandt werden, daß das Verhältnis zu den Zuständigkeiten anderer Organe und ihrer Organwalter nicht gestört wird. Immerhin stammt die Vorschrift aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, i n dem das Gegenüber von Volksvertretung und Regierung eindeutig war. Sie muß sich dem Staatsrecht der parlamentarischen Demokratie anpassen, i n dem der Bundestag i n sich i n zwei Lager gespalten ist und nur die Opposition der Regierung i n mancher Hinsicht w i r k l i c h „gegenüber" steht. Dem muß Rechnung getragen werden i n der Ausgestaltung des Geschäftsordnungsrechts, zu dem — als grundgesetzlich geregelter Bestandteil — auch A r t . 43 Abs. 2 Satz 2 GG gehört. Das Verhältnis von Regierung und den Regiementsverständnis) hat für diese Frage ergeben, daß die Mehrheit der Abgeordneten für die Zukunft auf ein Modell hin sich entwickeln wird, in dem „die Regierung von der Parlamentsmehrheit bestellt wird, bei gegenseitiger Betonung der Eigenständigkeit. Ihnen steht eine kontrollierende, kritisierende, aber mitarbeitende Opposition gegenüber", Nr. 221 S. 13 und Nr. 221.5 S. 15. 49 Das Verfahren zur Beantwortung großer Anfragen ist nunmehr so geregelt, daß Begründung und Beantwortung schriftlich vorgelegt werden, also nicht mehr in der Sitzung erfolgen und die Beratung unmittelbar im Plenum beginnt, § 106 GOBT. Sie wird, wenn zur Begründung oder Antwort keine mündliche Ergänzungen erfolgen, von einem der Fragesteller eröffnet, also gegebenenfalls auch einem Mitglied der Regierungsfraktionen. 7
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.2. Kap.: Fragen der Organschaft
rungsfraktionen zu den Oppositionsfraktionen i m Bundestag ist aber letzten Endes abstrakt nicht bestimmbar, sondern entwickelt sich aus der Praxis auf der Basis der rechtlichen Grundlagen i m Hinblick auf die verschiedenen Zuständigkeiten, wie sie i n dieser Untersuchung darzustellen versucht werden, verschieden. Eine Theorie der Opposition und die geschäftsordnungsmäßige Regelung ihrer Stellung müssen aus diesen verschiedenen Elementen entwickelt werden. 4. Ein anderes Problem der Plenarberatungen betrifft das Rederecht der Abgeordneten. Das Recht, i m Plenum zu reden, gehört zu den Amtszuständigkeiten des Abgeordneten und ist nur unter bestimmten Voraussetzungen durch den Bundestag i m Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie beschränkbar. Es ist nicht völlig oder auf Zeit ohne förmliches Verfahren entziehbar 50 . Die Geschäftsordnung setzt i n § 39 Abs. 1 a bestimmte Redezeiten. Ein Fraktionssprecher kann bis zu 45 Minuten, jeder andere Abgeordnete bis zu 15 Minuten Redezeit erhalten. Die Zeiten können durch den Präsidenten verlängert werden 5 1 . Darüber hinaus sieht die Geschäftsordnung einen verzögerten und einen sofortigen Schluß der Debatte vor (§§ 39 Abs. 1, 30 GOBT) 5 2 . Beim verzögerten Schluß der Debatte handelt es sich u m die Festsetzung einer Gesamtzeitdauer einer Beratung durch den Bundestag i n der Regel nach Vorschlag des Ältestenrates. Ist sie abgelaufen, t r i t t ohne weiteren Beschluß der Schluß der Beratung ein. Sie kann aber verlängert werden 5 3 . Bei sofortigem Schluß der Debatte w i r d über den Antrag auf Schluß der Debatte sofort beschlossen. Bei Gesetzesberatungen ist der Schlußantrag erst zulässig, wenn ein Abgeordneter nach dem Initianten oder dem Berichterstatter des Ausschusses zu der Gesetzesvorlage gesprochen hat. I n Verbindung mit § 33 GOBT ist Sinn dieser Vorschrift, daß die Gegenstellungnahme zum Gesetzesentwurf i m Bundestagsplenum nicht unterdrückt werden soll. Diese Rechte der Verfügung über die Redezeit durch die Mehrheit zu Lasten der Minderheit sind umstritten. I n Deutschland waren sie immer anerkannt. I m amerikanischen Senat haben sie sich nicht durchsetzen können 5 4 . Da die Rechte aber zur deutschen Verfassungsrechtstradition 50 Zu weit geht das BVerfG, E 10, S. 13, wenn es den zeitweiligen Ausschluß von den Beratungen unbefragt als zulässig erachtet. 51 Erklärung des Präsidenten von Hassel, 6. Legislaturperiode, 6. Sitzg. v. 29.10.1969, Sten. Ber. S. 46 D f. und S. 79 Β f. Durch die oft sehr fixierte Rednerordnung und die oft langen Reden, die die Höchstgrenzen nicht selten überschreiten, verliert die Debatte an Lebendigkeit, Klarheit und gerät in Gefahr disfunktional zu werden. U m die Möglichkeit zu geben, Argumente und Gegenargumente schneller zu wechseln, sind seit 1955 Zwischenfragen zugelassen worden, dazu Anlage 4 zur GOBT, Trossmann: Parlamentsrecht S. 312 f. 52 Den Zusammenhang beider betont auch das BVerfG, E 10, S. 13. 53 ζ. Β. 6. Legislaturperiode 55. Sitzg. v. 3.6.1970 Sten. Ber. S. 2875 Β f. durch einfache Zurufe aus dem Plenum auf eine Frage des Präsidenten. 54 Die Behauptung des BVerfG, kein Parlament könne auf die Dauer ohne das Recht, den Schluß der Debatte zu beschließen, arbeitsfähig bleiben (E 10,
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gehören, also zur konkreten rechtlichen Form der parlamentarischen Organisation, unterliegen sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein Mißbrauchsverbot besteht selbstverständlich auch hier. W i r d eine Gesamtdauer der Debatte festgelegt, so ergibt sich die Frage nach ihrer Aufteilung. Die Praxis teilt sie nach Fraktionen auf. Das bedeutet aber nicht, daß nun die Fraktionen darüber verfügen dürfen und die Redner und deren Redezeit m i t verbindlicher Wirkung etwa gegenüber dem Präsidenten festsetzen können. Diesem bleibt nach Maßgabe des § 33 GOBT das Recht, die Reihenfolge der Redner zu bestimmen. Die Fraktion darf keinen ihrer Mitglieder hindern, i m Rahmen der ihr zustehenden Zeit zu reden 55 . Sie darf nicht auf den Präsidenten i n dieser Richtung einwirken, und er darf derartigen Ansinnen, einem Abgeordneten zu ungunsten eines anderen das Wort zu erteilen, nicht nachgeben. Die parlamentarischen Geschäftsführer überschreiten bei weitem ihre Rechte, wenn sie derartiges versuchen, u m die Debatte zu steuern. Problematisch ist die Einfügung der Mitglieder der Regierung. Nach h. M. zu A r t . 43 Abs. 2 sind sie jederzeit zu hören und keiner Redezeitbeschränkung unterwerfbar 5 6 . Allerdings soll der Bundestagspräsident auf zeitliche wie inhaltliche Einfügung i n den Gesamtablauf der Plenarsitzung hinwirken 5 7 . Ihre Redezeit w i r d auf die der Regierungsparteien nicht angerechnet. Aber der enge Zusammenhang zwischen beiden läßt sich nicht übersehen. Die Bundesregierung kann durchaus das Gewicht ihrer Mehrheitsfraktionen verstärken. Daher ist es fraglich, ob der Opposition nicht ein entsprechendes Quantum mehr an Redezeit zugewiesen werden muß. Das Bundesverfassungsgericht hat das abgelehnt 58 . Seine S. 13), ist also nicht zutreffend. I n England wurde sie erst 1881 angesichts der Obstruktionstaktik der irischen Nationalisten durch Entscheid des Speaker eingeführt, Wollmann: Stellung S. 172 f. und 175 ff. 55 I m März 1972 erhob der Abg. Hupka den Vorwurf gegen die SPD-Fraktion, sie habe ihn daran gehindert, in der 1. Lesung zur Ratifizierung der Ostverträge gegen diese zu sprechen, ein Grund für seinen Austritt aus der Fraktion. Das wäre als ein Verstoß gegen das auch die Fraktionen bindende Rederecht des Abgeordneten zu werten. 56 BVerfGE 10, S. 18. 67 I n der Sitzung v. 29.10.1969, Sten. Ber. S. 79 erklärte der Präsident von Hassel, die von der CDU/CSU-Fraktion beantragte und ihr gewährte Zeitüberschreitung für die Rede des Abg. Dr. Kiesinger von 36 Minuten werde selbstverständlich der Redezeit des „entsprechenden Ministers" angehängt. I n der 13. Sitzung v. 26.11.1969 Sten. Ber. S. 477 Β regte Präsident ν. Hassel an, daß der Bundesinnenminister das Wort erst nach der Begründung durch einen der Antragsteller eines Gesetzentwurfs und nicht schon nach den diese einleitenden allgemeinen Bemerkungen durch einen Antragsteller nehmen sollte. Er erteilte es dem Minister aber, da dieser gerade zu diesen etwas sagen wollte, versuchte aber, ihn auch darauf zu beschränken: „Keine Bedenken, b i t t e , . . . , zu den allgemeinen Bemerkungen." I n beiden Vorgängen kommt der Versuch zum Ausdruck, auch die Mitglieder der Regierung in den allgemeinen Ablauf der Aussprachen einzupassen. 58 BVerfGE 10, S. 17 ff.
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Gründe sind nicht ganz überzeugend und betonen zwar zu Recht, aber auch ihrerseits nun zu einseitig das i m Grundgesetz angelegte Gegenüber von Regierung und Bundestag. Sie berücksichtigen nicht hinreichend, daß die Aufteilung i n Mehrheit und Opposition i m Bundestag nicht nur eine tatsächliche, sondern durch A r t . 63 GG hervorgerufene Folge der Regierungsbildung i m Bund ist und so i n die Verfassungsrechtsordnung eingebaut ist. Erst aus der Zusammenschau beider Gesichtspunkte kann die Lösung gefunden werden. Unabhängig von einem Mißbrauch des Rechts aus A r t . 43 Abs. 2 GG bewirkt seine Wahrnehmung, jedenfalls über ein bestimmtes Maß hinaus, notwendig eine Verlängerung der Redezeit der Opposition i n angemessenem Umfang 5 9 . Die Regelung des § 48 GOBT versucht, die Folgen des freien Rederechts der Minister für das Haus i. ü. aufzufangen, indem sie die Wiedereröffnung der Beratung oder Neuzuteilung bei bereits verbrauchter Redezeit vorsieht. Entsprechendes muß hier gelten. Es scheint aber, daß die Festsetzung der Gesamtredezeit durch Beschluß des Bundestages sich nicht bewährt hat. A n seine Stelle treten Vereinbarungen zwischen den Fraktionen über den Ältestenrat oder auch während der Debatte durch die parlamentarischen Geschäftsführer 60 . Solche Vereinbarungen sind wie alle anderen des Ältestenrates nicht verbindlich. Sie werden es auch nicht, wenn der Bundestag ohne Beanstandung der Zeitabreden i n die Tagesordnung eintritt. Es liegt dann kein stillschweigender Beschluß gemäß § 39 Abs. 1 GOBT vor. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Abreden, wie oft, dem Hause vorher nicht bekanntgegeben worden sind. Die Vereinbarungen binden den amtierenden Präsidenten dann nicht. Allenfalls besteht ein Brauch, ihnen zu folgen. Aber solche Bräuche, die sich aus rein praktischen Gründen ohne Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit eingeschlichen haben, sind m i t Vorbehalten zu wägen. Sie sind oft i m einseitigen Interesse der Fraktionen entstanden, die keineswegs die besten Wahrer der Rechte des einzelnen Abgeordneten sind, sondern nicht selten deren größte Gegner 61 . Es kann nur wiederholt wer50 I m Streitfall handelte es sich um drei aneinanderschließende Reden von Ministern von insgesamt zwei Stunden Dauer, denen nur noch 65 Minuten Redezeit der Oppositionsfraktionen gegenüberstand, während den Regierungsfraktionen noch 140 Minuten zustanden. 60 Nicht von ungefähr hatte der Abg. Rasner diesen Weg als „Möglichkeit Nummer eins" bezeichnet, um einer Debatte ein zeitliches Ziel zu setzen, bevor er einen Antrag nach § 39 Abs. 1 GOBT stellte, I I I . Legislaturperiode, 21. Sitzg. V. 25. März 1958, Sten. Ber. S. 1057. 61 § 3 GO SPD-Fraktion schreibt vor, daß ein Fraktionsmitglied sich über ein Eingreifen in eine Plenardebatte „mit dem zuständigen Ausschußobmann und dem parlamentarischen Geschäftsführer verständigen" muß. Ähnliches wird auch für die anderen Fraktionen gelten. Der Geschäftsführer der SPDFraktion Manfred Schulte rechtfertigt das damit, „daß die parlamentarische Woche im Ältestenrat und in den Fraktionen konzipiert und den Tagesordnungspunkten ein bestimmter zeitlicher Rahmen gesetzt ist", Manipulateure am Werk? Zur Funktion des Fraktionsvorstandes und der parlamentarischen
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den, daß Effizienz allein nicht den hinreichenden Beurteilungsmaßstab für die Organisation der parlamentarischen Arbeit abgibt. Auch i n diesem Bereich vermag die Berufung auf ein irgendwie geartetes politsches Erfordernis nicht das geordnete und i n bestimmter Richtung funktionierende rechtliche Verfahren außer Kraft zu setzen. I m Konfliktfall muß der Präsident daher das Wort erteilen 6 2 . U m das zu verhindern, kann nur ein Antrag auf Schluß der Beratung oder auf Vertagung eingebracht werden, über den dann abzustimmen ist. 5. Für eine Beschlußfassung muß der Bundestag beschlußfähig sein. Dazu ist die Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder i m Sitzungssaal erforderlich (§ 49 GOBT). Die Beschlußfähigkeit w i r d aber unterstellt. Sie w i r d nur festgestellt, wenn sie vor Beginn einer Abstimmung, also nicht während einer Beratung, von mindestens fünf anwesenden Mitgliedern bezweifelt wird. Verneint der Sitzungsvorstand einmüt i g den Zweifel, ist die Bezweiflung verworfen und das Haus gilt weiter als beschlußfähig. Bejaht der Sitzungsvorstand nicht einmütig die Beschlußfähigkeit, w i r d bei der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählen der Stimmen, also i m Wege des sogenannten Hammelsprungs, festgestellt. Ergibt sich die Beschlußunfähigkeit, muß der Präsident die Sitzung sofort aufheben. Ebenso muß er verfahren, wenn die Beschlußunfähigkeit sich ohne Anzweifelung bei einer Auszählung, namentlichen Abstimmung oder einer Wahl m i t verdeckten Stimmzetteln herausstellt 63 . Geschäftsführer: Bundestag S. 68 - 82, S. 69. Die Versicherung von Friedrich Schäfer, ebenfalls lange Zeit parlamentarischer Geschäftsführer der SPDFraktion: „Niemand kann einen Abgeordneten hindern, das Wort zu ergreifen", Bundestag S. 149, läßt die Frage nach dem Versuch offen. Der Abgeordnete soll „sich m i t . . . verständigen", soll nicht „ d e n . . . verständigen". Was geschieht, wenn man „sich" nicht verständigt? 62 So auch Schäfer: Bundestag S. 215. Anders aber wohl die Praxis: V./55. Sitzg. v. 14. 9.1966 Sten. Ber. S. 2716 D Vizeüräsidentin Probst: „Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen keine weiteren Wortmeldungen mehr erfolgen, es liegen auch keine mehr vor. Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Die Debatte wird morgen fortgesetzt." Hätten sich noch Redner gemeldet, hätte ihnen das Wort erteilt werden müssen. I n der 164. Sitzg. der I V . Legislaturperiode am 17. Febr. 1965 berief sich der Abg. Rasner, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, gegenüber dem Präsidenten auf eine interfraktionelle „Vereinbarung des Hauses, zu einem bestimmten Zeitpunkt, um 15.00 Uhr", mit der Beratung eines bestimmten Punktes zu beginnen. Die Beratung eines bereits behandelten Punktes wurde unterbrochen und ein bereits erteiltes Wort entzogen: „Gegen Verabredungen der Fraktionen ist selbst der amtierende Präsident machtlos. Wir werden also so verfahren, wie die Fraktionen vereinbart haben", Vizepräsident Schoettle, Sten. Ber. S. 8102 D. Der Abgeordnete kam dann am nächsten Tag zu Wort. Das Verfahren war unzulässig. Es hätte ein Vertagungsbeschluß gefaßt werden müssen. Der hätte zwar das gleiche Ergebnis gebracht, aber öffentlich und verantwortlich. Der Präsident ist nicht machtlos gegen interfraktionelle Vereinbarungen, die hier durch Zufall ans Licht kamen, sondern nur gegen Beschlüsse des Hauses. 63 Trossmann: Parlamentsrecht S. 58.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Da vor Abstimmungen die Klingeln surren, der Präsident die Abstimmung auch für kurze Zeit aussetzen kann, können Abgeordnete hinzueilen. Wenn sich die Kumulierung von Abstimmungen auf bestimmte Zeiten während einer Sitzung durchsetzen sollte, ist eine zufällige Beschlußunfähigkeit so gut wie ausgeschlossen. Nur die bewußte, als M i t t e l der Obstruktion eingesetzte Herstellung der Beschlußunfähigkeit durch Auszug einer Fraktion, vor allem der Opposition, spielt dann noch eine Rolle 6 4 . Dieses M i t t e l ist aber nur beschränkt anwendbar, weil sie eine wesentliche Behinderung der Zuständigkeitswahrnehmung des Bundestages, also eine Behinderung der Ausübung der Amtspflichten der Abgeordneten ist. Ist die Beschlußunfähigkeit festgestellt und die Sitzung aufgehoben, muß die Abstimmung i n der nächsten Sitzung wiederholt werden. Dabei steht die Frage so, wie sie gestellt ist, auch das Verfahren bleibt i m erreichten Stadium, ζ. B. bei Wahlen i n dem jeweiligen Wahlgang. Der A n trag auf namentliche Abstimmung bleibt ebenfalls bestehen. Das Verfahren w i r d also nur unterbrochen und dann i m selben Stadium wieder aufgenommen. Die Abstimmung selbst richtet sich hinsichtlich der erforderlichen Beschlußmehrheiten nach den Vorschriften des Grundgesetzes 65 . I n der Regel ist gemäß A r t . 42 Abs. 2 GG die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen für das Zustandekommen eines Beschlusses notwendig und genügend (Abstimmungsmehrheit). Beschluß ist jede rechtlich relevante Entscheidung des Bundestages auf welcher Rechtsgrundlage auch immer. Unter der Abstimmungsmehrheit versteht die deutsche staatsrechtliche Tradition die Mehrheit der abgegebenen Ja-Stimmen gegenüber den Nein-Stimmen. Stimmenthaltungen gelten nicht als „abgegebene" Stimmen 6 6 . Nach dem Grundgesetz gibt es neben der regelmäßigen einfachen Abstimmungsmehrheit die qualifizierte Abstimmungsmehrheit 6 7 und die einfache 68 und die qualifizierte 69 Abgeordnetenmehrheit, d. h. Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 121 GG). I n der Geschäftsordnung ist außerdem die qualifizierte Mehrheit der Anwesenden an einer Stelle 64 Sie wurde von der CDU/CSU-Fraktion praktiziert, die damals allerdings eine Regierungsfraktion war, um durch Zeitablauf zu verhindern, daß die oppositionelle SPD mit der anderen Regierungsfraktion, der FDP, die Aufhebung einer Verordnung der Bundesregierung über ein Embargo von Röhrenlieferungen an die Sowjet-Union verlangte. 65 I m einzelnen Maunz-Dürig: Kommentar Art. 42, Rdnr. 1 7 - 2 8 ; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 42 Anm. I V S. 929 - 933; Trossmann: Parlamentsrecht S. 1 ff. ββ Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 42 Rdnr. 17/18; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 42 Anm. I V 4 b S. 931. 67 Art. 42 Abs. 1 Satz 2; Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG. 68 Art. 29 Abs. 7; Art. 63 Abs. 2 Satz 1; Art. 63 Abs. 4 Satz 2; Art. 67 Abs. 1 Satz 1 ; Art. 77 Abs. 4 Satz 1 ; Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG. 69 Art. 61 Abs. 1 Satz 3; Art. 79 Abs. 2 GG.
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vorgesehen (§ 127 GOBT). Für das Zustandekommen der drei letztgenannten Mehrheiten werden die Enthaltungen als abgegebene Stimmen m i t gezählt. Sie wirken wie Nein-Stimmen. Die Form der Abstimmungen ist geregelt i n den §§ 52 - 59 GOBT. Die Fragen, über die abgestimmt werden soll, werden vom Präsidenten formuliert. Aber Widerspruch gegen die Fassung ist zulässig. Die Fragen können auch geteilt werden. Sowohl der Widerspruch gegen die Formulierung wie das Verlangen auf Teilung der Frage können von jedem Abgeordneten erhoben werden. Der Bundestag entscheidet letztlich über beides. Dem einzelnen Abgeordneten ist damit theoretisch ein nicht unerheblicher Einfluß auf die Abstimmung eingeräumt, der allerdings praktisch nur von den Fraktionen ausgeübt wird. Abgestimmt w i r d durch Handzeichen, Aufstehen oder Sitzenbleiben und bei Zweifel des Sitzungsvorstandes über das so gewonnene Abstimmungsergebnis auch nach einer Gegenprobe durch Auszählung der Stimmen. Bis zur Eröffnung der Abstimmung kann namentliche Abstimmung verlangt werden 7 0 . Geheime Abstimmung ist außer bei Wahlen nicht zulässig. Die Abstimmung durch Zeichen oder auch Auszählung ist nach außen nicht kontrollierbar, w o h l aber nach innen, d. h. insbesondere durch die eigene Fraktion. Die namentliche Abstimmung, die auch i m Protokoll festgehalten wird, ist auch von außen kontrollierbar. Gerade das kann gegebenenfalls einen bestimmten Druck für die Abstimmung zur Folge haben. Die Verantwortlichkeit für einen Beschluß geht dann eindeutig auf den einzelnen Abgeordneten. Die geheime Abstimmung würde den Abgeordneten von äußerem Druck wie von Druck aus dem Haus insbesondere der Fraktionen befreien. Bei wichtigen auch i n den Fraktionen kontroversen Entscheidungen könnte das von erheblicher Bedeutung sein. Aber aus eben diesem Grunde erheben sich Widerstände und auch Gegeneinwände. Denn die Geschlossenheit der Regierungsmehrheit und der Opposition wären gefährdet. Da aber wie unten darzulegen ist, der A b geordnete i n einer auch verfassungsrechtlich begründeten Beziehung zu seiner Fraktion steht, wäre die gegenwärtige parlamentarische Regierungsform, die u. a. auch auf dieser Bindung beruht, selbst gegebenenfalls gefährdet. Ist ein sachentscheidender Beschluß verfahrensgemäß zustande gekommen, so ist er i n der Regel unverrückbar 7 1 . Insbesondere Gesetzesbeschlüsse können nur durch die Verabschiedung von Änderungsgesetzen rückgängig gemacht werden. Auch andere endgültige Sachabstimmungen können nicht wiederholt, sondern allenfalls i m ordnungsgemäßen Ver70 71
Ausnahmen § 58 GOBT. I m einzelnen: Trossmann: Parlamentsrecht S. 3 ff.
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fahren wieder rückgängig gemacht werden. Auch ein Wahlgang etwa zur Wahl des Bundestagspräsidenten oder des Bundeskanzlers kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Liegt kein sachentscheidender, sondern nur ein vorbereitender Beschluß vor, ζ. B. i n der zweiten und dritten Lesung, ist eine Wiederholung wegen eines erheblichen Irrtums nach der Praxis des Bundestages möglich, wenn ein anderes Ergebnis zu erwarten ist. Die Entscheidung liegt beim Präsidenten. Es muß sich u m einen I r r t u m i n der Sache oder über die Auswirkungen handeln, der durch die Fassung der Fragestellung hervorgerufen sein könnte 7 2 . Zur Erleichterung und Beschleunigung der Abstimmungen wurde 1970/71 eine Abstimmungsanlage eingebaut. Zwar ist diese bis Frühjahr 1972 noch nicht praktisch benutzt worden, w e i l sie immer noch nicht „narrensicher" war. Aber der Bundestag hat doch bereits i m März 1971 die Geschäftsordnung dahin geändert, daß die Abstimmung m i t der A b stimmungsanlage gleichberechtigt neben den anderen Abstimmungsverfahren angewandt werden kann. M i t der Abstimmungsanlage kann abgestimmt werden, wenn die Auszählung der Stimmen (Hammelsprung) oder sonst die Zählung der Stimmen erforderlich ist, bei namentlicher A b stimmung, wenn der Ältestenrat es für andere Fälle vorschlägt und wenn der Bundestag es beschließt 73 . Die Abstimmung muß m i t den herkömmlichen Methoden wiederholt werden, wenn ein Abgeordneter das Ergebnis gleich nach Bekanntgabe bezweifelt und soviele Abgeordnete, wie einer Fraktionsstärke entsprechen — 5 °/o der Mitglieder — die Wiederholung verlangen. Übrigens ist i n dem Zusammenhang bedeutsam, daß der ursprüngliche interfraktionelle Antrag das Recht der Bezweiflung nur den Fraktionen zugestehen wollte 7 4 . Erst der Geschäftsordnungsausschuß dehnte es auf jeden Abgeordneten aus. Dieser Vorgang ist bezeichnend für den Versuch der Fraktionen, den Abgeordneten und eigentlichen Organwalter zurückzudrängen, wie er i n den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder und meist m i t größerem Erfolg als hier unternommen wird. Bemerkenswert ist ein auch i m Ausschuß behandelter Einwand gegen die Abstimmungsanlage: A l l e Abstimmungen außer den namentlichen würden geheim. Es müsse aber davon ausgegangen werden, daß sich die Abgeordneten zu jeder Entscheidung öffentlich bekennen sollten. Der Ausschuß hat den Einwand nicht i m einzelnen behandelt. Aber es ist darauf hinzuweisen, daß auch die Abstimmungen nach den bisherigen Verfahren nur eine scheinbare Öffentlichkeit herstellen. 72 Stellungnahmen des GO-Ausschusses vom 11.5.1951 und 11.10.1954, Trossmann: Parlamentsrecht S. 5. 73 Beschluß vom März 1971, dazu Drs. VI/2026. 74 Drs. VI/1948.
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages I. Allgemeines 1. Als Kollegialorgan bedarf der Bundestag einer inneren Organisation, u m seine Organzuständigkeiten wahrnehmen zu können. Als K ö r perschaft bedarf er eigener Organe, deren Handeln i h m transitorisch zugerechnet wird, allerdings, da er selbst Organ ist, nicht endgültig, sondern zusammengefaßt als sein Organhandeln wiederum der Bundesrepublik. Der Bundestag handelt zwar rechtlich nach außen regelmäßig durch das Plenum. Organintern werden jedoch Teile des Bundestages durch innerorganisatorische Rechtsregeln m i t innerorganisatorischen Zuständigkeiten ausgestaltet, werden Einrichtungen des Bundestages gebildet 1 , um die Arbeit des Bundestages innerhalb seiner selbst sachgemäß erledigen zu können. Diese Einrichtungen handeln nur i n beschränktem U m fang m i t rechtlicher Wirkung nach außen. Es kann sich bei den Einrichtungen u m einzelne Ämter, aber auch u m Zusammenfassungen von Ämtern von Abgeordneten, also u m engere Kollegien des Bundestages, handeln. Die Rechtsstellung dieser Einrichtungen ist verschieden zu beurteilen, je nachdem, ob nach ihren Rechtsbeziehungen zum Bundestag als Organ oder als Körperschaft gefragt wird. I n der erstgenannten Beziehung sind sie regelmäßig Organteile, i n der zweiten Beziehung Organe. Soweit die Einrichtungen Bezug zu beiden Rechtscharakteren des Bundestages haben, sind sie daher sowohl Organteil als auch Organ. Sind sie nur auf die eine oder auf die andere rechtliche Eigenschaft des Bundestages bezogen, so sind sie entweder nur Organteil oder nur Organ. Das zeigt die Relativität der rechtlichen Einordnungen einer Einrichtung. Diese w i r d noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß die genannten engeren Kollegien Körperschaftscharakter haben und zum Teil auch noch für sich selbst i n ganz anderen, nämlich privat-rechtlichen Beziehungen stehen. Diese Relativität der Rechtsstellung ein und derselben Einrichtung, bezogen auf die Rechtsverhältnisse, i n denen sie steht, gilt es zu beachten 2 . I m vorliegenden Zusammenhang sind nur die organisationsrechtlichen Rechtsbeziehungen zu behandeln. Für die Fraktionen bleiben also ihre rechtlichen Eigenschaften als Dienstherr, als Vertragspartner, als Eigentümer, als Gläubiger und Schuldner u. ä. unberücksichtigt. 2. Einrichtungen, die aus einem A m t bestehen, sind der Bundestagspräsident, die Stellvertreter des Bundestagspräsidenten, die Schriftfüh1 Gelegentlich wird auch die Bundestagsverwaltung oder werden ihre Abteilungen als Einrichtungen des Bundestages bezeichnet. Es handelt sich dabei aber um eine Behörde des Bundes, die dem Organ Bundestag angegliedert ist. 2 Ähnlich jetzt auch Achterberg (Grundzüge S. 40 mit Verweisen) für die Fraktionen, allerdings beschränkt auf die Rechtsfähigkeit. Wir meinen die gesamte Rechtsstellung.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
rer (Art. 40 GG) und der Wehrbeauftragte (Art. 45 GG). Sie alle werden vom Bundestag gewählt, wenn auch nach verschieden geregelten Verfahren. Ihre Zuständigkeiten sind sehr unterschiedlich. Der Präsident hat Vertretungszuständigkeiten für den Bundestag nach außen. Nach innen hat er die Zuständigkeiten zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Zuständigkeiten zur inneren Organisation der Arbeit des Bundestages, vor allem zur Leitung der Verhandlungen des Bundestages, d. h. des Plenums 3 . Allerdings kann er i n vielen Entscheidungen auf Antrag oft nur eines Abgeordneten vom Bundestag korrigiert werden 4 . Das unterscheidet ihn i n seiner Stellung wesentlich von der des Speakers des englischen Unterhauses. Die Stellvertreter des Präsidenten sind wie die Schriftführer auf Zuständigkeiten zur inneren Organisation des Ablaufs der Arbeit des Bundestages beschränkt, wenn und soweit sie nicht gemäß § 7 Abs. 5 GOBT den Präsidenten i m Verhinderungsfall vertreten ( § § 7 - 9 GOBT). Der Wehrbeauftragte übt einen Teil der Kontrollfunktion des Bundestages aus, hat also nach außen gerichtete Zuständigkeiten. Die Zuständigkeiten dieser Einrichtungen werden i n dem jeweiligen Sachzusammenhang erörtert werden. 3. Für die engeren Kollegien hingegen ergeben sich einige organisationsrechtliche Probleme. Sie beziehen sich auf i h r Entstehen und ihre Einrichtung, i h r Verfahren und ihre Zuständigkeiten i m allgemeinen. Sie sind i m Zusammenhang i n den folgenden Abschnitten zu erörtern. Die kollegialen Einrichtungen können unterschieden werden i n Fraktionen und Ausschüsse. Ausschuß w i r d an dieser Stelle zunächst i n einem theoretischen Begriff verstanden, der gegenüber dem i m Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Bundestages gebrauchten verfassungsrechtlichen Begriff weiter ist. Die engeren Kollegien des Bundestages werden alle durch organisatorische Rechtssätze des objektiven Rechts gebildet und errichtet. Die beiden Gruppen unterscheiden sich nach dem Verfahren der Einrichtung 5 und nach ihren Funktionen. Die Fraktionen werden durch die Wähler i n der Wahl eingerichtet 6 . Die Ausschüsse werden durch Beschluß des Bundestages eingerichtet. Die Fraktionen sind also originäre, die Ausschüsse sind abgeleitete Kollegien des Bundestages. Die beiden Gruppen haben gemäß ihren Funktionen unterschiedliche Zuständigkeiten, wie i m einzelnen darzulegen ist. Die Zuständigkeiten der Fraktionen sind auf innere Organisation und politische Anleitung der Entscheidungsprozesse i m Bundestag bezogen. Die Zuständigkeiten der Ausschüsse sind i n das rechtliche Entscheidungsverfahren eingegliedert 3
Art. 40 Abs. 2 GG: S 7 GOBT als Generalklausel. z. B. §§ 43, 52, 53 GOBT. Zur Terminologie, Bildung, Errichtung, Einrichtung Wolff: recht I I § 74 I I I . 6 Dazu aber auch § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT und unten S. 108. 4
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Verwaltungs-
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und dienen der formellen rechtsverbindlichen Entscheidung und Beschlußfassung durch den Bundestag. Die Fraktionen steuern den Bundestag i n der Wahrnehmung seiner Zuständigkeiten, die Ausschüsse nehmen sie wahr. Schon diese kurze Charakterisierung ergibt einen funktionalen Vorrang der Fraktionen vor den Ausschüssen.
I I . Die Fraktionen 1. Die Fraktionen waren ursprünglich private, nicht i n die staatliche Organisation eingefügte Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die i. a. derselben Partei angehörten, i n den Volksvertretungen. Sie sind nunmehr Bestandteil der staatlichen inneren Organisation des Bundestages 7 . Der Bundestag hat sie i m Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie durch Rechtssätze der Geschäftsordnung gebildet und errichtet. Sie sind bestimmt als „Vereinigungen von mindestens fünf Prozent der M i t glieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele i n keinem Land miteinander i m Wettbewerb stehen" (§ 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT). Sie sind also als später näher zu qualifizierende institutionalisierte Teile der staatlichen Organisation Zusammenfassungen von Abgeordnetenämtern des Bundestages. Sie haben eigene Zuständigkeiten. Ihre Rechtsstellung ist umstritten, zumal sie auch noch i n anderen Rechtsbeziehungen stehen als i n denen zum Bundestag. 2. Die konkreten Fraktionen des Bundestages sind i n der Regel parteigebunden. Allerdings können sich m i t Genehmigung des Bundestages auch Mitglieder, die verschiedenen Parteien angehören, zu einer Fraktion zusammenschließen. Aber das ist gegenwärtig seit der Neufassung des § 10 Abs. 1 GOBT i n der Reform der Geschäftsordnung i m Sommer 1969 nicht aktuell. Denn als „verschiedene Parteien" i. S. des § 10 GOBT gelten solche nicht, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele i n keinem Bundesland miteinander konkurrieren 8 . I m übrigen besteht kein A u f sichtsrecht des Bundestages über die Fraktionen und daher auch kein 7 Zur geschichtlichen Entwicklung: Kramer: Fraktionsbindungen; Hatschek: Parlamentsrecht S. 175 ff.; Hauenschild: Wesen S. 21 ff. 8 Vor der Änderung war nur die getrennte Organisation der Parteien maßgebend. C D U und CSU waren demgemäß verschiedene Parteien. Der Zusammenschluß von Mitgliedern des Bundestages, die der C D U oder der CSU angehörten, bedurfte daher immer der Genehmigung des Bundestages. Sie war sowohl 1961 wie auch 1965 umstritten. Da von der Genehmigung abhing, welche Abgeordneten die stärkste Fraktion bildeten, CDU/CSU Mitglieder zusammen oder die SPD Mitglieder, hatte die Zustimmung oder ihre Verweigerung politische und rechtliche Folgen, so vor allem für das Präsentationsrecht für die Präsidentenwahl und für den Stellenanteil in den Ausschüssen und bei der Besetzung der Posten der Ausschuß Vorsitzenden gem. § 12 GOBT.
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Recht, eine Fraktion „zuzulassen" oder nicht zuzulassen9. Ihre Einrichtung ist frei. Ob die Mitglieder sich zu Fraktionen zusammenschließen, zu wie vielen, wie groß sie sind, das steht i n ihrem Belieben. Mitglieder, die einer Partei angehören, können theoretisch auch mehrere Fraktionen bilden und dann darum streiten, welche Fraktion nun zu Recht den Parteinamen führt. Eine Rechtspflicht, den Parteinamen überhaupt zu führen, besteht jedoch nicht. Gegenüber dem Bundestag bestehen nur M i t teilungspflichten. Die Mitglieder der konkreten Fraktionen werden i n der Regel unmittelbar durch die Wahl bestimmt, da sowohl der Direktwahl wie der Listenw a h l Vorschläge der Parteien zugrundeliegen. Wer i n den Bundestag gewählt ist, ist damit gleichzeitig i n eine Fraktion gewählt. Der Zusammenschluß macht die Einrichtung nur nach außen manifest. Die Fraktionen sind daher die ursprünglichen Einrichtungen des Bundestages. Die Zustimmung des Bundestages zur Bildung einer Fraktion aus Abgeordneten, die verschiedenen Parteien angehören, hebt die Ursprünglichkeit nicht auf. Sie ist nur eine Genehmigung, kein einrichtender A k t 1 0 . Die Fraktionen werden somit als Organ oder Organteil des Bundestages unmittelbar von der Wählerschaft als Kreationsorgan eingerichtet. Da die Fraktionen aber gleichzeitig Körperschaften sind, bedürfen sie der Konstituierung. Sie konstituieren sich selbst, sind also autonome Körperschaften innerhalb des Bundestages. Eine Fraktion konstituiert sich i m Normalfall am Anfang einer jeden Legislaturperiode, i. a. bevor sich der Bundestag selbst konstituiert hat. Der A k t der Konstituierung geschieht i n einer Zusammenkunft derjenigen Mitglieder des Bundestages, die der jeweiligen Fraktion auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit angehören wollen. Sie sind die Mitglieder der Fraktion. § 10 Abs. 3 GOBT unterscheidet Mitglieder und Gäste. Unterscheidungsmerkmal ist die Zugehörigkeit zu der Partei. Die Gäste werden bei der Feststellung der Fraktionsstärke nicht mitgerechnet, wohl aber bei der Bemessung der Stellenanteile gemäß § 12 GOBT 1 1 . I n den Geschäftsordnungen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion w i r d die Unterscheidung zwar aufgenommen, aber M i t gliedern und Hospitanten werden die gleichen Rechte eingeräumt (§ 1 AO CDU/CSU, §§ 1, 8 GO FDP). Für die SPD dürfte ein Gleiches gelten. Keine 9
Hauenschild: Wesen S. 41. Die Formulierung des § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT bei Zusammenschlüssen von Abgeordneten verschiedener Parteien von einer „Anerkennung als Fraktion" durch den Bundestag steht dem nicht entgegen. I n dem Normalfall regelt sich das Entstehen einer konkreten Fraktion nach dem Geschäftsordnungsrecht. Es bedarf keines zwischengeschalteten konstitutiven Aktes des Bundestages. Aber auch im Fall des § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT hat die Anerkennung nur Bedeutung für die geschäftsordnungsmäßigen Rechte. Dadurch wird die Fraktion nicht konstituiert, sondern für ein vorhandenes soziales Substrat werden bestimmte Rechte und Pflichten wirksam. 11 Falsch Achterberg: Grundzüge S. 40. 10
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Fraktionsmitglieder sind Parteiangehörige, die ohne Mitglieder des Bundestages als Inhaber von Staats- oder Parteiämtern i n der Fraktion einen Sitz haben 12 . Sie können allenfalls Beratungs-, keinesfalls Stimmrecht haben. Auch ein Beratungsrecht verleiht ihnen ebensowenig eine „partielle Mitgliedschaft" wie anderen Beratern der Fraktion 1 3 . Das gilt auch für Minister, die nicht Bundestagsmitglieder sind. Nach herkömmlicher Interpretation des A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist kein Abgeordneter gezwungen, sich einer Fraktion anzuschließen. Aber es ist zu bedenken, daß das Abgeordnetenamt auf die Partei bezogen ist. Der Abgeordnete verdankt sein A m t als Wahlkreisabgeordneter weitgehend, als Listenabgeordneter ausschließlich der Aufstellung durch eine Partei. Schließt er sich der Fraktion der Abgeordneten seiner Partei nicht an, so steht diese Entscheidung i m Widerspruch zu der manifesten Erklärung für eine Partei, die darin zum Ausdruck kam, daß er sich von einer bestimmten Partei als Kandidat für die Wahl aufstellen ließ. Die Entscheidung kann als Gewissensentscheidung nicht kontrolliert und sanktioniert werden. Wer aber für Listenabgeordnete den Verlust des Mandates bei freiwilligem Parteiaustritt oder auch schon Fraktionsaust r i t t bejaht 1 4 , muß auch die Pflicht des Abgeordneten bejahen, „seiner" Fraktion beizutreten. Die Fraktion kann Mitglieder aufnehmen und ausschließen. Die A u f nahme neuer Mitglieder, die meist vorher einer anderen Fraktion angehörten, darf nicht dazu mißbraucht werden, § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT zu umgehen. Jedoch w i r d sich ein Mißbrauch des Aufnahmerechtes kaum feststellen lassen, vor allem dann nicht, wenn es sich nur u m einige Abgeordnete handelt. Der Fraktionswechsel von Abgeordneten kann die Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändern. Diese Verschiebung durch „Abwerbung" oder „Spaltung" einer anderen Fraktion herbeizuführen, ist eine nicht auszuschließende Gefahr 15 . Nur ein m i t dem Amtsverlust sanktioniertes Verbot des Fraktionswechsels könnte dem Einhalt 12 Dazu ausdrücklich nur GO FDP, die neben den Mitgliedern und Hospitanten nach § 1 in § 10 weitere Teilnahmeberechtigte aufführt, den Inhalt des Teilnahmerechts aber nicht bestimmt. 13 Hauenschild: Wesen S. 174 gegen die von ihm S. 48 geschilderte Praxis. 14 Dazu unten S. 201. 15 So soll die CDU/CSU-Fraktion des Bundestages in der 6. Legislaturperiode darauf gehofft haben, daß einige Abgeordnete der FDP-Fraktion zu ihr überwechseln würden, um ihr die wenigen zur absoluten Mehrheit fehlenden M i t glieder zu verschaffen. U m vermutete Praktiken, Abgeordnete der FDP-Fraktion zum Übertritt in die CDU/CSU-Fraktion zu veranlassen, aufzudecken, täuschte der Abgeordnete Geldner der FDP einen Scheinübertritt zur CDU/CSU Fraktion am 13.11.1970 vor, F A Z v. 14., 16., 17., 19., 28., 30.11.1970; Spiegel 24. Jg. 1970, Nr. 47 v. 16.11.1970 S. 29, in dem ein Brief wiedergegeben ist, in dem der CSU-Vorsitzende Strauß dem Abg. Geldner vor dem Übertritt auch für die Bundestagswahl 1973 einen Sitz in sichere Aussicht stellt.
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gebieten 16 . Allerdings wäre auch zu überlegen, ob nicht eine automatische Auflösungsklausel für den Bundestag i n das Grundgesetz eingefügt werden kann, u m zu verhindern, daß sich durch Fraktionswechsel die Verhältnisse der Fraktionen zueinander i m Bundestag allzuweit von dem durch die Wahlergebnisse begründeten Verhältnis entfernen. Eine solche Klausel wäre m i t A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Grund seiner Relativierung durch A r t . 21 GG vereinbar. Sie würde den individuellen Fraktionswechsel nicht verbieten, aber i h n auch nicht sanktionslos lassen. Der Ausschluß von Mitgliedern aus der Fraktion ist notwendig an bestimmte Voraussetzungen gebunden 17 . Da die Fraktion sich dadurch auch selbst schaden kann, w i r d sie diesen Schritt sowieso nur unter bestimmten Bedingungen vollziehen. Aber da der Ausschluß eines Abgeordneten aus seiner Fraktion diesen mehr oder weniger i n der Wahrnehmung seines Amtes auf die Mitarbeit i m Plenum, also einen, zudem kleinen Teil der Gesamttätigkeit des Bundestages beschränkt, ist der Ausschluß nur i n einem besonderen formellen Verfahren zulässig 18 . Dazu gibt es bisher nur rudimentäre Regelungen 19 . Da die Aufnahme eines Abgeordneten i n eine Fraktion wie der Ausschluß eines Abgeordneten aus einer Fraktion die Wahrnehmung des Amtes, also der Organwalterschaft des Bundestages und damit die Erfüllung seiner Zuständigkeiten berührt, ist zu überlegen, wie der Bundestag i n Aufnahme- und Ausschlußverfahren eingefügt werden kann. Nachdem die Fraktionen Teil der inneren Organisation des Bundestages und damit der staatlichen Organisation geworden sind, kann ihnen eine völlige Autonomie nicht mehr eingeräumt werden. Das gilt auch für andere Fragen der inneren Organisation der Fraktionen. Da die Fraktionen selbst Körperschaften sind, bedürfen sie der inneren Organisation. Sie sind dabei nicht durch besondere Vorschriften unmittelbar gebunden. Da die Fraktionen aber Zusammenfassungen staatlicher Ämter darstellen, unterliegen sie als solche Bindungen i n ihrer eigenen Organisationsgewalt. Sie haben eine eigene „Geschäftsordnungsautonomie". Jedoch ist das keine „Übertragung" von Rechten des Bundestages auf die Fraktionen. Sondern die Geschäftsordnungsautonomie der 18 Die Sanktion könnte aber allenfalls für Listenabgeordnete angewandt werden. Kriele: Mandatsverlust S. 242 und unten S. 201 ff. 17 Dazu Hauenschild: Wesen S. 201 f. 18 So auch Hauenschild (Wesen S. 202), der einige Grundprinzipien wie rechtliches Gehör, Ausschluß nur durch Beschluß der Mehrheit der Mitglieder u. a. nennt. Zu Recht weist er darauf hin, daß ein Parteiausschluß nicht automatisch den Fraktionsausschluß nach sich ziehen dürfe. 19 Nur die Geschäftsordnung der FDP-Fraktion enthält in § 3 eine gewisse Regelung. Der Ausschlußantrag muß von 5 Mitgliedern gestellt werden; dem Betroffenen muß rechtliches Gehör gewährt werden; der Ausschluß bedarf der Zustimmung von 2/3 der Fraktionsmitglieder; es muß ein wichtiger Grund vorliegen.
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Fraktionen entsteht originär m i t ihrer Konstituierung 2 0 . Der Bundestag kann sie nicht völlig aufheben, aber er kann sie sicherlich zur Sicherung der Funktion der Fraktionen und der einzelnen Abgeordnetenämter, wie des Bundestages als solchem, i n der parlamentarischen Arbeit stärker einschränken, als das gegenwärtig der Fall ist. Die drei Bundestagsfraktionen haben jede eine eigene Geschäftsordnung, die aber keineswegs vollständig sind, sondern nur Teilaspekte regeln 21 . I n ihnen werden sowohl die Organisation als auch die Verfahren, Rechte und Pflichten der Mitglieder u. ä. geregelt. 3. Die internen Organisationsschemata sind für alle drei Fraktionen ähnlich 2 2 . Es gibt einen Vorsitzenden, einen i n sich gegliederten Vorstand, eine Vollversammlung und Arbeitskreise. Hinzutreten Ehrenräte und/ oder Ältestenräte, sowie die Geschäftsführer. Der Vorsitzende der Fraktion w i r d von der Fraktionsvollversammlung gewählt. I n der CDU/CSU-Fraktion wurde 1971 seine Stellung verstärkt. Er „führt die Fraktion", beruft die Vorstands- und Fraktionssitzungen, deren Tagesordnung er „festsetzt" 23 . Gewählt werden i. a. auch die Mitglieder der Vorstände, so alle stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und der überwiegende Teil der anderen Vorstandsmitglieder. Daneben gibt es eine Vorstandszugehörigkeit kraft Amtes 2 4 . Regierungsmitglieder nehmen an den Sitzungen des Vorstandes m i t beratender Stimme teil. Gewählt werden auch die parlamentarischen Geschäftsführer und die Leiter der Arbeitskreise. Die Wahlen werden i. a. auf Zeit und nicht für eine ganze Legislaturperiode vorgenommen 25 . I m Vorstand werden die politischen Leitlinien vorbereitet, auch die Initiativen vorberaten, Vorlagen und Vorschläge an die Vollversammlung erarbeitet. Bei i h m liegt „die politische Führung der Fraktionen" 2 6 . 20
a. A. Hauenschild: Wesen S. 200. Abgedruckt bei Ritzel-Bücker: Handbuch A 1 ff. Sie gehören auch zum Parlamentsrecht, a. A. Achterberg: Grundzüge S. 41. 22 Dazu auch Achterberg: ibid. I m folgenden sind die rechtlichen Aspekte zu erörtern. Zu den gegenseitigen Beeinflussungen der einzelnen Einrichtungen der Fraktionen beim Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß allgemein: Schäfer: Bundestag S. 131 ff.; Loewenberg: Parlamentarismus S. 193; detaillierter Schatz (Entscheidungsprozeß S. 60 ff.), der — jedenfalls für den verteidigungspolitischen Bereich — eine Dominanz der Arbeitskreise (-gruppen) und Vorstände gegenüber den Vollversammlungen feststellt. Die einzelnen Fraktionen unterscheiden sich eher durch die unterschiedlichen Gewichte zwischen den Arbeitskreisen (gruppen) und den Vorständen. I. a. ist nach seinen Feststellungen bei der SPD-Fraktion der Einfluß des Vorstandes am ausgeprägtesten. Nach dem Ubergang der CDU/CSU Fraktion in die Opposition in der 6. Wahlperiode dürfte sich der Einfluß des Vorstandes auch verstärkt haben. 23 § 6 Abs. 1 AO/CDU/CSU. 24 So der der SPD und der F D P angehörende Vizepräsident des Bundestages § 8 GO/SPD, § 5 GO/'FDP; die Leiter der Arbeitskreise der CDU/CSU-Fraktion, § 5 Abs. 2 AO/CDU/CSU. 25 § 9 GO/SPD; § 5 GO/FDP; Hauenschild: Wesen S. 54. 21
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. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Die Vollversammlung umfaßt alle Mitglieder einer Fraktion. Jedes Mitglied hat gleiche Stimme und gleiche Rechte. Zuständig sind die Vollversammlungen vor allem für die Wahlen und für die Festlegung der politischen Linie der Fraktion i m allgemeinen wie i n Einzelfragen. Endgültige Entscheidungen kann nur sie fällen. Der Fraktionsvorstand ist formell auf Vorbereitung, Vorschläge und Planung der Arbeit der Fraktion beschränkt 27 . Alle Gesetzesinitiativen, Anfragen und sonstige A n träge, ζ. B. nach A r t . 67 GG, der Fraktion müssen durch die Vollversammlung beschlossen werden. Sie hat die letzte Entscheidung über die, rechtlich für die Initianten allerdings unerhebliche, Zustimmung der Fraktion zu Initiativen der Mitglieder. Die Mitglieder können diese Entscheidung auch herbeiführen, wenn der Vorstand die Initiative bereits abgelehnt hat. Sie hat auch die letzte Entscheidung über die Beteiligung an einer Regierung und die personellen und sachlichen Voraussetzungen dafür. Die Arbeitskreise und vor allem die Arbeitsgruppen der Fraktionen schließlich leisten die eigentliche Kleinarbeit 2 8 . Sie werden von den Fraktionen selbst i n unterschiedlicher Anzahl eingerichtet 29 . Die Vorsitzenden werden entweder von der Vollversammlung 3 0 oder von den A r beitskreisen selbst bestellt 3 1 . Sie sind i. a. wieder i n Unterkreise, Fachkreise, gemeinhin Arbeitsgruppen genannt, aufgeteilt 3 2 . I n ihnen sitzen vor allem die Ausschußmitglieder der Fraktion und deren Stellvertreter, wobei mehreren verwandten Ausschüssen ein Arbeitskreis entsprechen kann 3 3 . Die Arbeit der Arbeitskreise besteht i n der Bearbeitung der Ge26 Schäfer: Bundestag S. 137. Über die Arbeitsweise ζ. B. Schulte (Manipulateure), der auch deutliches Unbehagen zum Ausdruck bringt (S. 73); auch Schatz (Entscheidungsprozeß S. 66 f.), der eine zunehmende Tendenz der Macht der Fraktionsvorstände feststellen zu können glaubt. § 5 I A O / C D U / C S U . 27 §§ 3, 5 AO/CDU/CSU; § 13 GO/SPD; §§ 6, 12 GO/FDP; Hauenschild: Wesen S. 50; Schäfer: Bundestag S. 145 f. Dazu aber kritisch Schatz (Entscheidungsprozeß S. 68), der einerseits den Führungswillen der Fraktionsvorstände hervorhebt, die zudem besser informiert sind, und zum anderen auf die an die Abgeordneten gerichteten informellen Verhaltenserwartungen hinweist. Für verteidigungspolitische Grundfragen hat Schatz einen dominierenden Einfluß der Arbeitskreise(gruppen) und der Vorstände und eine minimale Rolle der Vollversammlungen dargetan (S. 82 ff.). 28 Dazu Apel: Willensbildung, und Dexheimer-Hartmann: Geschichte. 29 Für die 5. Legislaturperiode findet sich eine Aufstellung bei Schäfer (Bundestag S. 364 ff.), wo auch die „entsprechenden" Ausschüsse des Bundestages angegeben sind; für die 6. Legislaturperiode gibt Apel (Willensbildung S. 229 232) eine Übersicht der Arbeitskreise mit ihren Arbeitsgruppen. DexheimerHartmann (Geschichte) haben deutlich gemacht, wie sehr das Entstehen dieser Kreise und Gruppen von der Entwicklung der Arbeit im Bundestag, dem A n wachsen der Fraktionen zu großen unhandlichen Gremien und der Funktion der einzelnen Fraktion abhängt. Die CDU/CSU hat erst zu Beginn der 6. Legislaturperiode, als sie in der Opposition stand, ein ausgebildetes System von Arbeitskreisen und -gruppen geschaffen. 30 § 4 AO/CDU/CSU; § 23 GO/SPD. 31 § 9 GO/FDP. 82 Schäfer: Bundestag S. 143.
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setzesvorlagen, der Entwicklung und Beratung eigener Initiativen, A n träge und Anfragen und geplanter Initiativen von Mitgliedern und von der Gesamtfraktion 34 . I n ihnen w i r d daher vor allem Kontakt zu den Ausschüssen einerseits und zu Vorstand und Gesamtfraktion andererseits gehalten 35 . Sie sind insoweit die wichtigen Transmissionsstellen der Arbeit der Ausschüsse i n die Fraktion und der entsprechenden Entscheidungen und Beschlüsse der Fraktionen i n die Ausschüsse. Da sie die letzten wesentlich selbst vorbereiten, kommt ihnen zentrale Bedeutung für die Inhalte der Entscheidungen und den Ablauf des Entscheidungsprozesses zu. Für die Mitglieder der Fraktionen enthalten die Geschäftsordnungen vor allem Regeln, die sich auf die Wahrnehmung der Zuständigkeiten ihres Abgeordnetenamtes beziehen. Hauenschild bringt diese Regeln auf den gemeinsamen Nenner „die Pflicht zur Arbeit für das Wohl der Fraktion". Sie laufen alle darauf hinaus, den Abgeordneten darauf festzulegen, nicht nur nichts gegen, sondern auch nichts ohne die Zustimmung der Fraktion zu tun. W i l l der Abgeordnete Anträge i m Bundestag stellen, Fragen an die Bundesregierung richten, an der Debatte i m Plenum teilnehmen, i n bestimmter Weise abstimmen, immer erwartet die Fraktion, daß er ihre Genehmigung einholt, mindestens aber die Fraktion bzw. eines ihrer Organe verständigt 3 6 . Den Fraktionszwang lehnen alle Fraktionen ab 3 7 . Aber sie erwarten doch Fraktionsdisziplin oder Fraktionssolidarität 8 8 . Die inhaltliche Begründung liegt i n den Beziehungen zwi33 Dazu die oben in Fußnote 29 genannten Aufstellungen. Schäfer (Bundestag S. 143) weist auf die Vor- und Nachteile dieser Zusammenfassung verschiedener Ausschüsse in einem Arbeitskreis hin. 34 Schäfer: Bundestag S. 143; Hauenschild: Wesen S. 65. 35 Zu den Schwierigkeiten der Koordination aber Apel: Willensbildung S. 223 ff. I n den Arbeitsgruppen sitzen vor allem Experten. Die Fraktion selbst ist zu groß, sie zu kontrollieren und vor allem die politischen Richtlinien für die Einzelarbeit zu formulieren. Oft bestimmen im Gegenteil die Expertenzirkel die Meinung der Fraktionen. Über die mehrere Arbeitsgruppen zusammenfassenden Arbeitskreise, über Kontakte oft informeller Art zum Fraktionsvorstand und zu den Geschäftsführern und — jedenfalls in der SPD-Fraktion — über ein neues besonderes Gremium bestehend aus Fraktionsvorstand und Vorsitzenden der Arbeitsgruppen und -kreise wird die Koordination und vor allem die Einfügung der Einzelarbeit in den politischen Gesamtplan der Fraktion angestrebt. Zum Gewicht der Arbeitsgruppen und deren innerer Informationsund Machtstruktur bezogen auf verteidigungspolitische Probleme Schatz: Entscheidungsprozeß S. 60 ff. 36 Hauenschild: Wesen S. 67 ff.: Schäfer: Bundestag S. 149 ff. 37 So als einzige ausdrücklich § 12 Abs. 1 AO/CDU/CSU. 38 Schäfer: Bundestag S. 149 ff. Zur Abgrenzung u. a. Hauenschild: Wesen S. 204. Zur Praxis eher Schatz (Entscheidungsprozeß S. 68 ff.), der angesichts der informellen Verhaltenserwartungen einerseits, wie sie etwa bei Schäfer zum Ausdruck kommen, und den möglichen Sanktionen andererseits, es als „Wortklauberei" bezeichnet, den Fraktionszwang „in Abrede zu stellen" (S. 70). Es werden auch Beschlüsse über das Abstimmungsverhalten gefaßt, die zumindest Empfehlungscharakter haben. Bei zwei schwierigen und umstrittenen Entscheidungen im Jahre 1972 tauchte die Forderung auf, „die Abstimmung
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Steiger
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
sehen A b g e o r d n e t e n , P a r t e i e n u n d F r a k t i o n e n . A b e r diese F r a k t i o n s geschäftsordnungen k ö n n e n n u r Beachtungs-, k e i n e B e f o l g u n g s p f l i c h t e n begründen39. Eine völlige Unterwerfung k a n n nicht verlangt
werden.
Es besteht d a h e r auch k e i n e absolute U n t e r l a s s u n g s p f l i c h t 4 0 . D a n e b e n bestehen f r a k t i o n s i n t e r n e Pflichten, w i e d i e Pflicht z u r Z a h lung von Fraktionsbeiträgen. 4. U m s t r i t t e n i s t d i e R e c h t s s t e l l u n g d e r F r a k t i o n e n . Es w e r d e n a l l e m ö g l i c h e n Thesen v e r t r e t e n : O r g a n e des B u n d e s t a g e s 4 1 , O r g a n t e i l e des Bundestages u n d i n gewisser H i n s i c h t O r g a n e 4 2 , ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e V e r e i n e 4 3 , n i c h t (außen)rechtsfähige V e r e i n e m i t I n n e n r e c h t s f ä h i g k e i t 4 4 , e i n T e i l d e r P a r t e i 4 5 . D a sie d u r c h das staatsorganisatorische, z u m ö f f e n t l i c h e n Recht gehörende P a r l a m e n t s r e c h t g e b i l d e t w e r d e n u n d b e g r i f f l i c h K ö r perschaften sind, s i n d sie als ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e K ö r p e r s c h a f t e n a n z u sprechen 4 8 . Z u r n ä h e r e n K e n n z e i c h n u n g i s t v o n d e n d e n F r a k t i o n e n z u gewiesenen Z u s t ä n d i g k e i t e n u n d d e m D o p p e l c h a r a k t e r des Bundestages als K ö r p e r s c h a f t u n d O r g a n auszugehen. D e n n n u r die o r g a n i s a t i o n s r e c h t liche R e c h t s s t e l l u n g i m V e r h ä l t n i s z u m B u n d e s t a g s t e h t h i e r z u r Frage, nicht irgendwelche anderen Rechtsverhältnisse47. Z u unterscheiden sind freizugeben", bei der Entscheidung über die Ostverträge und die Reform des § 218 StGB. Zwar wurde das u. a. mit dem Argument zurückgewiesen, es gäbe keinen Fraktionszwang, aber bei der Reform des § 218 StGB verzichtete die CDU/CSU-Fraktion auf einen Beschluß, weil das eine Gewissensfrage sei, F A Z v. 16. März 1972 S. 6. 39 Unten S. 201. 40 Ähnlich Hauenschild: Wesen S. 187 f. 41 Hauenschild: Wesen S. 158 ff.; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. I I I 1 d S. 910 mit Verweisen; BVerfGE 1, 229. Dagegen: Maunz-DürigHerzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 14. 42 Wolff: Verwaltungsrecht I I § 741/6 S. 47. 43 Moecke: Rechtsnatur S. 276 - 282; ders.: Fraktionen S. 567 - 572; ders.: Stellung S. 162 - 172; zur Kritik Hauenschild: Wesen S. 154 ff. 44 Achterberg: Grundzüge S. 40. 45 Verweise bei Hauenschild: Wesen S. 147 mit Kritik; Vorbehalte auch bei Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 14. Entscheidend ist, daß hier das Verhältnis zur Partei nicht in Rede steht, sondern das Verhältnis zum Bundestag. Das kann mit dieser These gar nicht begriffen werden; sie ist daher irrelevant. 46 Die Gegenmeinungen übersehen, daß es wieder nur auf den oben genannten allgemeinen Begriff der Körperschaft ankommt. 47 Oben ist bereits auf diese Relativität hingewiesen worden. I m allgemeinen ist es mit einigen Ausnahmen, wie ζ. B. den Beliehenen, dem staatlichen Organisationsrecht des modernen Staates fremd, bei ein und derselben Einrichtung derartig verschiedene Rechtsverhältnisse unterscheiden zu müssen. Es wurde geradezu als ein Vorteil empfunden, strikte Trennungen herbeiführen zu können. Andererseits scheiterte das beim Amtswalter selbst letztlich immer und notwendig. Bezüglich der Fraktionen ist nun durch das Eindringen gesellschaftlicher Elemente in die Staatsorganisation ein neues Phänomen eines „korporativen Organwalters" aufgetaucht, der als solcher eben auch in anderen Rechtsbeziehungen steht. Die Trennung kann wie beim herkömmlichen Einzelorganwalter durchaus aufrechterhalten werden. Damit ist nicht die „Rechtsnatur einer Vereinigung... gespalten", wie Moecke (Rechtsnatur S. 279) meint, wie auch nicht die „Rechtsnatur" des Vaters, der gleichzeitig Beamter, Ehemann,
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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Zuständigkeiten der Fraktionen, die sich auf die Geschäftsordnungsautonomie, also die innere Organisation des Bundestages beziehen, und Zuständigkeiten, die sich auf die Wahrnehmung der organschaftlichen Zuständigkeiten des Bundestages beziehen. Die erste Gruppe umfaßt die Zuständigkeiten, für die vom Bundestag durch Wahl zu besetzenden Amtsstellen Kandidaten zu präsentieren und selbst Ämter unmittelbar zu besetzen. Die allgemeine Regel für die Besetzung aller Einrichtungen des Bundestages ist, daß der Proporz der Fraktionen untereinander gewahrt bleibt, die Mehrheit also nicht alle Einrichtungen nur nach ihrem Willen besetzen kann. Positiven Ausdruck hat diese Regel für einen, allerdings sehr weiten Teilaspekt i n § 12 GOBT gefunden, der bestimmt, daß die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse sowie die Besetzung der Ausschußvorsitze nach dem Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist. Für die Wahl der Schriftführer ist das Präsentationsrecht i n § 3 GOBT schriftlich niedergelegt. I m übrigen, insbesondere für den Präsidenten und seine Stellvertreter, ist das Präsentationsrecht gewohnheitsrechtlich geregelt. Der Bundestagspräsident w i r d von der stärksten Fraktion vorgeschlagen 48 , die Stellvertreter werden entsprechend dem Stärkeverhältnis von den Fraktionen vorgeschlagen. Entsprechend ihrem Stellenanteil schlagen die Fraktionen auch die Abgeordneten für die Ausschüsse vor, deren Mitglieder der Bundestag wählen muß, den Wahlprüfungsausschuß, den Wahlmännerausschuß, das Kontrollgremium gemäß § 9 AbhörG. I m Ältestenrat werden die Sitze von 23 Mitgliedern (§ 6 Abs. 1 GOBT), i n den Ausschüssen die Sitze aller Mitglieder (§ 68 Abs. 2 GOBT) gemäß ihrem jeweiligen Stellenanteil unmittelbar von den Fraktionen besetzt 49 . Schuldner, Eigentümer ist, gespalten wird. Das Recht und damit die Rechtsstellung einer Einheit besteht in Verhältnissen. Die Fraktionen sind zwar, wie Moecke zu Recht hervorhebt, öffentlich-rechtliche Körperschaften; das hindert aber nicht, daß sie in andere Rechtsverhältnisse eintreten können. Eine derartige verhältnismäßige Einordnung liegt auch Wolffs Organlehre offensichtlich zugrunde, wenn er Organ gleichzeitig als Glied, Organteile gleichzeitig als Organ bezeichnet. 48 Eine mittelbare Bestätigung hat diese Regel in § 7 Abs. 5 GOBT gefunden. Danach wird der Bundestagspräsident im Falle seiner Verhinderung durch einen seiner Stellvertreter vertreten, der Mitglied der zweitstärksten Fraktion ist. I m Februar 1968 war es der CDU/CSU-Fraktion überlassen, einen Kandidaten für die Nachfolge des zurückgetretenen Präsidenten Gerstenmaier auszuwählen. Es führte zu einer Verärgerung der CDU/CSU-Fraktion, als ihr Kandidat nur zwei Stimmen mehr als die notwendige absolute Mehrheit erhielt, F A Z vom 3., 5., 6. Febr. 1968. 49 I m Anfang des deutschen Parlamentarismus hat man versucht, die M i t glieder der Ausschüsse durch aus dem Hause durch Los eingerichtete Abteilungen bestimmen zu lassen. Aber dieses, bis 1918 geschäftsordnungsmäßig vorgesehene System wurde sehr bald durch die tatsächliche Besetzung durch Absprachen der Fraktionen nach dem Schlüssel ihrer Stärke unterlaufen. Damit sollte die Minoritätenvertretung gesichert werden. Dazu: Hatschek: Parla-
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Diese innerorganisatorischen Zuständigkeiten der Fraktionen sind Wahrnehmungszuständigkeiten i m Hinblick auf die Eigenzuständigkeit des Bundestages als Körperschaft, sich selbst zu organisieren. Dazu gehört auch die letztlich auf A r t . 21 GG beruhende Zuständigkeit, über den Ältestenrat die Organisation der Arbeit des Bundestages, vor allem Ort, Zeitpunkt, Ablauf der Plenar- und Ausschußsitzungen u. ä. zu steuern. Insofern sind die Fraktionen Organe des Bundestages, w e i l i h r Handeln dem Bundestag als Körperschaft transitorisch unmittelbar zugerechnet wird. Sie sind also eigenständige, institutionelle Subjekte der Wahrnehmungszuständigkeiten. Insofern sind sie sogar mittelbare Staatsorgane. Die zweite Gruppe der auf die Wahrnehmung der organschaftlichen Zuständigkeiten des Bundestages gerichteten Zuständigkeiten der Fraktionen umfaßt das Recht, Gesetzentwürfe einzubringen, sonstige Anträge zu stellen und Anfragen an die Bundesregierung zu richten. Diese Z u ständigkeiten beruhen nicht auf geschriebenen Rechtssätzen, sondern auf Gewohnheitsrecht. Alle Gesetzentwürfe, Anträge und Anfragen aus der Mitte des Bundestages bedürfen nach der Geschäftsordnung der Unterschrift der Mitglieder des Bundestages, von denen sie ausgehen. Der Ältestenrat hat jedoch am 24. Januar 1952 beschlossen, daß die Fraktionen berechtigt sein sollen, selbständige Anträge zu stellen, worunter auch Anfragen, die keine Anträge an den Bundestag darstellen, fallen 5 0 . Sie tragen die Unterschrift des Fraktionsvorsitzenden m i t dem Zusatz „und Fraktion". Da der Ältestenrat insoweit nur Empfehlungen geben, aber keine rechtsverbindlichen Entscheidungen treffen kann 5 1 , ist dieser Beschluß lediglich eine Empfehlung. Der Bundestag hat selbst keinen ausdrücklichen Beschluß darüber gefaßt. Aber die dem Beschluß des Ältestenrates entsprechenden Anträge und Anfragen der Fraktionen sind stets zugelassen worden und wurden entsprechend der Geschäftsordnung behandelt. Damit ist parlamentarisches Gewohnheitsrecht entstanden 52 . Die Frage aber ist, wem diese Zuständigkeiten zugewiesen sind, den Abgeordneten oder den Fraktionen. Wie die Anträge und Anfragen der Fraktionen innerhalb der Fraktionen zustande kommen, regeln deren Geschäfts- oder Arbeitsordnungen. Sie bedürfen immer der Zustimmung der Fraktionsvollversammlung. Diese beschließt m i t Mehrheit. Die Anträge und Anfragen werden i m Falle ihrer Annahme durch die Fraktionsvollversammlung auch gegen den Willen der unterlegenen Minderheit der Fraktionsmitglieder eingebracht. Sie beruhen also auf dem Willen der Fraktion als Körperschaft mentsrecht S. 185 ff. und 229 ff.; K. F. Arndt: Geschäftsordnungsautonomie S. 99 f. ; Hauenschild: Wesen S. 33 vermutet, daß bereits vor den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Entwicklung einsetzte. 50 Trossmann: Parlamentsrecht S. 116. 51 Unten S. 118. 52 Zur Entstehung von Gewohnheitsrecht oben S. 45 ff.
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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und nicht auf dem Willen der einzelnen Abgeordneten. Die Fraktion n i m m t nicht die Zuständigkeiten der ihr angehörenden Abgeordneten wahr 5 3 . Sie handelt nicht i n deren, sondern i m eigenen Namen. Ihr werden die Anträge und Anfragen zugerechnet. Den Fraktionen sind somit neben den Abgeordneten eigene innerorganisatorische Zuständigkeiten zugewiesen, Gesetzesentwürfe, sonstige Anträge und Anfragen einzubringen. Schließlich w i r k e n die Fraktionen durch die Beschlüsse ihrer Vollversammlungen und ihrer Einrichtungen, aber auch durch unmittelbare Handlungen ihrer Organe informell auf den Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß des Bundestages ein, indem sie die Entscheidungen des Plenums und der Ausschüsse vorbereiten und inhaltlich anleiten. Dieses Handeln hat seinen Grund i n einer umfassenden politischen Steuerungsfunktion, die die Fraktion als ein der staatlichen Organisation eingefügter Teil der Partei hat. Es beruht letzten Endes auf A r t . 21 GG. Die vorstehend behandelten Zuständigkeiten der Fraktionen sind auf Teilnahmehandlungen an der Zuständigkeitswahrnehmung des Bundestages als Organ gerichtet. Sie entscheiden nichts, sondern bereiten Entscheidungen des Bundestages vor. Die Fraktionen sind insofern also nicht Organ, sondern Organteile des Bundestages 54 .
I I I . Der Ältestenrat Wichtigstes leitendes Organ für die Arbeit des Bundestages ist der Ältestenrat 5 5 . Nach der Reform der Geschäftsordnung vom Sommer 1969 sind seine Zusammensetzung und seine Zuständigkeiten erweitert worden. Der Ältestenrat besteht gemäß § 6 GOBT zunächst aus dem Präsidenten und dessen Stellvertretern. Diese werden zwar vom Bundestag gewählt, aber von den Fraktionen vorgeschlagen. Von dem Vorschlag w i r d 53 So aber wohl Moecke: Rechtsnatur S. 278; hingegen ordnet Hauenschild (Wesen S. 81 ff.) die Zuständigkeiten den Fraktionen zu, nicht nur dort, wo, wie in den Geschäftsordnungen einiger Volksvertretungen der Länder, sie schriftlich normiert sind. Er erkennt vielmehr gewohnheitsrechtliche Zuordnungen ausdrücklich an (Wesen S. 82). 54 a. A. Langner (Recht S. 81), der sie jedoch als „originäre Glieder des Bundestages" bezeichnet, ohne aber den Unterschied deutlich zu machen. Die Frage wird ausführlicher bei den Ausschüssen zu behandeln sein, wo sie schwieriger zu beantworten ist, unten S. 146 ff. 55 Zur historischen Entwicklung vor allem Hatschek: Parlamentsrecht S. 175 ff. Er ist eine Einrichtung, die sich außerhalb des parlamentarischen Organisationsrechts entwickelt hat, und zwar im engen Zusammenhang mit den zunächst gleichfalls außerhalb desselben stehenden Fraktionen. Durch ihn sollte der Einfluß der Fraktionen auf die Organisation und Abwicklung der Geschäfte des Reichstags gewährleistet werden.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
i. a. nicht abgewichen. 23 weitere Mitglieder werden von den Fraktionen unmittelbar benannt. Die Fraktionen haben also das entscheidende unmittelbare und mittelbare Besetzungsrecht, das sie gemäß ihrer Stärke ausüben. Wichtig sind die Zuständigkeiten des Ältestenrates. Sie beziehen sich vor allem auf die Organisation der Arbeit des Bundestages. Allerdings hat er dabei keine Beschlußzuständigkeiten, sondern soll lediglich Verständigungen herbeiführen über die Zahl der Ausschüsse, die Verteilung der Vorsitze derselben, den Arbeitsplan des Bundestages i m großen, wie auch jedenfalls i n bezug auf die Tagesordnung und den Ablauf der Plenarsitzungen i n Einzelheiten. W i r d eine Verständigung erzielt, ist der Bundestag trotzdem nicht völlig ausgeschaltet, da die Geschäftsordnung Widerspruchsrechte der Abgeordneten vorsieht, von denen allerdings kaum Gebrauch gemacht wird. W i r d keine Verständigung herbeigeführt, entscheidet der Bundestag i m Plenum auf Antrag aus der Mitte des Hauses. Der Ältestenrat hat Entscheidungszuständigkeiten für die inneren A n gelegenheiten des Bundestages. Was das i m einzelnen ist, braucht hier nicht erörtert zu werden. Der Ältestenrat ist Organ des Bundestages, da seine Zuständigkeiten offensichtlich auf die körperschaftliche Eigenzuständigkeit der Geschäftsordnungsautonomie bezogene Wahrnehmungszuständigkeiten sind 5 6 . Er ist eigenständig. Die Rolle des Ältestenrates gilt als undurchsichtig, w e i l er nicht öffentlich beobachtbar und kontrollierbar, sondern vertraulich tagt. Wenn die Vertraulichkeit auch für die sachgerechte Entscheidung hilfreich sein kann, so ist doch ebenfalls die Tür für Mißbrauch der Fraktionsmacht und Manipulation geöffnet. Es erscheint daher angesichts des Einflusses des Ältestenrates nicht unverständlich, daß er m i t Mißtrauen beobachtet wird. Zwar haben Schäfer und Rasner seine Rolle zu klären und ihn zu entmystifizieren versucht 57 . Sie haben seine Funktionen und die Grundsätze seines Handelns beschrieben, aber nicht wie i n concreto gehandelt wird. Darüber gibt Loewenberg einen bei weitem eingehenderen Aufschluß. Er faßt seine Beobachtung dahin zusammen, daß es die wenigen Mitglieder des — alten — Ältestenrates, die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen sind, die die Spielregeln gemeinsam aufstellen, nach denen das Spiel dann abläuft 5 8 . Schon die Entscheidung, wann eine Regierungserklärung die Beratung eines Gesetzentwurfes, einer großen Anfrage oder eines Berichtes, auf die Tagesordnung gesetzt wird, entscheidet der Ältestenrat vor. Er berät 56 57 58
So auch die herrschende Meinung. Schäfer: Bundestag S. 95 - 105; Rasner: Herrschaft im Dunkel? Parliament p. 202 sv.
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den Bundestagspräsidenten zwar nur, kann also keinen endgültigen Beschluß fassen. Aber nur, wenn keine Einigung zustandekommt, entscheidet der Bundestag. Eine gegebene Einigung stößt er nicht um. Nur i n wenigen Fällen fällt die Entscheidung erst i m Bundestag, wenn man sich i m Ältestenrat nicht hat einigen können 5 9 . Natürlich entscheiden die Fraktionsvertreter nicht ohne Rückhalt i n der Fraktion 0 0 . Nur sind sie es selbst weitgehend, die als aktive Mitglieder des Fraktionsvorstandes die Meinung der Fraktion maßgeblich bilden. Es müssen auch Ausgleiche zwischen den Wünschen der Fraktionen, insbesondere zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, stattfinden. Aber wie das tatsächlich geschieht, das ist die für den Außenstehenden ungeklärte Frage. Rasner bestätigt, daß dieser Prozeß u. a. auch i m „Dunkeln" erfolge 61 . Entsprechend w i r d mit Absetzungen von Punkten der Tagesordnung verfahren. Die Vereinbarungen gehen aber noch weiter. Sie betreffen die Gesamtzeit, die Rednerfolge, die „Rederunden", u. U. selbst die i n der Aussprache zu behandelnden Gegenstände. Damit w i r d die Ausübung der Zuständigkeiten durch die einzelnen Organwalter vorprogrammiert. Auch während der Beratung dauert diese Steuerung an. Sie ist i n einem gewissen Umfange unentbehrlich. Aber sie überschreitet dann die zulässige Grenze, wenn die Rechte des einzelnen Abgeordneten, insbesondere sein Rederecht, unausübbar werden. Der Abschluß interfraktioneller Vereinbarungen über die Gestaltung der Plenarberatungen i m Ältestenrat und zwischen den parlamentarischen Geschäftsführern hat zur Folge, daß die förmlichen Regeln des Geschäftsordnungsrechts nach Auffassung von Loewenberg an Bedeutung verlieren 6 2 . Die unparteilichen Regeln, die ein dauerndes, einsehbares, kontrollierbares Verfahren sichern sollen, weichen ad hoc-Regeln. Die Funktion des geordneten Verfahrens auch für die Richtigkeit der Entscheidung w i r d dabei außer acht gelassen. Die immer neue Regelung erlaubt größere Beweglichkeit und Praktikabilität i m Einzelfall. Aber die Beliebigkeit der Form kann erheblich zum Nachteil der Institution werden.
I V . Die Ausschüsse 1. Ein wesentlicher Teil des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages vollzieht sich nicht i m Plenum, sondern i n den vom Bundestag eingerichteten Ausschüssen 63 . Sie nehmen an der Wahr59 So ζ. B. bei der 2. Lesung des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes (Notstandsverfassung) V/174. Sitzg. v. 15. 5.1968, Sten. Ber. S. 9312 Α. 60 Darauf verweist Rasner: Herrschaft S. 108 ff. 61 HerrschaftS. 110 ff. 62 Parliament p. 214 sv. 63 Zur Rechtsstellung der Bundestagsausschüsse Frost: Parlamentsausschüsse.
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
nehmung aller Zuständigkeiten des Bundestages teil. Zwar lassen sich einige Ausschüsse m i t funktional spezialisiertem Aufgabenkreis herausheben. Zu ihnen gehören insbesondere die Untersuchungsausschüsse für die Kontrollfunktion, sowie die durch Gesetz gebildeten Ausschüsse für die i n dem Gesetz genannten Aufgaben. Aber eine allgemeine Einteilung läßt sich nach funktionellen Gesichtspunkten nicht vornehmen, da die überwiegende Anzahl der Ausschüsse an der legislativen, der kontrollierenden und der mitwirkenden Funktion des Bundestages teilnehmen 64 . Da die Ausschüsse m i t funktional spezifiziertem Ausgabenkreis jeweils verschiedenen Rechtsregeln folgen, ist es wissenschaftlich auch nicht sinnvoll, sie als Gruppe der Spezialausschüsse der Gruppe der allgemeinen Ausschüsse gegenüberzustellen. Die Ausschüsse sind unterschieden nach den Normen ihrer Bildung und Errichtung 6 5 . Einige werden durch Rechtssätze des Grundgesetzes gebildet, die Untersuchungsausschüsse gemäß A r t . 44 GG, der Ständige Ausschuß gemäß A r t . 45 GG, der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und der Verteidigungsausschuß gemäß A r t . 45 a GG. Drei Ausschüsse werden von Gesetzen gebildet und errichtet, der Wahlprüfungsausschuß gemäß § 3 WahlprüfungsG, der Wahlmännerausschuß gemäß § 6 BVerfGG und das Kontrollgremium gemäß § 9 AbhörG. Alle übrigen Ausschüsse werden durch Rechtssätze der Geschäftsordnung des Bundestages gebildet. Zwar enthält das Grundgesetz einige auf die Ausschüsse bezogene Regeln, so das Recht der Ausschüsse, die Anwesenheit der Mitglieder der Bundesregierung zu verlangen und das entsprechende Recht der Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates sowie ihrer Beauftragten, an den Sitzungen der Ausschüsse teilzunehmen (Art. 43 GG). Aber die Ausschüsse werden m i t Ausnahme der drei genannten durch Gesetz errichteten Ausschüsse konkret durch Rechtssätze der Geschäftsordnung errichtet, da sie die Besetzung der Ausschüsse wie deren Verfahren regeln. Der Bundestag ist auf Grund seiner i h m i n A r t . 40 GG verliehenen Geschäftsordnungsautonomie zuständig 66 . Für die Untersuchungsausschüsse finden sich Verfahrensnormen außer i m Grundgesetz auch i n der Strafprozeßordnung. Sie nehmen insofern eine Sonderstellung gegenüber den anderen Ausschüssen ein. Für die gesetzlichen Ausschüsse gelten die Rechtssätze der Geschäftsordnung über die Ausschüsse nicht oder allenfalls hilfsweise. Die folgenden Ausführungen betreffen daher die gesetzlichen Ausschüsse i. a. nicht. ®4 Den Versuch einer funktionalen Einteilung unternimmt Frost: Parlamentsausschüsse S. 52; aber sie führt nur zur Aussonderung von 5 Spezialausschüssen und der Untersuchungsausschüsse, während die große Masse der Ausschüsse ungegliedert bleibt. 65 Zur Terminologie Wolff : Verwaltungsrecht I I 3 § 74 I I I . ββ Frost: Rechtsgestalt S. 48.
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Eingerichtet werden die Ausschüsse durch Beschluß des Bundestages. Die durch das Grundgesetz gebildeten Ausschüsse muß der Bundestag einsetzen 67 . Dasselbe gilt für die gesetzlichen Ausschüsse. Außerdem muß der Bundestag auf Grund der Geschäftsordnung den Geschäftsordnungsund Immunitätsausschuß (§§ 114, 129, 130 GOBT), den Petitionsausschuß (§ 112 GOBT) und den Haushaltsausschuß (§ 96 GOBT) einrichten, da diesen Ausschüssen durch die genannten Vorschriften der Geschäftsordnung besondere Zuständigkeiten zugewiesen sind 6 8 . Untersuchungsausschüsse müssen eingerichtet werden, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestages es beantragt (Art. 44 GG). I m übrigen ist der Bundestag i m Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie frei, Ausschüsse m i t beliebigem Geschäftsbereich, i n beliebiger Zahl und i n beliebiger Größe einzurichten. Soweit dem Bundestag die Einrichtung bestimmter Ausschüsse und damit auch die Zuweisung bestimmter Sachaufgaben an diese nicht zur rechtlichen Pflicht gemacht ist, bestimmt er den Geschäftsbereich der von i h m frei eingerichteten Ausschüsse ebenfalls frei. Die Ausschüsse werden i n der Regel für bestimmte umfassende Fachaufgaben eingerichtet (§61 GOBT). Ihnen werden dann alle i n der Form von Vorlagen (Gesetzentwürfe, Berichte, Anträge u. ä.) anfallenden Sachaufgaben zur Behandlung vom Plenum überwiesen, bzw. sie können solche Aufgaben selbst i m Rahmen des § 60 Abs. 2 Satz 3 GOBT aufgreifen. Die Bestimmung des Geschäftsbereiches der Fachausschüsse geht von parlamentarischen Gesichtspunkten aus. Die Geschäftsbereiche der Ausschüsse entsprechen nicht den Ministerien der Bundesregierung. Allerdings hat man i n der sechsten Legislaturperiode versucht, eine Entsprechung von Fachausschüssen und Ministerien annäherungsweise herzustellen. Da diese Fachausschüsse für einen Geschäftsbereich und nicht für einzelne Sachaufgaben bestellt sind, werden sie für die gesamte Legislaturperiode eingerichtet, sind also ständige Ausschüsse. Der Umfang der Geschäftsbereiche bestimmt die Zahl der Ausschüsse 69 . 67 Zu den in Art. 45 a GG genannten Ausschüssen v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 45 a Anm. I I I S. 955 ff.; Maunz-Dürig-Herzog (Kommentar Art. 45 a Rdnr. 3 ff.), wo ausdrücklich hervorgehoben wird, daß die beiden Ausschüsse durch ihre Verankerung im Grundgesetz nicht zu „eigenständigen Verfassungsorganen" werden. 68 Zum Vorstehenden Schäfer: Bundestag S. 106 ff. Dem Haushaltsausschuß wurden auch durch die alljährlichen Haushaltsgesetze jedenfalls bis zur Reform des Haushaltsrechts im Jahre 1969 Zuständigkeiten beim Haushaltsvollzug zugewiesen. 69 Sie hat in den bisherigen sechs Legislaturperioden erheblich geschwankt. I n der ersten Legislaturperiode waren es 39 Ausschüsse mit teilweise sehr engen Geschäftsbereichen, was dazu führte, daß einzelne Vorlagen (Gesetzesentwürfe u. a.) oft von sehr vielen Ausschüssen behandelt wurden, weil sie die Geschäftsbereiche mehrerer Ausschüsse betrafen. Da diese Mehrfachberatungen zu erheblichen Schwierigkeiten führten, wurden die Geschäftsbereiche der Ausschüsse erweitert, um möglichst immer nur einen Ausschuß mit der Behänd-
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I. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
N e b e n d e n s t ä n d i g e n Fachausschüssen sieht § 61 G O B T Sonderausschüsse v o r , die f ü r eine b e s t i m m t e Sachaufgabe e i n g e r i c h t e t w e r d e n , ζ. B . die S t r a f r e c h t s r e f o r m ,
die i h r e r s e i t s aber auch durchaus m e h r e r e
E i n z e l a u f g a b e n u m g r e i f e n k a n n . A b e r die Ü b e r g ä n g e s i n d f l i e ß e n d 7 0 . D a die Sonderausschüsse f ü r d i e B e h a n d l u n g b e s t i m m t e r Sachaufgaben e i n gesetzt sind, s i n d sie n i c h t f ü r die D a u e r d e r L e g i s l a t u r p e r i o d e , s o n d e r n f ü r die D a u e r der E r l e d i g u n g der Sachaufgabe eingesetzt. Sie s i n d also n i c h t „ s t ä n d i g e " Ausschüsse i m o b e n g e n a n n t e n S i n n . A l l e r d i n g s k a n n sich die E r l e d i g u n g d e r Sachaufgabe w i e die S t r a f r e c h t s r e f o r m
ü b e r eine
Legislaturperiode erstrecken 71. D i e E i n r i c h t u n g der Ausschüsse e r f o l g t d u r c h Beschluß des Bundestages a u f G r u n d v o n A n t r ä g e n aus der M i t t e des Hauses. D i e R e g i e r u n g h a t i n s o w e i t als solche ebenso w e n i g e i n A n t r a g s r e c h t w i e der B u n d e s r a t . D e r Beschluß r e g e l t die Geschäftsbereiche, die Größe u n d die V e r t e i l u n g d e r Ausschußsitze a u f die F r a k t i o n e n gemäß i h r e n S t e l l e n a n t e i l e n . D i e s e m Beschluß l i e g t i. a. eine i n t e r f r a k t i o n e l l e V e r e i n b a r u n g z u g r u n d e , die i n i n t e r f r a k t i o n e l l e n A n t r ä g e n eingebracht w i r d . Es k a n n aber auch v e r schiedene A n t r ä g e d e r F r a k t i o n e n u n d i n d e r e n F o l g e K a m p f a b s t i m m u n gen zu a l l e n oder e i n z e l n e n P u n k t e n g e b e n 7 2 . D i e E i n r i c h t u n g e r f o l g t i. a. lung der ein7elnen Vorlagen betrauen zu können. Dazu Dechamvs: Macht S. 64. Die Zahl der Ausschüsse sank entsprechend. I n der sechsten Legislaturperiode gibt es 17 ständige Fachausschüsse. 70 Der zu Beginn der 6. Legislaturperiode eingerichtete J. Sonderailsschuß heißt: ,.1. Sonderausschuß für Snort und Olympische Spiele". Er beschäftigt sich also nicht nur mit den Olympischen Spielen, sondern mit Sport überhaupt, a^o einem allgemeinen Fachbereich, nicht nur einer Sachaufgabe. Es ist anzunehmen, daß er als 1. Sonderausschuß eingerichtet wurde, und nicht als Fachausschuß. um den Vorsitz des 2. Sonderausschusses für die Strafrechtsreform der SPD-Fraktion zu sichern. 71 Sonderausschüsse sind im Bundestag selten. I n der 4. und 5. Legislaturperiode gab es nur den Sonderausschuß für die S traf recht sreform. Er wurde in der 6. Legislaturperiode wiederum eingerichtet. Hinzu trat im Hinblick auf die O^mpischen Spiele in München 1972 noch ein zweiter Sonderausschuß für Sport, Drs. VI/40, und 41., Sten. Ber. Sitzg. ν. 5.11.1969 S. 260 Β ff. I m Reichstag des Kaiserreiches überwogen hingegen die Sonderausschüsse, ebenso wie in der zweiten Kammer bzw. dem Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages vor 1918. Die Geschäftsordnungen beider Volksvertretungen nannten nur 7 (§ 24 GO Reichstag) bzw. 9 (§ 19 GO Abgeordnetenhaus) ständige Kommissionen. I m übrigen wurden Ausschüsse ad hoc zur Beratung einzelner Sachaufgaben, Vorlagen, Anträgen u. ä. eingesetzt. Zur geschichtlichen Entwicklung des Ausschußwesens: Hatschek: Parlamentsrecht S. 227: Dechamvs: Macht S. 55 ff. Erst mit der Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie und der damit funktional begründeten Ständigkeit der Versammlung des Reichstages in der Weimarer Republik wurden auch mehr ständige Ausschüsse vorgesehen 05) und die Befugnis zur Einsetzung weiterer ständiger Ausschüsse ausdrücklich festgelegt (§ 26 GORT). 72 I n der 6. Legislaturperiode war der „Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen" strittig, allerdings nicht als solcher, nicht einmal im Hinblick auf seinen Geschäftsbereich, sondern nur bezüglich seines Namens, Drs. VI/39 und 43, Sten. Ber. 8. Sitzg. ν. 5.11.1969 S. 260 Β ff. Jedoch gingen den gemeinsamen interfraktionellen Anträgen für die übrigen Ausschüsse aller drei Fraktionen des
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am Beginn einer Legislaturperiode; denn ohne Ausschüsse ist der Bundestag zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich arbeitsunfähig. Aber auch während der Legislaturperiode können sowohl ständige als auch Sonderausschüsse eingesetzt werden. Untersuchungsausschüsse werden immer nur ad hoc auf Antrag eingesetzt. Ständige Kontrollausschüsse gibt es i m Bundestag nicht 7 3 . Der Bundestag kann die Ausschüsse, die er rechtlich nicht einrichten muß, jederzeit auch wieder auflösen 74 . Er kann ebenfalls die Geschäftsbereiche neu ordnen, sei es durch Umverteilung zwischen den bestehenden Ausschüssen, sei es durch Zusammenlegung oder durch Teilung von Ausschüssen. Da die Ausschüsse nicht, wie die Fraktionen, originäre, sondern abgeleitete Einrichtungen des Bundestages sind, genießen sie keine Bestandsgarantie 75 . Die Überweisung von konkreten Vorlagen, Gesetzesentwürfen, Berichten, Anträgen u. ä. begründet kein subjektives Recht der Ausschüsse oder dergleichen, diese Vorlage nun auch abschließend zu behandeln und damit keine indirekte Bestandsgarantie. 2. Die Größe der Ausschüsse ist unterschiedlich 76 . Sie w i r d bestimmt durch die politische und sachliche Bedeutung der Ausschüsse, den A r beitsanfall und das Stärkeverhältnis der Fraktionen zueinander. Dem letztgenannten Faktor kommt für die Wahrnehmung der Zuständigkeiten des Bundestages und damit für die Erfüllung seiner Funktion besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Gem. §§ 12, 60 Abs. 1, 68 GOBT ist die Zusammensetzung der Ausschüsse i m Verhältnis der Stärke der Fraktionen vorzunehmen. Dadurch erhalten Gruppen ohne Fraktionsstatus keine Sitze i n den Ausschüssen. Es w i r d i. a. das Verfahren d'Hondt angewandt, u m die Verteilung der Ausschußsitze auf die Fraktionen zu regeln. Die Geschäftsordnung schreibt dieses Verfahren nicht vor. Seine Anwendung ist bloßer Parlamentsbrauch. Das System d'Hondt begünstigt die großen Fraktionen. Es kann daher zur Folge haben, daß kleine Fraktionen nicht i n allen Ausschüssen vertreten sind, wenn die Ausschüsse eine bestimmte Größe unterschreiten. Wenn nach der Festsetzung der Ausschußgrößen am A n fang der Legislaturperiode, die i. a. mit dem Stellenanteil so gekoppelt ist, daß eine angemessene Vertretung aller Fraktionen i n wenn auch Bundestages wochenlange Verhandlungen zwischen den Regierungsfraktionen SPD und FDP und der Oppositionsfraktion CDU/CSU voraus. 73 Ihre Einrichtung hat Hennis (Bundestag S. 26) vorgeschlagen. Bedenken dagegen äußert Frost (Parlamentsausschüsse S. 59 Fußnote 134); dagegen auch Kewenig: Probleme S. 57 Fußnote 126. Die Frage läßt sich nur aus der Kontrollfunktion des Bundestages gegenüber der Bundesregierung beantworten, muß an dieser Stelle also dahingestellt bleiben. Aber unten Fußnote 105. 74 a. A. Achterberg: Grundzüge S. 30, für die ständigen Ausschüsse. 75 Vgl. Frost: Parlamentsausschüsse S. 53. 76 Zu Beginn der 6. Legislaturperiode betrugen die Stärken 17, 25, 29 und 33 Mitglieder.
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. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
nicht allen, so doch den großen Ausschüssen gesichert wird, eine Verschiebung i n dem Stellenanteil durch Fraktionswechsel eintritt, verschieben sich auch die Ausschußsitze. Das kann dazu führen, daß Fraktionen gegebenenfalls i n gewissen Ausschüssen nicht mehr vertreten sind 7 7 . Das kann unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse führen dergestalt, daß die Mehrheit i m Plenum i n den betreffenden Ausschüssen i n die Minderheit gerät. Das trat i m Herbst 1970 ein, als drei Abgeordnete der FDP-Fraktion zur CDU/CSUFraktion übertraten 7 8 . Es stellen sich damit einige grundsätzliche Fragen zu der Verteilung der Ausschußsitze auf die Fraktionen und Gruppen des Bundestages. Der Bundestag ist als Kollegialorgan verfaßt. Er kann rechtlich verbindlich nur als Kollegialorgan handeln. N u r als Kollegium kann der Bundestag seine Funktionen erfüllen, muß er daher regelmäßig seine Zuständigkeiten wahrnehmen. Der Kollegialwille kommt notwendig durch die Teilnahme aller Amtswalter an der Willensbildung zustande. Jeder Abgeordnete hat deshalb die gleichen Rechte und Pflichten zur Teilnahme an der Tätigkeit des Bundestages, nicht nur bei einem formellen Beschluß, also der Entscheidung als Rechtsakt, sondern i n dem ganzen die Entscheidung vorbereitenden und von ihr bei funktioneller Betrachtung nicht zu trennenden Verfahren. U m der Arbeitsfähigkeit des Bundestages w i l l e n ist eine gewisse Einschränkung der Abgeordneten i n der unmittelbaren Ausübung aller Rechte während der Vorbereitung 7 9 zulässig. Nicht jeder Abgeordnete kann i n jeder Debatte reden. Nicht jeder Abgeordnete kann unmittelbar jede Vorlage i n allen Einzelheiten m i t beraten. Eine Arbeitsteilung ist i m Bundestag ebenso notwendig wie i n jeder Körperschaft 80 . Bei der wachsenden Arbeitslast ist sie es mehr als je. Gerade i m Interesse der Arbeit des Bundestages als solchem ist es notwendig, daß sich die einzelnen Abgeordneten nicht allen, sondern nur je besonderen Vorlagen widmen. Aber da alle Abgeordneten regelmäßig über alle Vorlagen abstimmen, also entscheiden müssen, müssen sie am Vorbereitungsverfahren mittelbar beteiligt sein. Das geschieht über die 77 1969 verlor die FDP-Fraktion des nds Landtages durch das Ausscheiden von 3 Mitgliedern ihre Sitze in den „großen" Ausschüssen (15 Mitglieder), da ihr Stellenanteil sank. I n den kleinen Ausschüssen (7 Mitglieder) hatte sie sowieso nur beratende Stimme. Ähnliches geschah 1970 für die NPD-Fraktion. Daraufhin wurde eine Änderung der nds G O L T beschlossen, die in jedem Fall jeder Fraktion einen stimmberechtigten Sitz sichert. Sinkt wie die D P Fraktion in der dritten Legislaturperiode des Bundestages, eine Fraktion unter die Mindestzahl ab und verliert den Fraktionsstatus, verliert sie alle Ausschußsitze. 78 F A Z v. 3.11.1970 S. 3, insgesamt wiesen 10 Ausschüsse nunmehr eine Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion auf. 79 Hinsichtlich der Entscheidung oben S. 79 f. 80 Dazu Frost: Parlamentsausschüsse S. 41.
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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Fraktionen. I n ihnen w i r d parallel zu den Beratungen der Ausschüsse i n den Vollversammlungen und vor allem i n den regelmäßig für alle M i t glieder der Fraktionen offenen Arbeitskreisen jede Vorlage beraten. Die Fraktionen ermöglichen also die mittelbare Mitarbeit der Abgeordneten auch dort, wo sie unmittelbar nicht m i t w i r k e n können. Wenn auch die Mitglieder der Ausschüsse nicht an die Beschlüsse ihrer Fraktionen gebunden sind, so sind sie doch deren Repräsentanten, die m i t den Fraktionen durch gemeinsam erarbeitete politische und sachliche Vorstellungen über ein Problem verbunden sind und diese i n den Ausschüssen, wenn auch durchaus i n individueller Weise und m i t Abweichungen vertreten. Der Ausschluß einer Fraktion von der Mitarbeit i n auch nur einem Ausschuß verhindert auch die mittelbare Mitarbeit der Abgeordneten an der Vorbereitung einer Entscheidung. Sie beschränkt i h n i n der Wahrnehmung seiner Amtszuständigkeiten. Aber auch die jeweiligen Fraktionen werden als solche i n ihren auf ihren politischen Steuerungsfunktionen beruhenden Zuständigkeiten erheblich beschränkt, damit letzten Endes auch die jeweiligen Parteien i n ihren Rechten aus A r t . 21 GG. Dagegen kann nicht eingewandt werden, daß den ausgeschlossenen Fraktionen i m Plenum die Möglichkeit der Mitarbeit bleibe. Dieses Argument übersieht die tatsächlich nur geringen Möglichkeiten, i m Plenum noch wirklich sachlich erhebliche Arbeit zu leisten, das vorherrschende Gewicht der Arbeit der Ausschüsse, vor allem aber die unterschiedlichen Funktionen der Arbeit i m Plenum und i n den Ausschüssen. Wenn i h m nicht nur verbal, sondern tatsächlich Folge gegeben würde, würde die funktionale Arbeitsteilung zwischen Plenum und Ausschüssen, die der Steigerung der Effizienz der Erfüllung der Entscheidungsfunktion des Bundestages dienen soll, u. U. wieder aufgehoben. Diese Beschränkungen sind unzulässig. Das Gleiche gilt für die Gruppen, die keine Fraktionsstärke erreichen. Zwar ist jede Gruppe gem. § 10 GOBT zahlenmäßig geringer als 5 °/o der Mitglieder des Bundestages. Aber sind mehrere Gruppen vorhanden, können diese zusammen weit mehr Abgeordnete umfassen. Aber auf die Prozentzahl kann es nicht ankommen. Da es sich bei den Abgeordneten u m Amtswalter handelt, haben sie ein Recht auf Versehung ihres Amtes. Die Überlegungen zu der 5 %-Klausel der Wahlgesetze können nicht übertragen werden. Diese Berechtigung zur vollen Versehung des Amtes beruht auf A r t . 38 GG und kann i m Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht eingeschränkt oder auf die bloß formalen Abstimmungsrechte reduziert werden. Es folgt daraus, daß die Ausschußgrößen wie das entsprechende Verteilungssystem so zu wählen sind 8 1 , daß die Mitarbeit aller Fraktionen 81
I n der sechsten, wie vorher schon in der vierten Legislaturperiode, wurden
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. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
u n d G r u p p e n u n d d a m i t die i n d i r e k t e M i t a r b e i t a l l e r A b g e o r d n e t e n i n a l l e n Ausschüssen g e w ä h r l e i s t e t i s t 8 2 . Z u achten ist d a r a u f , daß die Regier u n g s f r a k t i o n e n , die i m P l e n u m die M e h r h e i t haben, sie auch i n d e n Ausschüssen haben. I m ü b r i g e n k ö n n e n die g r o ß e n F r a k t i o n e n eher b e n a c h t e i l i g t w e r d e n , d a sie j e d e n f a l l s m e h r e r e S t e l l e n i m Ausschuß besetzen, als, w i e d u r c h das V e r f a h r e n d ' H o n d t , b e v o r z u g t w e r d e n 8 3 . E n t sprechend müssen aus verfassungsrechtlichen u n d n i c h t n u r aus p o l i t i schen G r ü n d e n b e i e i n e r V e r ä n d e r u n g d e r F r a k t i o n s s t ä r k e n die A u s schüsse w i e d e r so e i n g e r i c h t e t w e r d e n , daß die B e t e i l i g u n g a l l e r F r a k t i o n e n gesichert i s t 8 4 . A l l e n f a l l s k ö n n t e m a n sich d a r a u f beschränken, d e n k l e i n e r e n F r a k t i o n e n u n d d e n G r u p p e n i n k l e i n e r e n Ausschüssen n u r e i n v o l l e s M i t b e r a t u n g s r e c h t u n d n i c h t e i n v o l l e s S t i m m r e c h t z u geben, d a die e n d g ü l t i g e n E n t s c h e i d u n g e n erst i m P l e n u m f a l l e n . D i e B e n e n n u n g der M i t g l i e d e r u n d S t e l l v e r t r e t e r f ü r d i e d e n F r a k t i o n e n z u f a l l e n d e n Ausschußsitze n e h m e n , w i e b e r e i t s e r w ä h n t , die F r a k t i o n e n gem. § 68 A b s . 2 G O B T v o r . D i e L i s t e n w e r d e n v o n d e n F r a k tionsgeschäftsführern u n d Arbeitskreisvorsitzenden vorbereitet, dem F r a k t i o n s v o r s t a n d g e p r ü f t u n d d u r c h die V o l l v e r s a m m l u n g beschlossen. D i e F r a k t i o n e n n e h m e n auch das Recht i n A n s p r u c h , M i t g l i e d e r w i e d e r abzuberufen. Das geschieht, w e n n , w i e Schäfer f o r m u l i e r t , „ V o r w ü r f e die Ausschußgrößen daher verändert, um den neuen Verhältnissen der Fraktionen im Bundestag zueinander in der Zusammensetzung der Ausschüsse Rechnung tragen zu können. Hätte man 1969 die Ausschußzahlen der fünften Legislaturperiode beibehalten, hätte die FDP-Fraktion in einigen Ausschüssen keinen Sitz und die CDU/CSU-Oppositionsfraktion sogar die absolute Mehrheit erhalten. 82 Einzelne fraktionslose Abgeordnete können nicht mehr Rechte haben als fraktionsgebundene; da auch die letzten meist nur einem Ausschuß angehören, gilt das auch für die ersten. Aber das müßte gesichert sein. — Gegenüber der hier vertretenen Ansicht vertritt Schneider (Hare S. 447) die Auffassung, nicht die gleichmäßig proportionale Vertretung aller Fraktionen, sondern die Zusammensetzung nach Mehrheit und Opposition solle maßgebend sein. Schneider läßt allerdings außer acht, daß das Verfassungsrecht andere Erfordernisse aufstellt. Das Schema Mehrheit/Opposition ist der deutschen Verfassungsrechtswirklichkeit, wie eingehend dargetan, nicht adäquat. 83 So wurde im Reichstag der Weimarer Republik ein anderes Verfahren angewandt, Dechamps: Macht S. 141. 84 Nach dem Übertritt von drei FDP-Abgeordneten zur CDU/CSU und die dadurch hervorgerufenen Verschiebungen in den Ausschüssen war eine Einigung über die Neuverteilung sehr langwierig.\ Schließlich einigte man sich darauf, ein von d'Hondt abweichendes Verfahren nach Hare zu wählen unter Beibehaltung der Ausschußgrößen; in einigen Fällen allerdings wurde diese verändert, Btg.Drs. VI/1354 und 1355, F A Z v. 14.10.1970 S. 1 und 3, 3.11. S. 3 und 4.11.1970 S. 4. Welches Vorgehen gewählt wird, ist letzten Endes verfassungsrechtlich gleichgültig, wenn nur die genannten Erfordernisse erzielt werden. Kritisch zum Verfahren nach Hare Schneider (Hare S. 445 ff.), der allerdings von der falschen Voraussetzung ausgeht, daß dieses Verfahren über den konkreten Fall hinaus nun an Stelle des Verfahrens d'Hondt treten sollte. Der Bundestag kann darüber immer ad hoc entscheiden, § 68 Abs. 1 GOBT. Hingegen ist für den nds Landtag das Verfahren in der nds GOLT niedergelegt, oben Fußnote 77.
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erhoben werden, die sich auf die Ausschußarbeit beziehen, bis zur K l ä rung dieser Vorwürfe" 8 5 . Sie bleibt wohl aufrechterhalten, wenn sich die „Vorwürfe" bestätigen. Sowohl durch die Benennung wie durch die A b berufung können die Fraktionen erheblichen Einfluß auf die inhaltliche Gestaltung des Entscheidungsprozesses i n den Ausschüssen ausüben 86 . Es kommt auch vor, daß ad hoc Mitglieder ausgewechselt werden, nach Schäfer w e i l Nicht-Mitglieder „besonders sachkundig" seien. Diese K r i terien der Abberufung und des zeitweisen Auswechseins sind sehr weit und schließen nicht aus, daß damit Entscheidungen des Ausschusses manipuliert werden. Angesichts der faktischen Bedeutung der Ausschußentscheidung für den endgültigen Plenumsbeschluß ist auch nicht gewährleistet, daß derartig manipulierte Vorentscheidungen der Ausschüsse i m Plenum wieder korrigiert werden. Diese Praxis gibt daher zu erheblichen Bedenken Anlaß. Die Auswahl der Ausschußmitglieder durch die Fraktionen berücksichtigt verschiedene Kriterien, wie Sachkenntnis, politisches Gewicht der Abgeordneten, Interessengebundenheit, Anciennität, politisches Gewicht der Ausschüsse 87. Ein zentrales Problem besteht darin, daß die Ausschüsse als Fachausschüsse einerseits darauf angewiesen sind, über Fachleute, Experten der Fachgebiete zu verfügen, schon um der Bürokratie m i t hinreichendem Fachverstand gegenübertreten zu können, andererseits aber diese Fachleute sehr oft m i t bestimmten Interessenbereichen eng verknüpft sind, der Industrie, der Landwirtschaft, den Gewerkschaften u. a. Hinter diesen Interessenvertretern steht oft eine sehr starke außerparlamentarische Macht oder doch Einflußkonzentration. Manche Ausschüsse haben sich so zu einer homogenen Gruppe von Interessenvertretern oder doch Experten entwickelt, oft über die unterschiedlichen Parteibindungen hinweg 8 8 . I h r Einfluß i m Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß des Bundestages ist erheblich und gestattet, die vertretenen Interessen wirksam durchzusetzen. Da sie auch i n den jeweiligen A r beitskreisen oder -gruppen der Fraktionen sitzen und den i n den Fraktionen vorhandenen Sachverstand darstellen, ist es kaum oder nur schwer möglich, diesem Bemühen hinreichenden Widerstand entgegenzusetzen. Hier w i r d als ein wesentliches Problem des Bundestages die Innerorgan85
Schäfer: Bundestag S. 109 f. I m März 1972 zog die SPD-Fraktion mehrere Abgeordnete aus dem Auswärtigen Ausschuß vor der Beratung der Ostverträge zurück, darunter vor allem auch solche, die diesen Verträgen ablehnend gegenüberstanden. Die Befürworter befanden sich nämlich in der Minderheit. Man wollte wohl eine negative Ausschußstellungnahme verhindern. Dadurch wurde diesen Abgeordneten, bei denen sich auch Berliner Abgeordnete befanden, die Mitwirkungsmöglichkeit erheblich beschnitten. Zwei Abgeordnete verließen daraufhin die Fraktion. 87 I m einzelnen Schäfer: Bundestag S. 108 ff.; Schatz: Entscheidungsprozeß S. 55 ff. 88 Loewenberg: Parliament p. 332 und p. 374 sv. 86
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Ι. 2. Kap. : Fragen der Organschaft
kontrolle sichtbar. Sie w i r d z.T. dadurch bewältigt, daß oft mehrere Ausschüsse und mehrere Arbeitskreise oder -gruppen am Entscheidungsprozeß beteiligt sind, die von verschiedenen Ansatzpunkten und Vorstellungen die Entscheidung gestalten wollen und sich so gegenseitig hemmen. Ein anderes Problem der Ausschußbesetzung ist die Frage der mehrfachen Zugehörigkeit der Abgeordneten zu verschiedenen Einrichtungen des Bundestages und anderer Gremien, wie der Europäischen parlamentarischen Versammlungen. Diese Ämterhäufungen sind einerseits von der Sache her insbesondere bei kleineren Fraktionen, aber auch u m der Koordination willen unvermeidlich, andererseits dürfen sie einen bestimmten Rahmen nicht überschreiten, wenn der Abgeordnete seine einzelnen Aufgaben effektiv bewältigen w i l l . Sie bedeuten aber auch für den Entscheidungsprozeß i m Bundestag selbst eine Gefahr, weil sie Kumulation von Einflußnahmen und Entscheidungspotential, sei es allgemein, sei es in den Händen weniger zur Folge haben können 8 9 . Die i n der rechtlichen Struktur des Kollegialorgans angelegte und bewußt gewollte Machthemmung kann auf diese Weise überspielt oder unterlaufen werden. Eine innerorganliche Ämtertrennung muß daher gewährleistet sein. Es genügt nicht, daß die Fraktionen sie verhindern 9 0 , w e i l diese den zuletzt genannten Gesichtspunkt nicht berücksichtigen 91 . Innerorganliche Inkompatibilitätsvorschrif ten müssen vom Bundestag selbst geschaffen werden. 3. Die Vorsitzenden der Ausschüsse werden gem. § 69 GOBT von den Ausschüssen gemäß interfraktionellen Vereinbarungen i m Ältestenrat bestimmt 9 2 . Für diesen Fall erhalten solche Vereinbarungen doch Entscheidungs- und Beschlußcharakter. Das gilt auch dann, wenn gar keine Vereinbarungen über die Verteilung der einzelnen Ausschüsse selbst, sondern nur über das Verfahren der Verteilung Zustandekommen. Denn die Ausschußvorsitze werden nicht immer einvernehmlich verteilt, sondern es kann nur vereinbart werden, daß jede Fraktion in einer bestimmten formellen nach d'Hondt errechneten Reihenfolge sich die Ausschüsse, in denen sie den Vorsitz übernehmen w i l l , i m sogenannten Zugriff auswählen kann 9 3 . Die Ausschüsse sind dann zumindest gebunden, 89 Zur Kumulation in bezug auf den Verteidigungsausschuß Schatz: Entscheidungsprozeß S. 56. 90 Dazu die Richtlinien der CDU/CSU-Fraktion in der 5. Legislaturperiode abgedruckt bei Schäfer: Bundestag S. 109. 91 So spricht Schäfer (Bundestag S .109) nur davon, daß durch innerfraktionelle Inkompatibilitätsregelungen verhindert werden solle, daß die Mitglieder nur namentlich geführt werden, die Arbeit aber nicht leisten können. 92 So lange Praxis; offiziell beschlossen erstmals vom Seniorenkonvent des Reichstages am 22. 2.1912, Hatschek: Parlamentsrecht S. 228. 93 Das wurde 1961 praktiziert, Schäfer: Bundestag S. 102 f. Allerdings bestehen doch gewisse Grundregeln, nämlich vor allem die, daß der Haushaltsausschuß der Opposition zufällt, dazu Rasner: Herrschaft S. 101. Allerdings
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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ein Mitglied aus dieser Fraktion zu bestimmen, das ihnen zudem von der Fraktion benannt wird. Von einer freien Bestimmung durch den Ausschuß kann also keine Rede sein. Er vollzieht nur formal diesen A k t , bestätigt die Auswahl der präsentationsberechtigten Fraktion 9 4 . Ebenso w i r d für den Stellvertreter des Vorsitzenden verfahren. Diese Verteilung der Ausschußvorsitze auf die Fraktionen, gleichgültig, ob sie der Regierungsmehrheit oder der Opposition angehören, bewirkt, daß die Ausschüsse nicht zu reinen Instrumenten der Mehrheitsfraktionen werden. Sie stammt zwar aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie, die keine parlamentarisch verantwortliche Regierung kannte. Aber sie hat auch i n der gegenwärtigen Regierungsform ihren Sinn, weil sie ein völliges A u f brechen des Bundestages i n Regierungsmehrheit und Opposition verhindert und die letztgenannte sichtbar und aktiv an der Verantwortung mitbeteiligt, ihr auch die Chance gibt, ihre Vorstellungen anzubringen und eventuell durchzusetzen. Das entspricht dem gegenwärtigen Verfassungssystem i n seiner i m Grundgesetz niedergelegten Ausprägung, das nicht, wie das englische, die Opposition nur auf die Wartebank verweist 9 5 . Die Aufgaben des Vorsitzenden sind vielfältig. Er leitet nicht nur die Sitzungen. Er beruft sie auch ein, wenn auch i m Benehmen m i t den M i t gliedern oder doch den Obleuten der Fraktionen i n seinem Ausschuß. Er bereitet die Sitzungen vor. Er bestimmt vorläufig die Berichterstatter. Er hat nach herrschender Auffassung eine Ordnungsgewalt während der Sitzungen. Er kann faktisch eine Vorlage verzögern oder beschleunigen. Die Ausschußvorsitzerposten werden so zu einem entscheidenden Machtzentrum i m Entscheidungsprozeß des Bundestages 96 . 4. Die Ausschüsse haben die Pflicht, die ihnen vom Bundestag überwiesenen Vorlagen und Anträge zu beraten und dem Plenum bestimmte Beschlüsse zu empfehlen. Diese Empfehlungen dürfen sich nur auf diese wurde 1966, als die SPD in die Regierung eintrat, nicht gewechselt. 1969 fiel der Ausschuß an die CDU/CSU-Fraktion, und der langjährige Vorsitzende Schoettle, seit 1949, trat ab. Für den Reichstag war eine geschäftsordnungsmäßige Reihenfolge der Ausschüsse maßgebend, Hatschek: ibid. 94 Majonica: Parlament S. 117. Adenauer konnte sich 1957 nicht mit dem Verlangen durchsetzen, Herbert Wehner nicht zum Vorsitzenden des Ausschusses für Gesamtdeutsche Fragen zu „wählen", den die SPD-Fraktion benannt hatte, Loewenberg: Parliament p. 151. Zur innerfraktionellen Auswahl der Vorsitzenden Schatz: Entscheidungsprozeß S. 57 f. in bezug auf den Verteidigungsausschuß (Vorsitz für einen CSU-Abgeordneten) ; auch Loewenberg: Parlamentarismus S. 239, Merkmale u. a. Anciennität, Interessenbindungen. 95 Das übersieht Hennis : Der Spiegel S. 206. 96 Dazu Schäfer: Bundestag S. 111; Loewenberg: Parlamentarismus S. 188 und 392 ff.; Schatz: Entscheidungsprozeß S. 96. Da die Ausschußvorsitzenden in der Regel auch Obleute ihrer Fraktionsdelegation im Ausschuß und damit auch Obleute im Fraktionsarbeitskreis sind, haben sie eine wichtige Schlüsselstellung im gesamten Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozeß inne, Loewenberg: Parlamentarismus S. 245; Schatz: Entscheidungsprozeß S. 60 ff. 9
Steiger
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Vorlagen und Anträge und auf m i t diesen i n unmittelbarem Sachzusammenhang stehende Fragen beziehen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 GOBT). Die Ausschüsse haben ferner das Hecht, andere Fragen aus ihrem Geschäftsbereich zu beraten (§ 60 Abs. 2 Satz 3 GOBT). Die Funktion der Ausschüsse besteht i n der Regel darin, die Beschlüsse des Bundestages i m Plenum vorzubereiten, indem sie Entscheidungsvorschläge machen, die auf einer Sichtung des Materials beruhen, nach Ausscheidung und Prüfung möglicher Alternativen ergehen und so Vorentscheidungen darstellen, die das Plenum zwar nicht binden, aber seine Entscheidungen doch wesentlich vorformen. Sie unterstützen das Plenum bei der Wahrnehmung der Zuständigkeiten des Bundestages. Obwohl kraft Einrichtung organisatorisch und als Vorbereitungsgremien funktional vom Plenum abhängig, haben die Ausschüsse durch eben ihre Funktion selbst eine tatsächliche Stellung gegenüber dem Plenum erlangt, die eher einem Übergewicht als einer Abhängigkeit zu entsprechen scheint. Diese Diskrepanz zu bewältigen, ist ein Problem seit den Erfahrungen der französischen Nationalversammlung m i t dem Wohlfahrtsausschuß i n den Jahren 1793 f. Die Gefahr, daß sich die Ausschüsse zu sehr gegenüber dem Plenum verselbständigen, bestand immer 9 7 . I n der Gegenwart verhindern die Fraktionen eine Verselbständigung und ein Übergewicht der Ausschüsse, allerdings nicht zugunsten des Plenums, sondern zu ihren eigenen, der Fraktionen Gunsten. Aber trotzdem sind unter dem Aspekt der Verselbständigung der Ausschüsse zwei Probleme wichtig, die sogenannte Befassungskompetenz der Ausschüsse und die Übertragung von Zuständigkeiten zur Entscheidung von Sachproblemen von dem Plenum auf die Ausschüsse. Vor der Neufassung des § 60 GOBT durch die Geschäftsordnungsreform i m Sommer 1969 war die Befassungskompetenz der Ausschüsse umstritten, da die Vorschrift nur von „überwiesenen Aufgaben" und „überwiesenen Geschäften" sprach. I n der Praxis tauchten aber immer wieder zwei Fragen auf. Die erste lautete, wie weit ein Ausschuß den Rahmen eines ihm überwiesenen Gegenstandes dehnen, vor allem welche Materien er i n einen i h m vorliegenden Gesetzentwurf miteinbeziehen dürfe. Insoweit war ein akzessorisches Befassungsrecht zu prüfen. Die zweite Frage betraf ein selbständiges Befassungsrecht, ob ein Ausschuß von sich aus ohne Überweisung durch das Plenum ein Sachproblem seines Geschäftsbereiches aufgreifen dürfe und dabei ζ. B. seine Rechte aus A r t . 43 GG geltend machen könne. Schon vor der Reform des § 60 Abs. 2 Satz 2 GOBT wurde das akzessorische Befassungsrecht i n der Praxis bejaht. Es wurde sowohl i m Plenum wie i m Rechtsausschuß aus Anlaß verschiedener Gesetze diskutiert. Als 97 Dazu und zu den organisatorischen Sicherungen gegen eine Verselbständigung Hatschek: Parlamentsrecht S. 95 f.; Dechamps: Macht S. 55.
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allgemeine Überzeugung setzte sich durch, daß ein Ausschuß i n seinen Beschlußvorschlag auch Materien einbeziehen dürfe, die i n der ursprünglichen Vorlage nicht enthalten waren, aber m i t deren Inhalt i n Sachzusammenhang standen. Die Auseinandersetzungen ergaben sich immer um die Frage, ob ein „Sachzusammenhang" bestehe oder nicht. So behauptete 1961 die damalige Mehrheit zunächst des Rechtsausschusses und später des Plenums einen Sachzusammenhang zwischen dem Entwurf des Familienrechtsänderungsgesetzes, der ursprünglich nur das Verhältnis Eltern - Kinder betraf, und der Ehescheidung, w e i l auch diese „zu dem Gesamtkomplex des Familienrechts" gehöre. Der Bundestag änderte auf Initiative eines Unterausschusses des Rechtsausschusses § 48 Abs. 2 EheG, obwohl von der Regierung bei der Einbringung des Entwurfs des Familienrechtsänderungsgesetzes die Fragen der Ehescheidung ausdrücklich und bewußt ausgeklammert worden waren 9 8 . I n der Bundestagssitzung vom 17. Februar 1967 weigerte sich der präsidierende Vizepräsident Dr. Dehler, einen Vorschlag des Sozialausschusses zur Änderung des A V A V G i n zweiter und dritter Lesung zu behandeln. Denn der Ausschuß habe m i t der i h m nach der ersten Lesung überwiesenen ursprünglichen Vorlage, die nur die durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Streichung zweier Vorschriften des A V A V G zum Gegenstand hatte, eine andere Sachfrage verknüpft, die Regelung der Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Der Sachzusammenhang sei nicht gegeben. Insofern habe der Ausschuß seine Zuständigkeit gem. § 60 GOBT überschritten. Die Mehrheit widersprach unter Hinweis auf den Sachzusammenhang und die Übung des Hauses. Man einigte sich, gem. § 127 GOBT zu verfahren, also von § 60 GOBT a. F. abzuweichen. Dr. Dehlers Standpunkt hatte sich durchgesetzt 99 . Die Beschränkung auf den „unmittelbaren Sachzusammenhang" durch die neue Regelung soll nach Auffassung des Geschäftsordnungsausschusses verhindern, „das grundgesetzlich verankerte Recht der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe zu verkürzen" und anderen Ausschüssen das Recht zu nehmen, sich zu Vorschlägen aus ihrem Fachbereich zu äußern 1 0 0 . Das Merkmal „unmittelbar" ist jedoch interpretations98 Dazu: Protokoll der IV/148. Sitzg. des Rechtsausschusses v. 27. April 1961 S. 31 ff.; IV/164. Sitzg. des Bundestages v. 28. Juni 1961, Sten. Ber. IV/S. 9468 D ff. 99 V/95. Sitzg. v. 17. Februar 1967 Sten. Ber. V/S. 4332 A - 4335 A Drs. V/1429 und zu Drs. V/1429. Die Entscheidung fiel nicht im Plenum, sondern im Ältestenrat; denn solch eine „grundsätzliche Frage müsse im Ältestenrat erörtert werden" (Abg. Frehse S. 4333 C, Abg. Benda S. 4334 Β). Die Entscheidung sollte ein Kompromiß sein. Es ging um eine Rechtsfrage, die einem Kompromiß so nicht zugänglich ist. Die Herausnahme dieser Entscheidung aus dem Plenum und ihre Verlagerung in andere, kleine nichtöffentlich tagende Gremien ist typisch für die Art und Weise, wie der Bundestag derartige Entscheidungen behandelt. Der Verdacht der Manipulation ist nicht von der Hand zu weisen. 100 Bericht des Geschäftsordnungsschusses Drs. V/4773 S. 8.
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bedürftig. Die i m Ausschuß aufgegriffene Materie muß der Regelung i m Zusammenhang der Vorlage deswegen bedürfen, w e i l sonst die m i t der Vorlage angestrebte Regelung eines Gegenstandes nicht sachgerecht vorgenommen werden kann 1 0 1 . Das selbständige Befassungsrecht umfaßt nur die Beratung von Gegenständen aus dem Geschäftsbereich des Ausschusses, nicht den Vorschlag von Entscheidungen an das Plenum 1 0 2 . Eine der jetzigen Fassung des § 60 Abs. 2 GOBT entsprechende, wenn auch i m Bundestag durchaus umstrittene Praxis bestand schon vor der Neuregelung i n allen Ausschüssen 103 . Sie war besonders ausgeprägt i m Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und i m Verteidigungsausschuß. Aber auch andere Ausschüsse, wie der Landwirtschaftsausschuß, forderten selbständig Berichte von der Bundesregierung an, stellten Fragen an die Regierung, zum Teil auf Grund von Anfragen, die an den Ausschuß von Verbänden etc. gelangten, und gaben u. U. sogar Empfehlungen an die Regierung. I n der zweiten Legislaturperiode gab es zwischen dem Ausschuß zum Schutz der Verfassung und dem damaligen Innenminister Schröder eine Auseinandersetzung über die Anwendung des A r t . 43 GG. Der Ausschuß verlangte das Erscheinen Schröders, u m über den F a l l John zu berichten. Schröder weigerte sich zunächst, w e i l die Sache dem Ausschuß nicht überwiesen sei, erschien dann aber unter „Wahrung seines Rechtsstandpunktes" doch vor dem Ausschuß 104 . Durch die Neufassung des § 60 Abs. 2 GOBT ist klargestellt, daß A r t . 43 GG auch dann gilt, wenn der Ausschuß einen Gegenstand von sich aus aufgreift und berät. Die ausdrückliche Begründung eines selbständigen Befassungsrechts hat aber seinen Inhalt nicht klar abgesteckt. Eigene Initiativen als Vorschläge oder Anträge an das Plenum fallen nicht unter bloßes Beratungsrecht. Berichte an den Bundestag sind jedoch nicht ausgeschlossen. Ebenfalls ist kein Recht der Ausschüsse gegeben, unmittelbar Empfehlungen an die Bundesregierung zu richten. Aber i m übrigen ist der Inhalt unklar. 101 Ein Beispiel findet sich in der Einfügung der Grenzschutzdienstpflicht in eine Vorlage des Bundesrates zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes durch den Innenausschuß, Bericht des Innenausschusses zur Vorlage des Bundesrates, Drs. V/3568. 102 Selbständige Gesetzesinitiativen der Ausschüsse sind damit ausgeschlossen. 103 Eine ähnliche Regelung, wie sie 1969 eingeführt wurde, war schon in einem Antrag der FDP-Fraktion in der zweiten Legislaturperiode für den Auswärtigen Ausschuß vorgeschlagen worden, Drs. II/94. Die Beratungen im Geschäftsordnungsausschuß führten zu einer Erweiterung des Kreises der Ausschüsse, Drs. II/799. Die anschließenden Beratungen im Rechtsausschuß ließen unterschiedliche Ansichten erkennbar werden, Sitzungen v. 9.11.1954 und 9.3.1955. Ein eigenes Informationsrecht derjenigen Ausschüsse, die vor allem mit Kontrolle der Regierung befaßt sind, wurde aber durchweg anerkannt. 104 Dazu Groß: Die Entwicklung des öffentlichen Rechts, Betrachtungen, DVB11955 S. 79 - 81.
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Der Geschäftsordnungsausschuß hat i n seinem Bericht zu dem Vorschlag der Neufassung des § 60 Abs. 2 GOBT zum Ausdruck gebracht, daß die neu eingeführte Beratungsbefugnis ausschließlich der Kontrolle dienen solle 1 0 5 . Aber i m Frühjahr 1970 hat der Wissenschaftsausschuß des Bundestages mehrere öffentliche Anhörungen zu 14 Thesen veranstaltet, die der Bundeswissenschaftsminister zur Vorbereitung eines Gesetzentwurfes für ein Hochschulrahmengesetz der Öffentlichkeit vorgelegt hatte. Der Ausschuß hat also aktiv i n ein Vorbereitungsverfahren für eine Gesetzesinitiative der Bundesregierung eingegriffen. Dem Wortlaut der neuen Bestimmung widerspricht diese Praxis nicht. Bedenken ergeben sich aus der Genese der Vorschrift, i n der nur auf die Kontrollfunktion des Bundestages abgestellt wurde. Aber diese ursprünglichen Absichten haben i m Wortlaut keinen Ausdruck gefunden, zudem ist der Inhalt des Begriffs „Kontrolle" i m höchsten Maße unklar geworden; sie geht schon i n vielen Bereichen i n den der M i t w i r k u n g über 1 0 0 . Weitere Bedenken erwachsen, wenn das Initiativrecht der Regierung gem. A r t . 74 GG i n die Betrachtung einbezogen wird, i n das der Ausschuß eingreift. Diese Bedenken gehören aber i n den allgemeinen Zusammenhang des Initiativrechts. Bedenken leiten sich zum dritten aus dem Verhältnis Ausschuß-Plenum ab. Es besteht, wie dargetan, eine organisatorische und funktionale Abhängigkeit der Ausschüsse vom Plenum. Dieses Verhältnis der Abhängigkeit ist durch § 60 Abs. 2 Satz 2 GOBT gelockert, aber es ist nicht aufgehoben 107 . Der Rahmen der Vorbereitung darf auch bei der selbständigen Beratung der Gegenstände durch die Ausschüsse nicht verlassen werden. Er w i r d aber verlassen, wenn ein Ausschuß für die Regierung tätig wird, wie i n dem Fall der Beratung der 14 Thesen zu einem Hochschulrahmengesetz. Es ist also immer i m Einzelfall zu prüfen, ob die vom Ausschuß selbständig aufgenommene Beratung eines Gegenstandes noch vorbereitende, den Bundestag unterstützende Handlung ist, oder ob sie darüber hinausgeht und damit unzulässig wird. Durch die Erweiterung der selbständigen Befassungskompetenz ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Änderung eingetreten, auf die Kewenig zu Recht hinweist. Nicht nur werden die Ausschüsse zu selbständigeren „Arbeitseinheiten unterhalb des Plenums", sondern sie erheben „einen Anspruch auf Beteiligung an der Regierungsarbeit", die von ihnen ausgeübte Kontrolle w i r d zu einem „ M i t w i r k e n an 105 Es ergibt sich die Frage, ob nicht alle ständigen Fachausschüsse mit der Neuregelung nicht doch zu ständigen Kontrollausschüssen gegenüber der Bundesregierung geworden sind, oder doch werden können. 106 Dazu oben S. 19 f. 107 I n der oben Fußnote 103 angeführten Debatte im Rechtsausschuß war das Hauptargument gegen das selbständige Befassungsrecht der Ausschüsse auch nur zu Kontrollzwecken, daß die Ausschüsse sich an die Stelle des Plenums setzen könnten. Ähnlich auch Hennis : Der Spiegel S. 206.
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der Entscheidung", einem „Mitregieren" 1 0 8 . Dieser Vorgang kann i n seinen Einzelheiten und i n seinen staatsrechtlichen Konsequenzen an dieser Stelle nicht voll erörtert werden, sondern er gehört i n die Analyse der Mitwirkungsfunktion des Bundestages an der Regierungsfunktion überhaupt 1 0 9 . Zu Recht ist Kewenig der Ansicht, daß diese Erscheinung nicht schon als solche wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzip verfassungswidrig sei 1 1 0 . Allerdings ist rein praktisch nicht zu übersehen, daß auch die Ausschüsse sich wegen mangelnder Information i n einem gewissen Nachteil gegenüber der Regierung und ihrem Apparat befinden, so daß sie oft schon gar nicht die wichtigen Probleme aufgreifen und die richtigen Fragen stellen können. Andererseits ist festzuhalten, daß sowohl der Bundestag und seine Ausschüsse als auch die Bundesregierung je selbständige Faktoren der Verfassungsordnung sind mit je eigenen Funktionen, die es verbieten, daß die Ausschüsse sich an die Stelle der Regierung setzen. Ein allgemeiner Vorrang des Bundestages besteht nicht 1 1 1 . Die selbständige Befassungskompetenz der Ausschüsse soll zwar gewisse Nachteile des Bundestages als Plenum gegenüber der Regierung ausgleichen und eine bessere Wahrnehmung der Funktionen dieses Organs ermöglichen, aber doch eben i m Rahmen der Funktionen des Bundestages. Einerseits dürfen sich die Ausschüsse nicht zu neuen parlamentarischen Führungszentren nach außen entwickeln, andererseits ist aber auch eine Verbindung von Ausschußexperten und Ministerialexperten zur gemeinsamen Steue108 Kewenig: Probleme S. 19. Eine bemerkenswerte Form der „Mitregierung" ist die Unterrichtung und Erörterung parlamentarischer Gremien bei außenpolitischen Verhandlungen. Sie können im auswärtigen Ausschuß erfolgen, so ζ. B. während der Verhandlungen über den Polen-Vertrag, FAZ v. 29.10.1970 S. 1. Es können aber auch besondere Gremien gebildet werden, die dann auch grundsätzliche Stellungnahmen zu den geplanten Abkommen abgeben und so eine Beeinflussung der Regierungspolitik unternehmen. So gibt es seit der 1. Legislaturperiode einen Beirat für handelspolitische Vereinbarungen, dessen Aufgaben in Btg. Drs. 1/1207 niedergelegt und in der 81. Sitzg. v. 28. 7.1950 beraten wurden, Sten. Ber. I S. 3047 C. Unter Bezugnahme darauf wurde er auch wieder für die 6. Legislaturperiode allerdings mit Verspätung eingerichtet, Btg. Drs. VI/1634, F A Z v. 3.3.1971. Er wird aus 11 Mitgliedern gebildet, die der Wirtschaftsausschuß aus seiner Mitte benennt. I h m gehören aber kraft Vereinbarung mit dem Bundesrat auch 4 von dessen Mitgliedern an. Jedoch stimmen sie getrennt ab. Das Gremium ist also eine Einrichtung des Bundestages, aber durch die Zusammensetzung ein Zwitter zwischen Bundestag und Bundesrat. — Für die Berlinverhandlungen im Herbst 1971 zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR wurde von Außenminister Scheel eine parlamentarische Kontaktgruppe eingerichtet, der je 1 Vertreter aller 4 im Bundestag vertretenen Parteien angehörten. Er war nicht vom Bundestag eingesetzt, auch keine Einrichtung des Bundestages, aber doch ein aus diesem hervorgegangenes Gremium, das auf die Politik Einfluß nehmen sollte, Die Welt v. 7.9.1971 S . l . 109 Grundzüge sind in der Einleitung skizziert, oben S. 19 f. 110 Kewenig: Probleme S. 33 ff. 111 Dazu Böckenförde: Organisationsgewalt S. 79 ff.
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rung des Bundestages nach innen zu vermeiden. Das Problem der Innerorgankontrolle i m Bundestag w i r d auch m i t der selbständigen Befassungskompetenz vordringlicher. Informelle Wege mögen dazu vor allem über die Fraktionen gegeben sein. Formelle Wege fehlen. M. E. genügt es nicht, es den Ausschüssen zu überlassen, ob und wie sie an das Plenum berichten. Vielmehr sind Berichtspflichten festzulegen und auszugestalten. 5. Die funktionale Abhängigkeit der Ausschüsse vom Plenum und damit der Vorrang des Plenums w i r d nicht nur durch eine selbständige Befassungskompetenz zur Beratung gefährdet, sondern i n erheblicherem Maße durch die Zuweisung selbständiger, nach außen wirkender Entscheidungsbefugnisse an die Ausschüsse. Denn insoweit treten die Ausschüsse an die Stelle des Plenums. Das Grundgesetz hat nur den Ständigen Ausschuß gem. A r t . 45 GG und den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und den Verteidigungsausschuß gem. A r t . 45 a GG als den Bundestag nach außen vertretene Ausschüsse für die Zeit zwischen zwei Legislaturperioden für einen beschränkten Kreis von Zuständigkeiten vorgesehen. Der Gemeinsame Ausschuß gem. A r t . 53 a GG, der i m Verteidigungsfall an die Stelle von Bundestag und Bundesrat tritt, ist ebensowenig wie der Vermittlungsausschuß ein Ausschuß des Bundestages, sondern ein selbständiges Verfassungsorgan. Die drei genannten Ausschüsse sind aber vom Grundgesetz selbst gebildet. Insofern beruht ihre selbständige Stellung gegenüber dem Plenum unmittelbar auf formellem Verfassungsrecht, das den Vorrang des Plenums insoweit einschränkt. Dasselbe gilt für das Kontrollgremium gem. § 9 AbhörG, da A r t . 10 Abs. 2 Satz 2 GG die gesetzliche Übertragung von Entscheidungszuständigkeiten auf einen solchen Ausschuß ausdrücklich vorsieht 1 1 2 . Über diese grundgesetzlichen Regelungen hinaus sind durch Gesetz und Regeln der Geschäftsordnung weiteren Ausschüssen selbständige Entscheidungszuständigkeiten zugewiesen worden. Der Wahlmännerausschuß gem. § 6 BVerfGG wählt die vom Bundestag gem. A r t . 94 GG zu wählenden Richter des Bundesverfassungsgerichts. Der Haushaltsausschuß hat jedenfalls bis zur Reform des Haushaltsrechts 1969 i m alljährlichen Haushaltsgesetz bestimmte Entscheidungsbefugnisse erhalten. Dem Immunitätsausschuß wurde i n Bagatellsachen die vorläufige Entscheidung zur Aufhebung der Immunität durch Geschäftsordnungsrecht übertragen. Die genannten Ausschüsse treffen verbindliche Beschlüsse. Diese werden dem Bundestag und über diesen der Bundesrepublik zugerechnet, 112 Die Frage, ob die Regelung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG aus anderen Gründen verfassungswidrig ist, braucht in dem vorliegenden Zusammenhang nicht erörtert zu werden.
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wirken also nach außen. Die Zuweisung unmittelbarer Entscheidungsbefugnisse an Ausschüsse w i r d allgemein als Übertragung von Aufgaben vom Plenum an die Ausschüsse angesehen 113 . Allerdings sind die Begriffe unklar. Zu Recht betont Kreuzer, daß überall i m Grundgesetz das Plenum gemeint sei, wenn i n einem A r t i k e l von dem „Bundestag" die Rede ist 1 1 4 . Wollte man darunter sowohl das Plenum als auch einen Ausschuß verstehen, so stünde es letzten Endes i m Ermessen des Bundestages, jede Zuständigkeit, also auch die Wahl des Bundeskanzlers oder den Gesetzesbeschluß durch das Plenum oder einen Ausschuß wahrzunehmen. Vor allem i m Abschnitt „Bundestag" wird, worauf Kreuzer zutreffend hinweist, sehr genau zwischen Bundestag als Plenum und den Ausschüssen unterschieden (Art. 42, 43, 46 GG). Die vom Grundgesetz dem Bundestag zugewiesenen Zuständigkeiten sind dem Bundestag als Organ, d. h. als Plenum 1 1 5 zugewiesen. Dazu gehören gem. A r t . 94 GG die Wahl der einen Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichtes, gem. A r t . 110 Abs. 2 i. V. m. A r t . 77 Abs. 1 GG der Beschluß des Haushaltsgesetzes und gem. A r t . 46 Abs. 2 GG die Genehmigung zur Strafverfolgung eines Abgeordneten. Es handelt sich also i n diesen drei Fällen u m unterhalb der Verfassungsebene vorgenommene „innerparlamentarische Delegationen" von dem Plenum auf die jeweiligen Ausschüsse 116 . Die Zulässigkeit dieser Delegationen w i r d i n der Literatur weitgehend abgelehnt 117 . Der aus 12 Abgeordneten bestehende Wahlmännerausschuß w i r d vom Bundestag nach dem Prinzip der Verhältniswahl auf Grund von Vorschlagslisten der Fraktionen gewählt. Dieser Wahlmännerausschuß wählt die Richter. Gewählt ist, wer mindestens acht Stimmen auf sich vereinigt. Das Plenum wählt also indirekt. Organisationsrechtlich ist dem Bundestag die Zuständigkeit, die Hälfte der Richter des BVerfG zu wählen, durch die Verfassung zugewiesen. Das Organ ist das Plenum. Auch die Einführung der indirekten Wahl ist Delegation. A r t . 94 GG müßte also dahin verstanden werden, daß er auch indirekte Wahl zulasse und insofern Delegationsnorm wäre. Adolf A r n d t hat das bejaht, und der Bundestag und später ein Großteil der Literatur sind i h m gefolgt 1 1 8 . Kreuzer u. a. 113 Kreuzer: Zuständigkeitsübertragungen; Berg: Übertragung mit weiteren Verweisen. 114 ZuständigkeitsübertragungenS. 191. 115 Oben S. 81. 118 Kreuzer: Zuständigkeitsübertragungen S. 185; ebenso Kewenig: Probleme S. 43 f.; Berg (Übertragung S. 30 f.) versteht unter „Übertragungen" hingegen allgemein „Verlagerungen im Bereich parlamentarischer Willensbildung", scheint also sowohl die Vorbereitung wie die Entscheidung durch Ausschüsse als eine „Übertragung" anzusehen. Durch diese Terminologie werden verschiedene Probleme vermengt und eine Beantwortung der Fragestellungen erheblich erschwert. 117 Kreuzer: Zuständigkeitsübertragungen S. 185 ff.; Berg: Übertragung S. 37 mit weiteren Verweisen; a. A. jedenfalls z . T . Kewenig: Probleme S. 51 f. und S. 55 ff.; dazu unten S. 139. 118 Bundesverfassungsgericht S. 298.
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haben das aus einer Anzahl von Gründen verneint 1 1 9 . Die wichtigsten Gründe sind die folgenden. Ein Umkehrschluß aus A r t . 28 und 38 GG, wo ausdrücklich von „unmittelbarer Wahl" die Rede ist, sei nicht möglich. Für Beschlüsse des Bundestages sei gem. A r t . 42 Abs. 2 GG die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der Mitglieder des Bundestages erforderlich; darunter falle auch die Wahl gem. A r t . 94 GG. Die Struktur von Plenum und Ausschuß sei i n der Zusammensetzung nicht die gleiche, sondern oft verfälsche die Struktur des Ausschusses die Struktur des Plenums. Auch die Handlungsweise von Plenum und Ausschuß sei i n wesentlichen Elementen unterschiedlich. Die Gesamtrepräsentation des Volkes i m Bundestag sei i m Ausschuß nicht gewahrt. Die Wahl sei ein politischer A k t , der dem politisch bestimmten und bestimmenden Organ Bundestag zugewiesen sei. Es sei m i t dem Wahlmännerausschuß ein neues Organ m i t verfassungsmäßigen Aufgaben geschaffen worden, das nicht, wie die anderen Ausschüsse m i t Entscheidungsbefugnissen, i m Grundgesetz genannt sei 1 2 0 . Hinzuzufügen ist der Argumentation Kreuzers, daß die Übertragung der Wahl der Bundesverfassungsrichter auf den Ausschuß die Berechtigung der Abgeordneten, ihr A m t auszuüben, insoweit aufhebt, was nur durch das Grundgesetz selbst und ausdrücklich geschehen kann. Durch die Haushaltsgesetze werden dem Haushaltsausschuß i n letzter Zeit alljährlich Zuständigkeiten zu selbständigen Entscheidungen, die den Haushalt betreffen, übertragen. Die Entscheidungen sind unterschiedlicher A r t . Es handelt sich, wenn man der A u f zählung von Schäfer folgt 1 2 1 , u m drei Gruppen: 1. u m je besondere Ermächtigungen, innerhalb des Haushaltsplanes Umschichtungen von Kapiteln und Titeln durch die A n ordnung der Deckungsfähigkeit zu genehmigen, 2. u m Ermächtigungen, Planstellen, die i m Haushaltsplan nicht vorgesehen waren, zusätzlich zu schaffen, vorgesehene Planstellen zu streichen oder umzuwandeln, 3. u m die Ermächtigung, bei Vollzug des Haushalts besonderen Maßnahmen des Bundesfinanzministers zuzustimmen, zu denen er grundsätzlich vom Bundestag selbst bereits ermächtigt worden ist, oder Maßnahmen „zustimmend zur Kenntnis zu nehmen", die der Bundesfinanzminister i m Rahmen des A r t . 112 GG allein vornehmen kann 1 2 2 . Eine vierte Gruppe nennt 119 Zuständigkeitsübertragungen S. 191 ff.; ebenso Eichborn: Bestimmungen S. 19 ff.; Berg: Übertragung S. 37. Nicht mit der besonderen verfassungsrechtlichen Problematik, sondern mit den politisch-rechtlichen Fragen beschäftigt sich die Untersuchung von Werner Billing: Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, Berlin 1969. 120 Berg: Übertragung S. 37 f. schließt sich dem weitgehend an. 121 Bundestag S. 268 ff.; Einzelfälle bei Goltz: Mitwirkung S. 605 f. 122 Dazu jetzt eingehend Mußgnug: Haushaltsplan § 9 I 4 c bb. Er weist darauf hin, daß mit diesen Zustimmungen zu Maßnahmen nach Art. 112 GG eine mitlaufende Kontrolle der Finanzverwaltung durch den Haushaltsausschuß etabliert wird. Die Zustimmungen stellen aber auch Entscheidungen dar; denn stößt der Finanzminister auf Widerspruch, so bricht er seine außerplanmäßigen Haushaltsprojekte in der Regel sofort ab. Der Ausschuß tut also, was eigentlich
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Goltz, die Zustimmung zu Richtlinien des Bundesfinanzministers über die Bewirtschaftung bestimmter M i t t e l 1 2 3 . Die genannten Übertragungen von Zuständigkeiten des Plenums auf den Haushaltsausschuß werden weitgehend als unzulässig angesehen 124 . Soweit der Bundestag überhaupt auf Grund des A r t . 110 GG die Zuständigkeit auch zu derartigen Maßnahmen hat 1 2 5 , fehlt es an einer grundgesetzlichen Delegationsnorm, die eine Übertragung der Zuständigkeiten des Plenums auf den Haushaltsausschuß durch bloßes Gesetz gestattet. I n allen vier Fallgruppen entscheidet der Haushaltsausschuß aber über die Ermächtigung der Bundesregierung zu einem vorher nicht zulässigen Handeln unmittelbar selbst, nimmt also Zuständigkeiten des Bundestages aus A r t . 110 GG wahr. Mangels Ermächtigungsnorm zu solchen Übertragungen sind sie unzulässig. Zu Recht macht Berg gegen die Übertragung weiterhin geltend, daß die i m vertraulich tagenden Ausschuß gegebene Zustimmung die Regierung zwar entlaste, da der Ausschuß mit der Zustimmung spätere parlamentarische K r i t i k praktisch ausschließe, die öffentliche Kontrolle und Rechtfertigung der Regierung aber gerade nicht erfolge, die zur Funktion der Haushaltsgesetzgebung gehöre 126 . Allerdings liegt ein sehr erhebliches Problem hinsichtlich der Haushaltsgesetzgebung darin, daß das Plenum noch stärker als bei anderen Gesetzen gar nicht mehr i n der Lage ist, den Haushalt inhaltlich sowohl finanziell wie politisch zu bewältigen. Der Haushaltsausschuß ist hier, wie Mußgnug nicht zu Unrecht sagt, rein faktisch „zum heimlichen Haushaltsnur das Plenum tun darf. Aber zu Recht bemerkt Mußgnug, daß bei Maßnahmen nach Art. 112 GG der Bundestag nur nachträglich bereits Geschehenes tadeln könnte, der Haushaltsausschuß aber durch seine vorherige Zustimmung Maßnahmen verhindern konnte. U m die Kontrolle der Maßnahmen nach Art. 112 GG durch das Bundestagsplenum selbst effektiver zu machen, sieht § 37 Abs. 4 BHO jetzt vor, daß die Ausgaben vierteljährlich, „in Fällen von grundsätzlicher oder erheblicher finanzieller Belastung unverzüglich" dem Bundestag mitzuteilen seien. Ob dadurch allerdings die Praxis der vorweg eingeholten zustimmenden Kenntnisnahme des Ausschusses aufhört, erscheint fraglich. 123 Mitwirkung S. 606. 124 Schäfer: Bundestag S. 268; Mußgnug: Haushaltsplan § 1 I V 2 b; Goltz: Mitwirkung S. 615 f.; Berg: Übertragung S. 39 ff.; offen bleibt die Frage bei Frost: Parlamentsausschüsse S. 75; a. A. Kewenig: Probleme S. 52 ff. 125 vielfach wird die Ansicht vertreten, auch dem Plenum stünden derartig weitgehende Rechte der Mitwirkung beim Haushaltsvollzug auf Grund der Gewaltenteilung nicht zu, so insbesondere Goltz (Mitwirkung S. 607 ff.). Die Frage kann im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben. Bei der vierten Gruppe handelt es sich um Vollzug, bei den anderen nicht ohne weiteres. Teilweise sind es herausgeschobene Bewilligungen nach Art. 110 GG. Wie weit der Bundestag ζ. B. aus Konjunkturgründen Sperrvermerke einführen und — selbst — im Laufe des Haushaltsjahres aufheben kann, ist durch einen Rückgriff auf das Gewaltenteilungsprinzip nicht zu lösen. Konjunkturpolitik ist zwar Sache der Regierung; aber die „Herrschaft" über ein Mittel derselben, den Haushalt, hat Art. 110 GG dem Bundestag zugewiesen. 126 Übertragung S. 40 f.
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gesetzgeber" geworden 1 2 7 . Das hat aber auch qualitative Veränderungen zur Folge. Es ist die Frage, ob es genügt, u m die Kontroll- und M i t wirkungsfunktion der Haushaltsgesetzgebung zu erfüllen, das Plenum wieder stärker einzuschalten, wie § 37 Abs. 4 BHO es versucht 1 2 8 . Das Verfassungsorganisationsrecht muß eines Tages weitergehende Schlußfolgerungen ziehen und das Verhältnis Haushaltsausschuß - Plenum ordnen 1 2 9 . A n diesen Sachverhalt knüpft Kewenig an, wenn er die Delegation auf Bundestagsausschüsse dann bejaht, wenn sie der „sachlichen Notwendigkeit, der Funktionsgerechtigkeit" entsprechen. Sachgerecht ist sie nach seiner Auffassung dann, „wenn das Plenum selbst nicht i n der Lage ist, die i n Frage stehende Aufgabe ordnungsgemäß wahrzunehmen, die Ausschüsse sich dagegen als der Aufgabe gewachsene Delegatare anbieten und außerdem die Position des Parlamentes insgesamt gegenüber der Exekutive eindeutig geschwächt würde, wenn die Delegation unterbleibe" 1 3 0 . Diese Sachgerechtigkeit ist zweifellos zu berücksichtigen und kann die Delegation stützen. Aber es ist die Frage, ob die Delegation i n den vorgenommenen Formen dadurch zulässig wird. Sie muß sich i n das Gesamtsystem einpassen, bzw. das Gesamtsystem muß i m Hinblick auf diese Erfordernisse und die grundlegenden Gestaltungsprinzipien umgestaltet werden. Das aber ist weitgehend nicht der Fall. Die Wiederherstellung durch die Entwicklung der Wirklichkeit verlorengegangener Funktionsgerechtigkeit darf nicht so erfolgen, daß die grundlegenden Gestaltungsprinzipien aufgehoben werden. Diese Gefahr liegt aber, wie dargelegt, i m Bereich etwa der Delegation von Beschlußfunktionen i n bezug auf den Haushaltsplan auf den Haushaltsausschuß zumindest nahe 1 3 1 . Durch eine geschäftsordnungsmäßige Regelung ist dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung das Recht der Vorentscheidung mit mindestens zwei Dritteln der stimmberechtigten Mitglieder des Ausschusses zur Aufhebung der Immunität bei Verkehrsdelikten übertragen worden. Sie gilt als Entscheidung des Bundestages, wenn innerhalb von sieben Tagen nach Mitteilung durch den Präsidenten an den Bundestag kein Widerspruch erhoben w i r d 1 3 2 . Zwar w i r d auf Grund 127
Haushaltsplan § 9 I I la. Dazu Hirsch: Haushaltsplanung S. 135 ff. Bis heute ist der Haushaltsausschuß im Grundgesetz nicht einmal erwähnt. Aber entscheidend ist, seine Befugnisse und sein Verhältnis zum Plenum zu regeln, wobei sich eine gewisse selbständigere Stellung wahrscheinlich nicht umgehen lassen wird. Ähnlich wohl Frost: Rechtsgestalt S. 75 Fußnote 228. 130 Kewenig: Probleme S. 55. 131 Zu bemerken ist, daß Kewenig von den oben S. 137 f. genannten vier Gruppen nur das Beispiel der Entsperrung von bereits bewilligten Haushaltsmitteln durch den Haushaltsausschuß heranzieht, den zweifellos am wenigsten problematischen Fall, Probleme S. 14. 132 N r . i2 Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten und den Fällen der Ermächtigung gemäß § 197 StGB, beschlossen am 27. Juni 1962, Anlage 3 zur Geschäftsordnung des Bundestages. 128
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des Widerspruchs die Angelegenheit zur Entscheidung an das Plenum gebracht, aber das Verfahren ist nicht unbedenklich; denn die Entscheidung des Bundestages gem. A r t . 46 Abs. 2 GG w i r d „quasi" erst i n „zweiter Instanz" herbeigeführt und i m übrigen fingiert 133. Da aber nur eine Übertragung der Entscheidungsbefugnis vom Plenum auf den Immunitätsausschuß m i t Vorbehalt stattgefunden hat, kann man sie noch als zulässig ansehen 134 . 6. Das Verfahren der Ausschüsse ist i n der Geschäftsordnung nur sehr allgemein i n den §§ 60 ff. GOBT geregelt. Das Verfahren ist zudem für die Wahrnehmung einzelner Zuständigkeiten unterschiedlich bestimmt. I m folgenden werden nur einige allgemeine Probleme behandelt 1 3 5 . Gem. § 71 GOBT gelten zwar die Grundsätze der Geschäftsordnung des Bundestages, nicht aber die einzelnen rechtlichen Regelungen für den Geschäftsgang der Ausschüsse. So beteiligt sich der Vorsitzende an der Aussprache i m Ausschuß; der präsidierende Präsident i m Plenum tut das nicht. Die Rednerfolge ist i m Ausschuß völlig beliebig gestaltet, meist nach der Reihenfolge der Wortmeldungen; i m Plenum gelten ausgeklügelte Maßstäbe, u m alle Fraktionen angemessen zu Wort kommen zu lassen. Wie oft ein Ausschuß einen Gesetzentwurf behandelt, steht bei ihm. Auch die Redezeitregelungen lassen sich nicht übertragen. Für das Verfahren ist zunächst zu bedenken, daß die Sitzungen eines Ausschusses personell ganz anders zusammengesetzt sind als die Plenarsitzungen. Nicht nur die Mitglieder des Ausschusses, sondern Mitglieder der Bunderegierung, Beauftragte der Ministerien, Mitglieder und Beauftragte des Bundesrates nehmen, oft sogar i n überwiegender Anzahl an den Beratungen teil. Es können Vertreter von Verbänden u. ä. hinzutreten. Die Beratungen sind funktionell von denen i m Plenum unterschieden. Sie dienen der sachlichen Erarbeitung von Lösungsvorschlägen, der Detailerörterung und dabei auch der Abstimmung zwischen Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und Verbänden 1 3 6 . Die Gegenstände wechseln ständig, dadurch auch die Anforderungen an den Ausschuß und seine Mitglieder und an den einzuschlagenden Weg der zweckmäßigsten Behandlung i m Ausschuß. Das Verfahren muß also variabel und flexibel sein. Der Mangel an Detailregelungen ist eine Notwendigkeit 1 3 7 . N u r der verfassungsrechtliche Rahmen kann festgelegt werden, i n dem sich die Bräuche und Verhaltensweisen bei den Ausschußberatungen zu halten haben. 133 Nach Mitteilung von Kreuzer ist noch nie seit Geltung der Regelung, seit 1962, Widerspruch erhoben worden, Zuständigkeitsübertragungen S. 202. 134 So auch Berg: Übertragung S. 35 f.; a. A. Kreuzer: Zuständigkeitsübertragungen S. 203 ff. 135 Dazu Frost: Rechtsgestalt S. 59 ff. 136 Frost: Rechtsgestalt S. 83. 137 Hatschek: Parlamentsrecht S. 233 ff.
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Die Variabilität und Informalität der Ausschußverhandlungen bringen Unklarheit und auch Unkontrollierbarkeit i n die Beratungen. Darauf beruhen die Vorbehalte gegen die „ D i k t a t u r " oder die „Macht" der Ausschüsse. Die Grenze der beliebigen Ausgestaltung des Verfahrens i m Ausschuß ist dort, wo die Zuständigkeiten des Plenums, der einzelnen Abgeordneten oder anderer Organe berührt werden, also die freiheitssichernde, machtverteilende Funktion der Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes gefährdet wird. Ein zentrales Problem des Verfahrens i n den Ausschüssen ist, ob und wenn ja i n welchem Umfang Ausschüsse öffentlich verhandeln sollen oder müssen. A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft wie alle Vorschriften, die von „dem Bundestag" sprechen, nur das Plenum 1 3 8 . Eine Pflicht zur öffentlichen Verhandlung i n den Ausschüssen kann aus dieser Vorschrift nicht entnommen werden. Aber sie läßt auch keinen Gegenschluß auf ein Verbot zu. Der Bundestag ist i m Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie frei, die Ausschüsse öffentlichlich oder vertraulich tagen zu lassen. Dabei hat sich der Bundestag aber insofern von A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG leiten zu lassen, als dessen Funktion gewahrt werden muß. Wenn der Bundestag i m Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie wesentliche Teile der Wahrnehmung seiner Zuständigkeiten aus dem Plenum heraus verlagert und damit der dort gegebenen Öffentlichkeit entzieht, muß er Lösungen finden, u m zu verhindern, daß A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG leer läuft. Die Funktion der öffentlichen Beratungen i m Plenum ist je nach Gegenstand der Beratung, Gesetzentwurf i n der ersten, zweiten oder dritten Beratung, große Anfrage, besonderes Sachproblem i n der aktuellen Stunde, Regierungserklärung verschieden. A u f eine allgemeine Formel gebracht, kommt der öffentlichen Verhandlung die Funktion zu, die Kommunikation zwischen den Repräsentierten und den bestellten Repräsentanten, dem Volk als Herrscher und den Abgeordneten als den dem Herrscher verantwortlichen jeweiligen Regierenden zu sichern 139 . Die Verhandlungsöffentlichkeit ist insofern die Ergänzung zum freien Mandat. Sie gehört wie dieses dem Bereich der Repräsentation zu. Kommunikation erschöpft sich nicht i n einseitigen Erklärungen, sondern vollzieht sich zwischen zwei Partnern als Austausch. U m sie möglich zu machen, bedarf es einerseits der Information, nicht nur über getroffene Entscheidungen, sondern auch über deren Gründe, über ihr Zustandekommen, über die mitwirkenden Kräfte. Es bedarf andererseits der K r i t i k , der Äußerungen der Wünsche, Zwecke, Interessen. we BVerfGE 1, S. 152; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 42 Anm. I I I 3 S. 928. 139 I m einzelnen Steiger: Funktion S. 727 ff.; dazu auch oben S. 87 ff.
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Ι. 2. Kap.: Fragen der Organschaft
Schon Guizot wies darauf hin, daß der Bürger die Wahrheit zu suchen und sie dem „pouvoir" zu sagen habe 1 4 0 . Wenn das Publikum auch heute dem „pouvoir" nicht mehr die Wahrheit sagt, so äußert es doch K r i t i k , wenn auch nicht immer rationale i m klassisch liberalen Sinn, es trägt seine Interessen und Zwecke vor. Dazu bedarf es der Öffentlichkeit der Verhandlungen, weil Verborgenes nicht ausgetauscht werden kann. Schließlich ist Kontrolle und damit Realisierung von Verantwortung nur über das möglich, was i n öffentlicher Verhandlung sichtbar wird, öffentliche Verhandlung dient also der Verhinderung der Ansammlung unkontrollierter Macht. Für die Ausschüsse ist die Regel i n Deutschland seit alters her, daß sie nicht öffentlich tagen 1 4 1 . Das w i r d immer wieder damit gerechtfertigt, daß die nicht-öffentliche Beratung größere Freiheit des Arguments und der Erörterung, ruhigere und sachlichere Diskussion etc. ermögliche, auch die Äußerung unausgegorener Gedanken, und eher Kompromisse erlaube 1 4 2 . Es bestehe i. ü. die Gefahr, daß die Entscheidungsfindung i n noch weniger kontrollierbare Gremien, Privatzirkel oder dergleichen sich verlagere 1 4 3 . Diesen Argumenten ist weitgehend zuzustimmen; jedoch ist auch anderes zu berücksichtigen. Man w i r d die Frage weder für die Öffentlichkeit, noch gegen sie ohne weiteres entscheiden können. Vor allem w i r d man differenzieren müssen. Ausschluß der Öffentlichkeit heißt nicht, daß die Ausschüsse geheim beraten. Diese Verschärfung muß ausdrücklich beschlossen werden und gilt nicht einmal ohne weiteres für die sogenannten „geschlossenen Ausschüsse", den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, den Ausschuß für Verteidigung, den Ausschuß für Innerdeutsche Beziehungen und den Innenausschuß i n Angelegenheiten des Verfassungsschutzes 144 . Ist Ver140
Schmitt: Lage S. 43. Eine Ausnahme macht gegenwärtig Bayern. 142 Dechamps: Macht S. 71 ff. mit Hinweis u. a. auf Robert v. Mohls Verteidigung der Nicht-Öffentlichkeit der Sitzungen der Ausschüsse der Nationalversammlung von 1848; Hatschek (Parlamentsrecht S. 233 ff.), der die Vertraulichkeit in engen Zusammenhang mit der notwendigen Offenheit und Flexibilität des Verfahrens in den Ausschüssen bringt. 143 So ζ. B. Frost: Rechtsgestalt S. 85. Allerdings dient die Vertraulichkeit kaum dazu, vorzeitigen unkontrollierten Interessendruck zu verhindern, wie Frost meint. Bis eine Vorlage in den Ausschuß kommt, sind die Interessenten gem. § 23 GGO I I längst unterrichtet, haben ihren Druck schon auf die Regierung ausgeübt und die Wege zum Ausschuß geebnet, in dem zudem zumeist auch Vertreter der Interessen als Abgeordnete tonangebend Sitz und Stimme haben. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen verhindert eher den Druck, wie die Erfahrungen mit öffentlichen Anhörungen gezeigt haben. Dazu unten S. 145 f. 144 Trossmann: Parlamentsrecht S. 128. Zu „geschlossenen Ausschüssen" haben auch keine Mitglieder des Bundestages Zutritt, die ihm nicht angehören. Zur Geheimhaltungsregelung hat der Bundestag eine „Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages" am 24. Juni 1964 beschlossen, Anlage 5 zur Geschäftsordnung. 141
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traulichkeit nicht beschlossen, so kann die Presse durch Kommuniques des Ausschusses, aber auch Erklärungen der Mitglieder informiert werden; diese kann darüber zudem unter dem Privileg des A r t . 42 Abs. 3 GG berichten. Der Ausschluß der Öffentlichkeit bedeutet, daß Personen, die nicht Mitglieder des Bundestages oder Vertreter der Bundesregierung oder des Bundesrates sind, keinen Anspruch auf Z u t r i t t zu den Beratungen haben. Er bedeutet i n der Regel auch, daß die Kurzprotokolle „ N u r für den Dienstgebrauch" verwendet werden dürfen. Nur der Rechtsausschuß und der Strafrechtssonderausschuß haben ihre Protokolle öffentlich zugänglich gemacht. Allerdings ist der Grundsatz der Nicht-Öffentlichkeit bereits 1951 dadurch durchbrochen worden, daß öffentliche Anhörungen vorgesehen wurden. I n der Reform des Jahres 1969 des § 73 GOBT wurde zudem den Ausschüssen das Recht eingeräumt, i n diesen Anhörungen auch i n eine Aussprache m i t den Auskunftspersonen einzutreten, also nicht nur Fragen zu stellen. Vor allem wurde es aber den Ausschüssen ermöglicht, öffentlich zu tagen, zu beraten und Beschlüsse zu fassen. Ein weitergehender Antrag der FDP, grundsätzlich die Öffentlichkeit der Ausschüsse herzustellen, wurde nicht angenommen. Angesichts der erwähnten Funktion der Ausschüsse und ihrer wachsenden Bedeutung waren diese Änderungen erforderlich. Die Beratungen der Ausschüsse haben Diskussions-, Augumentations- und Ausgleichsfunktion i n weitgehendem Maße. Die Beschlüsse der Ausschüsse über Vorschläge an das Plenum sind Vorentscheidungen, die i n sehr vielen und nicht nur unbedeutenden Fällen ohne weitere Beratung zum Gesetzesbeschluß erhoben werden. Ein erheblicher Teil der Kontrolle der Bundesregierung und der M i t w i r k u n g an der Regierungsfunktion durch den Bundestag vollzieht sich i n den Ausschüssen. Berichte der Regierung werden oft nur dort, nicht i m Plenum diskutiert. Die dargestellte Funktion der Öffentlichkeit der Beratungen kann durch öffentliche Beratungen i m Plenum allein unter diesen Umständen nicht mehr erfüllt werden. Sie bedarf einer Ergänzung dahin, daß auch bei den Ausschußberatungen ein gewisses Maß an Öffentlichkeit garantiert ist. Die Bekanntgabe der Beschlüsse an die Nachrichtenmedien, zudem je nach Belieben oder Indiskretion und oft nur bruchstückhaft 145 , und die Berichte der Ausschüsse an das 145
I n den Medien erscheinen sie dann, wenn überhaupt, an untergeordneter Stelle, verkürzt und dadurch u. U. verfälscht. Die Unterrichtung, auch für den Wissenschaftler, über das, was in den Ausschüssen tatsächlich vorgeht, ist daher sehr schwierig und die Information bruchstückhaft. Parlamentarier haben sich öffentlich auch nicht sehr eingehend geäußert. Die Ausführungen von Schäfer (Bundestag S. 105 ff.) und Ernst Majonica (Ein Parlament im Geheimen? Zur Arbeitsweise der Bundestagsausschüsse, Bundestag S. 114 - 126), stehen an I n formationswert über die Arbeitsweise hinter den Darlegungen von Loewenberg (Parliament p. 326 - 349) weit zurück. Die allwöchentlich erscheinende Zeitung: „Das Parlament" druckt allenfalls Auszüge aus den Plenardebatten.
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Plenum allein genügen nicht, u m die kommunikative Funktion der Öffentlichkeit der Beratungen zu erfüllen. Es ist nicht Sache dieser Untersuchung, Vorschläge zur Parlamentsreform zu machen. Es sind nur Probleme aufzuzeigen. A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG ist die rechtssatzmäßige Konkretisierung eines allgemeineren Grundsatzes. Er stammt i n dieser Fassung aus einer Zeit, die noch einen eindeutigen Vorrang des Plenums vor den Ausschüssen kannte, die zudem i. a. keine ständigen oder allenfalls nur für eine Sitzungsperiode eingesetzte Ausschüsse waren. A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG bedarf der Sache nach der Erweiterung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, was für die Vertraulichkeit spricht. Eine generelle Öffentlichkeit aller Ausschußsitzungen ist ausgeschlossen. Aber eine wesentlich erweiterte Öffentlichkeit, ζ. B. für die Anhörung der Verbände und die Beratung m i t ihnen erscheint notwendig 1 4 6 . Die öffentlichen Anhörungen sind zwar seit 1951 zugelassen, aber erst 1966 nehmen sie einen größeren Umfang an. I n der 5. Legislaturperiode sind 59 öffentliche Anhörungssitzungen über 30 verschiedene Themen, darunter 19 Gesetzesentwürfe, durchgeführt worden 1 4 7 . Höhepunkte stellten die Anhörungen zum Nettoumsatzsteuergesetz 1966 und zu dem Notstandsverfassungsgesetz 1967/8 dar. Die Geschäftsordnung enthielt bisher keine Regeln über das Verfahren bei öffentlichen Anhörungen. Sie haben sich i n der Praxis entwickelt, und zwar durchaus unterschiedlich i n den einzelnen Ausschüssen. Die Reform von 1969 hat einige Erfahrungen aufgenommen. Anhörungen wurden zunächst auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Ausschusses verpflichtend. Für das Verfahren wurde festgelegt, daß den Auskunftspersonen die Fragestellung zu übermitteln sei, und sie zur Einreichung einer schriftlichen Stellungnahme aufgefordert werden sollen. I n dem A b schlußbericht des Ausschusses an das Plenum sind die wesentlichen A n sichten der angehörten Interessen- und Fachverbände, nicht der einzelnen Sachverständigen wiedergegeben. A n den öffentlichen Informationssitzungen nehmen seitens des Ausschusses die Mitglieder des Ausschusses, aber auch die Mitglieder der Über die Arbeit des Bundestages in Ausschüssen und Fraktionen berichtet sie überhaupt nicht, scheidet also als Informationsquelle völlig aus. Die Darlegungen stehen daher notwendig unter dem Vorbehalt der Informationslücke. Allerdings hat der Verfasser im Bundestag bei Abgeordneten und Beamten weitgehend offene Ohren für Fragen und bereitwillige Hilfe gefunden. Aber er ist auch auf das Gegenteil gestoßen. 146 Ähnlich Frost: Parlamentsausschüsse S. 84 f. 147 Aufstellung des Deutschen Bundestages, Abtlg. I I , Hausdrucksache BT 13 391 - 10.69. Einige Anhörungen zum selben Thema zogen sich über mehrere Tage hin, so die Anhörungen zum Nettoumsatzsteuergesetz und zum Notstandsverfassungsgesetz.
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Bundesregierung und des Bundesrates und deren Beauftragte teil. Da es sich u m Ausschußsitzungen handelt, haben sie die Rechte aus A r t . 43 Abs. 2 GG. Sie stellen auch Fragen. Die Auskunftspersonen kommen aus den verschiedensten Bereichen, Interessenverbänden, Fachverbänden, Ländern, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts, Universitäten u. ä. I h r Erscheinen ist freiwillig. Die Auswahl ist schwierig. Es werden verschiedene Wege gegangen. Die Ausschüsse fordern auch die Fraktionen und die Ministerien auf, entsprechende H i n weise zu geben. Mitglieder der Bundesregierung können gem. A r t . 43 Abs. 1 GG zum Erscheinen und Aussagen veranlaßt werden 1 4 8 . Das Verfahren der Befragung ist unterschiedlich. Die Durchsicht von 15 gedruckten und veröffentlichten Protokollen, davon 10 zu Gesetzentwürfen, ergibt ein vielfältiges Bild. Es hängt von der anstehenden Sache, von dem Vorsitzenden, den Ausschußmitgliedern u. ä. ab. Auch hier muß der Gestaltungsfreiheit Raum gelassen werden. Durch die Einfügung des § 73 Abs. 2 a GOBT ist es nunmehr möglich, daß der Ausschuß m i t den Aukunftspersonen auch i n eine allgemeine Aussprache eintreten kann und nicht mehr auf die bloße Befragung beschränkt ist. Die öffentlichen Informationssitzungen dienen der Information des Ausschusses, aber auch der Information der Öffentlichkeit über die Standpunkte, Vorstellungen, Interessen der Auskunftspersonen und der durch sie vertretenen Gruppen der Gesellschaft. Sie sind ein Weg, verfahrensmäßig und kontrollierbar den Einfluß der Interessenten, ihre Wünsche, Stellungnahmen und Argumente i n den Entscheidungsprozeß einzuführen und den Sachverstand für die Arbeit der Ausschüsse nutzbar zu machen. Die gegenseitige Kontrolle durch die Öffentlichkeit gibt gewisse Sicherungen gegen zu einseitige, nicht rational allgemein begründbare Ansinnen der einzelnen Gruppen der Gesellschaft. Interessen lassen sich nicht ausschalten, ja brauchen gar nicht ausgeschaltet zu werden; aber sie müssen m i t denen aller anderen i n Übereinstimmung gebracht werden und den jeweils fundamentaleren weichen. Die staatlichen Organe haben zum einen die Aufgabe, die nicht organisierten und repräsentierten Interessen m i t zu vertreten und zum anderen die Aufgabe, jenen Ausgleich und jene Wertung vorzunehmen. Die öffentlichen Informationssitzungen erleichtern das, w e i l sie alle Interessen ausbreiten und nebeneinanderstellen, weil sie falsche Argumente eher aufzudecken erlauben und den staatlichen Organen mehr Rückendeckung geben, wenn sie gegen als Allgemeininteressen getarnte Individualinteressen Front machen. Es fragt sich, ob I n formationssitzungen nicht nur öffentlich stattfinden dürften 1 4 0 . 148 So ausdrücklich, wenn auch nur deklaratorisch § 73 Abs. 1 GOBT. Die Erscheinenspflicht folgt aus Art. 43 Abs. 1 GG. Sie schließt die Pflicht ein, Rede und Antwort zu stehen. Sonst wäre sie funktionslos. 140 Von den 23 Ausschüssen der 5. Legislaturperiode haben 14 Ausschüsse allein oder zu zweit öffentliche Anhörungen veranstaltet.
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7. Gemeinhin werden die Bundestagsausschüsse als Organe des Bundestages bezeichnet 150 . Auch § 60 Abs. 1 GOBT bezeichnet sie zunächst als „Organe des Bundestages" 161 . Diese Definition w i r d i n Abs. 2 dann durch die Bezeichnung „vorbereitende Beschlußorgane" präzisiert. Diese rechtliche Charakterisierung bedarf aber einer genaueren Bestimmung. Ein Organ ist nach der oben i m Anschluß an Wolff gegebenen Definition „ein durch organisatorische Rechtssätze gebildetes eigenständiges, institutionelles Subjekt von Zuständigkeiten zur transitorischen Wahrnehmung der Eigenzuständigkeiten einer rechtsfähigen oder nicht-rechtsfähigen Körperschaft". Körperschaft w i r d hier verstanden i n einem weiten Sinn, der auch Kollegialorgane wie den Bundestag einschließt. Fraglich ist die „Eigenständigkeit" der Ausschüsse, die sie als Organe von Organteilen unterscheiden würden. Sie w i r d dadurch begründet, daß das Subjekt eigene Wahrnehmungszuständigkeiten hat und nicht nur an der Zuständigkeitswahrnehmung anderer, also hier des Bundestages, teilnimmt. Zu unterscheiden sind vorbereitende, unterstützende Zuständigkeiten der Ausschüsse einerseits und entscheidende Zuständigkeiten der Ausschüsse andererseits. Hinsichtlich der erstgenannten vorbereitenden Zuständigkeiten muß man annehmen, daß die Ausschüsse „nur teilnehmen an der Zuständigkeitswahrnehmung" des Bundestages und ihre Beschlüsse nur diesem, nicht der juristischen Person Bund zugerechnet werden. Sie sind daher Organteile des Bundestages. Diese Klassifizierung berücksichtigt zwar zunächst nicht, daß die Ausschüsse weisungsunabhängig handeln, frei nach eigenem Willen Vorschläge an den Bundestag machen und eine eigene begrenzte Befassungszuständigkeit haben. Das allein reicht aber noch nicht aus, u m die Zuständigkeiten als eigene und damit Eigenständigkeit, die von der Selbständigkeit zu unterscheiden ist, hinreichend zu begründen. Dieses Merkmal könnte allenfalls darin liegen, daß ein dem Ausschuß übertragener Gegenstand vom Plenum nicht wieder frei an sich gezogen werden kann 1 5 2 . Darin könnte ein Hinweis darauf gesehen «ο BVerfGE 1, 151; Hatschek: Parlamentsrecht S. 240 ff.; Kurt Pereis: Geschäftsgang und Geschäftsformen (des Reichstags), HDtStr I S. 449 - 466, S. 450; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. I I I 1 c S. 911; Maunz-DürigHerzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 5, S. 40/3; Achterberg: Grundzüge S. 19. 151 Frühere Geschäftsordnungen enthielten derartige Bestimmungen nicht. 152 Zwar sieht § 60 Abs. 3 GOBT vor, daß ein Antragsteller aus der Mitte des Hauses verlangen kann, daß nach Ablauf von sechs Monaten nach Uberweisung seiner Vorlage an den Ausschuß im Plenum über den Stand der Beratungen im Ausschuß Bericht erstattet wird. Der Bundestag hat es aber in seiner Sitzung vom 21. Juni 1972 gem. § 129 GOBT auf Grund einer Prüfung seines Geschäftsordnungsausschusses als dem System der Geschäftsordnung widersprechend und daher als unzulässig abgelehnt, einen einmal an einen Ausschuß überwiesenen Antrag zur zweiten und dritten Lesung durch Beschluß des Plenums wieder in dieses zurückzuholen, wenn ein abschließender Bericht und Entscheidungsvorschlag des Ausschusses nicht vorliege. Die sach-
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werden, daß die Ausschüsse eigene Wahrnehmungszuständigkeiten innehaben und damit als eigenständige Subjekte von Wahrnehmungszuständigkeiten gelten sollen. Aber auch das ist nur ein Merkmal ihrer Unabhängigkeit, nicht der Eigenständigkeit. Allerdings ist der Übergang fließend. Wenn man daraus eine eigene Organstellung ableiten wollte, so ist zu bedenken, daß die vorbereitenden, unterstützenden Zuständigkeiten der Ausschüsse auf die des Bundestages bezogen sind, nur deren Wahrnehmung dienen, also wenn auch eigene, so doch unselbständige, w e i l abhängige sind. Die Ausschüsse wären allenfalls unselbständige Unterorgane oder auch Hilfsorgane 1 5 3 . Zutreffender ist daher die Bezeichnung als Organteile 1 5 4 . Denn ihre Handlungen sind als solche rechtlich nach außen unerheblich und daher als solche rechtlich der BRD gar nicht zurechenbar. Sie gehen rechtlich auf i n dem Handeln des Bundestages, das erst als solches zurechenbar wird. Soweit die Ausschüsse eigene Entscheidungszuständigkeiten innehaben, sind sie Organe des Bundestages. Der ständige Ausschuß ist dabei ein mittelbares Verfassungsorgan, w e i l er die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Bundestages i m Rahmen des A r t . 45 GG w a h r n i m m t 1 5 5 .
V. Die Enquete- Kommissionen M i t der Geschäftsordnungsreform von 1969 ist eine neue Einrichtung des Bundestages gebildet worden: die Enquête-Kommission. § 74 a GOBT regelt sie wie folgt: Der Bundestag kann Enquête-Kommissionen „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" einsetzen. Die Kommissionen werden aus Vertretern der Fraktionen, also Mitgliedern des Bundestages, und anderen Personen zusammengesetzt. Der Präsident beruft die Mitglieder i m Einvernehmen m i t den Fraktionen. Können sich die Fraktionen nicht einigen, so benennen sie die Mitglieder i m Verhältnis ihrer Stärke. Es sollen ausgenommen liehen Beratungen des Antrages, die vorgeschriebenen Fristen für die Berichte und gegebenenfalls die Rechte des Haushaltsausschusses nach § 96 GOBT würden dabei in Frage gestellt. Ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion, eine von ihr eingebrachte Rentenvorlage dem Sozialausschuß des Bundestages dadurch wieder zu entziehen, daß der Überweisungsbeschluß vom Oktober 1971 aufgehoben werde, und die Vorlage im Plenum in zweiter und dritter Lesung zu behandeln, wurde daher als unzulässiger Antrag gar nicht erst behandelt. Sten. Ber. V I . Legislaturperiode S. 11310 A-11313 D. So schon vorher: Schäfer: Bundestag S. 112. 153 So Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 40 Rdnr. 5, S. 40/3; Frost: Rechtsgestalt S. 82 f. 154 Wolff (Verwaltungsrecht I I § 74 I f 6, S. 46) bezeichnet als Organe nur jene Ausschüsse, deren „Beschlüsse nicht rechtlich als Äußerungen desjenigen Organs gelten, bei dem sie gebildet sind". Das muß man aber für die Bundestagsausschüsse annehmen. 155 Dazu v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 45 Anm. I I I S. 952 ff.
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die Fraktionsmitglieder nicht mehr als neun Personen einer Kommission angehören. Eine Enquête-Kommission ist einzusetzen, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestages es verlangt. Der Antrag muß den Auftrag genau bezeichnen. Die Vorschrift ist unklar. Was ist m i t „Entscheidungen" gemeint? Wessen Entscheidungen sollen vorbereitet werden? Es liegt nahe anzunehmen, daß Entscheidungen des Bundestages vorbereitet werden sollen. Aber es können auch Entscheidungen der Bundesregierung sein, zu denen der Bundestag sie auffordern w i l l . Entscheidungen i m Rechtssinne sind rechtsverbindliche Rechtsakte, Beschlüsse, Wahlen u. ä. wie der Gesetzesbeschluß, die Wahl oder Neuwahl eines Bundeskanzlers, die Feststellung über den Verteidigungsfall u. ä. I n diesem Sinn, als Rechtsakte des Bundestages m i t rechtsverbindlicher W i r kung w i r d „Entscheidung" i n dieser Untersuchung verstanden. Das erscheint i n der zur Untersuchung stehenden Vorschrift aber nicht das Verständnis von „Entscheidung" zu sein. Vielmehr liegt dem Ausdruck ein politisch-soziologischer, kein rechtlicher Sinn zugrunde. Denn zur Vorbereitung von Gesetzesbeschlüssen dienen die Fachausschüsse. Beschlüsse i m Rahmen der Kontrollfunktion werden von den Untersuchungsausschüssen vorbereitet. Dasselbe dürfte für eine Entscheidung über den E i n t r i t t des Verteidigungsfalles gelten, falls Zeit ist, die Frage durch einen Ausschuß vorklären zu lassen. I m Bericht des Geschäftsordnungsausschusses fehlt dazu jeder Anhaltspunkt 1 5 6 . Es w i r d aber gesagt, daß die Einfügung auf einen Antrag der SPD-Fraktion zurückgehe. Der parlamentarische Geschäftsführer dieser Fraktion, Friedrich Schäfer, hat die Einrichtung der Enquête-Kommission i n den Zusammenhang der von i h m dem Bundestag zugeordneten Funktion, politisch zu führen, gestellt 1 5 7 . Dabei stellt er eindeutig auf die „politische Entscheidung" ab. Die Kommissionen sollen vor allem dazu dienen, „dem Bundestag eigene Entscheidungsgrundlagen (zu) erarbeiten", insbesondere „auf den Gebieten, auf denen eine Eigeninitiative des Bundestages seiner Aufgabe angemessen ist, vor allem wenn die Ergänzung oder Änderung der Verfassung geprüft w i r d " 1 5 8 . Der Bundestag soll auf diese Weise i n erster Linie von den Informationen der Bundesregierung unabhängig werden. I n einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Einsetzung einer „Enquête-Kommission Auswärtige K u l t u r p o l i t i k " heißt es, daß eine Entscheidung des Deutschen Bundestages „über die zukünftigen Aufgaben der Auswärtigen K u l t u r p o l i t i k " vorbereitet werden solle 1 5 9 . Die Kom156 157 158 159
Drs. V/4373. Bundestag S. 298 ff. Er ist wohl der „Vater" der neuen Einrichtung. Bundestag S. 299. Drs. VI/57.
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mission solle „Empfehlungen für eine bessere kulturelle Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland i m Ausland erarbeiten und dem Deutschen Bundestag vorlegen". Es handelt sich offensichtlich nicht u m die Vorbereitung eines Gesetzesbeschlusses oder einer anderen rechtsverbindlichen Entscheidung des Bundestages. Maßnahmen der auswärtigen K u l t u r p o l i t i k gehören, soweit nicht Gesetze dazu notwendig sind, zur Regierungsfunktion und werden von der Bundesregierung bzw. dem Auswärtigen A m t getroffen. I m Rechtssinne sollen also Empfehlungen des Bundestages an die Regierung für deren Entscheidungen erarbeitet werden 1 6 0 . Anders verhält es sich bei einem zweiten Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Einsetzung einer Enquête-Kommission Verfassungsreform 161 . Sie sollte nach Auffassung der Antragsteller die Aufgabe haben, „die Frage einer Verfassungsreform zu untersuchen und dem Deutschen Bundestag die Ergebnisse der Überprüfung m i t den erarbeiteten Empfehlungen" vorlegen 1 6 2 . Die Verfassungsreform w i r d gesetzliche, wahrscheinlich sogar grundgesetzliche Regelungen notwendig machen, über die der Bundestag — m i t anderen Organen — durch Gesetzesbeschluß zu entscheiden hat. Die beiden praktischen Beispiele zeigen die Variationsbreite der Funktionen der Enquête-Kommissionen. Sie können die Regierungsfunktion wie die Gesetzgebungsfunktion betreffen. Wie sich ihre Funktionen i n der politischen Gestaltung und Entscheidung verwirklichen, ist bisher offen. Regeln fehlen. So kann die Kommission selbst keine Gesetzentwürfe einbringen. Sie müssen von einem der gem. A r t . 76 Abs. 1 GG Berechtigten initiiert werden. Die Kommission w i r d nur Grundlagen für diese Entwürfe erarbeiten. W i l l der Bundestag sie von sich aus verwirklichen, muß sich eine Gruppe von Abgeordneten bereit finden, initiativ zu werden. Ob das geschieht, ist eine andere Frage. Die Enquête-Kommission ist i n das bisherige parlamentarische System noch nicht eingeordnet. Sie w i r k t wie ein Fremdkörper. Zudem ist bisher ungeregelt, welche Befugnisse der Bundestag und die Kommissionen gegenüber Dritten, auch gegenüber den nicht dem Bundestag angehörenden Mitgliedern derselben haben sollen. Dazu bedarf es einer noch nicht erfolgten gesetzlichen Regelung 163 . Erst wenn diese Frage geklärt ist, lassen sich auch die Fragen nach der Rechtsstellung dieser aus Abgeordneten und anderen Personen gemischten Gremien 1 6 4 näher beantworten. Zwar werden die Kommissionen vom Bundes160 D e r Antrag wurde bezüglich der Aufgabenstellung vom Auswärtigen Ausschuß geringfügig geändert, Drs. VI/515. 181 Drs. VI/653. 182 Zur endgültigen Aufgabenstellung unten Fußnote 169. 163 Der Auswärtige Ausschuß hatte daher zunächst Bedenken, ob die Enquête-Kommission Auswärtige Kulturpolitik überhaupt schon eingesetzt werden könne, Drs. VI/512. Gegenwärtig (September 1971) liegt dem Bundestag ein Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion (Drs. VI/546) vor. i«4 Für die erstgenannte Kommission sind 5 Abgeordnete und 4 Sachverstän-
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tag eingerichtet, legt er ihre Aufgaben fest, und sollen sie für ihn Empfehlungen ausarbeiten, aber da die Mitglieder der Kommissionen, die nicht Mitglieder des Bundestages sind, zwar Beauftragte des Bundestages, aber nicht seine Organwalter sind, also nicht i n dem spezifischen Amtswaltergrundverhältnis der Abgeordneten zu ihm stehen, ist es nicht möglich, diese Gremien als „Organteile" des Bundestages anzusehen. Da die Enquête-Kommission nur beratende, gutachtende, empfehlende Funktion haben, sind sie selbst keine Behörde und auch nicht Organe des Bundes. Allerdings können sie durch Zwangsbefugnisse den Charakter von Behörden erhalten 1 6 5 . Man kann die Kommissionen i m gegenwärtigen Zustand als Funktionsträger bezeichnen 166 , deren nähere Einordnung erst nach dem Erlaß der gesetzlichen Regelungen vorgenommen werden kann. Die beiden ersten Enquête-Kommissionen sind bereits eingesetzt. Ihre Konstituierung nahm nach dem Beschluß einige Zeit i n Anspruch 1 6 7 . Viel läßt sich derzeit noch nicht darüber sagen. Es fehlen klare Vorstellungen über die Bewältigung der Aufgaben, daher auch festgefügte Verfahren, und vor allem ist bisher noch keine Kommission zu fertigen Vorschlägen gekommen, so daß das Problem der Umsetzung derselben i n Entscheidungen des Bundestages noch völlig offen ist. Die Zusammensetzung der Kommissionen ist nach ihren Aufgaben verschieden. Die Enquête-Kommission „Auswärtige K u l t u r p o l i t i k " setzt sich aus fünf Bundestagsabgeordneten und vier Sachverständigen zusammen. Der Enquête-Kommission „Verfassungsreform" gehören sieben Mitglieder des Bundestages, sieben von den Ländern benannte Personen und fünf Sachverständige an. Die Vorsitzenden sind Abgeordnete, beim erstgenannten ein CDU-Abgeordneter, beim zweiten ein SPD-Abgeordneter. Die Verfahren sind i n beiden Kommissionen unterschiedlich, wohl auch durch die unterschiedliche Zielrichtung der Aufgaben. Festgelegte Verfahrensformen gibt es nicht 1 6 8 . Sie müssen sich w o h l auch erst entwickeln. Für die Verfassungsreform-Kommission hat sich das Problem der Verzahnung m i t den Ländern gestellt. Die von den Ländern entsandten Personen sollen keine Ländervertreter sein. Es sind aber sowohl Länderminister als auch Beamte und Richter. Die Kommissionen sollen w o h l vor dige, für die zweite Kommission 5 Abgeordnete des Bundestages, 5 Abgeordnete der Länderparlamente und 4 Sachverständige vorgesehen. 185 Zu den Beiräten der Ministerien, die ähnliche Funktionen haben: Böckenförde: Organisationsgewalt S. 255. Von dort her ergeben sich gewisse Parallelen, die auch für die noch ausstehende gesetzliche Regelung zu beachten sind. 168 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 29 ff. unter Rückgriff auf Forsthoff. 187 Die Einigung über die Einrichtung der Kommissionen kam im Herbst 1970 zustande, eingesetzt wurden sie am 11. März 1971, F A Z v. 19. 9.1970 S. 1, 25. 2. und 9. 3.1971 ; Mitteilung in Z. f. Pari. 2. Jg. (1971) S. 248 - 249. 188 A m 13. 5.1971 beschloß der Bundestag die Grundsätze der GOBT sinngemäß für das Verfahren der Enquête-Kommissionen in Kraft zu setzen, dazu Drs. VI/2151.
§ 6 Zur inneren Organisation des Bundestages
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allem von der Exekutive unabhängige Kommissionen sein. Trotzdem sind i n eine Kommission der Ministerpräsidentenkonferenz zum gleichen Thema auch von den Ländern benannte Mitglieder der Enquête-Kommission berufen worden. Es besteht die Gefahr, daß diese damit i n der Kommission zu Ländervertretern, und zwar der Exekutive, werden, während wohl bewußt keine Vertreter der Bundesregierung i m Ausschuß vorhanden sind. Wie sich das i m einzelnen auswirkt, läßt sich noch nicht sagen. Aber ob diese Verbindung von Ämtern der Funktion der neuen Institution entspricht, erscheint jedenfalls zweifelhaft. Die Enquête-Kommissionen stehen jenseits der Teilung MehrheitOpposition. Sie stehen zwischen Bundestag und Bundesregierung. Wenn auch von dem ersten eingesetzt und i h m durch die Aufgabenstellungsfunktion zugeordnet, sind sie doch durch ihre Zusammensetzung keine reinen parlamentarischen Gremien. I n ihnen sollen sich vor allem politischer Gestaltungswille und Sachverstand mischen und zu Gestaltungsvorschlägen kommen. Es werden Zielprojektionen, Gesamtkonzeptionen und die Entwicklung von eingehenden Lösungsvorschlägen erwartet 1 6 9 , also grundsätzlich anderes als von den Bundestagsausschüssen, die selbst keine Konzeptionen entwickeln, sondern ihnen i n den Entwürfen vorgelegte Konzeptionen prüfen. Die Kommissionen haben also Teil an der Regierungsfunktion, wenn auch nur i m Stadium der Vorbereitung der Entscheidungen, und sind somit Instrumente des Bundestages zur M i t regierung. Wie sie sich bewähren, steht noch dahin. Verfassungswidrig sind sie deswegen noch nicht, da dem Bundestag die Regierungsfunktion nicht grundsätzlich aufgrund des Gewaltteilungsprinzips etwa verschlossen ist. Wenn es auch Grenzen gibt, so lassen sich diese doch abstrakt, ohne die noch fehlende nähere Erfahrung m i t diesen Einrichtungen nicht bestimmen.
169 Das wird insbesondere bei dem Auftrag für die Verfassungsreform-Kommission deutlich, die ganz allgemein den Auftrag hat, „das Grundgesetz insgesamt auf die Notwendigkeit einer Reform zu überprüfen. Einmütig ist der Rechtsausschuß jedoch der Meinung, daß die Grundprinzipien der Verfassung gewahrt bleiben sollen", Btg. Drs. VI/1211. Die Kommission soll also zunächst selbst die Probleme aufsuchen. Ihr sind keinerlei Richtlinien oder auch nur Anhaltspunkte für die Richtung ihrer Arbeit gegeben. Sie ist nicht einmal an das Grundgesetz gebunden, außer an die Grundprinzipien, und an diese auch nur dahin, daß sie „gewahrt bleiben sollen" (Hervorhebung v. Verf.). Eine weitere Aufgabenstellung ist nicht vorstellbar.
Drittes Kapitel
Das repräsentativ-parlamentarische Regierungssystem i n der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland Die Problemlage I n den vorhergehenden Paragraphen sind die organschaftliche Stellung des Bundestages und seine innere Organisation erörtert worden. Als Bestandteil der staatlichen Organisation ist er i n den Gesamtzusammenhang der Verfassungsordnung der Bundesrepublik eingeordnet. Zwar ergibt sich, wie dargelegt, diese Einordnung i m einzelnen aus der Zuständigkeitsordnung und kann daher i n ihren Details nur i n der Untersuchung der einzelnen Zuständigkeiten erfaßt werden. Aber dieser Zuständigkeitsordnung liegt eine allgemeine Ordnung zugrunde, die sich i n den verfassunggestaltenden Grundentscheidungen ausdrückt. Die Stellung des Bundestages i n dieser Grundordnung ist i n diesem Kapitel zu behandeln, u m die Untersuchung der einzelnen Zuständigkeiten i n den Zusammenhang der verfassunggestaltenden Grundentscheidungen zu stellen. Die verfassungsorganisationsrechtliche Grundordnung der Bundesrepublik ist dadurch gekennzeichnet, daß der Grundgesetzgeber das repräsentativ-parlamentarische Regierungssystem m i t der Staatsform der Demokratie verbunden hat, i n der er zudem den Parteien eine besondere rechtliche Stellung eingeräumt hat. Der Grundgesetzgeber folgt damit zwar i m großen und ganzen einem allgemeinen europäischen Muster der Verfassungsentwicklung. Jedoch werden gegen diese Verbindung theoretische Einwände erhoben, die wegen derselben i m Grundgesetz erhebliche Widersprüche feststellen. Der Grundgesetzgeber hat durch diese Verbindung eine bestimmte Organisation der Ausübung der Staatsgewalt, d. h. der Zuordnung und der M i t w i r k u n g bzw. Teilhabe an der Erfüllung der staatlichen Entscheidungsfunktion, rechtlich errichten wollen. Darauf sind die Bildung des Bundestages m i t der Begründung seiner Zuständigkeiten und der Ausformung der Rechtsstellung seiner Organwalter, die verfassunggestaltende Grundentscheidung für die Demokratie und die rechtliche Ein-
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 153 fügung der Parteien i n die verfassungsorganisationsrechtliche Ordnung bezogen. Durch diesen gemeinsamen Bezugspunkt der Organisation der Ausübung der Staatsgewalt w i r d auch ihr Verhältnis untereinander bestimmt. Die Auseinandersetzung m i t den theoretischen Einwänden gegen diese Verbindungen kann i m vorliegenden Zusammenhang nicht alle Einzelprobleme berühren. Es kann, ohne den Rahmen dieser Untersuchung zu sprengen, nur versucht werden, i n einigen grundsätzlichen Überlegungen den Ansatz für eine näher auszuarbeitende Erfassung der Problematik zu geben.
§ 7 Demokratie und repräsentativparlamentarisches Regierungssystem Der erste Einwand behauptet, daß die Verbindung von repräsentativparlamentarischem System und Demokratie prinzipiell ausgeschlossen und nur um den Preis der Einschränkung der Demokratie zu erreichen sei. I. Stellungnahmen im Schrifttum 1. So schreibt Carl Schmitt: „Die Repräsentation enthält den eigentlichen Gegensatz zum demokratischen Prinzip der Identität; . . . Es ist sehr ungenau die repräsentative Demokratie als eine Unterart der Demokratie zu behandeln. Das Repräsentative enthält nämlich gerade das Nicht-demokratische an dieser Demokratie. Insofern das Parlament eine Repräsentation der politischen Einheit ist, steht es i m Gegensatz zur Demokratie 1 ." A n anderer Stelle versucht er nachzuweisen, daß es der große I r r t u m des 19. Jahrhunderts gewesen sei zu glauben, Parlamentarismus und Demokratie gehörten zusammen 2 . Diesen Thesen liegt folgendes Verständnis der drei Begriffe Parlamentarismus, Repräsentation und Demokratie zugrunde 3 . Parlamentarismus w i r d nicht als Regierungssystem zur Organisation der Ausübung staatlicher Macht verstanden, sondern als eine Form der Hervorbringung richtiger, wahrer Meinungs- und Willensbildung durch Diskussion und Argumentation 4 . Vorausgesetzt ist, daß das Gesetz nicht Entscheidung, 1
Verfassungslehre S. 218. Lage S. 6 ff. und S. 30 ff. 8 Zur Kritik auch Ch. Müller: Mandat S. 17 ff. 4 Lage S. 7 und 41 ff. Nicht das Funktionieren, d. h. aber die Funktion des Parlamentarismus interessiert Schmitt, sondern „die geistige Grundlage einer besonders gearteten Institution", für die es zwar eine „Heterogonie der Zwecke, einen Bedeutungswandel der praktischen Gesichtspunkte und einen Funktionswandel der praktischen Mittel, aber keine Heterogonie der Prinzipien" gebe (Lage S. 7 f.). 2
154 I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung sondern ratio ist. Es ist Veritas, nicht auctoritas, erscheint also, wie bei Sieyès 5 , nicht als A k t der Staatsgewalt 6 . Repräsentation bedeutet für Schmitt, ein unsichtbares Sein — das Volk als politische Einheit — durch ein öffentlich anwesendes Sein — die gewählte Volksvertretung — sichtbar zu machen und zu vergegenwärtigen. Das als anwesend dargestellte Abwesende muß eine bestimmte Qualität haben, es muß eine „gesteigerte A r t Sein" haben. Interessen können nicht repräsentiert werden. Das Volk als politische Einheit hat ein derartig höheres Sein, als das Volk i n seinem natürlichen, interessengespaltenen Dasein 7 . Der Repräsentant seinerseits muß ebenfalls eine besondere Qualifikation aufweisen; er muß zu den „Besten", zu den „Höheren" gehören 8 . Die Repräsentation kann nur vollzogen werden von einem unabhängigen Repräsentanten; sie gehört als Regierungsform zur Aristokratie; der Repräsentant ist durch Intelligenz und Bildung ausgezeichnet9. Auch Repräsentation erscheint also für Carl Schmitt als nicht m i t der Ausübung der Staatsgewalt verbunden. Die Volksvertretung ist Repräsentant, w e i l und insofern sie das gesteigerte Sein des Volkes darstellt. Diese Darstellung w i r d aber nicht i n der Entscheidung von Interessenkonflikten durch Ausgleich vollzogen, sondern wiederum i n der ratio des auf Veritas beruhenden Gesetzes, das nicht Ausübung von Macht ist. Repräsentation ist ausdrücklich kein Vorgang, keine Prozedur, also kein Handeln, sondern etwas Existenzielles, dem Sein Angehörendes 10 . Ausübung von Macht, die Erfüllung der staatlichen Entscheidungsfunktion ist aber handeln. Demokratie schließlich ist für Schmitt als Staats- und Regierungsform die Identität von Herrschern und Beherrschten, Regierern und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden. Identität w i r d zunächst verstanden als Darstellung der politischen Einheit durch das anwesende Volk selbst, so i n Wahlen, Abstimmungen u. ä. Ihren Grund hat diese Selbstdarstellung des anwesenden Volkes i n seiner unmittelbaren Gegebenheit als politische Einheit i n der einer starken und bewußten substantiellen Gleichartigkeit 1 1 . Dies Vorhandensein der Gleichartigkeit läßt Identität und damit Demokratie auch dann bestehen, wenn Herrschende und Beherrschte organisatorisch zwar auseinanderfallen, also keine reale 5
Oben S. 51. Lage S. 52 ff. 7 Verfassungslehre S. 209 f. 8 Verfassungslehre S. 219. 9 Verfassungslehre S. 212, 217 f. Zum aristokratischen Charakter des Repräsentanten im Denken des „Federalist" und von Sieyès: Krüger: Staatslehre S. 235 mit Hinweisen. Der aristokratische Grundzug der liberalen Theorie des Parlamentarismus im 19. Jh. wird auch von Michels (Soziologie S. 9 ff. insbesondere S. 12) hervorgehoben. 10 Verfassungslehre S. 209. 11 Verfassungslehre S. 205 und 235 ff. 6
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 155 Identität i n der Anwesenheit mehr besteht, aber die Herrschaft der Herrschenden nicht auf einer substantiellen Ungleichheit der Herrschenden und der Beherrschten beruht. Die Herrschenden dürfen nicht qualitativ etwas Besseres, nicht zum Herrschen geboren sein und so aus der substantiellen Gleichheit und Homogenität des Volkes herausfallen 12 . Identität heißt also nicht, daß die Beherrschten selbst tatsächlich regieren müssen 13 . Allerdings ist das Ideal der Demokratie ein M i n i m u m an Regierung und persönlicher Führung 1 4 . Der Unterschied einer auf Repräsentation gegründeten Herrschaft liegt gegenüber einer auf Identität gegründeten also darin, daß die repräsentierenden Regierenden sich vom Volk qualitativ i n aristokratischer Weise unterscheiden. Schmitt sieht i n der Repräsentation die Möglichkeit, aus völlig verschiedenen Menschengruppen eine politische Einheit zu bilden; was dann allerdings ein Maximum an Regierung erfordert 1 5 . Das Machtproblem i m Zusammenhang sowohl m i t der Repräsentation, wie m i t der Identität w i r d zwar gesehen, bleibt aber offen, w i r d i n den Begriffen der Repräsentation und der Identität nicht m i t reflektiert und nicht i n sie aufgenommen. Erst über die Frage nach der rechtlichen formalen Organisation der Ausübung staatlicher Macht, d. h. der Entscheidungsfunktion des Staates, läßt sich aber die Frage nach dem Verhältnis von Parlament, Repräsentation und Demokratie beantworten. Schmitt selbst weist i m Grunde darauf hin, wenn er Repräsentation und Identität als staatliche Formprinzipien bezeichnet 18 . 12
Verfassungslehre S. 234 ff. I n der Kritik an Schmitts Definition wird gerade das aber immer unterstellt, ζ. B. Hesse: Grundzüge S. 54. Schmitt unterscheidet sehr wohl, wenn er schreibt: „Infolgedessen darf die Macht und Autorität derer, die herrschen oder regieren, nicht auf irgendwelchen höheren, dem Volke unzugänglichen Qualitäten beruhen, sondern nur auf dem Willen, dem Auftrag und dem Vertrauen derer, die beherrscht oder regiert werden, und die sich auf solche Weise in Wahrheit selbst regieren" (S. 234: ähnlich S. 237). Zweifellos hat Schmitt allerdings den Begriff der Identität durch die Bindung an die Gleichartigkeit als Merkmal derselben nicht nur ausgedehnt, sondern die ursprüngliche Identität der Anwesenheit durch die bereits vermittelte Identität in der Darstellung, d.h. durch die Identifikation substituiert (dazu Lage S. 35). Die Problematik der „repräsentativen Demokratie" scheint damit abgefangen; aber ob sie gelöst ist, erscheint fraglich. Immerhin ist Schmitt nicht in der Lage, Identität und Repräsentation in der Wirklichkeit rein darzustellen. Er weist sogar darauf hin, daß Identität als politisches Formorinzip in seiner Reinheit verwirklicht, gerade die Auflösung der politischen Einheit bedeuten würde (S. 207), die es doch andererseits gerade begründen soll (S. 205). Die Frage stellt sich, ob Identität und Repräsentation zwei „entgegengesetzte politische Gestaltungsprinzipien" sind, wie Schmitt behauptet (S. 204). Dazu unten S. 161 f. Zur Kritik an Schmitts Thesen auch Müller: Mandat S. 41 ff. mit weiteren Hinweisen. 14 Verfassungslehre S. 214. 15 Verfassungslehre S. 215. 16 Verfassungslehre S. 214 ff. 13
156 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung 2. Schon bei Carl Schmitt ist das zugrundeliegende ideelle oder idealtypische Verständnis der Demokratie die Gleichsetzung derselben m i t der unmittelbaren Demokratie i. S. Rousseaus. Diese Gleichsetzung liegt auch dem Einwand Hans Kelsens gegen die prinzipielle Vereinbarkeit von Demokratie und repräsentativen Parlamentarismus zugrunde. Er bezeichnet die Repräsentation „des Volkes durch das Parlament" als eine Fiktion 1 7 . Repräsentation w i r d von Kelsen verstanden als eine A r t der Zurechnung, kraft deren der Wille des Repräsentanten als Wille des Repräsentierten zu gelten habe. Repräsentation w i r d mit der Organschaft, also einer Form der Vertretung gleichgesetzt 18 . I m Gegensatz zu Schmitt betont gerade Kelsen den Gedanken der Vertretung als Kern der Repräsentation. Demokratie sei die Umsetzung der natürlichen Freiheit des einzelnen i n die soziale politische Freiheit, die darin bestehe, nur einer solchen Ordnung unterworfen zu sein, die man selbst mitbestimmt 1 9 . A m besten verwirklicht würde sie, wenn alle einhellig an jedem für alle verbindlichen Beschlüsse m i t w i r k e n müßten. Aber diese A r t Demokratie sei nicht zu verwirklichen und so mache die Idee der Demokratie eine fortschreitende Reduktion durch, deren letzte und bedeutendste Station der repräsentative Parlamentarismus sei. Das politische Recht, die Freiheit, sei i n ihm auf ein bloßes Stimmrecht beschränkt 20 . Der Parlamentarismus sei das Ergebnis notwendiger Arbeitsteilung i m Staat. Er sei „die Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volk auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, also demokratisch gewähltes K o l legialorgan, nach dem Mehrheitsprinzip" 2 1 . Die Fiktion der Repräsentation bestehe nun darin, daß die i m Parlamentarismus notwendig liegende Einschränkung der Freiheit dadurch überdeckt werde, daß durch das Prinzip der Repräsentation der Wille des Sekundärorgans Volksvertretung als Wille des Primärorgans Volk gelten solle, so daß der Eindruck entstehe, das Volk beherrsche sich selbst und sei i n vollem Umfange frei. I n Wirklichkeit unterliege es dem fremden Willen der Volksvertretung und seine Freiheit sei eingeschränkt; denn die Gesetzgebung liege nicht beim Volk, die Volksvertretung sei dem Volk nicht dergestalt untergeordnet, daß sie seinen Willen auszuführen habe 22 . 17
Staatslehre S. 312 ff. Staatslehre S. 310, 312 ff.; Probleme S. 8. 19 Wesen S. 4 ff. Kelsen hebt also die Freiheit als Ursprung der Demokratie hervor; den Zusammenhang von Freiheit und Demokratie betont auch Menger (Werden S. 51 ff.) gegenüber der ζ. B. von Schmitt vertretenen Lehre von der Verbindung von Demokratie und Gleichheit. 20 Wesen S. 14 ff. 21 Wesen S. 28. 22 Staatslehre S. 314 ff. 18
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 157 Kelsen legt bei seinen Darlegungen eine Theorie des repräsentativen Parlamentarismus zugrunde, die diesen gegenüber der Demokratie als organisatorischen Notbehelf ansieht, der deshalb angewandt werden muß, w e i l die Demokratie, die ideell als unmittelbare Demokratie vorgestellt wird, i n einem modernen Flächenstaat nicht zu verwirklichen ist. Das ist i n der Tat die weithin vorherrschende Vorstellung seit der Einführung der Repräsentativverfassung bei demokratisch orientierten Denkern 2 3 . Diese Theorie mußte notwendig zur Fiktion greifen, u m die Vereinbarkeit von Volkssouveränität und Repräsentativverfassung zu erklären, ohne die Volkssouveränität aufzugeben. N u n weiß auch Kelsen, daß die reine Idee der Demokratie der absoluten, ständigen Selbstbestimmung aller einzelnen nicht zu verwirklichen ist. Er selbst beschreibt die Einschränkungen und Reduktionen. Aber es stellt sich die Frage, ob diese Idee zutreffend ist, wenn sie keine W i r k lichkeit haben kann, allenfalls ein Sollen darstellt. Das damit angeschnittene Problem des Verhältnisses von Idee und Wirklichkeit kann i m vorliegenden Zusammenhang nicht erörtert werden. 3. Einen Gegensatz zwischen dem parlamentarisch-repräsentativen System und der Demokratie behaupten, jedenfalls für die Gegenwart, auch Wilfried Gottschalch, teilweise unter Bezugnahme auf Kelsen, und andere Autoren, die als Gegenmodell dann die Rätedemokratie darstellen 2 4 . Es kann hier, wo es u m verfassungsrechtliche Untersuchungen geht, nicht i n die verfassungsrechtspolitische Diskussion über die Vorzugswürdigkeit des einen oder des anderen Systems eingetreten werden. I m vorliegenden Zusammenhang ist nur zu prüfen, ob das Grundgesetz einen fundamentalen Zwiespalt i n sich aufgenommen hat, der letzten Endes dazu führt, daß das Demokratiegebot nicht verwirklicht wird. Die Ansicht Gottschalchs, die beispielhaft zugrunde gelegt werden soll, beruht auf der Unterscheidung von formaler und materialer Demokratie. Das parlamentarische System der Gegenwart verwirkliche zwar die formale, nicht aber die materiale Demokratie. Denn der ausführenden Klasse, immerhin drei Viertel der Bevölkerung, sei die Verfügung über die Produktionsmittel und die Massenmedien vorenthalten. Deswegen fehle ihr einerseits die gesellschaftliche Macht und andererseits sei sie einer Gleichschaltung des Bewußtseins ausgesetzt, die sie hindere, ihre wahren Interessen zu erkennen. Angesichts dieses Sachverhaltes genüge es nicht, i m Rahmen der formalen Garantie des demokratischen Verfas23 Dazu Landshut (Begriff S. 483 ff.) unter Hinweis auf die Denker der französischen Revolution; Krüger: Staatslehre S. 235. 24 Gottschalch: Parlamentarismus und Rätedemokratie; Erti : Alle Macht den Räten; Agnoli- Brückner (Transformation der Demokratie) sehen im Parlamentarismus zwar dann eine Möglichkeit, wenn der Antagonismus im Parlament manifest wird, verneinen aber das Vorliegen dieser Voraussetzung für den Bundestag.
158 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung sungsstaates ein gewisses Maß an politischer Macht zu haben. Andererseits hätten die Inhaber der wirtschaftlichen Kommandoposten zwar gesellschaftliche Macht, aber i h r fehle die absolute politische Garantie. Durch den auf der gesellschaftlichen d. h. materiellen Ebene gegebenen Mangel der Verwirklichung der Demokratie sei das Parlament letzten Endes nur das Instrument des organisierten Kapitalismus 2 5 . Die genannten Veröffentlichungen erschienen alle zur Zeit der Großen Koalition und waren theoretischer Ausdruck der außerparlamentarischen Opposition. Sie gingen m i t Recht der Frage nach, ob das Unbehagen am i n der BRD praktizierten parlamentarischen System, das auch andere teilen und das sich gerade zu der gleichen Zeit i m Beginn einer seither stetig steigenden F l u t von Publikationen über Parlamentarismus und Bundestag und vor allem i m Beginn der bis heute nicht beendeten Bundestagsreformdiskussion äußerte, nicht tiefere, grundsätzliche Ursachen haben könnte. Eine bloße Reform würde, wenn das der Fall wäre, nicht dazu führen, die Beteiligung der Massen an der Herrschaft weiter auszubauen. Die fundamentale Parlamentarismuskritik weist zunächst auf einen wichtigen Zusammenhang hin, der gern außer acht gelassen wird. Der staatlich-politische Bereich ist vom gesellschaftlichen nicht prinzipiell zu trennen, jedenfalls nicht i n der Gegenwart, wie immer man das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bestimmt. Das bedeutet, daß Demokratie nicht nur als staatliches Organisationsprinzip verstanden werden kann. Da die staatliche Wirklichkeit von der gesellschaftlichen bedingt w i r d und abhängig ist, kann auf staatlicher Ebene das Demokratiegebot nur wirklich werden, wenn es das auf der gesellschaftlichen Ebene auch ist, wenn auch i n anderen Formen, Arten und Weisen. Ist dieser Zusammenhang auch unbestreitbar, so ist doch zu fragen, ob die Analysen, die Gottschalch und die anderen Autoren vortragen, zutreffend sind. Das kann nicht i m einzelnen untersucht werden. Es sei nur darauf hingewiesen, daß nirgendwo von der Verfügungsmacht der Arbeiter über die Arbeit als Produktionsmittel die Rede ist, eine i n der Gegenwart, von der allein zu reden ist, durchaus wirksame Macht. Diese Frage, wieweit materielle Demokratie bereits vorhanden ist, muß dahingestellt bleiben. Wichtiger ist, ob sie i m parlamentarischen System w i r k 25 Zum vorstehenden Gottschalch: Parlamentarismus S. 7 - 21, insbes. S. 11, 12, 13, 17; ähnlich argumentiert Erti : Macht S. 6 ff.; Agnoli (Transformation S. 55 ff.) stellt eine Transformation des Parlaments vom Vertretungsorgan des Volkes zum Herrschaftsorgan von Gruppen über das Volk fest. Seine Analyse kommt zu dem Schluß „Die Macht des Parlamentes ist nicht die Macht des Volkes" (S. 67). Der „harte Kern des Parlamentes" bestehe aus Hegemonialgruppen, politischen Oligarchien, die der Restbevölkerung befehlen. Eine „volldemokratisierte Sozialverfassung" hält auch Stuby (Macht S. 315 f.) als Inhalt des als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips gedeuteten Demokratiegebotes des Grundgesetzes fest.
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 159 lieh nicht herstellbar ist. Immerhin ist Agnoli der Auffassung, daß „die soziale Emanzipation — nicht nur die Reproduktion des Klassenkampfes — auf dem Boden und m i t den M i t t e l n der bürgerlichen Verfassung erfolgen kann" 2 6 . I m Grunde liegt den Ausführungen Gottschalchs und anderer die These zugrunde, daß nur die direkte Demokratie als die umfassende Selbstbestimmung der Arbeiter, ausführenden Klasse oder Produzenten 27 materiale Demokratie sei. Das kommt i m Gegenmodell, der Rätedemokratie deutlich zum Ausdruck, die zwar auch der Vertretungsorgane, der Räte, nicht entbehren kann, aber sich eben durch die angeblich stetige Kontrolle dieser Räte m i t dem Recht der sofortigen Abberufbarkeit durch die Wähler auszeichne und durch i h r Hervorgehen aus den Betrieben immer die Interessen der Arbeiter vertrete und verwirkliche. M i t Schmitt und Kelsen haben sie also die Gleichsetzung von direkter Demokratie und Demokratie, die Identität der Herrscher und Beherrschten, Regierer und Regierten gemeinsam. M i t Schmitt teilen sie die Homogenitätsthese, wenn sie auch je andere Inhalte hat 2 8 . Aber gerade die Tatsache, daß, wie Gottschalch und E r t i selbst darlegen, die Rätedemokratie sich noch nicht verwirklicht hat, macht hier stutzig 2 9 . Es ist daher zunächst die Frage zu prüfen, ob jene Gleichsetzung von Demokratie und direkter Demokratie, i n der sich die Selbstbestimmung durch unmittelbare Teilnahme aller am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß vollzieht, zutreffend ist. Von der A n t w o r t darauf hängt auch die Beantwortung der Frage ab, ob eine materiale Homogenität der Interessen Voraussetzung der Demokratie ist. I I . Direkte und indirekte Demokratie 1. Demokratie t r i t t uns immer nur i n der realen Erscheinung eines Staates und seiner rechtlich-formalen Organisation der Ausübung der Staatsgewalt entgegen. Dem Verfassungsrechtler, der nicht Verfassungs26
Agnoli: Transformation S. 26; ähnlich auch Stuby: Macht S. 312. Dazu Erti : Macht S. 110 ff. 28 Allerdings ist bei Schmitt die Gleichartigkeit inhaltlich offen, kann also auch im Merkmal „Arbeiter" bestehen (Verfassungslehre S. 228 ff., gerade auch S. 233). 29 Erste Ansätze boten die Pariser Kommune und die Sowjets. Beide waren nicht von Dauer. Weiter scheint der jugoslawische Versuch gediehen zu sein, jedenfalls nach Auffassung der beiden Autoren. Aber beide schweigen sich zur Rolle und Funktion der jugoslawischen Kommunistischen Partei im W i l lensbildungsprozeß und seiner Steuerung aus. Erti betont insbesondere, daß das Funktionieren der direkten Demokratie bisher nie wirklich erreicht worden sei (Macht S. 112). Die von ihm geforderte Permanenz der Beratungen der Wähler scheint unerreichbar, vor allem wenn man bedenkt, daß, wie Erti keineswegs verkennt, sondern ausdrücklich hervorhebt, Sachverstand und berufsmäßige Ausbildung zur Bewältigung der Probleme erforderlich sind (Macht S. 111). 27
160 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung rechtspolitik betreibt, ist es nicht nur erlaubt, sondern aufgegeben, sich daran zu halten 8 0 . Die politisch-rechtliche Form der Existenz eines Staates ist stets konkret zu bestimmen. Diese Form erscheint immer als eine aus verschiedenen abstrakten Formprinzipien gemischte Form. Diese Mischung ist oft historisch entstanden, oft bewußt, final intendiert, so i m Grundgesetz. Diese final intendierte Mischung ist zur Grundlage der Erfassung des Verfassungsrechts zu machen. Eine Interpretation, die davon ausgeht, daß das Verfassungsrecht voller Widersprüchlichkeiten steckt, die es i n die eine oder andere Richtung aufzulösen gelte, verfehlt die Erkenntnis der Funktion der gemischten Verfassung von vornherein. Es ist daher ein falscher Ansatz, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Interpretation des Verhältnisses von A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG von vornherein einen Widerspruch feststellt, und dem A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG dann nur noch die Funktion eines Korrektivs gegen die schlimmsten Auswüchse des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG zugesteht 31 . Das repräsentative parlamentarische System ist eine rechtliche Organisationsform zur Regelung der Ausübung der Staatsgewalt. Es ist ein rechtliches Regierungssystem. Sein K e r n besteht darin, daß die Ausübung und die Innehabung der Staatsgewalt getrennt sind. „Repräsentativ" heißt daher zunächst nichts anderes, als daß die Inhaber der Staatsgewalt nicht selbst, sondern andere für sie handeln. Die Ausüber werden von den Inhabern bestellt, und die Handlungen der Ausübenden der Staatsgewalt werden den Inhabern zugerechnet. Das gilt auch für das Handeln der Räte. Diese Zurechnung ist aber keine tatsächliche, soziale, sondern eine rechtliche. Es ist nicht eine Zurechnung von Willen, oder gar eine fiktive Identitätssetzung. Es ist ein rechtstechnischer Vorgang der Organisation. Das Handeln der die Staatsgewalt Ausübenden w i r d auch nicht den Inhabern der Staatsgewalt als solchen, sondern der von ihnen getragenen juristischen Person als juristischer Konstruktion der Einheit des Volkes zugerechnet. Der Bundestag handelt und beschließt die Gesetze, nicht das Volk durch ihn. Die rechtliche Vertretungsmacht des Bundestages, für das Volk zu handeln, nicht an Stelle desselben, beruht auf der verfassungsrechtlich gestalteten Organisation der Bundesrepublik. Vertreten werden also wiederum nicht die Inhaber der Staatsgewalt i n ihrer physischen Personenvielheit, sondern vertreten w i r d die Juristische Person. Es handelt sich daher juristisch u m Organschaft. Das Vertretungsverhältnis unterscheidet sich rechtswesentlich i n nichts von 80 Allerdings darf nicht außer acht gelassen werden, daß Rechtsinterpretation und damit auch und sogar in besonderem Maße Verfassungsinterpretation rechtspolitisch wirksam wird, dazu Ralf Dreier: Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie, 2. Band, 1971, S. 37 - 54, S. 46. 31 BVerfGE 2, 71; ähnlich Leibholz: Wesen S. 236 f.; Landshut: Begriff S. 487 ff.
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 161 anderen Organschaftsverhältnissen, wenn es auch rechtsinhaltlich oder rechtsfunktional eine bestimmte Ausgestaltung erfahren hat. Demokratie i. S. des Grundgesetzes heißt zunächst, daß alle Staatsgew a l t vom Volk ausgeht, das Volk also Inhaber der Staatsgewalt ist. Bezogen auf das repräsentativ-parlamentarische Regierungssystem heißt das, daß das Volk nicht selbst die Staatsgewalt ausübt, sondern daß es die Organwalter bestellen muß, die sie i n den Organen für das Volk als Träger der Bundesrepublik ausüben. Diese sind dem Volk verantwortlich dafür, daß sie seine Vorstellungen, Zwecke und Interessen verwirklichen. Jede Ausübung von Staatsgewalt muß sich normativ dadurch legitimieren, daß sie mittelbar oder unmittelbar auf einen Wahlakt durch das Volk zurückgeht; denn nur so ist die Annahme der staatlichen Entscheidungen durch die Betroffenen als rechtlich erwartetes Verhalten zu sichern 32 . Die demokratische Selbstbestimmung ist dem Rechte nach i n der Bundesrepublik mittelbar ausgestaltet. Aber warum soll das vom Begriff der Demokratie her weniger demokratisch sein als eine unmittelbare Selbstbestimmung? Diese läßt sich rein tatsächlich gar nicht herstellen. Irgend jemand ist immer von ihr ausgeschlossen; die i n einigen Schweizer Kantonen noch vorhandene Landsgemeinde schließt die Frauen aus; das Wahlalter ist begrenzt; die Ausländer sind ohne M i t w i r k u n g den Gesetzen unterworfen; die bei Abstimmungen unterlegene Minderheit w i r d i n einem strengen Sinn der Unmittelbarkeit fremdbestimmt. Verlängert man die Analyse i n die Zeit, i n der die Beschlüsse wirken sollen, so sind zukünftige Betroffene ausgeschlossen33. Mittelbarkeit der Willensbildung und Entscheidung ist i n der Ausübung der Staatsgewalt notwendigerweise immer gegeben. Auch eine Rätedemokratie, die zwar von unten nach oben auf32 Zur Legitimation von Entscheidungen durch Wahl in soziologischer Sicht Luhmann: Legitimation S. 27 ff. und S. 155 ff. Inwieweit der normative Legitimationsanspruch der Wahl in der Wirklichkeit sich noch zu erfüllen vermag, muß allerdings als fragwürdig angesehen werden, wenn Luhmann mit guten Gründen darauf hinweist, daß die Vermittlung von Wählervorstellungen in die staatlichen Entscheidungen, „so umweghaft und so uneinsehbar (ist), daß ein Zusammenhang emotional nicht herstellbar und rational nicht kalkulierbar ist" (S. 167). Luhmann ist daher der Ansicht, daß die Wahl als Rekrutierung von Organwaltern allein die Legitimität der von diesen getroffenen Entscheidungen nicht zu sichern vermag (S. 171 ff.). Zur Funktion der Wahl auch unten S. 176 ff. 33 Bereits Kelsen (Wesen S. 16 ff.) hat darauf hingewiesen, daß auch in den Demokratien als völlig selbstverständlich hingenommen wird, daß „Volk" als „Subjekt der Herrschaft" nur jene Teile des Volkes sind, die politische Rechte innehaben, während das Volk als „Objekt der Herrschaft" wesentlich umfangreicher ist. — Schmitt, der den gleichen Unterschied bemerkt (Verfassungslehre S. 228 ff.), versucht ihn damit zu begründen, daß Demokratie nicht nur auf rechtlicher Gleichheit, sondern auf substantieller Gleichartigkeit beruhe. Eine neuere Auffassung von Demokratie empfindet jedoch Unterschiede in den politischen Rechten aufgrund substantieller, z.B. rassischer Unterschiede als undemokratisch, da sie sich grundsätzlich am Menschen orientiert.
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Steiger
162 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung steigt, aber schon i n der zweiten Stufe i. a. auf mittelbarer Wahl beruht, macht davon keine Ausnahme. Es ist sogar, wenn man Rousseaus Unterscheidung von volonté générale und volonté de tous näher bedenkt, zweifelhaft, ob Unmittelbarkeit der Beschlußfassung nicht i n Wirklichkeit weniger die Freiheit aller als die Unterworfenheit eines jeden unter alle anderen bedeutet. Denn diese A r t von Unmittelbarkeit bringt selbst nach dem strengsten Verfechter der unmittelbaren Demokratie lediglich die volonté de tous, aber noch nicht ohne weiteres die volonté générale hervor. Diese ist auch theoretisch kein unmittelbarer Wille aller oder vieler, sondern ein vermittelter und dadurch qualitativ veränderter Wille der Gesamtheit als Einheit 3 4 . Identität des Volkes m i t sich selbst beruht also selbst nicht auf Unmittelbarkeit, sondern auf Vermittlung 3 5 . Der Grad oder das Maß der Mittelbarkeit der Entscheidungsbildung w i r d nunmehr entscheidend. Die konkret zu stellende Frage ist, ob der durch die jeweilige Organisation des Regierungssystems gegebene Grad der Mittelbarkeit i n der Ausübung der Staatsgewalt, also das Maß der Entfernung zwischen Herrschern (Volk) und Regierenden (Organwaltern) die Selbstbestimmung des Volkes als Ganzem oder die Mitbestimmung und Teilhabe des einzelnen an der Ausübung der Staatsgewalt noch ermöglicht. Solange das der Fall ist, sind verschiedene Grade von Mittelbarkeit zugelassen, ohne die Demokratie aufzuheben. Demokratisierung kann also nur heißen, die Selbstbestimmung herzustellen, die i n einem sozialen Verband für den einzelnen immer nur Mitbestimmung, Teilhabe an der Entscheidungsfunktion, d. h. der Ausübung der Staatsgewalt sein kann. Wie die verfassungsrechtliche Organisation i m einzelnen diese Mitbestimmung oder Teilhabe gestaltet, vor allem ob mehr oder ob weniger Mittelbarkeit eingefügt werden soll, ist dann weitgehend von anderen als von demokratischen Erfordernissen abhängig 36 . 34 Dazu Krüger: Staatslehre S. 239 ; dazu auch die Bemerkungen von und zu Carl Schmitt (Verfassungslehre S. 205 ff.) oben S. 155 Fußnote 13; a. A. Leibholz (Strukturprobleme S. 145), der bei der Wahl, dem Beschluß der Landsgemeinde u. ä. die Mittelbarkeit verneint. 35 Es erhebt sich die Frage, ob nicht auch sogenannte „plebiszitäre" Elemente einer Verfassung in Wirklichkeit „repräsentative" Elemente sind, wenn auch nicht repräsentativ-parlamentarische. Man hat hier m. E. einen prinzipiellen Unterschied konstruiert, wo nur ein organisatorischer besteht. 36 Schon G .Jellinek hat darauf hingewiesen, daß es sich bei der „unmittelbaren" und der „mittelbaren" Demokratie nur um einen Unterschied in dem Maß der Zuständigkeiten handele, die dem Volk selbst verbleiben (Staatslehre S. 582 f.). I n beiden Fällen aber sei das Volk Staatsorgan. Ob seine Konstruktion, „Volk und Volksvertretung bilden (demnach) juristisch eine Einheit" näherer Prüfung standhält, kann dabei dahingestellt bleiben. Sie hatte den auch anders zu erreichenden Zweck, zwischen Volk und Volksvertretung ein Rechtsverhältnis, damit auch Verantwortlichkeit und Kontrolle zu begründen. Sie bilden eine „Einheit", weil sie Organe der Juristischen Person Staat sind. Aber sie sind verschieden, was den Willen angeht. Der Wille des Bundestages als Repräsentativ-Organ ist nicht der Wille des Volkes. Das ist, wie Kelsen zu Recht bemerkt, eine Fiktion. Es sei nur darauf hingewiesen, daß weder die
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 163 Das eigentliche Problem ist, wie verhindert wird, daß die Organwalter zu einer Oligarchie werden, die dem Einfluß des Volkes entzogen ist 3 7 . Das ist aber auch i n einer Rätedemokratie nicht per se ausgeschlossen und ist auch für sie ein zentrales Problem. Gelingt das nicht, werden die bloß Regierten auch zu Beherrschten. Funktionale Regeln, die das verhindern sollen, sind die Periodizität der Bestellung der Organwalter m i t dem Zwang für diese, sich m i t anderen Bewerbern i m Wettbewerb immer neu um das A m t und die Zustimmung zu Komplexprogrammen (Luhmann) i m Wahlkampf zu bemühen 38 , der freie Zugang für alle Bürger zu den Ämtern, die Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen, gewisse Wege der Einflußnahme, auch während der Amtszeit der Abgeordneten und die dazu gewährten Grundrechte der Meinungsfreiheit u. a. 39 , die Einrichtung des freien Mandates, worauf noch näher einzugehen sein w i r d 4 0 . Sie alle sollen sicherstellen, daß die Kommunikation zwischen dem Volk und den Amtswaltern offen bleibt, damit die Verbundenheit, die Verantwortlichkeit der Repräsentanten m i t und gegenüber den Repräsentierten realisierbar ist. Ob das imperative Mandat und die ständige A b berufbarkeit, wie sie i n der Theorie der Rätedemokratie zugrunde liegen, bessere Lösungen sind, scheint zumindest zweifelhaft, da weder die notwendige Voraussehbarkeit für bindende Aufträge noch die Permanenz der Beratungen der Wähler als notwendige Voraussetzungen i n der Praxis sichergestellt werden können. 2. Ein weiterer Gesichtspunkt ist zu beachten. Die Verbindung des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems m i t der Demokratie als Staatsform ist nicht nur möglich, sondern i n der Gegenwart unter den Bedingungen der modernen hochdifferenzierten Industriegesellschaft auch nötig, u m überhaupt Selbstbestimmung des Volkes und Teilhabe des einzelnen an der Ausübung der Macht i n einem Maße zu sichern, daß die Freiheit des einzelnen gewährleistet wird. Diese Freiheit ist durch die Sachzwänge, die Unübersichtlichkeit und damit Unbeherrschbarkeit der modernen Industriewelt allgemein i n erheblichem Maße eingeenglische noch die amerikanische Demokratie außer den periodischen Wahlen unmittelbare demokratische Elemente kennt, und, soweit zu sehen ist, auch keine anstrebt. Es gibt anscheinend im angelsächsischen Staatsdenken keine Diskussion über die Vereinbarkeit von Demokratie und Repräsentativsystem. 37 Dieses Problem ist vor allem bereits von Michels (Soziologie passim) behandelt worden. 38 Zur Relativität dieser Zustimmung im Hinblick auf Selbstbestimmung aber der Hinweis von Luhmann oben S. 161 Fußnote 32 und die Ausführungen zur Funktion der Wahl unten S. 176 ff. 39 Schon Guizot hatte die Meinungsfreiheit dem Repräsentativsystem wesentlich zugeordnet. Luhmann (Legitimation S. 166) bezeichnet die Einflußnahme über Demonstrationen, Petitionen, Leserbriefe, persönliche Kontakte u. ä. als zweite „Kontaktbahn zur Politik" neben der Wahl, durch die die konkreten Interessen dargestellt und gefördert werden. 40 Unten § 9 S. 184 ff.
11*
164 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung schränkt. Darauf ist nicht näher einzugehen. Die wachsende Komplexität der modernen Industriegesellschaft fordert ihre wachsende funktional begründete Differenzierung i n verschiedene Handlungsgefüge 41 . Ein solches funktional spezifiziertes Handlungsgefüge ist das politische Handlungsgefüge oder das politische System, der Staat 4 2 , der darauf gerichtet ist, Probleme und Konflikte durch rechtlich verbindliche Entscheidungen zu lösen. I m Sinne einer Demokratie, die mit unmittelbarer Demokratie identisch ist, dürfte der Staat keine weitere funktionale Differenzierung erfahren; denn jede weitere Differenzierung bedeutet Vermittlung und damit Mittelbarkeit der Selbstbestimmung. Aber auch der Staat bedarf, u m m i t der äußeren Komplexität fertig zu werden, die er i n seinen Entscheidungen zu bewältigen hat, einer bestimmten inneren Komplexität, einer Vielfalt von Möglichkeiten zu reagieren, einer Variabilität der Verhaltensweisen. Strukturell ergibt sich daraus eine notwendige funktionale Innendifferenzierung des Handlungsgefüges. Es entstehen Teilhandlungsgefüge. Luhmann unterscheidet vor allem die Sphäre des Publikums, die Sphäre der Politik und die Sphäre der Verwaltung 4 3 . I n der Sphäre der Verwaltung, die i m weiten Sinne als der Staatsapparat, also einschließlich Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung verstanden wird, werden die bindenden Entscheidungen ausgearbeitet und erlassen „nach politisch vorgegebenen K r i t e rien der Richtigkeit und Wahrung gewisser Anforderungen an die Konsistenz der Entscheidungen untereinander". Die politische Sphäre formiert die politische Unterstützung für die variabel werdenden Entscheidungsprogramme der Verwaltung 4 4 . Das Publikum w i r d zur Sphäre der Interessendarstellung und Anmeldung von Forderungen des einzelnen i n und aus seinen je verschiedenen Rollen 4 5 . Diese funktionale Innendifferenzierung erhöht die Leistungsfähigkeit des Systems, indem es die Komplexität und Konfliktsmöglichkeiten durch fortschreitende Generalisierungen inhaltlich reduziert und abarbeitet. Es ist nicht immer und i n jeder Entscheidung m i t der ganzen Komplexität konfrontiert, sondern 41 Dazu vor allem Luhmann: Soziale Systeme, Soziologie; schon Kelsen hatte auf den Zusammenhang von Parlamentarismus und Arbeitsteilung hingewiesen. 42 Bei der hier vorgenommenen Gleichsetzung von „politischem System" und „Staat" wird der unterschiedliche Sinngehalt beider Begriffe, der aus den traditionellen Staatsvorstellungen einerseits und der soziologischen Herkunft des Begriffs „politisches System" andererseits herrührt, keineswegs übersehen. Es wird keine Sinngleichsetzung vorgenommen. Aber eine staatsrechtliche U n tersuchung hat es mit dem „Staat" zu tun. Jedoch kann dieser Begriff nicht mehr im nur traditionellen Sinn verwendet werden. Nur darauf soll die hier vorgenommene semantische Gleichsetzung hindeuten. Sie im einzelnen inhaltlich ganz auszufüllen, ist Aufgabe der Staatslehre. 43 Grundrechte S. 154 ff.; Legitimation S. 164 ff.; Soziologie S. 717 ff. 44 Soziologie S. 718. 45 Soziologie S. 718; Legitimation S. 164.
§ 7 Demokratie u. repräsentativ-parlamentarisches Regierungssystem 165 kann sich jeweils auf i n den vorhergehenden Generalisierungen bereits absorbierte Komplexität stützen 46 . Unmittelbare Demokratie wäre dazu nicht i n der Lage. I n der Landsgemeinde können nur verhältnismäßig einfache Fragen entschieden werden, die auch keine allzu tiefgreifende Konfliktsituationen betreffen. Die Probleme der modernen Gesellschaft können auf diese Weise nicht bewältigt werden. Eine Beibehaltung dieser „primitiven" Entscheidungsstruktur würde i m Gegenteil dazu führen, daß die Probleme entweder ungelöst blieben oder, da das letzten Endes nicht möglich ist, andere dann aber sicherlich undemokratische Entscheidungsmechanismen die unmittelbaren Entscheidungsstrukturen überlagern würden, allenfalls unter Bewahrung eines leeren Akklamationsrechtes der „Landsgemeinde". Die funktionale Differenzierung muß, damit sie wirksam wird, organisatorisch aufgenommen werden. Das geschieht i m seinerseits wieder funktional-differenzierten Aufbau des Staatsapparates, d. i. die Organ- und Ämterorganisation des politischen Systems. Es werden Organe und Ämter gebildet, Zuständigkeiten zugewiesen, rechtliche Verfahren entwickelt und geregelt. Das Schema, nach dem diese rechtliche Organisation des Regierungssystems geschaffen wird, darf dabei die demokratische Staatsform nicht außer acht lassen. Das repräsentativ-parlamentarische System ermöglicht durch die zentrale rechtlich-organisatorische Stellung des Bundestages als unmittelbar volksgewähltem Organ, das den anderen Organen die demokratische Legitimation vermittelt, sowohl funktionale Differenzierung als auch Demokratie. Der Übergang von der unmittelbaren zur mittelbaren repräsentativen Demokratie ist jedenfalls nicht nur ein Ergebnis der tatsächlichen Unmöglichkeit, alle Staatsbürger i n einem großen Flächenstaat unmittelbar an den Entscheidungen des Gemeinwesens zu beteiligen. Er ist vielmehr Ausdruck der notwendigen äußeren und inneren funktionalen Differenzierung der Gesellschaft i n verschiedene Handlungsgefüge, u m so die wachsende Komplexität der modernen Industriegesellschaft bewältigen zu können. Das repräsentativ-parlamentarische System ist also keine Ersatzlösung, kein Behelf für die eigentlich viel „richtigere" unmittelbare Demokratie, sondern ist eine der modernen Industriegesellschaft funktional angemessene staatliche Organisationsform der Demokratie 4 7 . 3. Wenn aber Demokratie, wie versucht wurde darzutun, nicht notwendig direkte Demokratie ist, entfällt auch die Notwendigkeit der materialen Homogenität. Für die direkte Demokratie scheint sie i n der Tat eine notwendige Voraussetzung zu sein, da sie nur unter der Be46
Soziologie S. 720. Nordlinger (Representation S. 8/9) ist der Auffassung, daß „the representative subsystem of a democratic political system may contribute markedly to the system's stability and decisional effectiveness". 47
166 I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung dingung gleicher oder ähnlicher Interessen zu funktionieren vermag. Konsequent gehen Gottschalch und E r t i für das Funktionieren ihres — als Verwirklichung der direkten Demokratie verstandenen — Rätemodells davon aus, daß diese Homogenität durch Aufhebung der Klassengegensätze zugunsten der Arbeiterschaft i m Übergang von kapitalistischen zu sozialistischen Produktionsverhältnissen hergestellt sein müsse 48 . Unterschiedliche Interessen können nur vermittelt nicht unvermittelt zum Ausgleich gebracht werden. Eine solche Homogenität der Interessen und Bedürfnisse besteht i n der BRD gegenwärtig nicht durchgängig und i n jeder Hinsicht. Sie ist w o h l auch nicht wirklich herzustellen. Es bleibt also nur, entweder dieselbe durch Eleminierung herzustellen, was, wenn überhaupt, nur i m Wege der Revolution möglich wäre, oder den Ausgleich der verschiedenen Interessen immer wieder jeweils neu herzustellen. Das zweite Verfahren scheint demokratischer zu sein, w e i l es die Selbstbestimmung aller ermöglicht. Zu Recht w i r d daher gerade der Pluralismus zur Rechtfertigung des parlamentarischen Systems herangezogen, auch w e i l es keine Garantie der vorgefundenen gesellschaftlichen Macht bestimmter Gruppen enthält 4 9 . Letzten Endes kommt es darauf an, wie die i n i h m liegende Chance der sozialen Emanzipation und des Ausgleichs der gegebenen Interessen der Gruppen genutzt werden. Daß es diese Chancen enthält, w i r d wie oben erwähnt, auch von „radikal-demokratischen" Autoren zugegeben 50 . Gottschalchs Einwände sind bei näherer Prüfung auch nicht prinzipieller Natur, sondern erscheinen, selbst ihre Richtigkeit einmal unterstellt, nur als geschichtlich bedingte 51 . Auch ohne das parlamentarische System selbst aufzuheben, können sie beseitigt werden, wenn einerseits die M i t t e l der Kommunikation und der Teilhabe aller am Entscheidungsprozeß erweitert werden, und andererseits der Ausgleich der gesellschaftlichen Interessen vorangetrieben wird. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn ein solcher Ausgleich grundsätzlich als durchführbar angesehen und nicht ein prinzipiell unaufhebbarer Klassenantagonismus festgestellt wird. Das aber ist ein i m vorliegenden Zusammenhang nicht zu klärendes Problem, das einer eigenen Untersuchung bedarf. Die wissenschaftlich-theoretischen Aussagen dazu sind diametral entgegenge48
Gottschalch: Parlamentarismus S. 41 ; Erti : Macht S. 113. z. B. Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964. 50 Daß das Parlament auch nur zum „Transmissionsriemen der Entscheidung politischer Oligarchien" werden kann, und es in gewissem Umfange auch gegenwärtig sein mag ( Agnoli : Transformation S. 68), kann zutreffend sein, aber es ist nicht notwendig so. Agnoli und die anderen Autoren übersehen die schon gegebenen Möglichkeiten der Kommunikation und die Möglichkeiten des Wechsels der Regierenden, wie sie 1969 eintrat, allerdings nach Veröffentlichung der hier genannten drei Werke. 51 Gottschalch: Parlamentarismus S. 12 ff. 49
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 167 setzt. Es bedürfte eines ernsthaften kontinuierlichen und sicher zeitraubenden Versuches, den Ausgleich herbeizuführen. Immerhin ist bereits mehr Ausgleich erfolgt, als er i n der Vergangenheit für möglich gehalten wurde.
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat I. Stellungnahmen im Schrifttum 1. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Verbindung des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems m i t dem Parteienstaat. Diese These w i r d insbesondere von Leibholz vertreten 1 , dem das Bundesverfassungsgericht insoweit gefolgt ist 2 . Leibholz geht von einem Repräsentationsbegriff aus, der dem von Schmitt entwickelten ähnlich ist. Auch er bindet die Repräsentation an ein werthaft gesteigertes Sein. Nur eine „ideell bestimmte Wertsphäre", nicht aber die „des spezifisch ideellen Wertakzentes" ermangelnden „ökonomische Werte", nicht die „bestimmt gearteten wirtschaftlichen Interessen" lassen Repräsentation zu 3 . Insofern ist Repräsentation keine Vertretung. Die Repräsentanten müssen „auch einen eigenen Wert, eine eigene Würde und Autorität, kurzum die Qualitäten eines .Herren 4 , nicht die eines ,Dieners* besitzen" 4 . Von daher w i r d die Unabhängigkeit des Abgeordneten i m freien Mandat zur wesensmäßigen Notwendigkeit der Repräsentation. Auch Leibholz sieht i n der Repräsentation ein aristokratisches Element, i n der repräsentativen Demokratie, die er i m Gegensatz zu Schmitt für möglich hält, eine „durch aristokratische Unterscheidung veredelte Demokratie" 5 . Dieser Repräsentation w i r d ein Begriff der Identität entgegengesetzt, der diese als geistig substantielle, nicht als mathematisch naturwissenschaftliche versteht. Entscheidend sei, daß die Willensakte bestimmter oberster „Staatsorgane" denen des Volkes, der „volonté générale" gleichgesetzt werden. Leibholz faßt damit die oben dargelegten Vermittlungen der unmittelbaren Demokratie auch unter den Begriff der Identität, kon1
Parteienstaat durchgehend; Wesen S. 235 ff.; zur Kritik Müller: S. 13 ff. und S .45 ff.; G. Trautmann: Verfassung S. 59 ff. 2 BVerfGE 2,72. 3 Wesen S. 32. 4 Wesen S. 73; auch hier schließt sich Leibholz an Schmitt an. 5 Wesen S. 167 im Anschluß an Caspar Bluntschli.
Mandat
168
. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
struiert also eine mittelbare Identität, ähnlich wie Schmitt 6 . Der moderne massendemokratische Parteienstaat nun ist nach der Auffassung von Leibholz dadurch gekennzeichnet, daß die Willensakte der Parteien i m Parlament und i n der Regierung denen des Volkes gleichgesetzt werden, die „Parteien" das „ V o l k " seien. Insofern sieht er i m Parteienstaat „eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie oder, wenn man w i l l , ein Surrogat der direkten Demokratie i m modernen Flächenstaat" 7 . Der von den Parteien nominierte Abgeordnete hat zudem nicht die dem Repräsentanten vindizierte persönliche Würde. Die Parteien und der von ihr nominierte und abhängige Abgeordnete vertreten Interessen, die nicht repräsentationsfähig sind. Die Abgeordneten werden zu Unterhändlern, sogar zu Statisten 8 . Leibholz schließt daraus für das freie Mandat des Abgeordneten, daß es i m Widerspruch zum Parteienstaat stehe 9 . Auch aus der Sicht des Abgeordneten findet zwar Vermittlung, aber keine Repräsentation statt, sondern liegt mittelbare Identität vor. Der Einwand von Leibholz beruht auf einer geisteswissenschaftlichen Interpretation von Repräsentation und Identität. Empirische Analysen !;egen dem nicht zugrunde. Müller hat darzutun versucht, daß seine Repräsentationslehre an der Erfahrung scheitere. Ähnlich wie Schmitt nimmt Leibholz bestimmte Vermittlungen aus der Repräsentation heraus und ordnet sie der Identität zu. Auch er stellt nicht auf die Ausübung der Staatsgewalt, auf die Erfüllung der Entscheidungsfunktion ab. Das legt für die weitere Erörterung des Verhältnisses von repräsentativ-parlamentarischem Regierungssystem und Parteienstaat die Notwendigkeit nahe, nicht die Begriffe von Repräsentation und Identität zugrundezulegen, sondern wie i m vorhergehenden Abschnitt die Entscheidungsfunktion zum Bezugspunkt des Verhältnisses zu machen. Es kommt also darauf an zu untersuchen, welche Funktion die Parteien i n dem gemäß der Trennung von Inhabern und Ausübenden der Entscheidungsgewalt rechtlich organisierten Entscheidungsprozeß haben. Dabei ist davon auszugehen, daß auch Leibholz, wie die herrschende Auffassung, der Ansicht ist, daß ohne Parteien ein demokratischer Staat i n der Gegenwart nicht zu funktionieren vermag 1 0 . β Wesen S. 28 f. Müller (Mandat S. 15) nennt das zu Recht eine „Paradoxie". Kelsen hatte den Vorgang der Zurechnung des Willens der Volksvertretung als Willen des Volkes als „Repräsentation" bezeichnet. 7 Parteienstaat S. 245. 8 Parteienstaat S. 246. Zur Kritik: Müller: Mandat S. 13. 9 Dazu unten § 8 S. 184 f. 10 Anders ζ. B. Triepel: Staatsverfassung und durchgehend, dagegen bereits Kelsen: Wesen S. 19 ff. und insbesondere S. 107 ff. Überhaupt war die Bewertung der Rolle der Parteien in der Weimarer Republik noch erheblich umstritten. Die im 19. Jh. vorherrschende Ablehnung der Parteien als Vertreter von Partikularinteressen, denen das Gemeinwohl entgegengesetzt wurde, war noch weitverbreitet. Das hatte konkrete Folgen z.B. in der Beurteilung der Funktion des Reichspräsidenten bei der Bestellung des Reichskanzlers, dazu
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 169 2. Die Verbindung von Repräsentativsystem und Parteienstaat w i r d auf der Grundlage des Gegensatzes von Repräsentation und realer Demokratie auch i n einem Teil der neueren Literatur für ausgeschlossen gehalten. I n einer realen Demokratie haben die Parteien die Funktion, „Sprachrohr der mündigen Bürger" zu sein 1 1 ; sie sollen „Instrumente des Volkswillens" sein 1 2 ; ihre eigentliche, allerdings weithin abgestorbene und transformierte Funktion bestehe darin, Klassenkräfte 13 , gesellschaftlichen Antagonismus 14 zum Ausdruck zu bringen. Das Repräsentativsystem bewirke aber gerade das Gegenteil. Es löse den Abgeordneten von der Basis und stärke allenfalls die oligarchischen Tendenzen in den Parteien, die der Entwicklung demokratischer Wirklichkeit entgegenstehe. Anders als die Theorie von Leibholz gehen die genannten Autoren durchaus von den realen Entscheidungsprozessen aus und begreifen Repräsentationsstaat und Parteienstaat gleichermaßen als Formen der Entscheidungsorganisation. Aber sie kommen zum gleichen Ergebnis wie jener, weil sie, wie jener, Parteienstaat und direkte Demokratie jedenfalls i n der Idealvorstellung gleichsetzen, wenn auch nicht i n der Realität, i n der sie eher ein Überwiegen der oligarchischen und bürokratischen Tendenzen gegenüber einer innerparteilichen Demokratie feststellen, was Leibholz ganz übersieht 15 .
I I . Die Funktion der Parteien 1. Gemäß A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Damit ist ein tatsächlich schon lange gegebener Zustand als rechtliche Norm des Verfassungsrechts der Bundesrepublik anerkannt worden. Die Parteien w i r k e n nunmehr nicht nur tatsächlich m i t ; sie sollen mitwirken. Sie haben die Berechtigung und Verpflichtung erhalten, gewisse Aufgaben i n dem Prozeß der politischen Willensbildung des Volkes wahrzunehmen 16 , der sich i n verbindlichen unten § 111 und I I . Kelsen ging in seiner Auseinandersetzung mit Triepel sogar soweit, in dessen parteifeindlicher Haltung im Grunde eine Ablehnung der Demokratie zu sehen, Wesen S. 20 und S. 111; den Vorwurf erneuerte Müller: Mandat S. 7. 11 Bermbach: Probleme S. 359. 12 Stuby : Macht S. 308. 13 Gottschalch: Parlamentarismus S. 17. 14 Agnoli: Transformation S. 31. 15 Agnoli: Transformation S. 35; Bermbach: Probleme S. 354; Stuby: Macht S. 308 ff.; darauf weist auch G. Trautmann (Verfassung S. 60 f.) hin, der aber zu anderen Ergebnissen kommt, als die drei erstgenannten Autoren. 16 a. A. wohl Forsthoff: Stellung S. 11 f., der in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G nur eine deklaratorische Feststellung, eine Legalisierung eines tatsächlichen Zustandes sieht; wie hier die h. M., siehe z. B. Menger: Stellung S. 158 f. mit weiteren Zitaten; Kremer: Abgeordnete S. 76. Die gegen Menger vorgebrachten
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I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
gestaltenden Entscheidungen erfüllt. Die Parteien sind damit von Verfassungsrechts wegen i n diesen Prozeß eingegliedert, da der Staat die politische Einheit des Volkes ist. Politische Willensbildung vollendet sich daher letzten Endes i n staatlicher Willensbildung und Entscheidung, die i n dieser Untersuchung i n Frage stehen. Es besteht trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten, die sich i n einer verwirrenden Terminologie niederschlagen, heute die einheitliche Auffassung, daß die Parteien nicht staatliche Organe i m hier zugrundegelegten organisationsrechtlichen, funktionalen Sinn sind 1 7 . Sie haben keine staatlichen Eigenzuständigkeiten als Wahrnehmungszuständigkeiten inne; ihre Akte werden nicht dem Staat i m Sinne von Staatsapparat 18 zugerechnet, auch nicht die Kandidatenaufstellung für die Wahlen. Auch für das BVerfG, das i n früheren Entscheidungen von „Verfassungsorganen" sprach 19 , sind die Parteien nicht Organe i n diesem Sinn. Das Gericht hat einen weiteren Begriff als den hier unterlegten zugrundegelegt. Es genügt i h m i n Hinblick auf die prozessuale Stellung der Parteien für die Organeigenschaft, daß die Parteien durch die Verfassung bestimmte Funktionen innerhalb des Verfassungsaufbaus wahrnehmen. Verfassungsorgane sind für das BVerfG „nicht nur Staatsorgane i m strengen Sinn . . . , sondern alle Beteiligte, die durch die Landesverfassung m i t eigenen Rechten ausgestattet sind" 2 0 . Das Gericht wollte die prozessuale Frage klären, ob Parteien wegen dieser Funktionen i m Organstreitverfahren oder i m Wege der Verfassungsbeschwerde klagen müssen. Es hat sich zu Recht für die erste Alternative entschieden. Da es sich bei dem hier zitierten, vom Gericht zu entscheidenden Fall um eine Verfassungsstreitigkeit innerhalb eines Landes gemäß A r t . 99 GG i. V. m. §§ 13 Ziff. 10, 73 BVerfGG handelte, sah sich das Gericht wegen § 73 BVerfGG gezwungen, den Begriff „Organ" soweit auszulegen, um die Parteien als „oberstes Organ eines Landes" ansehen zu können 2 1 . I m Rahmen des A r t . 93 Abs. 1 Argumente von Vaerst (Abgeordnetenmandat S. 142 ff.) verkennen den Sollenscharakter des Art. 21 GG als Norm. 17 ν . Mangoldt-Klein: Kommentar I Art. 21 Anm. I I 5 S. 616 mit weiteren Nachweisen; Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 21 Randnote 45 S. 20; Hesse: Stellung S. 33 ff.; Henke: Recht S. 83 f.; a. A. anscheinend nur Giese: Parteien, insbes. S. 379; Kelsen (Wesen S. 19) bezeichnet sie in tatsächlicher Hinsicht als „Organe der staatlichen Willensbildung". 18 Versteht man Staat in dem umfassenderen Sinne des politischen Systems, ist die Stellung der Parteien anders zu bestimmen. Dazu unten S. 182 Fußnote 79 die Bestimmung von Luhmann. Die an dieser Stelle zu behandelnde organisationsrechtliche Fragestellung bezieht sich aber auf den Staatsapparat, nicht auf den Staat als umfassendes politisches System. 19 BVerfGE 4, 30. 20 BVerfGE 1, 222. 21 Allerdings rekurriert das Gericht auf Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG, was dafür nicht notwendig ist, siehe Text, und vielleicht sogar verfehlt ist. Aber in dem zur Entscheidung stehenden Streit zwischen dem Südschleswigschen Wählerverband und dem Landtag und der Landesregierung von Schleswig-Holstein
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 171 Ziff. 1 GG würde es genügen, darauf abzustellen, daß sie m i t bestimmten eigenen Rechten ausgestattet und somit „Beteiligte" i. S. des A r t . 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG sind, die ja ausdrücklich den Unterschied zwischen „Organen" und „Beteiligten" macht. Allerdings schränkt auch hier § 63 BVerfGG Antragsteller und Antragsgegner auf bestimmte „Organe i m strengen Sinne" und deren Teile ein. Jedoch ist Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG weiter, so daß § 63 BVerfGG vom Gericht nicht als abschließend angesehen worden ist. Die Formulierung des Gerichts hat also rein prozessualen, keinen organisationsrechtlichen Bezug. Das Gericht hat daher auch selbst i n diesem Bereich zwischen Staatsorganen, die es auch Verfassungsorgane nennt, und den Parteien klar unterschieden 22 » 23 . Ist somit zwar eindeutig, daß die Parteien keine staatlichen Organe sind, so bleibt doch unklar, was sie sind. Sie sind i m organisationsrechtlichen Sinn m i t staatlichen Mitwirkungsberechtigungen und -Verpflichtungen Betraute. Das ist näher zu erläutern. 2. Zunächst ist zu klären, was „politische Willensbildung des Volkes" i n A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG heißt. Politisch heißt nicht schon staatlich. Weder ist jede politische Willensbildung auch staatliche, noch ist jede staatliche auch politische Willensbildung 2 4 . Politisch ist jene Willensbildung, die sich auf die Handhabung der staatlichen Macht i m Hinblick auf die die staatliche Einheit einer Gruppe konstituierenden und erhaltenden existentiellen Grundlagen i n jeweils konkreten Sachfragen bezieht. Die Zwecksetzung für staatliches Handeln ist politisch, nicht die Zweckausführung. Vollzog sich der Prozeß der Willens- und Entscheidungsbildung i m absolutistisch-monarchischem Staat nur innerhalb der staatlichen Organe und Ämter, der Organisation, die als der Gesellschaft entgegengesetzt angesehen wurde, so w i r d i m demokratischen Staat die Unterscheidung von staatlicher Organisation (Staat als Apparat) und Gesellschaft zwar nicht aufgehoben, aber die Gesellschaft w i r d zum eigentlichen Träger des Willensbildungsprozesses. Staat und Gesellschaft bleiben Gegenüber, bleiben zwei getrennte Erscheinungsweisen, zwei getrennte Systeme derselben Gruppe, aber sie sind nicht mehr einander entgegengesetzt 25 . über das Landeswahlgesetz ist diese Vorschrift nicht anzuwenden. I m Haupturteil wird dann auch Art. 99 richtig zugrundegelegt, BVerfGE 4, 35. 22 BVerfGE 20, 97 ff. 23 I n der älteren Literatur taucht die Bezeichnung „Kreationsorgane" i. S. Georg Jellineks für die Parteien auf, da „ohne deren Zwischenschaltung die amorphe Volksmasse gar nicht imstande wäre, die Organe der Staatsgewalt aus sich zu entlassen", Radbruch: Parteien S. 288. Aber dem liegt der weite, auch vom BVerfG verwandte Organbegriff zugrunde, der für diese Untersuchung abgelehnt worden ist. 24 Schmitt: Begriff; Freund: L'essence; Heller: Staatslehre S. 203 ff.; Scheuner: Parteiengesetz S. 89 f. 25 Zur Problematik des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im ein-
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.3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
Der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß hat zwei Stadien, beide notwendig, beide einander ergänzend. Das erste Stadium ist das gesellschaftlich-politische, das zweite das staatlich-organisatorische. Die politische Willensbildung i n der Gesellschaft trägt die staatliche politische Willensbildung, bereitet sie vor, drängt sie i n eine bestimmte Richtung, kontrolliert sie. Aber die gesellschaftliche Willensbildung ist noch nicht endgültig, ist nicht abgeschlossen, vor allem nicht rechtlich und damit allgemein verbindlich 2 6 . Ein Pressekommentar, ein Parteitagsbeschluß, eine Kanzelverlautbarung, eine Gewerkschaftsentschließung sind keine Gesetze, keine rechtlich erheblichen und damit für alle verbindlichen Akte. Aber sie können alle zum gesellschaftlichen politischen Willensbildungsprozeß gehören. Die besonderen, pluralistischen Vorgänge der gesellschaftlichen W i l lensbildung werden i n der staatlichen Willensbildung zu einem allgemeinen Willen der Gesellschaft als einer Einheit. I m Staat ist die Entscheidungsmacht, d. h. die politische Macht zur definitiven, rechtsverbindlichen Gestaltung i n seinen Organen und Ämtern monopolisiert 27 . Aber i m demokratischen Staat gründet diese Entscheidungsmacht auf der gesellschaftlichen Willensbildung, sowohl durch die A r t der Besetzung der Organe und Ämter mit den Waltern, wie durch die Einflußnahmen und die Kontrollen der Gesellschaft und ihrer organisierten Gruppen auf den Entscheidungsprozeß. Die Willensbildung w i r d aus der Gesellschaft i n die staatliche Organisation hineingetragen. Politik kann sich so nur durch den Staat endgültig verwirklichen 2 8 ; denn nur er vereinigt die allgemeinen Zwecke i n sich. Verselbständigt sich das Politische außerhalb des Staates in der Gesellschaft mit eigener Verbindlichkeit für ein besonderes Interesse, einen besonderen Zweck, so zerfällt der Staat, ist der Bürgerkrieg grundgelegt. Jedes gesellschaftliche, besondere Interesse, das zu einem allgemeinen Interesse der Gesamtgesellschaft werden und sich als Gestaltungsinteresse für die gesamte gesellschaftliche Ordnung verzelnen Ernst-Wolf gang Böckenförde: Lorenz v. Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 248 - 277. 28 Es handelt sich also nicht um eine Entgegensetzung von Volkswillen und Staatswillen, wie Scheuner (Parteiengesetz S. 89) anzunehmen scheint, wenn beide Bereiche der Gesellschaft und der staatlichen Organisation geschieden werden. I n der Gesellschaft gibt es noch keinen Volkswillen, ja wie im Text zu zeigen sein wird, muß dieser aus den Wollungen der einzelnen und Gruppen erst unter Deduktion und „sozialer Deformierung" (Müller: Mandat S. 229) jener entwickelt, herausgefiltert werden, welcher Prozeß sein Ende im Staatswillen erreicht. 27 Der Staat entscheidet vor allem auch darüber, wieviel Freiheit nichtstaatliche Macht, sei es wirtschaftliche, sei es kirchliche zur Entscheidung haben, wobei allerdings eine Interdependenz entstehen kann. 28 Heller: Staatslehre S. 205.
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 173 bindlich durchsetzen w i l l , muß durch den Staat gehen. Die gesellschaftlichen Gruppen müssen den Staat „besetzen", d. h. die Organwalter der Organe stellen oder doch die Organe beeinflussen 29 . Innerhalb der staatlichen Willensbildung erlaubt die Bestimmung des Politischen die Abgrenzung zwischen politischer und anderer Willensbildung. Von ihr abgesetzt ist die Willensbildung i n der Verwaltung und i n der Rechtsprechung. Nur Gesetzgebung und innere und äußere Regierung 3 0 sind i n diesem Sinne „politisch". Verwaltung und Rechtsprechung gehören nicht zum politischen Bereich und stehen daher nicht der M i t wirkung der Parteien gemäß A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG offen 31 » 32 . 3. Die Willensbildung i n Gesellschaft und Staat ist ein sich ständig erneuernder, an konkreten Sachfragen sich orientierender auf Kommunikation beruhender Prozeß. Er nimmt seinen Ausgang von besonderen Bedürfnissen und Interessen oder von an Gesellschaft und Staat allgemein gestellten, meist von außen kommenden Anforderungen. Diese Sachfragen sind zu lösen i m Hinblick auf das gemeine Wohl, die konkrete Freiheit und Sicherheit aller. Dazu ist es notwendig, daß die besonderen Bedürfnisse und Interessen i n diese allgemeinen Zwecke der i m Staat als politischem System politisch geeinten Gesellschaft entsprechend ihrem an der jeweiligen Lage der Gesellschaft orientierten objektivem Wertverhältnis 3 3 eingefügt werden. Diese allgemeinen Zwecke sind ihrerseits keine Abstraktheiten, sondern erfüllen sich i n eben der Lösung der konkreten Sachfragen. Dieses Einfügen geschieht i n einem ständig fortschreitenden, an den jeweils sich wandelnden Gegebenheiten der politisch-sozialen Wirklichkeit wie an den jeweiligen konkreten Interessen und Zwecken sich orientierenden Prozeß. Er ist ein Prozeß der Vermittlung durch Kommunika29
Heller: Staatslehre S. 205. Wolff : Verwaltungsrecht I S . 65. 31 υ. Mangoldt-Klein: Kommentar I Art. 21, Anm. I I I 4 d S. 623; Vaerst: Abgeordnetenmandat S. 141. 32 Das Gesagte gilt für den Staat. Es ist auf die kommunale Selbstverwaltung nicht ohne weiteres übertragbar. Zwar ist diese Verwaltung. Aber als Selbstverwaltung läßt sie die Gesellschaft in wesentlich stärkerem Umfang an der Verwaltung teilhaben als in der staatlichen Verwaltung. So haben auch hier die Parteien die Funktion der Mitwirkung. 33 Wie weit ein solches objektives Wertverhältnis feststellbar ist, wie die Feststellung geschieht und durch wen, kann hier nicht erörtert werden. Gewiß lassen sich durch empirische Erkenntnis viel mehr Probleme aufklären, als ein vorschnelles interessengebundenes oder ideologisches Denken glaubt. Aber ein Rest der Ungeklärtheit wird auch bleiben. Die Regierenden allein sind zu der Feststellung nicht in der Lage, da sie als solche kein höheres Maß an Weisheit besitzen. Wohl haben sie i. a. einen größeren Überblick und mehr Erfahrung als andere. Sie bedürfen aber des ständigen Austausches mit der Öffentlichkeit als kritischem Publikum; diesen zu sichern, ist eine Funktion des Publizitätsprinzips, dazu Steiger: Funktion durchgehend. 30
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I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
t i o n u n d als solcher v o n d e m z u V e r m i t t e l n d e n n i c h t z u lösen. E r w ü r d e sein Z i e l v e r f e h l e n , w e n n er n i c h t m ö g l i c h s t v i e l des Besonderen i n das Allgemeine einbringen würde. Die Parteien sind verbindende u n d vermittelnde Handlungsgefüge zwischen Gesellschaft als P u b l i k u m u n d S t a a t als O r g a n i s a t i o n . Ü b e r sie w i r d die politische W i l l e n s b i l d u n g aus d e r Gesellschaft i n d e n S t a a t eingef ü h r t 3 4 , i n h a l t l i c h durch Sammlung, F o r m u l i e r u n g u n d V e r m i t t l u n g der V o r s t e l l u n g e n u n d z u v e r w i r k l i c h e n d e n Interessen u n d Z w e c k e d e r Gesellschaft, f o r m e l l d u r c h B e s e t z u n g der Ä m t e r , d e n e n die staatliche p o l i tische W i l l e n s b i l d u n g o b l i e g t , u n d d u r c h Beeinflussung der O r g a n w a l t e r 3 5 . D i e P a r t e i e n s i n d selbst n i c h t T r ä g e r besonderer B e d ü r f n i s s e u n d I n t e r essen, j e d e n f a l l s n u r z u m g e r i n g s t e n T e i l . A l s solche k ö n n e n sie n i c h t a u f die D a u e r e x i s t i e r e n , w i e e t w a das B e i s p i e l des B H E z e i g t 3 6 . D i e 34 Henke: Bonner Kommentar Art. 21 Anm. 12. G. Trautmann (Verfassung S. 67) sieht in ihnen „einen Faktor im Prozeß funktionaler Repräsentation, neben staatlichen Institutionen, gesellschaftlichen Interessengruppen und politischer Öffentlichkeit". Staatliche Institutionen stehen allerdings nicht daneben, sondern eine Stufe höher. 35 Meist beziehen sich die juristischen Autoren nur auf die formalen Rechte der Aufstellung der Kandidaten und sonstige Teilnahme an den Wahlen, ζ. B. v. d. Heydte: Freiheit S. 468; ähnlich auch BVerfGE 20,113; wie hier mit Recht: Scheuner: Parteiengesetz S. 89; Hesse: Stellung S. 24 f. Weiter geht auch die allerdings sehr ungenaue, unsystematische, rechtlich kaum faßbare Aufgabenaufzählung in § 1 Abs. 2 Parteiengesetz. Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 21 Randnote 12. Die Vermittlungsfunktion wird bereits von Kelsen (Wesen S. 19 ff. und S. 107 ff.) gegen Triepel (Staatsverfassung) geltend gemacht. I n der soziologischen Literatur steht sie im Vordergrund: Luhmann: Soziologie S. 19; Sobolewski: Electors S. 99 ff.; Duverger: Parteien S. 378 ff.; v. d. HeydteSacherl: Soziologie S. 105 ff.; Müller (Mandat S. 219) weist zutreffend darauf hin, daß gerade weil die Parteien große Wählermassen organisieren und in das Verfassungsleben einführen wollen und müssen, sie Programme durch I n teressenausgleich und -generalisierung für die Aspirationen großer interessenmäßig heterogener Bevölkerungsschichten entwickeln müssen. 36 Kaiser: Repräsentation S. 252 f. Diese Aussage bezieht sich auf Staaten mit einer sich weitgehend homogen gebenden Gesellschaft, wie sie trotz aller Unterschiede im einzelnen derzeit auch in der Bundesrepublik zu bestehen scheint, die keine sich als antagonistisch begreifenden Klassen oder Rassen kennt und daher auch keine entsprechenden Parteien hervorbringen kann. Es gibt auch andere Verhältnisse. Aber es erscheint nicht sinnvoll, bei der Interpretation des Grundgesetzes Verhältnisse eines Entwicklungslandes zugrunde zu legen. Allerdings wird von der Neuen Linken auch für die Bundesrepublik der Klassencharakter der gesellschaftlichen Lage behauptet. Sie sehen gerade im Wandel der Parteien von Klassenparteien zu Volksparteien eine negative Entwicklung. So wird von Gottschalch (Parlamentarismus S. 17 f.) geltend gemacht, daß die Parteien keine „parlamentarischen Repräsentanten der Klassenkräfte" mehr seien. Gerade weil sie keine „Klassenparteien", sondern „Volksparteien" seien, seien sie in Wirklichkeit unfähiger geworden, partikuläre Interessen zu integrieren. Das geschehe jetzt eher durch die Großverbände, die die Parteien als „Schaltbrett" für den „Anschluß an die Leitstellen staatlicher Macht" benützen. Ähnlich urteilt Agnoli (Transformation S. 32 ff.), daß die Parteien durch die Lösung von ihren — antagonistischen — aktuellen oder gesellschaftlichen Basen als Volksparteien allen alles versprechen, und so eigentlich nicht mehr alle Interessen vertreten werden, sondern nur noch ein Pol der
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 175 Interessenverbände stehen i h n e n gegenüber, u n d diese s i n d w i e d e r u m i n a l l e n P a r t e i e n v e r t r e t e n u n d w i r k s a m 3 7 » 3 8 . Es i s t a l l e r d i n g s n i c h t z u l e u g nen, daß d a d u r c h d i e G e f a h r besteht, daß die P a r t e i e n i n d e n Sog d e r V e r b ä n d e geraten. Diese G e f a h r i s t aber andererseits d a d u r c h v e r r i n g e r t , daß die V e r b ä n d e o f t entgegengesetzte Interessen haben, die sich gegens e i t i g begrenzen. D i e P a r t e i e n haben, w i e E h m k e f o r m u l i e r t , „ d i e A u f gabe, u n t e r E i n s c h m e l z u n g u n d A u s g l e i c h spezieller Interessen V o r s t e l l u n g e n f ü r die O r d n u n g u n d P o l i t i k des ganzen Gemeinwesens z u e n t w i c k e l n " 3 9 . D i e P a r t e i e n f o r m u l i e r e n die Z i e l v o r s t e l l u n g e n u n t e r A u f n a h m e , aber auch b e r e i t s u n t e r V e r ä n d e r u n g , A u s g l e i c h , A u s w a h l d e r d i f f u s e n u n d u n f o r m u l i e r t e n besonderen B e d ü r f n i s s e u n d Interessen i m H i n b l i c k a u f die G e s t a l t u n g d e r gesamten gesellschaftlichen O r d n u n g , n i c h t i m H i n b l i c k a u f die D u r c h s e t z u n g p a r t i k u l a r e r I n t e r e s s e n 4 0 . Sie b e g i n n e n d e n v o n H e l l e r beschriebenen U m s e t z u n g s p r o z e ß 4 1 aus b l o ß e n p o l i t i s c h e n V o r s t e l l u n g e n i n staatliche M a c h t , i n d e m sie die V o r s t e l l u n gen, die sich a u f d i e A u s ü b u n g d e r a u f die a l l g e m e i n e n G r u n d l a g e n d e r s t a a t l i c h e n E i n h e i t g e r i c h t e t e n M a c h t r i c h t e n , gestalten, f o r m e n u n d geltend machen42. Gesellschaft, die Klasse der Konservation. Beide Autoren sehen gerade in diesem Funktionswandel der Parteien von der Klassenpartei zur Volkspartei einen Grund für die Dysfunktionalität des Parlamentarismus, soziale Veränderungen i. S. des Übergangs zum Sozialismus herbeizuführen. Die Parteien böten sich nur noch eine Scheinkonkurrenz in der gemeinsamen Beteiligung an der Staatsmacht. Sie stellten sich als „plurale Fassung einer Einheitspartei" dar (Agnoli: Transformation S. 40). Wesentliche Änderungen seien daher nicht zu erwarten. Da diese Thesen an der Grundsatzfrage hängen, wie es sich mit dem Klassencharakter verhält, kann darauf nicht näher eingegangen werden. 37 Allerdings sind einige Verbände mit bestimmten Parteien enger verbunden als mit anderen, z. B. die Kirchen mit den christlichen, die Gewerkschaften mit den sozialistischen Parteien. Aber weder hat die CDU die Schulposition der katholischen Kirche, noch hat die SPD die Notstandshaltung der Gewerkschaften einfach übernommen. 38 Kaiser: Repräsentation S. 234 - 255 ; siehe auch den „Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission, Rechtliche Ordnung des Parteiwesens", 2. Aufl., Frankfurt/Berlin 1958, S. 84 ff.; Scheuner: Entwurf S. 343: „Übergeordnete und ausgleichende Position gegenüber den Verbänden." Das Verhältnis hat anhand eines überschaubaren Raum- und Zeitabschnittes (Schleswig-Holstein zwischen 1945 und 1958) Varain näher untersucht: Parteien und Verbände. 39 Staat S. 47. Daß hier der Grund der von ihm bekämpften Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, das Besondere und das Allgemeine, angelegt ist, scheint Ehmke allerdings nicht zu bemerken. Gerade gegen diese Funktion der Parteien wenden sich Gottschalch und Agnoli , siehe Fußnote 36. 40 Dazu auch Müller: Mandat S. 219 f. 41 Dabei wird von einem „modernen" Bild der Partei ausgegangen, nicht vom Bild der ideologisch fundierten Partei oder Weltanschauungspartei, wie es dem alten Parteityp noch zu Beginn der Bundesrepublik entsprach. Dieser Aspekt ist heute noch nicht ganz ausgestorben, wird immer wieder bei Besinnungen auf das große „C" der C D U oder dergleichen virulent. Schmitt und Leibholz übersehen ihn erstaunlicherweise ganz, obwohl er vor 40 Jahren erheblich stärker war als heute. Die ideologische Bestimmtheit führt zur Repräsentation der in der Partei vorherrschenden Idee oder Weltanschauung.
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I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
4. Allerdings scheint die Vorstellung, die insbesondere der oben dargestellten Theorie von Leibholz aber auch denen von Agnoli, Gottschalch u. a. zugrunde liegt, daß die Parteien das Volk „organisieren", d. h. es i n festen Blöcken zusammenfassen und als solche handlungsfähig zu machen 43 , zu schematisch zu sein. Die deutschen Parteien jedenfalls, auch die mitgliederstarke SPD, sind Wählerparteien. Hier liegt ein insbesondere gegen die Autoren der Neuen Linken gerichteter Einwand begründet. Sie übersehen völlig, daß Mitglieder und Wähler zwei ganz verschiedene Gruppen oft auch i n der Interessenrichtung sind 4 4 . Die Parteien organisieren Unterstützung für politische Programme. Die Wähler identifizieren sich keineswegs m i t den Parteien, sondern sie stimmen allenfalls dem aktuellen Programm derselben, sehr oft sogar nur Teilen desselben zu. Die Wahlentscheidung ist, wie sozialwissenschaftliche Forschungen der Wahlfunktion und des Wählerverhaltens ergeben, bereits das Ergebnis eines weitgehenden Prozesses der Reduktion und Deformation individueller Meinungen. Schon die Parteitagsbeschlüsse enthalten derartige Reduktionen und Deformationen. Andererseits ist die Mobilisierung von hinreichender Unterstützung nur durch jenen beschriebenen Ausgleich und eine Integration der partikulären Interessen möglich 4 5 . Die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse der Erforschung der Funktion der Wahl und des Wählerverhaltens sind i m Hinblick auf die staatsrechtlichen Theorien zum Parteienstaat nicht außer acht zu lassen. Es scheint daher gerechtfertigt, ohne diese Feststellungen i m einzelnen k r i tisch zu erörtern, und nützlich, einige sozialwissenschaftliche Aussagen zur Funktion der Wahl kurz darzustellen. Kirchheimer hat für die modernen, von i h m so genannten „Allerweltsparteien" 4 6 die These vertreten, daß sie konkrete Handlungspräferenzen für die staatliche Entscheidungsfunktion i m Wahlkampf kaum aufstellen dürften, sondern nur allgemeine Handlungsvorschläge i n einem Gemisch von Prognose und Wunschdenken machen könnten 4 7 . Der wichtigste Beitrag der Allerweltsparteien an der Ausarbeitung von Aktionspräferenzen liegt nach Kirchheimers Auffassung eher i n der „Mobilisierung der Wähler für Handlungspräferenzen, die die Führer durchsetzen können, 42 Hesse: Stellung S. 25; zur Rolle der Parteien auch: v. d. Heydte-Sacherl: Soziologie, insbes. Teile Β - D S. 35 - 128. 43 Parteienstaat S. 245; ähnlich wohl auch Kelsen: Wesen S. 19 ff. und S. 107 ff. 44 ζ. B. Stuby (Macht S. 308), wenn er schreibt, daß Parteien „Instrumente des Volkswillens, d. h. der Mitgliedschaft (der Wähler)" sein sollen. Wessen denn nun? 45 So auch G. Trautmann: Verfassung S. 66. 46 Sie werden den Représentations- oder Honoratiorenparteien des 19. Jhs. und den — vor allem sozialistischen — Massenintegrationsparteien des beginnenden 20. Jhs. gegenübergestellt, Kirchheimer: Wandel, durchgehend, insbesondere S. 24 ff. 47 Wandel S. 36 ff.
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 177 als i n der eigenen Ausarbeitung neuer Zielsetzungen" 48 . Es bleibt letzten Endes nur die Nominierung der Kandidaten für die Ämter. Wäre diese Analyse zutreffend, so vollzöge sich die den Parteien zugeschriebene Funktion der Vermittlung vor allem über Persönlichkeiten. Schlagworte wie „ A u f den Kanzler kommt es an" (CDU) oder „ W i r haben die besseren Männer" (SPD) aus dem Bundestagswahlkampf 1969 deuten i n diese Richtung. Demgegenüber vertritt Sobolewski eine etwas differenziertere Sicht 49 . Er versucht deutlich zu machen, daß weder die Herstellung der Übereinstimmung der Meinung der Wähler m i t der der Gewählten noch die bloße Bestellung der Organwalter eine hinreichende Erfassung der Funktion der Wahl sei. I n der Wahl werde die Partei gewählt, deren Parteiprogramm Elemente größerer Ähnlichkeit m i t den Annahmen der Mehrheit der Wähler habe, als die Programme anderer Parteien. Die Funktion der Wahl könne daher bestimmt werden „as the establishing between the attitudes of the electorate's majority and the programme of the governing party, the highest possible similarity" 5 0 . Schon früher hatte Sobolewski als Grundlage der Repräsentation die „Angleichung zwischen zwei maßgeblichen Einheiten" bezeichnet, die i n einem Prozeß erfolge 51 . Dieser Prozeß der Angleichung beruhe hinsichtlich des Wählers auf einem Prozeß der Bildung und Veränderung seiner individuellen Meinungen oder Annahmen durch Integration von Meinungen i n kleineren Gruppen, Reduktion von Meinungselementen i n großen Gruppen, Aufnahme von Meinungen von Meinungsführern, Zustimmung zu vorgelegten Programmen, so daß letzten Endes eine „soziale Deformation" der individuellen Meinungen oder Annahmen stattfinde, die es erlaube, eine Gruppenannahme festzustellen 52 . Dieser Prozeß gehe aber auch nach der Wahl weiter, so daß zwischen Regierungen und Regierten eine auf ständiger Korrelation beruhende Angleichung herbeigeführt werden müsse. A u f seiten der Regierenden werde die Angleichung durch den Zwang, sich wieder zur Wahl zu stellen, durch sonstigen politischen Druck u. ä. erreicht 53 . Es gebe Faktoren, die einerseits eine gewisse Unabhängigkeit der Partei von den Wählern herbeiführen; andererseits gebe es aber auch Faktoren, die die Parteien an die öffentliche Meinung binden 5 4 . Wenn auch dem Meinungsführer einer Partei eine bedeutende Rolle zukomme, 48
Wandel S. 39. Voters passim; ders.: Electors passim. 50 Voters S. 364. 51 Repräsentation S. 427 ff. 52 Voters S. 353 ff. Dieses Abstreifen der individuellen Wünsche und Interessen durch den Wähler in der Wahl zugunsten der Zustimmung zu einem „Komplexprogramm" betont auch Luhmann: Grundrechte S. 150. 53 Repräsentation S. 422 ff. 54 Electors S. 99 ff. 49
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Steiger
178 I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung bei der Integration des Meinungsbildungsprozesses i n der Wahl, so sei doch auch er darauf angewiesen, die Neigungen des Wählers, deren antizipierte Reaktion auf bestimmte Programmpunkte zu bedenken und aufzunehmen. Für keine dieser beiden Theorien von Kirchheimer und Sobolewski zur Wahlfunktion w i r d eine Wahl zu einer A r t plebiszitärer Zustimmung zu Parteiprogrammen seitens der Wähler oder eine Beauftragung der Gewählten zur Durchsetzung bestimmter Interessen. Wenn auch m i t verschiedenen Begründungen gilt für beide, daß die Wähler aus einem sehr abstrakten Bezugsrahmen ihre Stimmen abgeben. Ergebnisse der konkreten Wahlforschung bestätigen, wie unterschiedlich und keineswegs bestimmt konkretisierbar für die durch die Gewählten zu treffenden Entscheidungen die Motivationen der Wähler bei der Stimmabgabe sind 5 5 . Dieser Mangel an Konkretisierung der Entscheidungskriterien durch die Wahl w i r d noch deutlicher i n dem systemtheoretischen Verständnis der Wahl, wie es Niklas Luhmann darlegt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die politische Wahl sich nicht „für den Ausdruck konkreter Interessen, sowenig wie für die Entscheidung konkreter Konflikte" eigne. Zwar bestehe eine Kommunikation zwischen der Interessensphäre des Wählers und der von i h m i n der Wahl gewährten politischen Unterstützung politischer Entscheidungsprogramme, aber sie sei i n hohem Maße gefiltert und daher so abstrakt, daß die Gewählten nicht mehr an konkrete Interessen gebunden seien 56 . Die Funktion der Wahl liegt nach Luhmann darin, Innendifferenzierung des politischen Systems zur Bewältigung hoher Komplexität zu bewirken und zu sichern, indem sie durch ein Verfahren die Rekrutierung der Amtsinhaber und die Unterstützung von Programmen für deren Entscheidungen von der Interessendarstellung geradezu trennt und die Hinnahme der Entscheidungen gerade nicht von der Übereinstimmung m i t den individuellen Interessen, sondern von der Übereinstimmung m i t systeminternen Strukturen abhängig macht 5 7 . Begründet w i r d diese These damit, daß i n einer wegen wachsender Komplexität 55 z. B. Hirsch-Weber-Schütz: Wähler S. 339 ff. für die Bundestagswahl 1953; Blücher: Meinungsbildung für die Bundestagswahl 1961; weitere Hinweise bei Luhmann: Legitimation S. 168; Sobolewski: Voters S. 361. Zur Methode der Wahlforschung: Nils Diederich: Empirische Wahlforschung, Konzeptionen und Methoden im internationalen Vergleich, Köln und Opladen 1965. Die Frage der Rationalität der Wahlentscheidung des Wählers bleibe dabei dahingestellt. Mehr als Forderung denn als Beschreibung der Wirklichkeit hat Flohr (Parteiprogramme S. 21 ff.) diese Frage erörtert. Luhmann (Grundrechte S. 157), Habermas (Strukturwandel S. 231 ff.) u. a. haben dies Problem vorsichtiger beurteilt und das Bild des 19. Jhs. vom rational kritischen Wähler als nicht der Wirklichkeit entsprechend bezeichnet. Hingegen bejaht Sobolewski (Electors S. 103) im Anschluß an Forschungen von S. M. Lipset einen gewissen Grad an Rationialität in dem Verhalten der Wähler. 56 Legitimation S. 164 f. 57 Legitimation S. 167 f.; ders.: Grundrechte S. 154.
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 179 funktional differenzierten Gesellschaft die Rolle des Herrschers einerseits nicht mehr an andere Rollen gebunden werden kann, sondern sich verselbständigt 58 , andererseits nur durch Herstellung und Erhaltung unentschiedener widerspruchsreicher innerer Komplexität das System hinreichend variabel auf die gestellten Anforderungen reagieren kann 5 9 . Die Rolle der Parteien i n dem Wahlverfahren sieht Luhmann darin, daß sie unterschiedliche Prämissen künftiger Entscheidungen durch ihre Kandidaten aufstellen 60 , Komplexprogramme anbieten 61 , die Interessen durch Vorselektion, Entschärfung und Ausgleichung amalgamieren, und „nur noch i n Form eines idealen, jedem gefälligen Programms vor den Wähler" bringen 6 2 . Die zusammenraffende und daher notwendig vergröbernde Darstellung der Thesen Luhmanns muß an dieser Stelle genügen. Es kam nur darauf an zu zeigen, daß auch diese Theorie keinen Raum läßt, den Abgeordneten i n seiner Rolle als Parteiangehöriger i m Parteienstaat als Interessenvertreter anzusehen. Er w i r d vielmehr nach Luhmann „ i n die Entscheidungsfreiheit gezwungen", da es an der „Erkennbarkeit der konstituierenden Interessen" fehlt 6 3 . Allerdings, und hier liegt i n der Tat eine Gefahr für das repräsentativ-parlamentarische System, sind Abgeordnete oft i n anderen Rollen, Interessenvertreter, als Angehörige oder Vertreter von Gruppen oder Verbänden. Es entsteht daraus gegebenenfalls ein Rollenkonflikt. I n der Arbeit des Bundestages ist er immer gegeben, wie oben dargelegt; das Durchschlagen der rein partikularen Interessen zu verhindern, ist eine zentrale Funktion der inneren Verfahren des Bundestages. Die drei i m Vorstehenden skizzierten sozialwissenschaftlichen Theorien zur Funktion der Wahl entziehen jeder Deutung der organisationsrechtlichen Funktion der Wahl i m Parteienstaat die reale Basis, die darin einen A k t der unmittelbaren Sachentscheidung über Interessenregelung sehen w i l l . Auch i m Parteienstaat werden durch die Wahl lediglich Amtsinhaber bestellt, denen nur globale abstrakte Unterstützung gewährt wird, denen aber keine Einzelaufträge zur konkreten Interessenbefriedigung seitens der Wähler erteilt werden. Für die Parteien bedeutet das zunächst, 58
Legitimation S. 156 ff.; ders.: Grundrechte S. 146 ff. Legitimation S. 165 und 173; die Bedeutung für die Funktion des freien Mandates bleibt noch zu erörtern, unten S. 190 ff. 60 Legitimation S. 161. 61 Grundrechte S. 150. 62 Legitimation S. 163. 63 Legitimation S. 165. Die Neue Linke sieht darin einen Mangel, weil dadurch die Möglichkeit der Loslösung der Abgeordneten von dem Willen der Massen und die Anlage zur oligarchischen Herrschaft eröffnet ist. Sie verlangt die konkrete aktuelle und potentielle Interessenbindung. Damit ist aber, wie im Zusammenhang mit dem freien Mandat darzulegen ist, ein Ausgleich der Interessen jedenfalls dann unmöglich, wenn sie als antagonistisch verstanden werden. 59
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.3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
daß eine Identität von Volk und Parteien, wie Leibholz sie behauptet, keine Basis i n der Wirklichkeit hat 6 4 . Vielmehr stehen die Parteien dem Volk, dem „Publikum" als eigene Einrichtungen gegenüber. Sie sind, wenn man i n der Dichotomie von Identität und Repräsentation denkt, der letztgenannten zuzuordnen. Es bedeutet weiter, daß, wie immer die Funktion der Wahl i m einzelnen gedeutet wird, die M i t w i r k u n g der Parteien an der politischen Willensbildung sich nicht i n der Vorlage von Wahlprogrammen und der Aufstellung von Kandidaten, die diese vertreten, erschöpfen kann, sondern daß sie über die Wahl hinaus i n die auch nach der Wahl offengebliebene jeweilige staatlich-politische Sachentscheidung hinein wirken müssen 65 . 5. Die rechtssatzmäßig festgelegten Formen der Mitwirkung, also die Eigenzuständigkeiten der Parteien bei der staatlichen Willensbildung betreffen keine Entscheidungen inhaltlicher A r t , sondern nur Fragen der Besetzung der Organe und Verfahrensfragen. E i n Komplex besteht i m Hinblick auf die Wahl zum Abgeordnetenamt, der andere bezüglich der Ausübung des Abgeordnetenamtes. Für die Wahl werden den Parteien Präsentationsrechte eingeräumt 66 , damit verbunden die Aufgabe des Wahlkampfes. Das Parteiengesetz hat i m Hinblick auf die weiteren Funktionen der Parteien die notwendige rechtssatzmäßige Konkretisierung des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG durch Begründung von Zuständigkeiten der Parteien nicht hinreichend erbracht. § 1 ParteienG nennt zwar Aufgaben, aber schon die mangelnde Präzision i m rechtlichen Ausdruck 6 7 , die fehlende Systematisierung 68 machen eine rechtliche Interpretation auf Feststellung einer konkreten formellen Eigenzuständigkeit fast unmöglich 6 9 . 64 Als „fiktiv" hat die Identifizierung von Parteien und Volk bereits Richard Thoma bezeichnet (Das Reich als Demokratie, HdbDtStR Bd. 1 S. 189 Fußnote 5). Auch Müller: Mandat S. 229. 65 Darin liegt die zentrale verfassungsrechtliche Bedeutung der innerparteilichen Demokratie als notwendige Voraussetzung für den demokratischen Charakter der durch die Parteien getragene Mitwirkung am staatlichen Entscheidungsprozeß. Der Staat muß sie deshalb sichern und gewährleisten. 66 Henke: Recht S. 100 ff.; BVerfGE 20,101. 67 Was soll ζ. B. der Satz heißen: „auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen"? Das tut jeder Journalist, jeder Gewerkschaftssekretär, jeder Lobbyist vom Schuhnägelverband bis zu den Kirchen. 68 Wie verhält sich ζ. B. der vorstehende Satz zu dem ihm unmittelbar nachfolgenden: „die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einführen"? M. E. ist das dasselbe. Allerdings ist dieser Satz schon genauer, macht aber den vorhergehenden völlig überflüssig. 69 Die Aufzählung umschließt zwei Gruppen: die erste bezieht sich auf die Bildung der öffentlichen Meinung, bewegt sich also eindeutig im gesellschaftlichen Bereich; die zweite, zu der die genannten zählen, ist auf die staatliche Willensbildung gerichtet. I n keinem Fall werden staatliche Wahrnehmungszuständigkeiten begründet. Wieweit die Bildung der öffentlichen Meinung aus Art. 21 GG folgt, ist schwer abzugrenzen. Parteien als Einrichtungen für politische Bildung fallen nicht ohne weiteres darunter, siehe die Bedenken in „Zum
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat 181 Eine Interpretation des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG muß aus den vorhergehenden Überlegungen zur Funktion der Parteien folgen. Wenn die Parteien an der politischen Willensbildung i m definierten Sinne m i t w i r ken sollen, dann kann sich das, soweit es den staatlichen Bereich der Organe und Ämter angeht, nicht i n der Kandidatenaufstellung für den Bundestag und i n der Führung des Wahlkampfes erschöpfen 70 . Hier haben das Wahlrecht und das Parteiengesetz Regeln getroffen, die die Parteien bevorzugen 71 . Aber ihre Berechtigungen reichen weiter. Die Zuständigkeiten der Organe und Ämter, die die Parteien i n Konkurrenz untereinander zu besetzen haben, sind mittelbar auch ihnen zugewiesen, nicht zur Entscheidung, aber zur inhaltlichen Vorbereitung. Die Gegenstände, die Kompetenzen i m hier verstandenen Sinn, sind auch Inhalt ihrer Eigenzuständigkeiten. A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 GG stehen nicht beziehungslos nebeneinander 72 . Die Organe haben zu entscheiden, die Parteien aber leiten die Entscheidungen inhaltlich an. Das ist mehr als bloßes Beeinflussen. Die Organe entscheiden „ f ü r " den Staat, die Parteien „entscheiden" für die Organwalter. Als Vermittler des Volkswillens zwischen Gesellschaft und Staat, die aber i m gesellschaftlichen, nicht i m staatlich-organisatorischen Bereich wurzeln 7 3 , sind die Parteien m i t der Berechtigung und der Verpflichtung betraut, die Wahrnehmung staatlicher Zuständigkeiten und damit die Ausübung der Staatsgewalt i m hier definierten politischen Bereich inhaltlich, nicht formell anzuleiten, indem sie die von ihnen erarbeiteten Zielvorstellungen über den Gebrauch der Staatsgewalt zum Maßstab staatlicher Willensbildung machen. Der Weg führt vor allem aber nicht ausschließlich über die Fraktionen als parteigebundene Gliederungen des Bundestages 74 . Die Parteien unterscheiden sich damit von den Beliehenen dadurch, daß sie selbst nicht Wahrnehmungszuständigkeiten zur Parteiengesetzentwurf", DöV 1967, S. 256 - 258, Kritische Stellungnahme und Gegenvorschläge von 16 Politologen, Sozialwissenschaftlern und Juristen an der Freien Universität Berlin, S. 256 und die Erwiderung von Scheuner: Entwurf S. 343. Der hier getroffene Vergleich mit der „öffentlichen Aufgabe" der Presse setzt diese allerdings zu hoch an. Ders.: Parteiengesetz S. 90. 70 So aber z.B. das BVerfG (BVerfGE 20 S. 113), worauf es seine Entscheidung für die Erstattung der Wahlkampf kosten stützt. 71 Auf die Regeln des Verfahrens kann hier nicht näher eingegangen werden. Aber da die Kandidatenaufstellungen nicht nur personell, sondern auch sachlich wichtige Vorentscheidungen darstellen, ist dem Verfahren besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zur Problematik neuestens: Schröder: Kandidatenaufstellung. 72 Menger: Stellung S. 159: „Art. 20 Abs. 2 GG findet seine ergänzende Interpretation durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1." 73 BVerfGE 20, 100 f.; Henke: Recht S. 80 ff.; Hesse (Stellung S. 34) hält die Einfügung in die staatliche Organisation sogar für unvereinbar mit Art. 21 GG. Siehe dazu den Text. 74 Dazu unten S. 135 ff.
182 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung Ausübung von Staatsgewalt innehaben, was den Begriff des Beliehenen ausmacht 75 . Daher ist Mengers Definition der Parteien als Beliehene, i n der i h m v. d. Heydte folgt 7 6 , nicht zutreffend. Denn kein von den Parteien gesetzter A k t , schon gar nicht die Kandidatenaufstellung, w i r d der Bundesrepublik zugerechnet, wie die Parteien aus eben diesem Grunde auch nicht Organe sein können. Die Parteien könnten i n Anlehnung an Forsthoff als Funktionsträger bezeichnet werden 7 7 . Böckenförde hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß zur staatlichen Organisation auch solche Einrichtungen gehören, die nicht nur Zuständigkeiten m i t rechtlich erheblichen W i r k u n gen haben, wie ζ. B. Beiräte u. ä. 78 . Entscheidend sei die Zusammenfassung von Aufgaben, Befugnissen und Personen innerhalb der Organisation. Solche allerdings aus dem gesellschaftlichen Bereich herkommenden Handlungseinheiten sind auch die Parteien. Sie haben die Aufgabe, an der staatlichen politischen Willensbildung mitzuwirken; sie haben die Befugnisse, Kandidaten für die durch Wahl zu bestellenden staatlichen Organe zu nominieren und die Willensbildung dieser staatlichen Organe inhaltlich anzuleiten; sie sind Personeneinheiten. Da die Parteien aber anders als die Beiräte i n der Gegenwart noch Privatrechtssubjekte sind, werden sie nicht als staatliche Funktionsträger, sondern als „Betraute" bezeichnet. Ganz aus der staatlichen Organisation sind sie nicht herausgehalten, wie Hesse es anstrebt. Sie haben i n ihr eine Funktion. Gerade darin ist der Sinn des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG zu sehen. Auch andere Kräfte wirken außerhalb der staatlichen Organisation an der politischen Willensbildung mit, Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeber, Bauern etc. Aber A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG hebt die Parteien heraus, macht sie zu „verfassungsrechtlichen Institutionen", bindet sie damit an die staatlichen Organisation 79 . 6. A n dieser Stelle ist kurz auf das Verhältnis von Parteien und Fraktionen einzugehen. Organisationsrechtlich sind Parteien und Fraktionen 75 Siehe: Terrahe: Beleihung S. 56 ff., insbes.: S. 82 f.; Wolff: Verwaltungsrecht I I , § 104 S. 363 ff. 76 Stellung S. 160, Freiheit der Parteien S. 469 Fußnote 49. Gegen Menger: υ. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 21 Anm. I I 5 b S. 616 f. 77 Forsthoff: Lehrbuchs. 416 ff. 78 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 30. 70 Den Unterschied macht auch Köttgen: Amt S. 148. Er vindiziert den Parteien daher ein „öffentliches Amt", allerdings in seinem, der Funktion entgegengesetzten Sinn. — I n diesem Zusammenhang ist auf die soziologische systemtheoretische Bestimmung hinzuweisen, wie sie sich bei Luhmann findet (Soziologie S. 717 ff.). Nach dieser sind die Parteien der Sphäre der Politik zugeordnet. I n dieser soziologischen Theorie kommt der vermittelnde, aber auch bestimmende Charakter der Parteien deutlich zum Ausdruck. Sie bietet den Ansatz, eine weitergreifende rechtliche Untersuchung über die Stellung der Parteien zu führen, als sie in dem vorliegenden Zusammenhang vorgenommen werden konnte.
§ 8 Das repräsentativ-parlamentarische System und der Parteienstaat streng zu scheiden. Die Fraktionen beruhen auf staatlichen organisatorischen Rechtssätzen, die Parteien hingegen beruhen auf privatrechtlichen Rechtssätzen. Aber auch die die Fraktionen bildenden organisatorischen Rechtssätze gehen davon aus, daß nicht nur die Abgeordneten, sondern die Bundestagsfraktionen selbst gleichzeitig Teile einer Partei sind 8 0 . Denn nur Mitglieder des Bundestages, die einer Partei angehören, können sich ohne Genehmigung des Bundestages zu einer Fraktion zusammenschließen 81 . Die Fraktionen erscheinen also von daher als Vereinigungen von Parteiangehörigen. Es besteht eine vom Organisationsrecht als notwendig vorausgesetzte Bindung der Fraktion an eine Partei, an die das staatliche Organisationsrecht seinerseits Rechtsfolgen für seinen Bereich anknüpft. Ob die Fraktionen nicht nur tatsächliche Teile der Partei, sondern auch rechtlich Einrichtungen der Partei sind, hängt vom jeweiligen innerorganisatorischen Recht der Partei ab, d. h. davon, ob dieses die Fraktion des Bundestages als solche auch m i t innerparteilichen Zuständigkeiten ausstattet. Das braucht jedoch nicht näher untersucht zu werden. Die nicht nur enge, sondern rechtlich sanktionierte Bindung zwischen Parteien und ihren Fraktionen hebt die Selbständigkeit der letztgenannten nicht auf. Denn diese gründet i n ihrer organisationsrechtlichen Stellung als Einrichtungen der staatlichen Organisation. Aber als i n die staatliche Organisation eingefügte Teile der Parteien erfüllen sie deren, i m Vorstehenden erläuterten Funktionen nach A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG. I n den Fraktionen w i r d die Vermittlung der Parteien i m Staat wirksam, w i r d sie von der gesellschaftlichen auf die staatliche Stufe gehoben. Das bedeutet, daß die Fraktionen als solche i m Bundestag vor allem die Funktion der politischen Steuerung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages haben. U m sie erfüllen zu können, haben sie die oben dargelegten Zuständigkeiten zugewiesen erhalten; aber über diese hinaus haben sie einen weiten Raum der Einflußnahmen und M i t wirkung.
80 Die modernen deutschen Parteien waren vor den Fraktionen da. Sie haben sich zuerst gebildet, in den Wahlen um Unterstützung nachgesucht und dann in den Volksvertretungen Einrichtungen parteigebundener Abgeordneter gebildet. I m 19. Jh. hingegen bildeten sich i. a. in den Volksvertretungen Gruppen von Abgeordneten, die dann außerhalb der Volksvertretungen unterstützende Organisationen aufzubauen suchten, wenn sie nicht reine „Parlamentsparteien" blieben. Eine Ausnahme machten vor allem die sozialistischen Parteien. 81 Oben S. 107.
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I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten I . D i e These der Unvereinbarkeit m i t dem Parteienstaat Eine zentrale F u n k t i o n i m repräsentativ-parlamentarischen Regier u n g s s y s t e m des 19. J h d t s . n a h m die I n s t i t u t i o n 1 des f r e i e n M a n d a t e s des A b g e o r d n e t e n ein. Das f r e i e M a n d a t i s t i n A r t . 38 A b s . 1 Satz 2 G G als N o r m i n b e g r i f f 2 auch i n das Grundgesetz a u f g e n o m m e n w o r d e n . Es g e h ö r t i n d e r G e g e n w a r t z u d e n u m s t r i t t e n s t e n E i n r i c h t u n g e n des Verfassungsrechts. Jedoch w u r d e die D i s k u s s i o n b i s v o r k u r z e m u n t e r d e m z u engen B l i c k w i n k e l seiner verfassungsrechtlichen W i r k l i c h k e i t i m P a r t e i e n s t a a t geführt 3. A l s B e s t a n d t e i l des „gesicherten ideologischen Bestands des V e r f a s sungsrechts d e r l i b e r a l e n D e m o k r a t i e " v e r o r t e t , w i r d es i n d e n oben d a r gelegten R e p r ä s e n t a t i o n s t h e o r i e n d e r R e p r ä s e n t a t i o n als „Schlüsselb e g r i f f " zugeordnet. N u r i n d e r U n a b h ä n g i g k e i t k a n n sich die W ü r d e , d e r W e r t des a r i s t o k r a t i s c h e n R e p r ä s e n t a n t e n e r f ü l l e n u n d z u r G e l t u n g b r i n g e n . Das freie M a n d a t g e r ä t d a m i t n o t w e n d i g i n Gegensatz z u m P a r t e i e n s t a a t , d e r s o w o h l f ü r S c h m i t t w i e f ü r L e i b h o l z u n d l e t z t e n Endes w o h l auch f ü r das Bundesverfassungsgericht auf I d e n t i t ä t b z w . I d e n t i f i k a t i o n , n i c h t aber a u f R e p r ä s e n t a t i o n b e r u h t , w i e d a r g e t a n w u r d e . Jede 1
Zum Begriff Steiger: Institutionalisierung S. 105 ff. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist ein Normeninbegriff, da er drei verschiedene normative Aussagen enthält, die einen zwar auf die gleichen Funktionen gerichteten aber durchaus unterschiedlichen normativen Gehalt haben. 3 Gegen die Vereinbarkeit von freiem Mandat und Parteienstaat vor allem Leibholz: Wesen S. 236 ff., Parteienstaat S. 254 ff., Stellung S. C. 7; Schmitt: Verfassungslehre S. 219; BVerfGE 2, 72 f.; für die Vereinbarkeit bereits G. Jellinek: Staatslehre S. 584; Friesenhahn: Parlament S. 22; Bermbach: Probleme. — Gegen diesen: Lenz: Freiheit (Aus der Praxis des Bundestagsabgeordneten) und G. Trautmann: Parteienstaat; weitere Stimmen bei Müller: Mandat S. 9 Fußnote 25 2. Absatz. Allerdings bleibt die Funktion des freien Mandates bei der letztgenannten Gruppe von Autoren offen. Die Diskussion belebte sich wieder, als im nds Landtag und im Bundestag durch Fraktionswechsel mehrerer Abgeordneter in den Jahren 1970/1972 die aus den Wahlen hervorgegangenen zahlenmäßigen Relationen der Fraktionen erheblich verändert wurden. I m nds Landtag wurde schließlich die vorzeitige Auflösung notwendig, um die Schwierigkeiten der Mehrheitsbildung zu lösen. I m Bundestag geriet die Regierungsmehrheit aus SPD und F D P in den Verlust der Mehrheit. Es ergab sich daher die Frage, ob und wenn ja, wie im Parteienstaat des repräsentativparlamentarischen Systems der freiwillige Fraktionswechsel mit dem Mandatsverlust verbunden werden sollte. Dafür Kriele: Mandatsverlust I ; ders.: Mandatsverlust I I ; Siegfried: Mandatsverlust; gegen Mandatsverlust: Schröder: Mandatsverlust; ders.: Abhängigkeit; H. Trautmann: Abgeordnetenstatus; Τ satsos: Mandatsverlust; Badura: Bonner Kommentar Art. 38 (Zweitkommen tierung) Anm. 80 ; Säcker ist der Ansicht, Art. 38 I GG widerspreche einem gesetzlich geregelten Mandatsverlust nicht, hält ihn aber nicht für wünschenswert (Mandatsverlust S. 571 f.). 2
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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Bindung i n der Entschließungsfreiheit des Abgeordneten erscheint Leibholz unter dem Blickpunkt der Repräsentation als „capitis diminutio", als Aufhebung der „ Werthaftigkeit" des Repräsentanten, gleichgültig von wem diese Bindungen ausgehen4. Der als moderne Form der unmittelbaren Demokratie vorgestellte, auf Identität beruhende Parteienstaat hingegen kann sich nur i m imperativen Mandat verwirklichen. Denn die Volksvertretung ist nur noch Registrierstelle der i n den Parteien und sonstigen Orts getroffenen Entscheidungen. Die Parteibeauftragten haben nur noch „eine organisatorisch-technische Zwischenstellung zur E r m i t t lung des Parteimehrheitswillens" 5 . Ihnen fehlt jede Legitimität von der Linie der Partei oder Fraktion abzuweichen. Sie sind grundsätzlich fremden Willen unterworfen 6 . Daß diese letzte vorläufig nur theoretische Konsequenz des Parteienstaates auch positiv-rechtlich sanktioniert wird, verhindert lediglich A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der damit zum bloßen Korrektiv des Parteienstaates w i r d 7 , allenfalls noch eine Appellfunktion erhält 8 . Es ist bereits dargelegt worden, daß die These von der Identität von Parteien und Volk ohne Grundlage i n der Wirklichkeit ist. Damit ist aber auch die These über die weitgehende Funktionslosigkeit des freien Mandates i m Parteienstaat zweifelhaft geworden, was wiederum Folgen für die Stellung des Bundestages hat, der nur für eine sehr undifferenzierte Betrachtungsweise nicht mehr Entscheidungs-, sondern nur Registrierstelle ist. Rechtlich-organisatorisch ist er schon deswegen Beschlußorgan, weil die Parteien ihrerseits rechtliche Beschlußzuständigkeiten nicht haben, sondern diese ausschließlich den staatlichen Organen, zu denen der Bundestag gehört, zugewiesen sind 9 . Des weiteren sind die Fraktionen zwar parteimäßig gebunden, aber Organteile des Bundestages. Bei der Entscheidung haben sie meist gegenüber den Parteien den Vorrang 1 0 . Die Tätigkeit der Fraktionen ist aber Teil der Ausübung der Staatsgewalt. Schließlich finden tatsächlich i m Bundestag und seinen Gremien erhebliche Entscheidungsprozesse statt. Das ist i m einzelnen bei der Erörterung 4
Wesen S. 213 f. Leibholz: Wesen S. 226 und Parteienstaat S. 245 f.; ähnlich Schmitt: Verfassungslehre S. 219. 6 Wesen S. 228. 7 Leibholz: Wesen S. 236 f.; BVerfGE 2,72. 8 M i t Recht bezeichnet Draht (Entwicklung S. 261 ff.) das als ein blasses und dürftiges Ergebnis der juristischen Interpretation des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. 9 So auch Müller: Mandat S. 49. 10 So hat ζ. B. Rolf Zundel (Die Erzengel fielen weich, Die Zeit v. 29. M a i 1970, S. 6) für die CDU/CSU-Fraktion behauptet und zu begründen gesucht, daß „jetzt, da die Union von der Regierung ausgeschlossen ist", „sich die Fraktion als aktiver Kern der Partei" empfinde. Gerade gegen diese Tendenz wendet sich aber die positiv vertretene These vom gebundenen Mandat, Bermbach: Probleme S. 361, allerdings unter einschränkenden Voraussetzungen. 5
186 I. 3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung der Zuständigkeiten zu untersuchen 11 . I m vorliegenden Zusammenhang ist der Bezug des freien Mandates der Abgeordneten zur Entscheidungsfunktion des Bundestages nur allgemein zu behandeln. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Repräsentationstheorien von Schmitt und Leibholz keinen Bezug zu der Entscheidungsfunktion des Staates haben. Sie sind nicht dem Handeln, sondern dem Sein, der Existenz zugeordnet. Dies gilt auch für die Deutung des freien Mandates. Chr. Müller hat nun den Bezug von freiem Mandat und Entscheidungsfunktion oder Ausübung der Staatsgewalt hergestellt. Er hat gezeigt, daß es zwar m i t dem repräsentativ-parlamentarischen System des 19. Jhdts. eng verbunden ist, aber nicht nur eine viel längere Geschichte, sondern vor allem eine ganz andere Funktion hat, als Schmitt und Leibholz darlegen 12 . Die ursprüngliche Funktion des freien Mandates, um deretwillen es bereits die englischen Könige mit und die französischen Könige ohne Erfolg durchzusetzen suchten, war organisatorischer A r t . Es ging darum, die Ständeversammlungen durch Freistellung der Mitglieder von den Weisungen und Aufträgen ihrer entsendenden Stände, Gemeinde u. ä. zu befähigen, unter Inanspruchnahme einer plena potestas für das ganze Reich bindende Beschlüsse zu fassen, die Ständeversammlungen also als universell kompetente beschließende Körperschaften zu konstituieren. M i t dem Erstarken derselben und deren Streben nach einer politisch führenden Rolle wurde das freie Mandat zur funktionellen Notwendigkeit auch von der Seite der Ständeversammlungen her 1 8 . „Repräsentation" bezeichnete i n der frühen staatsrechtlichen Theorie und Praxis eindeutig eine juristische Form der Vertretung i n der Entscheidung 14 . Der von Müller eingehend belegten und analysierten Entwicklung braucht i m einzelnen nicht nachgegangen zu werden. Bereits Georg Jellinek hatte die organisatorische Funktion der Beseitigung der Instruktionen hervorgehoben 15 . Die Erörterungen von Müller machen deutlich, daß der Zugang zur rechtlichen Funktion des freien Mandates i m Parteienstaat auf anderen als den von Leibholz u. a. gegangenen Wegen gesucht werden muß. Auch dafür ist der Bezugspunkt die staatliche Entscheidungsfunktion oder die Ausübung der Staatsgewalt. Es besteht eine organisatorische und eine kommunikative Funktion des freien Mandates, die sich zwar ergänzen und i n Wechselwirkung stehen, aber doch getrennt zu behandeln sind. 11
Für die Regierungsbildung unten § 16. Müller: Mandat durchgehend. 18 Müller: Mandat S. 206 ff. 14 Mandat S. 125 ff. Von einem modernen Verständnis her ist es allerdings nicht „Repräsentation", sondern „Organschaft", Wolff: Theorie S. 91, 308 und 312; Pollmann: Repräsentation S. 88 ff. 15 Staatslehre S. 572 f. 12
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Bevor i m weiteren diese Funktionen näher erörtert werden, ist auf das Verhältnis dieser Überlegungen zur staatsrechtlichen Theorie der Repräsentation einzugehen. Beide haben denselben Gegenstand, das Verhältnis der Wähler und der Gewählten zueinander. Schon bei den Erörterungen des Verhältnisses des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems zur Demokratie einerseits und zum Parteienstaat und dam i t verbunden der Wahlfunktion andererseits war daher von staatsrechtlichen Repräsentationstheorien der Rede. Dabei ist darauf hingewiesen worden, daß die dort dargestellten Theorien das uns interessierende Problem des Funktionierens des staatlichen Entscheidungsprozesses als eines Handlungsvorgangs außer sich lassen. Das gilt auch für andere ältere Repräsentationstheorien 16 . Zwar hat sich i n den neueren staatsrechtlichen und sozialwissenschaftlichen Theorien zur Repräsentation eine andere Auffassung durchgesetzt, die darin ihren Ausdruck findet, daß Repräsentation als „Weg" oder „Prozeß" gedeutet w i r d 1 7 . Aber gerade diese grundlegende Differenz zwischen den Theorien der Repräsentation, die i m übrigen von vielen anderen Differenzen i n anderen wesentlichen Punkten ergänzt wird, läßt es, u m Mißverständnisse zu vermeiden, geraten erscheinen, nicht von der einen oder der anderen Theorie der Repräsentation her das Verhältnis von Wähler und Gewählten zu erörtern. Vielmehr ist zur Erhellung desselben der Zugang über die Einzelelemente des Verhältnisses zu suchen, wie es oben bereits bezüglich der Vermittlungsfunktion der Parteien und i n dem Zusammenhang damit für die Wahlfunktion geschehen ist und auch zu klareren Ergebnissen geführt hat. Das schließt nicht aus, daß Ergebnisse und Einsichten der Repräsentationslehren, insbesondere der neueren sozialwissenschaftlichen Forschungen aufgegriffen und i n die nachfolgenden Überlegungen eingefügt werden. U m Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal betont, daß die Funktionen des Normeninbegriffs „freies Mandat des Abgeordneten" als rechtliche, nicht als soziale Funktionen, also als normative, nicht als seinsmäßige verstanden werden. Wenn auch die Entscheidungsprozesse selbst sich i m sozialen Bereich vollziehen, so müssen diese Prozesse doch geregelt, normiert werden, müssen die Verhaltensweisen der Entscheidenden verbindlich motiviert werden. U m festzustellen, ob der Norminbegriff „freies Mandat" die genannten beiden Funktionen erfüllt, ob also das Verfassungsrecht zur Verfassungsrechtswirklichkeit i m oben 18 erörterten Sinn werden kann, ist es jedoch notwendig, die dem sozialen 18 Wolff (Theorie S. 75) „Die Repräsentation hat darum trotz aller ,Dynamik* »etwas Existenzielles', d. h. sie gehört ,in die Welt des Seins, nicht in die des Handelns", im Anschluß an Emil Gerber. 17 Krüger: Staatslehre S. 238 ff.; Drath: Entwicklung S. 266 ff.; Pollmann: Repräsentation S. 40 ff.; Sobolewski: Repräsentation S. 429; Müller: Mandat S. 223 ff.
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S. 9 ff.
188 I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung Bereich zugehörenden Entscheidungsprozesse jedenfalls i n ihren Grundzügen selbst zu erfassen zu suchen. Dazu w i r d auf die sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zurückgegriffen, ohne daß es allerdings dem Juristen zukäme, diese Ergebnisse kritisch zu analysieren. Er kann diese Ergebnisse nur als Daten hinnehmen. I I . Die Funktionen des freien Mandates im einzelnen 1. Chr. Müller hat die organisatorische Funktion des freien Mandates des Abgeordneten ziemlich genau bezeichnet, wenn er schreibt: „Die Norm vom freien Mandat ist der gezielte regulierende Eingriff, der repräsentative Beschlußfunktionen möglich machen oder erleichtern soll 1 9 ." Das imperative Mandat der Mitglieder eines kollegialen Beschlußkörpers hingegen verhindert Entscheidungen desselben. Es ist ein M i t t e l der Obstruktion; denn es verhindert den notwendigen Kompromiß, der jedem Beschluß des Bundestages zugrundeliegt. M i t imperativen Mandaten lassen sich allenfalls vertragliche Abmachungen konsentieren, nicht aber Abstimmungen auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen organisieren. Der Bundestag steht, wie schon die bloße Aufzählung der Zuständigkeiten gezeigt hat, i m Zentrum der rechtlich organisierten Ausübung der Staatsgewalt. Die Funktionserweiterung und -Veränderung der Volksvertretung hat einen Wandel i n der Stellung der Volksvertretung gegenüber dem 19. Jhdt. zur Folge. Vom „Organ der Beherrschten gegenüber dem Herrscher" (v. Seydel), vom auf reagierende Zustimmung zu den Akten der Staatsgewalt beschränkten Organ (Laband), ist die Volksvertretung zu einem agierenden, zentralen staatlichen Entscheidungs- und Gestaltungsorgan geworden. Die organisatorische Funktion der Volksvertretung und des freien Mandates ist daher nicht zutreffend zu erfassen, wenn man, wie Carl Schmitt, den Parlamentarismus von „der Beteiligung der Parlamente an der Regierung" losgelöst und von seinen ideellen Prinzipien her erfassen w i l l 2 0 . Wenn auch der frühen liberalen Theorie die Gesetzgebung nicht als Machtausübung erschienen sein mag 2 1 , wie ζ. B. für Sieyès, ihr ging es doch i n der politischen Wirklichkeit u m die Teilnahme an der Regierung i. w. S. Wo die Repräsentativversammlungen 19
Mandat S. 212. Lage S. 41. Nach seiner Meinung habe „die Beteiligung der Volksvertretung an der Regierung, die parlamentarische Regierung, . . . sich als das wichtigste Mittel erwiesen, die Teilung der Gewalten und mit ihr die alte Idee des Parlamentarismus aufzuheben" (S. 62), eines machtlosen Parlamentarismus, der die Entscheidungsgewalt des Monarchen, wie der preußische Verfassungskonflikt gezeigt hat, im wesentlichen unangetastet ließ, sondern nur verbrämte. 21 Zur Kritik an der Methode Schmitts, die Ideen der Vergangenheit mit der Wirklichkeit der Gegenwart zu vergleichen: Müller: Mandat S. 216 ff. 20
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wirklich für die politische Willensbildung Bedeutung erlangten, begnügten sie sich nicht m i t bloßer Zustimmung zur Gesetzgebung des Königs, sondern sie versuchten, die Souveränität wie i n England unter der Formel des „ k i n g i n parliament" und i n Frankreich, wo z. B. Sieyès eine ähnliche Konzeption vertrat 2 2 , an sich zu ziehen. I n Deutschland hingegen blieb es bis 1918 beim monarchischen Prinzip — und bei einem geringen politischen Einfluß der Volksvertretungen i m Sinne eines deliberierenden, aber nicht regierenden Parlamentarismus 23 . Für die Gegenwart der komplexen, hochdifferenzierten industriellen Gesellschaft ist die Gesetzgebung nicht mehr das Ergebnis von Diskussionen um die Wahrheit. Sie ist Entscheidung von Konflikten, Problemen, Interessenlagen, über Zwecksetzungen und Wege zu ihrer Verwirklichung. Darauf ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen 24 . Festzuhalten ist, daß Gesetzgebung Ausübung von Staatsgewalt ist 2 5 . Der Bundestag n i m m t an der tragenden staatlichen Funktion, Entscheidungen zu treffen, nicht nur durch den Gesetzesbeschluß, sondern auch durch die Wahl des Bundeskanzlers und andere Zuständigkeiten, teil. Damit w i r d entgegen der Auffassung von Carl Schmitt gerade die organisationsrechtliche Ausgestaltung der Verbindung des Bundestages m i t der Entscheidungsfunktion zur zentralen Frage. I n diesen Zusammenhang ist das freie Mandat zu stellen. Dabei w i r d davon ausgegangen, daß es zunächst rechtlich bindende Instruktionen der Wähler, d. h. der Konstituenten der Abgeordneten abweisen w i l l 2 6 . Die Parteien sind i n 22
Dazu die oben S. 51 f. zitierte Stelle aus der Hede zum Vetorecht des Königs. 23 Dazu Drath: Entwicklung S. 297 ff.; insbesondere S. 300 ff. Auch diese besondere Lage Deutschlands mag dazu beigetragen haben, den Parlamentarismus nicht in bezug mit der Regierungsfunktion zu sehen. Nach 1918 allerdings ist eine derartige Sicht dem Verdacht ausgesetzt, den Reichstag entgegen der Verfassung auf dem Stand einer Volksvertretung als „denkende", allenfalls korrigierende, nicht aber politisch handelnde Einrichtung im Sinne des deutschen konstitutionellen Staatsrechts zu halten. Die von Schmitt betonte Stellung des Reichspräsidenten, ζ. B. bei der Regierungsbildung (dazu unten S. 218 ff.) ist insofern eine Ergänzung seiner Parlamentarismustheorie. 24 Zum Stand der Diskussion um die Funktion der Gesetzgebung: Werner Krawietz: Zur Kritik am Begriff des Maßnahmegesetzes, DöV 1969, S. 127 - 135. 25 Allerdings wäre es zu undifferenziert, nun Gesetzgebung wieder als Ergebnis von voluntas und auctoritas im Hobbesschen Sinne zu begreifen. Die Alternative veritas-auctoritas ist nicht geeignet, die moderne Rationalität des Entscheidens hinreichend zu erfassen, dazu ζ. B. Dieter Ciaessens: Rationalität revidiert, Politologie und Soziologie: Otto Stammer zum 60. Geburtstag, Köln 1965 S. 6 2 - 7 3 ; auch Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968. 28 I n diesem Sinne ist es neuestens auch wieder in den Hochschulreformbestrebungen aktuell geworden, z. B. § 10 Abs. 3 Verf. Westf. Wilhelms-Universität Münster v. 11. Febr. 1970. Es soll verhindern, daß die Vertreter der Gruppen innerhalb der Universität durch diese Gruppen rechtlich verbindliche Anweisungen erhalten und die Universität als einheitliche Korporation sich in drei bzw. vier Stände auflöst. Auch in den Europäischen Gemein-
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diesem Sinn nicht die Konstituenten der Abgeordneten. Zwar hat das freie Mandat angesichts des oben dargelegten hohen Abstraktionsgrades und der weitgehenden Entdichtung bzw. Filterung i n der Vermittlung von Interessenansprüchen durch die Wahl, die eine klare Interessenformulierung der Wähler gar nicht gestattet, insofern von seiner Problematik einiges verloren 2 7 . Der Abgeordnete hat keine reale Basis, aus der ein Auftrag, eine Weisung, eine Instruktion der Wähler zu erfüllen wäre. Dieser Mangel einer realen Basis für ein imperatives Mandat macht aber die organisationsrechtliche Verankerung des freien Mandates nicht überflüssig. Denn die organisatorische Funktion des freien Mandates besteht nicht so sehr i n einer negativen Abwehr von Instruktionen als vielmehr i n einer positiven Konstituierung von Entscheidungsmöglichkeiten. Der Bundestag als Teil des zur Entscheidung funktionsspezifisch organisierten Staatsapparates muß Ziel- und Zweckkonflikte entscheiden, die i h n i n immer neuen Variationen erreichen. Er muß von spezifischen I n teressen losgelöst entscheiden, u m Interessen abwägen zu können. Er darf nicht nur die lautstark, m i t Gruppendruck vorgetragenen Interessen berücksichtigen, sondern muß geradezu jene Interessen aufnehmen, die nicht aus sich selbst heraus stark genug sind, u m sich durchzusetzen. Er kann nicht nur i m Wahlkampf berührte, sondern er muß täglich neu auftauchende Probleme entscheiden. Bei seinen Entscheidungen kann er, wie Müller zu Recht bemerkt, nicht durch vertragliche Konsensbildung zwischen Unterhändlern, sondern nur durch Durchstimmen m i t dem Stimmzettel, wodurch „sich für die Sachfragen ein Zahlenausdruck finden läßt", zu Ergebnissen kommen 2 8 . Das ist aber nur möglich, wenn nicht m i t jeder Entscheidung eine Vielzahl anderer Probleme und Konflikte aus anderen Bereichen m i t entschieden werden, sondern jedes Problem weitgehend isoliert wird, der Entscheidende nur i n dieser Rolle handelt und der Entscheidungsempfänger nur i n einer bestimmten Rolle betroffen ist. Das bedeutet, daß der Bundestag, u m diese Leistung des Entscheidens erbringen zu können, als Ganzer der Aufrechterhaltung der funktionalen Diffeschaften ist die Weisungsfreiheit der Mitglieder der Kommission von ihren jeweiligen Mitgliedstaaten notwendig, um die Gemeinschaften als Einheiten erscheinen zu lassen. 27 Luhmann (Legitimation S. 165) weist ausdrücklich darauf hin, daß für ein imperatives Mandat seitens der Wähler „die Erkennbarkeit der konstituierenden Interessen" fehle, der Politiker „in die Entscheidungsfreiheit gezwungen" werde, „die Unbestimmtheit seiner Entscheidungssituation... zur Erhaltung der Komplexität des politischen Systems im Wahlverfahren strukturell erzeugt" werde. 28 Mandat S. 215. Allerdings läßt sich nicht übersehen, daß z.B. Gesetzgebung in der Gegenwart tatsächlich auf vertraglicher Konsensbildung unter inner- wie außerparlamentarischen Beteiligten beruhen kann. Die Abstimmung im Bundestag nach der 3. Lesung ist dann nur noch eine formale Registrierung; aber auch hinter den vertraglichen Konsensbildungen steht als Machtmittel das Stimmenpotential der Beteiligten, also die Möglichkeit, durch Abstimmung zu entscheiden.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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renzierung bedarf, wie sie i m Anschluß an Luhmann oben dargestellt wurde. Dem dient das freie Mandat des Abgeordneten letzten Endes über die persönliche Freistellung des einzelnen Abgeordneten von Wählerweisungen hinaus. Das freie Mandat befähigt den einzelnen Abgeordneten, sich aus seinen anderen Rollen zu lösen, sich auf seine Rolle als Amtswalter zu konzentrieren 2 9 und andere Rollenbezüge und insofern sachlich unzulässige Einflußnahmen auf den einzelnen Entscheidungsvorgang abzuwehren. Es geht also weniger darum, „Aufträge und Weisungen" zu bestimmten Sachproblemen abzuwehren, als vielmehr darum, den Entscheidungsprozeß selbst von nicht zur Sache gehörenden Problemen zu entlasten, damit er sachgemäß durchgeführt werden kann, um zu „richtigen" Ergebnissen zu kommen. Das freie Mandat hat insoweit eine umfassendere Funktion erhalten, als es noch i m 19. Jhdt. der Fall war. I n der segmentierenddifferenzierten Gesellschaft des 19. Jhdts. 3 0 hinderte das freie Mandat nicht vielfältige personelle Bindungen. Zwar war ζ. B. das englische Unterhaus keine Ständeversammlung mehr, aber es war doch, schon durch die Rekrutierungsweise der Abgeordneten, selbst noch nach der ersten Wahlreform von 1831 eine auf bestimmte Gesellschaftsschichten begrenzte Volksvertretung 3 1 . Aber nicht nur praktisch, auch theoretisch beruhten die Repräsentativversammlungen gerade nicht auf der Trennung der Rolle des Politikers oder Abgeordneten von anderen Rollen, sondern auf deren Verbindung. Repräsentant war, wer zu den „Besten" gehörte. Er wurde gewählt, w e i l er bereits Repräsentant als öffentliche Persönlichkeit, Träger einer öffentlichen Würde, war, sei es als Gelehrter, als Kaufmann, als Unternehmer u. ä. 32 . Nicht die Wahl machte den Abgeordneten zum Repräsentanten. Das aber gilt für den heutigen A b geordneten. Zwar werden die sonstigen Rollen, Flüchtling, Landwirt, Handwerker, Unternehmer u. ä. m i t bei der Auswahl berücksichtigt. Aber erst die Wahl hebt den Bauer X , den Handwerker Y i n den politischen, öffentlichen Bereich, macht i h n zum „Repräsentanten". Das freie Mandat als Kern des Amtswalterverhältnisses des Abgeordneten verpflichtet nicht nur, sondern berechtigt den Abgeordneten vor allem, sich von jenen Bindungen zu lösen und nicht nach von außen an i h n herangetragenen A n forderungen entscheiden zu müssen. Er ist damit berechtigt, jenen Interessenausgleich wahrzunehmen, die Vermittlung zu leisten, die seines A m tes ist. Indem so der Amtswalter von seinen sonstigen Rollen gelöst wird, 29
Zur Funktion des Amtes in diesem Sinne oben S. 69 f.; Krüger: Staatslehre S. 232 ff., wenn auch in teilweise extremer Formulierung, dazu Dreier: Amt § 7 I I I . 80 Dazu Luhmann: Soziologie S. 719. 31 Dazu Müller: Mandat S. 36. 82 Darauf beruhte dann auch die von Agnoli (Transformation S. 56) behauptete der Repräsentation voraufliegende Interessenidentität.
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w i r d auch die Unabhängigkeit des Bundestages von den Klassen- und anderen Bindungen hergestellt, deren er für seine Entscheidungsfunktion bedarf. Das freie Mandat ist also nicht nur auf den einzelnen Abgeordneten bezogen, auf seine individuelle Unabhängigkeit, nicht einmal i n erster Linie, sondern auf das Organ Bundestag und dessen Unabhängigkeit i n der Entscheidungsfunktion. I n der Terminologie der Systemtheorie ausgedrückt sichert es die funktionale Differenzierung durch Stabilisierung der Systemgrenzen. Die individualistische Betrachtungsweise des freien Mandates i m Hinblick auf den m i t aristokratischen qualitativen Zügen ausgestatteten Repräsentanten verstellt den Blick dafür, daß es u m die Erfüllung der Entscheidungsfunktion der Volksvertretung geht. Der Abgeordnete selbst ist von vornherein durch sein A m t i n den Gesamtzusammenhang der Volksvertretung und ihrer Funktion letztlich eingeordnet. Seine Unabhängigkeit findet daher ihre eigentliche Funktion i n der Unabhängigkeit des Bundestages zur Erfüllung der Entscheidungsfunktion, zur politischen Führung i m Rahmen seiner Zuständigkeiten. 2. Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten ist m i t der organisatorischen, die funktionale Differenzierung rechtlich sichernden Funktion noch nicht erschöpfend erfaßt. Sie bezeichnet nur die eine Seite der Medaille. Oben ist darauf hingewiesen worden, daß das freie Mandat des Abgeordneten ein M i t t e l sei, das die demokratische Staatsform trotz der Trennung von Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt sichern soll 3 3 . Die Wahl schafft nur i n sehr abstrakter Weise eine Legitimation für die Entscheidungen der Gewählten 3 4 . Diese Legitimation aber ist i m die Trägerschaft und die Ausübung der Staatsgewalt organisatorisch trennenden demokratischen Staat eine Notwendigkeit, u m die Annahme oder Anerkennung der Entscheidungen durch die Entscheidungsempfänger zu sichern. Es bedarf, neben der Wahl weiterer Kommunikationsbahnen zwischen Wählern gleich Entscheidungsempfängern und Gewählten gleich Organwaltern. Diese Kommunikationsbahnen zur Legitimation von Entscheidungen offen zu halten, ist die zweite Funktion des freien Mandates 35 . 33 Oben S. 163. I n der Tendenz ähnlich G. Trautmann (Verfassung S. 65 f.), der ihm sogar die „tendenzielle Verwirklichung direkter Demokratie" als Möglichkeit zuspricht. 34 Oben S. 176 ff. 35 Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch andere unmittelbare Entscheidungen des Volkes, wie Volksbegehren und Volksentscheid, Volkswahl des Präsidenten oder des Bundeskanzlers einen ähnlich hohen Grad der Entdichtung und der Filterung der individuellen Meinung enthalten, daß zumindest die beiden Wahlformen kaum einen höheren Grad an Legitimation erbringen. Aber die Volksbegehren zur Schulgesetzgebung in Bayern 1966 haben mit ihrem Ausgang — Kompromiß zwischen den mit sehr unterschiedlichen Vorschlägen in verschiedenen Volksbegehren erfolgreichen Parteien — die Schwierigkeiten deutlich gezeigt. Weitere „plebiszitäre" Elemente bieten also nur einen geringen Ausgleich.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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Der Abgeordnete entscheidet für das ganze Volk, aber nur ein Teil hat i h n nominiert, nur ein Teil i h n gewählt 3 6 . Die Anerkennung der Entscheidungen des Bundestages, der aus lauter solchen individuell bestellten Amtswaltern besteht, setzt eine allgemeine Verbundenheit der Abgeordneten m i t dem Volk voraus. Das Problem bestand bereits i m 19. Jhdt. Jedoch hat es sich gegenüber dem 19. Jhdt. verschoben. Damals wurden Personen gewählt, die schon Repräsentanten waren, also für die Verbundenheit vorausgesetzt und i n der Wahl nur bestätigt wurde. I n der Gegenwart werden die Gewählten erst durch die Wahl zu Repräsentanten; die Verbundenheit ist also zunächst nur sehr abstrakt, fast nur formal. Wolff hat i n einer dreifachen Unterscheidung die Verbundenheit von Wählern und Gewälten (Repräsentierten und Repräsentanten) systematisiert. Er unterscheidet die genuine, auf einer Verbundenheit i n einem allgemein ideellen, werthaften, fast magischen Bereich beruhende Repräsentation; die mediatisierte, auf einer Verbundenheit i n einem konkreten Gruppengeist beruhende Repräsentation; die vulgarisierte, auf einer Verbundenheit i m Willen und i n Interessen beruhende Repräsentation 37 . Hervorzuheben ist bei dieser Unterscheidung, daß Wolff i m Gegensatz zu Schmitt und Leibholz Repräsentation auch auf Grund einer Verbundenheit i m Willen und i n Interessen für möglich hält, die jene Autoren ablehnen 3 8 . N u n ist aber eine wesentliche Schwierigkeit dadurch gegeben, daß diese Verbundenheit nicht von selbst und immer besteht, auch bei der Wahl nicht i n allen Punkten vorausgesetzt werden kann, noch durch die Wahl i n hinreichendem Maße geschaffen wird. Sie kann auch jedenfalls nicht nur durch Parteitagsbeschlüsse hergestellt werden, da diese einerseits selbst oft durch Mehrheitsbeschlüsse von Delegierten und vor allem nur i m Namen eines Teiles derjenigen gefaßt werden, für die der Abgeordnete entscheiden soll, schon nicht für alle Parteiwähler und erst recht nicht für alle Nichtparteiwähler. Damit entfällt das tragende Argument Bermbachs für das gebundene Mandat 3 9 . Es würde, auch unter der Voraussetzung Bermbachs, daß die Basisbeschlüsse und nicht oligarchische Vorstandsbeschlüsse maßgebend sein sollen 40 , nur die Übereinstimmung m i t einer Minderheit sichern, die, wie oben dargelegt 41 , nicht i n allen 36 Diese von kleinen über größere Teileinheiten zum Ganzen aufsteigende Linie übersehen jene, die den Abgeordneten an Basisbeschlüsse der Parteien binden wollen. 37 Wolff : Vertretung S. 46 ff. 38 Oben S. 154 und S. 167. 30 Bermbach: Probleme S. 353 ff. 40 Gerade um das zu sichern, plädiert Stuby (Macht S. 323 f.) für das freie Mandat.
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Oben S. 178.
Steiger
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Fällen die Interessen aller Parteiwähler darstellen, geschweige denn der Nichtparteiwähler. Hinzutritt, daß die Abgeordneten für vier Jahre gewählt sind, i n denen sie ständig neue, i n der Wahl gar nicht bedachte Probleme und daher auch über sie nicht vermittelte Vorstellungen und Interessen zu entscheiden haben 42 . Verbundenheit muß daher i n weitem Maße erst hergestellt werden. Es bedarf daher der ständigen Kommunikation 4 3 . Das freie Mandat eröffnet sie. Denn es erlaubt dem Abgeordneten alles aufzunehmen, was an i h n herangetragen wird, und i n den Entscheidungsprozeß einzuführen 44 . Ein imperatives Mandat würde die Kommunikation ausschließen; denn die Instruktionen liegen fest. Die Kommunikation erfolgt auf verschiedenen Wegen, wie Parteitagsbeschlüsse, Petitionen, Formen der Meinungsäußerungen, Demonstrationen, Vorstelligwerden von Interessentenverbänden, Kampagnen verschiedener A r t u. ä. Es ist nicht nötig, das i m einzelnen näher zu erörtern. Es ist nur notwendig, die allgemeinen Grundzüge kurz darzustellen 45 . Es handelt sich bei der Sinn Vermittlung durch Kommunikation, wie gesagt, um Prozesse. Daher w i r d auch i n der neueren Repräsentationstheorie die Repräsentation als ein Handlungsprozeß begriffen, während die älteren Theorien das gerade ablehnten 46 . Sinn der Kommunikationsprozesse ist, die Richtigkeit der Entscheidungen herbeizuführen 47 . Da „Richtigkeit" ein relativer Begriff ist, anders als Wahrheit, ist der Bezugspunkt anzugeben, i m Hinblick auf den die Entscheidung „richtig" ist. Er liegt i. a. i n der Entscheidung, ζ. B. i m Gesetz selbst, d. h. i n dem Problem, das zu lösen ist, aber durch das Gesetz i n ganz bestimmter Weise gestellt w i r d 4 8 . Allgemeine Maßstäbe finden sich i n den Grundrechten, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den verfassunggestaltenden Grundentscheidungen des Grundgesetzes. Insoweit ist für die politische Einheit eine sehr allgemeine Verbundenheit zwischen Wählern und Gewählten 42 Dieses Problem war ζ. B. in der Frage der Wiederbewaffnung in der ersten Legislaturperiode des Bundestages gegeben. 43 I m großen und ganzen ergänzt diese, konkretisiert gegebenenfalls jedoch nur die grundsätzlich in der Wahl hergestellte Verbundenheit. Es geht also nicht darum, die Zustimmung zu jeder einzelnen Entscheidung durch die Betroffenen zu erreichen. 44 Insofern ist diese Funktion des freien Mandates zu der organisatorischen in gewisser Weise gegenläufig, zielt aber wie jene auf Richtigkeit und damit Anerkennung der Entscheidung. 45 Hier wird wichtig, daß die Parteien zwar ein verfassungsrechtlich privilegierter aber doch nur ein Faktor der gesellschaftlichen Willensbildung sind. Parteitagsbeschlüsse sind nur Element derselben. Ein an diese gebundenes Mandat würde den Abgeordneten von anderen Elementen des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses abschneiden. Dazu auch G. Trautmann: Verfassung S. 65 ff. 46 Oben S. 154 und 167. 47 Krüger (Staatslehre S. 236 ff.) weist zu Recht darauf hin, daß das Richtige für die jeweilige Problemlösung zu suchen und aufzufinden, daß es nicht vorgegeben ist. 48 Krawietz: Recht.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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i n der Bundesrepublik vorgegeben. Aber auch diese allgemeine Grundordnung ist i n hohem Maße interpretationsbedürftig. Ja, gerade über den konkreten Inhalt für ein konkretes Problem muß oft der Konsens, muß die Verbundenheit erst hergestellt werden. Nur i n solch konkreten Problementscheidungen, den konkreten Lösungen konkreter Interessenkonflikte lassen sich jene allgemeinen Grundlagen i n die Wirklichkeit umsetzen. I n weitem Maße ist es der Gesetzgeber selbst, der die Grundentscheidungen i n den Gesetzen erst verdeutlicht und näher festlegt. Er kann sich nicht ohne weiteres darauf verlassen, daß seine „Interpretation" der allgemeinen Grundlagen von den Entscheidungsempfängern als richtig anerkannt wird. Eine Verbundenheit zwischen Wählern und Gewählten i m ideellen, werthaften Bereich genügt daher wegen der Unbestimmtheit und allenfalls folgenlosen Allgemeinheit nicht. Sie muß über die Vorstellungen hinaus i n einer Verbundenheit i n Zwecken, Interessen u. ä. bestehen. Daß diese Verbundenheit immer nur zwischen einem Teil der Wähler und einem Teil der Gewählten besteht, ist irrelevant, da Mehrheit und Minderheit i. a. selbst durch einige Axiome gegenseitigen Verhaltens verbunden sind. Die Kommunikationsprozesse laufen auf verschiedenen Wegen und über verschiedene Stufen. Sie gehen von den Entscheidungsempfängern zu den Entscheidungsgebern, aber auch von diesen zu jenen. Für neu auftauchende Probleme oder für neue Problemlösungen ist die Kommunikation besonders wichtig. Die Entscheidenden suchen vor der Entscheidung Unterstützung durch Kontakte m i t den Sprechern der Interessen, sie beobachten Meinungserhebungen, wie Meinungsäußerungen, sie suchen sie über die Parteien zu erlangen 49 . Kurz, sie berufen sich nicht nur auf die Wahl, sondern wollen und müssen die Verbundenheit jeweils herstellen, soweit sie sie nicht schon von vornherein vorfinden, w e i l sie an sie herangetragenen Forderungen aufnehmen. Zwar kommt es, wie Luhmann zu Recht bemerkt, für die individuelle Anerkennung einer Entscheidung nicht immer auf eine irgendwie geartete persönliche Internalisierung der Entscheidung an 5 0 . Aber die generalisierte Überzeugung, daß die Entscheidungen i m großen und ganzen nicht interessenfremd oder gar interessenkonträr sind, daß das System so organisiert ist, daß die fundamentalen Interessen aller und auch der einzelnen erfüllt werden, w i r d man doch als Grundlage annehmen müssen. Nur dann werden auch einzelne nicht interessenkonforme Entscheidungen anerkannt werden. Aber diese generalisierte Überzeugung stellt sich nicht von selbst her und erhält sich nicht von selbst. Es bedarf der Überzeugung, also der Kommunikation. Dabei kommt es nicht darauf an, eine Deckungsgleichheit von Entscheidungen und Interessenforderungen, 49 50
13*
Luhmann: Legitimation S. 165, Soziologie S. 720. Legitimation S. 167.
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eine photographische Abbildhaftigkeit oder dergleichen zu erreichen. Es soll eine Angleichung durch Vermittlung stattfinden. Sie vollzieht sich einerseits durch die gelieferten Entscheidungen und das Nachsuchen u m Unterstützung, andererseits durch ständige neue Einflußnahmen, die allerdings selbst bereits vermittelt sind. Sobolewski hat, allerdings unter dem unbestimmten Begriff der Repräsentation, den Prozeß der Angleichung von Entscheidungen und Interessenforderungen zur Herstellung der Verbundenheit näher darzustellen versucht 51 . Er wendet sich gegen die herkömmliche Methode, vom Bestehen der Übereinstimmung zwischen Entscheidungen und Interessenforderungen bzw. der öffentlichen Meinung auszugehen. Denn es sei kaum möglich, dieses Bestehen selbst durch einen exakten Vergleich der beiden Elemente der Beziehung festzustellen (428). I n Wirklichkeit handelt es sich nach Sobolewskis Auffassung nicht u m einen Zustand der Übereinstimmung, sondern u m einen Prozeß der Angleichung zwischen politischen Entscheidungen und Meinungen (429). Zwar sei es ein wechselseitiger Prozeß, aber der Haupt-Trend ziele darauf ab, die politischen Entscheidungen der öffentlichen Meinung anzugleichen, nicht umgekehrt (430). Der wechselseitige Prozeß der Angleichung von Entscheidungen und Meinungen findet sowohl hinsichtlich öffentlicher, kollektiver als auch hinsichtlich individueller Meinungen statt (430 f.). Er geht zwischen den Individuen und der regierenden Elite auf direktem, wie auf indirektem Weg über Organisationen, die als Meinungsführer wirken, vor sich (431). Die Meinungen müssen nach Sobolewskis Ansicht hinreichend detailliert sein; die positiven oder negativen Ansichten der jeweils interessierten Gruppe, also auch einer Minderheit des Volkes, zu Zielen und Methoden staatlichen Handelns, gegebenenfalls auch zu speziellen Handlungen, bilden den Gegenstand der Angleichung (432). Auch wo die A n gleichung an die Meinung der Mehrheit erfolgt, ist die Meinung der Minderheit, sind der Protest, die Opposition nicht wirkungslos, sondern beeinflussen die Entscheidung (433). Sobolewski kommt schließlich zu folgendem Ergebnis: „Die Repräsentation kann als Prozeß der Angleichung zwischen zwei maßgeblichen Einheiten definiert werden, die aus einander überschneidenden Elementen bestehen: auf der einen Seite ein bestimmter Teil politischer Entscheidungen, i n erster Linie solche, die sich auf Ziele und Methoden staatlichen Handelns beziehen, ebenso jene, die für die Öffentlichkeit von besonderem Interesse sind; auf der anderen A n sichten und Meinungen, die unter den an diesen Entscheidungen Interessierten vorherrschen, i n erster Linie jedoch Ansichten und Meinungen, die i n der herrschenden Klasse weitverbreitet sind. Die unterste Grenzlinie der Angleichung w i r d von der Beziehung geliefert, die als Toleranzstadium politischen Entscheidungen gegenüber zu definieren wäre, oder, 61
Repräsentation durchgehend, dazu auch Müller: Mandat S. 229 ff.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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anders ausgedrückt, wenn zwischen den beiden Elementen der Repräsentation keine grundsätzlichen oder dauernden Widersprüche evident werden" (434 f.). Für die rechtlich-staatliche Organisation zieht Sobolewski den Schluß, daß es notwendig sei, „ein geeignetes System der Formen und M i t t e l der Korrelation zu errichten und zu bewahren, den Prozeß der Repräsentation i n Fluß zu halten" (437). Er wendet sich ausdrücklich gegen ein imperatives Mandat, u m diesen Prozeß offen zu halten. Wenn auch eine Verpflichtung der Abgeordneten — der regierenden Elite — bestehe, während des ganzen Regierungsprozesses die Angleichung ihrer Entscheidungen an die Meinungen der jeweils Interessierten zu vollziehen, so führe das jedoch gerade nicht zu einem „Mandat", einem „Auftrag". Zwar folge aus dieser Verpflichtung, die Substanz der politischen Entscheidungen der Substanz der Meinungen möglichst weitgehend anzugleichen und nicht dauernd gegen die vorherrschenden Ansichten der Interessierten zu handeln. Aber weil die durch die Wahlen geäußerten Meinungen i n dem ständig zu vollziehenden Angleichungsprozeß gerade keine Priorität haben, könne ein Wählermandat nicht angenommen werden. Zu der A u f gabe der regierenden Elite, die Entscheidungen und Meinungen a b z u gleichen, gehöre zudem, daß die regierende Elite die Meinungen aktiv beeinflusse (438). Die Entscheidenden haben i m übrigen innerhalb der Toleranzgrenze einen freien Spielraum hinsichtlich der Angleichung. Sobolewskis Darlegungen ergeben ein Modell des Prozesses der Herstellung von Verbundenheit durch Angleichung, wodurch eine gewisse Richtigkeit der Entscheidungen und damit ihre Anerkennung durch die Entscheidungsempfänger gesichert werden soll. Das freie Mandat hat darin eine eindeutige Funktion, das oben als kommunikative Funktion bezeichnete Offenhalten der Kommunikationsprozesse. Sobolewski macht zu Recht darauf aufmerksam, daß der Abgeordnete zur Angleichung verpflichtet ist. Insoweit ist das freie Mandat nicht nur eine Berechtigung, sondern auch eine Verpflichtung, auf Meinungen, Vorstellungen, Interessenforderungen einzugehen 52 . Sie gehören i n den Worten des A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu den vom Abgeordneten i m Gewissen zu bedenkenden Umständen, bevor er entscheidet 58 .
52 Eine nicht unwichtige Folgerung zieht Müller (Mandat S. 234). Das freie Mandat dürfe in der Diskussion mit dem Volk, also im Kommunikationsprozeß dem Volk nicht entgegengehalten werden, ihm also unter Hinweis auf das freie Mandat des Abgeordneten keine Äußerungsmöglichkeit abgeschnitten werden. Denn das freie Mandat sei kein Argument im Meinungsbildungsprozeß, sondern Teil der Entscheidungsbefugnis. 53 Die Freiheit von „Aufträgen und Weisungen" wird zwar immer betont; was es mit dem „Gewissen" auf sich hat, bleibt aber im Dunkeln.
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I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung I I I . Freies Mandat und Parteizugehörigkeit des Abgeordneten
1. Die Erörterungen der Funktion der Parteien einerseits und der Funktionen des freien Mandates andererseits lassen nunmehr eine genauere A n t w o r t nach dem Verhältnis von A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG und A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG zu. Die Parteien sind organisatorisch als Betraute i n die Erfüllung der staatlichen Entscheidungsfunktion einbezogen. Ihre Funktion besteht darin, die Entscheidungen vorzubereiten, indem die gesellschaftlichen und individuellen Meinungen und Interessenforderungen ausgeglichen, vermittelt, aufbereitet werden, also Entscheidungskriterien zu vermitteln und so selbst i m Vermittlungs- oder Repräsentationsprozeß zu stehen. Die Parteien formieren Unterstützung für die Entscheidungsprogramme des Bundestages als staatlichem Organ. Dieser Prozeß setzt sich i n den Fraktionen fort. Diese führen als Organteile des Bundestages einerseits und als Teile der Parteien andererseits die Willens- und Entscheidungsbildung der Abgeordneten fort, führen i n einem oft langwierigen und durchaus kontroversen Prozeß 54 innerhalb der Fraktion einen Ausgleich herbei, i n letzter Instanz auch m i t dem Durchstimmen mittels Stimmzetteln. Da die Fraktionen Teile des Bundestages sind, gehört das bereits zu der i n dieser Untersuchung immer als Prozeß, als Vorgang angesehenen Willens- und Entscheidungsbildung des Bundestages. Die Vorgänge i n den Fraktionen und Ausschüssen werden i. a. für die staatsrechtliche Untersuchung fälschlicherweise zu strikt von denen i m Plenum getrennt. Eine stufenweise Aufarbeitung von Problementscheidungen bis h i n zur Letztentscheidung, d. h. auch eine Reduktion und Deformation individueller Meinungen der Abgeordneten ist notwendig, u m zu einem Kollegialbeschluß zu kommen. Die Parteien und Fraktionen können ihre nach der Wahl fortdauernde vermittelnde meinungs- und entscheidungsbildende Funktion nur ausüben, i n dem Angleichungsprozeß nur wirksam werden, wenn die Abgeordneten rechtlich i n der Lage sind, die von den Parteien und Fraktionen geleisteten Vermittlungen auch aufzunehmen. Denn nur über die Abgeordneten als die die Entscheidung treffenden Organwalter können die Parteien und Fraktionen ihre Mitwirkungszuständigkeiten i n der staatlichen Entscheidung zu Ende führen. Ein imperatives Mandat würde den Abgeordneten daran hindern. Das freie Mandat des Abgeordneten ist für Parteien damit Voraussetzung ihrer „ M i t w i r k u n g an der politischen W i l lensbildung". Insofern kann Müller die Parteien „fast als Destinatäre des freien Mandates" bezeichnen 55 . 54 Als Beispiel sei auf die Auseinandersetzungen um die Notstandsverfassung in der SPD-Fraktion aber auch — mit umgekehrtem Vorzeichen — in der CDU/CSU-Fraktion im Sommer 1968 hingewiesen.
55
Mandat S. 220.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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Die von den Parteien und i n weit bedeutenderem weil auch konkreterem Umfang von den Fraktionen ausgehenden Einflußnahmen, Stellungnahmen und Entscheidungsempfehlungen für die Abgeordneten können i n keinem Fall den Weisungen und Aufträgen der Wähler, gegen die sich das freie Mandat ursprünglich richtete, gleichgestellt werden. Die von Leibholz u. a. behauptete Identität von Parteien und Volk besteht nicht, so daß eine unmittelbare Gleichsetzung ausgeschlossen ist. Eine analoge Gleichsetzung ist aus den vorgenannten Gründen ausgeschlossen. Die Stellungnahmen und Entscheidungsempfehlungen der Fraktionen haben die Abgeordneten i. a. auch miterarbeitet. Ihre — gegebenenfalls auch ablehnenden — Vorstellungen sind i n der ein oder anderen Form i n die Empfehlung der Fraktion eingegangen. Es ist wiederum Aufgabe der Einzeluntersuchung der Zuständigkeiten des Bundestages, die Vorgänge der Wahrnehmung derselben zu erörtern. Der Abgeordnete übt sein freies Mandat nicht nur i m Plenum des Bundestages, sondern i n allen Gremien aus. Daß sein Freiheitsspielraum dabei allmählich i m Laufe des Entscheidungsprozesses eingeschränkt wird, ist der Zweck des Entscheidungsprozesses. Derartige Einengungen, die nicht nur durch Fraktions-, sondern auch durch Ausschußbeschlüsse und selbst außerhalb des Bundestages sich vollziehende Vorgänge sich ergeben können, die zudem alle wechselseitig aufeinander einwirken, verwandeln das freie Mandat nicht für den Plenumsbeschluß allein i n ein imperatives Mandat. Der einzelne Abgeordnete seinerseits kann auf sich selbst gestellt keine allgemeinen Entscheidungsprogramme entwickeln und durchsetzen. Er hat es auch nie getan. I n jeder Volksvertretung haben sich sofort „Parlamentsparteien" gebildet, wenn sie auch i n ihrer Zusammensetzung stärker fluktuierten als i n der Gegenwart. Das Idealbild des einzelnen i n Diskussion und Argumentation überzeugenden und sich überzeugen lassenden Abgeordneten hat es nie gegeben, vor allem da nicht, wo die Volksvertretung politische Führungsaufgaben besaß 56 . Die Zugehörigkeit zu einer Partei ermöglicht dem Abgeordneten nicht nur Unterstützung zu erhalten, sondern ermöglicht i h m auch, die Verpflichtungen aus dem freien Mandat eher zu erfüllen, als wenn er auf sich allein gestellt wäre. Als Angehöriger einer Fraktion, deren Mehrheitsbeschlüssen er sich fügt, kann er aus Anforderungen etwa des Wahlkreises herauskommen, die anstehenden Sachprobleme von allgemeinen Gesichtspunkten her zu beurteilen. Der einzelne Abgeordnete ist i n der Gegenwart eher Interessenvertreter als der parteigebundene Abgeordnete. Die vom freien Mandat dem Abgeordneten eröffnete Kommunikation w i r d durch die Parteien und Fraktionen entscheidend getragen. 56
Müller: Mandat S. 220.
200 I. 3. Kap. : Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung Nicht nur, u m die M i t w i r k u n g der Parteien an der politischen Willensbildung zu sichern, sondern auch u m dem einzelnen Abgeordneten und dem Organ Bundestag die notwendige Unterstützung für ihre Entscheidungen zu verschaffen, sind die organisationsrechtlichen Verbindungen von Abgeordnetenamt und Partei bzw. Fraktion geschaffen worden. Die Parteizugehörigkeit des Abgeordneten gehört zur Qualifikation des A m tes, wenn auch nicht zur formell notwendigen. Aber den Parteien steht ein führendes Präsentationsrecht für die direkt zu wählenden und ein ausschließliches Präsentationsrecht für die 50 °/o über die Landeslisten zu wählenden Abgeordneten zu, §§ 19, 22, 28 BWahlG 5 7 . Zwar sind die Präsentierten nicht immer, aber fast ausschließlich Parteiangehörige 58 . Das Wahlgesetz setzt die Parteizugehörigkeit i n zwei Fällen, das Parlamentsrecht fast für die ganze Tätigkeit des Abgeordneten voraus. Gem. § 49 BWahlG verliert der Abgeordnete, der einer als verfassungswidrig erklärten Partei angehört, sein Mandat, und gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 BWahlG w i r d bei der Berufung von Listennachfolgern i n vakante Ämter derjenige nicht berücksichtigt, der aus der Partei freiwillig oder durch Ausschluß ausgeschieden ist. Die Geschäftsordnung des Bundestages bindet die Ausübung der Amtsrechte und -pflichten fast immer an Bedingungen, die die Zugehörigkeit zu einer Fraktion notwendig machen. Diese aber ist, wie dargelegt, an die Parteizugehörigkeit gebunden. I n diesen sich wechselseitig bedingenden und organisationsrechtlich teilweise geregelten Zusammenhang von Funktionen des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG und Funktionen des A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Frage nach der Bindung des Abgeordneten an Fraktionsbeschlüsse zu stellen. Die Parteien und Fraktionen haben auf Grund des A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG Anleitungsrechte gegenüber den Abgeordneten als Amtswaltern. Die Fraktionen haben gewisse Rechte, die Ausschüsse des Bundestages personell m i t Abgeordneten zu besetzen. Die Parteien können aber auch die Präsentation eines Abgeordneten für die nächste Wahl verweigern 5 9 , und ganz allgemein den Abgeordneten ausschließen, was meist gleichzeitig Ausschluß aus der Fraktion bedeutet, was wiederum i. a. Verlust des Sitzes i n den Ausschüssen des Bundestages zur Folge hat. Aber letzten Endes beruht die Wirksamkeit der Partei und Fraktion auf der allgemeinen Homogenität der Abgeordneten einer Partei, der fortlaufenden 57 Zur Kandidatenaufstellung Vaerst: Abgeordnetenmandat S. 66 ff. mit Verweisen; Schroeder: Kandidatenaufstellung. 58 Für die 5. Legislaturperiode des Bundestages hatte die SPD einige Kandidaten nominiert, die nicht Parteimitglieder waren. Mehrere sind in den Bundestag eingezogen, die dann als Gäste der SPD-Fraktion angehörten, bzw. der SPD beigetreten sind. I. a. werden aber nur Parteiangehörige aufgestellt, Schroeder: Kandidatenaufstellung S. 56 ff. 59 Das stand ζ. B. für den Abg. Peter Nellen fest, bevor er zur SPD überwechselte.
§ 9 Die Funktion des freien Mandates des Abgeordneten
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Diskussion innerhalb von Partei und Fraktion und der Loyalität. Hinzu kommt andererseits die Wirkungslosigkeit einzelgängerischen Verhaltens. Gegenüber den Anleitungen unterliegt der Abgeordnete einem „Pflichtreflex" der Beachtung 60 . Er macht die Fraktionsdisziplin aus i m Unterschied zum Fraktionszwang. Eine Abweichung von den Anleitungen von Partei und Fraktion muß gerechtfertigt werden an dem Maßstab der Verwirklichung der allgemeinen Zwecke und Ziele. Sie ist nicht der Beliebigkeit überlassen. Die Freistellung des Abgeordneten von Aufträgen und Weisungen gibt keinen Freibrief. Das w i r d i n dem letzten Satzteil des A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG zum Ausdruck gebracht, der Abgeordnete sei nur seinem Gewissen unterworfen. Eine gewisse Analogie zum Richter bietet sich an. Dieser ist zwar unabhängig, aber u m der Funktion seines Amtes willen und nur i m Rahmen dieser Funktion, Recht zu sprechen, so daß er konsequenterweise an Recht und Gesetz gebunden ist. Der Abgeordnete ist ebenfalls unabhängig um der Funktion seines Amtes willen und nur i m Rahmen dieser Funktion, allgemeine Zwecke und Interessen zu setzen und zu verwirklichen, so daß er konsequenterweise regelmäßig die Anleitungen jener beachten muß, denen die entsprechenden Formulierungen obliegen. Die Unabhängigkeit des Richters berechtigt ihn nicht, contra legem zu entscheiden. Die Unabhängigkeit des Abgeordneten verpflichtet ihn, u. U. gegen die A n leitungen seitens der Partei und der Fraktion zu stimmen, wenn er die Funktion seines Amtes nach seiner Gewissensentscheidung nicht anders erfüllen kann 6 1 . Die Unabhängigkeit des Abgeordneten i n seinem A m t gegenüber der Partei ist eine verfassungsrechtlich funktional bedingte. Das Amtswalterverhältnis ist selbst entsprechend gestaltet. Das Recht und die Pflicht, die Organfunktionen zu versehen, ist nicht formell, aber inhaltlich gebunden an die Berechtigungen und Verpflichtungen der Parteien, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, diesen aber nicht unterworfen. 2. Eine i n neuerer Zeit durch zahlreiche Fraktionswechsel i m Bundestag und i n Landtagen wiederbelebte Diskussion hat sich u m die Frage entsponnen, ob für den freiwilligen Fraktionswechsel der Verlust des Mandates gesetzlich vorgesehen werden soll 6 2 . Aus dem Dargelegten kann folgendes gesagt werden. 60
Ähnlich Hauenschild: Wesen S. 181 ff. Verschiedene Autoren setzen das freie Mandat daher ein, um es ihm zu ermöglichen, gegen „oligarchische" Vorstandsbeschlüsse Parteibasisbeschlüsse zu verwirklichen, ζ. B. Stuby: Macht S. 323; G. Trautmann: Verfassung S. 68. 62 Kriele (Mandatsverlust I) hat das ursprünglich nur für den Listenabgeordneten vorgeschlagen, nicht für den Wahlkreisabgeordneten. Gegen diese Unterscheidung: H. Trautmann (Abgeordnetenstatus S. 405 f.), Τ satsos (Mandatsverlust S. 255), die sich i. ü. gegen den Mandatsverlust aussprechen und 61
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.3. Kap.: Das parlamentarische System in der Grundgesetzordnung
Die Frage erscheint nicht als ein Problem des Verhältnisses von A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG und A r t . 21 Abs. 1 Satz 1 GG, d. h. des Verhältnisses von Abgeordneten und Partei 6 3 . Aus dem dargelegten Zusammenhang beider Normen läßt sich sowohl der Amtsverlust wie das Verbleiben i m A m t rechtfertigen; denn beide unterstützen sich gegenseitig. Die Kriterien zur Entscheidung der Frage müssen vielmehr aus dem Verhältnis des Abgeordneten einerseits und der Parteien andererseits zum staatlichen Entscheidungsprozeß gewonnen werden. Die Parteien haben i n den Wahlen eine, wenn auch sehr abstrakte und entdichtete Unterstützung für ihr Programm gewonnen, deren Grad sich i n der Anzahl der gewonnenen m i t ihr angehörenden Abgeordneten besetzten Sitze ausdrückt, und das sie nun i n Entscheidungen umsetzen sollen. Bei einem Parteiwechsel eines Abgeordneten können sie dieses Maß an Zustimmung nicht mehr i n Entscheidungen umsetzen, vor allem wenn durch den Parteienwechsel sich die Mehrheitsverhältnisse i m Bundestag ändern. Der Abgeordnete hat eine durch die Zustimmung zum Programm seiner ursprünglichen Partei vermittelte Verbindung zu den Wählern, die er i n seiner Gewissensentscheidung zu berücksichtigen hat. Zwar machen die Abgeordneten bei ihrem Wechsel i m allgemeinen geltend, die Partei habe ihr Programm, für das sie die Unterstützung erhalten haben, geändert. Aber das läßt sich angesichts der hohen Abstraktion der Unterstützung kaum tatsächlich belegen 64 . Aufgrund derartiger Kriterien läßt sich die Entscheidung der Frage Amtsverlust oder Verbleiben i m A m t nicht entscheiden. Sie muß aus allgemeinen organisationsrechtlichen Gesichtspunkten der Regelung der Entscheidungsfunktion beantwortet werden. Da nun der Abgeordnete i n der bezeichneten Weise an die Partei gebunden ist. die Kriterien seiner Gewissensentscheidung dadurch mitbestimmt sind, kann gesagt werden, daß eine Regelung, die zugunsten der Partei einen Mandatsverlust des die Partei freiwillig wechselnden Listenabgeordneten vorsieht, dem Verfassungsrecht, insbesondere A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG, nicht widersprechen würde 6 5 , von i h m aber nicht zwingend gefordert wird. Aus der gleichen Überlegung kann auch der Amtsverlust der Abgeorneten gerechtfertigt werden, deren Partei für verfassungswidrig erklärt w i r d 6 6 .
Siegfried (Mandatsverlust S. 12), der sich dafür entscheidet. Kriele hat später (Mandatsverlust I I ) die Unterscheidung nicht mehr gemacht. 63 So aber alle oben in Fußnote 3 genannten Autoren. 64 Deshalb dienen der Verlust wie die Beibehaltung des Mandates allenfalls bedingt der innerparteilichen Demokratie. 65 Zu Recht macht Kriele (Mandatsverlust I I ) darauf aufmerksam, daß die freie Gewissensentscheidung nicht sanktionslos zu bleiben brauche, wie sie ja auch in anderen Bereichen persönliche Folgen hat. ββ Zu dem Problem BVerfGE 2, 74; Henke (Recht S. 105 ff.) und Müller (Mandat S. 221 ff.), die beide die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts kritisieren.
ZWEITER T E I L
D i e Rechtsstellung des Bundestages bei der Regierungsbildung
Erstes Kapitel
Die Regierungsbildung in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte § 10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung I. Grundzüge Gem. A r t . 63 GG w i r d der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt und dann vom Bundespräsidenten ernannt. Die Modalitäten der Wahl und der Ernennung sind, wie eingehend darzulegen sein wird, unterschiedlich je nach der Wahlphase, i n der der Wahlgang stattfindet, und je nach der Mehrheit, m i t der die Wahl erfolgt. Aber außer i m Verteidigungsfall gem. A r t . 115 h, Abs. 2 GG ist die Wahl durch den Bundestag nicht ersetzbar. Entsprechend kann gem. A r t . 67, 68 GG kein Bundeskanzler gegen seinen Willen ohne ausdrückliche A b w a h l durch den Bundestag vom Bundespräsidenten entlassen werden. Vorschläge, Legitimitätsreserven bei anderen Organen zu schaffen, sind vom Parlamentarischen Rat ausdrücklich zurückgewiesen worden. Die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag schaltet diesen auch dergestalt i n die Bildung der Bundesregierung ein, daß sie ohne seine M i t w i r k u n g nicht vorgenommen werden kann. Damit ist die Legitimierung des Bundeskanzlers, aber auch der Regierung als Exekutive i m Verhältnis Staatsoberhaupt - Volksvertretung i n der deutschen Verfassungsentwicklung des Zentralstaates neu geordnet und grundlegend verändert worden 1 . Es ist für den deutschen Zentralstaat i n der Entwicklung des Parlamentarismus ein Stadium erreicht, das ich als „positiven" Parlamentarismus bezeichnen möchte. Die Wahl des 1 ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 I I 2: „Der Artikel überträgt, anders als Art. 53 WRV, den entscheidenden Schritt bei der Regierungsbildung, die Wahl des BK, dem Parlament."
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
Bundeskanzlers durch den Bundestag ist die i n der parlamentarischen Demokratie notwendige und rechtfertigende Voraussetzung für das Recht des Bundeskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Wenn diese Befugnis des Bundeskanzlers auch historisch auf die Bismarcksche Reichsverfassung zurückgeht 2 , so ist sie doch i n der Verbindung m i t der Wahl des Kanzlers durch den Bundestag i n ein verändertes Bezugssystem politischer Machtausübung eingeordnet worden. Der Wandel hatte sich schon i n der Weimarer Republik für die Länder ergeben, worauf i n § 1 1 I V einzugehen sein wird. Die erste Stufe des Parlamentarismus kann i n der konstitutionellen Monarchie deutscher Prägung gesehen werden, die i m Rahmen eines auf einer höheren Ebene nicht aufhebbaren, auf den unterschiedlichen Legimitätsgrundlagen des monarchischen Prinzips und der Volkssouveränität beruhenden Dualismus 3 die Regierung eindeutig dem Monarchen zuordnete, aber eine durch die Gegenzeichnungspflicht begründete sanktionslose politische Verantwortlichkeit derselben gegenüber der jeweiligen Volksvertretung begründete 4 . I h r folgte der „negative" Parlamentarismus für das Reich der Weimarer Republik, der einerseits zwar dem nunmehr durch die unmittelbare Volkswahl m i t der gleichen Legitimitätsgrundlage ausgestatteten Staatsoberhaupt das Recht beließ, den Reichskanzler auszuwählen, zu ernennen und zu entlassen, aber andererseits den Bestand der Regierung an das Vertrauen des Reichstages band, indem er diesem das Recht des Mißtrauensvotums gegen den Reichskanzler und die Reichsminister m i t daraus folgender Abgangspflicht derselben gab, die politische Verantwortlichkeit also m i t einer Sanktion versah.
Π . Die Regelung in der Reichsverfassung vom 16.4.1871 und die Praxis I n der konstitutionellen Monarchie war die Regierung personell wie inhaltlich das „eigentliche Reservat" des Monarchen. I n der Reichsverfassung vom 16. A p r i l 1871 wurde i n A r t . 15 dem Kaiser das Recht der Ernennung des Reichskanzlers übertragen, das er auch i n der Praxis bis kurz vor Ende des Kaiserreiches allein und ohne Rücksicht auf die Volksvertretung ausübte, wenn auch ein ständiges Regieren gegen den Reichstag wegen der Gesetzgebungs- und Budgetzuständigkeiten nicht möglich war. Aber es genügte eine wechselnde, nicht geschlossene Majorität i m Reichstag, die auf die Kanzlerbestellung keinerlei Einfluß hatte. Der Kanzler 2
Böckenförde: Organisationsgewalt S. 169. Dazu Böckenförde: Typ, S. 70 - 92. 4 Zum Stellenwert des Art. 17 RV 1871 in der Gesamtverfassung v. Beyme: Regierungssysteme S. 234 ff. 3
§ 10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung
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bedurfte nicht des Vertrauens des Reichstages. Darüber hinaus sah A r t . 9 RV 1871 die Inkompatibilität von Mitgliedschaft i m Bundesrat und Reichstagsmandat und A r t . 21 Abs. 2 RV 1871 die Inkompatibilität von besoldetem Staatsamt und Reichstagsmandat vor 5 . Der einzige Ansatz, eine vom Vertrauen des Reichstages abhängige Regierungsführung des Reichskanzlers zu erreichen, also die Parlamentarisierung m i t dem Bülow-Block einzuleiten, versandete vor allem durch die zögernde Haltung der Parteien i m Reichstag i n der Daily-TelegraphAffaire 6 . Erst 1917/18 gelang der Durchbruch zum ersten Stadium des Parlamentarischen Regierungssystems: der Abhängigkeit der Regierungsführung vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit. Hatte sich seit 19177 ein verstärkter Einfluß der Reichstagsmehrheit auf die Entlassung und Ernennung des Kanzlers bemerkbar gemacht 8 , so wurde durch das Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28.10.1918 9 dem Kaiser zwar die Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers belassen, aber die A b hängigkeit der Regierungsführung des Reichskanzlers vom Vertrauen des Reichstages, das „negative" parlamentarische Regierungssystem verfassungsrechtlich eingeführt. Bei dieser Regelung blieb es unter Ersetzung des Kaisers durch den volksgewählten Reichspräsidenten bis 1933 auch unter der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919.
I I I . Die Regelung in der Reichsverfassung vom 11.8· 1919 1. A r t . 53 WRV wies dem gem. A r t . 41 Abs. 1 WRV vom Volke gewählten Reichspräsidenten das Recht zu, den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister zu ernennen und zu entlassen. A r t . 54 WRV modifizierte dieses Recht des Reichspräsidenten dahin, daß der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung das Vertrauen des 6 Dazu v. Beyme (Regierungssysteme S. 233 f.), der vor allem die schädlichen politischen Wirkungen dieser Vorschrift für die Übernahme des Posten eines Staatssekretärs durch einen Parteiführer hervorhebt. 6 I m einzelnen: v. Beyme: Regierungssysteme S. 248. Immerhin wurde 1910 die Geschäftsordnung dahin geändert, daß bei der Diskussion von Interpellationen billigende oder mißbilligende Anträge gestellt werden konnten, Art. 33 a GORT. Aber beim ersten Versuch im Zabern-Fall wurde der Rücktritt auf eine mißbilligende Resulation des Reichstages von v. Bethman-Hollweg mit dem ausdrücklichen Hinweis abgelehnt, daß der Kaiser allein Ernennung und Entlassung auszusprechen habe, Sten. Ber. der Vhdl. des R T X I I I LP, I. Sess., 1913/14, Bd. 291, S. 2681 f. 7 Zu den Entwicklungen vor 1918 siehe: Bermbach: Vorformen, passim mit weiteren vielfachen Hinweisen; zum Interfraktionellen Ausschuß: MathiasMorsey: [(Ausschuß) und (Regierung)] zur Einführung der parlamentarischen Regierungsweise in Deutschland. 8 Bermbach: Vorformen, insbesondere S. 140 ff.; Mathias-Morsey: Ausschuß S. 213 - 602; v. Beyme: Regierungssysteme S. 252 ff. 9 RGBl 1918, S. 1274, Nr. 2.
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
Reichstages benötigten und jeder zurückzutreten hätte, wenn i h m durch ausdrücklichen Beschluß des Reichstages das Vertrauen entzogen wurde. Der Reichspräsident seinerseits hatte gem. A r t . 25 WRV das Recht, den Reichstag aufzulösen. Maßgebend für diese Regelungen waren die Überlegungen des Staatssekretärs des Innern und Professors für Staatsrecht Hugo Preuß, der den Regierungsentwurf wesentlich beeinflußt hatte. Seine Denkschrift zum Verfassungsgesetz wurde dem Entwurf bei seiner Veröffentlichung als offizielle Begründung mitgegeben 10 . Preuß seinerseits war offenbar durch eine Schrift von Redslob über das parlamentarische System 1 1 beeinflußt, da er teilweise dieselben Ausdrücke und dieselben Argumentationen benutzte 1 2 , obwohl die Reichsverfassung Redslobs Gedankengänge keineswegs einfach i n Normen übertrug, sondern vielmehr nur manches aufgriff. Redslob unterscheidet den wahren und den unechten Parlamentarismus. Wahrer Parlamentarismus ist gegeben, wenn das Staatsoberhaupt das persönliche Recht zur eigenständigen Auswahl der Regierung hat, was notwendig i m Konfliktsfall zwischen Staatsoberhaupt und Parlament ein Auflösungsrecht und einen Appell an das Volk einschließt 13 . Regierung und Parlament werden als Gegenüber i m Gleichgewicht gedacht. Die Achse des Mechanismus ist „die Abhängigkeit beider Faktoren von der Nation, die Notwendigkeit, sich ihrem souveränen Urteil zu beugen und vor ihrem tadelnden Spruch zurückzuweichen" 14 . Jede Krisis findet durch neue Wahlen ihre Lösung. Das Staatsoberhaupt ist „die schöpferische K r a f t des Mechanismus". Es ernennt den Ministerpräsidenten, bei dessen Auswahl es zwar nicht völlig frei, sondern „an den Volksbeschluß gebunden ist, der i n dem Votum der Wähler seinen Ausdruck findet". Aber „es steht i h m zu, die Persönlichkeit zu bestimmen, welche i h m geeignet scheint, eine lebensfähige Regierung zu bilden" 1 5 . Das Staatsoberhaupt hält die Waage des parlamentarischen Systems i n Händen, deren Schalen 10
Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger vom 20. Januar 1919; neu abgedruckt: Preuß: Staat S. 368-394, danach wird zitiert; ähnlich, aber kürzer in der mündlichen Begründung des Entwurfs vor der Nationalversammlung, 14. Sitzg. am 24. 2.1919 zu Weimar, Sten. Ber. S. 284, Staat, Recht und Freiheit S. 394-421, S. 416 ff.; wesentlich grundlegende Gedanken waren enthalten in einer Denkschrift vom Juli/September 1917: Vorschläge, Staat, S.290 - 335. 11 Redslob: Regierung. 12 Zur Geschichte der Regelungen der Weimarer Verfassung: Herrfahrdt: Kabinettsbildung S. 21 ff.; Wertheimer: Einfluß S. 12 ff.; den Einfluß behaupteten auch Lukas: Grundlagen S. 29; Würmeling: Beziehungen S. 347 ff. 13 Siehe neuestens: Haungs: Reichspräsident S. 2 2 - 5 1 ; v. Beyme (Regierungssysteme S. 262 ff.), der auch auf einen Einfluß M a x Webers auf Preuß hinweist (S. 267 L); Redslob: Regierung S. 5. 14 Regierung S. 3. 16 Regierung S. 4 und 5.
§ 10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung
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Regierung und Parlament sind. Durch Entlassung der Regierung oder Auflösung des Parlaments hat es die Übereinstimmung beider m i t dem gegebenen oder vom Präsidenten vermuteten 1 6 Willen des Volkes herzustellen. I n England ist dieses „wahre System" gegeben. I n Frankreich hingegen nicht; zwar schließen sich Republik und parlamentarisches System nicht notwendig aus 1 7 ; aber die Parlaments wähl des Präsidenten und die nach der Niederlage MacMahons 1877 eingetretene tatsächliche Unmöglichkeit, die Kammer aufzulösen, haben Präsident und Regierung der Kammer subordiniert. Das Gleichgewicht ist aufgehoben. Es besteht das „gouvernement d'Assemblée" 18 . Preuß nimmt nun i m Verfassungsentwurf diese Gedankengänge auf. Er erwägt das schweizerische, das amerikanische und das französische System, die er alle ablehnt. Die Direktorialverfassung hält er für einen Großstaat nicht praktisch und angesichts der landsmannschaftlichen, parteimäßigen und konfessionellen Unterschiede i m Reich für undurchführbar, so daß ein Präsident an die Spitze gestellt werden muß 1 9 . Das amerikanische dualistische System sei deswegen nicht annehmbar, weil es zu „einer geistigen Verarmung und Verödung der Volksvertretungen" führe. Die Erfahrung i n Deutschland lehre i m übrigen, daß die Parteien sich dogmatisch verhärten und zersplittern, politisch impotent werden und so ohnmächtig gegenüber der das praktische Leben wirklich bestimmenden Verwaltung seien 20 . Hier taucht ein wesentlicher Gedanke, eine Grundhoffnung von Preuß auf, die seinem Vorschlag vorausgesetzt ist: Daß die Parteien, deren wesentliche Rolle er durchaus erkannte 2 1 , sich aus der dogmatischen Enge, i n die sie i n der Kaiserzeit hineingeraten waren, lösen und die praktischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten zum Maßstab 16
Regierung S. 131 erklärt Redslob das Verhalten MacMahons 1877 für mit dem parlamentarischen System vereinbar. Es sei nicht richtig, die Auflösung auf den Fall der Verkündung durch Staatsoberhaupt und Regierung gegen die Kammer zu beschränken. Das Staatsoberhaupt könne das von der Majorität getragene Kabinett entlassen und ein Konfliktskabinett bilden, um durch die Ausschreibung von Neuwahlen die Probe zu machen, „die zeigen soll, ob die eingesetzten Gewalten sich in Harmonie mit dem souveränen Volk befinden". Dies wird die unter der Weimarer Reichsverfassung herrschende Auffassung werden. 17 Regierung S. 183 f., wenn auch durch die Wahl aller Organe, dem Spezifikum der Republik, „die organische Tendenz, sich unter einem einseitigen Regiment zu constituieren", bestehe. 18 Regierung S. 178 ff.; Redslob scheint sich hier an Duguit anzulehnen, so auch Scheuner: Gestaltungen S. 339 ff., der im übrigen Redslobs Thesen einer eingehenden Kritik unterzieht. Vor allem wendet er sich dagegen, eine Gestaltung als „wahr" und andere Gestaltungen als „unecht" zu bezeichnen; denn nur um eine mögliche Gestaltung handele es sich bei der Redslobschen. Aber auch inhaltlich übersehe sie die Rolle der Parteien und die demgegenüber in Wahrheit schwache Stellung des Staatsoberhauptes. 19 Denkschrift S. 385. 20 Denkschrift S. 385 f. 21 Vorschläge S. 291 - 335, und „Deutsche Demokratisierung", Staat S. 343 ff.
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
ihres politischen Handelns machen müssen 22 . Preuß erhoffte also, was effektiv erst i n den späten fünfziger Jahren m i t dem Godesberger Programm und seinen Folgen eintrat. Da es i n der Weimarer Republik zu dieser praktischen Ausrichtung der politischen Parteien zugunsten einer nach wie vor dogmatischen nicht kam, entbehrte die Konstruktion des Mechanismus einer wesentlichen tatsächlichen Voraussetzung; sie konnte sich i n der Wirklichkeit nicht voll wirksam entfalten, und das Gebäude wankte, bis es zusammenstürzte 23 . I n einer Denkschrift aus dem Jahre 1917, die also vor der Verfassungsänderung vom Oktober 1918 lag und diese m i t vorbereitete, hatte Preuß aus diesem Grunde den Reichstag als noch nicht „ v o l l entwickelt" angesehen. Ein solcher könne noch nicht den „positiven Willen" entwickeln, um eine Regierung aus sich heraus zu bilden. Aber er könne den „negativen Willen" bilden, „daß er eine bestimmte Regierung nicht w i l l " . Werde diesem „Nichtwollen verfassungsrechtlich zwingende K r a f t gegeben, so w i r d dadurch die Entwicklung auch eines positiven Wollens vorbereitet und gefördert" 2 4 . Hier w i r d deutlich, daß der negative Parlamentarismus auch von Preuß als eine Vorstufe des positiven Parlamentarismus angesehen wird, zu dem jener sich entwickeln soll 2 5 . Entscheidet sich Preuß so für das parlamentarische System, so wendet er sich doch m i t fast den gleichen Argumenten wie Redslob gegen den „unechten Parlamentarismus", den das französische System darstelle. „Der echte Parlamentarismus setzt nämlich zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane voraus; unterscheidet sich jedoch vom Dualismus dadurch, daß sie nicht i n unverbundener Gegensätzlichkeit nebeneinanderstehen, sondern daß die parlamentarische Regierung das bewegliche Bindeglied zwischen ihnen bildet. . . . I n der parlamentarischen Demokratie, i n der alle politische Gewalt vom Volksw i l l e n ausgeht, erhält der Präsident die ebenbürtige Stellung neben der vom Volk unmittelbar gewählten Volksvertretung nur, wenn er nicht von 22 Preuß sieht in der Wechselwirkung von Volksvertretung und Regierung gerade ein dringendst notwendiges politisches Erziehungsmittel für die Deutschen, Denkschrift S. 387. 23 I n allen späteren Schriften, siehe unten § 11 Fußnote 9 kommt immer wieder, teilweise fast beschwörend, der Appell an die Parteien, ihre praktische Verantwortung über die dogmatischen Vorstellungen zu stellen, zum Durchbruch, und mit ihm die Sorge um das Werk. Auch andere Autoren, wie Kaufmann, Schmitt, beklagen gerade diese Verhärtung der Parteien zu „festen durchorganisierten Gebilden" (Schmitt), die eine Totalität repräsentieren wollen, die sich nur dadurch tatsächlich relativiert, daß mehrere solcher Totalitäten vorhanden sind Schmitt (Hüter S. 83 ff.). Diese dogmatisch-ideologische Verfestigung wird in der Analyse übereinstimmend als ein wesentlicher Grund des Scheiterns des parlamentarischen Systems in der Weimarer Republik gesehen. 24 Vorschläge zur Abänderung der Reichsverfassung und der Preußischen Verfassung nebst Begründung, Juli/September 1917, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 290 - 335, S. 297. Ähnlich argumentieren einige Abgeordnete der Nationalversammlung bei den Verfassungsberatungen. 25 So auch Haungs: Reichspräsident S. 26.
§ 10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung
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dieser selbst, sondern unmittelbar vom Volk gewählt w i r d 2 6 . " Das aber sei i n Frankreich nicht der Fall, weshalb dort ein unechter Parlamentarismus herrsche, eine „Monokratie des Parlamentes" 27 . Der Reichspräsident soll so vom Volk gewählt sein und dann den Reichskanzler ernennen, i n welcher „wichtigsten selbständigen Funktion" er „seine politische Führerschaft zu bewähren h a t " 2 8 . Für den sonst nicht auszugleichenden politischen Konfliktsfall zwischen Reichspräsident und Reichstag soll durch das Auflösungsrecht der Reichspräsident befugt sein, „Berufung von der Volksvertretung an das Volk selbst einzulegen" 29 . I n der Debatte i m Verfassungsausschuß am 4. A p r i l 1919, 22. Sitzung, erklärte sich Preuß zudem dahin, daß der Reichspräsident auch das Mehrheitskabinett durch ein Minderheitskabinett ersetzen könne, u m m i t diesem dann die Reichstagsauflösung durchzuführen, für die Preuß unbedingt an der Gegenzeichnung gegenüber entgegenstehenden Vorschlägen festhielt. Er bejahte also die Zulässigkeit des Kampfkabinetts gegen die Mehrheit, u m diese i n eine parlamentarische Minderheit zu verwandeln 3 0 . Auch bei Preuß herrscht der Gedanke des Gleichgewichts vor. Es bestand nach seiner Meinung zwischen Präsident und Reichstag, war also gegenüber der Auffassung von Redslob u m eine Nuance verschoben, der das Gleichgewicht zwischen Regierung und Volksvertretung sah. Die Vorschläge von Preuß wurden i n dieser Beziehung fast unverändert Gesetz 31 . I n den Debatten wurde sein Standpunkt weitgehend unterstützt 3 2 . I n Frage war gestellt, ob überhaupt ein Reichspräsident an die Spitze treten sollte oder ein, dann allerdings von der Volksvertretung abhängiges Direktorium. Sehr umkämpft war die Regelung i m Gegensatz 28
Denkschrift S. 387. Denkschrift S. 387, Begründung S. 417. Die gegenwärtigen Darlegungen sollen nur referieren, nicht analysieren und kritisieren. Ob diese Stellungnahme von Redslob und Preuß richtig ist und was sie für das System des Grundgesetzes bedeutet, ist später zu erörtern, unten S. 211 ff. Sie ist aber schon damals nicht unwidersprochen geblieben, siehe z.B. Scheicher: System S. 266; Hoff mann: Stellung S. 260, auch Fußnote 6; Wittmayer: Reichsverfassung S. 310 ff. und 317 ff. 28 Denkschrift S. 388. 29 Denkschrift S. 388. 30 Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reiches, 22. Sitzung, Nachmittagssitzung, 4. April 1919, S. 25. 31 Haungs: Reichspräsident S. 34 ff. 32 Bericht des Abgeordneten Ablaß im Verfassungsausschuß, 22. Sitzung, S. 215 ff. und die daran anschließende Debatte; sowie: Verhandlungen der Nationalversammlung, Sitzg. v. 4. Juli 1919, 46. Sitzg., Bericht des Abg. Dr. v. Delbrück und anschließende Debatte. Insbesondere der Abg. Ablaß nahm, ausgenommen die Gegenzeichnung der Auflösungsorder, die Argumente von Preuß auf. Außer der USPD waren alle Parteien für einen starken Reichspräsidenten, wenn auch, wie die SPD, unter gewissem Zögern. SPD und D D P wollten eher die unmittelbare Volksbeteiligung stärken. 27
14
Steiger
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
zu anderen nicht, nur ein Abgeordneter wies i n der 2. Lesung darauf hin, daß der Reichspräsident bei der Auswahl des Ministeriums nicht direkt an Parteigruppierungen gebunden sein dürfe, sondern einen Überblick über die politischen Köpfe unabhängig von Parteigruppierungen geltend machen müsse 33 . 2. Zwar wurden durch die Regelung der Weimarer Reichs Verfassung der Kanzler und die Regierung aus der reinen Zugehörigkeit zum Bereich des Staatsoberhauptes gelöst und eine gleichzeitige Verbindung zum Bereich der Volksvertretung hergestellt. Vor allem wurde der Dualismus der Legitimitätsgrundlage von Staatsoberhaupt und Volksvertretung aufgehoben, indem beide sie i n der unmittelbaren Volkswahl, also der gleichen Quelle, hatten. Trotzdem blieb ein organisatorischer Dualismus zwischen Reichspräsident und Reichstag bestehen, der sich vor allem i n der Notwendigkeit des Vertrauens beider für den Kanzler äußerte 34 . Der Reichspräsident hatte durch die Zuständigkeiten, den Kanzler zu ernennen und zu entlassen und den Reichstag aufzulösen, sowie die gegen Ende der Republik unmittelbar ohne das vorgesehene Ausführungsgesetz aus A r t . 48 WRV wirksam gewordenen Rechte, insbesondere das Notverordnungsrecht gegenüber dem Reichstag wesentliche Befugnisse des Monarchen behalten. Diese Zuständigkeiten erschienen durch das Erfordernis des Vertrauens des Reichstages für den Kanzler und die Minister gem. A r t . 54 WRV zunächst nur eingeschränkt, nicht aber grundsätzlich verändert. Denn der Reichstag sollte nur abwehren, nicht aber bestimmen können. Der Reichspräsident blieb ausdrücklich nach der Absicht der Verfasser der WRV unabhängig i n der Auswahl der Person des Kanzlers. Zwar ruhte die Legitimation von Reichspräsident und Reichstag auf dem gleichen Boden; aber gerade dadurch war eine Entscheidung zwischen ihnen ohne Appell an das Volk nicht möglich, eine Notwendigkeit, die sich auf die Dauer nicht als das von Redslob und Preuß erhoffte Heilmittel erwies, i m Gegenteil 35 . Wem der 33 Abg. Dr. Quarck (SPD), Sitzung v. 4. Juli 1919,46. Sitzung; Heilfron: Nationalversammlung Bd. 5. v. Beyme (Regierungssysteme S. 275) weist allerdings zu Recht darauf hin, daß in allen Parteien ein „mangelndes Verständnis für die Spielregeln des Parlamentarismus" bestanden habe, der diesen mehr gefährdet habe als die offene Gegnerschaft, Gefahren, die auch Preuß schon gesehen habe und die sich in der Praxis nur zu sehr verwirklichten. 34 Dazu die von Haungs: Reichspräsident S. 28 angeführte Denkschrift von Anschütz. 35 M i t Recht weist Schmitt (Verfassungslehre S. 351) auf die reale politische Unmöglichkeit ständiger Anrufungen des Volkes hin, das seine Führer wähle, damit sie es führen, nicht aber deren Konflikte ständig selbst entscheiden könne. Dieser Appell fiel im übrigen dem Reichspräsidenten wesentlich leichter gegen den Reichstag, als diesem gegen den Präsidenten. I m Gegensatz etwa zu MacMahon brauchte ein unterliegender Reichspräsident nicht zurückzutreten. Der Reichstag hingegen war aufgelöst, wenn sein Antrag, den Reichspräsidenten abzusetzen, nicht die Mehrheit des Volkes fand, Art. 43 Abs. 2 WRV. Der Appell löste also den Konflikt auch nicht ohne weiteres. Er löste ihn schon
§ 10 Kanzlerwahl und Kanzlerernennung
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Kanzler zugehörte, dem Bereich des ihn auswählenden und ernennenden Reichspräsidenten oder dem des i h m das Vertrauen gewährenden Reichstages, war nur konkret i m Einzelfall zu ermitteln. Es war keinesfalls sicher, daß er der Repräsentant der Majorität des Reichstages gegenüber dem Reichspräsidenten war. Oft genug wollte er es nicht einmal sein 36 . Die Regierung war personell wie inhaltlich zwar nicht mehr als Reservat, aber doch noch als Vorrecht des Präsidenten als republikanischem Monarchenersatz angelegt. 3. Die Organisation der Weimarer Reichsverfassung w a r auf ein Gleichgewicht, auf einen Schwebezustand zwischen Staatsoberhaupt und Volksvertretung angelegt. Die Frage war, ob dieser sich verwirklichen ließ, wie sich das Verhältnis zwischen dem Ernennungsrecht des Reichspräsidenten und dem nachfolgenden Vertrauenserfordernis des Reichstages i n der Praxis entwickelte, wie also der organisatorische Dualismus des doppelten Vertrauens funktionieren würde. Die Reichsverfassung nahm die Parteien nicht zur Kenntnis. Würde es ihnen gelingen, das nachfolgende Vertrauenserfordernis des Reichstages für den Kanzler so umzugestalten, daß eine vorhergehende Zustimmung i n der Praxis erforderlich wurde? Das hing bei jeder neuen Kanzlerernennung vor allem von der Geschlossenheit des Reichstages ab. War diese gegeben, so erwies sich die Konstruktion der Verfassung als graues Paragraphengebäude, als zu theoretisch. Der vom Reichstag dem Reichspräsidenten präsentierte Kandidat setzte sich tatsächlich durch. Was Redslob und Preuß als „unechten" Parlamentarismus bezeichnet hatten, erscheint retrospektiv eher als der „echte" Parlamentarismus. Was aber Redslob und Preuß als „echten" Parlamentarismus ansahen, bei Redslob jedoch schon i m Ansatz noch sehr stark der konstitutionellen Monarchie verhaftet war, setzte einen schwachen, zur einheitlichen Willensbildung nur schwer oder gar nicht fähigen Reichstag voraus und erwies sich am Ende als Ansatzpunkt zur Diktatur. Der i n der Verfassung angelegte organisatorische Dualismus von Reichspräsident und Reichstag drängte so oder so zur Entscheidung. Er ließ sich i n der Praxis nicht aufrecht erhalten. Ein Teil der verfassungsrechtlichen Theorie versuchte ebenfalls, i h n zugunsten der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Das Grundgesetz ist i n diesem Punkt von dem Bemühen geprägt, i n seiner Neuregelung, i n der es den Dualismus endgültig zugunsten der Volksvertretung aufhebt, die Folgerungen aus dieser doppelt begründeten Erfahrung zu ziehen. Die Praxis, aber auch die Theorie der Kanzlerbenennung i n der Weimarer Zeit sind daher Voraussetzung für das Verständnis gar nicht, wenn wegen der mangelnden Eindeutigkeit der Fragen die Antwort, d. h. die neuen Mehrheitsverhältnisse nicht eindeutig waren. 86 ζ. B. Cuno, aber auch Brüning. 14·
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I I . 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
d e r grundgesetzlichen R e g e l u n g u n d s o l l e n i m f o l g e n d e n P a r a g r a p h e n k u r z beleuchtet w e r d e n 3 7 .
§ 11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik I . D i e herrschende M e i n u n g i m Schrifttum Es lassen sich d r e i M e i n u n g e n i m verfassungsrechtlichen S c h r i f t t u m z u m V e r h ä l t n i s v o n Reichspräsident u n d Reichstag b e i der B e n e n n u n g des Reichskanzlers u n t e r s c h e i d e n 1 . D i e h. M . l e h n t sich a n die u r s p r ü n g l i c h e K o n z e p t i o n v o n P r e u ß a n u n d z i e l t a u f e i n G l e i c h g e w i c h t zwischen beiden, m i t einer gewissen P r i o r i t ä t des Reichspräsidenten 2 . Diese ä u ß e r t sich v o r a l l e m d a r i n , daß a l l e A u t o r e n d e r h. M . d e r M e i n u n g sind, daß d e r Reichsp r ä s i d e n t u. U . e i n „ K a m p f k a b i n e t t " e r n e n n e n u n d d e n Reichstag a u f lösen k ö n n e , w e n n e i n K o n f l i k t zwischen Reichspräsident u n d Reichstag ü b e r die R e g i e r u n g sonst u n a u s t r a g b a r sei 3 . D e r Reichspräsident habe das Recht, eine R e g i e r u n g aus d e r M i n d e r h e i t des Reichstages gegen die M e h r h e i t desselben z u ernennen, u m m i t d e r e n Gegenzeichnung d e n Reichstag a u f z u l ö s e n u n d so „ d i e M e h r h e i t z u r M i n d e r h e i t u n d die M i n derheit zur M e h r h e i t zu machen"4. 37 Zum Einfluß Weimarer Erfahrungen auf die Ausarbeitung des Bonner Grundgesetzes vor allem: Fromme: Verfassung, auch Glum: Regierungssystem S. 304 ff. 1 Zu den verschiedenen Lehrmeinungen: Wertheimer: Einfluß S. 107-123 und Herrfahrdt: Kabinettsbildung S. 9 - 18; Glum: Regierungssystem S. 183 ff.; Haungs: Reichspräsident S. 43 ff.; Fromme: Verfassung S. 57 ff. Auch v. Beyme (Regierungssysteme S. 276 ff.) geht auf die Publizistik ein, behandelt jedoch nicht die verschiedenen Differenzierungen. 2 Glum (Regierungssystem S. 186) führt sie auf eine „nähere Beschäftigung mit den Gesetzesmaterialien" zurück. 3 Zu Recht bezeichnet v. Beyme (Regierungssysteme S. 835) die Kampfregierung als „einen offenen Affront gegen die parlamentarische Mehrheit". Eine solche Stellung des Staatsoberhauptes ist eher dem Konstitutionalismus als dem Parlamentarismus zugeordnet. 4 Siehe dazu: Revermann: Durchbrechung S. 5 ff., insbesondere S. 9 ff.; Zitate von Anschütz (Kommentar Art. 25 Anm. 8 S. 199), der dieses Recht besonders hervorhebt und begründet. Zum Problem insbesondere auch die Schrift von Wolgast (Kampfregierung), der die Weimarer Verfassung als „ein System demokratischer Selbstkontrolle" begreift (S. 16), wobei über das „Ob des Kontrollfalles der Kontrolleur" entscheidet (S. 18), woraus — seinerseits kontrolliert durch Art. 43 und 59 — das Recht zur Ernennung der Kampfregierung folgt. Wolgast nimmt auch zu der bereits in der Nationalversammlung und der Literatur während der Verfassungsberatung umstrittenen Gegenzeichnung der Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers Stellung, die in Art. 50 WRV zwar vorgeschrieben, aber ohne vernünftigen Sinn sei. Sie ist im Grundgesetz
§11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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D o c h s i n d N u a n c e n feststellbar. So m a c h t P r e u ß eine gewisse W a n d l u n g d u r c h 5 . I n W e i t e r f ü h r u n g seiner B e g r ü n d u n g z u d e m v o n i h m v o r geschlagenen S y s t e m w e i s t er zunächst d e m P r ä s i d e n t e n a u s d r ü c k l i c h als „ w i c h t i g s t e A u f g a b e " zu, eine „ A u s l e s e der z u r F ü h r u n g geeignetsten P e r s ö n l i c h k e i t e n " z u t r e f f e n u n d eine „ k o n t i n g e n t i e r t e V e r t e i l u n g der P o r t e f e u i l l e s u n t e r d e n ( i n e i n e r K o a l i t i o n ) v e r b ü n d e t e n P a r t e i e n " zu v e r h i n dern. E i n e „gewisse F ü h l u n g n a h m e m i t d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n M e h r h e i t " b e i d e r f r e i e n W a h l v o n K a n z l e r u n d M i n i s t e r n h ä l t er w e g e n des E r f o r dernisses des p a r l a m e n t a r i s c h e n V e r t r a u e n s zunächst n u r f ü r „ z w e c k m ä ß i g " . D i e „ l e i t e n d e I n i t i a t i v e b e i d e r K a b i n e t t s b i l d u n g " i s t nach seiner A u f f a s s u n g „ e i n H a u p t g r u n d f ü r die Präsidentschaftsverfassung". W e n n der P r ä s i d e n t sie v e r l i e r t , „ h ä t t e l i e b e r gleich die u n m i t t e l b a r e W a h l des M i n i s t e r i u m s d u r c h d e n Reichstag vorgeschrieben w e r d e n k ö n n e n " 6 . A n dieser n u r d u r c h Z w e c k m ä ß i g k e i t , n i c h t aber d u r c h staatsrechtliche N o t ausdrücklich fallengelassen, siehe daher dazu unten S. 240. Wolgast zieht aber der Kampfregierung sehr enge Grenzen (S. 23 ff.) aus dem reinen Kontrollzweck. Die Präsidialregierung v. Papens wäre dadurch nicht gedeckt gewesen, da nur die Auflösung mit ihr durchgeführt werden dürfe, so daß Wolgasts Thesen denen Herrfahrdts (unten S. 220 ff.) doch entgegenstehen. Weitere Autoren dieser Richtung bei Wertheimer: Einfluß S. 108-111; außerdem noch Meuschel: Regierungsbildung S. 25 und 30, die, was Wertheimer (Einfluß S. 112) in seinem Zitat unterschlägt, ausdrücklich das Einvernehmen von Reichspräsident und Fraktionen fordert. Ähnlich wie Meuschel auch Würmeling (Beziehungen S. 366 ff.), der grundsätzlich ein Zusammenwirken von Reichspräsident und Reichstag fordert, auch ein Lahmlegen des Präsidenten durch den Reichstag für möglich hält, andererseits aber (S. 371), das Recht des Reichspräsidenten bejaht, mit einer Minderheitsregierung als Kampfkabinett den Reichstag aufzulösen. Für das freie Auflösungsrecht auch Scheicher (Auflösung Sp. 887 - 890), der am konkreten Fall der zweimaligen Auflösung durch Ebert und Marx 1924 darlegt, daß gem. Art. 25 W R V nur ein neuer äußerer Anlaß vorliegen müsse, das innere Motiv der Mehrheitssuche aber selbst für die gleiche Regierung bei wiederholter Auflösung nach ergebnisloser erster Auflösung das gleiche sein könne. Ein voraussichtlich ergebnisloser Versuch der Neubildung brauche nicht erst gemacht zu werden. Einen nicht nur organisatorischen, sondern Staatsform-Dualismus sieht Revermann (Durchbrechung) in der Verfassung begründet. Zwei Systeme sind in der Weimarer Verfassung nach seiner Auffassung eingebaut: das parlamentarische für den Regelfall, das présidentielle für den Ausnahmefall (S. 11) begründet in dem gleichen Ursprung der unmittelbaren Volkswahl des Reichstags wie des Reichspräsidenten. I m Regelfall ist das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten rein formal; materiell ist er gebunden, nur Personen des Vertrauens des Reichstags zu ernennen (S. 41). I m Ausnahmefall oder Fall der „demokratischen Selbstkontrolle bei Arbeitsunfähigkeit oder Un Willigkeit des Reichstages durch den Reichspräsidenten erweitern sich die Rechte des Reichspräsidenten, so daß er eine Kampfregierung gegen den Reichstag ernennen kann". Dieser Dualismus der Organisationssysteme steht jedenfalls im Gegensatz zur Preuß'schen Auffassung, der das parlamentarische System gerade dahin definiert, daß es die présidentielle Priorität einschließt, oben S. 207 f. Revermann versucht, mit diesem Staatsform-Dualismus die Kabinettsbildungen von Brüning bis Hitler staatsrechtlich zu beurteilen, ohne aber m. E. wesentliche neue Gesichtspunkte zu finden. 6
So auch Haungs: Reichspräsident S. 50. Sämtliche vorstehenden Zitate aus: Preuß: Staatsumwälzung S. 12; ähnlich: Regierungsbildung, Staat, S. 442 - 446; Reichsverfassung S. 73» 6
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
wendigkeit begründete Rücksicht auf die Meinungen der Fraktionen des Reichstages seitens des Reichspräsidenten hält eine mehr präsidentengeneigte Auffassung i n der h. M. der Literatur fest 7 . Preuß hingegen hat später, wohl auf Grund der sich entwickelnden Praxis, diese sehr freie, nur durch Zweckmäßigkeitserwägungen gebundene Zuständigkeit des Reichspräsidenten i n der Auswahl des Kanzlers eingeschränkt, sie den entsprechenden Zuständigkeiten des englischen Königs verglichen und grundsätzlich nur als formelle Freiheit angesehen8. Den Grund für die tatsächlich stärkere Stellung des Reichspräsidenten sieht er hier vor allem „ i n der Zerfahrenheit unseres Parteiwesens". Die Bildung der Regierung Cuno, die eigentlich der vorher zitierten Stellungnahme entsprochen haben sollte, bezeichnet er als „Anfang eines abschüssigen Weges", w e i l i n ihr offenbar geworden sei, daß auf der Basis der Verfassungsprinzipien zwei sich „als Regierung und Opposition ablösende Parteien oder Koalitionen" nicht bilden ließen 9 , eine wesentliche, von Preuß schon bei der Begründung des Entwurfs gemachte Voraussetzung 10 . Die Parteien sollen die tragende, entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung haben; aber es soll keine unmittelbare Regierung „des Parlamentes oder seiner Fraktionen i n ihrer vielköpfigen U nVerantwortlichkeit", sondern eine Regierung klar verantwortlicher, wenn auch parteigebundener Persönlichkeiten geben. Entsprechend stellt Anschütz fest, daß der Reichspräsident, wenn auch formell frei, „materiell aber durch A r t . 54 WRV gebunden ist, indem Ernennung und Vorschlag sich nur auf solche richten dürfen, von denen bekannt oder den Umständen nach anzunehmen ist, daß der Reichstag ihnen sein Vertrauen nicht versagen w i r d " 1 1 . Allerdings ist nicht ganz eindeutig, was „materiell" hier heißen soll, ob nur politisch oder auch inhaltlich-rechtlich. Die Begründung m i t A r t . 54 WRV und das Wort „dürfen" deuten auf das letzte hin 1 2 . Aber auch Anschütz bestreitet Fraktionen und Reichstag, i m Anschluß an Poetzsch-Heffter, ein Recht, bei der Bildung der Regierung mitzuwirken, sondern sieht i n deren Einflüssen bloße Tatsächlichkeiten. Eindeutiger als Anschütz ist Richard Thoma, der, anders als jener, vor allem die soziologischen Erkenntnisse von der Rolle und Bedeutung 7 So Poetzsch-Heffter: Handkommentar S. 260; Giese: Deutsches Staatsrecht S. 139; ferner die bei Wertheimer: Einfluß S. 113 zitierten Autoren; Apelt (Geschichte S. 204 f.) hält eine Berücksichtigung von Art. 54 W R V für ein Gebot der politischen Klugheit, nicht der statsrechtlichen Notwendigkeit. 8 U m die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924, S. 81. 9 U m die Reichsverfassung S. 81; mit Recht weist Haungs (Reichspräsident S. 303, Fußnote 122 zu S. 50) gegenüber Fraenckel auf diesen wesentlichen Aspekt bei Preuß hin. 10 Siehe oben S. 207 f. 11 Anschütz: Kommentar Art. 53 Anm. 1 S. 313. 12 Zur Kritik an der Unterscheidung formell — materiell: Glum: Regierungssystem S. 187 ff.
§ 11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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der Parteien rechtlich interpretierend und begründend dahingehend verwertet, daß ohne diese der moderne Parlamentarismus nicht bestehen könne. Er erklärt den Reichspräsidenten für rechtlich verpflichtet, nur solche Persönlichkeiten zu Reichskanzlern und Reichsministern zu ernennen, von denen jeweils zu vermuten sei, daß der Reichstag sie nicht alsbald durch Mißtrauensvotum zum Rücktritt nötigen werde 1 3 . Das bedeutet, daß der Reichspräsident den i h m von der Mehrheit präsentierten Kandidaten ernennen muß; allerdings läßt auch Thoma ein freies Auflösungsrecht zu, damit der Reichspräsident sich für seinen Kandidaten eine Mehrheit verschaffen kann 1 4 . Aber letzten Endes überwiegt der Reichstag m i t seinen Mehrheitsverhältnissen. Eine Verantwortlichkeit der Reichsregierung vor dem Reichspräsidenten verneint Thoma 1 5 , anders als Anschütz 16 . Thoma steht der nunmehr zu behandelnden parteigeneigten Mindermeinung sehr nahe, da auch er die Wirklichkeit der Parteien i n das Recht interpretierend mit einbezieht; aber er unterscheidet sich von ihr, indem er A r t . 25 WRV eine inhaltliche Bedeutung beläßt.
I I . Die Mindermeinungen im Schrifttum 1. Indem die h. M. dem Reichspräsidenten i n jedem Fall das Recht zubilligt, gegen eine Mehrheit i m Reichstag eine Kampfregierung zu bilden, u m m i t dieser Auflösung und Neuwahlen durchzuführen und eine neue Mehrheit zu schaffen, unterscheidet sie sich von der Mindermeinung, die A r t . 54 WRV so i n den Vordergrund stellt, daß sie ein Kampfkabinett regelmäßig für unzulässig hält. Diese geht, anders als die h. M., nicht vom Verfassungstext und den Vorstellungen seines Schöpfers Preuß aus, i n die die tatsächlichen Verhältnisse des Parteienstaates selbst bei Thoma nur modifizierend eingebaut werden, sondern nimmt diese zum Anlaß, die Vorschriften der Reichsverfassung als mehr oder weniger theoretisches Paragraphengebäude anzusehen, hinter dem eine ganz andere verfassungsrechtliche Wirklichkeit stehe. Allerdings ist nicht immer eindeutig, ob es sich dabei um Beschreibung politischer Wirklichkeit oder gleichzeitig u m rechtlich-normative Aussagen handelt 1 7 . 18
Thoma: Ordnung S. 505; ähnlich: Meißner: Staatsrecht S. 87. Insofern ist Thoma zwar im Ansatz, vor allem in der unterschiedlichen rechtlichen Bewertung der Parteien, von Anschütz verschieden, steht aber doch nicht in so starkem Gegensatz zu ihm, wie Glum (Regierungssystem S. 195) darstellt. 15 Ordnung S. 507. 16 Kommentar Art. 53, Anm. 6, S. 318, der die Verantwortlichkeit auf die Möglichkeit der Entlassung gründet, was Thoma als Begründung dafür gerade ablehnt. 17 Eine zusammenfassende Darstellung dieser Meinungen bei Glum (Regierungssystem S. 188 ff.), der nicht sieht, daß ein ungelösten Problem bereits im verschiedenen methodischen Ansatz liegt, der für die unterschiedlichen Ergeb14
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
So hat vor allem Glum den Grundsatz betont, die Weimarer Republik sei ein Parteienstaat und hat für die Regierungsbildung die sich daraus ergebende tatsächliche Praxis der Koalitionsbildungen m i t ihren inhaltlichen und personellen Abreden, Bindungen und Abhängigkeiten i n den Vordergrund der Betrachtung gerückt, ohne klarzumachen, ob diese Praxis bloße politische oder inhaltlich-verfassungsrechtliche Praxis w a r 1 8 . Ausdrücklich hat Rothenbücher diese Phänomene als Strukturen der „politischen Stellung" der Regierung unverbunden neben deren rechtliche gestellt 19 . Auch Kaufmann w a r der Ansicht, daß nicht nur Redslobs These, eine „rein formal und juristisch gedachte Konstruktion" sei, die keineswegs dem englischen Verfassungsleben entspräche, von dem sie angeblich abgelesen sei 20 , sondern daß die auf dieser Theorie aufruhende Verfassung nicht geeignet sei, die deutsche Wirklichkeit einzufangen 21 . Das „lebendige Verfassungsrecht" eines demokratischen Staates werde zunächst durch eine machtbewußte parlamentarische Körperschaft und dann durch die Parteien geschaffen und gewandelt. Das Paragraphengebäude der Reichsverfassung sei durch das feste Gefüge und die hermetische Abgeschlossenheit der Fraktionen umgeworfen worden, und diese ließen dem Reichspräsidenten keinen Spielraum für die freie Wahl einer „Persönlichkeit". Koalitionen müßten gebildet, Ministerposten zwischen den Partnern verteilt und die Benennung der Persönlichkeiten dafür diesen überlassen werden. Die Ernennung durch den Reichspräsidenten sei bloß formelle Unterzeichnung einer von den Fraktionen vorgenommenen Bestallung 2 2 . Aber Kaufmann setzt, anders als Glum und Rothenbücher, „lebendiges Verfassungsrecht" gegen das „Paragraphengebäude", ohne daß allerdings das Verhältnis beider ganz klar ist. Die Parteien sind ihm „unheimliche gesellschaftliche Gewalten", die „ i n ihrer durchaus irrationalen K r a f t durch staatlich formulierte abstrakte Normen nicht reguliert werden können". So werden rechtliche Grenzen des Parteihandelns für diese Meinung anders als für Preuß, Anschütz und Thoma nicht formunisse der Interpretation des Verhältnisses von Art. 53 und Art. 54 W R V begründend ist, obwohl Anschütz darauf hingewiesen hatte. 18 Glum: Stellung S. 28 ff. und: Regierungssystem S. 192 ff. Gegen ihn wandte sich Anschütz (Kommentar Art. 53, Anm. 2, S. 313 ff.), der gerade diese Praxis als Tatsächlichkeiten bezeichnete, aus denen kein Recht auf Einflußnahme auf die Regierungsbildung seitens der Fraktionen und Parteien folge. 19 Rothenbücher: Stellung S. 56 f. und insbesondere S. 66 ff. 20 Eine grundsätzliche Kritik dieser These liefert Wittmayer (Reichsverfassung S. 317 f.), der sich vor allem gegen die Unterscheidung von „echtem" und „unechtem" Parlamentarismus wendet, die die „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft" aufgebe, irrational und „aus der Luft gegriffen" sei. 21 Kaufmann: Regierungsbildung S. 374 - 387. 22 So ursprünglich auch Giese: Verfassung, zitiert nach Herrfahrdt: Kabinettsbildung S. 9 ff.
§11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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lierbar. Dem Reichspräsidenten bleibt kein Raum zum selbständigen Handeln. Der Reichstag und seine Fraktionen schreiben i h m sein Handeln vor 2 3 , so daß seine Rechte zu „Scheinrechten" werden. Regierungen „der Köpfe" und dergleichen wie die Cunos tragen „Keime einer i m W i derspruch zur Verfassung stehenden Entwicklung" i n sich 24 . Kampfregierungen zur Reichstagsauflösung sind verfassungswidrig, da für sie eben nicht die Vermutung des Vertrauens aus A r t . 54 WRV zutrifft 2 5 . Die Stellung eines starken Staatshauptes m i t selbständiger politischer Rolle hält Scheuner m i t dem Wesen des Parlamentarismus für i n weitem Umfange unvereinbar 2 6 . Die Parteien haben nach seiner Auffassung die tragende Rolle inne. Das von den Mehrheitsparteien getragene Kabinett führe die Politik. Ein présidentielles Auflösungsrecht scheitere i n Wahrheit daran, daß der Präsident keine eigene politische Autorität habe 27 . Bei der Kabinettsbildung bestehe die Möglichkeit, daß er sich eine gewisse Intiative sichern könne. Aber noch, 1926, habe er auch da keinen Raum gefunden, seine persönlichen Anschauungen geltend zu machen. Über das Normalmaß parlamentarischer Staatshäupter rage der Reichspräsident nicht hinaus. Eigentümlicherweise bemerkt Scheuner aber i n gewissem Widerspruch zu der These auf S. 354, die Tendenz der WRV, das A m t des Reichspräsidenten zu heben, sei zu billigen 2 8 » 2 9 . 2. Dieser Meinung, die i m Parteienstaat nicht nur die tatsächliche politische Wirklichkeit, sondern auch die rechtliche Form des demokratischparlamentarischen Systems der Weimarer Republik mit den angeführten Konsequenzen sieht, steht eine andere, vor allem von Carl Schmitt und Heinrich Herrfahrdt vertretene Auffassung gegenüber, für die — zumindest — der Parteienstaat Weimarer Prägung m i t einem Übergewicht der Fraktionen bzw. Parteien eine Deformation der parlamentarischen Präsidentschaftsrepublik der Weimarer Verfassung darstellt. Sie sieht i m Reichspräsidenten den pouvoir neutre (Schmitt), den unabhängigen Interpreten des Gesamtwohles des Staates (Herrfahrdt) gegenüber den — notwendig partikularen — Parteiinteressen. 23
Glum: Stellung S. 32 f.; Hoff mann, S. 259 ff. Freitag-Loringhoven: Reichsverfassung S. 72 f. und S. 157/58 f. 25 Hoffmann: Stellung S. 271 ; Freitag-Loringhoven (Reichsverfassung S. 104) will sie nur für den Fall zulassen, daß ein neugewählter Reichspräsident eine überlebte, gegen ihn gerichtete Reichstagsmehrheit vorfindet. Wittmayer (Reichsverfassung S. 317 f.) bezeichnet das Auflösungsrecht grundsätzlich als „obrigkeitliches Requisit", das nicht nur nicht funktionsfähig sei, sondern entgegen der These Redslobs im parlamentarischen System nicht mehr beliebig zugelassen sei. 26 Scheuner: Gestaltungen S. 354 ff. 27 Das wurde 1926 geschrieben! 28 Gestaltungen S. 354 ff. 29 Zu den aus dieser Position folgenden Reformvorschlägen u. a. von Hans Kelsen: v. Beyme: Regierungssysteme S. 278 f. 24
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
Schmitt sieht i n der Anlage der Weimarer Verfassung, die insofern das politische System des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates sei, vier Untersysteme des parlamentarischen Systems anerkannt: Das Parlamentssystem i. e. S., i n dem die Mehrheit der gesetzgebenden Körperschaft die politische Leitung hat; das Premierminister-(Kanzler-)System, i n dem der Führer der Parlamentsmehrheit die politische Leitung hat; das Kabinettssystem, i n dem das Kollegium die politische Führung hat; das präsidentielle System, i n welchem das Staatshaupt an der politischen Leitung selbständig beteiligt ist 3 0 . Das auf Repräsentation beruhende parlamentarische System ist für ihn keine Folgerung aus dem auf Identität beruhenden demokratischen Prinzip, mit dem es nur aus der politischen Forderung nach demokratischer Kontrolle der königlichen Regierung i m 19. Jahrhundert verbunden worden sei. Indem aber beide verbunden werden, t r i t t der eigentliche Inhalt des Parlamentarismus zurück, auf Grund öffentlicher Diskussion von Meinungen zum Gesetz als allgemeinem rationellen Satz zu kommen. Es werden i m Parlament vielmehr Kompromisse zwischen den Interessen der Parteien als politischen Machtgruppen i m Hinblick auf die Regierung ausgehandelt. Der Reichspräsident ist durch die Volkswahl, wenn sie den Sinn des A r t . 41 WRV wirklich erfüllt, ein Mann des ganzen Volkes über Parteiorganisation und Parteibürokratie hinweg. Er kann daher nicht politisch bedeutungslos bleiben, sondern w i r d politischer Führer sein, wie es sich aus seinen den Grundgedanken des A r t . 41 WRV entsprechenden Befugnissen ergibt. Ob das möglich ist, zieht Schmitt selbst i n Zweifel. Trotzdem sieht er i m Auflösungsrecht des Reichspräsidenten, als M i t t e l zwischen Regierung und Reichstag an den Schiedsrichter Volk zu appellieren, den „ M i t telpunkt", „eine das ganze System tragende und alle anderen verfassungsgesetzlichen Bestimmungen modifizierende normale Einrichtung" 3 1 . Dabei unterscheidet Schmitt innerhalb der formell immer vom Reichspräsidenten ausgehenden Auflösung materiell eine präsidentielle, u m einen Konflikt zwischen i h m und dem Reichstag, und eine ministerielle, um einen Konflikt zwischen der Regierung und der Reichstagsmehrheit durch das Volk zu entscheiden. Schmitt greift nun einen spezifischen Mißstand des Reichstages, vor allem seit der Niederlage der Weimarer Koalition i n den Wahlen von 1920, auf. I m Reichstag hatten sich zwar immer wieder Mehrheiten gegen eine bestehende Regierung, nicht aber gleicherweise immer positive Mehrheiten für eine neue Regierung gebildet. Zwar war auf Grund der Vermutung für ein bestehendes Vertrauen bis zum ausdrücklichen Miß30 81
Verfassungslehre S. 304 ff. und 340 ff. Verfassungslehre S. 358.
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trauensvotum und der Praxis der Tolerierung einer Minderheitsregierung bis 1931 eine parlamentarische Regierungsweise trotz dieses Mißstandes nicht unmöglich. Aber die ursprüngliche Vorstellung der A b wechslung von Mehrheiten verschiedener Richtungen der i m Reichstag vertretenen Parteien bei der Regierungsbildung war nicht verwirklicht worden. Schmitt kommt i n einer Betrachtung des Parteienstaates der Weimarer Republik zu der Ansicht, es handele sich u m einen „labilen Koalitions-Parteien-Staat", i n dem sich als totale Organisationen verstehende Parteien einen Pluralismus der Treueverpflichtungen und der Legalitätsbegriffe begründen 32 . Die eigentliche Funktion der Parteien, „einen Prozeß des Übergangs und Aufstiegs von egoistischen Interessen und Meinungen auf dem Weg über den Parteiwillen zu einem einheitlichen Staatswillen" zu steuern 33 , erfüllen sie nach Schmitt nicht. Die I n anspruchnahme von Totalität und Legalität durch die vielen Parteien je für sich zerreibe die Legalität, d. h. die Verfassung und den Staat. Die Aufgabe, den Gesetzgebungsstaat über das Parlament zu verwirklichen, könnten sie nicht mehr leisten. Darin fügt sich dann die schon 1928 vertretene These, daß ein Mißtrauensvotum gemäß A r t . 54 WRV dann „ein A k t bloßer Obstruktion" sei, wenn die Motive der es unterstützenden Fraktionen „sich offen widersprechen". „Hier kann die Pflicht zum Rücktritt nicht bestehen, jedenfalls dann nicht, wenn gleichzeitig die A u f lösung des Reichstags angeordnet w i r d 3 4 . " Angesichts der Ansicht über die Gesamtlage des Staates w i r d damit das Mißtrauensvotum, d. h. aber die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Reichstages, de facto aus den Angeln gehoben. Das Recht der Auflösung m i t Gegenzeichnung des alten Reichskanzlers billigt Schmitt dem Reichspräsidenten als ministerielle Auflösung für diesen Fall ausdrücklich zu. Die Rücktrittspflicht w i r d dann bis nach der neuen Wahl verschoben und w i r d nur verwirklicht, wenn auch der neue Reichstag der Regierung das Vertrauen entzieht. Offen aber bleibt, was geschieht, wenn auch diese Mehrheit keine „positive" Mehrheit ist, was ja tatsächlich fast immer der Fall war. I n der Logik der Argumentation läge es, daß der Präsident die Regierung weiterhin hält. Schmitt deutet darüber hinaus an, daß ein ministerielles Auflösungsrecht der gestürzten Regierung „den Fall am besten träfe", daß eine „feste Mehrheit" den Mißtrauensbeschluß trägt, „die bereit ist, ihrerseits m i t erkennbaren poli82
Hüter S. 73 ff., insbes. S. 83 ff. Hüter S. 87. Oben S. 174 ff. ist versucht worden, nicht nur diese These von der Stellung der Parteien aufzustellen und zu begründen, sie liegt Art. 21 GG zugrunde, sondern auf Anzeichen hinzuweisen, die heute eine günstigere Prognose gestatten. Die Parteien in der Bundesrepublik erheben den Totalitätsanspruch nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in dem Maße, abgesehen von den Flügelparteien und -gruppen rechts und links. 88
84
Verfassungslehre S. 345.
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tischen Richtlinien die Regierung zu bilden" 3 5 . Wenn Schmitt auch inhaltlich zwei verschiedene Auflösungen unterscheidet, auch die ministerielle erfolgt doch durch den Präsidenten und ist seinem freien Entschluß anheimgestellt. Er also entscheidet über die „Güte" einer Mehrheit i m Reichstag. Sein Vertrauen zum Kanzler geht vor gegenüber dem des Reichstages. Bedenkt man die beiden letzten Möglichkeiten, so t r i t t A r t . 54 WRV und damit die Verbindung von Reichskanzler und Reichstag eindeutig gegenüber A r t . 53 WRV zurück. Der Dualismus w i r d i n letzter Konsequenz zugunsten des Reichspräsidenten entschieden. Er ist „pouvoir neutre", „Hüter der Verfassung" 36 . Auch Herrfahrdt knüpft zunächst an den erwähnten Mißstand i m Reichstag an 3 7 . Er führt i h n aber dahin weiter, daß die Parteien der Weimarer Republik auch i n grundsätzlichen Zielen nicht übereinstimmen, sondern sich gegenseitig dauernd vom politischen Einfluß auszuschließen trachteten. „Jede deutsche Partei repräsentiert nur einen Volksteil und zugleich den Willen zur dauernden Unterjochung der Andersgesinnten 38 ." Daher ist eine vermittelnde schiedsrichterliche Stellung der Regierung notwendig. Daran hat sich der Reichspräsident, der auf das Gesamtwohl des Volkes festgelegt ist, zu orientieren. Der Reichspräsident hat aber eine Regierung nicht nur zu halten, wenn das Mißtrauensvotum nur von einer regierungsunfähigen negativen Mehrheit gestützt werde, sondern auch dann, wenn eine regierungsfähige Flügelmehrheit die Bildung einer i h r entsprechenden Regierung verlange, aber „der Reichspräsident die Bildung eines (mehrheitlichen) Flügelkabinetts für falsch hält und die Kabinettsbildung auf unparteilichschiedsrichterlicher Grundlage durchführen w i l l " 3 9 . Den bloße Partikularinteressen und den damit nicht mehr das Volk als Ganzes repräsentierenden Parteien und Abgeordneten w i r d der Reichspräsident als Hüter des „Gesamtwohls" m i t der „Verantwortung vor der Geschichte" 40 und „eigentlicher Hort der Gerechtigkeit" 4 1 gegenübergestellt, der das „tiefere Volksempfinden" gegen die Parteiinteressen i n einer „unparteilichen Regierung" durchsetzt 42 , so daß diese zum Normaltyp wird. Er ist „ i m Sinne einer organischen Staatsauffassung" das „Haupt", das die Glieder miteinander verbindet 4 3 . Wie das „Gesamtwohl" oder der Inhalt 85
Verfassungslehre S. 357. HüterS. 132 ff. 87 Kabinettsbildung S. 46 ff. 88 Kabinettsbildung S. 45. Darin besteht nach Herrfahrdts Auffassung ein grundlegender Unterschied zum englischen Parteiensystem. 89 Kabinettsbildung S. 53. 40 Kabinettsbildung S. 52. 41 Kabinettsbildung S. 55. 42 Kabinettsbildung S. 57. 48 ibid. 86
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der Gerechtigkeit festgestellt wird, bleibt offen, steht also i m Belieben des Reichspräsidenten. Es sind Wertüberzeugungen, die hier einfließen 44 . A r t . 54 WRV w i r d eindeutig aus der Verfassung hinwegeskamotiert 45 , zudem m i t einer Methode, die für die Rechtswissenschaft i n Anspruch nimmt, aus „Tatsachen der Erfahrung und die an sie knüpfenden politischen Werturteile" Rechtssätze zu erzeugen, die eine von Herrfahrdt behauptete Lücke schließen soll. Die Arbeit wurde geschrieben, nachdem der politische Versuch der Deutschnationalen, A r t . 54 WRV nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten aufzuheben, gescheitert war. Als sich Herrfahrdts Auffassung 1932/33 praktisch durchsetzte, war die Weimarer Republik m i t allem, was sie bedeutete, zu Ende 4 6 .
ΠΙ. Die politische Praxis 1. Die politische Praxis entwickelte sich nicht i m Sinne der Schöpfer der Reichsverfassung 47 . Es sind drei Möglichkeiten praktiziert worden: Die von den Fraktionen i n Koalitionsverhandlungen vollzogene, vom Reichspräsidenten nur noch durch die Ernennung ratifizierte Regierungsbildung, die von Reichspräsident und Reichstagsfraktionen gemeinsam vollzogene Regierungsbildung und die vom Reichspräsidenten allein vollzogene Regierungsbildung 48 . I n allen Fällen gab zwar der Reichspräsident durch die Beauftragung einer Persönlichkeit m i t der Regierungsbildung den Anstoß. Aber die Auswahl war i n dem erstgenannten Verfahren nur eine formelle, die Vorschläge der Parteien aufnehmende, keine eigene, materielle. Zum ersten Typ gehören vor allem die ersten Kabinette bis zur Niederlage der Weimarer Koalition i n der ersten Reichstagswahl am 6. 6. 1920, die Kabinette Stresemann von 1922 und das zweite Kabinett Müller von 44
Kabinettsbildung S. 46. Dabei verwendet Herrfahrdt (Kabinettsbildung S. 55 f.) das Argument, Art. 54 W R V beziehe sich nicht auf die Mehrheit im, sondern auf den ganzen Reichstag. Es ist eigenartigerweise dasselbe Argument, das von den Befürwortern der Blockregierungen nach Proporzsystem in den Volksdemokratien verwendet wird. Aber was dem ganzen Reichstag und dem ganzen Volk, die ja gerade nicht einer Meinung sind, entspricht, bestimmt hier der Präsident und dort das Politbüro einer Partei. I n jedem Falle ist Opposition als Träger einer politischen Machtchance nicht zugelassen und damit bald schon gar nicht mehr. 46 Zur eingehenden Kritik Rothenbücher: Kampf S. 324 - 341. 47 Eine Darstellung der Regierungsbildung gibt jetzt mit Schwergewicht auf der mittleren Periode 1924 - 1929 das oben S. 213, Fußnote 5 zitierte Werk von Haungs. 48 ν . Beyme (Regierungssysteme S. 277) vertritt hingegen die Auffassung, „die Parteifraktionen und nicht der Präsident trafen die wichtigsten Vorentscheidungen bei der Kabinettsbildung". Das ist, wie zu zeigen sein wird, zu wenig differenziert, weder was die Auswahl der Reichskanzler noch die der Minister angeht. 45
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I I . 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
1928. S c h e i d e m a n n 4 9 , M ü l l e r 5 0 , S t r e s e m a n n 5 1 u n d M ü l l e r 1928 5 2 w u r d e n d e m j e w e i l i g e n Reichspräsidenten v o n d e n die R e g i e r u n g s k o a l i t i o n t r a genden P a r t e i e n p r ä s e n t i e r t . 1919 h a t t e E b e r t a l l e r d i n g s entgegen d e r P a r t e i m e i n u n g , die m e h r f ü r H e r m a n n M ü l l e r oder N o s k e w a r , B a u e r e r n a n n t 5 3 . Es i s t bezeichnend, daß a l l e R e g i e r u n g e n M e h r h e i t s r e g i e r u n g e n w a r e n , also solche, die das p o s i t i v e V e r t r a u e n des Reichstages h i n t e r sich h a t t e n . D e r Reichspräsident v e r h a n d e l t e z w a r m i t d e n P a r t e i f ü h r e r n , aber er w a r t e t e ab, e r g r i f f k e i n e eigene I n i t i a t i v e 5 4 . D i e B e a u f t r a g u n g e n r i c h t e t e n sich n a c h gewissen f o r m e l l e n S p i e l r e g e l n , insbesondere n a c h d e r S t ä r k e u n d S t e l l u n g der P a r t e i e n . K e i n e d e r g e n a n n t e n R e g i e r u n g e n scheiterte a m m a n g e l n d e n V e r t r a u e n des Reichspräsidenten. A l l e s t ü r z t e n a u f G r u n d des V e r h a l t e n s d e r t r a g e n d e n F r a k t i o n e n , die i n d e n g e n a n n t e n F ä l l e n n i e d u r c h f o r m e l l e s M i ß t r a u e n s v o t u m , w e n n auch e i n m a l d u r c h A b l e h n u n g eines V e r t r a u e n s a n t r a g e s 5 5 , s o n d e r n d u r c h R ü c k z u g d e r M i n i s t e r oder sonstige S p r e n g u n g d e r K o a l i t i o n die R e g i e r u n g s m e h r h e i t zerstörten. Diese R e g i e r u n g e n w a r e n ganz i n d e r H a n d d e r F r a k t i o n e n , s o w o h l f ü r i h r e B i l d u n g w i e f ü r 49 Schulthess: S. 44; siehe auch: Wertheimer (Einfluß), der bis zur Regierungsbildung 1928, 2. Kabinett Hermann Müller, eine sehr eingehende Darstellung aller Regierungsbildungen gibt. S. 36 f. weist er darauf hin, daß gerade die Regierung Scheidemann ohne jede materielle Beteiligung des Reichspräsidenten Ebert sich bildete. 50 Schulthess (36 [19201 I, S. 147) spricht von einem Vorschlag der SPD-Fraktion des Reichstages; Wertheimer (Einfluß S. 47) sieht eher eine persönliche Auswahl durch Ebert gegeben. Diese Regierung trat zurück, als am 6.6.1920 die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Demokraten in den 1. Reichstagswahlen die Mehrheit verlor, und zwar auf Grund einer bei der Regierungsbildung für diesen Fall bereits getroffenen Vereinbarung. Damit geht die Periode der unbedingten Mehrheitsregierungen zu Ende. Die Meinungen über den Einfluß des Reichspräsidenten gehen dabei auseinander. Während Wertheimer ihn bei der Bildung der 1. Regierung Hermann Müller sehr hoch einschätzt, sieht Herrfahrdt (Kabinettsbildung S. 27) diese Kabinette als lediglich der Initiative der Parlamentsmehrheit entsprungen an. Die bei Schulthess aufgefundenen Fakten lassen aber jedenfalls ein Überwiegen der Fraktionen erkennen, die das letzte Wort hatten. 51 Wertheimer: Einfluß S. 67. Diese Regierung einer Großen Koalition war noch während des Bestehens der Regierung Cuno von den Parteien ausgehandelt worden. Ebert nahm die Demission Cunos gerade mit der Begründung an, daß sich diese Möglichkeit aus den Parteiverhandlungen ergeben habe; Purlitz, S. 12. 52 Bracher: Auflösung S. 288 berichtet, daß der Parteivorstand Müller gegen den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun durchgesetzt habe. 63 Wertheimer: Einfluß S. 40. 54 Siehe dazu die Darlegungen von Wertheimer zu den genannten Regierungsbildungen. Das tat er im übrigen auch bei der ersten Minderheitsregierung, der Regierung Fehrenbach, die nach der Wahlniederlage der Weimarer Koalition gebildet wurde. Er beschränkte sich auf formelle Beauftragungen nach einem bestimmten Schema: größte Partei, Opposition, Mittelpartei ohne materiell bestimmend einzugreifen, Wertheimer: Einfluß S. 50 ff.; Schulthess 36 (1920) I S. 156 ff. 55 Regierung Stresemann, November 1923.
§ 11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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ihren Sturz. A r t . 54 WRV überwog A r t . 53 WRV. Das entscheidende Wort sprach nicht der Reichspräsident, sondern sprachen die Fraktionen. 2. War i m Reichstag keine klare Mehrheit gegeben, oder bildete sie sich nicht aus eigener Kraft, so stieg der Einfluß des Reichspräsidenten. Beide Präsidenten überließen es zunächst den Fraktionen des Reichstages, eine Mehrheit zu finden. Gelang das nicht, so leistete der Präsident Geburtshilfe und ernannte einen Kanzler, von dem sich i m allgemeinen i m Laufe der Verhandlungen herausgestellt hatte, daß er von den Fraktionen akzeptiert werden würde. M i t einer Ausnahme waren die so ernannten Kanzler ohne positive Mehrheit i m Reichstag und auf Tolerierung durch den Reichstag angewiesen. Dieses Verfahren w a r möglich, w e i l A r t . 54 WRV dahin interpretiert und angewandt wurde, daß das Vertrauen bis zu seiner ausdrücklichen Verneinung durch den Reichstag als bestehend unterstellt wurde 5 6 . Das galt insbesondere für die je zwei Kabinette W i r t h und Luther und die vier Kabinette M a r x i n wechselndem Umfange. Erst die Ernennung Wirths durch Ebert am 10. Mai 1921 löste so eine verfahrene Situation zwischen den Fraktionen des Reichstages, i n die diese sich i n den Verhandlungen verstrickt hatten und die aus sich nicht auflösbar w a r 5 7 . Bei der Wiederbeauftragung Wirths nach dessen Rücktritt, die wiederum erst erfolgte, nachdem sich die Parteien nicht hatten einigen können, brachte der Reichspräsident i m Beauftragungsschreiben ausdrücklich sein Bedauern über das Scheitern der Fraktionsverhandlungen zum Ausdruck 5 8 . Er wies damit den Parteien eindeutig den ersten Rang bei der Auswahl des Kanzlers zu. Das Spiel zwischen Reichspräsident und Reichstag w i r d besonders deutlich bei der Bildung des 1. Kabinetts Marx i m November 1923. Nach dem Rücktritt Stresemanns wollte Ebert zunächst wieder wie bei der Ernennung Cunos eine „Regierung bewährter Männer" unter Dr. Albert bilden, „da es zur Zeit nicht möglich ist, eine Koalitionsregierung m i t ausreichender parlamentarischer Grundlage zu bilden" 5 9 . Der Reichstag fand i n Stegerwald einen Gegenkandidaten m i t einer nach Rechts neigenden Koalition, dem Ebert den Auftrag erteilen mußte. Jedoch scheiterte Stegerwald schließlich doch, womit Ebert dann wieder nach vorn rückte und M a r x benannte, dem er dabei sogar eine Richtlinie für die Koalitionsbildung geben konnte 6 0 . 66 Anschütz: Kommentar Art. 54 Anm. 3, S. 319 f.; Schmitt: Verfassungslehre S. 343 ff. 57 Wertheimer: Einfluß S. 56. 58 Wertheimer: Einfluß S. 58 ff. 59 Brief Eberts an Albert, zitiert bei: Wertheimer: Einfluß S. 73. 60 Siehe das Zitat der „Germania" (Z) bei Wertheimer: Einfluß S. 72.
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
Während der Krise fand ein Briefwechsel statt, der das Verfassungsverständnis Eberts deutlich macht. Die Deutschnationale Volkspartei vertrat i n einem Brief an Ebert folgende Ansicht: „Nach dem Rücktritt des Kabinetts Stresemann hätte es der parlamentarische Brauch gefordert, daß eine der Oppositionsparteien m i t der Kabinettsbildung beauftragt worden wäre. Das ist nicht geschehen. Vielmehr haben Sie, Herr Reichspräsident, auf den verschiedensten Wegen Versuche zur Neubildung der Regierung unternommen, die gescheitert sind . . . " Es w i r d dann A u f lösung des Reichstages verlangt. Ebert wies beide Ansinnen zurück: „ I n Erwiderung . . . muß ich zunächst darauf aufmerksam machen, daß die Reichsverfassung die Berufung des Mannes, der die Reichsregierung bilden und leiten soll, meiner freien Entschließung überläßt. I n Ausübung dieses m i r verfassungsmäßig zustehenden Rechtes habe ich bisher m i t der Bildung einer neuen Regierung stets eine Persönlichkeit betraut, deren politische Stellung die meiste Aussicht auf eine schnelle Zusammenstellung eines arbeitsfähigen Kabinetts zu bieten schien." Ebert legte dann die Gründe für sein Verhalten i n der gegenwärtigen Krise dar; insbesondere habe er nach dem Scheitern des Versuchs Dr. Albert getan, „was i n meiner Möglichkeit lag, u m die i m Reichstag geführten Verständigungsverhandlungen der bürgerlichen Parteien zu beschleunigen. Diese Verhandlungen s i n d , . . . gescheitert, darauf habe ich heute nachmittag Herrn Marx m i t der Bildung der Regierung beauftragt, die von den Mittelparteien getragen w i r d " 6 1 . Ebert hatte darin einerseits seine Entschließungsfreiheit betont, andererseits aber auch, daß seine Rolle eine eher abhängige sei. Bei Mehrheitsregierungen hatte die von Ebert erwähnte meiste Aussicht eben der Kandidat der Mehrheitsparteien, beim Scheitern einer Mehrheitsbildung mußte der Präsident selbst eingreifen. Wertheimer sieht i n Eberts Auffassung die Inanspruchnahme eines „freien Ermessens, als Entschlußfreiheit i m Rahmen pflichtgemäßer Überlegung", zu der die Erwägung der parlamentarischen Verhältnisse gehört 62 » 63 . Hindenburg, der 1925 Ebert folgte, überließ zunächst ebenfalls den Parteien die Kanzlerauswahl und Regierungsbildung 64 . Nur, wenn sie nicht 61
Beide Briefe bei Poetzsch: Staatsleben I, JöR 13, S. 163 f.; gegen die Auffassung der Deutschnationalen: Anschütz: Kommentar Art. 53 S. 314. Es handele sich nur um „Gepflogenheiten anderer parlamentarisch regierter Staaten, die für uns nicht maßgebend sind." 62 Einfluß S. 73. 63 Bei der Bildung des 1. Kabinetts Luther hat Ebert i. ü. versucht, den Führer der Volkspartei Stresemann, die die Koalition unter Marx gesprengt hatte, also den Führer der „Opposition" zu benennen, war aber gescheitert. Wertheimer: Einfluß S. 79; Schulthess, 41 S. 6 ff.; Haungs: Reichspräsident S. 74 - 82 zum 2. Kabinett Marx, S. 82 - 94 zum 1. Kabinett Luther. Zum ersten kommt Haungs zu dem Schluß: „Ein eigenständiges Einwirken des Reichspräsidenten auf diese Kabinettsbildung ist kaum erkennbar", S. 79 f.; zum zweiten weist er darauf hin, daß Ebert Marx favorisierte, aber, als dieser nicht reüssierte, den von Stresemann vorgeschlagenen Luther beauftragen mußte. 64 Haungs: Reichspräsident S. 104 f.
§ 11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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zu einer Einigung kamen, griff er ein, so bei der Bildung des zweiten Kabinetts Luther und nach dem Sturz des dritten Kabinetts Marx durch das zweite und letzte erfolgreiche Mißtrauensvotum gemäß A r t . 54 WRV bei dessen Wiederbeauftragung. Dabei gab der Reichspräsident dem Kanzler eine genaue Direktive für die Koalitionsbildung und forderte gleichzeitig die Parteien auf, „persönliche Bedenken und Verschiedenheiten der Anschauungen i m Interesse des Vaterlandes beiseite zu stellen". Dieses massive, i n der politischen und staatsrechtlichen Meinung sehr umstrittene Eingreifen 6 5 zwang die Parteien, insbesondere das Zentrum, zur Regierungsbildung entgegen ihren Vorstellungen. Äußerlich war es eine parlamentarische Regierungsbildung, der Reichspräsident war aber der treibende, maßgebende Initiator 6 6 . Auch i n dieser zweiten Gruppe von Regierungsbildungen war der Reichstag zunächst immer am Zuge; die Reichspräsidenten, und zwar beide Amtsinhaber, traten erst hervor, als die Fraktionen des Reichstages aus sich keine Einigung hervorbringen konnten. Hätte es, etwa entsprechend den Zuständen i n der Bundesrepublik seit 1953, immer stabile positive Mehrheiten für einen Kanzler i m Reichstag gegeben und nicht nur allenfalls „duldende" oder „tolerierende" Mehrheiten, so hätte der Reichspräsident de facto den Kanzler nicht auswählen können. Das von Preuß ursprünglich angestrebte Gleichgewicht zwischen Staatsoberhaupt und Volksvertretung wäre einem Übergewicht des Reichstages gewichen. Eine Ernennung gegen einen auch nur einigermaßen funktionierenden Reichstag war nicht möglich, die Idee des Kampfkabinetts bloße Theorie 67 . Die grundgesetzliche Lösung ist i n der Praxis der Weimarer Reichsverfassung vorgezeichnet und teilweise tatsächlich vorweggenommen. 3. Dieser überwiegenden Praxis entgegengesetzt waren die Präsidialkabinette, insbesondere v. Papens, Schleichers und das 1. Kabinett H i t ler 6 8 . Eine Vorform der Präsidialkabinette waren die geschäftsführenden Regierungen, zurückgetretene Regierungen, die der Reichspräsident m i t der Weiterführung der Geschäfte beauftragt hatte. Zwar war i h r vor65
Zitate bei Wertheimer: Einfluß S. 89 ff. Haungs: Reichspräsident S. 117 ff., insbesondere S. 131 ff.: „Insgesamt war der Reichspräsident bestrebt, die Initiative der Regierungsbildung in seiner Hand zu behalten", S. 133. 67 So auch Scheuner (Gestaltung S. 359), der 1926 auf Grund der Praxis bis dahin meinte, daß der Reichspräsident trotz der Volkswahl „keine selbständige politische Autorität, keine persönliche Politik" habe, weil im parlamentarischen System den Parteien die Hauptrolle zufalle (S. 349). Die Stärkung des Reichspräsidenten sei nicht erreicht worden (S. 354 ff.). 88 So auch Fromme: Verfassung S. 74, Fußnote 127; allerdings beruht dieses Kabinett doch auch schon wieder auf Abreden zwischen Parteien, nicht mehr, wie die Kabinette Brüning, v. Papen, Schleicher, auf der alleinigen Initiative des Reichspräsidenten. ββ
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Steiger
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
übergehender Charakter eindeutig 69 , aber auch sie hatten alle verfassungsmäßigen Rechte, obwohl sie das Vertrauen des Reichstages nicht hatten 7 0 . Die Präsidialkabinette waren vom Reichspräsidenten allein ohne M i t w i r k u n g der Reichstagsfraktionen bestellt worden. Schon die Regierung Cuno und die 1. Regierung Brüning beruhten auf der alleinigen Initiative des Präsidenten und waren ohne koalitionsmäßige Grundlage vom Reichspräsidenten berufen worden. Cuno hatte zunächst den Versuch gemacht, ein Parteienkabinett zu schaffen, war aber an den exzessiven Forderungen der Fraktionen für die Ressortbesetzung gescheitert, die Cuno als unvereinbar m i t den Rechten des Reichskanzlers ansah 71 . A u f einen erneuten Auftrag Eberts hin bildete Cuno dann ein „Kabinett der Arbeit", ein „Geschäftsministerium", ein „Kabinett der Köpfe" ohne Rücksicht auf die Reichstagsparteien. Es war aber kein Präsidialkabinett, da es nicht nur vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhing, sondern die von Cuno selbst gesuchte Billigung und Duldung des Reichstages besaß 72 . Cuno mußte gehen, als sich, sogar von i h m unterstützt, i m Reichstag eine große Koalition bildete, die Stresemann benannte und dem Präsidenten „aufzwang". Der Reichspräsident hatte bei der Bildung der Regierung Cuno den Weg i n der Praxis beschritten, den die Schöpfer der Reichsverfassung sich vorgestellt hatten 7 3 , der i n der staatsrechtlichen Literatur als der richtige weithin vertreten wurde 7 4 und den vor allem die Demokratische Partei immer wieder gefordert hatte 7 5 : die freie Ernennung des Reichskanzlers 69 Anschütz: Kommentar Art. 54 Anm. 7 S. 322 ff.; die Geschäftsregierung ist, worauf Anschütz zu Recht hinweist, wegen der vorausgesetzten Vorläufigkeit keine Regierung i. S. Herrfahrdts, die trotz Mißtrauensvotums im Amt bleibt. 70 Das hatten die Präsidialkabinette ausdrücklich nicht: Fromme: Verfassung S. 72. * 71 Schulthess' 38 (1922) S. 140; Poetzsch (JöR, Bd. X I I I [1925], S. 163) gibt den Brief Cunos an Ebert wieder, in dem es u. a. heißt: „Die hierfür (Kabinettsbildung) erforderlichen Besprechungen mit den Führern der Parteien haben ergeben, daß einzelne Parteien nicht nur Anregungen und Wünsche, sondern A n träge und Ansprüche vorbringen, die die Zahl der einer Partei zu entnehmenden Kabinettsmitglieder, deren Personen, ja deren Ressort, ja sogar die Frage betreffen, ob ein Mitglied des bisherigen Kabinetts ein anderes Ressort übernehmen soll. Damit entfallen die Voraussetzungen, unter denen ein zu sachlicher Arbeit geeignetes Kabinett gebildet werden kann. So wenig ich die Notwendigkeit verkenne, eine Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kabinett auch durch dessen Zusammensetzung sicherzustellen, so sehr muß ich entschiedenes Gewicht darauf legen, daß Auswahl der Mitglieder und der Ressorts dem Ermessen desjenigen überlassen bleibt, dem der Auftrag zur Bildung übertragen worden ist." 72 Wertheimer: Einfluß S. 62 ff.; Herrfahrdt: Kabinettsbildung S. 32 ff. 73 Siehe oben S. 210 f. 74 Siehe oben S. 212 ff. 75 Herrfahrdt: Kabinettsbildung S. 28; Wertheimer: Einfluß S. 51; Glum: Regierungssystem S. 225 f.; Brief des Abg. Petersen an die Frankfurter Zeitung 16. 6. 26 (Abendblatt).
§ 11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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und der Regierung durch den Reichspräsidenten und die anschließende Nachsuche u m das Vertrauen des Reichstages. Allerdings blieb diese Form der Regierungsbildung i n der Praxis die — als Übergang zu erneutem Parteienkabinett oder Präsidialkabinett — geduldete Ausnahme 76 . Hindenburg beauftragte dann Brüning nach dem Bruch der Großen Koalition unter Hermann Müller m i t der Maßgabe 77 , „daß es i h m angesichts der Schwierigkeiten der parlamentarischen Lage nicht zweckmäßig erscheine, die künftige Reichsregierung auf einer koalitionsmäßigen Bindung aufzubauen" 78 . Brüning nahm unter dieser Bedingung an. Er wollte Vorschläge machen und sich dazu eine Mehrheit suchen, nicht umgekehrt. Nicht m i t Parteien wurde verhandelt, sondern m i t den präsumptiven Mitgliedern der Regierung. Der Reichspräsident selbst nahm auf die Zusammensetzung des Kabinetts erheblichen Einfluß. Brüning erklärte vor dem Reichstag am 1. 4. 1930 u. a.: „Das neue Reichskabinett ist entsprechend dem m i r vom Herrn Reichspräsidenten erteilten A u f trag an keine Koalition gebunden. Doch konnten selbstverständlich die politischen Kräfte dieses Hohen Hauses bei seiner Gestaltung nicht unbeachtet bleiben 7 9 ." Die Regierung Brüning wurde i m Reichstag wie die Regierung Cuno toleriert 8 0 . Brüning versuchte, auf die Dauer zu einer — rechtsgerichteten, Teile der Deutschnationalen einschließenden — Mehrheit zu kommen, also die wechselnden Mehrheiten der Tolerierung durch eine feste Mehrheit des Vertrauens zu ersetzen, die i h m gegenüber dem Präsidenten einen stärkeren Rückhalt gegeben hätte. Erst als B r ü ning ab J u l i 1930 dazu überging, m i t Notverordnungen zu regieren, wurde der Weg des Präsidialkabinetts endgültig über die Stellung der Regierung Cuno hinaus beschritten: N u r das Vertrauen des Reichspräsidenten, verbunden m i t der Anwendung der Notverordnungen gemäß A r t . 48 WRV und der Auflösung des Reichstages gemäß A r t . 25 WRV, sobald die Tolerierung i m Verlangen der Aufhebung der Notverordnungen aufhörte, stützte die Regierung. Die Regierung Brüning war zuletzt eine außer76 Die Darstellungen sind nicht ganz eindeutig. Nach Wertheimer (Einfluß S. 63 ff.) war das Echo eher positiv, nach Glum (Regierungssystem S. 225 ff.) wurde das „Geschäftsministerium" eher als zu überwindende Notlösung angesehen. Die anschließende Bildung der Großen Koalition deutet auf ein verbreitetes Unbehagen hin. 77 Es ist nicht die Aufgabe, hier die Geschichte der Weimarer Republik zu schreiben. Bracher (Auflösung S. 287 ff.) hat eingehend die Bildung der Regierung Brüning geschildert, insbesondere versucht darzulegen, wie es zur Benennung Brünings kam. Hier ist entscheidend, daß nicht der Reichstag und seine Fraktionen, sondern die Autorität des Reichspräsidenten, sein ganz persönlicher Appell an den Frontsoldaten Brüning ins Amt berief. 78 Poetzsch-Heffter: JöR Bd. 21 (1933/34) S. 157. Langner (Recht S. 31) sieht darin ein Novum, das eine Zäsur darstellte. 79 I V . Wahlperiode, 152. Sitzg., Sten. Ber. S. 4728 Β. 80 Schon das erste Mißtrauensvotum gegen ihn und alle weiteren wurden abgelehnt.
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parlamentarische Regierung, nur auf das Vertrauen des Reichspräsidenten sich stützend. Sie stürzte, als es dem Reichspräsidenten aus welchen Gründen auch immer gefiel, dem Reichskanzler sein Vertrauen zu entziehen. Sie war die erste Regierung, die nicht durch die Fraktionen oder ein Mißtrauensvotum gestürzt wurde wie alle Regierungen vor ihr, auch die Regierung Cuno 81 . I m Sturz noch mehr als i n der Benennung wurde der Charakter der reinen, außerparlamentarischen Präsidialregierung deutlich. Nach dem Sturz von Brüning folgten die Präsidialkabinette von Papen, Schleicher und das erste Kabinett Hitler. Alle drei waren auf der Suche nach einer Mehrheit, die sie durch Neuwahlen zu erreichen suchten, v. Papen wurde nicht toleriert. Die beiden Wahlen führten zu keinem Erfolg. Schleicher hatte zunächst eine solche Mehrheit, aber Hindenburg verweigerte i h m die Auflösung des Reichstages. Hitler versuchte es gar nicht erst m i t dem alten Reichstag, sondern schuf sich die Mehrheit durch Neuwahlen unter Terror und durch späteres Verbot der Kommunisten. Die Mehrheit i m Reichstag erwies sich letzten Endes immer als erforderlich. Das Präsidialkabinett konnte nur eine Übergangslösung sein, das zur Mehrheit und damit zur Ablösung des präsidialen Vertrauens durch das des Reichstages strebte. A r t . 48 WRV i n Verbindung m i t A r t . 25 WRV waren keine hinreichende Grundlage. A r t . 53 WRV erwies sich i m Grunde als schwächer als A r t . 54 WRV. Ein „preußischer Verfassungskonflikt" war unwiederholbar. Gegen die Mehrheit konnte der Reichspräsident nicht regieren, nur m i t einer jeweils wenigstens tolerierenden Mehrheit. Bei einem völlig funktionsunfähigen Reichstag, der nicht nur keine regierungsfähige, sondern auch keine tolerierende Mehrheit 8 2 zustande brachte, konnte auch ein Präsidialkabinett keine dauernde stabile Regierungsführung ermöglichen. Der Reichspräsident hatte zwar dann ein selbständiges Ernennungrecht, er war insofern Legalitäts- und Legitimitätsreserve für die Regierung. Aber diese Reserve war nicht stark genug für die Regierungsführung — es sei denn, der Reichspräsident löste den Reichstag auf und schob die Wahlen verfassungswidrig über die Frist 81 Noch die letzte Abstimmung am 12. März 1932 brachte eine Mehrheit für Brüning, Bracher: Auflösung S. 378; siehe dort auch S. 388 über die Stellung der Parteien zur Regierung Brüning. 82 Die Weimarer Republik hatte von 1920 - 1932 elf Kabinette, die als „Minderheitenkabinette" bezeichnet werden, z.B. υ. Beyme: Regierungssysteme S. 276. Das ist aber nur insoweit zutreffend, als sie bis zu Brüning keine dauernde unterstützende Mehrheit im Reichstag mit Repräsentanten im Kabinett hatten. Aber sie hatten weitgehend insofern doch eine Mehrheit, als sie für ihre Maßnahmen immer die hinreichende Unterstützung fanden. Das war zwar nicht echter Parlamentarismus, aber ein Stück deutscher Tradition im Übergang, die allerdings belastend und letzten Endes bei den Schwierigkeiten der äußeren und inneren Lage des Reiches zerstörend wirkte.
§11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
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von sechzig Tagen hinaus auf 8 3 . Das konsequente Präsidialkabinett stand bereits außerhalb der Weimarer Verfassung.
IV. Die Bestellung der Ministerpräsidenten in den Ländern Die Lösung des Grundgesetzes, den Bundeskanzler von der Volksvertretung wählen zu lassen, ist vorgeformt i n einigen Länderverfassungen 84 der Weimarer Republik, so i n Preußen 85 , Sachsen86 und Bayern 8 7 . Eine Präsidentschaftsrepublik wurde hier abgelehnt, ein Staatsoberhaupt also nicht geschaffen. Für Preußen war erwogen, dem Staatsratspräsidenten oder dem Landtagspräsidenten die Ernennung des Ministerpräsidenten zu übertragen. Beides wurde abgelehnt, um den Staatsrat nicht i n die Regierungsbildung einzubeziehen und weil der Landtagspräsident nicht eine überparteiliche Stellung innehatte 8 8 . Giese und Waldecker kennzeichneten die Wahl durch den Landtag als „Verlegenheitslösung" 89 . Sie ist es i n Wahrheit nicht. Aber es war von vornherein klar, daß dadurch die Parteien die entscheidende Position erlangen würden 9 0 . I n Koalitionsverhandlungen handelten sie die Kandidaten aus und legten auch das Programm fest. Aber für Preußen wurde eine Rücktrittspflicht bei Neuwahlen abgelehnt 91 . Über das Mißtrauensvotum des A r t . 57 preuß. Verf. konnte die Übereinstimmung m i t einer neuen Mehrheit hergestellt werden. Diese Lösung machte die Regierung daher nicht notwendig zu einem „Ausschuß" des Landtages 92 . Aber zu Recht weist Waldecker darauf hin, daß die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag „dem Ursprung des Kabinetts nach die parlamentarische Regierung zum Ausdruck" bringt 9 3 . Der sächsische Konflikt m i t dem Reich 1923 wie der Preußens m i t dem Reich 1932 zeigen, daß, wenn die Parteien das parlamentarische System nicht tragen, dieses selbst zusammenbricht. Allerdings kannte keine Landesverfassung das „konstruktive Mißtrauensvotum" des A r t . 67 GG. Jedoch wurden Versuche gemacht, Re83 Einen derartigen Verfassungsbruch schlug Schleicher im Januar 1933 auch vor. Hindenburg lehnte ihn aber ab, Eyck: Geschichte S. 578 f. 84 Dazu Fromme: Verfassung S. 99 ff. 85 Art. 45 Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920. 86 Art. 26 Abs. 1 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 1. November 1920. 87 §§ 4, 58 Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14.8.1919. 88 Kaufmann: Regierungsbildung S. 379 f. 89 Giese-Volkmann: Preußische Verfassung S. 154; Waldecker: Kommentar S. 105. 90 Waldecker: Kommentar 2. Aufl. 1928, S. 140; Kaufmann: Regierungsbildung S. 381 ; Rothenbücher: Stellung S. 67. 91 Waldecker: Kommentar 2. Aufl. S. 141 mit Nachweisen und einem Beispiel aus der Praxis 1923. 92 Waldecker: Kommentar 2. Aufl., S. 141. 93 Kommentar 1. Aufl. 1921, S. 106.
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II. 1. Kap.: Regierungsbildung seit 1871
gierungsvotum und Regierungsneubildung zu verbinden. Die Geschäftsführende Regierung erlangte hier wie i m Reich erhebliche Bedeutung, insbesondere seit 1932. Sie war eine A r t Präsidialregierung, da auch sie ohne Vertrauen des jeweiligen Landtags bestand.
V. Würdigung Die i n rechtliche Normen gegossene Gleichgewichtstheorie von Redslob und Preuß verwirklichte sich nicht. Der Dualismus zwischen Reichspräsident und Reichstag bei der Regierungsbildung drängte so oder so zur Entscheidung. Vorherrschend wurde die Macht der Parteien und Fraktionen i m Reichstag, wenn und soweit dieser funktionsfähig war und die parlamentarischen Spielregeln einhielt 9 4 . Die h. M. akzeptierte die Macht der Parteien und Fraktionen, wie Preuß und Thoma, nur zögernd. Sie suchte zu verhindern, daß die Regierung zu einem Ausschuß des Reichstages wurde, wie i m Anfang der Weimarer Republik Giese, Nawiasky u. a. das Verhältnis zwischen Reichstag und Reichsregierung gedeutet hatten. Aber diese Deutung war einerseits staatsrechtlich i n sich nicht notwendig gewesen. Sie galt auch nicht für Preußen, wo der Ministerpräsident vom Landtag gewählt wurde, vorherige Koalitionsabsprachen also wesentlich notwendiger waren als i m Reich. Andererseits war eine solche Entwicklung nicht zu vermeiden, wenn die Parteien des Reichstages stark genug waren, sich durchzusetzen. Der Reichspräsident mußte die Vorschläge des Reichstages für den Kanzler und dieser die für die Minister annehmen, wenn das Vertrauen des Reichstages erhalten bleiben sollte. Die h. M. der Weimarer Staatsrechtslehre ist gegenüber den Parteien zumindest zurückhaltend. Sie lebt noch von einem bestimmten B i l d des liberalen Parlamentarismus und fügt sich nur schwer dem Parteienstaat. Aber es erscheint ausgeschlossen, i m parlamentarischen System die Herrschaft der Parteien zu vermeiden. Nichts zeigt das deutlicher als die Wandlung des Schöpfers des Gleichgewichts Preuß und die Weiterentwicklung seiner Gedanken i n diese Richtung bei Thoma. Die Freiheit des Reichspräsidenten bei der Bestellung des Reichskanzlers beruhte auf dem Versagen des Reichstags bzw. seiner Fraktionen. Das parlamentarische System hat die Tendenz zur Parteienherrschaft i n sich, da nur durch die Parteien der Volkswille politisch und das parlamentarische System wirksam werden kann. Das auf Grund der dogmatisch verfestigten Parteiegoismen durch einen funktionsunfähigen Reichstag nicht ausbalancierte Übergewicht des Präsidenten hingegen zerstörte schließlich das parla94 Zur Rolle der Parteien und Fraktionen: Langner: Recht S. 36 ff. Er stellt fest, daß bestimmte Verfahrensmodi sich nicht herausgebildet hätten.
§11 Die Kanzlerbenennung in der Weimarer Republik
231
mentarische System selbst 95 . Indem er der h. M., aber auch der parteigeneigten Mindermeinung nicht gelang, die Parteien i n den Verfassungsstaat einzubauen, entglitten sie ihm, wie etwa Kaufmanns Ausführungen zeigen. Die Anlage der Verfassung war zu theoretisch, beruhend auf einer zudem falschen Interpretation eines Systems i n einem anderen Staat. Die Wirklichkeit ging andere Wege und geriet damit außer Kontrolle des Rechts. Das führte zur Zerstörung des ganzen Systems. Das Grundgesetz hat zum einen die Parteien an den organisatorischen Bereich des Staatsaufbaus angegliedert; zum anderen hat es den Dualismus entsprechend dem Normalfall der Weimarer Republik sachgemäß zugunsten der Volksvertretung aus parteigebundenen Abgeordneten entschieden. Es hat die „Normal"situation i n Weimar verfassungsrechtlich normiert und damit auch die „Ausnahme"situation zu einer solchen zu machen gesucht. Insofern steht die Neuregelung nicht voraussetzungslos da, sondern geht hervor aus Theorie und Praxis der 1. Republik, entwickelt diese m i t dem auch rechtlich normierten Übergang vom „negativen" zum „positiven" Parlamentarismus an einem ganz bestimmten Punkt weiter, obwohl die Verfassungsväter von Bonn durch ihre einseitige Fixierung auf das Ende 1930 - 1933 das nicht bemerkten und ein Gegenbild entwickeln wollten.
95 Zu den Klagen darüber, ζ. B. bei Preuß, in der Weimarer Republik selbst: v. Beyme: Regierungssysteme S. 275 f. Zwar war der in der Verfassung angelegte Dualismus von Präsident und Reichstag ein Geburtsfehler. Aber die demokratischen Parteien hätten ihn heilen können, wenn sie ihre Rolle ebenso gut begriffen hätten wie die nicht-demokratischen.
Zweites Kapitel
Die Bestellung des Bundeskanzlers und die Regierungsbildung im Bund § 12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten I. Freiheit und Gebundenheit in der Ausübung 1. Der Bundeskanzler w i r d gemäß A r t . 63 GG vom Bundestag gewählt. Diese Wahl ist der unersetzbare Kern des Verfahrens zur Bestellung des Bundeskanzlers, die, wie dargelegt, das Regierungssystem des Bundes zu einem parlamentarischen Regierungssystem macht 1 . Aber nach Erledigung des Amts w i r d das Verfahren nicht vom Bundestag selbst, sondern vom Bundespräsidenten dadurch eingeleitet, daß er dem Bundestag einen Kandidaten zur Wahl vorschlägt. N u r über diesen Vorschlag kann der Bundestag gemäß A r t . '63 Abs. 2 GG i n einer ersten Wahlphase abstimmen 2 . Die entscheidende Frage ist, ob der Bundespräsident bei der Auswahl der vorzuschlagenden Persönlichkeit rechtlich frei ist, oder ob er irgendwelchen rechtlichen Bindungen an i h m von den Fraktionen des Bundestages präsentierte Kandidaten unterliegt. 2. Der Text des A r t . 63 Abs. 1 und 2 GG läßt eine Entscheidung der Frage nicht ohne weiteres zu. A r t . 63 Abs. 1 GG scheint eine rechtliche Vorschlagsfreiheit zu begründen. Abs. 2 verlangt aber i. V. m. A r t . 121 GG für die Abstimmung über den Vorschlag die Stimmen der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages, kurz, die absolute Mehrheit. Der Bundespräsident muß also, auch das ist einhellige A n sicht 3 , danach trachten, einen Vorschlag zu machen, der diese Mehrheit erreicht. Daraus folgt, daß ein Vorschlag, von dem feststeht, daß er diese Mehrheit nicht erreichen wird, daher dann nicht zulässig ist, wenn andererseits feststeht, daß ein anderer Vorschlag diese Mehrheit erreichen würde. Das aber ist der Fall, wenn die Fraktionen, also die Abgeordneten 1
Dazu oben S. 203 f. So zu Recht die h. L.: v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 2 a S. 1230 mit weiteren Zitaten. 8 ν . Mangoldt: Kommentar S. 340 f.; ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 1 a S. 1227; Glum: Regierungssystem S. 342. 2
§12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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des Bundestages, sich mehrheitlich auf einen Kandidaten vor dem Vorschlag geeinigt haben und ihn dem Bundespräsidenten präsentieren. Die h. L. ist hingegen der Auffassung, daß der Bundespräsident einen Vorschlag, der keine Mehrheit zu erwarten hat, u m seines Prestiges w i l len zwar nicht machen sollte, wohl aber rein rechtlich machen dürfte. Hier ist die von Anschütz vertretene Lehre über die Befugnis des Reichspräsidenten noch wirksam, v. Mangoldt hält den Bundespräsidenten formell für frei und nur materiell für gebunden, einen „sinnvollen" Vorschlag zu machen 4 . Was „formell" und „materiell" heißen soll, bleibt wie bei Anschütz unklar. Es scheint der Gegensatz von „rechtlich" und „politisch" gemeint zu sein. K l e i n hingegen w i l l i n der zweiten Auflage des Kommentars diese Meinung anscheinend i n Richtung der hier vertretenen Auffassung modifizieren, indem er es zur richtigen Wahrnehmung der Vorschlagspflicht zählt, einen aussichtsreichen Kandidaten zu benennen 5 . Aber der Unterschied zwischen „formeller Freiheit" und „materieller Gebundenheit" beim Wahlvorschlag bleibt aufrechterhalten und läßt eine klare Aussage nicht zu. Denn wenn der Bundespräsident formell frei ist, ist seine Rechtspflicht davon bestimmt. Besteht eine Rechtspflicht, ist er nicht mehr formell frei. Auch Schneider sieht i m Fall der absoluten Mehrheit einer Partei i n einem Vorschlag, der nicht eine Persönlichkeit aus deren Mitte benennt, lediglich „eine politische Demonstration", nicht aber einen Verstoß gegen eine Rechtspflicht 6 . Maunz verneint zwar ein „freies Belieben" des Bundespräsidenten, stellt aber seinen Vorschlag unter bloße Zweckmäßigkeitserwägungen 7 . Ähnlich argumentiert auch Glum, der de iure Freiheit des Bundespräsidenten, um seines Prestiges willen aber eine sorgfältige Prüfung verlangt 8 . A m deutlichsten t r i t t Amphoux für die rechtliche Freiheit des Bundespräsidenten ein, der er aber ebenfalls eine bloß politische Gebundenheit gegenüberstellt 9 . Schäfer weist zwar darauf hin, daß i n der Praxis die Parteien dem Präsidenten einen Kandidaten empfehlen, verneint aber die rechtliche Bindung an diese Empfehlung, deren Befolgung er jedoch als zweckmäßig ansieht 10 . Lediglich Loewenberg bejaht eine Vorschlagsfreiheit des Bundespräsidenten nur für den Fall, daß sich i m Bundestag keine absolute Mehrheit herstellen läßt 1 1 . 4
Kommentar S. 340 f. Art. 63 Anm. I I I 1 a S. 1227 und I I I 1 b S. 1228. 6 Schneider: Regierungsbildung S. 1330. 7 Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 63 Randziffer I I . 8 Regierungssystem S. 342; ähnlich: Nawiasky: Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 94 u. a. 9 Amphoux: Chancelier S. 50 ff.; ähnlich: Bartelt: Regierungsbildung. 10 Bundestags.21 f. 11 Parliament S. 220. 6
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II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
3. Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten war i m Art. 87 Herrenchiemsee-Entwurf nicht vorgesehen, sondern lediglich ein vom Bundestag überstimmbares Einspruchsrecht gegen den vom Bundestag i h m benannten Kandidaten 1 2 . Man stand unter dem Eindruck von Weimars Schlußphase, dem starken Einfluß des Reichspräsidenten. Der Bundestag sollte also nicht nur das Wahlrecht, sondern die Initiative haben. Erst während der Beratungen i m Parlamentarischen Rat ist das Vorschlagsrecht eingefügt worden. Es wurde i m Ausschuß für Organisationsfragen geboren m i t der Begründung, das Vorschlagsrecht solle einer „neutralen Stelle" zustehen, wie es i n der Weimarer Verfassung auch gewesen sei 13 . Der Bundespräsident sollte die Initiative haben. Andere Abgeordnete hingegen wollten den Herrenchiemsee-Entwurf deswegen erhalten wissen, weil so bereits i m Bundestag eine Mehrheitsbildung erfolgen und eine Minderheitenregierung möglichst vermieden werden könne 1 4 . Jedoch erhielt der Bundespräsident zunächst sogar ein zweimaliges Vorschlagsrecht. Erst wenn beide Vorschläge abgelehnt worden waren, sollte der Bundestag selbst auf die Suche nach einer Mehrheit gehen. Die Abgeordneten v. Brentano, Dehler und andere bemerkten durchaus, daß das i m Hinblick auf die Abhängigkeit des vom Bundespräsidenten Vorgeschlagenen von der nachfolgenden Wahl durch die parteigebundenen Abgeordneten unrealistisch sei und versuchten, das Vorschlagsrecht ganz abzuwenden 15 . Die SPD wollte jedenfalls das Verhältnis umkehren und den Bundespräsidenten erst einschalten, wenn der Bundestag innerhalb einer Frist von 14 Tagen aus sich heraus keinen Bundeskanzler wählte 1 6 . Das hätte der Praxis der Weimarer Zeit i n etwa entsprochen. Aber das Argument, der Bundespräsident solle aus einer „Mittlerstellung . . . die Gegensätze, die bei solchen Verhandlungen über die Person des Bundeskanzlers von Gruppen innerhalb des Parlamentes entstehen können, glätten, ausgleichen und überbrücken helfen" 1 7 , erwies 12 Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee 10. - 23. A u gust 1948, München 1948, S. 41 f., der eine „bestimmende Einflußnahme des Bundespräsidenten auf die Regierungsbildung, wie sie der Reichspräsident der Weimarer Verfassung hatte, einmütig" ablehnte. „Es bestand vielmehr Einigkeit darüber, daß die Bundesregierung in ein möglichst enges Verhältnis zum Bundestag gebracht werden müsse und es daher zweckmäßig sei, den Bundeskanzler vom Bundestag wählen zu lassen." 13 Prot, der 7. Sitzung des Ausschusses für Organisationsfragen, S. 2, Abg. Löbe (SPD). Er fügte hinzu, es bestehe kein Grund, davon abzugehen. Hier ist also der Bezug ganz deutlich gemacht, aber unter Verkennung der Praxis. 14 Abg. Schwalber (CDU), Katz (SPD) ibid. 15 Sten. Prot, der 3. Sitzung des Hauptausschusses am 16. November 1948, S. 27 f. 16 Sten. Prot, der 4. Sitzung des Hauptausschusses am 17. November 1948, S. 4 L
17
Abg. v. Mangoldt, Sten. Prot, der 4. Sitzung des Hauptausschusses, S. 42.
§ 12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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sich als stärker. Die Erstinitiative blieb. Sie wurde n u r auf einen V o r schlag beschränkt. 4. I n der bisherigen Praxis der Kanzlerbestellung hat der Bundespräsident i n keinem F a l l einen freien Vorschlag gemacht. Er hat immer, auch 1949 18 u n d 1961, denjenigen Kandidaten vorgeschlagen, der i h m vorher von den Parteien präsentiert worden war. 1949 ging der Vorschlag, Adenauer zu benennen, von einem, v o n diesem selbst einberufenen, informellen Kreis von CDU/CSU-Politikern aus, wurde v o n der Landtagsfraktion der C D U i m nordrhein-westfälischen Landtag bestätigt und dann auch von den die künftige K o a l i t i o n bildenden Parteien 1 9 . 1953 erfolgte der Vorschlag auf G r u n d des die absolute Mehrheit der CDU/CSU b r i n genden Wahlergebnisses, nachdem schon der Wahlkampf unter Adenauers Namen geführt worden war. 1957, nach einem noch höheren W a h l sieg unter der Devise „Deutschland w ä h l t Adenauer", w a r es das gleiche. Selbst 1961, w o die Person des Kanzlers zum ersten M a l zwischen den koalitionswilligen, mehrheitsbildenden Parteien zunächst i m Streit war, hat der Bundespräsident trotz der sehr langen Dauer der Verhandlungen von über 6 Wochen u n d vielfältige Aufforderung von außerparlamentarischer Seite 2 0 keinen freien Vorschlag gemacht, sondern die Präsentation der Parteien, w e n n auch zu beeinflussen gesucht, so doch abgewartet. Der einzige Versuch, sich freie Hand zu behalten i m Jahre 1965, scheiterte daran, daß der Führer der stärksten Partei, den der Bundespräsident gerade nicht w o l l t e 2 1 , einen eindrucksvollen Wahlsieg errang und daraufhin von seiner F r a k t i o n wiederum vorgeschlagen, v o m Koalitionspartner akzeptiert u n d dem Bundespräsidenten präsentiert wurde. Zweimal, 1963 u n d 1966, wurde der Kanzler ausgewechselt. Beide Male hat der Bundespräsident keinen Einfluß auf die A u s w a h l der Person gehabt. Beide Male wählte die stärkste der die Regierung tragenden Parteien oder Fraktionen den Nachfolger. 1963 hatte die C D U als Partei durch ihren E x e k u t i v r a t Erhard als Nachfolger Adenauers benannt, i. ü. gegen dessen mehrfach ausgesprochenen W i l l e n 2 2 . 1966 erfolgte die Benennung Kiesingers durch die CDU/CSU-Fraktion. Beide Male wurde diese Person ohne Verhandlungen von dem Koalitionspartner akzeptiert u n d gemeinsam dem Bundespräsidenten präsentiert. D a r i n w i r d eine sich schon seit 1949 durchsetzende Tendenz bestätigt. Die F ü h r u n g der 18 Für den Vorschlag Konrad Adenauer 1949 wird das endgültig klargestellt in: Adenauer: Erinnerungen S. 228; dazu auch: Langner: Recht S. 99 f., insbes. Fußnote 9; a. A. Laforet: W D t S t r L , Heft 8, S. 55. 19 Adenauer: Erinnerungen S. 224 ff. 20 Der Spiegel vom 8. November 1961, Nr. 46, S. 21 - 23. 21 Siehe den Brief des Bundespräsidenten Lübke an die Parteivorsitzenden v. 16.9. 65, drei Tage vor der Wahl; Winkler: Bundespräsident S. 82.
22
v. Beyme: Regierungssysteme S. 544.
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
Regierung, also die Stellung des Bundeskanzlers, w i r d der stärksten Fraktion innerhalb der Koalition überlassen. Diese wählt die Persönlichkeit aus, die von den Koalitionspartnern i. a. nicht i n Frage gestellt wird. Gerade die Wahl Kiesingers zum Kanzlerkandidaten durch die Fraktion der CDU/CSU i m Jahre 1966 aus vier Aspiranten hat das Schwergewicht der Entscheidung der Fraktion zugewiesen. Die Aufstellung Kiesingers als Kanzlerkandidat durch die Fraktion ist besonders bemerkenswert. Denn diese Kandidatur war nicht durch einen Wahlerfolg vorgezeichnet. 1953, 1957, 1965 waren Kanzlerwahlen gewesen. Die Person des Kanzlers war durch den Wahlerfolg bestimmt. Die Präsentation eines anderen Kandidaten war ausgeschlossen. Auch die Auswahl Erhards 1963 gründete sich auf seine Wahlerfolge. Sie war die formelle Schlußfolgerung aus diesem „Plebiszit". Für die Aufstellung Kiesingers galt das nicht. Sie richtete sich sogar ausdrücklich gegen einen „volksgewählten" Kanzler. Die Fraktionen waren i n der Auswahl frei und auf sich gestellt. Die Fraktionsführung benannte die Kandidaten, als sie sah, daß der von i h r bisher gestellte Kanzler nicht i m A m t zu halten war. Der CSU-Vorstand entschied sich zwar für einen Kandidaten, Kiesinger 2 3 , nicht aber ein Parteigremium der CDU. Die Entscheidung wurde von der Fraktion allein getroffen. Initiative und Entscheidung liegen i n offenen Situationen bei den Parteien oder den Fraktionen, nicht beim Bundespräsidenten. Das hatte sich schon 1961 erwiesen, als das Wahlergebnis zumindest keine eindeutige Aussage für Adenauer erbrachte. 1969 erfolgte die Einigung wiederum zwischen den beiden, zur Koalition bereiten Fraktionen SPD und FDP des Bundestages, wobei zum ersten Mal i n der Geschichte der Bundesrepublik die stärkste Fraktion an den Verhandlungen gar nicht erst beteiligt wurde. Ein verschiedentlich behauptetes Recht, oder doch eine Konventionairegei, wonach der stärksten Fraktion jedenfalls die Initiative zur Regierungsbildung zustehe, das von v. Beyme so genannte Pluralitätsprinzip 2 4 , fand sich nicht bestätigt, hat i m Grundgesetz auch keine Grundlage. Die beiden Fraktionen einigten sich i n sehr kurzer Frist. Die Person des Bundeskanzlers stand wieder außer Zweifel; es war wiederum der Kanzlerkandidat der stärkeren Koalitionsfraktion, der SPD, den diese Partei schon lange vorher zur ihrem Kanzlerkandidaten bestellt hatte. Der Bundespräsident wurde von der Einigung unterrichtet und machte den entsprechenden Vorschlag, da angesichts der, wenn auch geringen, Mehrheit der Koalitionspartner i m Bundestag, dieser die Aussicht hatte, i n der ersten Wahlphase angenommen zu werden.
23 24
N Z Z v. 11. November 1966 Bl. 2. ν . Beyme: Regierungssysteme S. 502 und S. 511 ff.
§ 12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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I I . Rechtliche Voraussetzungen der Ausübung 1. Hat die Praxis dem Bundespräsidenten bisher keine freie Auswahl gelassen, weil sich immer Mehrheiten i m Bundestag gebildet haben, die ihrerseits dem Bundespräsidenten einen Kandidaten präsentierten, so ist jedoch denkbar, daß sich solche Mehrheiten nicht finden. Dann t r i t t die Funktion des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten erst eigentlich hervor. Der Bundespräsident muß durch seinen Vorschlag versuchen, die Mehrheit zu bilden 2 5 . Er w i r d sie zunächst i n Konsultationen m i t den Fraktionen vor dem Vorschlag für einen Kandidaten zusammenzubringen suchen. Aber wenn i h m das i n Vorverhandlungen nicht gelingt, w i r d er einen eigenen Vorschlag machen, u m so den Wahlvorgang i n Bewegung zu setzen. Der Bundespräsident soll die Lösung i n diesem Fall herbeiführen können, und sei es nur, daß unter dem Druck der drohenden Auflösung nach A r t . 63 Abs. 4 GG eine absolute Mehrheit erreicht wird. Das Vorschlagsrecht des Präsidenten ist bedeutungsvoll nur i n der Krise des parlamentarischen Systems, wenn dieses aus eigener Kraft nicht funktioniert. Insofern ist rechtlich die Praxis der Weimarer Republik i n den zwanziger Jahren bestätigt worden. Der Bundespräsident w i r d zum „Hilfs- und Ersatzorgan i n Krisenzeiten" 2 8 . Die Frage ist, ob sich angeben läßt, wann der Bundespräsident zu einem „freien" Vorschlag berechtigt ist. I n der Literatur wurde die Frage diskutiert, was zu geschehen habe, wenn der Bundespräsident keinen Vorschlag mache oder i h n verzögere 27 . Praktisch ist die Frage bisher nicht geworden. Es war i n dieser Diskussion aber deutlich geworden, daß der Vorschlag nicht über eine angemessene Frist hinausgezögert werden dürfe. Der Bundespräsident ist insofern gerade auch i m Hinblick auf A r t . 63 Abs. 4 GG verpflichtet, auf die Lösung einer Regierungskrise binnen angemessener Frist hinzuwirken. Darin besteht der eigentliche Sinn des Vorschlagsrechts. Er kann daher die Fraktionen drängen und ihnen seinerseits eine Frist nennen, innerhalb welcher sie i h m eine Persönlichkeit zu präsentieren haben, die er zur Wahl vorschlagen kann. Der SPD-Entwurf für A r t . 63 GG i m Parlamentarischen Rat hatte eine Frist von 14 Tagen nach Erledigung des Amtes für einen Vorschlag einer Persönlichkeit für das Kanzleramt durch den Bundestag vorgesehen, nach deren Ablauf dem Bundespräsidenten ein Vorschlagsrecht zufallen sollte, das dann sicher ein freies Vorschlagsrecht gewesen wäre. Diese Frist 25
Zur politischen Seite der Frage: Kaltefleiter: Funktionen S. 215 ff. Maurer: Bundespräsident S. 665 und 673 ff. 27 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 1 b S. 1228 f.; Bartelt: Regierungsbildung S. 31; Amphoux: Chancelier S. 67 ff. Die Frage erscheint akademisch. Wird der Bundespräsident keinen Vorschlag machen, damit seiner Vorschlagspflicht nicht genügen, so ist nach Fristsetzung durch den Bundestag sein Recht verwirkt und der Bundestag wählt nach eigenen Vorschlägen. 26
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
war 1961 überschritten. Erst vier Wochen nach den Wahlen stand die Person des neuen Kanzlers fest; erst drei Wochen nach dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestages, d. h. gemäß A r t . 69 Abs. 2 GG nach Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers, erfolgte die Neuwahl 2 8 . Der Bundespräsident hatte versucht, eine Allparteienregierung zu bilden zunächst unter Adenauer, dann unter einem anderen Kanzler. Er plante u m den 18./19. Oktober eine Fernsehansprache, aber alle drei Fraktionschefs rieten ab, Krone und Mende m i t dem Argument, eine Einigung stehe kurz bevor. Als diese nach einigen Tagen nicht erfolgt war, erwog der Bundespräsident Ende Oktober / Anfang November, nun einen freien Vorschlag zu machen. Aber die i n Aussicht genommenen Kandidaten Gerstenmaier und Erhard lehnten ab. Der Vorschlag unterblieb 2 9 . I n der Tat war am 20. Oktober die grundsätzliche Einigung auf Adenauer auch erfolgt; die Regierungsbildung verzögerte sich wegen anderer Fragen. Die Einigung erfolgte endgültig am 3./4. November 30 . Es wäre i n diesem Fall daher zweifelhaft gewesen, ob die „angemessene" Frist überschritten war, die dem Präsidenten ein freies Vorschlagsrecht eingeräumt hätte. Aber zweifellos war die Grenze, insbesondere unter den gegebenen politischen Umständen, nahe. Es kommt auf die Einzelumstände an. Die Frist muß der Bundespräsident nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmen. Sie w i r d von der 14-Tage-Frist nicht weit entfernt sein, da bei Neuwahlen i. a. eine hinreichende Frist bis zum ersten Zusammentritt des neuen Bundestages m i t der Erledigung des Amtes besteht und bei sonstiger Erledigung präsumptive Nachfolger vorhanden sein werden oder, wie die Vorgänge 1966 bei der Wahl Kiesingers zeigen, bestimmt werden können 3 1 . 2. Aber auch wenn sich eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bildet, die dem Bundespräsidenten einen Kandidaten präsentiert, so hat der Bundespräsident doch zu prüfen, ob dieser Kandidat rechtlich bestimmte Voraussetzungen als Kanzler erfüllt 3 2 . Persönliche Bedenken spielen also keine Rolle, vor allem nicht solche gegenüber der politischen Eignung des Kandidaten i m allgemeinen oder 28 Die Wahlen erfolgten am 17. September 1961. A m 17. Oktober trat der vierte Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, am 20. Oktober einigten sich die Fraktionen der CDU/CSU und der F D P auf eine neue Kanzlerschaft Adenauers, am 7. November erfolgte die Wahl Adenauers. 29 Der Spiegel v. 8. November 1961, Nr. 46, S. 21 - 25. 30 Archiv der Gegenwart 1961, S. 9442, Nr. 8. Auch hier waren es die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, die die Koalitionsvereinbarung endgültig billigten, also die Person des Kanzlers nominierten, wenn auch Parteigremien vorher Stellung genommen hatten. 31 Das Vertrauensfrage-Ersuchen der SPD, das Erhard endgültig in die M i n derheit versetzte, erfolgte am 8.11., die Aufteilung Kiesingers durch die CDU/ CSU-Fraktion am 10.11., die Einigung zur Bildung der Großen Koalition erfolgte knappe drei Wochen später. 32 Dazu Amphoux: Chancelier p. 54.
§ 12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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seiner politischen Vorstellungen i m besonderen. Diese kann der Präsident i n den Konsultationen m i t den Fraktionen zwar vortragen, aber nicht durchsetzen 33 . Das Grundgesetz nennt keine rechtlichen qualitativen Voraussetzungen für den Inhaber des Kanzleramtes. Da der Kanzler kein Beamter ist, treffen die für die Beamten geltenden rechtlichen Voraussetzungen auf i h n nicht zu. Gemäß § 1 BminG steht der Kanzler aber i n einem öffentlichrechtlichen Amtsverhältnis. Amphoux wendet daher auf i h n die Vorschriften des StGB an, die m i t strafrechtlichen Verurteilungen für bestimmte Delikte die durch Urteil des Gerichts auszusprechende Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter verbinden. Eine solche Unfähigkeit darf nicht vorliegen. Man w i r d Amphoux auch darin folgen können, daß der Kanzler die Voraussetzungen erfüllen muß, die für einen Abgeordneten gelten, da diese jene Voraussetzungen sind, die allgemein für einen Amtsträger verlangt werden. Der Kandidat muß 25, demnächst voraussichtlich 18 Jahre alt und Deutscher i. S. des A r t . 116 GG sein. Man w i r d eine weitere Voraussetzung hinzufügen müssen, die Verfassungstreue. Verfolgt der Kandidat erklärtermaßen verfassungsfeindliche Ziele, d. h. w i l l er die Verfassung nicht nur i m Rahmen des A r t . 79 GG ändern, sondern sie formell und/oder materiell vernichten, so kann er nicht zum Kanzler vorgeschlagen werden. Es kann dem Bundespräsidenten nicht auferlegt werden, die Verfassung dadurch zu erfüllen, daß er die personelle Voraussetzung zu ihrer Zerstörung schafft. Einen Hitler braucht er nicht vorzuschlagen, ja, er darf i h n nicht vorschlagen. Das würde seinen Amtspflichten, wie sie auch i n seinem Eid zusammengefaßt sind, widersprechen. Der Bundespräsident greift m i t der Weigerung, einen verfassungsfeindlichen Kandidaten vorzuschlagen, formal i n Rechte des Bundesverfassungsgerichts aus A r t . 18 GG und, da der Kandidat ja von einer Partei getragen ist, aus A r t . 21 GG ein. Aber es kommt hier nicht auf die formal festgestellte Verfassungsfeindlichkeit an, sondern auf die materiell verfassungsfeindliche Haltung des Kandidaten. Das Problem w i r d schwieriger i m Zusammenhang m i t der Ernennung eines vom Bundestag m i t Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder gewählten Kandidaten, der verfassungsfeindliche Tendenzen verfolgt. I m Zusammenhang m i t der Ernennung ist das Problem daher eingehender zu erörtern 3 4 . 3. Aus den vorstehenden Darlegungen ergibt sich für das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten folgendes. Der Bundespräsident hat ein Ermessen bei seinem Vorschlag, das er pflichtgemäß auszuüben hat. Bei der 83
So hat der damalige Bundespräsident Lübke 1966 zu Recht nicht in die Diskussion um die Person des Kanzlerkandidaten Kiesinger eingegriffen, obwohl dieser wegen seiner Vergangenheit im I n - und Ausland umstritten ist. 34 Unten S. 293 ff.
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
Ausübung des Ermessens hat er i m jeweiligen Fall zu prüfen, ob der Kandidat, den er vorschlagen möchte, die notwendigen rechtlichen personellen Voraussetzungen erfüllt, und ob er i m Bundestag eine Mehrheit erhält. Die zweite Frage ist die wichtigere. Gibt es i m Bundestag keine vorgegebene Mehrheit für einen Kandidaten, ist der Bundespräsident i n der Ausübung des Vorschlagsrechtes frei, m i t der Maßgabe, durch den Vorschlag selbst eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen. Ist hingegen i m Bundestag eine Mehrheit für einen bestimmten Kandidaten vorgegeben, so reduziert sich sein Ermessen darauf, diesen Kandidaten, so er die rechtlichen personellen Voraussetzungen erfüllt, vorzuschlagen 35 . Die Mehrheit kann bereits durch das Wahlergebnis gegeben sein. Sie kann aber auch durch Koalitionsabmachungen zustande kommen. Sollte sich aus den Koalitionsabreden ein anderer Kandidat ergeben als aus der Wahl, etwa weil der Koalitionspartner den Spitzenkandidaten der Mehrheitspartei nicht akzeptiert 36 , so hat der Bundespräsident den Kandidaten der Koalitionsfraktionen vorzuschlagen, w e i l nur er eine Mehrheit i m Bundestag erhalten kann. Der Bundestag wählt den Kanzler, nicht die Wählerschaft. Das Ergebnis der Bundestagswahl ist nur ein Anhaltspunkt. Die Fraktionen haben daher gegenüber dem Wähler, so 1961 und 1965/1966, die stärkere Stellung 3 7 . Vereinigen sich Fraktionen zu einer Mehrheit i. S. des A r t . '63 Abs. 2 GG und nominieren sie einen Kandidaten, so würde ein anderer Vorschlag des Bundespräsidenten rechtswidrig sein. A r t . 63 Abs. 1 und 2 GG sind durch jedenfalls konventionell abgesicherte Verfassungspraxis dahingehend konkretisiert worden 3 8 , daß der Bundespräsident rechtlich gebunden ist, da er sonst nicht etwa nur sein Prestige aufs Spiel setzt oder politisch nicht sinnvoll oder zweckmäßig handelt, sondern weil das Grundgesetz dem Bundestag das entscheidende Wort gegeben hat. Der Vorschlag des Bundespräsidenten ist ersetzbar, der Wahlakt des Bundestages nicht. Dieser trägt die letzte Verantwortung 3 9 . Ist der Wille des Bundestages erkenn35
So wohl auch Langner: Recht S. 95/96. Das wäre ζ. B. 1961 denkbar gewesen und ist — mit einjähriger Verzögerung —1965/66 tatsächlich eingetreten. 37 Gegen die rechtliche Bindung an das Personalplebiszit der Wahl auch Langner: Recht S. 94. 38 Gerade die umstrittenen Fälle Adenauer 1961, Erhard 1963 und Kiesinger 1966 haben es als selbstverständlich und außerhalb jeder Debatte erscheinen lassen, daß die Fraktionen, evtl. aber nicht notwendig gestützt auf das Wahlergebnis, den Bundeskanzler bestimmen. Der Bundespräsident ist in keinem Fall auch nur gefragt worden, und dieser hat keine bekanntgewordenen Einwände erhoben. Man war offenbar der Überzeugung, daß der eingeschlagene Weg derjenige sei, der dem deutschen Verfassungsrecht durchaus entspräche. Es handelt sich daher um mehr als um eine bloße Konventionairegel ohne Rechtscharakter, dazu oben S. 48 ff. 39 Deshalb ist für den Vorschlag eine Gegenzeichnung nicht notwendig, wie die Lehre in Ausdehnung des Art. 58 GG zu Recht, wenn auch mit anderer Be36
§ 12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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bar, so kann ein diesem nicht entsprechender Vorschlag des Bundespräsidenten nur bedeuten, daß der Präsident den Willen des Bundestages nicht zu respektieren gedenkt. Das aber ist i h m nicht gestattet. Tatsächlich würde die erste Wahlphase zur Farce, und i m ersten Wahlgang der zweiten Wahlphase würde der Kandidat der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages doch gewählt und müßte vom Präsidenten gemäß Abs. 3 ernannt werden 4 0 . Nicht nur sein eigenes Prestige, sondern das des Amtes und des Grundgesetzes würde bei einem solchen Spiel diskreditiert. Man könnte darin allein schon einen Verstoß gegen die i m Eid bekräftigte Pflicht, das Grundgesetz zu wahren und zu verteidigen, sehen. Aber noch mehr: Letztlich wäre diese „politische Demonstration" nur als die Absicht zu deuten, eine Minderheitsregierung, und zwar als Kampfregierung gegen den Bundestag, zu bilden. Das aber gerade wollte das Grundgesetz m i t der Wahl durch den Bundestag ausschließen 41 . Es genügt nicht mehr, wie i n Weimar, die Vermutung des Vertrauens für den Kanzler. Es bedarf des ausdrücklich i n der Wahl erklärten Vertrauens. Schon unter der Weimarer Reichsverfassung war die Zulässigkeit der Kampfregierung umstritten, wenn auch die h. L. sie bejahte. Der Bundestag soll den Kanzler tragen, und nur er. Die Auswahl des Kandidaten durch die beteiligten Fraktionen ist Wahrnehmung einer die Wahl vorbereitenden Funktion, nicht etwa das private Tun der Abgeordneten. Es ist Teil der Regierungsbildung, deren entscheidender Teil, die Benennung des Kanzlers, für den Normalfall dem Bundestag zugewiesen ist. Es ist also bereits der Beginn der Ausübung von Staatsgewalt. Es ist dem Bundespräsidenten nur i n dem Falle erlaubt, seinen Willen gegen den des Bundestages zu setzen, wenn dieser i n der 3. Wahlphase den Bundeskanzler m i t relativer Mehrheit wählt. Sonst muß der Bundespräsident der absoluten Mehrheit weichen und den von ihr gewünschten Vorschlag machen. Amphoux zieht daher m. E. den falschen Schluß aus der gegenüber der Weimarer Verfassung veränderten Regelung der Bestellung des Bundeskanzlers, wenn er meint, die These Richard Thomas gelte nicht mehr, daß der Reichspräsident einen gründung, annimmt, für alle v. Mangoldt-Klein: 1 c, S. 1229 mit weiteren Zitaten.
Kommentar Art. 63 Anm. I I I
40 Darauf weist selbst der stärkste Streiter für die juristische Vorschlagsfreiheit, Amphoux: Chancelier S. 72 ff., hin. Für den Fall, daß der Bundespräsident einen Kandidaten benennt, der „manifestement, ne peut disposer d'aucun soutien parlementaire", stimmt er Münch (Bundesregierung S. 134 [nicht 163]) zu, daß eine diesen Vorschlag übergehende Wahl gültig sei und die Ernennungspflicht auslöse. Das ist aber eine theoretische, von Amphoux nicht ausgetragene Diskrepanz. Dazu auch Kaltefleiter: Funktionen S. 215. 41 Es genügt also nicht, wenn Amphoux meint, daß ein Vorschlag, der keine parlamentarische Unterstützung habe, nur ein „jeu pernicieux... peu soucieux de la réalité politique" sei. Es ist mehr: Ein Versuch, dem Willen des Bundestages, der gem. Art. 63 Abs. 1 GG entscheidet, den eigenen Willen aufzuzwingen, das organisatorische Gefüge umzustürzen.
eige
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Kanzler ernennen müsse, der das — zunächst unterstellte — Vertrauen des Reichstages habe 42 . Diese These gilt so i n der Tat nicht mehr. Aber sie ist verschärft, nicht aufgehoben. Wenn Amphoux einwendet, der Präsident werde auf die „rôle de simple figuration" zurückgeschraubt, so ist entgegenzuhalten, daß diese Rolle i m Normalfall durchaus i m Sinne des Grundgesetzes liegt. Wenn klare Mehrheitsverhältnisse i m Bundestag vorliegen, bedarf es keines Schiedsrichters zwischen den Konflikten der Parteien mehr, welche Rolle Amphoux dem Präsidenten erhalten möchte 43 , w e i l diese selbst die Konflikte überwunden haben. Das schließt eine helfende, moderierende Hand nicht aus. Bartelt w i l l die Vorschlagsfreiheit erhalten wissen, damit der Präsident „als Vertreter der Öffentlichkeit", als „parteipolitisch neutrales Staatsoberhaupt" gegebenenfalls kontrollierend durch die politische Demonstration auf die Parteien einwirken kann, sich nicht von „unsachgemäßen Parteiinteressen leiten zu lassen" 44 . Der Präsident ist i. a. aber selbst Parteimann, so daß die entscheidende Voraussetzung der parteipolitischen Neutralität fehlt. Welches sind seine Kriterien, welches ist vor allem seine Verantwortlichkeit? Bartelt selbst gibt zu, daß eine derartige „Demonstration vielleicht nicht viel Durchschlagskraft" habe. Sie w i r d den Rückt r i t t des Präsidenten herbeiführen. 4. Die Fehlanalyse der h. L., die eine rechtliche oder „formelle" Freiheit und eine politisch-faktische oder „materielle" Bindung annimmt, hat ihren Grund i n den unklaren Vorstellungen über das Verhältnis von „Verfassungsrecht" und „Verfassungswirklichkeit" i n der Auslegung einer Norm des Grundgesetzes. Darüber ist oben bereits gehandelt worden. Die h. L. setzt auf Grund dieser unklaren Vorstellungen zwei Aussagen — „formelle Freiheit" und „materielle Bindung" — zueinander i n Beziehung, die aber so die Frage gar nicht beantworten, da sie entweder einander, da sich widersprechend, ausschließen oder auf zwei verschiedenen Ebenen zwar gleicherweise bestehen können, aber dann nur i n eben dieser Ebene gelten, ohne aber i n gegenseitige Beziehung zu treten. Das w i r d besonders deutlich bei Glum 4 5 . Dieser sieht durchaus den Unterschied der Praxis, der „Verfassungswirklichkeit" zu der von i h m behaupteten rechtlichen Vorschlagsfreiheit. Aber statt für die Interpretation daraus die Folgen zu ziehen, setzt er einen Unterschied zwischen „juristischer Interpretation und Praxis" 4 6 . Das führt dann notgedrungen zu folgender Aussage: „ I n der Praxis ist der A k t der Regierungsbildung nicht der i n A r t . 63 Abs. 1 geregelte Fall, sondern i h m gehen Initiativen und 42 43 44 45 46
Chancelier S. 50. Chancelier S. 49: „Le Président fédéral fait figure d'un arbitre." Regierungsbildung S. 47 ff. Regierungssystem S. 342. Regierungssystem S. 344.
§12 Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten
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Verhandlungen der Parteien i n der Regel voraus 4 7 ." Das bedeutet: Die Regierungsbildung vollzieht sich zumindest außerhalb, wenn nicht sogar gegen die Verfassung. Der Bundespräsident könnte u. U. m i t Erfolg Organklage erheben. Methodisch können Interpretation und Praxis nicht getrennt werden, ohne rechtlich die Praxis i n Widerspruch zum Recht zu bringen. Es sei denn, man akzeptiert die These von Beymes, die juristische Regelung der Kabinettsbildung habe nur geringe Bedeutung 48 . Wenn auch die juristische Regelung nicht den gesamten Vorgang erfassen kann, auch nicht zu erfassen braucht, so hat sie doch die unverzichtbare Funktion, ihn zu lenken und zu steuern, indem sie die Beteiligten i n ein bestimmtes Verfahren zwingt, u m so ein sicheres Ergebnis zu erzielen. Zwar kann es nicht Aufgabe der Interpretation sein, jede Praxis zu rechtfertigen; wohl aber w i r d eine Zuständigkeitsnorm erst i n der Praxis überhaupt greifbar und der Interpretation zugänglich, auch gerade der k r i t i schen. Die Trennung von Interpretation und Praxis drängt das Recht i n einen elfenbeinernen T u r m und gibt der Praxis erst den rechtsfreien Raum. Sie erstellt ein bloßes Sollen ohne Grund i n der Wirklichkeit und verbleibt damit letzten Endes außerhalb der Realität. Das gilt auch für die Auffassung Hans Schneiders, der einerseits feststellt, die Vorschriften des A r t . 63 GG enthielten „nur die halbe Wahrheit; nämlich insofern, als jene Verfassungsartikel die Regierungsbildung als einen politischen Vorgang weder erschöpfend beschreiben noch die Gewichtsverteilung erkennen lassen. Das GG übergeht vollständig die Einwirkung und M i t w i r k u n g der Parteien an der Regierungsbildung...". Trotzdem zieht Schneider sich aber darauf zurück, daß der Jurist „sich jedoch bei der Erörterung der Frage, wie die Regierungsbildung zu geschehen hat, an die Bestimmungen des Grundgesetzes w i r d halten müssen und es bei der Exegese der einschlägigen Verfassungsartikel und der Ermittlung ihres Sinnes i m Zusammenhang des übrigen Verfassungsrechts bewenden lassen dürfen" 4 9 . Das mag 1953, wo es fast keine Praxis gab, so geschienen haben. Aber bloße Exegese der Normen, die deren Bezug zur Wirklichkeit nicht einbezieht, trennt beides und entzieht dem Juristen die Wirklichkeit, die das Recht gerade formen soll 5 0 . Verfassungsrecht würde zur leeren Hülse. Es ist jedoch tragendes rechtliches Gerippe des politischen Entscheidungssystems. Es leitet die Praxis normativ an. Aber es ist seine Eigenart, einen weiten Spielraum für diese Praxis zu lassen. Diese Eigenart hat ihren Grund i n der Notwendigkeit, den Entscheidungsprozeß den Veränderungen und Entwicklungen der Wirklichkeit anzupassen unter Wahrung der Funktion der Normen i m Rahmen des Systems. Daraus ergibt 47
Regierungssystem S. 344. v. Beyme: Regierungssysteme S. 501. Regierungsbildung S. 1330. 50 Zum Bezug des Rechts zur Wirklichkeit die gedankenreiche Studie v o n Krawietz: Recht. 48
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sich aber, daß für die Interpretation der Normen der Zusammenhang von Norm, d. h. i m vorliegenden Zusammenhang von Zuständigkeitsregelungen, und ihrer Praxis i m Auge behalten werden muß. Es ist keine Lösung, weil sie die Funktion des Rechts zur Ordnung und Gestaltung der Wirklichkeit verkennt, das Recht „ i n the books" von der Verfassung zu unterscheiden, wie sie wirklich arbeitet 5 1 .
I I I . Die Stellung des Präsidenten in den Vorverhandlungen Ist der Bundespräsident i n der vorstehend bestimmten Weise bei der Ausübung des Vorschlagsrechtes rechtlich gebunden, so ist er doch i n den vorhergehenden Verhandlungen nicht einflußlos oder gar ausgeschaltet. Das rechtliche Maß seiner formellen Möglichkeiten und seines inhaltlichen Einflusses ist umstritten. Die Frage ist, ob der Bundespräsident den Vorschlag an bestimmte Abmachungen m i t dem Kandidaten und den Fraktionen binden kann. Küchenhoff nennt derartige Abmachungen „über die Sachprogrammatik der zu bildenden Bundesregierung, und zwar unmittelbare Sachvereinbarungen über die Richtlinien der Politik, mittelbare Sachvereinbarungen i n Gestalt von Absprachen über die sachbezogenen Elemente von Koalitionsbildung, Kabinettszusammensetzung und Ministerauswahl", „Präsentationskapitulationen" 52 . Küchenhoff verneint die Frage zu Recht. Derartige Präsentationskapitulationen berühren nicht nur das Verhältnis von Bundespräsident und Bundeskanzler, sondern auch die Verhältnisse beider zum Bundestag, v. Mangoldt hat dem Bundespräsidenten über die Vermittlung hinaus zugestanden, „die Benennung der betreffenden Persönlichkeit davon abhängig (zu) machen, daß seinen Wünschen hinsichtlich der Richtlinien der Politik wie der Besetzung der Regierung soweit wie möglich entsprochen w i r d " 5 3 , ohne das näher zu begründen. K l e i n hat i n der zweiten Auflage diese Ansicht nicht mehr vertreten 5 4 . Die Praxis sah bisher so aus, daß die Fraktionen des Bundestages m i t einander verhandelten und den Bundespräsidenten über den Stand ihrer Verhandlungen und schließlich von deren Ergebnissen unterrichteten. I n der bisher schwierigsten Regierungsbildung 1961 hat der Bundespräsident eine dann gescheiterte sachliche Initiative zu entwickeln versucht, indem er eine Allparteienregierung anstrebte 55 . Der zweite Bundespräsi51
So Sternberger im Anschluß an Walter Bagehot: Regierung S. 18. Küchenhoff : Präsentationskapitulationen S. 677; dazu auch Langner: Recht S. 97 f. 53 Kommentars.341. 54 Kommentar Art. 63 Anm. I I I 1 a S. 1228. 55 Oben S. 237 f. 62
§ 13 Die Wahl des Bundeskanzlers
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dent schien der Ansicht zu sein, daß i h m jedenfalls bei zweifelhaftem Wahlausgang die Initiative zustünde. So versuchte er 1965 kurz vor der Wahl, i n Briefen an die i n Frage kommenden Parteien sich einEinflußrecht zu sichern 56 . Er konnte sich aber schon deswegen nicht durchsetzen, weil die Wahl 1965 ein eindeutiges Votum enthielt. I n den eigentlichen Verhandlungen spielte keiner der Bundespräsidenten bisher eine entscheidende Rolle. Er bestimmte das Sachprogramm weder unmittelbar noch mittelbar. Der Bundeskanzler w i r d vom Bundestag gewählt und ist von dessen Vertrauen allein abhängig, denn nur der Bundestag kann einen Bundeskanzler ablösen. Eine Präsentationskapitulation würde eine Abhängigkeit des Bundeskanzlers auch vom Bundespräsidenten bedeuten, also ein zweites Vertrauensverhältnis begründen, das zum ersten u. U. i n Widerspruch geraten könnte. Es wäre ein dem der Weimarer Zeit ähnlicher, wenn auch abgeschwächter, da mangels Entlassungsrecht undurchsetzbarer Zustand zweifacher Abhängigkeit begründet, den das GG gerade durch die strenge, einseitige Zuordnung des Bundeskanzlers zum Bundestag nicht mehr w i l l .
§ 13 Die Wahl des Bundeskanzlers I. Die Regelung des Grundgesetzes Die Wahl des Bundeskanzlers ist i n A r t . 63 GG geregelt. Es werden drei Wahlphasen unterschieden: Die erste umgreift die Abstimmung über den Vorschlag des Bundespräsidenten. Die zweite schließt sich an, wenn der Vorschlag nicht bestätigt wird, dauert 14 Tage und umfaßt beliebig viele Wahlgänge 1 . Sie beginnt m i t dem auf den ersten Wahlgang folgenden Tag; § 187 BGB drückt einen allgemein gültigen Rechtssatz für den Fristbeginn nach deutschem Recht aus 2 . Die dritte Wahlphase t r i t t nach A b lauf der Frist ein und umfaßt i n der Regel nur einen, unverzüglich abzuhaltenden Wahlgang. Die zweite Wahlphase kann verstreichen, ohne daß 56 Brief an die Vorsitzenden der in Frage kommenden Parteien vom 16.9. 65, 3 Tage vor dem Wahltag; Winkler: Bundespräsident S. 82. Auch hier strebte er eine bestimmte sachliche Regelung an, die Große Koalition mit einer bestimmten Außenpolitik. Dazu auch v. Beyme (Regierungssysteme S. 532), der zu Recht darauf hinweist, daß dieses Vorgehen nicht nur dem Präsidenten selbst, sondern auch dem Amt schweren Schaden zufügte. 1 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I S. 1227 mit weiteren Verweisen. 2 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I V 6 S. 1235; Amphoux: Chancelier S. 90.
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eine Wahlhandlung stattfände, also inhaltlich entfallen. Das folgt aus dem Wortlaut: „ K o m m t eine W a h l . . . nicht zustande." I n den beiden ersten Wahlphasen ist für die Wahl die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages erforderlich, i n der dritten Wahlphase genügt die relative Mehrheit. Es kommt i n der dritten Wahlphase regelmäßig nur ein Wahlgang i n Frage. Ergibt sich allerdings Stimmengleichheit, so ist eine Wahl noch nicht zustandegekommen, und es muß ein weiterer Wahlgang stattfinden 3 . Dasselbe gilt, wenn der Gewählte die Wahl ablehnt 4 . Der Bundestag muß beschlußfähig sein. Die Beschlußfähigkeit kann nicht unterstellt werden, da eine Wahl stattfindet und eine sich bei der Wahl ergebende Beschlußunfähigkeit gem. § 51 GO-BT zur Wiederholung der Wahl führt. Münch und Trossmann sind der Meinung, daß eine Wahl bei Beschlußunfähigkeit eine Ablehnung bedeutet, da die Wahl i n einer angemessenen Zeitspanne durchgeführt werden müsse 5 . A r t . 40 Abs. 1 Satz 1 GG gibt dem Bundestag das Recht, sich eine eigenständige Organordnung zu geben. Soweit das Grundgesetz keine Regelung trifft, gilt die Geschäftsordnung. § 51 GOBT widerspricht dem Grundgesetz nicht. Trossmann beruft sich zwar auf die Wahlphaseneinteilung des A r t . 63 GG, aber seine These ergibt sich daraus nicht schlüssig. Es besteht keinerlei Veranlassung, von dem Recht der Geschäftsordnung abzuweichen. Der Gedanke der Obstruktion spielt sicher eine Rolle. Aber wenn die Lage derart ist, ist eine Wiederholung eher zur Abkühlung geeignet, als ein Durchsetzen. I n der ersten Wahlphase sind die Abgeordneten an den Vorschlag des Bundespräsidenten gebunden und stimmen über diesen allein ab. Für ihn gelten nach Praxis und einhelliger Lehre sowohl „ja"-Stimmen wie Namensstimmen 6 . W i r d der Vorschlag abgelehnt, so ist die erste Wahlphase beendet und die Frist des Absatzes 3, d. h. die zweite Wahlphase beginnt. I n der zweiten Wahlphase geht das Vorschlagsrecht auf die Abgeordneten des Bundestages über. Bleibt der Vorschlag des Bundespräsidenten als solcher neben Vorschlägen der Abgeordneten für die zweite Wahlphase weiterhin zur Wahl gestellt? Ohne irgendeine Stütze i m Grundgesetz und gegen 8
v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. V 1 b, S. 1235. So auch Trossmann: Parlamentsrecht S. 64; a. A. K a r l Friedrich Fromme: Geschäftsordnungsfragen sind Machtfragen, Bespr. des vorgenannten Buches, F A Z v. 7. Sept. 1968, Nr. 208, S. 12; Bartelt: Regierungsbildung S. 59. 5 Münch: Bundesregierung S. 131; Trossmann: Parlamentsrecht S. 65. Akut wird das vor allem in der ersten und der dritten Wahlphase. Die zweite kann, wie dargelegt, ungenutzt verstreichen. Amphoux: Chancelier S. 79 ist schwankend, stimmt aber beiden eher zu. ® Für alle: v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 2 a, S. 1231 mit Verweisen auch auf die Praxis, insbesondere die erste Wahl Adenauers 1949. 4
§ 13 Die Wahl des Bundeskanzlers
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dessen verständlichen Wortlaut ist Glum der Ansicht, der Präsident könne weitere Vorschläge machen, über die gem. Abs. 2 zu entscheiden sei und die den Beginn der 14-Tage-Frist hemmten 7 . Schäfer nimmt an, daß er auch ohne Aufnahme und Unterstützung durch Abgeordnete neben den aus der Mitte des Bundestages vorgeschlagenen Kandidaten fortbesteht 8 . Das könnte dem Vorschlag des Bundespräsidenten einen Vorteil verschaffen. Denn die Vorschläge aus der Mitte des Hauses bedürfen gem. § 4 Abs. 5 GOBT der Unterstützung eines Viertels der Mitglieder des Hauses. Dieses Unterstützungserfordernis ist eine Schranke für Vorschläge aus der Mitte des Hauses, die der fortbestehende Vorschlag des Bundespräsidenten nicht mehr zu überspringen braucht. Der Bundespräsident würde auch i n der 2. und 3. Wahlphase mehr Einfluß haben als ein Abgeordneter. K l e i n 9 und Trossmann 10 sind zu Recht der Meinung, daß nur Vorschläge aus der Mitte des Bundestages mit der i n § 4 Abs. 5 GOBT genannten Unterstützung zur Wahl stehen können 1 1 . Der Vorschlag des Bundespräsidenten steht also i n der 2. und 3. Wahlphase nicht mehr als solcher zur Wahl. Grundsätzlich könnte es fraglich erscheinen, ob dieses Unterstützungsquorum überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist 1 2 . Für die zweite Wahlphase ergeben sich wegen des Erfordernisses der absoluten Mehrheit für die Wahl keine Bedenken. I n der dritten könnte man die Ansicht vertreten, daß auch weniger als ein Viertel der Stimmen die relative Mehrheit ausmachen können und daher die Quorumsvorschrift verfassungswidrig sei, weil sie u. U. die Wahl daran scheitern läßt, daß kein Quorum und damit keine Kandidatur zustande käme 1 3 . Aber m i r erscheint diese Überlegung müßig. Ein Minderheitskanzler m i t einer „Mehrheit" von weniger als einem Viertel der Mitglieder des Bundestages ist i m Hinblick auf den Bestand der Bundesrepublik keine sinnvolle Vorstellung. Die Wahl erfolgt i n der ersten Wahlphase ohne Aussprache. F ü r die weiteren Wahlphasen enthält das Grundgesetz keine entsprechenden Vorschriften. Das Verbot der Aussprache in der ersten Wahlphase dient vor allem dem Schutz des Prestiges des Präsidenten. Wegen dieses nur eine Person zur Wahl stellenden Vorschlages, der seinerseits auf Fraktions7
Regierungssystem S. 347; dagegen zu Recht: Amphoux: Chancelier S. 88 ff. Bundestag S. 23. 9 Kommentar Art. 63 Anm. I V 1 a S. 1233. 10 Trossmann: Parlamentsrecht S. 63. 11 Gegen den Ausschluß des Bundespräsidenten in der zweiten Wahlphase Nawiasky: Die Grundgedanken des Grundgesetzes S. 95; dafür: Amphoux (Chancelier S. 94 ff.), der es zu Recht für einen „pessimisme exagéré à l'égard du Parlement" hält, wenn man nur dem Bundespräsidenten gute Absichten und Wissen um das nationale Wohl unterstellt; ebenso Langner: Recht S. 95. 12 Amphoux: Chancelier S. 86 ff. und S. 103 ff. 18 Trossmann: Parlamentsrecht S. 63 f., dazu die genannte Besprechung von Fromme; Amphoux: Chancelier S. 103 ff.; Münch: Bundesregierung S. 41. 8
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Vorschlägen i. d. R. beruht, ist die Aussprache auch nicht notwendig. I n der zweiten Wahlphase und i n der dritten jedoch ist das Prestige des Präsidenten nicht i n Frage gestellt. Eine Aussprache ist aber, zumal wenn mehrere Kandidaten vorhanden sind, notwendig. Eine entsprechende A n wendung des Ausspracheverbotes, also seine Ausdehnung entgegen dem Wortlaut der Abs. 3 und 4, ist daher abzulehnen 14 . Demgegenüber trägt auch nicht der Gedanke, die Autorität des Kanzlers solle nicht beeinträchtigt werden. Das ist ein der Demokratie nicht angemessenes Autoritätsverständnis. Demokratie verlangt Verbundenheit der Amtsinhaber als Ausüber der Staatsgewalt m i t dem Volk als Träger der Staatsgewalt. Aus dieser Verbundenheit erwächst die Autorität. Sie ist wesentlich auch von der Qualität des Amtsinhabers bestimmt und findet ihren Ausdruck i n der Unterstützung der Person des Kanzlers und seiner Politik durch den Bundestag als Repräsentativorgan des Volkes. Das Schweigen über die Person w i r d zudem doch nur i m Plenum, sonst aber nirgends beachtet, wie die Debatte u m die Vergangenheit Kiesingers i m Dritten Reich bei seiner Nominierung 1966 gezeigt hat. Es ist daher nicht nur für den Betroffenen besser, personelle Fragen offen i m Plenum zu behandeln. Die offene Aussprache über die m i t der Ausübung von Macht zu Betrauenden ist vor allem einer demokratischen Amtswaltung zugehörig, die auf i n der Öffentlichkeit zu verwirklichende Verantwortung gegenüber dem Bundestag und dem Volk gegründet ist. Der Ausschluß der Aussprache über eine zu wählende Person ist daher der Ausnahmefall 1 5 , der i m Grundgesetz vorgeschrieben ist und für dessen Ausdehnung Gründe nicht gegeben sind 1 8 . Π . Zur Ersetzbarkeit des Wahlaktes 1. Die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag ist, ausgenommen i m Verteidigungsfall gem. A r t . 115 h Abs. 2 GG unersetzbar. Der Entwurf von Herrenchiemsee hatte i n A r t . 88 Abs. 1 vorgesehen, daß nach Ablauf eines Monates nach Erledigung des Amtes der Bundespräsident den Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernennen könne, 14 Wie hier: Münch: Bundesregierung S. 138, Fußnote 9; Bartelt: Regierungsbildung S. 47 und S. 53 f.; Amphoux: Chancelier S. 77 und S. 91 ff. Er bezeichnet die Ausdehnung des Ausspracheverbotes über Art. 63 Abs. 1 GG hinaus als „extension abusive" und verweist auf den Unterschied zur französischen Verfassung und Praxis der I V . Republik; Langner: Recht S. 112. a. Α.: ν . MangoldtKlein: Kommentar Art. 63 Anm. I V 3, S. 1234; Trossmann: Parlamentsrecht S. 61. Nicht die Zulassung der Aussprache ist angesichts des Wortlautes zu begründen, sondern die Nichtzulassung, das übersehen v. Mangoldt-Klein. 15 Amphoux: Chancelier S. 91 ; Bartelt: Regierungsbildung S. 54. 18 Es sei nur darauf hingewiesen, daß für Art. 67 GG auch v. Mangoldt-Klein (Kommentar Art. 67 Anm. I I I 3 b, S. 1298) die Aussprache ohne Einschränkung, also sowohl über den zu stürzenden als auch über den neu zu wählenden Kanzler in sachlicher wie in personeller Hinsicht, zulassen.
§ 13 Die Wahl des Bundeskanzlers
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falls der Bundestag i n dieser Zeit keinen Kanzler benenne 17 . A n diesem Vorschlag sollte der Bundespräsident allerdings anders als an den des Bundestages nicht gebunden sein. Er sollte dem Bundestag weitere Zeit lassen können. Wenn er aber die Ernennung auf Vorschlag des Bundesrates vornähme, sollte i h m ein fortdauerndes Recht zur Auflösung des Bundestages, d. h. aber eine Bemühung u m Herstellung einer Mehrheit für einen Vorschlag aus dem Bundestag, zustehen. Damit sollte eine „Legalitätsreserve" geschaffen werden, u m einerseits Krisen des strengen Parlamentarismus zu vermeiden, andererseits aber nicht den Weg der Präsidialkabinette beschreiten zu müssen. I m Parlamentarischen Rat w a r diese „Legalitätsreserve" des Bundesrates von Anfang an umstritten. Sie wurde zum ersten M a l i n einem Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 16. 12. 1948 fallengelassen, i n dem gleichzeitig die dritte Wahlphase und die relative Mehrheit als hinreichend eingefügt worden waren. I n der 33. Sitzung des Hauptausschusses begründete der Abgeordnete Dr. Dehler diesen Vorschlag damit, daß die Legalitätsreserve Bundesrat überflüssig sei, w e i l die Legalitätsreserve des Bundestages, die relative Mehrheit, eingefügt worden sei. Der Abgeordnete Heuss wollte die „Ausweichstelle" Bundesrat vermeiden und aus „Erziehungszwang dem Parlament die Verantwortung schon deutlich geben" 18 . Die Stellung des Bundestages war damit eindeutig i m jetzigen Sinne festgelegt. Seine Wahl ist entscheidend. Das parlamentarische System ist i n voller Eindeutigkeit jedenfalls i n diesem Punkt hergestellt. Eine bloße Vertrauensvermutung wie zur Zeit der Weimarer Verfassung und damit ein Kampfkabinett sind ausgeschlossen. Allerdings bleibt das nur tolerierte Minderheitenkabinett auf Grund des A r t . 63 Abs. 4 GG möglich. M i t Recht bemerkt v. Beyme, daß man nicht jede Minderheitsregierung als antiparlamentarisch diffamieren dürfe 1 9 . 2. I m Verteidigungsfall wählt der Gemeinsame Ausschuß, soweit er an die Stelle des Bundestages t r i t t , m i t der Mehrheit seiner Mitglieder den neuen Bundeskanzler, A r t . 115 h Abs. 2 Satz 1 GG. Unterschiedliche Wahlphasen werden nicht erwähnt. Ein Minderheitskanzler soll also nicht hinreichen, wenn er nur vom Gemeinsamen Ausschuß gewählt wird. Bleibt der Bundestag funktionsfähig und nimmt er die Neuwahl vor, w i r d es auch i m Verteidigungsfall bei der Regelung des A r t . 63 bleiben; ein A u f lösungsrecht entfällt gemäß A r t . 115 h Abs. 3 GG aber i n jedem Fall. A r t . 115 h Abs. 2 Satz 1 GG ist unklar. Er spricht von „einem Vorschlag" des Bundespräsidenten. Sind Vorschläge aus der Mitte des Ge17
JöR Bd. 1 S. 427. Sten. Prot, der 33. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 8.1.1949, S. 408. 18
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ν . Beyme: Regierungssysteme S. 570.
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II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
meinsamen Ausschusses damit ausgeschlossen? Ein Vergleich m i t dem Normalfall i n diesem Punkt kann Klärung bringen. I m Normalfall ist der Vorschlag des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 Abs. 2 GG, wie dargelegt, nur für den ersten Wahlgang allein zur Abstimmung zu stellen. Er steht i n den weiteren Whalphasen nicht mehr zur Wahl. Entsprechendes muß für den Wahlvorschlag des Bundespräsidenten für die Wahl des Bundeskanzlers durch den Gemeinsamen Ausschuß gelten. Erreicht dieser i m ersten Wahlgang die absolute Mehrheit nicht, so werden für die weiteren Wahlgänge auch Vorschläge aus der Mitte des Gemeinsamen Ausschusses, dann aber neben dem fortbestehenden Vorschlag des Bundespräsidenten zugelassen werden müssen, so daß doch zwei Wahlphasen zu unterscheiden sind 2 0 . Man w i r d auch neue Vorschläge des Bundespräsidenten i n Erwägung ziehen können. Nur durch diese beiden Rechte läßt sich ein schnelles Ende einer Regierungskrise erreichen. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß, wie Langner zu Recht betont, angesichts der Zusammensetzung des Gemeinsamen Ausschusses „die Legitimationsbasis eines solchen Bundeskanzlers denkbar schmal" ist 2 1 .
ΙΠ. Die Koalitionsabsprache Können die Abgeordneten des Bundestages die Wahl des Bundeskanzlers an personelle und/oder sachliche Bedingungen m i t rechtlich verpflichtender K r a f t binden? Das ist die Frage nach der rechtlichen K r a f t und Natur der Koalitionsabsprachen vor der Kanzlerwahl. Sie sind mehrfach behandelt worden 2 2 . Es besteht Einigkeit darüber, daß einerseits solche formlosen, mündlich oder schriftlich getroffenen Absprachen, deren Inhalt sich i. a. auf die Person des Bundeskanzlers, Verteilung und personelle Besetzung der Ressorts, inhaltliche Festlegungen der gemeinsam zu befolgenden Polit i k u. ä. beziehen, zum zulässigen und sogar notwendigen politischen Instrumentarium i n der parlamentarischen, auf mehreren Parteien aufbauenden Demokratie, wie sie i n der Bundesrepublik besteht, gehören 20 Die Begründung des Regierungsentwurfes, Drs. V/1879, S. 29 f., geht auf die Problematik nicht ein, spricht aber auch nur von „einem Kandidaten", den der Bundespräsident vorschlägt. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch aus der Mitte des Gemeinsamen Ausschusses Vorschläge kommen sollen. 21 Langner: Recht S. 62. 22 Liermann: Natur; Sasse: Koalitionsvereinbarung; Maiwald: Wesen; Friauf: Problematik; Schule: Koalitionsvereinbarungen; Kewenig: Rechtsproblematik; Marcie: Koalitionsdemokratie; Weber-Timmermann: Koalitionsvertrag; Kafka: Stellung S. 84 ff.; Henke: Recht S. 119 ff. Politologische Untersuchungen tatsächlicher Vorgänge der Koalitionsbildung finden sich in Sternberger: Verfassung S. 43 - 132; Domes: Mehrheitsfraktion S. 49 - 9 3 ; für Niedersachsen: Roth: Fraktion.
a l des Bundeskanzlers und grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig sind 2 3 . Ohne Koalitionsabsprachen kommt es weder zu einer Kanzlerwahl noch zu einer Regierungsbildung. Sie gehen dem Wahlakt vorauf. Aber daraus schließen zu wollen, dieser trete dadurch zurück, der Einfluß des Parlamentes sei zurückgedrängt 24 , verkennt die Zusammenhänge, weil dabei zu punktuell nur auf den Wahlakt bezogen gedacht und nicht der Entscheidungsprozeß i m Ganzen gesehen wird. Auch w i r d nicht gesehen, daß die Parteien nur den Einfluß haben können, w e i l die Fraktionen als Organteile des Bundestages Entscheidungen fällen können, w e i l sie die Investitur beschließen. Andererseits können der Bundeskanzler und andere Organwalter als solche bei der Wahrnehmung ihrer Amtszuständigkeiten rechtlich durch diese Koalitionsabkommen nicht verpflichtet werden. Vorherrschend ist die Deutung der Koalitionsabkommen als Vertrag zwischen den sie abschließenden Parteien 25 . Eine andere Meinung verweist sie ganz i n den Rahmen des rechtlich ungebundenen Politischen 26 . Schüle schließlich hat eine Mittelmeinung eingenommen, ihnen zwar als Verhalten verfassungsrechtliche Relevanz zu-, aber jegliche Verpflichtungskraft auch für die Parteien und deren Angehörige abgesprochen 27 . 1. Als erstes stellt sich die Frage nach dem Inhalt der Koalitionsabsprachen. Sie umfassen i. a. zwei Teile: einen materiellen und einen personellen Teil. Der personelle Teil soll vorerst dahingestellt bleiben, da er innerlich von den i m Vordergrund stehenden materiellen Abreden abhängig ist. Er w i r d i n § 14 behandelt. Die als einzige schriftlich fixierten Koalitionsabsprachen von 1961 und 1962 befassen sich, abgesehen von der Person des Kanzlers und Verfahrensfragen, nur m i t materiellen Fragen i n sechs Abschnitten. Die Formulierungen sind unterschiedlich. Einige Richtlinien sind sehr allgemein gehalten; andere legen Einzelheiten fest. Soweit gesetzgeberische Vorhaben geplant werden, w i r d die Richtung mehr oder weniger i n Einzelheiten festgelegt. I n der Außenpolitik werden acht, teilweise sehr kon23
Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 41 mit Verweisen. Es mögen sich Fragen bezüglich der Zulässigkeit einzelner Abreden ergeben. Darauf wird an den relevanten Stellen der weiteren Untersuchung einzugehen sein. 24 So vor allem in der politikwissenschaftlichen Literatur, ζ. B. v. Beyme: Regierungssysteme S. 560. 25 So Liermann: Natur S. 12; Sasse: Koalitionsvereinbarung S. 722, 726; Friauf: Problematik S. 307; Weber-Timmermann: Koalitionsvertrag S. 79 ff.; Kafka: Stellung S. 85; Henke: Recht S. 119 ff.; Marcie: Koalitionsdemokratie S. 31 ff. Die beiden letztgenannten sehen sie als privatrechtliche Verträge an, da sie von den Parteien abgeschlossen seien, die keine staatlichen Organe sind. Die überwiegende Vertragsmeinung zählt sie zum öffentlichen Recht, Sternberger (Verfassung S. 115) allerdings unter politologischen, nicht unter juristischen Gesichtspunkten. 26 Kewenig: Rechtsproblematik S. 196; Maiwald: Wesen S. 105; Bullinger: Vertrag S. 50; wohl auch Langner: Recht S. 91, aber im ganzen unklar, dazu unten Fußnote 36. 27 Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 58-81.
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krete Einzelpunkte bezüglich des NATO-Bündnisses genannt, ζ. B. stärkere Integration, Ausstattung der Bundeswehr m i t Trägerwaffen, A u f wendungen für 1962 von 13,5 Milliarden Mark, Erhöhung der Wehrpflicht auf 18 Monate. I n der Deutschlandpolitik sind es ebenfalls mehrere Grundsätze, einmal ausschließende, zum anderen positiv weiterführende, ζ. B. keine Lockerung der Verbindung Berlins zur Bundesrepublik, A b lehnung der Anerkennung der DDR, Recht auf Selbstbestimmung, K l a r heit über den politischen und militärischen Status von Gesamtdeutschland. A n Gesetzesvorhaben sind Notstandsregelung, Finanzreform, Umsatzsteuerreform, Krankenversicherungsreform, Parteiengesetz vorgesehen. Aber gerade hier fehlen eingehendere Grundsätze. 1966 wurde anscheinend keine schriftliche Fixierung der Absprachen vorgenommen. Aber auch damals wurden recht weitgehend Vorhaben festgelegt, wie aus der Regierungserklärung Kiesingers hervorgeht, die i n gewisser Weise die Zusammenfassung der Abreden darstellt 2 8 . Sie bezogen sich insbesondere auf die Finanz- und Wirtschafts- sowie die Außenund Deutschlandpolitik. Die Vorstellungen der Koalition auf diesen Gebieten wurden von Kiesinger wiederum mehr oder weniger eingehend dargelegt 29 . So wurde das Projekt eines „klare Mehrheiten" ermöglichenden Wahlrechts vorgelegt, das Koalitionen überhaupt unnötig machen sollte. Es wurde ein Eventualhaushalt mit bestimmten Summen für bestimmte Vorhaben angekündigt. Es wurden Vorschläge gemacht, wie das Verhältnis zu den anderen Staaten verbessert werden sollte, insbesondere zu Frankreich und i n Europa. Kurz, es wurde der Fächer der sich stellenden Aufgaben nach innen und außen ausgebreitet, und es wurden Lösungsvorschläge dargelegt, der Plan für die Arbeit der Koalition. Die angestrebten Ziele wurden durchaus nicht immer erreicht. Es genügt, als Beispiel die Wahlrechtsreform anzuführen. Andere Vorhaben haben sich erst nach langen Auseinandersetzungen und schwierigen Verhandlungen verwirklichen lassen, wofür die Notstandsgesetzgebung stehen kann. Aber es geht bei diesen Abreden doch um die materielle Festlegung der Tätigkeit der Staatsorgane, vor allem der Bundesregierung und des Bundestages, um die Planung, wie die Zuständigkeiten derselben inhaltlich wahrgenommen werden sollen. Diese Abreden zur Bildung einer Koalition werden fortgeführt durch weitere Abreden und Planungen während ihres Bestehens, sei es ergänzend, sei es verändernd 30 . Sie sind der Beginn eines sich während des 28
N Z Z v. 9. Dezember 1966, Fernausgabe Nr. 338 Bl. 2. Die Regierungserklärung wurde im Kabinett ausführlich beraten. Die N Z Z schreibt: „Da es außer dem Protokoll der Koalitionsverhandlungen kein Koalitionspapier gibt, soll die Erklärung des Bundeskanzlers vor dem Bundestag die eigentliche Basis von CDU/CSU und SPD bilden." 29 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung v. 14. Dezember 1968, Nr. 157, S. 1265.
a l des Bundeskanzlers Bestehens einer Koalition ständig fortsetzenden Prozesses der gegenseitigen Abstimmung zur Verwirklichung eines gemeinsamen Regierungsprogrammes, zur Ausübung der Staatsgewalt, die die Koalitionspartner ausüben. Dieser Prozeß vollzieht sich i m Kabinett, i m Bundestag und i n informellen Kreisen, sei es ein geplanter Koalitionsausschuß 31 , seien es ein ungeplanter wie der Kreßbronner Kreis 3 2 der Großen Koalition oder die Zusammenkünfte der Fraktionsvorsitzenden 33 . Die vor der Wahl eines Bundeskanzlers zur Bildung der Koalition getroffenen Abreden können also nicht isoliert gesehen werden. Sie müssen eingeordnet werden i n den Gesamtprozeß der Ausübung der Staatsgewalt und erscheinen damit als ein Teil derselben. So hat der B G H bei bestehender Koalition Gespräche über ihren Fortgang zwischen führenden Mitgliedern derselben durchaus auch als „Koalitionsverhandlungen" bezeichnet 34 . Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Koalitionsabreden zur Bildung und bei Bestehen einer Koalition ist nicht gegeben, weder nach dem Zweck, noch nach dem Inhalt. Dieser Aspekt ist i n der bisherigen Diskussion u m sie weitgehend übersehen worden. Es ergeben sich daraus weitgehende Konsequenzen für ihren rechtlichen Charakter. 2. Die Bildung der Koalition, das Treffen der Koalitionsabreden, ist bereits i m weiten Sinne Ausübung des staatlichen Amtes des Abgeordneten 35 . Die Koalitionsbildung soll durch die Absprachen eine arbeits30 Vornehmlich auf die Vereinbarungen vor der Berufung der Regierung stellt Schüle (Koalitionsvereinbarungen S. 2) ab. Das ist zu eng und verzerrt die Perspektive. 31 Einen solchen sah die Koalitionsabsprache von 1961 vor. Durch ihn sollten sowohl die Regierungsentwürfe wie die Initiativentwürfe für die Gesetzgebung laufen. 32 So legte dieser ζ. B. laut F A Z v. 1. Juli 1968 S. 1 das Programm für das letzte Jahr der Legislaturperiode fest. Teilweise betrafen die Beratungen bereits in verschiedenen Stadien der Verwirklichung befindliche Vorhaben. Es wurden aber auch Zielvorstellungen für noch in Angriff zu nehmende Projekte besprochen. Inhaltlich ist insofern kein Unterschied gegenüber den Koalitionsabsprachen festzustellen. 33 So ζ. B. die Ausräumung auftretender Schwierigkeiten bei der Notstandsgesetzgebung im Mai/Juni 1968 durch den damaligen Vorsitzenden der SPDFraktion Schmidt und den damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Barzel. 34 B G H Ζ 29, 187 -194 = JZ 1959, S. 499 ff. in einem Streit zwischen dem Bundeskanzler Adenauer und dem Justizminister Dehler über die Herausgabe von Aufzeichnungen über solch eine Koalitionsverhandlung. 35 Das deutet der B G H an, wenn er ausführt, die an dem Gespräch Beteiligten seien erschienen „als Sprecher (Unterhändler) ihrer Fraktion und Partei und soweit sie zugleich Mitglied der Bundesregierung waren auch als »Repräsentant' der politischen Kräfte, die sich in der Koalitionsregierung zusammengefunden hatten; sie waren zusammengekommen, um eine ihnen obliegende öffentliche Aufgabe zu erfüllen", JZ 1959, S. 499. Vie stimmt diesem Ansatz in seiner Besprechung zu, JZ 1959 S. 501. Aber wie diese Relation im einzelnen aussieht, was hier wahrgenommen wird, bleibt offen und unerörtert. Zwar geht der B G H auf die Rolle und Stellung der Parteien ein; aber es fehlt jede Dif-
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egierungsbildung
fähige, verläßliche Mehrheit von gewisser Dauer von Abgeordneten verschiedener Fraktionen des Bundestages zur Wahl des Bundeskanzlers schaffen. Diese Mehrheit soll nach der Wahl des Kanzlers die gemeinsame Politik, die der Bundeskanzler an erster Stelle führt, unterstützen und durchführen. Die Partner einigen sich über die von ihnen gewünschte Ausübung der Zuständigkeiten des Abgeordnetenamtes, indem inhaltliche Richtungen des Amtshandelns und damit der staatlichen Willensbildung angegeben werden, die später vollzogen werden sollen. Zwar ist, wie darzulegen sein wird, Schüle darin zu folgen, daß diese Einigung rechtlich nicht verbindlich, also kein Vertrag ist; aber ein politischer Bindungswille ist jedenfalls gegeben. Werden die Vereinbarungen von den Abgeordneten bei Abstimmungen u. ä. oder aber vom Kanzler bei der Richtlinienbestimmung nicht eingehalten, so treten je nach Schwere die politischen Folgen, etwa der Bruch der Koalition oder der Sturz des Kanzlers, ein. Entscheidend aber ist, daß die Vereinbarungen nicht mehr nur Programme der Parteien sind, nicht mehr nur den oben dargestellten parteilichen Funktionen der M i t w i r k u n g an der politischen Willensbildung, dem „Bereich der Vorformung des politischen Willens" angehören, sondern bereits auch i n Ausübung staatlicher Funktionen i m Bereich der Formung des politisch-staatlichen Willens abgeschlossen werden 3 6 . Man kann nicht nur den Wahlakt gem. A r t . 63 GG, den Gesetzesbeschluß oder andere Beschlüsse der Ausübung staatlicher Funktionen zuordnen, sondern muß die sie inhaltlich unmittelbar vorbereitenden, sie lenkenden Handlungen der Amtswalter als solcher m i t hinzu nehmen und diese m i t den Beschlüssen, dem Wahlakt u. ä. als ein Ganzes des politisch-staatlichen Handelns sehen. Programme, i. a. vor den Wahlen zum Bundestag entworfen, sind Vorschläge. Koalitionsabsprachen aber sind, wenn auch inhaltlich i. a. Formulierungen von Zielvorstellungen, nicht mehr bloße Vorschläge, sondern formulierte Vorhaben, Pläne 3 7 » 3 8 . ferenzierung zu den Abgeordneten, gar Ministern an diesem Gespräch. Dabei berief sich anscheinend der Beklagte darauf, daß er als Bundeskanzler außenpolitische Ausführungen gemacht habe, die nicht bekannt werden sollten, wenn die im Urteil wiedergegebenen Gründe des Landgerichtsurteils richtig gedeutet werden, daß der beklagte Kanzler als Regierungschef dem Kläger gegenübergetreten sei. Eine andere Auffassung vertritt Langner: Recht S. 82 ff.; da er die Fraktionen nicht als Organteile des Bundestages, wenn auch als seine „originären Glieder" ansieht (Recht S. 81), handeln sie nicht auf Grund von Parlamentskompetenzen, sondern auf Grund von Parteizuständigkeiten gem. Art. 21 GG, die außerhalb staatlicher Zuständigkeiten liegen. Langner verkennt die rechtliche Stellung der Fraktionen. 36 a. A. Sasse (Koalitionsvereinbarung S. 725), der sie nur dem „Vorfeld der von den Staatsorganen zu treffenden Entscheidungen" zuordnet. Hingegen zählt Marcie (Koalitionsdemokratie S. 39, 41) sie zum Vorverfahren der Gesetzgebung, zum Gesetzgebungsverfahren selbst. 37 Kewenig: Rechtsproblematik S. 194. 38 Die Zuordnung der Koalitionsabsprachen zum Bereich der Ausübung staatlicher Zuständigkeiten scheint auch der Auffassung von Carl Schmitt nicht
a l des Bundeskanzlers Schüle geht gegenüber dem hier eingeschlagenen Weg den umgekehrten: Er schließt von den Partnern der Koalitionsabsprachen, als welche er wie die h. L. die Parteien ansieht, auf den „Raum", den Bereich, i n dem die Koalitionsvereinbarungen angesiedelt sind 3 9 . Diese Argumentationsweise zäumt das Pferd von hinten auf. Auszugehen ist von dem, was geregelt wird, von dem Gegenstand und Inhalt der Abkommen. Dadurch w i r d der Bezug zum staatlichen Handeln, zur organisierten Ausübung der Staatsgewalt erst beurteilbar und einordenbar i n diesen Gesamtbezug. Eine eindeutige Unterscheidung zwischen „Magistratur"geschäften und bloßer Schaffung der Voraussetzungen derselben erscheint i m modernen parlamentarischen Parteienstaat funktional nicht mehr möglich 40 . Es sind Übergänge entstanden. Wenn auch der staatliche Bereich durch die Verbindlichkeit der von i h m produzierten Entscheidungen gekennzeichnet wird, so ist das Feld einleitender, auswählender, richtungbestimmender Tätigkeiten der kraft ihrer Betrauung durch A r t . 21 GG handelnden Parteien, besonders ihrer dem Staatsapparat angehörenden Teile, der Fraktionen, doch bereits i n viel engerem Kontakt m i t diesem zu sehen als etwa i m konstitutionellen Staat die Tätigkeiten der Parteien und Fraktionen. Das w i r d an einem Punkt ganz deutlich, bei der Einigung auf die Person des Bundeskanzlers. Wie dargelegt, bindet sie den Bundespräsident bei der Ausübung seines Vorschlagsrechts, nicht als rechtliche Pflicht aus der Einigung, deren Partner er gar nicht ist, aber als vorweggenommene inhaltliche Bestimmung der Wahl durch den Bundestag, deren Erfolg er herbeizuführen hat. Die Koalitionsabsprachen von 1961 liefern einen zusätzlichen deutlichen Hinweis für die enge Bezogenheit der Absprachen auf die Ausübung der Zuständigkeiten, wenn sie an die Spitze die A b stimmungsfrage stellen und M i t t e l suchen, die einheitliche Stimmabgabe ganz fern zu sein, der die „interfraktionellen Abmachungen" dem Kabinettssystem als einem verfassungsrechtlichen Untersystem des parlamentarischen Systems zuweist (Verfassungslehre S. 348), das dadurch definiert ist, daß das Kabinett Führung und Leitung der politischen Geschäfte innehat, oben S. 218. Diese wird dadurch ausgeübt, daß der Kabinettsbeschluß an die bestimmende Stelle rückt, durch den auch über Änderungen der Abmachungen entschieden wird. Zwar ist ein Kabinettsbeschluß ein staatlicher Akt. Aber, daß er eine „Abänderung" einer Koalitionsabmachung bewirken soll, deutet darauf hin, daß beide funktional gleichgerichtet sind. Die Abmachungen werden somit als Grundlage und Bedingung einer bestimmten Organisationsform gedacht, die den Reichskanzler binden, und dem Handeln ihrer Amtswalter als solcher zugeordnet. Auch die Auffassung von Liermann (Natur S. 4), Koalitionsabmachungen seien dem Staatsrecht zuzuordnen, weist, obwohl über das Ziel hinausschießend, darauf hin, daß sie in Ausübung staatlicher Zuständigkeiten getroffen werden. 89
Koalitionsvereinbarungen S. 37 ff.: Da die Partner die Parteien sind, Parteien aber keine Stellung innerhalb der Staatsorganisation haben — eine ebenfalls nicht hinreichend differenzierte Sicht —, vollzieht sich dieser Vorgang „außerhalb jenes Kreises organisierter Staatlichkeit", ähnlich Henke: Recht S.120. 40 Ähnlich wohl auch Kafka: Stellung S. 84 f.
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der der Koalition angehörenden Abgeordneten des Bundestages, also den äußeren formalen A k t der Ausübung der Zuständigkeit, zu sichern 41 . I n dem bisher einzigen Urteil zu dieser Frage, dem erwähnten Urteil des BGH, sowie i n der Literatur werden Koalitionsverhandlungen und Koalitionsvereinbarungen, soweit ihnen überhaupt ein rechtlicher Charakter zugesprochen wird, auch eindeutig dem — materiellen — Verfassungsrecht zugeordnet, ohne daß daraus aber nun nähere Schlüsse gezogen werden oder auch nur geklärt wurde, wie das Verhalten materiell dem Verfassungsrecht einzuordnen sei. I. a. w i r d es auf die Parteien bezogen. Damit stellt sich die Frage nach den Partnern. 3. Zu Recht bemerkt Schüle, daß es auf die Verhandelnden, Abschließenden und evtl. Unterzeichnenden und deren Stellung i m einzelnen nicht ankommt, da sie i n jedem Falle für andere verhandeln 4 2 . Die Prozeduren sind verschieden. Es kommen Verhandlungskommissionen nur aus Abgeordneten vor, sowie solche, zu denen andere führende Parteimitglieder herangezogen werden. Der zukünftige Bundeskanzler ist immer dabei 4 3 . Die Abreden werden nur von den Fraktionen 4 4 oder auch noch von Parteigremien gesteuert und schließlich gebilligt oder verworfen. Die Fraktionen sind nie ausgeschlossen und haben, soweit ich sehe, immer das allerletzte Wort 4 5 . Diese äußere Stellung der Fraktionen hat ihren Grund i n dem dargelegten rechtlichen Standort der Koalitionsverhandlungen und -abreden. Erscheinen die Koalitionsabsprachen als der vorbereitende, inhaltlich bereits mitformende, planende Teil der Ausübung der Staatsgewalt, so ergibt sich für die Frage, wer Partner derselben sind, die Konsequenz, daß es die Parteien entgegen der h. L . 4 e nicht sind, da sie der staatlichen Organisation nur als Betraute i m dargelegten Sinne, nicht aber als Inhaber staatlicher sachlicher Wahrnehmungszuständigkeiten angehören. Partner sind die Abgeordneten i n ihrer Zusammenfassung als Fraktionen. Auch Schüle, der sich zu dieser Frage am eingehendsten äußert, sieht, daß die Fraktionen allein Koalitionsabsprachen treffen. Aber auch dann 41
Abschnitt A I I 1. Koalitionsvereinbarung S. 29. 43 Zu den verschiedenen Beteiligten an den Koalitionsverhandlungen WeberTimmermann: Koalitionsvertrag S. 28 ff. 44 So bei der Bildung der Koalition 1961, AdG 1961, S. 9442. 45 Das gilt auch für die Bildung der Großen Koalition in Bonn, obwohl dort beide Partner mehrere Parteigremien bemüht und um ihre Zustimmung gebeten hatten. A m Vorabend der Wahl Kiesingers am 1. Dezember beschlossen CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion endgültig über die Kanzlerschaft Kiesingers und das Verhandlungsergebnis, N Z Z vom 2. Dezember 1966, Fernausgabe Nr. 331 Bl. 1. Der Bruch der vorhergehenden Kleinen Koalition war ebenfalls in der Fraktion, nicht von einem Parteigremium beschlossen worden, AdG 1966, S. 12776 D ff. 46 Schüle: Koalitionsvereinbarung S. 29 ff. mit weiteren Verweisen. 42
§ 13 Die Wahl des Bundeskanzlers
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seien die Parteien „die wirklichen Partner und Träger einer regierungsbildenden Koalitionsvereinbarung", da die Partei den „politischen Nährboden" der Fraktion darstelle und diese ohne Zustimmung der Parteiinstanzen „kaum etwas akkordieren" könne. Aber diese letzte Aussage ist nicht zwingend. I m Juni 1968 Schloß die SPD-Fraktion des Landtages von Baden-Württemberg m i t der CDU-Fraktion ein Koalitionsabkommen, obwohl das maßgebende Parteiorgan der SPD, die Landesdelegiertenkonferenz, diese Koalition ausdrücklich abgelehnt hatte. Die Fraktion berief sich darauf, allein zuständig für derartige Beschlüsse zu sein 47 . Sasse verneint, daß Fraktionen Partner der Koalitionsabsprachen sein können, w e i l sie „weder selbst Rechtssubjekte noch Organe des Bundestages, sondern nur die parlamentarischen Aktionskörper der Parteiorganisationen" seien 48 . Ähnlich argumentieren auch Weber-Timmermann 4 9 . Daß diese Einstufung der Fraktionen deren rechtliche Stellung nicht trifft, wurde oben gezeigt 50 . Sie sind durch ihre Stellung i m Bundestag als vom Parlamentsrecht gebildete, organisatorische Zusammenfassung der Amtsträger Abgeordnete, die zudem m i t eigenen Zuständigkeiten ausgestattet sind, i n die staatliche Organisation eingegliedert und daher zwar auch, aber nicht nur Aktionskörper. Die genannten Autoren führen die besondere Rolle der Fraktionsvorsitzenden und der Fraktionen bei den Verhandlungen wie bei dem Abschluß der Bildung der Koalition darauf zurück, daß sie eben die Aktionskörper oder die Handlungseinheiten der Parteien i m Bundestag seien. Es ist richtig, daß, worauf Schüle hinweist, die Fraktionen i. a. „ k a u m etwas akkordieren können, was nicht die Billigung der Parteiinstanzen gefunden h a t " 5 1 . Das zeigte sich ganz deutlich bei Abschluß der Großen Koalition 1966. Aber das erwähnte Beispiel Baden-Württembergs hat klargemacht, daß das nicht immer der Fall zu sein braucht. Jedoch darf man nicht Zustimmung oder Billigung oder Genehmigung m i t Abschluß und Partnerschaft verwechseln. Die Fraktion ist i n der Tat nicht Organ der Partei oder deren Vertreter i m Bundestag, sondern eine Gliederung dieses Organs. Die Zustimmung oder Genehmigung ist zudem ein — keineswegs immer notwendiges — politisches Erfordernis. Schließlich kann auch nicht eingewandt werden, die Inhalte der A b kommen reichten oft über die Parlamentsarbeit und damit über das Parlamentsrecht hinaus, so daß die Fraktionen darüber nicht akkordieren 47 Spiegel v. 17. Juni 1968, Nr. 25, S. 30 f.; Süddeutsche Zeitung v. 11.6.1968, S. 1 und v. 12./13. 6.1968, S. 4. 48 Koalitionsvereinbarung S. 724 mit Verweisen; ähnlich wohl Lananer: Recht S. 81 ff. 49 Koalitionsvertrag S. 92 ff. 50 Siehe oben § 6 S. 114 ff. 51 Koalitionsvereinbarungen S. 33.
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könnten 5 2 . Einerseits bezieht sich die Tätigkeit des Bundestages, d. h. aber seiner Mitglieder und deren Zusammenschlüsse, die Fraktionen, auf fast den ganzen Bereich staatlicher Gewaltausübung, sei es beschließend, kontrollierend oder mitwirkend, über die i n einer Koalitionsabsprache überhaupt Abreden vorgenommen werden können 5 3 . Zum anderen aber steht nichts i m Wege, den Kern einer Koalitionsabsprache, der sich auf das Verhalten von Regierung und Regierungsmehrheit i m Bundestag bezieht, m i t einem weiterreichenden, diesen K e r n auch unterstützenden Abkommen zwischen den Parteien zu umgeben. Man w i r d die Koalitionsabsprachen i m strengen Sinn, die sich auf die inhaltliche Planung der Ausübung der sachlichen Wahrnehmungszuständigkeiten von Bundesregierung und Bundestag beziehen, von anderen diese ergänzenden Absprachen trennen müssen, selbst wenn sie i n einem Instrument zusammengefaßt sein sollten. Entscheidend ist, daß die Koalitionsabsprachen i m strengen Sinn, die hier als einzige so bezeichnet werden, bereits so eng zur sachlich-inhaltlichen Ausübung der Staatsgewalt, also zum organisatorischen Bereich gehören, daß sie die Kompetenz der Parteien überschreiten. Schüle deutet das selber an, wenn er die Fraktionen als „Vollziehende" der Koalitionsvereinbarungen ansieht 54 . Das kann nichts anderes heißen, als daß die Abgeordneten, deren organisatorische Zusammenfassung nach Parlamentsrecht die Fraktionen sind, ihr A m t bei der Verwirklichung ausüben. Wenn aber die Verwirklichung dem A m t zugehört, dann konsequenterweise auch bereits die Verabredung selbst. Beides ist praktisch wie theoretisch untrennbar. Insofern ist Schüles Unterscheidung nicht durchführbar 5 5 » 5 β . Z u fragen aber ist, ob nicht der zukünftige Bundeskanzler neben und gegenüber den Fraktionen Partner der Koalitionsabreden ist. Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn der Bundeskanzler keiner der beteiligten Fraktionen angehört, w e i l er nicht Abgeordneter des Bundestages ist, wie ζ. B. der dritte Bundeskanzler Kiesinger. Man w i r d die Frage bejahen müssen, soweit es sich u m gemeinsam zu tragende, wenn auch nicht durchzuführende Vorhaben von Bundeskanzler und Fraktionen handelt 5 7 , also z.B. für Gesetzesvorhaben oder bestimmte außen52
Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 36 ff. Die Rechtsprechung fällt sicherlich heraus; die Verwaltung ist auch nur teilweise einbringbar. 54 Koalitionsvereinbarungen S. 30. 55 Für die — allerdings erheblich unterschiedlichen — Verhältnisse der Weimarer Republik nimmt anscheinend auch Schmitt (Verfassungslehre S. 348) an, daß die Fraktionen Partner der Absprachen seien. 56 Es mag nur darauf hingewiesen werden, daß es fraglich wäre, ob die Partei als Partner, wie es in der Praxis häufig geschieht, in der Lage wäre, in Bund und Ländern unterschiedliche Koalitionen abzuschließen, was unterschiedliche Politik und damit Gefährdung des Koalitionszweckes im Bund (oder in einem Land) bedeuten kann. 57 Die Vorhaben werden zwar auf Regierungsseite nicht nur vom Bundes53
a l des Bundeskanzlers politische Handlungen, nicht aber ζ. B. für die Wahl des Bundeskanzlers. Denn es handelt sich bei derartigen Absprachen auch für den Bundeskanzler um die inhaltliche Planung seiner Zuständigkeiten. Die Abreden stellen keine zweiseitigen, sondern gemeinsame, nicht gegenseitige, sondern parallele Willenseinigungen dar. Diese Partnerschaft w i r d deutlicher bei Koalitionsabreden während des Bestehens der Koalition. Man kann gegen diese Argumentation einwenden, hier werde die Gewaltenteilung durchbrochen, das Gegenüber von Regierung und Volksvertretung aufgehoben. Dieser Einwand t r i f f t aber das parlamentarische System als solches, weil es für den Regierungschef den politischen Zwang rechtlich begründet, auf die Volksvertretung Bedacht zu nehmen 58 . Zudem ist er nur bedingt richtig, was hier i m einzelnen aber nicht ausgeführt werden kann. 4. Die rechtliche Verbindlichkeit der Koalitionsabsprachen für Bundeskanzler und Abgeordnete, also für Amtswalter, w i r d i n der neueren deutschen Literatur ganz überwiegend verneint 5 9 . Nur sie steht hier i n Frage. Liermann hatte sie 1926 als „Fortbildung des Staatsrechts" bezeichnet, als „Ausfüllung von Lücken des Staatsrechts" 60 . Als solche wäre ihnen w o h l rechtliche Verbindlichkeit für diese Amtswalter zuzusprechen. Nicht eindeutig ist Schmitts Auffassung, der für den Reichskanzler ausführt, er sei „an diese Richtlinien der Koalitionsvereinbarungen gebunden, wenn er i m Amte bleiben w i l l . Ein Abweichen von den Richtlinien bedarf der Zustimmung der Koalitionsparteien", die dann i n der Form des Kabinettsbeschlusses erteilt werde 6 1 . Der Kabinettsbeschluß sei ein formaler, staatsrechtlicher A k t . Schmitt zählt diese Form der Regierung zum verfassungsrechtlichen System der Kabinettsregierung. Die Bindung scheint also nicht nur politisch, sondern auch rechtlich verstanden zu sein. Für die gegenwärtige Rechtslage nehmen manche eine politische Gebundenheit der Organwalter, insbesondere des Kanzlers, an 6 2 . Ein Teil derjenigen, die die Parteien als Partner der Koalitionsabsprachen betrachten, kanzler, sondern von der gesamten Regierung getragen, aber durch die Richtlinienkompetenz ist der Bundeskanzler zum Führer der Regierung bestellt, so daß er zuerst und vor allem die Politik der Regierung trägt und gegenüber dem Bundestag verantwortet, so daß auch nur er gewählt und gestürzt werden kann. I n den tatsächlichen Verhandlungen erschien der designierte Kanzler bisher auch immer als selbständiger Verhandlungspartner, siehe ζ. B. Domes: Bundesregierung S. 49 ff. für die Regierungsbildungen 1953 und 1957. 58 Darauf hat eingehend, wenn auch übertreibend, Sternberger (Regierung S. 18) hingewiesen. 59 Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 62 f. mit weiteren Verweisen; Kewenig: Rechtsproblematik S. 185. 60 Liermann: Natur S. 407. 61 Verfassungslehre S. 348. 62 Siehe die oben S. 251 Fußnote 25 zitierten Autoren und eingehend: Friauf: Grenzen S. 57 - 59.
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sind der Ansicht, daß für sie und ihre Mitglieder als solche, nicht als Organwalter eine rechtliche, vertragliche Verbindlichkeit folge 63 . Die letzte Ansicht braucht nicht näher behandelt zu werden, da nach der hier vertretenen Auffassung die Parteien nicht Partner der Koalitionsabreden sind. Die These der nur politischen Verbindlichkeit scheidet ebenfalls aus der näheren Betrachtung aus, weil es sich i m Vorliegenden u m eine verfassungsrechtliche Untersuchung handelt. Ist die h. L. von der rechtlichen Unverbindlichkeit der Koalitionsabreden für die Organwalter richtig? Sie ist es insoweit, als keine Befolgungspflichten entstehen, aber sie muß differenziert werden, insofern Beachtungspflichten entstehen. Zwar handelt es sich bei den Koalitionsabsprachen u m eine Planung zur sachlich-inhaltlichen Ausübung der Staatsgewalt, u m einen Teil derselben i m weitesten Sinne. Aber sie sind nur Planungen, keine endgültigen, Rechtsfolgen setzenden oder auslösenden Entscheidungen, also keine Rechtsakte. Sie sind es zunächst nicht, w e i l ihnen, wie Schüle nachgewiesen hat, sowohl der objektive Verpflichtungswille wie der subjektive Bindungswille der Partner fehlt 6 4 . Diese wollen nur insoweit und insolange, „als sie glauben, wollen zu können". M i t dieser Aussage stimmt die Praxis insoweit überein, als die Koalitionspartner fortlaufend ihre Vorhaben weiter und auch neu planen. Bis ein Vorhaben Gesetz wird, durchläuft es vielerlei Beratungen und Veränderungen. Vorhaben werden auch aufgegeben, wie ζ. B. die Wahlrechtsreform, die sich die Große Koalition 1966 zum Ziele gesetzt hatte. Allerdings ist hier zu bemerken, daß die CDU/CSU-Fraktion und ihre Vertreter dem Partner vorwarfen, er habe die Koalitionsvereinbarung gebrochen, während sie selbst vertragstreu sei 65 . Die SPD verteidigte sich damit, sie habe ihre Verpflichtun63 Sasse: Koalitionsvereinbarung S. 724; Weber-Timmermann: Koalitionsvertrag S. 127 ff.; unklar Kafka (Stellung S. 85 f.), der die Koalitionsvereinbarungen als Vertrag ansieht, „in dem politische Parteien sich zu gemeinsamen Handeln, vor allem auf dem Kampfplatz des Parlaments, vereinigen" und der ein Rechtsverhältnis mit subjektiven, „erzwingbaren Rechten und Pflichten begründet". Kafka unterscheidet nicht Parteien, Fraktionen, Abgeordnete und deren Stellung in diesem Rechtsverhältnis, so daß nicht deutlich wird, wer in welcher Rolle gebunden ist. 64 Koalitionsvereinbarungen S. 54; Kewenig: Rechtsproblematik S. 187 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß für die rechtsgeschäftliche Willenserklärung die bloße „Willenseinigung", auf die allein Sasse (Koalitionsvereinbarung S. 722) abstellt, nicht genügt, sondern zu ihr ein Rechtsfolgewille hinzutreten muß. 65 Erklärung des Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU Barzel nach dem Nürnberger Parteitag der SPD im Frühjahr 1968, auf dem der SPD-Vorsitzende und Außenminister Brandt von der „Anerkennung und Respektierung der Oder-Neiße-Grenze" gesprochen und der Parteitag die Beschlußfassung über das Wahlrecht auf den Parteitag von 1970 verschoben hatte: „Die SPD hat auch zu einigen Fragen politische Aussagen gemacht, die von der Politik der gemeinsamen Koalition und den Zusagen der SPD-Führung abweichen. Die CDU/CSU erwartet, daß die SPD wie die CDU/CSU an den Koalitionsabreden festhält." F A Z v. 26. 3.1968, S. 1.
a l des Bundeskanzlers gen eingehalten und erwarte das auch von der CDU/CSU e e . Ähnliche Berufungen auf die Koalitionsabreden tauchen i n verschiedenen Kontroversen immer wieder auf 6 7 . Das scheint darauf hinzudeuten, daß die Partner doch einen Bindungswillen haben. Aber gerade die Behandlung des Wahlrechts zeigt, daß eine Abrede fallengelassen werden kann; die genannten Auseinandersetzungen u m die Außenpolitik machen deutlich, daß ständig weiter und neu die Fragen zur Diskussion stehen. Man müßte ein ständiges Abschließen und Aufheben von Verträgen unterstellen 6 8 , dazu eine Anzahl von auflösenden Bedingungen und dergleichen mehr, ein höchst kompliziertes Rechtsgebilde, da nichts endgültig, nichts entschieden, alles vorläufig und jederzeit änderbar ist. Es ist theoretisch nicht zutreffend und für die verfassungsrechtliche Erfassung der Koalitionsabreden nicht weiterführend, jeden Schritt i n der Planung der Ausübung der Staatsgewalt, jede Abrede, jede Einigung als Vertrag zu deuten, der am nächsten Tag schon wieder geändert, aufgehoben sein kann. Denn, wie dargelegt, sind die Koalitionsabsprachen zur Bildung der Koalition von denen während des Bestehens derselben, von denen oben zwei Beispiele genannt wurden, nicht unterschieden 69 . Marcie hat nun auf der Grundlage der reinen Rechtslehre versucht darzutun, daß ein Handeln i m Staat notwendig Handeln sei, das Recht erzeuge 70 . Denn der Staat sei Rechtsordnung. Alles Politische sei staatlich, so daß politisches Handeln nur i m Staat als Rechtsordnung möglich sei und somit irgendwo i m Stufenbau des Rechts seinen Ort habe. Es komme nur darauf an, wo es jeweils i n der Stufenleiter unterkomme. I m demokratischen Staat komme nun dem Vertrag besondere Bedeutung zu. Er schöpfe objektives Recht. Es sei undenkbar, daß die Übereinkommen der Parteien i n Sachen des Staates kein Rechtsakt i m vollen Sinne des Wortes sein sollen 71 . Sie seien Verträge, und zwar privatrechtliche. Sein eigentliches Anliegen ist: Die Koalitionsabmachungen dürfen nicht außer Kontrolle des Rechts geraten. Sie sollen dem Verfassungsrecht unterworfen sein 72 . ββ Brandt in einem anschließenden Koalitionsgespräch, F A Z v. 27. 3.1968, S. 1. Auch der Bundeskanzler Kiesinger betonte, daß die Koalition auf den genannten Abreden beruhe. 67 z.B. im Streit um die Außenpolitik im Sommer 1968. Andererseits betonte die CDU/CSU-Fraktion, als sie dem Verkehrsplan des der SPD angehörenden Verkehrsministers Leber einen eigenen Plan entgegensetzte, daß darüber keine Koalitionsabsprachen vorlägen, so daß sie in ihren Handlungen frei sei, Frankfurter Rundschau v. 4.1.1968, S. 5. 68 I n diese Richtung scheint Schmitts Äußerung zu zielen, oben Fußnote 38. e ® Langner (Recht S. 89) weist auch zu Recht darauf hin, daß die Annahme eines Vertrages nichts zu der dadurch erhofften Koalitionsstabilität beitrage. 70 Marcie: Koalitionsdemokratie S. 24 ff. 71 Koalitionsdemokratie S. 19. 72 „Die Rechts- und Staatswissenschaft verfehlte das Ziel, brächte sie es nicht zuwege, Tatbestände formaliter einzufangen, die materialiter die Triebkräfte
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Dieses Anliegen ist berechtigt und w i r d vollauf geteilt. Es zwingt aber nicht dazu, die jedenfalls nicht dem deutschen, wenn auch vielleicht dem österreichischen Verfassungsrecht und der österreichischen Verfassungspraxis entsprechende Komplizierung der rechtlichen Konstruktion zu wählen 7 3 . Durch die Zuordnung zur Ausübung der Staatsgewalt unterfallen diese A k t e deren Grenzen selbst. Sie sind Recht i m Werden. Es ist der reinen Rechtslehre und Marcie darin zuzustimmen, daß jedes Handeln einer Person i n der Rechtsstufenfolge seinen Platz haben muß. Aber man kann unmöglich jeden Handlungsschritt darin einordnen, sondern es muß funktional zusammengehörendes Handeln dem Rechtsakt zugeordnet werden, auf den es bezogen ist. Die These von Marcie gerät endgültig i n Widerspruch zur Wirklichkeit, wenn er aus der Justitiabilität als grundsätzlich notwendiger Grundeigenschaft des Rechts folgert, Koalitionsabreden könnten und sollten vor Gericht eingeklagt werden 7 4 . Diese Stellungnahme überrascht u m so mehr, als Marcie selbst die Koalitionsabreden zum Vorverfahren der Gesetzgebung rechnet und als solche dem Gesetzgebungsverfahren und der Verfassung i m materiellen Sinn zuordnet 7 5 . Nach Marcics Vorstellung müßte dieses dann ein Verfahren aus lauter sukzessiven Verträgen sein, die alle bedingt und ohne Endgültigkeit wären 7 6 . Es braucht dabei nicht auf seine These eingegangen zu werden, daß das Gesetz i m demokratischen Staat, genetisch gesehen, Komdes Staates sind", ibid. Dieser Gesichtspunkt wird immer wieder betont, z. B.: Koalitionsdemokratie S. 33 ff. 78 Die Parteien hatten als solche in Österreich 1945 durch den Erlaß einer Unabhängigkeitserklärung verfassungsstiftende Funktionen ausgeübt, dazu Kafka: Stellung S. 66 f. Er bezeichnet sie ausdrücklich als „Staatsgründer und Staatserhalter" (S. 75). Die österreichische Verfassung sei „durch einen Vertrag der politischen Parteien wieder ins Leben gerufen worden" (S. 67). Das trifft aber für die Bundesrepublik rechtlich nicht zu. Insofern sind die rechtlichen Lagen in Österreich und Deutschland unterschieden. 74 Koalitionsdemokratie S. 29 und S. 38. Die grundsätzliche Justiziabilität schließt nicht aus, daß das positive Recht sie in bestimmten Fällen ausschließen kann. Aber sicherlich hat Marcic recht, wenn er gegenüber Sasse (Koalitionsvereinbarung S. 728) auf die Grundeigenschaft hinweist. Sasse hätte seine Feststellung, daß keine Justiziabilität der Koalitionsvereinbarungen besteht, zum Anlaß nehmen müssen, seine Vertrags-These zu überprüfen, und hätte nicht nur auf bekannte Naturalobligationen verweisen dürfen. So Langner: Recht S. 89. 75 Koalitionsdemokratie S. 39,41 ff. 76 Da Marcic den Parteien zu Recht keinen Staatsorgan-Charakter zuerkennt, sind diese Verträge im Vorverfahren der Gesetzgebung privatrechtlichen Charakters (Koalitionsdemokratie S. 36), „ungeachtet des Gegenstandes, den sie intendieren". Ein eigentümliches Ergebnis: Privatrechtliche Verträge im öffentlich-rechtlichen Gesetzgebungsverfahren, also der Ausübung von Staatsgewalt, die plötzlich in öffentliches Recht durch einen Beschluß umschlagen. Entweder sie gehören zum Vorverfahren, was ich auch annehme, dann gehören sie zur Ausübung der Staatsgewalt und sind niemals Privatrecht, d.h. die Parteien sind nicht Partner, und sie sind werdendes Recht. Oder sie sind Privatrecht, dann sind sie nicht Teil des Vorverfahrens, sondern allenfalls Uberlegungen und Vorschläge privater Art.
a l des Bundeskanzlers promiß sei und die demokratische Rechtsordnung „vertraglich" wachse 77 . Das alles schließt, auch wenn es als richtig unterstellt wird, nicht ein, daß trotz der Vorläufigkeit und mangelnden Endgültigkeit der Abreden ihnen der Charakter von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen zukäme. Der öfter gebrauchte Vergleich m i t völkerrechtlichen Verträgen 7 8 t r i f f t daher nicht 7 9 ; denn diese können nicht ohne weiteres beendet werden, selbst unter Anerkennung der clausula rebus sie stantibus 80 . Koalitionsabreden i m einzelnen, aber auch die ganze Koalition können ohne weiteres aus beliebigen Gründen jederzeit eingehalten oder beendet werden. Es fehlt weiter an der notwendigen Rechtsnorm, die den Abreden Verbindlichkeit verleiht, sei es als objektives Recht, sei es als Vertrag. Für die Bestimmung als objektives Recht, „Fortbildung des Staatsrechts", „Ausfüllung von Lücken des Staatsrechts", wie sie Liermann vornimmt, obw o h l er die Absprachen zwar als Vereinbarungen bezeichnet, aber als Verträge bestimmt 8 1 , fehlt es an der Rechtsetzungsquelle, der Form der Veröffentlichung, kurz an allen wesentlichen Merkmalen 8 2 . Aber auch eine dem § 305 BGB entsprechende geschriebene oder ungeschriebene Norm ist nicht gegeben. A u f die Frage, ob ein Vertrag i n dem verfassungsrechtlichen Bereich überhaupt zulässig sei, braucht dabei nicht eingegangen zu werden, ebensowenig, ob dessen rechtstheoretische Elemente gegeben sind 8 3 . Denn Gegenstand der Abreden ist die Ausübung von Zuständigkeiten, des Kanzlers, der Minister, der Bundesregierung, der A b geordneten. Diese sind aber der rechtlichen Verfügungsmacht der Koalitionspartner entzogen. Für die Abgeordneten folgt das aus Art. 38 GG, für den Bundeskanzler, die Bundesminister und die Bundesregierung folgt das aus Art. 65 GG. Die Freiheit der Wahrnehmung der Zuständigkeiten dieser staatlichen Organwalter ist unverfügbar und unverzichtbar. Eine Bindung t r i t t erst ein, wenn zuständigkeitsmäßige Entscheidungen 77 Koalitionsdemokratie S. 9 f. Marcic betont das Spiel von intermediären Kräften und Mehrheit und Minderheit in der Demokratie. Dem ist zuzustimmen. Aber auch daraus folgt nicht notwendig, daß alle Verabredungen gleich rechtliche Verträge sind. 78 Liermann: Natur S. 407; Kafka: Stellung S. 85; Kauffmann (Regierungsbildung S. 377) bezeichnet die Verhandlungen als „diplomatische" durch „instruierte Gesandte". 79 Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 74. 80 Dahm: Völkerrecht, I I I S. 125 ff.; clausula rebus sie stantibus S. 143 ff. 81 So zählt er unterschiedslos auch die Wahlbündnisse dazu, die keinesfalls unter die Vereinbarungen i. S. von Binding und Triepel fallen (Natur S. 407). Als objektives Recht, wenn auch privates Recht, deutet sie auch Marcic auf Grund der reinen Rechtslehre, Koalitionsdemokratie S. 36 f. 82 Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 59 ff. Er wendet sich auch zu Recht gegen die Annahme einer rechtssetzenden Vereinbarung und die Postulierung als Gewohnheitsrecht. 83 Dazu Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 64 ff.; Kewenig: Rechtsproblematik S. 187 ff.
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getroffen sind, die Abstimmung erfolgt, die Unterschrift geleistet, also ein bestimmter formaler A k t erfolgt ist, nicht durch vorherige Absprachen. Die Organwalter können Abreden treffen, Absichten bekunden, Planungen machen, Reden halten, nicht aber Bindungen über die Ausübung ihres Amtes eingehen. I m Koalitionsabkommen von 1961 ist daher unter Abschnitt A I I 1 konsequent auch nur die Rede davon, daß auf die Abgeordneten seitens der Partei- und Fraktionsvorsitzenden eingewirkt werden soll, keine wechselnden Mehrheiten mit der Opposition zu bilden, also aus der Koalition auszubrechen. Es hat i n der Praxis aber immer A b geordnete gegeben, die i n konkreten Fragen, angefangen bei der ersten Kanzlerwahl 1949, gegen die Abmachungen gestimmt haben, w o r i n ein Vertragsbruch nicht gesehen werden kann. Zu bestimmten Handlungen rechtlich verpflichtende Bindungen stellen die Koalitionsabsprachen vor der Wahl des Bundeskanzlers für diesen i n keinem Fall dar. Jedoch ist folgendes zu bedenken: Die Einordnung der Koalitionsverhandlungen und -absprachen vor und nach Bildung der Koalition i n den weiteren Kreis der Ausübung der jeweiligen Ämter stellt sie, wie bereits erwähnt, i n das umfassende Verhältnis von Bundestag und Bundeskanzler bezüglich der Funktion Regierung. Die Zuständigkeiten des Bundeskanzlers, auch aus A r t . 65 GG, stehen unter der Kontrolle und sogar der Bedingung einer gewissen M i t w i r k u n g des Bundestages. Die strenge Gewaltenteilung ist überlagert von einem System von Mitwirkungsrechten des Bundestages. Die Koalitionsabsprachen sind vorweggenommene planende, nicht entscheidende Ausübung dieser Mitwirkungsrechte, da nach der hier vertretenen Auffassung die Abgeordneten dabei bereits ihr A m t i m weiteren Sinne ausüben. Werden die Abreden nicht eingehalten, so können die vom Verfassungsrecht vorgesehenen Konsequenzen bis h i n zum Sturz des Bundeskanzlers und dem Umsturz der Koalition eintreten. Daraus hat man die politische Gebundenheit des Bundeskanzlers an die Abreden abgeleitet 84 . Aber das t r i f f t nicht ganz den Sachverhalt. Diese Folgen sind funktional nicht auf die Durchsetzung von Koalitionsabreden bezogen, sondern auf die staatlich-rechtliche Organisation als solche, was daraus erhellt, daß sie auch aus anderen Anlässen eingesetzt werden können. Sie fügen sich i n diese ein und sind daher nicht ganz beliebig, wenn auch inhaltliche Festlegungen i m einzelnen fehlen. Sie dienen dazu, bestimmte verfassunggestaltende Grundentscheidungen, insbesondere die für die Demokratie, durchzusetzen und ihre Verwirklichung verfahrensmäßig sicherzustellen 85 . Der Zusammenhang ist daher anders zu fassen. Ohne politische Vorgänge i n ein rechtliches Prokrustesbett spannen zu wollen 8 6 , muß bedacht 84 85 88
ζ. B. Friauf: Grenzen S. 59. Das übersieht m. E. auch Kafka: Stellung S. 85. Dieser Vorwurf wird öfter von denjenigen erhoben, die den Koalitions-
a l des Bundeskanzlers werden, daß jedes politische Handeln i m Verfassungsstaat, wie i h n die Bundesrepublik darstellt, unter dem Verfassungsrecht steht, wenn auch dieses weitgehend Zuständigkeitsregelungen der Organe und nur wenige allgemeine und grundlegende Sachrechtssätze enthält und so den handelnden Organwaltern einen sehr weiten Gestaltungsspielraum gewährt 8 7 . Der Bundskanzler ist daher nicht nur politisch gebunden, sondern auch rechtlich, soweit wie die verfassungsmäßige Zuständigkeitsregelung ihn zum Zusammenwirken m i t dem Bundestag verpflichtet. Das ist also keine Verpflichtung, die unmittelbar aus den Koalitionsabsprachen bzw. aus der Tatsache folgt, daß sie geschlossen wurden und ihr Bruch rechtliche Folgen auslösen kann. Es ist eine Verpflichtung aus den organisatorischen Zuständigkeitsregelungen des objektiven Verfassungsrechts, das mittelbar auf die Koalitionsabsprachen als inhaltlich planende Ausfüllung zurückwirkt. Da aber die Koalitionsabsprachen selbst keine endgültigen rechtlichen Entscheidungen sind, bestehen für den Bundeskanzler keine inhaltlichen Befolgungspflichten, sondern nur Beachtungspflichten innerhalb des i h m eingeräumten Gestaltungsspielraumes. Aber auch diese bestehen nur, soweit überhaupt Bindungen des Bundeskanzlers an die endgültigen Beschlüsse des Bundestages bestehen würden. Würde ein Bundeskanzler sein A m t antreten m i t der ausdrücklichen Absicht, den personalen und sachlichen Absprachen von vornherein entgegenzuhandeln, also u. U. eine Kampfregierung gegen den Bundestag etwa über A r t . 68 i. V. m. 81 GG zu versuchen, so wäre die Wahl dadurch nicht ungültig und er würde sein A m t nicht verlieren 8 8 . Der einzige Weg wäre der über A r t . 67 GG. Es erscheint aber zweifelhaft, ob das eine angemessene Erfüllung seiner Amtspflichten wäre 8 9 . absprachen nur politische Bedeutung beimessen wollen, so insbesondere Bullinger (Vertrag S. 50). Es ist zu unterscheiden zwischen „der Tendenz, das Verfassungsïeben bis in den letzten Winkel zu verrechtlichen", und der Notwendigkeit, das politische Handeln in den Rahmen des Verfassungsrechts zu stellen, wenn man es nicht außer Kontrolle geraten lassen will. 87 Kewenig (Rechtsproblematik S. 197) ist der Ansicht, nur das Handeln, nicht aber das Vereinbarte sei rechtlich erheblich, insbesondere das nicht ausgeführte unerlaubte Vereinbarte. Das widerspricht nun aber jeglicher üblichen juristischen Betrachtungsweise, die Abreden für zukünftiges Handeln immer beurteilt und beurteilen muß, weil es selbst bereits Ergebnis von Handeln, bereits selbst Akt ist, was Kewenig dann selbst zugeben muß, wenn er es für möglich hält, daß „der Akt der Verabredung" selbst „wegen der Intensität seiner Verfassungsfeindlichkeit" ein Rechtsverstoß sein könnte. Die Abmachungen haben eben doch Rechtswert. 88 Das Mitglied des Parlamentarischen Rates, Prof. Dr. Laforet, wies im Hauptausschuß darauf hin, daß der Bundeskanzler auf Grund der von ihm erwarteten oder abgesprochenen Richtlinien der Politik in sein Amt komme, 3. Sitzung des Hauptausschusses v. 16.11.1948, S. 37. 89 Einen bemerkenswerten Mittelweg zwischen rechtlicher Bindung und politischer Beachtungsnotwendigkeit versucht Friauf (Grenzen S. 59). Er erweitert die politisch-tatsächliche Bindung des Bundeskanzlers zu einer politisch-moralischen, die auf einer „Koalitionstreue" beruht, begründet die Bindung also auch normativ, und zwar die Bindung des Bundeskanzlers als Amtswalter. Damit
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§ 14 Die Ablösung des Bundeskanzlers Außer durch Tod oder durch Rücktritt endet gemäß A r t . 69 Abs. 2 GG das A m t des Bundeskanzlers normalerweise m i t dem Zusammentritt des neuen Bundestages. Dadurch w i r d jedem Bundestag, jeder neuen Mehrheit die Gelegenheit gegeben, seinen, ihren Bundeskanzler zu wählen, eine Konsequenz des A r t . 63 GG. Die Weimarer Verfassung sah das nicht vor 1 . Insoweit ist das Recht des Bundestages gestärkt. E i n Amtswechsel i n der Person des Bundeskanzlers als Folge eines bei den Wahlen stattgefundenen Mehrheitswechsels ist erstmals 1969 eingetreten 2 . E i n i m A m t befindlicher Bundeskanzler k a n n n u r v o m Bundestag abgesetzt u n d durch einen anderen ersetzt werden, sei es durch W a h l eines neuen Bundeskanzlers, sei es durch Verneinung der v o m Bundeskanzler gestellten Vertrauensfrage m i t anschließender Neuwahl eines Kanzlers. I. Das sogenannte konstruktive Mißtrauensvotum 1. Gemäß A r t . 67 GG k a n n der Bundestag m i t der Mehrheit der M i t glieder einen anderen Bundeskanzler wählen u n d den Bundespräsidenten ersuchen, den Amtsinhaber zu entlassen. I m Verteidigungsfall geht dieses Recht gemäß A r t . 115 h Abs. 2 Satz 2 GG auf den Gemeinsamen Ausschuß über, soweit dieser an die Stelle des Bundestages t r i t t . Es bedarf dann der Mehrheit von zwei D r i t t e l n der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses f ü r dieses sogenannte konstruktive Mißtrauensvotum 3 . Der i m A m t befindliche Bundeskanzler ist vom Bundespräsidenten zu entlassen, u n d der neugewählte ist zu ernennen. Diese Vorschrift, das sogenannte „konstruktive Mißtrauensvotum", ist systematisch die Folge der alleinigen Wahlbefugnis des Bundestages. wird das Dilemma dieser Konstruktion deutlich. Es werden in das Amt selbst zwei verschiedene normative Entscheidungsebenen gelegt, ohne daß das Verhältnis beider geklärt wäre. „Koalitionstreue" wird gegen „Wohl der Gesamtheit" gesetzt. Aber gerade diese Entgegensetzung ist verfassungsrechtlich falsch. Die Koalition selbst ist Mittel zur Verwirklichung des Wohles der Gesamtheit gemäß den Amtspflichten. Ist sie es nicht, verfehlt sie bereits die Norm. Wie das in dem jeweiligen konkreten Sachverhalt an Hand der Kriterien desselben aussieht, ist eine andere Frage. Aber es wäre ein Mißverständnis — und theoretisch kaum auflösbar —, moralische und rechtliche Normativität als u. U. entgegengesetzt in das Amt des Bundeskanzlers selbst hineinzutragen. 1 Tatsächlich trat auch nicht jede Regierung nach einer Neuwahl oder dem Zusammentritt des neuen Reichstages gleich zurück; sondern einige blieben noch für eine gewisse Zeit im Amt. 2 Es hatte bis 1969 den Anschein, als ob eine Regel bestände, daß die stärkste Fraktion des Bundestages den Bundeskanzler stelle. Diese Regel ist 1969 nicht bestätigt worden. Wie die neue Mehrheit sich zusammensetzt, ist gleichgültig. Entscheidend ist allein, daß es die Mehrheit ist. 8 Kritisch zu dieser Regelung: Langner: Recht S. 63 f.
§ 14 Die Ablösung des Bundeskanzlers
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Wenn der Bundestag wählt, muß er auch abwählen. Das alte Mißtrauensvotum war nur dort angebracht, wo der Monarch bzw. Präsident von sich aus den Kanzler ernannte und dieser dann das Vertrauen des Parlamentes erbitten mußte bzw. zunächst bis zum Beweis des Gegenteils dasselbe vermutet wurde. Die Volksvertretung sollte, u m m i t Preuß zu sprechen, nur einen negativen Willen äußern, wen sie nicht haben w i l l 4 . Die Auswahl und Ernennung nach dieser Erklärung verbliebe dann dem Monarchen oder Präsidenten. Das Grundgesetz hat sich aber für den positiven Parlamentarismus entschieden, für die positive Willensäußerung, die Regierung von dem Bundestag aus zu bilden. Ein Mißtrauensvotum alten Stils hat daher seinen Sinn i n diesem System verloren, weil ja der Bundeskanzler der „Mann des Bundestages", nicht aber der des Staatsoberhauptes ist. Einem Sturz durch den Bundestag müßte die Wahl durch den Bundestag folgen, und zwar m i t absoluter Mehrheit zunächst. Es ist systematisch nur folgerichtig, beide Akte zusammenzufassen, wenn eine Mehrheit für eine neue Regierungsbildung i m Bundestag überhaupt gegeben ist. Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten ist für diesen Fall auch bedeutungslos, wie oben dargelegt. Ist eine Mehrheit für einen anderen Bundeskanzler nicht vorhanden, wäre es politisch nicht sinnvoll, die Minderheit einer bestehenden Regierung durch die Minderheit einer neuen Regierung gemäß A r t . 63 Abs. 4 GG, zu ersetzen. Auch geht das A u f lösungsrecht nicht verloren; über A r t . 68 GG können Präsident und Kanzler es sich jederzeit verschaffen 5 . Der Begriff „Mißtrauen" ist hier fehl am Platz und erweckt falsche Gedankenverbindungen, nämlich an den Zustand des negativen Parlamentarismus. Der Bundestag spricht auch nicht seinem Präsidenten ein Mißtrauen m i t Abgangspflicht für diesen aus, sondern wählt einfach einen neuen, wodurch der alte ipso lege sein A m t verliert 6 . Der Abgeordnete Dehler hat daher i m Parlamentarischen Rat zu Recht den Grundgedanken so formuliert: „Der Bundestag kann jederzeit m i t mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählen 7 ."
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Oben S. 208. Unten S. 305 ff. Eine gewisse Erschwerung trifft für den Bundespräsidenten ein. Unter Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG bedarf er des Vorschlags des Kanzlers, unter Art. 63 Abs. 4 GG kann er allein entscheiden, ob er auflösen will oder nicht. Aber das ist bei einer bestehenden Regierung durchaus sinnvoll, weil der Konflikt zwischen Kanzler und Bundestag besteht, nicht zwischen dem Präsidenten und dem Bundestag. 5
β ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 40 Anm. I I I 2 b S. 912. Allerdings ist umstritten, ob der Bundestagspräsident nicht für die Wahlperiode gewählt und damit unabsetzbar ist, sondern nur indirekt, u. U. auch durch einen nicht formellen Mißtrauensbeschluß des Bundestages, zum Rücktritt gezwungen werden kann. Diese These wurde beim Wechsel von Gerstenmaier zu v. Hassel vornehmlich vertreten.
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3. Sitzung des Hauptausschusses v. 16.11.1948, Sten. Ber. S. 34.
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2. I n der Debatte u m A r t . 67 GG stand und steht jedoch die politische Sinnhaftigkeit der Regelung i m Vordergrund 8 . Der systematische Zusammenhang von A r t . 63 und A r t . '67 GG ist bisher nicht erörtert worden 9 . Man wollte die Regierung gegenüber den Weimarer Zuständen stabilisieren und insbesondere „bloß negative Mehrheiten" ausschalten, die zwar einem Kanzler das Vertrauen verweigern, aber einem anderen keines geben können. Es wurde die These von Schmitt und Herrfahrdt aufgenommen, daß derartige negative Mehrheiten i m „echten" parlamentarischen System nicht entscheidend sein dürften, daß sie nicht die „gemeinten Mehrheiten" seien 10 . Bereits der Herrenchiemsee-Entwurf enthielt i n A r t . 90 den Grundgedanken, daß ein zur Entlassung führendes Mißtrauensvotum nur durch Neuwahl vor sich gehen könne. Die Begründung ging von der — wie dargelegt zu undifferenzierten — Interpretation der Geschichte der Weimarer Republik aus, daß lange Zeit nur Minderheitsregierungen und geschäftsführende Regierungen i m A m t gewesen seien, die Mißtrauensmehrheiten sich nur i n der Übereinstimmung i m Negativen, aber nicht auf einer positiven Grundlage für eine neu zu bildende Regierung gefunden hätten. Der Abgeordnete Dr. Dehler hatte demgegenüber bereits i m Parlamentarischen Rat darauf hingewiesen, daß der eigentliche Hauptanlaß des Scheiterns der Regierungen i n der Weimarer Republik, das Auseinanderbrechen der Koalitionen, nicht durch das konstruktive Mißtrauensvotum vermieden werde. Er schlug deshalb eine Regierung auf Zeit, etwa die vier Jahre der Wahlperiode, vor, drang aber damit nicht durch 11 . I n der Diskussion i m Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates waren aber auch, wie schon i n Herrenchiemsee 12 , insbesondere bei den A b geordneten v. Mangoldt, Dehler, Brentano und Greve Zweifel an der Praktikabilität des Vorschlages von Herrenchiemsee aufgetaucht, insbesondere wurde ein Intrigenspiel hinter dem Rücken des amtierenden Kanzlers befürchtet 13 . Es wurde diskutiert, das Mißtrauensvotum zu 8 Lediglich der Abgeordnete Katz hat, soweit ich sehe, darauf verwiesen, daß auch hier eine Wahl erfolgen muß, weil in Art. 87 Entwurf die Wahl als Hauptform vorgesehen sei, 4. Sitzung des Hauptausschusses v. 17.11.1948, Sten. Ber. S. 43. 9 Auch v. Mangoldt-Klein (Kommentar Art. 67 Anm. I I 5 S. 1294 f.) betont nur den systematischen Zusammenhang mit den Art. 68 und 81 GG. 10 Fromme: Verfassung S. 75 ff.; Glum: Regierungssystem S. 305 ff. 11 Kurzprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Organisationsfragen S. 2. Die Abg. Kroll und Schwalber unterstützten diesen Vorschlag. Der Abg. Löwenthal sah auch, daß die Regelung des Herrenchiemsee-Entwurfs das Vakuum nicht verhindere, das durch den Koalitionszerfall entstehe, glaubte aber, durch Verfassungsbestimmungen auch nicht eine fehlende Wirklichkeit schaffen zu können, S. 3. 12 Bericht S. 44. 13 3. Sitzung des Hauptausschusses v. 16.11.1948, Sten. Ber. S. 33 f. Die Eie-
e l u n g des Bundeskanzlers belassen, die Rücktrittspflicht aber dann aufzuheben, wenn innerhalb einer Frist von drei Wochen keine neue Regierung zustande käme 1 4 . Ein anderer Vorschlag ging dahin, neben der A b w a h l durch Neuwahl ein Mißtrauensvotum alter A r t m i t anschließendem Auflösungsrecht des Bundespräsidenten zuzulassen 15 . Beide Vorschläge wurden aber abgelehnt. Es setzte sich die insbesondere von der SPD-Fraktion durch den Abgeordneten Katz vorgetragene Ansicht durch, daß durch negative Mehrheiten i n keinem Fall obstruktiv die Regierung durch „ein offizielles Mißtrauensvotum belastet", ihre „moralische Position erschüttert" werden sollte. Offensichtlich stand i m Vordergrund die Sorge vor der negativen Mehrheit, die Furcht vor einer Zerstörung des parlamentarischen Systems durch die Volksvertretung selbst, wie „zwischen 1918 und 1933". Die Fraktionen sollten die Verantwortung übernehmen 16 . Der „echten Opposition" sollte die „Verantwortung", die „Bereitschaft" entsprechen, „ m i t allen, die gegen die Regierung sind, sich an die Stelle der Regierung zu setzen" 17 . Eine andere Opposition wurde verfassungsrechtlich nicht „zugelassen". Insofern ist hier eine indirekte Entsprechung zu A r t . 18 und A r t . 21 Abs. 2, aber auch A r t . 79 Abs. 3 GG zu sehen. Auch sie zielt letzten Endes darauf ab, gewisse materielle Grundlagen der Verfassung zu sichern. Eine kurze Diskussion flammte auf, ob der Bundespräsident irgendwie bei der Lösung der Krise eingeschaltet werden sollte 18 . Die Mehrheit lehnte das entschieden ab. I m Krisenfall sollte, so betonten die Abgeordneten Carlo Schmid, Laforet, Katz und Dehler gegenüber den Abgemente der Krise von 1966 wurden dabei vorwegnehmend recht genau beschrieben. So jetzt auch wieder v. Beyme: Regierungssysteme S. 630. 14 Antrag Walter, 3. Sitzung des Hauptausschusses v. 16.11.1948, Sten. Ber. S. 33. 15 Drs. 374, Materialien zu Art. 68 GG im Archiv des Bundestages, Bleistiftzählung S. 66; Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses, Art. 90 a Abs. 1, 3. Sitzung des Hauptausschusses v. 16.11.1948, Sten. Ber. S. 34,4. Sitzung des Hauptausschusses v. 17.11.1948, Sten. Ber. S. 44. Es war vor allem daran gedacht, durch die erleichterte Auflösung einer schwachen Mehrheit gegen den Bundeskanzler eine Chance zu geben, sich in Neuwahlen eine stärkere Mehrheit zu verschaffen, so daß die neue Regierung auf breiterer Grundlage stehen könnte — eine Schwierigkeit, die bei der Regierungsneubildung 1966 für eine Koalition SPD/FDP tatsächlich eintrat und für deren Nichtzustandekommen mitursächlich war. 18 Abg. Menzel, 4. Sitzung des Hauptausschusses v. 17.11.1948, Sten. Ber. S. 44 f. 17 Abg. Schmid ibid. Es handelt sich also um eine Verrechtlichung des von v. Beyme (Regierungssysteme S. 502 ff.) so bezeichneten „Schuldprinzips", nach dem die für den Sturz verantwortliche Gruppe die Regierungsverantwortung übernehmen soll. Dort aber auch zur Praxis dieser Regel. 18 Sten. Prot, der 33. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, S. 414.
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ordneten Kaufmann, Heuß, de Chapeaurouge, der Präsident ausgeschaltet bleiben. „Krisenentscheidungen t r i f f t der Bundestag" (Schmid). A r t . 67 GG soll einen Konflikt Bundestag — Bundeskanzler lösen. 3. A r t . 67 GG ist i n sich unvollständig, da er das Verfahren i m Bundestag nur bruchstückhaft regelt, nämlich nur die Frist zwischen Antrag und Wahl festlegt. Die Geschäftsordnung ergänzt A r t . 67 GG i n § 98 GOBT. Der Antrag besteht aus drei Teilen: Ausspruch des Mißtrauens, Benennung eines Kandidaten und Ersuchen an den Bundespräsidenten, den alten Bundeskanzler zu entlassen. Der Antrag bedarf — entsprechend den Wahlvorschlägen gemäß A r t . 63 Abs. 3 und 4 GG i. V. m. § 4 Abs. 5 GOBT — der Unterstützung durch ein Viertel der Mitglieder. Ohne Benennung des Nachfolgekandidaten und die Unterstützung darf der Antrag nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. Werden mehrere Anträge, insbesondere m i t mehreren Namen, eingereicht, so ist über alle i n einem Wahlgang abzustimmen 19 . Erreicht keiner der Kandidaten die vorgeschriebene Mehrheit, ist der Antrag gescheitert.
II. Die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG Gemäß A r t . 68 GG kann der Bundeskanzler seinerseits den Antrag, i h m das Vertrauen auszusprechen, die Vertrauensfrage, stellen. Er kann das aus eigenem Entschluß tun, braucht dazu nicht etwa die Zustimmung der Bundesregierung 20 » 21 . Der Antrag ist abgelehnt, verneint, wenn er 19 § 98 Abs. 3 GOBT. Diese Vorschrift entscheidet die Streitfrage, ob es sich bei mehreren Anträgen um einen oder um mehrere Mißtrauensanträge handelt. Bestünde sie nicht, müßte man das letzte annehmen und gesonderte Abstimmung vornehmen. I m Interesse einer schnellen Klärung ist das in § 98 Abs. 3 GOBT normierte Verfahren sinnvoll, aber ob es verfassungsgemäß ist, erscheint fraglich. Denn jeder Antrag ist eine eigene Einheit. I n der Praxis allerdings dürfte dieser Fall nie eintreten, da die Parteien sich vor dem Antrag auf einen neuen Kanzler einigen müssen, damit die absolute Mehrheit sichergestellt ist. 20 ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 2 b, S. 1307; Amphoux: Chancelier S. 595. § 15 GOBReg sieht zwar vor, daß der Bundesregierung u. a. zur Beschlußfassung „alle Angelegenheiten von innenpolitischer Bedeutung" zu unterbreiten sind. Aber § 15 GOBReg., wenn auch wie die GOBT eigenerzeugtes Organrecht, steht unter Art. 68 GG und Art. 81 Abs. 1 Satz 2 GG und kann die Rechte des Bundeskanzlers nicht einschränken. Beide Vorschriften weisen aber eindeutig dem Bundeskanzler das Recht zu, die Vertrauensfrage zu stellen bzw. mit einer Gesetzesvorlage zu verbinden. Eine Beschlußfassung der Bundesregierung ist daher weder erforderlich, noch bindet sie den Bundeskanzler in seinen Entschlüssen. Amphoux weist zu Recht darauf hin, daß das Grundgesetz „réserve au Chancelier tout ce qui a trait aux rapports du Parlement et du Gouvernement. La confiance du Parlement ne concerne que lui même". 21 Die Vertrauenfrage kann aus jedem Anlaß gestellt werden, also auch im Anschluß an die Regierungserklärung eines neu gewählten Bundeskanzlers zur Billigung derselben und der Regierungsbildung; das erstrebte offensichtlich
e l u n g des Bundeskanzlers nicht die Zustimmung der Mehrheit der Stimmen der gesetzlichen M i t gliederzahl des Bundestages findet. Das ist aber dann nicht der Fall, wenn der Bundestag gemäß § 49 GOBT nicht beschlußfähig ist, was dann angenommen wird, wenn sich an der Abstimmung weniger als die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl beteiligt. Zwar w i r d die Beschlußfähigkeit unterstellt, wenn sie nicht bezweifelt wird. Das gilt aber dann nicht, wenn sich bei der Auszählung der Stimmen, die bei diesem Antrag erforderlich ist, ergibt, daß das Quorum der Anwesenheit der Hälfte der A b geordneten i m Sitzungssaal nicht erreicht wird. Die Ansicht von Trossmann, es käme gemäß A r t . 68 GG nur darauf an, daß die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder zahl die Vertrauensfrage bejaht, so daß i n diesem Fall des ungenügenden Quorums die Vertrauensfrage verneint sei, kann nicht durchgreifen 22 . Die Abstimmung ist nicht gültig, eine rechtlich wirksame Abstimmung hat nicht stattgefunden. Die Vertrauensfrage bleibt i n der Schwebe. Das hat auch seinen guten Sinn, w e i l u. U. nur eine sehr knappe Mehrheit für die Vertrauensfrage vorhanden sein kann. Durch plötzliche Verhinderung einiger zustimmungswilliger Abgeordneter zum Zeitpunkt der Abstimmung ist die Zustimmung gefährdet. Die anwesenden Zustimmungswilligen können die Beschlußunfähigkeit und damit die Aufhebung der Sitzung herbeiführen, u m einen günstigeren Zeitpunkt für die Abstimmung zu erreichen. Wohl aber ist die Vertrauensfrage abgelehnt, wenn sie nur die Zustimmung der relativen Mehrheit, also einer Mehrheit unter der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl, erreicht. Nichtteilnahme an der Abstimmung und Enthaltungen haben hier also das Gewicht von Nein-Stimmen. Die Vertrauensfrage muß m i t der h. L. auch als abgelehnt gelten, wenn der Bundestag nicht i n einer angemessenen Frist von ca. acht Tagen über sie entscheidet und zu erkennen ist, daß er sie nicht entscheiden w i l l . Allerdings hat der Kanzler noch das Recht auf Einberufung aus A r t . 43 Abs. 2 GG 2 3 . Die Vertrauensfrage kann vom Bundeskanzler mündlich oder schriftlich als selbständiger Antrag gestellt, aber auch gemäß A r t . 81 Abs. 1 Satz 2 GG mit einer Gesetzesvorlage verbunden werden. Da als Gesetzesbeschluß die Schlußabstimmung der dritten Lesung gilt 2 4 , ist über die Vertrauensfrage m i t dieser abzustimmen, nicht i n einer gesonderten die SPD-Fraktion mit ihrer Anregung an Adenauer in der 7. Sitzung der 1. Legislaturperiode des Bundestages v. 23.9.1949, Sten. Ber. S. 103 Β (Ollenhauer), die aber Adenauer seinerseits zu stellen ablehnte, 10. Sitzung v. 29.9. 1949, Sten. Ber. S. 187 D - 188 B, teils mit diesen Sachverhalt nicht berücksichtigenden verfassungsrechtlich falschen Argumenten. Ein gerade gewählter Kanzler wird sie aber nicht zu stellen brauchen. Das würde auch eine gewisse Gefahr zu großer Abhängigkeit in sich bergen. 22 Trossmann: Parlamentsrecht S. 273. 23 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 2 e S. 1308; Amphoux: Chancelier p. 596. Die Frist sollte nicht länger sein, da eine Krise vorliegt, die mit den Mitteln der Art. 68 und 81 GG gemeistert werden soll. 24 Art. 77 Abs. 1 GG; § 88 GOBT.
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Abstimmung. Sie ist auch abgelehnt, wenn die Gesetzesvorlage m i t der — gemäß A r t . 42 Abs. 2 i. V. m. A r t . 77 Abs. 1 GG hinreichenden — relativen Mehrheit angenommen ist. Weder w i r d durch die Verbindung für den Gesetzesbeschluß die absolute Mehrheit gemäß A r t . 121 GG erforderlich, noch ist für die Bejahung der Vertrauensfrage die relative Mehrheit hinreichend 25 . Findet die Vertrauensfrage nicht die Zustimmung der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages, so entsteht keine Rücktrittspflicht des Bundeskanzlers und kein Recht des Bundespräsidenten, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundeskanzler erhält die Möglichkeit, i m Zusammenwirken m i t dem Bundespräsidenten, den Bundestag binnen einundzwanzig Tagen seit Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung aufzulösen 26 oder i m Zusammenwirken m i t Bundesregierung, Bundespräsident und Bundesrat den Gesetzgebungsnotstand gemäß A r t . 81 GG ohne Fristbindung herbeizuführen. Der Bundeskanzler kann aber auch zurücktreten 27 . Dann erlöschen alle anderen Möglichkeiten für die Beteiligten, und das ordentliche Verfahren des A r t . 63 GG greift durch. Das Auflösungsrecht erlischt, wenn der Bundestag m i t den Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder „einen anderen Bundeskanzler" wählt. Nach h. L. kann das auch der alte, noch i m A m t befindliche Bundeskanzler sein 28 , was bedeuten würde, daß die Verneinung der Vertrauensfrage rückgängig gemacht wird. Diese Wahl ist verfahrensgemäß der zweite, nachgeholte Teil des A r t . 67 GG. Der Antrag auf Wahl des anderen Bundeskanzlers (wie i m Fall des A r t . 67 GG besteht kein Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten) enthält nicht den Ausspruch des Mißtrauens, w o h l aber muß er neben der Person des zu Wählenden das Ersuchen an den Bundespräsidenten auf Entlassung des alten Bundeskanzlers enthalten und von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages gestellt werden. Die Wahl hat dieselben Wirkungen wie die gemäß A r t . 67 GG. Der Bundespräsident muß den neugewählten Kandidaten unter Entlassung des alten Bundeskanzlers ernennen 29 . Offen ist, wie lange dieses Recht auf Wahl gemäß A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG besteht. Da es dazu dienen soll, das Auflösungsrecht, nicht aber die Einleitung des Gesetzgebungsnotstandes, dessen Verkündung nicht an eine Frist gebunden ist, zu verhindern, besteht es nur während der 21 Tage 30 . M i t der Wahl erlischt aber 25
Trossmann: Parlamentsrecht S. 275. I m einzelnen unten S. 305 ff. 27 ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 3 a, S. 1309. 28 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 4 b, S. 1311; MaunzDürig-Herzog: Kommentar Art. 68 Rdnr. 5 S. 68/2; a. A. Trossmann: Parlamentsrecht S. 273. 29 Ist der neugewählte der im Amt befindliche Kanzler, erübrigen sich Entlassung und Neuernennung, wie auch beim Antrag das Entlassungsersuchen. 30 Davon geht auch § 103 Abs. 2 GOBT aus. 26
e l u n g des Bundeskanzlers auch das Recht auf Einleitung des Gesetzgebungsnotstandes, obwohl darüber nichts gesagt ist. Denn eine Voraussetzung desselben, Verneinung der Vertrauensfrage, gilt für den neuen bzw. alten, aber bestätigten Kanzler nicht bzw. nicht mehr. Wenn die Frist von 21 Tagen verstrichen ist, kann somit der alte Kanzler nicht mehr gemäß A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG bestätigt werden. Es ist nur noch ein Kanzlerwechsel gemäß A r t . 67 GG möglich. Ein solcher Kanzlerwechsel verhindert ein drohendes Gesetzgebungsverfahren gemäß A r t . 81 GG ebenfalls. Bundeskanzler und Bundespräsident sowie für A r t . 81 GG außerdem Bundesregierung und Bundesrat sind i n der Reaktion auf die Verneinung der Vertrauensfrage frei, d.h. sie müssen zusammenwirken, u m den Bundestag auflösen oder den Gesetzgebungsnotstand gemäß A r t . 81 GG verkünden zu können. Zwar braucht der Bundeskanzler rechtlich i n dieser Lage nichts zu unternehmen, aber die politische Situation w i r d i h n dazu zwingen, den Konflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden. Aber er kann es nicht allein. Andere Organe müssen mitwirken, aber auch nur, solange der Bundestag selbst nicht von der bloßen Verneinung der Vertrauensfrage zur positiven Wahl des neuen Kanzlers schreitet. M i t Recht w i r d man sagen müssen, daß nach Beginn des Wahlaktes, d. h. nach A u f ruf des entsprechenden Tagesordnungpunktes, aber auch erst dann 3 1 , das Auflösungsrecht ruht, u m bei positivem Ausgang zu erlöschen, bei negativem Ausgang aber wieder aufzuleben 32 . Das folgt aus dem offensichtlichen Vorrang, den A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG dem Bundestag vor dem Bundespräsidenten, d. h. der Neuwahl des Kanzlers bei bestehendem Bundestag vor der Neuwahl des Bundestages selbst, gibt. A r t . 68 GG ist erst während der Beratungen i m Parlamentarischen Rat i n das Grundgesetz eingefügt worden. Er war auf Grund der Erfahrungen i n der Weimarer Republik umstritten. Man wollte auf diese Weise dem Bundeskanzler die Möglichkeit geben, i n einem Konflikt m i t dem Bundestag, an die Wähler appellieren zu können 3 2 a . Insofern soll er eine Waffe des Kanzlers gegen den Bundestag sein. Allerdings ist seine Praktikabilität zweifelhaft, wie die Vorgänge i m Sommer 1972 zeigen 3 2 b . I I I . Weitere Formen der Bekundung der Mißbilligung 1. I n der Praxis wie i n der Literatur hat sich die Frage ergeben, ob A r t . 67 und 68 GG ausschließliche Regelungen enthalten, oder ob noch andere, wenn auch nicht Rechtspflichten für ein bestimmtes Handeln be31
Zur Lage vor Eintritt in die Wahlhandlung unten § 15 I I I 6. Jellinek: Kabinettsfrage S. 11; a. A. v. Mangoldt-Klein: Art. 68 Anm. I I I 4 c, S. 1311 f.; Trossmann: Parlamentsrecht S. 273. 32a Dazu JöR Bd. 1 S. 447 ff.; v. Mangoldt; Kommentar Art. 68 Anm. 1, S. 360 f. 32 *> Dazu unten § 15 I I I 6. 32
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teger
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gründende Beschlüsse des Bundestages zulässig sind, i n denen dieser dem Bundeskanzler — oder einem Bundesminister 33 — seine Mißbilligung ausdrücken kann. So ist i n der ersten Legislaturperiode des Bundestages ein Mißbilligungsantrag gegen den Bundeskanzler gestellt, auf die Tagesordnung gesetzt, behandelt, jedoch abgelehnt worden 3 4 . I n der fünften Legislaturperode wurde ein Antrag eingebracht, auf die Tagesordnung gesetzt, behandelt und angenommen mit folgendem Wortlaut: „Der Bundeskanzler w i r d ersucht, dem Bundestag gemäß A r t . 68 GG alsbald einen Antrag vorzulegen, i h m das Vertrauen auszusprechen 35 ." I n beiden Fällen war die Zulässigkeit i m Bundestag umstritten. Ob i n der schließlichen förmlichen Behandlung eine Bejahung der Zulässigkeit liegt, ist nicht ohne weiteres anzunehmen. Zwar ist gerade das Parlamentsrecht ein Präjudizienrecht. Der erste Fall erlaubt aber nicht immer eindeutige Schlüsse 36 . 2. Was die Mißbilligung angeht, so hat gerade sie i m Parlamentarischen Rat eine erhebliche Rolle gespielt. Man wollte m i t A r t . 67 GG ein rein destruktives Mißtrauensvotum ausschließen. Der Antrag des Redaktionsausschusses, ein Mißtrauensvotum alter A r t neben dem A r t . 67 GG zuzulassen, wurde ausdrücklich abgelehnt, obwohl der Abgeordnete Dehler i n den Beratungen darauf hingewiesen hatte, daß man es i m parlamentarischen System nicht verhindern könne, daß der Bundestag i n einem 33
Diese werden hier ausgeklammert. Sie sind in § 14 S. 411 ff. zu behandeln. Drs. 1/3955, 253. Sitzg. 5. März 1953, Sten. Ber. S. 12158 C - 12168 D; v. Mangoldt-Klein : Kommentar Art. 67 Anm. I V 2, S. 1302. Der Antrag lautete: „Der Bundestag wolle beschließen: 1. Der Bundestag mißbilligt, daß der Bundeskanzler, nachdem das Bundesverfassungsgericht in die öffentliche und mündliche Verhandlung über das Ersuchen des Herrn Bundespräsidenten auf Erstattung eines Rechtsgutachtens wegen der Vertragsgesetze eingetreten war, bei dem Herrn Bundespräsidenten vorstellig wurde. 2. Der Bundestag mißbilligt, daß während der Vorsprachen des Bundeskanzlers bei dem Herrn Bundespräsidenten der Herr Bundespräsident an seinen Eid erinnert worden ist. 3. Der Bundestag mißbilligt die von der Bundesregierung vor Kenntnis der Begründung abgegebene Erklärung, daß der am 9. Dezember 1952 verkündete Plenarbesch luß des Bundesverfassungsgerichts weder im Grundgesetz noch sonst in einem Gesetz eine Stütze finde. 4. Der Bundestag mißbilligt, daß der Bundeskanzler zu den herabsetzenden Äußerungen des Bundesministers der Justiz über das Bundesverfassungsgericht geschwiegen hat." 35 Drs. V/1070, 70. Sitzg. 8. November 1966, Sten. Ber. S. 3280 Β ff. 3β Bei der Debatte um zwei Mißbilligungsanträge der Fraktion der SPD gegen den Bundesminister der Justiz Dr. Dehler am 4. März 1953 wurde ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung wegen Unzulässigkeit nicht entschieden, weil er nach Beginn der Abstimmung gestellt worden war, I. Legislaturperiode, Sten. Ber. S. 12112 D - 12113 A. Bei der Debatte um das Vertrauensfrage-Ersuchen am 8.11.66 wurde der Antrag auf Übergang zur Tagesordnung wegen Unzulässigkeit des Ersuchens abgelehnt. V. Legislaturperiode Sten. Ber. S. 3296 Β - C. 34
§ 14 Die Ablösung des Bundeskanzlers
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konkreten Fall sein Mißfallen ausdrückt 37 . Der Abgeordnete Katz wandte sich ausdrücklich gegen die Zulässigkeit eines Antrages, das Mißtrauen auszusprechen, über den nicht abgestimmt werden dürfe 3 8 . Die Beratungen des Parlamentarischen Rates geben die allgemeine Tendenz an: Entweder der Bundestag löst den Kanzler durch einen anderen ab, oder er läßt i h n i n Ruhe und diskrediert i h n nicht. A u f dieser Linie lagen dann auch Äußerungen i m Bundestag, so des Abgeordneten v. Merkatz i m Rechtsausschuß, der nur solche Anträge zulassen wollte, die nicht gegen die Stellung des Bundeskanzlers gerichtet seien, also nicht seinen Rücktritt veranlassen sollten. Die Abgeordneten Kiesinger und A r n d t gingen i n dieser Debatte i m Rechtsausschuß auf Mißbilligungsanträge gegen den Bundeskanzler nicht ein, sondern beschäftigten sich m i t solchen gegen einen Minister. Die Argumente sind nicht ohne weiteres übertragbar. Es hat aber den Anschein, als ob Kiesinger die von Merkatz gemachte Unterscheidung für Kanzler und Minister teilte 3 9 . I n der Debatte vom 5. März 1953 bestritt der damalige Bundeskanzler Adenauer die Zulässigkeit ganz allgemein, ohne jede weitere Begründung 4 0 . Der Abgeordnete Mellies widersprach i h m unter Hinweis auf die Beratungen i m Rechtsausschuß. Die Frage wurde i m Bundestag nicht ausdiskutiert, die von Merkatz und von Kiesinger fortgeführte und vertiefte Unterscheidung aber von dem letztgenannten auch i m Plenum gemacht 41 . Einzelne Handlungen oder Äußerungen können kritisiert, nicht aber die Stellung selbst irgendwie i n Frage gestellt werden. Die Lehre bejaht die Zulässigkeit von Mißbilligungsbeschlüssen überwiegend 42 . Dagegen äußert sich Münch 4 3 . Nach Münchs Auffassung grei37 33. Sitzg. des Hauptausschusses v. 8.1.1949, Sten. Ber. S. 413; Abg. ν . Mangoldt 49. Sitzg. des Hauptausschusses v. 9. 2.1949, Sten. Ber. S. 644. 38 ibid. 39 I. Legislaturperiode 23. Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht, 130. Sitzg. v. 5.11.1951,16 Uhr, Kurzprotokoll S. 6.1. Legislaturperiode 23. Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht, 131. Sitzg. v. 7.11.1951, 9 Uhr 30, Kurzprotokoll S. 5 ff. und S. 18 ff. sowie 135. Sitzg. v. 14. November 1951, 9 Uhr 30, Kurzprotokoll S. 2 und S. 4, ebenso der Abgeordnete Kopf ebd. S. 3. 40 Sten. Ber. 1. Wahlperiode S. 12162 Α. 41 I n der 252. Sitzg. vom 4. März 1953 wurde dieser Unterschied anläßlich zweier Mißbilligungsanträge der Fraktion der SPD gegen den Bundesminister der Justiz Dr. Dehler von dem Abgeordneten Kiesinger gemacht, weil nach seiner Auffassung in der Begründung der Anträge durch den Abgeordneten Dr. Gülich klargeworden sei, daß der Rücktritt Dehlers das Ziel der Anträge sei, Sten. Ber. S. 12110 D - 12111 A. Bei der Debatte um den Mißbilligungsantrag gegen den Bundeskanzler war die Begründung nicht auf Rücktritt abgestellt und wurde diese Unterscheidung nicht erhoben. Ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung wegen Unzulässigkeit des Mißbilligungsantrages ist, anders als am 4. März 1953, oben S. 274 auch nicht gestellt worden. I n der Sitzung vom 4. März 1953 erklärte Kiesinger außerdem, seine Fraktion werde wegen „Unzulässigkeit" nicht zustimmen, I. Dt. Bundestag Sten. Ber. S. 12111 A ; in der Sitzung vom 5. März 1953 fehlen derartige Äußerungen. 42 Seilmann: Parlamentsbeschluß S. 87; v. Mangoldt-Klein: Kommentar
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fen auch unverbindliche Mißbilligungsbeschlüsse die politische Existenz des Bundeskanzlers an. Sie widersprächen vor allem der Tendenz des Grundgesetzes, die Stellung der bestehenden Regierung zu stärken. I m übrigen könne bei der Berichterstattung i n den Zeitungen u. ä. der Eindruck entstehen, es handele sich doch u m ein unzulässiges Mißtrauensvotum. Sattler unterscheidet, wie die genannten Abgeordneten bei den Debatten des Rechtsausschusses und des Plenums, zwei Gruppen: Die erste Gruppe sind Mißbilligungsvoten gegen die allgemeine Politik des Bundeskanzlers und der Bundesregierung 44 . Diese hält er angesichts A r t . 67 GG für unzulässig. Sie entzögen dem Bundeskanzler generell das Vertrauen m i t der damit verbundenen erheblichen Schwächung seiner Position, ohne den dafür vom Grundgesetz vorgeschriebenen Weg zu gehen, ohne aber auch i h m den Weg der Auflösung oder des A r t . 81 GG zu öffnen. Ein allgemeines Mißbilligungsvotum zerschneide das Tuch zwischen Bundestag und Bundeskanzler. Es bleibe nur der Rücktritt des Bundeskanzlers. Damit trete aber ein, was A r t . 67 GG verhindern wolle: eine nur geschäftsführende Regierung auf Grund eines inhaltlichen, wenn auch nicht formellen Mißtrauensbeschlusses, u. U. gerade durch die abzuwehrende heterogene Mehrheit, und die Eröffnung einer Möglichkeit für den Bundespräsidenten, über A r t . 63 Abs. 1 GG, da es sich u m eine Krise handele, entscheidend einzugreifen. Sattler betont, daß das Grundgesetz sich entschieden habe, ein Vakuum der Regierungsautorität zu vermeiden. Das sei auch kein „empfindlicher Wegfall der Äußerungsmöglichkeiten" des Bundestages, weil diese erstens keinen Sinn hätten, wenn sie sich nicht zu einer neuen Regierungsbildung, die nur durch den Bundestag erfolgen könne, verdichteten, und w e i l zweitens das tägliche Geschäft der Gesetzgebung, Kontrolle und Regierung hinreichend Gelegenheit gebe, unerwünschte Maßnahmen zu behindern. Die zweite Gruppe bilden spezielle Mißbilligungsvoten gegen den Bundeskanzler und gegen Bundesminister. Diese seien nur unzulässig, wenn sie sich auf eine besonders grundsätzliche, „hochpolitische" Frage bezögen. Die Abgrenzung „hochpolitischer" Fragen zu anderen ist i n der Tat schwierig. Es müßten solche sein, die die Basis der Politik des Kanzlers beträfen. Zu weit w i r d man den Begriff nicht fassen dürfen. Die h. M. gibt für ihre Meinung keine genaue Begründung, sondern beruft sich allgemein auf das „parlamentarische System" 4 5 . Küchenhof f hat einen „allgemeinen Kontroll Vorrang" des Bundestages gegenüber dem Bundeskanzler nach dem Grundgesetz auf Grund des parlamentarisch-repräsentativen Systems, der Rangfolge, des A r t . Art. 67 Anm. I V S. 1301 ff. mit weiteren Zitaten; Maunz in: Maunz-DürigHerzog: Kommentar Art. 67, Randnote 3 a. 43 Bundesregierung S. 178 ff. 44 Sattler: Vertrauensfrage-Ersuchen S. 769 ff. 45 So ζ. B. Schneider: Kabinettsfrage S. 29.
e l u n g des Bundeskanzlers 67 GG, der Sachtätigkeitsabhängigkeit und der verschiedenen Kontrollrechte als Grundlage behauptet 46 . Aber zu Recht weist Sattler darauf hin, daß dieser Kontrollvorrang nur i m Rahmen der näheren Ausgestaltung des Grundgesetzes gegeben sei 47 . Es gibt kein abstraktes, repräsentativparlamentarisches System, sondern nur die jeweils konkret bestehenden, sich allerdings durch die Praxis und Auslegung auch fortentwickelnden Systeme der einzelnen Staaten 48 . Aus allgemeinen Grundsätzen solcher Verfassungsordnungen oder Staatsformen konkrete Regelungen hinsichtlich der Zulässigkeit bestimmter Kontrollmittel abzuleiten, ist nur dann möglich, wenn solche Grundsätze überhaupt nachgewiesen werden können 4 9 und nicht konkrete Sätze entgegenstehen, wenn also etwa eine echte Lücke vorliegt. Bedenkt man A r t . 67 GG, so ist der Differenzierung von Sattler zuzustimmen. Eine allgemeine grundsätzliche Mißbilligung ist ausgeschlossen, weil sie auch i m System des Grundgesetzes rechtlich nichts bewirkt. Eine Rücktrittspflicht besteht nicht. Ein Auflösungsrecht w i r d ebenfalls nicht eröffnet 50 . T r i t t der Kanzler aber zurück, so t r i t t zusätzlich noch über A r t . 63 Abs. 1 GG der Bundespräsident i n die Krisenlösung ein. Die Rechte des Bundespräsidenten sind, wie dargelegt, gerade i n der Krise bedeutungsvoll. Das wollte A r t . 67 GG ebenfalls ausschließen. Eine Einzelmißbilligung wie der Antrag Drs. I/3955 51 ist hingegen zulässig, wobei nicht verkannt werden soll, daß eine Reihe solcher Einzelmißbilligungen denselben Effekt haben können wie eine Generalmißbilligung. 3. Das Vertrauensfrage-Ersuchen war der Versuch, eine bisher unbekannte Zwischenform des Einwirkens des Bundestages auf den Bundeskanzler zu schaffen. Eine Mißbilligung war i m Text ausdrücklich nicht enthalten. Auch eine Andeutung, wie man eine Vertrauensfrage beantworten werde, war nicht gegeben. Wegen der i n der Praxis und der Wissenschaft für die Zulässigkeit des Ersuchens vorgetragenen Argumente erscheint es notwendig, ausführlicher auf diese Erscheinung einzugehen, obwohl sie politisch wie rechtlich nur eine Randerscheinung ist. Es handelte sich bei dem konkreten Fall, i n dem das Ersuchen gestellt wurde, nicht u m den Ausnahmefall, sondern nur um eine, sich allerdings hinschleppende Regierungskrise. Eine akute Gefährdung von Verfassung 48 Küchenhoff: Mißtrauensantrag S. 117; auf das allgemeine Kontrollrecht beruft sich auch Sellmann: Parlamentsbeschluß S. 87. 47 Vertrauensfrage-Ersuchen S. 766; ähnlich auch Langner: Recht S. 65. 48 Dazu v. Beyme: Regierungssysteme S. 885 ff. nach sorgfältiger Analyse der verschiedenen Formen parlamentarischer Regierungssysteme in Europa, bei der zahlreiche Unterschiede in wesentlichen Fragen aufgezeigt werden. 49 Das ist aber, wie v. Beymes Untersuchungen zeigen, kaum möglich. 50 Der Kanzler könnte allerdings seinerseits nun gem. Art. 68 GG verfahren und sich das Auflösungsrecht so verschaffen. 51 Oben S. 274 Fußnote 34.
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und Staat war nicht gegeben. Die Frage muß also i m Rahmen der für den Normalfall geltenden Verfahrensregelungen erörtert werden 5 2 . Die Begründung der Zulässigkeit seitens des Abgeordneten Mommer lautete i m wesentlichen wie folgt: Es ginge darum, die „verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten des freigewählten Deutschen Bundestages zu wahren", seine Meinung sagen, seinen Willen kundtun zu können. Der Bundestag dürfe zu der Krise nicht schweigen. Das „politische Wesen" des Antrages sei, der Pflicht des Bundestages nachzukommen, seine Sorge auszudrücken, das Land vor Schaden zu bewahren und auf das Ende des „grausamen Spiels" zu drängen. Diesen so wesenhaft politisch gemeinten Antrag könne man nicht m i t „formaljuristischen Argumenten" abtun. Vielmehr sei das i n Wirklichkeit der Versuch, sich der parlamentarischpolitischen Verantwortung zu entziehen 53 . A u f den politischen Inhalt stellte auch der Abgeordnete Genscher ab. Er sei „ein politisches Votum ohne verfassungsrechtliche Verbindlichkeit". Es gehöre zur Antragsfreiheit des Bundestages, den Bundeskanzler zu einem Tun oder Unterlassen aufzufordern 54 . Auch der Abgeordnete Wehner rückte die politischen Aspekte i n den Vordergrund und stellte das Recht und die Pflicht des Bundestages, als „eines der entscheidenden Verfassungsorgane", heraus, zu der Krise Stellung zu nehmen 55 . Dagegen wurde geltend gemacht, ein Mißtrauensvotum sei nur gemäß A r t . 67 GG möglich. Das sei eine Ausschließlichkeitsregelung. Ein Einwirken auf das freie Ermessen des Bundeskanzlers, gemäß A r t . 68 GG vorzugehen, sei unzulässig 56 . Die Argumentationsebenen sind also eindeutig nicht korrespondierend. Die Befürworter stellten auf die politische Funktion, die Gegner auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit ab. Küchenhoff hat die Zulässigkeit des Vertrauensfrage-Ersuchens m i t den folgenden Gründen bejaht 5 7 : Er geht aus von einem Kontroll-Vorrang des Bundestages gegenüber der Bundesregierung, der i m Grundgesetz durch die verfassunggestaltende Grundentscheidung für die repräsentativ-parlamentarische Demokratie und die Rang-Reihenfolge, durch die unterschiedlichen Kreationsabhängigkeiten sowie schließlich durch die Sachtätigkeitsabhängigkeiten der Bundesregierung vom Bundestag gegeben sei. Einige, und zwar die quantitativ wichtigsten und qualitativ wirksamsten Kontrollrechte seien i m Grundgesetz und/oder i n der GO B T aufgezählt, andere, wie die Mißbilligungsvoten, nicht. Küchenhoff 52
Zum Ausnahmefall unten S. 294 ff. V. Legislaturperiode Sten. Ber. S. 3280 Β - D. 54 V. Legislaturperiode Sten. Ber. S. 3281 C - D. 55 V. Legislaturperiode Sten. Ber. S. 3296 D ff. δβ Abg. Rasner V. Legislaturperiode Sten. Ber. S. 3281 A, Abg. Barzel S. 3300 D - 3301 A. 57 Mißtrauensantrag 116 - 124. 53
e l u n g des Bundeskanzlers versucht nun, das „funktionelle Verhältnis des Vertrauensfrage-Ersuchens selbst zu den anderen M i t t e l n parlamentarischer Regierungskontrolle" dadurch zu erhellen, daß er i h m zehn verschiedene Funktionen zuweist und es so als selbständiges Kontrollmittel zu begründen sucht. Eine Funktion ist das Ersuchen selbst als Sachanregung. Vier Funktionen bestehen darin, die Wege zu A r t . '68 GG und seinen möglichen Rechtsfolgen zu eröffnen. Drei Funktionen richten sich auf Mehrheitserprobungen i m Hinblick auf verschiedene Möglichkeiten weiteren Handelns seitens des Bundestages. Eine Funktion ist ganz allgemein Initiative aus einer politischen Krise m i t Handlungsbeschränkung der Bundesregierung, und eine besteht schließlich darin, Anstoß zur Neuwahl des Bundestages zu geben. Die Funktionen sind teilweise politischer A r t , teilweise aber auch verfassungsrechtlicher A r t . Alle Funktionen, die teilweise aufeinander bezogen sind, brauchen nicht auf einmal für jedes Ersuchen gegeben zu sein. A u f Grund der Funktionen, aber auch der Zwecke der Urheber (auch Regierungsfraktionen können sich seiner bedienen), unterscheidet Küchenhoff „negatives", „positives" und „neutrales" Vertrauensfrage-Ersuchen. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit beurteilt sich nach Küchenhoffs Auffassung aus der Vielfalt der Funktionen, der Unterschiedlichkeit der Zweckmäßigkeit wie auch der Vielfalt der konstituierenden Kompetenzen, Situationen und Verfahrenswege. Ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung durch Verletzung des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG liegt nach seiner Ansicht nicht vor, w e i l es sich bei A r t . 68 Abs. 1 Satz 1 GG nicht u m Regierung i m materiellen Sinne handele, sondern um einen Teil eines „eigenständigen Bereiches von Tätigkeiten der Gewaltentrennung". Als solche sei sie aber keine unzulässige Einwirkung der funktionellen Gesetzgebung auf die funktionelle Regierung. Denn einerseits sei allgemein das parlamentarische System ein M i t t e l der personellen Gewaltentrennung, sowohl der Volksvertretung gegenüber dem Kabinett durch die Abhängigkeit vom Vertrauen, als auch des Kabinetts gegenüber dem Parlament durch das Auflösungsrecht. Andererseits gelte konkret nach dem Grundgesetz der Kontrollvorrang des Bundestages gegenüber der Bundesregierung, so daß nur solche Kontr oll mittel nicht zulässig seien, die „einer ausdrücklichen Regelung des GG widersprechen". A r t . 68 bezwecke auch nicht nur, der Regierung die Möglichkeit zu geben, eine „negative" Mehrheit abzuwehren, weil das nur die Maßnahmen nach A r t . 81 GG, nicht aber das Auflösungsrecht decken würde. Gegen A r t . 67 GG liegt nach Küchenhoffs Auffassung kein Verstoß vor, da dieser ganz andere Funktionen habe als das Vertrauensfrage-Ersuchen und daher auch verschiedene rechtliche Voraussetzungen und Folgen habe. Er bewirke, wie A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG, nur einen Kanzlerwechsel, während das — erfolgreiche — Vertrauensfrage-Ersuchen eine ganze Palette von Möglichkeiten politischen und rechtlichen Verhaltens eröffne. Ein Widerspruch könne, so meint Küchenhoff, auch nur für ein „nega-
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tives" Vertrauensfrage-Ersuchen i n Frage kommen, nicht aber für das „neutrale" oder gar „positive". I m übrigen bestehe keine Abgangspflicht wie bei A r t . 67 GG, also kein „Abgangs-Automatismus" des Vertrauensfrage-Ersuchens. Gegen A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG verstoße das Vertrauensfrage-Ersuchen nicht, w e i l diese Vorschrift den rechtspflichtfreien — also nicht vom Bundestag durch das Ersuchen verursachten — Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten voraussetze. A r t . '67 und 68 GG verbieten nach Küchenhoffs Ansicht auch nicht andere Voten des Bundestages, die m i t parlamentarischem Druck einen rechtspflichtfreien Abgang des Kanzlers bewirken, ohne daß ein Kanzlertausch stattfindet. Das Vertrauensfrage-Ersuchen führe i m übrigen u. U. erst i n vierter Stufe und keineswegs notwendig zur Regierungs-Vakanz. I m übrigen sei bei einer Regierungsunfähigkeitskrise ein Abgangs-Druck m i t jedem denkbaren M i t t e l parlamentarischer Regierungskontrolle notwendig, wenn für ein Vorgehen gemäß A r t . 67 GG (noch) keine Mehrheit bestehe; denn der Verbleib, nicht der Abgang des Bundeskanzlers sei i n dieser Krise „destruktiv". So sei das Vertrauensfrage-Ersuchen schließlich ein hervorragendes M i t t e l politischer Stabilisierung von Staat und Staatsform. Demgegenüber hat Sattler m i t folgenden Gründen die Zulässigkeit verneint 5 8 . Zunächst verneint er einen pauschalen Kontrollvorrang, der auch sämtliche nicht ausdrücklich geregelten M i t t e l parlamentarischer Regierungskontrolle dem Bundestag zuerkenne, sofern sie nicht einer ausdrücklichen Regelung des GG widersprächen. Der Kontrollvorrang sei i n seinen Mitteln durch A r t . 67 GG beschränkt 59 . Es dürfe kein Vakuum entstehen, da A r t . 67 GG dieses verhindern wolle; die rechtliche Verbindlichkeit des Ersuchens sei nicht entscheidend, sondern der politische Zwang, dessen Stärke zur Vakanz führen und den Sinn des A r t . 67 GG vereiteln könne. Die Annahme eines Vertrauensfrage-Ersuchens aber sei letztlich ein Ausdruck des allgemeinen Mißtrauens und könne daher notwendig nicht ohne Konsequenzen bleiben i m Sinne einer Regierungsum- oder -neubildung, sei es unter dem alten, sei es unter einem neuen Kanzler, ohne daß diese Konsequenzen i m Gegensatz zur Absicht des A r t . 67 GG bei der Abstimmung erkennbar seien. Die Zulässigkeit des Vertrauensfrage-Ersuchens ist aus verfassungssystematischen Gründen zu verneinen. Außer diesen sind gegen Küchenhoff immanente und methodische Einwände zu erheben. Immanent widerspricht sich Küchenhoff, wenn er einerseits ständig betont, daß das Ersuchen nur rechtspflichtfreie Handlungen hervorrufen könne, anderer58 Sattler: Vertrauensfrage-Ersuchen S. 765 -773; gegen das Vertrauensfrage-Ersuchen auch: Schmidt-Bleibtreu-Klein: Kommentar Art. 67 Rdnr. 3, S. 324. 59 So letztlich auch Langner: Recht S, 66 ff.
e l u n g des Bundeskanzlers seits aber behauptet, es habe nicht nur Sachanregungs-, sondern auch Eröffnungsfunktionen für die i n A r t . 68 und 81 GG gegebenen und sonstigen evtl. Rechtsfolgen. Es eröffnet sie eben, wie das konkrete Beispiel zeigte, gerade nicht 6 0 . Ebenso widersprüchlich ist es, A r t . 68 Abs. 1 Satz 1 GG als Teil des Gewaltenhemmungssystems des Grundgesetzes, und zwar als mögliche Grenze der Kontrollmittel des Bundestages, anzusprechen, dieses dann aber nicht unter Einschluß desselben zu interpretieren. Ob der von Küchenhoff behauptete Kontrollvorrang auch hinsichtlich der M i t t e l besteht, erweist sich nicht allein durch A r t . 67 GG und andere gegebene Mittel, sondern auch durch A r t . 68 Abs. 1 Satz 1 GG. Wenn diese Vorschrift Grenze des Kontrollvorrangs sein könnte, kann sie nicht dadurch ausgeräumt werden, daß ein Kontrollvorrang behauptet wird, der als solcher bereits A r t . 68 GG beiseitedrängt. Es hätte das Verhältnis beider zueinander erörtert werden müssen. Es geht bei der Frage, ob das Vertrauensfrage-Ersuchen zulässig ist, um die Frage nach dem Bestehen einer Rechtsregel, die dem Bundestag eine entsprechende Zuständigkeit zuweist. Die Rechtsregel ist nicht gesetzt. Sie kann also nur als eingeschlossene Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs oder kraft Natur der Sache bestehen als „stillschweigend (mit)geschriebene Kompetenz". Küchenhoff versucht nun, von den politischen Funktionen her, die eine solche Zuständigkeit haben könnte, diesen Sachzusammenhang herzustellen und die Notwendigkeit des Bestehens der Zuständigkeit nachzuweisen, was dann gleich gelten soll für das Bestehen selbst. Dieser Weg ist nicht gangbar. Aus politischen Funktionen läßt sich nicht das Bestehen einer Norm herleiten. Es handelt sich um einen Rückschluß, der deswegen i n dieser unmittelbaren Weise unzulässig ist, w e i l er i n sich selbst erkenntnismäßig ungesichert ist. Diese politischen Funktionen sind zudem selbst nur gewünschte, angestrebte, durchaus vernünftig begründbare, aber doch auch bestreitbare, von der Rechtsordnung selbst keinesfalls anerkannte, objektivierte, politische Wollungen. Die politischen Funktionen bedürfen selbst der Vermittlung durch das Recht, hier des Verfassungsrechts. Das politisch Erwünschte kann nicht K r i t e r i u m für den Schluß auf das Bestehen einer Rechtsregel sein. Eine Kompetenz kraft Sachzusammenhang ist eine solche kraft rechtlich notwendigen, nicht kraft tatsächlichen oder politischen, erwünschten Sachzusammenhangs. Sie dient dazu, rechtlich fixierte Aufgaben als 80 I n der konkreten Krise 1966 haben sie sich auch konkret keineswegs bewährt weder für Art. 67 GG noch für Art. 68 GG. Die F D P stimmte zwar mit, so daß es eine Mehrheit gab, aber zur absoluten Mehrheit reichte es für Art. 67 GG nicht. Außerdem ist sehr zu bedenken, ob der Bundestag nur zu solchen Meinungsumfrage-Funktionen, also ohne Folge, Beschlüsse fassen darf. Küchenhoff beruft sich darauf, auch die Vertrauensfrage habe eine solche mehrheitsklärende Funktion. Das läßt sich aber keineswegs vergleichen: Hier ist sie notwendige tatbestandliche Voraussetzung für weiteres rechtserhebliches Handeln, dort ist sie Meinungsumfrage für weitere Überlegungen.
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Inbegriffe von sachlich zusammenhängenden Kompetenzen zu ergänzen, so daß sie erfüllbar werden. Die von Küchenhoff genannten politischen Funktionen sind aber keineswegs vom Grundgesetz anerkannte Funktionen. Das w i r d ganz offenbar bei den Mehrheitserprobungsfunktionen. Die Absicht, eine Meinungsumfrage zu einem bestimmten Problem unter den Mitgliedern des Bundestages, auch i m Hinblick auf ihre Amtsausübung abzuhalten, rechtfertigt keine eingeschlossene Zuständigkeit, das i m Wege des Beschlusses des Bundestages zu tun. Küchenhoff schreibt zwar, die Funktionen seien für die Beantwortung der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Ersuchens i n Beziehung zu den einschlägigen Rechtsnormen des Grundgesetzes zu setzen, aber nicht u m zu prüfen, ob und wie diese politischen Funktionen vom Grundgesetz anerkannt seien, sondern es w i r d die aus den politischen Funktionen, die sie haben könnte, so sie bestünde, als bestehend rückerschlossene Rechtsregel i n Beziehung zu den übrigen einschlägigen Rechtsregeln gesetzt. Die Prüfung scheint normalem Vorgehen einer solchen zu entsprechen. Aber sie ist bereits vorentschieden, weil die begründenden Funktionen nicht geprüft worden sind. Es bedarf also nur noch des Nachweises, daß A r t . 67 GG diese Funktionen nicht hat, was i n der Tat der Fall ist, und schon widerspricht die Vorschrift der neuentdeckten Rechtsregel nicht 6 1 . Diese Methode unterw i r f t das Verfassungsrecht politischen Wünschbarkeiten und Vorstellungen, zumal die von Küchenhoff genannten Funktionen systematisch und inhaltlich nicht näher begründet sind. Es könnten ebensogut mehr oder auch weniger sein. Küchenhoffs Überlegungen beruhen auf einem Mißverständnis der funktionellen Methode. Politische Funktionen als solche sind keine Rechtserkenntnisquelle 62 . Die verfassungssystematischen Einwände gegen die Zulässigkeit des Ersuchens werden deutlich, wenn man, i m Gegensatz zu Küchenhoff, die von i h m genannten Funktionen i n das System der A r t . 68 und 67 GG einzupassen versucht. Auszuschließen sind von vornherein die reinen Mehrheitserprobungsfunktionen. Für folgenlose Meinungsumfragen, die als solche keinen politischen Willen gegenüber dem Bundeskanzler, sondern allenfalls intern für den Bundestag darstellen, ist das immerhin der Ausübung von Staatsgewalt zugehörige Verfahren der Beschlußfassung des Bundestages nicht geeignet und gegeben. Damit scheiden das „neutrale", aber auch weitgehend das „positive" Vertrauensfrage-Ersuchen aus. Es verbleibt eigentlich nur das „negative" Vertrauensfrage-Ersuchen. 61
„Dem V-E-Antrag wird ein solcher Widerspruch auch dahingehend vorgeworfen, mit ihm solle nur der schwieriger zu verwirklichende Mißtrauensantrag auf pMmA gemäß Art. 67 umgangen werden. Jedoch haben diese beiden KontrolJmittel schon prima facie verschiedene Funktionen und demgemäß auch verschiedene rechtliche Voraussetzungen und Folgen." Mißtrauensantrag S. 121. 62
Zur funktionalen Rechtstheorie: Krawietz: Recht.
e l u n g des Bundeskanzlers A r t . 68 GG ist dem Wortlaut nach ein Recht des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag. Es ist auch i n den Folgen als ein solches ausgestaltet. A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG ist — wie auch Küchenhoff darlegt — rein reaktiv 6 3 . A r t . 68 GG ist die Kehrseite des A r t . 67 GG, ein M i t t e l der Gewaltenhemmung des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag. Er soll die Möglichkeit haben, entweder gegen einen widerstrebenden Bundestag das Volk anzurufen oder i h n für eine Weile bei der Gesetzgebung auszuschalten. Das ist seine eigentliche, prima-facie-Funktion 6 4 . Unterstellt, der Bundeskanzler folgt dem Ersuchen, so eröffnet er sich damit die Möglichkeit, i m positiven Falle gestärkt weiterzuregieren, i m negativen Falle gegen den Bundestag vorzugehen. Es erscheint nicht ganz einsichtig, daß der Bundestag den Bundeskanzler veranlassen w i l l , gegen i h n vorzugehen 65 , es sei denn, die Mehrheit w i l l den Gesetzgebungsnotstand, den Rücktritt oder die Neuwahl. Der Gesetzgebungsnotstand bedeutet Ausschaltung des Bundestages. Er stellt eine äußerste Krise dar und bedeutet eine — jedenfalls augenblickliche — Funktionsunfähigkeit des parlamentarischen Systems. Sie herauszufordern, widerspricht den Amtspflichten der Abgeordneten. Der Bundestag kann darum auch nicht indirekt ersuchen. Er würde sich u m die Erfüllung seiner Aufgabe der Gesetzgebung drücken. Es ist dem Bundestag auch verwehrt, den Bundeskanzler durch inhaltliches Mißtrauensvotum ohne Kanzlertausch zum Rücktritt zu veranlassen. A r t . 67 GG hat das ausdrücklich ausgeschlossen. Er ist nicht bloß formell bezogen auf die rechtliche Abgangspflicht, sondern auf den Inhalt zu verstehen. Es ist systematisch auch gar nicht sinnvoll, da der Bundestag ja gemäß A r t . 63 Abs. 2 und 3 GG sowieso den neuen Bundeskanzler zunächst m i t absoluter Mehrheit zu wählen versuchen muß. Gelingt i h m das nicht, ersetzt er nur einen Minderheitenkanzler durch einen anderen. Wenn sich keine Mehrheit für A r t . 67 GG findet, soll die bestehende Minderheitsregierung als das kleinere Übel bleiben. Nur eine absolute Mehrheit soll die Minderheit ersetzen, nicht eine andere — wenn auch vielleicht größere — Minderheit. Man mag das kritisieren, man mag es i n dem besonderen Fall ζ. B. der Krise 1966 für absolut unerwünscht halten, aber es liegt eine entsprechende Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers vor, die nicht einfach durch U m funktionierung oder durch Zwischenbildungen geändert bzw. ergänzt werden darf. W i r haben einen konstitutionellen Parlamentarismus. Die 63 Es ist im übrigen nicht richtig, daß die Abgangspflicht auf Grund der Wahl nach Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG den „rechtspflichtfreien Vorschlag des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten auf Auflösung des Bundestages voraussetzt". Die Abgangspflicht folgt aus der Wahl, die jederzeit, auch vor einem solchen Vorschlag, auch nach Anwendung des Art. 81 GG erfolgen kann. 64 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I 3, S. 1305. 65 Insofern ist dieser Beschluß eine ganz anders geartete „Sachanregung" als etwa das Ersuchen, einen Gesetzesentwurf vorzulegen; denn dieses dient der Funktion des Bundestages, jenes aber nicht.
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II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
Kontrollbefugnisse des Bundestages sind nicht ungeregelt, sondern sie sind i n Zuständigkeiten niedergelegt, wie jede Staatsgewalt. Aus einem allgemein postulierten Kontrollvorrang des Bundestages können, wie bereits oben dargelegt, nicht neue Zuständigkeiten und Kontrollmittel abgeleitet werden. Bleibt also als letzte eröffnete Möglichkeit die Neuwahl, d. h. die Aussicht, eine kleine Mehrheit zu einer großen Mehrheit zu machen; das ist der Versuch der indirekten Selbstauflösung. Auch sie ist unzulässig. Eine kleine Mehrheit ist für das Grundgesetz groß genug. A r t . 68 GG sieht das Auflösungsrecht nur für den Fall vor, daß sich keine Mehrheit bilden läßt 6 6 . A r t . 68 GG ist insoweit eindeutig. Zieht man doch zusätzlich die Entstehungsgründe hilfsweise heran, so ergibt sich gerade unmißverständlich, daß die Auflösung auch nicht an ein inhaltliches Mißtrauensvotum ohne Abgangspflicht anknüpfen soll, was das Ersuchen i m Ende auch für Küchenhoff sein soll 6 7 . Man w i l l keinerlei Wiederaufleben des alten Mißtrauensvotums und Auflösungsrechts. Die von Küchenhoff aufgezählten wesentlichen Funktionen des Vertrauensfrage-Ersuchens sind vom Grundgesetz nicht anerkannt. Bleibt die allgemeine Krisenlösungsfunktion. Diese steht dem Bundestag sicherlich zu. Aber weder praktisch, noch rechtlich ist das Ersuchen der gegebene Weg. Es ist i n W i r k lichkeit der Schein einer Initiative. Denn es umgeht die eigentliche Initiative, die die Einbringung eines Antrages nach A r t . 67 GG darstellen würde, und weicht damit der Verantwortung der Opposition aus, indem sie sie auf den Bundeskanzler, den Bundespräsidenten und i m Rahmen des Art. 81 GG auch auf den Bundesrat zu verlagern sucht 68 . Es widerspricht damit dem positiven Parlamentarismus des Grundgesetzes grundsätzlich. Das Ersuchen dient rechtlich nicht der Initiative, weil es rechtlich nichts bewirkt, keine Rechtsfolgen auslöst. Es bedarf nach diesen Darlegungen nicht mehr des weiteren Hinweises, daß, wie Böckenförde i n anderem Zusammenhang dargelegt hat, die Exekutive eine selbständige, originäre öffentliche Gewalt ist, die als solche einen eigenen Bereich hat 6 9 , zu dem A r t . 68 GG gehört. Es ist richtig, wenn Küchenhoff i h m materiell dem Gewaltenhemmungssystem zuordnet, aber funktionell, und darauf allein kommt es an, gehört er dem Bereich der Exekutive zu. Das ist durch einen abstrakten Kontrollvorrang — wie bereits dargelegt — auch hier nicht ausräumbar. Das aber führt zu einem letzten wesentlichen Gesichtspunkt. 66
I m einzelnen unten S. 305 ff. 33. Sitzung vom 8.1.1949 des Hauptausschusses des Pari. Rates, Sten. Prot. S. 415. Siehe oben S. 275. Der entsprechende Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses wurde ausdrücklich abgelehnt. 68 I m konkreten Fall 1966 war es die CDU/CSU-Fraktion, die die Sache weitertrieb, nicht die Opposition. Ohne ihre Abkehr von Erhard wäre das Ersuchen vollends verpufft. 69 Organisationsgewalt S. 79 ff. 67
e l u n g des Bundeskanzlers Vor allem i n der politischen Begründung des VertrauensfrageErsuchens wurden die hier vorgetragenen Argumente unter Rekurs auf das „politische Wesen" des Antrages als „formal-juristische" Argumente abgetan. Daß sie auch material-politische Gründe sind, wurde soeben dargetan. Wenn aber von den Antragstellern die Auffassung vertreten wird, das freigewählte Parlament habe das Recht, aber auch die Pflicht, zu allem Stellung zu nehmen, Schaden vom Land fernzuhalten und dem „grausamen Spiel ein Ende" unabhängig von der Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes zu machen, so ist folgendes zu bedenken. Abgesehen davon, daß das „grausame Spiel" noch vier Wochen weiterging, daß die Initiative i n Wirklichkeit keine w a r 7 0 , w i r d i n der von den Antragstellern gegebenen Begründung der Anspruch erhoben, daß die Regelungen des Verfassungsgesetzes, i n denen die politisch-staatliche Organisation, der Ausgleich und das Zusammenwirken der Organe und ihrer Funktionen sowie die Verfahren bei deren Ausübung geregelt sind, zurückzutreten haben, hinter einem mehr oder weniger absoluten Führungsanspruch des Bundestages. Die Bezeichnung der verfassungsrechtlichen Argumente als „formaljuristisch" verkennt die Bedeutung auch und gerade des organisatorischen Verfassungsrechts für die Sicherung der konkreten Freiheit des Einzelnen. A r t . 63, '67, 68 und 81 GG stabilisieren i m systematischen Zusammenhang ein System der gegenseitigen Gewaltenhemmung, wie Küchenhoff zutreffend hervorhebt 7 1 . Sie stabilisieren es als Gesetz und damit als Normierung des tragenden politischen Gemeinwillens i n diesem zudem besonders geschützten Gesetz. Aber dieses System ist, damit es funktionieren kann, an seine Einhaltung gebunden. Es gehört zur Verfassung des Staates als seiner politischen Grundordnung, daß die Organe sich entsprechend dem Verfassungsgesetz als Ausdruck des Gemeinwillens verhalten. Jede A r t von Staatsgewalt, auch die staatsinterne Kontrollgewalt eines Organs über ein anderes, bedarf der zuständigkeitsmäßigen Begründung. I n Zuständigkeiten konkretisiert sich die rechtliche Stellung, nicht i n irgendwelchen abstrakten Ansprüchen. Diese haben i n den Zuständigkeiten sich niederzuschlagen. Fehlt eine solche, h i l f t kein abstraktes Prinzip aus vorgefaßten Vorstellungen einer politischen Ordnung. Der Bundestag ist eingegliedert i n ein bestimmtes organisatorisches System, das näher zu analysieren Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Er ist nicht absolut und auch nicht souverän, was immer man darunter verstehen mag. Er ist konstitutionell gebunden. Er hat das Recht und die Pflicht, Schaden vom Land zu wehren und Initiativen zur Bereinigung von Krisen zu ergreifen, aber nicht i n den Formen, Arten und Weisen (Zuständigkeiten), die i h m gerade passen, sondern i n denen, die i h m durch das Verfassungs70
v. Beyme (Regierungssysteme S. 659) hält das Ersuchen prinzipiell bei Koalitionsregierungen für ungeeignet, politische Folgen herbeizuführen. 71 Mißtrauensvotum S. 120 f.
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recht zugewiesen sind. Nach 1945 hat sich aus guten Gründen die Ansicht durchgesetzt, der Rechtsstaat müsse auf der Grundlage der Grundrechte verstanden werden. Diese berechtigte Auffassung hat aber dazu geführt, die verfahrensmäßige, organisatorische Seite des Rechtsstaates i n ihrer Bedeutung zu verkennen, obwohl sie historisch sein ursprüngliches, allerdings eben auch ein freiheitssicherndes, materielles und nicht nur formelles K r i t e r i u m ist. Die Auslegung des Grundgesetzes und seines rechtsstaatlich-organisatorischen Teiles an Hand eines „politischen Wesens" führt i n diesem Bereich zu demselben Ergebnis wie eine Auslegung des Grundrechtsteiles an Hand von Werten und Wertverwirklichung. Es gibt ihn dem subjektiven Meinen und Wollen preis, das als solches nicht argumentierbar und nachprüfbar, sondern nur entscheidbar ist, wie es i m Bundestag am 8. November 1966 geschah. Es steht der Anspruch dahinter, die handelnde Instanz, der allerdings von demokratischen, rechtsstaatlich gesonnenen Parteien getragene Bundestag, verbürge die Rechtsstaatlichkeit 72 . Eine derartige Auffassung steht aber, wie Forsthoff darlegt, i n Widerspruch zu herkömmlicher Rechtsstaatlichkeit, die diesem letzten Endes unkontrollierbaren Belieben durch vorgeformte, allgemeine Verfahren m i t vorhersehbaren Abläufen steuern w i l l . Die rechtsstaatlich-organisatorisch institutionelle Ordnung als freiheitsverbürgende Ordnung w i r d durch einen Rückgriff auf nicht argumentierbares, beliebig vorgestelltes „politisches Wesen" bei ihrer Auslegung gefährdet und unter Umständen zerstört, w e i l die machthindernde, gewaltenhemmende Funktion aufgehoben wird. Dabei ist es unerheblich, ob diese Macht eine „gute" oder eine „böse" sei, eine Unterscheidung, die notwendig wird, wenn die Rechtsstaatlichkeit an die handelnde Instanz und nicht an das Verfahren gebunden wird, eine Unterscheidung, die i n den Rechtfertigungen Mommers auch bereits anklingt, wenn von der Pflicht die Rede ist, „das Land vor Schaden zu bewahren", das „grausame Spiel" zu beenden. Das würde heißen, daß das Ersuchen nicht zulässig sei, wenn diese Ziele durch das Ersuchen nicht gefördert werden sollten. Der Rechtsstaat w i l l aber die Auseinandersetzung u m „gute" oder „böse" Machtausübung aufheben, indem er die Freiheitsverbürgung an das allgemeine gesetzliche Verfahren knüpft, weil diese Auseinandersetzung unentscheidbar wäre. Dieser Rückgriff auf die handelnde Instanz läßt auch, wenn auch i n anderer Form, den Unterschied und u. U. Widerspruch von gesetzesstaatlicher Legalität und demokratischer Legitimität aufleben, nunmehr begründet auf dem höheren Legitimitätsanspruch eines Organs gegenüber dem anderen.
72 Für ähnliche Vorstellungen bzgl. des Bundesverfassungsgericht: Forsthoff: Umbildung S. 171 f.; zur Kritik auch Hesse: Grundzüge S. 15.
e l u n g des Bundeskanzlers IV. Die Kritik am konstruktiven Mißtrauensvotum Die K r i t i k gegen das konstruktive Mißtrauensvotum zielt i n verschiedene Richtungen 73 . Es sei eine Einschränkung des parlamentarischen Systems, und es sei politisch nicht sinvoll. 1. Der erste Einwand geht fehl. Wie dargelegt, entspricht A r t . 67 GG der durch A r t . 63 GG angelegten Systematik. Schon Preuß hatte betont, daß es darauf ankomme, daß das Parlament seinen positiven Willen zur Regierungsbildung äußere, wen es haben wolle. Die nur negative W i l lensäußerung, wen es nicht habe wolle, sah Preuß nur als Vorstufe dazu an. Das Grundgesetz läßt den positiven Willen maßgebend sein. Die K r i t i k geht von der These aus, das parlamentarische System bestehe darin, daß die Regierung verpflichtet sei, „jederzeit auf Votum des auf allgemeinem Wahlrecht beruhenden Hauses des Parlamentes aus dem Amte zu scheiden" 74 . Diese Aussage bezeichnet aber nur eine historisch bestimmte Verfassungslage, nicht aber das „wesentliche K r i t e r i u m der parlamentarischen Demokratie" i. S. einer theoretischen, wesensnotwendigen Vorgegebenheit. Die Weimarer Praxis hat deutlich gezeigt, daß die regierungstürzende Mehrheit notwendig dahin drängen muß, regierungsbildende positive Mehrheit zu werden, wenn das parlamentarische System wirksam werden soll. T r i t t aber die positive Willensbildung des Bundestages zur Regierungsbildung i n der verfassungsrechtlichen Regelung ausdrücklich als organisatorisches Prinzip i n den Vordergrund, dann genügt es nicht, für den Regierungswechsel wegen Wegfall des Vertrauens des Bundestages zum Kanzler nur das Recht zum Sturz vorzusehen. Es genügte praktisch schon i n Weimar nicht, wie gerade die beiden einzigen Mißtrauensvoten zeigten: Die Regierung blieb beide Male i m Grund gleich. Nicht der Entzug des Vertrauens, sondern die Gewährung des Vertrauens durch die gewählte Volksvertretung ist parlamentarische Regierung i m Sinne des Grundgesetzes 75 . Ein Mißtrauensantrag ist i n der Tat nur sinnvoll, wenn er Ausdruck einer Mehrheit ist, die entschlossen ist zu regieren 76 . 73 Schneider: Kabinettsfrage S. 30 ff.; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 67 Anm. I I 3 b - c, S. 1291 ff.; Glum: Regierungssystem S. 350 ff.; Friesenhahn: Parlament S. 59 ff.; Böckenförde: Glosse S. 253 - 254; Sattler: VertrauensfrageErsuchen S. 772. 74 Scheuner: Gestaltungen S. 228; Kimminich: Staatsoberhaupt S. 20 f. M i t weiteren Nachweisen: Sattler: Vertrauensfrage-Ersuchen S. 772; Friesenhahn: Parlament S. 55 weist hingegen darauf hin, daß nur die ohne aktive Teilnahme des Parlaments eingesetzte Regierung „auch in ihrem Bestände vom Willen des Parlaments abhängig" sein muß. Auch v. Beyme (Regierungssysteme S. 360) ist der Auffassung, „das Recht eines Parlaments, die Regierung zu stürzen, sei für die parlamentarische Regierung essentieller, als das Recht sie förmlich zu wählen". 75 Amphoux: Chancelier S. 8: „La confiance que les assemblées représenta-
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
Der Bundespräsident ist i n die Regelung der Lösung einer Regierungskrise nach A r t . 67 GG nicht eingeschaltet. Das w i r d als Nachteil empfunden 77 . Kaltefleiter hat neuestens darauf aufmerksam gemacht, daß „ i n jenen Ländern, i n denen das Staatsoberhaupt aktiv am Regierungsgeschäft beteiligt ist, oft beobachtet werden (kann), daß das Staatsoberhaupt zum Kristallisationspunkt der parlamentarischen Opposition gegen die Regierung w i r d und daß es Verhandlungen u m eine Regierungsumbildung führt, obwohl die amtierende Regierung nicht gestürzt ist" 7 8 . Würde A r t . 67 GG dem Präsidenten eine eigene Initiative einräumen, bestünde eine derartige Gefahr auch i n der Bundesrepublik; immerhin hat der zweite Bundespräsident 1965 ausdrücklich seine Mißbilligung der bestehenden kleinen Koalition zwischen CDU/CSU und FDP und seinen Wunsch nach einer großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD zu einer Zeit ausgesprochen, als i n den beiden letztgenannten Parteien starke Strömungen i n die gleiche Richtung und damit gegen den amtierenden Kanzler Erhard vorhanden waren 7 9 . Da der Bundeskanzler, auch der durch Koalitionsbruch i n die Minderheit geratene aber amtierende Kanzler, die Richtlinien der Politik bestimmt, i h m und nicht dem Bundespräsidenten die Führung der Regierung obliegt, soll der Bundespräsident bei bestehender Regierung nicht aktiv werden können, u m nicht gegen sie aktiv werden zu können. Er könnte sonst doch versucht sein, sachliche Politik zu machen. Der Forderung, daß i n der Krise dem Bundespräsidenten umfassendere rechtliche Befugnisse zukommen müßten, könnte die Vorstellung zugrunde liegen, der Bundespräsident stehe über den Parteien, könne das Interesse des Ganzen gegen die parteipolitischen Differenzen besser vertreten, sei also Vertreter des Gesamtinteresses, das er gegen das Parteieninteresse i n der Krise vertreten müsse. Gegen diese Vorstellung ist folgendes geltend zu machen. Auch und gerade der starke Bundespräsident ist Parteimann (wie es i. ü. auch viele Monarchen i m 19. Jahrhundert de facto waren). Aus Neutralität erwachsende Autorität kann er nur bewahren, wenn er nicht aktiv entscheidet, sondern nur rät 8 0 . Die moderne Demokratie ist Parteiendemokratie. Das Grundgesetz hat das ausdrücktives placent, dans les hommes qu'elles chargent des responsabilités du gouvernement est la légitimité du pouvoir" unter Bezug auf René Capitani. Amphoux weist ausdrücklich darauf hin, daß zunächst nur historisch bedingt im Ministersturz sich die Abhängigkeit vom Vertrauen bemerkbar gemacht habe, dieses aber nur der erste Schritt zum parlamentarischen System sei. 76 Insofern ist Carl Schmitt oben S. 218 f. zuzustimmen. 77 Böckenförde: Glosse S. 254. 78 Funktionen S. 240. 79 Abgedruckt in Winkler: Bundespräsident S. 82 f. 80 So hat Kaltefleiter darauf hingewiesen, daß der Autoritätsverlust des zweiten Bundespräsidenten aus seinem Bemühen resultierte, ein politischer Präsident zu sein, Funktionen S. 241 f.
e l u n g des Bundeskanzlers lieh i n A r t . 21 GG anerkannt. Parteidemokratie bedeutet nicht notwendig, wie oben eingehend dargelegt, Parteilichkeit. Es erscheint grundsätzlich fraglich, ob ein einzelner i m pluralistischen Staat der Gegenwart das Ganze des Staates und der Gesellschaft ohne Einseitigkeit soll darstellen und damit Legitimitätsvermittlung für die Exekutive soll leisten können, ob die Nachteile des pluralistischen Parteiensystems durch das Gegenprinzip eines die Staatseinheit darstellenden Staatshauptes ausgeglichen werden können und nicht nur verschärft werden; denn die zentrale Frage des pluralistischen Staates ist, w o r i n diese Einheit über einige sehr allgemeine Grundlagen hinaus besteht. Dieser Frage kann i m vorliegenden Zusammenhang nicht näher nachgegangen werden. Eine „Verbesserung" der Parteien durch Repräsentation und ihre ständige Kontrolle i n der öffentlichen Auseinandersetzung, auch ihr Aufbrechen aus ideologischen und anderen Verhärtungen, wie es schon Preuß forderte, erscheinen eher geeignet, die Nachteile des Parteienstaates abzugleichen. Die Vorstellung des „pouvoir neutre" ist m i t dem parlamentarischen System nicht zu verbinden, ohne es aufzuheben 81 . Das Grundgesetz jedenfalls hat dem Bundespräsidenten diese Stellung nicht eingeräumt. Die Legitimitätsreserve der Bundesregierung für den Notfall ist die Minderheit des Bundestages 82 . Minderheitsregierungen sind keineswegs w ü n schenswert, aber sie erschienen dem Parlamentarischen Rat wünschenswerter als Präsidialregierungen. Trotzdem w i r d i n dieser Grundsatzentscheidung des Parlamentarischen Rates nunmehr die politische W i r k samkeit der Regelung besonders fragwürdig 8 3 . I m Grunde erweist aber dieses Dilemma zwischen extraparlamentarischem Präsident und M i n derheit, daß die positive Mehrheit zur Regierungsbildung (nicht eine unentschiedene zur Regierungsduldung oder negative Mehrheit zum Regierungssturz) das parlamentarische System tragend bedingt. Die Minderheit soll zur Mehrheit oder durch eine andere Mehrheit abgelöst werden können. Solange das aber nicht der F a l l ist, genügt sie, wie sie auch schon gemäß A r t . 63 Abs. 4 GG genügen soll 8 4 . Der Regierung bleiben A r t . 68 und A r t . 81 GG, d. h. Auflösung und Gesetzgebungsnotstand. 81 Die Aufhebung tritt nur im Ausnahmezustand zutage, aber dieser ist entscheidend. Gerade die Krise muß das Parlament selbst bewältigen. Kimminich: Staatsoberhaupt S. 38 ff.; Doehring: „Pouvoir neutre" S. 201 - 219. Kaltefleiter: Funktionen S. 208 ff. Es ist daher auch aus diesem Grund nicht nur aus den Motiven der Grundgesetzväter, richtig, daß der Bundespräsident in die Lösung einer Krise nicht eingeschaltet worden ist, so lange die Parteien ihn nicht von sich aus einschalten, a. A. wohl Böckenförde: Glosse S. 254. 82 Aber auch das republikanische Staatsoberhaupt ist oft nur von einer relativen Mehrheit, also einer Minderheit, gewählt und kann seine ursprüngliche Mehrheit im Laufe der Zeit verloren haben, was gerade für den Konfliktsfall mit einer neugewählten Volksvertretung der Grund sein kann. 83 Auf die polito-psychologischen Bedenken geht ein Sattler: Vertrauensfrage-Ersuchen S. 772 ff. Siehe auch Glum: Regierungssystem S. 352 f. zur K r i tik an den Minderheitsregierungen, der darauf hinweist, daß die Krise v o n 1932/33 nicht ohne weiteres über Art. 67 GG zu lösen gewesen wäre.
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
2. A r t . 67 GG soll die Lösung einer Regierungskrise regeln. Er verhindert sie aber nicht, w e i l er die häufigste Ursache derselben, den Koalitionszerfall, nicht verhindert, so durch Austritt einer Fraktion aus der Koalition 1956, 1962, 1966, und durch Abbröckeln 1970-72 auf 248 Abgeordnete. Aber verfestigt er sie nicht i n Wahrheit? Böckenförde scheint der Ansicht zu sein 85 . Der Kanzler neigt dazu, am „Sessel zu kleben" und kann doch die Sache nicht vorwärtsbringen, wenn seine eigene Partei ihn nicht stützt. 1962 konnte Adenauer hingegen aus der Unterstützung durch seine Partei die Mehrheit wiedergewinnen. Brandt gelang dies 1972 trotz der Unterstützung durch seine Partei nicht. Die verbleibende Minderheitsregierung hat zwar m i t A r t . 68 und 81 GG verfassungsrechtliche Befugnisse, die der geschäftsführenden Regierung nicht zustehen 86 , aber ob sie politisch stärker ist als eine geschäftsführende Regierung, erscheint fraglich 8 7 . A r t . 67 GG schließt die geschäftsführende Regierung vor allem gar nicht aus; denn nach dem Bruch der Koalition ist dem Kanzler der Rücktritt freigestellt. Erhard 1966 und Brandt 1972 hätten, wie es die jeweilige Opposition forderte, ebenso reagieren können, wie die Kanzler der Weimarer Zeit reagiert haben, die i. a. ohne ausdrückliches Mißtrauensvotum zurücktraten, wenn die Koalition zerbrach 88 . Sie wären dann als geschäftsführende Bundeskanzler gem. A r t . 69 GG i m A m t geblieben bis zu einer Neuwahl gem. A r t . 63 GG. Dreimal geriet ein Kanzler bisher durch den Zerfall seiner Koalition i n die Minderheit. I n keinem Fall löste das Institut des konstruktiven MißtrauensVotums die Krise. 1962 trat die FDP aus dem Kabinett Adenauer aus, u m ihn zu veranlassen, einen Bundesminister zu entlassen. Sie war aber zur Fortsetzung der Koalition entschlossen. Der Kanzler blieb und bildete eine neue Regierung auf der alten Koalitionsgrundlage. 1966 trat die FDP aus dem Kabinett Ehrhard aus sachlichen Gründen aus. Die 84 Es erscheint politisch auch nicht sinnvoll, eine Minderheit durch eine andere zu ersetzen, da das die Krise nicht löst, fragend: Friesenhahn: Parlament S. 61. 85 Böckenförde: Glosse S. 253 - 254. 86 Unten S. 306 f. 87 Friesenhahn: Parlament S. 61 f.; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 67 Anm. I I 3 b, S. 1293; Böckenförde (Glosse S. 252): „Man hatte eine Regierung, eine voll amtierende Regierung dank des Art. 67 GG, aber was vermochte sie? Nichts. Sie war von Anfang an politisch tot." Allerdings ist die „Agitation hinter dem Rücken des Kanzlers" in jeder Form parlamentarischer Regierungsweise möglich. Die Agitation in der CDU/CSU gegen Erhard hat sich in ähnlicher Form in der Weimarer Republik abgespielt. Hier führte sie wenigens zum neuen Kanzler, dort führte sie nur zum Regierungssturz. 88 Aber auch in der Weimarer Republik war der Rücktritt in diesem Fall nicht immer, jedenfalls nicht unmittelbar die Folge; so trat ζ. B. nach der Demission der deutschnationalen Minister im 1. Kabinett Luther am 26. Okt. 1925 das Rumpfkabinett erst am 5. Dezmber 1925 zurück, nachdem die Versuche, eine neue Mehrheit zu finden, evtl. unter Bildung einer großen Koalition, gescheitert waren, Haungs: Reichspräsident S. 94 ff.
§ 14 Die Ablösung des Bundeskanzlers
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CDU/CSU-Fraktion, der der Kanzler angehörte, suchte einen neuen Kanzlerkandidaten und für diesen eine neue Mehrheit. Sie veranlaßte, als die Koalition m i t der SPD perfekt war, den alten Kanzler zum Rückt r i t t und es kam zum Verfahren nach A r t . '63. I m A p r i l 1972 versuchte die Oppositionsfraktion CDU/CSU zugunsten ihres Fraktionsführers Barzel ein konstruktives Mißtrauensvotum. Es scheiterte 89 . Aber da der amtierende Bundeskanzler Brandt auch keine absolute Mehrheit mehr i m Bundestag fand, war er innenpolitisch trotzdem nicht i n der Lage, umstrittene Gesetzesvorlagen, insbesondere den Haushaltsplan für 1972 durch den Bundestag zu bringen, wenn die Oppositionsabgeordneten geschlossen gegen i h n stimmten. Der Haushalt des Kanzleramtes wurde i n der zweiten Lesung abgelehnt. Die Haushaltsberatungen mußten unterbrochen werden 9 0 . Außenpolitisch blieb der Kanzler nur handlungsfähig, solange er ohne Zustimmung des Bundestages handeln konnte. Die Zustimmungsgesetze zur Ratifikation der Ostverträge konnte er nur nach langen Verhandlungen m i t der widerstrebenden CDU/CSU-Fraktion dank deren mehrheitlicher Stimmenthaltung durchbringen 91 . A r t . 67 GG löste jedenfalls i n dieser Situation die Krise nicht. Das konstruktive Mißtrauensvotum w i r k t nur, wenn ein Koalitionspartner oder jedenfalls sehr erhebliche Teile einer Koalition einen Koalitionswechsel vornehmen, also m i t der bisherigen Opposition zusammen eine neue Mehrheit bilden, wie 1956 und 1966 i n Nordrhein-Westfalen. Ist das nicht der Fall, erreicht das Institut des konstruktiven Mißtrauensvotums wohl, daß der i n die Minderheit geratene Kanzler i m A m t bleiben kann; es w i r d dadurch aber noch nicht auch schon eine politisch stabile, vor allem entscheidungs- und führungsfähige Bundesregierung geschaffen. Denn, wie die Vorgänge 1972 gezeigt haben, kann ein Kanzler, dem die Mehrheit fehlt, sein innenpolitisches Programm dann i m allgemeinen nicht verwirklichen, w e i l er dazu i n immer weiteren Umfang der Gesetze und vor allem des Haushaltsplanes bedarf. Eine rechtliche Stabilisierung schafft noch keine politische Stabilität, wenn sie nicht durch den politischen Willen der Abgeordneten, Fraktionen, Parteien herbeigeführt w i r d 9 2 . Allerdings bewirkt das Institut des 89
AdG 42. Jg. 1972 S. 17044 D. Ibid. 91 AdG 42. Jg. 1972 S. 17071 B, 19094 E. 92 Böckenförde: Glosse S. 254: „Aber Bonn ist nicht Weimar und negative Mehrheiten sind nicht das Problem der Bundesrepublik. Niemals noch ist der Teufel zweimal durch dieselbe Tür eingetreten (...). Aber man schuf den Art. 67 GG: der posthume Sieg geängstigter Demokraten über vergangene Geschichte" (die zudem falsch interpretiert wurde). Auch Sattler: Vertrauensfrage-Ersuchen S. 772 f. Selbst für die „negative" Mehrheit deutet Schneider (Kabinettsfrage S. 29) darauf hin, daß sie sich auf einen „farblosen und harmlosen Kandidaten" einigen und damit selbst die Hoffnungen der demokratischen Minderheit noch zerstören könnte. 90
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konstruktiven Mißtrauensvotums einen gewissen Zwang auf die politischen Kräfte zu positiver politischer Willens- und Entscheidungsbildung. Auch zwingt es die Fraktionen, gemeinsam zu handeln, also zu einer Fraktionsdisziplin. Einzelgängerisches Vorgehen w i r k t , wie der durch Aktionen von sechs Abgeordneten herbeigeführte Zerfall der Mehrheit des Bundeskanzlers Brandt 1970 bis 1972 zeigt, politisch nicht positiv, sondern negativ. Insofern mag A r t . 67 GG mittelbar auch eine politische Stabilisierung herbeiführen können. Aber das ist nur ein Vorgang auf Zeit. Letzten Endes werden Neuwahlen zum eigentlich klärenden Verfahren, was eigentlich durch A r t . 67 GG ausgeschlossen werden sollte. Gerade die Erreichung derselben aber hat der Grundgesetzgeber ebenfalls aus Angst vor „negativen Mehrheiten" gegenüber der Weimarer Republik verschärft, was sich politisch für die Krisenlösung unter den ganz anderen Verhältnisses der Bundesrepublik hemmend auswirkt 9 3 . Eine entschiedene Schwächung des parlamentarischen Systems allerdings ist darin zu sehen, daß die Minister, die ihren Bereich i n eigener Verantwortung, wenn auch i m Rahmen der vom Kanzler bestimmten Richtlinien leiten, weder bei ihrer Berufung noch bei ihrer Amtswaltung vom Vertrauen des Bundestages getragen zu sein brauchen. Tatsächlich sind sie es bei ihrer Berufung doch 94 . Aber letztlich entscheidend ist das Vertrauen des Kanzlers. Die Minister sind selbständig handelnde und führende Politiker. Als solche müssen sie Rede und A n t w o r t stehen gemäß A r t . 43 GG. Aber weder positiv noch negativ kann diese Verantwortlichkeit unmittelbar vom Bundestag realisiert werden, ein Zustand, der insoweit dem der Reichsverfassung von 1871 entspricht.
§ 15 Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages I. Die Ernennung 1. Die Ernennung des Bundeskanzlers wie seine Entlassung werden durch den Bundespräsidenten vorgenommen. Dieser ist verpflichtet, den Bundeskanzler unverzüglich zu ernennen, wenn der Kandidat m i t den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählt ist, sow o h l i m ordentlichen Verfahren gemäß A r t . 63 GG wie i n den außer93 94
Dazu unten § 15 I I I 6. Unten S. 313 ff.
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 293 ordentlichen Verfahren gemäß A r t . 67 und 68 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Gleiche gilt, wenn der Kandidat durch den Gemeinsamen Ausschuß gemäß A r t . 115 h Abs. 2 GG gewählt worden ist. Allenfalls hat der Bundespräsident eine Frist von sieben Tagen i m Falle des Art. 63 Abs. 4 Satz 2 GG 1 . I n diesen Fällen, die dadurch gekennzeichnet sind, daß der Bundestag — oder der Gemeinsame Ausschuß — m i t den Stimmen der Mehrheit ihrer Mitglieder eine Entscheidung für eine bestimmte Person getroffen haben, die i n den Fällen des A r t . '67 GG und A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG die Entscheidung gegen eine andere Person einschließt, ist der Bundespräsident dieser Entscheidung echtlich unterworfen. Die Ernennung ist nur eine Bestätigung formell* c A r t . Einen eigenen rechtlichen Willen kann der Präsident nicht betätigen. Insbesondere kann er die Ernennung außer i n dem speziellen Fall eines verfassungsfeindlichen Kandidaten 2 nicht verweigern. Allerdings steht i h m ein Prüfungsrecht zu, ob die Wahl grundgesetzmäßig verlaufen ist, und ob der Kandidat die normalen Voraussetzungen für die Kanzlerschaft erfüllt. Sind sie nicht erfüllt, muß er die Ernennung verweigern, und es ist der entsprechende Wahl gang zu wiederholen 3 . Der Vorrang des Bundestages gegenüber dem Bundespräsidenten ist für den Fall, daß die Mehrheit einen Kanzler trägt, eindeutig; Kampfkabinette des Präsidenten gegen den Bundestag sind für diesen Fall ausgeschlossen. Die Regierung ist parlamentarisch. Das Vertrauen des Präsidenten ist unerheblich, da bei der ordentlichen Wahl selbst das Vorschlagsrecht schon für diese Fälle i. a. gebunden ist, i n den außerordentlichen Verfahren der A r t . 67 GG und Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG nicht einmal ein solches gegeben ist. 2. Bereits bei Erörterung des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten tauchte die Frage auf, ob der Präsident einen i h m von den Fraktionen präsentierten „verfassungsfeindlichen" Kandidaten vorschlagen muß. Das ist verneint worden. Da der Vorschlag eine Ermessensentscheidung darstellt, die nur unter bestimmten Umständen zur Pflicht wird, den Kandidaten der Mehrheit des Bundestages vorzuschlagen, stellt diese Einschränkung kein Problem. Hingegen ist die Ernennungspflicht eindeutig festgelegt. Ein Ermessen des Bundespräsidenten besteht nicht. Muß der Präsident einen „verfassungsfeindlichen" Kandidaten ernennen? Das Problem ist mehr theoretischer als praktischer A r t . Aber es erhellt ein anderes, für das gesamte Verfassungsgefüge grundlegenderes Pro1 Diese Frist gilt nicht für die Wahl gem. Abs. 3 in der zweiten Wahlphase, weil sie eine Erweiterung der Rechte des Bundespräsidenten darstellt, und vor allem wegen der Ernennungspflicht nicht notwendig ist; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 3 b, S. 1232; a. A. Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 63 Rdnr. 7 Fußnote 1, S. 63/3. 2 Unterabschnitt 2. 3 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 63 Anm. I I I 3 a; Bartelt: Regierungsbildung S. 77. Zu den Voraussetzungen ebenda.
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blem, wer i m Ausnahmefall zu entscheiden hat und betrifft damit auch die Frage nach Stellung und Funktion des Bundestages. „Verfassungsfeindlich" ist ein Kandidat, der gestützt auf seine Partei nach seinen eindeutigen Zielen die Verfassung nicht nur gem. A r t . 79 GG ändern w i l l , sondern formell wie materiell zu vernichten gedenkt. Wie das zu beweisen ist, kann i n dem vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. Einem schwachen oder sonst ungeeigneten Kandidaten, einem Strohmann oder dergleichen kann der Präsident die Ernennung nicht verweigern. Wollte man i h m ein solches Recht zubilligen, würde man i h m ein allgemeines sachliches, nach letztlich unüberprüfbaren Inhalten gestaltetes Prüfungsrecht zubilligen. Es kann nur für den genannten Fall eine Ausnahme gelten, daß der Kandidat verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Schneider scheint der Ansicht zu sein, gestützt auf den i n der Tat eindeutigen Wortlaut, daß auch für diesen Fall die Pflicht zur Ernennung bestehe4. Eine Verweigerung der Ernennung erscheint als verfassungswidriges Handeln, als Staatsstreich, wenn auch zur Verteidigung der bestehenden politischen Grundordnung. Die Verweigerung der Ernennung des gewählten Kandidaten müßte zudem m i t der Fortführung einer geschäftsführenden Regierung und vielleicht mit der Ernennung eines nichtgewählten Minderheitenkanzlers verbunden werden, wenn die Mehrheit auf ihrem Kandidaten beharrt und ein anderer Kandidat keine Mehrheit zu erreichen vermag. Der Bundespräsident würde hier die Stellung eines „Hüters der Verfassung" 5 übernehmen, indem er eine Legitimitätsvermittlung vornimmt, die nicht parlamentarisch ist, sogar ausdrücklich gegen den Bundestag und seine, i n den gerade stattgehabten Wahlen von den Wählern erworbene Mehrheit gerichtet ist, sondern sich auf den inhaltlichen K e r n der Verfassungsordnung beruft, den der Bundespräsident zu wahren hat. Die Wahl eines anderen Kandidaten durch den Bundestag ist kaum zu erwarten. Die Mehrheit des Bundestages w i r d an ihrem Kandidaten festhalten. Sie kann sich auf A r t . 63 GG berufen. Die Verweigerung der Ernennung seitens des Präsidenten müßte sich inhaltlich darauf berufen, daß einerseits der inhaltliche Verfassungskern gefährdet und derselbe höherrangig sei als die formellen Vorschriften und i h m die Entscheidung darüber zukomme, daß andererseits eine konkrete Gefährdung vorliege und was der inhaltlich vorrangige Kern sei. Diese Entscheidung geht über die normale Prüfungskompetenz, wie weit immer sie reichen mag, entschieden hinaus. Sie läßt sich aus dem Verfassungsgesetz nicht beantworten 6 . Sie muß aus der allgemeinen Inter4
Kabinettsfrage S. 29. I n diesen Zusammenhang stellt das Problem Ernst Wolfgang Böckenförde, W D t S t r L Heft 25, S. 220 ff. und S. 232 - 235. 6 Es ist daher ein Mißverständnis, wenn Ehmke (Aussprache S. 234) gegen5
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 295 pretation der Verfassung der Bundesrepublik als inhaltlich i n bestimmter Weise festgelegter politischer Grundordnung des Staatswesens und der Stellung des Bundespräsidenten i n ihr gewonnen werden. Durch A r t . 1 bis 20 GG werden bestimmte materielle Grundlagen festgelegt 7 . Ihre Vernichtung würde die politische Ordnung grundlegend verändern, die bestehende Verfassung vernichten. Die Verfahrensvorschriften des A r t . 63 GG haben zwar, wie oben dargelegt 8 , materiellen Charakter für die Sicherung der Freiheit aber nur i m Zusammenhang mit jenem materiellen Kern, nicht aus sich und sicher nicht um den Preis der Gefährdung oder gar Vernichtung desselben. Geraten sie i n Konflikt, ist der materielle Kern vorrangig. Es ist die i n A r t . 1 bis 20 und 79 Abs. 3 GG manifest gewordene Grundentscheidung der politischen Grundordnung für eine bestimmte materielle Grundlage, durch die sich die gegenwärtige Verfassungsordnung von der der Weimarer Republik unterscheidet. Die Entscheidung muß i n diesem Fall dem Bundespräsidenten zustehen. Die erörterte Möglichkeit ist ein Extremfall. Da der „verfassungsfeindliche" Kanzlerkandidat i m allgemeinen Führer einer verfassungswidrigen Partei ist, die ihn m i t den ihr angehörenden Abgeordneten i m Bundestag allein oder i n einer Koalition wählt und stützt, w i r d der Extremfall durch ein gegen die Partei gerichtetes Verfahren gem. A r t . 21 Abs. 2 GG i n einem normalen Verfahren verhindert werden können. Gegen den Führer der Partei selbst kann ein Verfahren gem. A r t . 18 GG durchgeführt werden. Aber i n einer krisenhaften Entwicklung wie etwa 1931 - 1933 sind diese Verfahren zu langsam 9 . Die Entscheidung, zu ernennen oder nicht, muß ad hoc getroffen werden. Sie kann nur dem Bundespräsidenten obliegen, weil er allein die Ernennung zu vollziehen hat 1 0 . über Böckenförde meint, eine solche Ablehnungspflicht ergäbe sich, wenn sie eine verfassungsrechtliche Pflicht sei, „doch sowieso aus der Verfassung"; es sei also nicht nötig, den Präsidenten „zum Hüter der Verfassung, hochzujubeln". Habe er sie nicht, dann habe er sie auch nicht als Hüter der Verfassung. Die Weigerung, ein Gesetz zu unterzeichnen und zu verkünden, ist inhaltlich etwas anderes, als die, einen Kanzler zu ernennen, schon weil im Fall der Weigerung ein Gesetz zu verkünden meist keine Gefahr im Verzuge ist, so daß das Bundesverfassungsgericht entsprechend seinen Zuständigkeiten entscheiden und dieser Entscheid vollzogen werden kann; im zweiten aber ist Gefahr im Verzug. Denn ein ernannter Kanzler hat weitgehende Machtmittel, die auch den Vollzug eines Urteils gegen ihn verhindern würden. 7 Es geht also nicht um ein abstraktes, nicht näher fixiertes, vom Bundespräsidenten auszufüllendes „Gemeinwohl", sondern um festgelegte, durch Interpretation dargestellte Inhalte. 8 Oben S. 285 f. 9 Der SRP-Prozeß dauerte vom 19. Nov. 51 - 23. Okt. 52, der KPD-Prozeß vom 28. Nov. 1951 bis zum 17. Aug. 1956. Hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsfeindlichkeit verneint und kommt der Bundespräsident zu einem anderen Ergebnis, ist der Konflikt unüberbrückbar. Er müßte zurücktreten; denn eine Bindung des Bundespräsidenten in einem derartig schwerwiegenden Fall an Bundestag und Bundesverfassungsgericht ist ebensowenig vorstellbar wie die Zulässigkeit eines beide negierenden Entschlusses des Bundespräsidenten.
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Die Entscheidung, die Ernennung zu verweigern, gehört zu dem Kompetenzbereich des Bundespräsidenten i. w. S., wenn schon die Verweigerung gerade nicht zu den Zuständigkeiten des Normalfalles gehört. Der Bundespräsident hat keine allgemeine, aus irgendwelchen Prinzipien oder einem irgendwie definierten „Wesen des Staatsoberhauptes" abgeleitete Stellung des „Hüters der Verfassung", sondern sie erwächst i h m für einen besonderen Fall aus seinem spezifischen Kompetenzbereich, wo i h m die — nicht unbedingt letzte, aber doch — maßgebende, d. h. über Fortbestand des Verfassungskerns entscheidende Entscheidung 11 zufällt. Aus der Zuweisung der Entscheidung für den Normalfall ergibt sich die Stellung des Hüters der Verfassung für den Ausnahmefall. Ohne auf die Frage näher einzugehen, scheint hier der Ansatz zur Lösung der Frage nach dem Hüter der Verfassung i m organisatorisch funktional differenzierten Staat der Gegenwart zu liegen. Es gibt i n i h m keinen absoluten, allgemein letzten Hüter der Verfassung, sondern nur einen relativen, für den jeweiligen Ausnahmefall letzten Hüter der Verfassung, der aus seiner Normalzuständigkeit, diese überschreitend, ja u. U. negierend, i m Ausnahmefall eingreift, wenn seine kompetenzgemäße Entscheidung den Verfassungskern erheblich gefährden, gegebenenfalls sogar vernichten würde. Für diese Fälle wäre es, anders als bei der Überprüfung von Gesetzen, i m Normalfall nicht möglich, die Entscheidung dem U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts zu überlassen, weil dieses keine Abhilfe mehr schaffen kann, wenn die Verfassung bereits vernichtet ist; A r t . 93 Abs. 1 GG und § 32 BVerfGG enthalten Regelungen für den Normalfall, nicht den Ausnahmefall. Wonach soll das Bundesverfassungsgericht i m Ausnahmefall urteilen? Die Zubilligung des Rechtes an den Bundespräsidenten, die Ernennung i n diesem Falle zu verweigern, wie auch seine konkrete Wahrnehmung sind m i t vielen Unwägbarkeiten belastet, stellen schließlich die Einsicht des Präsidenten als letzten Maßstab auf, geben i h m eine nicht unerhebliche Machtfülle für den Ausnahmefall. Aber es ist vorübergehende Machtstellung, die darin besteht, eine Überleitung vom Ausnahmefall zum Normalfall zu bewirken, i n der eben diese Machtstellung wieder 10
Ber Bundespräsident wird in jedem Fall versuchen, ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG einzuleiten, wenn es nicht der Bundestag tut. Er kann eine einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG erwirken, den Kandidaten vorläufig nicht zu ernennen. Aber schon darin liegt die Weigerung zur Ernennung. Zudem muß er die geschäftsführende Regierung beibehalten, kann sie also nicht entlassen, oder muß für die Zwischenzeit gar einen anderen Kanzler ernennen. Die eigentliche Entscheidung bleibt also beim Präsidenten. Das Bundesverfassungsgericht kann sie allenfalls nachträglich billigen. 11 Verweigert er die Ernennung, kann es zum Organstreit gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG evtl. zur Präsidentenanklage gem. Art. 61 GG kommen. Verweigert er nicht, unterbleibt beides, aber die Entscheidung ist gegen den Verfassungskern gefallen.
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 297 untergeht; es w i r d dem ernannten verfassungstreuen Kanzler und den ihn stützenden Fraktionen des Bundestages i n erster Linie obliegen, wenn auch m i t Unterstützung des Präsidenten, die politische Situation zu bewältigen. Auch diese Ernennung kann nicht zum Präsidialkabinett führen. Die vorstehenden Überlegungen zum Recht des Bundespräsidenten, einen vom Bundestag m i t der Mehrheit seiner Mitglieder gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen, weil dieser verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, stützen sich auf die organschaftliche Stellung des Bundespräsidenten und seinen Kompetenzbereich. Eine andere Basis für das genannte Recht könnte sich auch i n dem i n Art. 20 Abs. 4 GG normierten Widerstandsrecht finden. Es ist nicht notwendig, auf die Einzelheiten dieser Norm einzugehen 12 . A r t . 20 Abs. 4 GG regelt ein Staatsnotwehrrecht, da es zur Abwehr von Unternehmungen berechtigt, die die i n A r t . 20 Abs. 1 - 3 GG niedergelegte Grundordnung vernichten wollen. Es handelt sich i n A r t . 20 Abs. 4 GG nicht u m ein Widerstandsrecht gegen eben diese Grundordnung. Eine Weigerung des Bundespräsidenten, einen verfassungsfeindlichen Kandidaten zu ernennen, wäre darauf gerichtet, die i n A r t . 20 Abs. 1 - 3 GG niedergelegte und durch A r t . 79 Abs. 3 GG selbst der Verfassungsänderung entzogenen Grundsätze der staatlichen Ordnung zu sichern. Es handelt sich also u m Staatsnotwehr, nicht u m Widerstand gegen die bestehende Rechtsordnung i m Namen einer höheren Rechtsordnung. Allerdings ist die Abgrenzung i m Einzelfall schwierig, da oft streitig sein wird, was denn nun die positivierte Rechtsordnung sei 13 . Aber die Unterscheidung kann doch dem Folgenden zugrundegelegt werden. Das Staatsnotwehrrecht gem. A r t . 20 Abs. 4 GG steht jedem Bürger zu. Es ist ein allgemeines Grundrecht, das nicht auf die spezifische organschaftliche Stellung des Bundespräsidenten bezogen ist. Es kann jedoch für den Organwalter über ein allgemeines staatsbürgerliches Staatsnotwehrrecht hinaus ein amtsbezogenes Staatsnotwehrrecht darstellen, d. h. ein Recht, gerade die organschaftlichen Kompetenzen auszunutzen, u m ein Unternehmen der Beseitigung der i n A r t . 20 GG normierten Grundordnung der Bundesrepublik abzuwehren. Insofern unterstützt die auf A r t . 20 Abs. 4 GG gestützte Begründung des Rechtes des Bundespräsiden12 Zur Entstehungsgeschichte: Böckenförde: Kodifizierung S. 168 ff.; zur Norm: Hesse: Grundzüge 5. Aufl. S. 294ff.; Scholler: Widerstand S. 34ff.; Doehring: Widerstandsrecht S. 429 ff. 18 Das zeigt sich in Doehrings Ausführungen zum Widerstandsrecht im engen Sinn selbst (Widerstandsrecht S. 432 ff.). Das klassische Widerstandsrecht umfaßte, entgegen Doehrings Ansicht, auch das von ihm bezeichnete Staatsnotwehrrecht, jedenfalls bei einigen Autoren; so fiel unter die Ablehnung des Widerstandsrechts durch Hobbes und Kant, um nur zwei Beispiele zu nennen, auch das Staatsnotwehrrecht gegen ein Handeln, das die „Konstitutionalgesetze" (Kant) verletzte, nicht nur die Revolution.
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ten, einen verfassungsfeindlichen Kandidaten nicht zu ernennen, die vorhergehende aus dem Kompetenzbereich des Bundespräsidenten. Sie ersetzt sie aber nicht. Zwar leistet der Bundespräsident dem Bundestag „Widerstand", aber i n Ausübung eigener i n dem Grundgesetz normierter Zuständigkeiten, nicht auf Grund eines allgemeinen subjektiven Staatsnotwehrrechtes. 3. Erreicht der i n der dritten Wahlphase des ordentlichen Verfahrens Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Abgeordneten — i m außerordentlichen Verfahren nach A r t . 67, 68 GG kommt auf diese Weise eine endgültige Wahl gar nicht erst zustande —, so ist der Bundespräsident frei, den Gewählten zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Die K r i terien, nach denen die Entscheidung getroffen werden muß, sind politischer A r t und müssen vom Präsidenten allein, wenn auch durch Beratungen unterstützt, ausgewählt, erwogen und verantwortet werden. Es gibt keine Gegenzeichnung. Es läßt sich allgemein nicht sagen, welche Entscheidung zu bevorzugen ist 1 4 . Es kommt ganz auf den Einzelfall an, wie groß die Minderheit ist, wie die Chancen ihrer Erweiterung sind, wenn der Kanzler ernannt sein wird, wie der Bundestag bei der Gesetzgebung sich verhalten wird, ob also A r t . 81 GG angewandt werden muß oder nicht 1 5 , welche Chancen Neuwahlen haben. I n jedem Fall ist der Präsident frei, nach seiner Überzeugung zu handeln. Er w i r d auch Beratungen m i t den politisch relevanten Kräften pflegen, u m sich von diesen informieren zu lassen, aber auch u m auf sie einzuwirken. Er ist an rechtliche Normen außer der Frist von 7 Tagen nicht gebunden. Nach Ablauf der Frist ohne Entscheidung bleibt nur die Ernennung. Das Auflösungsrecht erlischt. Diese Entscheidungsfreiheit hat der Bundespräsident nicht, wenn i m Verteidigungsfall der Bundestag einen neuen Bundeskanzler gem. A r t . 63 GG wählt, da gem. A r t . 115 h Abs. 3 GG die Auflösung des Bundestages während des Verteidigungsfalles entfällt. Er muß also i n diesem Fall auch einen Minderheitskanzler ernennen. Ein selbständiges, nicht an eine Wahl durch den Bundestag anknüpfendes Ernennungsrecht ist aber auch das nicht. 4. Ein besonderes Problem ist gegeben, wenn eine Vakanz i m A m t des Bundeskanzlers dadurch entsteht, daß der Kanzler stirbt oder der Amtsverlust als Folge einer strafrechtlichen Verurteilung eintritt. Kann der Bundespräsident einen Geschäftsführenden Kanzler kraft eines außerordentlichen Ernennungsrechts ernennen? Ein solches außerordentliches 14 a. A. Amphoux (Chancelier S. 123), der glaubt, daß der Ernennung generell der Vorzug zu geben sei. 15 Dieser wirkt immerhin nur für sechs Monate. Über Art. 68 GG kann der Kanzler dann nur — mit dem Bundespräsidenten — die Auflösung erreichen, also, um ein halbes Jahr verschoben, die zweite Alternative wählen.
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 299 Ernennungsrecht, wenn auch nur für eine Übergangszeit wirksam, würde dem Bundespräsident eine außerordentliche Stellung verschaffen. Er könnte Vorentscheidungen treffen, ζ. B. wenn i n der Mehrheitspartei mehrere konkurrierende Kandidaten für die Nachfolge vorhanden sind. Vor allem bedeutet ein solches Recht, daß der Bundespräsident ohne den Bundestag, auf Grund seines Vertrauens einen Kanzler beruft; denn der Geschäftsführende Kanzler hätte m i t einigen Ausnahmen die gleichen Rechte wie der ordentlich i m A m t befindliche Kanzler. Vor allem das Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, wäre nicht durch das Vertrauen des Bundestages abgesichert. Man könnte diese Durchbrechung des vom Grundgesetz errichteten parlamentarischen Systems hinnehmen, weil es eine Übergangszeit betrifft. Aber ist das überhaupt notwendig, d. h. bedarf es eines Geschäftsführenden Bundeskanzlers i n jedem Falle? Da die Vakanz durch Tod kein unwahrscheinlicher Fall ist, außerdem das Verhältnis der obersten Bundesorgane Bundespräsident, Bundesregierung, Bundeskanzler, Bundestag zueinander bei der Erörterung der Frage plastischer hervortritt, sei i m folgenden zu dem Problem näher Stellung genommen. v. Mangoldt-Klein 1 6 und L u t z 1 7 nehmen ein außerordentliches Ernennungsrecht an. Sie sehen für diesen Fall eine Lücke i m Grundgesetz. Gegen die von Maunz vertretene Meinung 1 8 , der Vizekanzler führe die Vertretung automatisch m i t allen Rechten fort, wenn der Bundespräsident die Bundesminister gem. A r t . 69 Abs. 3 GG u m Fortführung der Geschäfte ersuche, w i r d weitgehend zutreffend das Folgende geltend gemacht 19 . Das A m t des Stellvertreters des Bundeskanzlers ende m i t dem A m t als Minister, das wiederum m i t der Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers beendet sei. Eine automatische Amtsübernahme, vor allem m i t den Rechten aus A r t . 65 GG, sei daher ausgeschlossen. U m die Weiterführung der Geschäfte des Kanzlers könne der Bundespräsident den Vizekanzler deswegen nicht ersuchen, w e i l gem. A r t . 69 Abs. 3 GG das Ersuchen immer nur an den bisherigen Amtsinhaber, nicht aber an einen Dritten sich richten dürfe. Auch könne der Stellvertreter nicht ersucht werden, die Geschäfte des Bundeskanzlers als Stellvertreter des Kanzlers wahrzunehmen 20 . Würde das Ersuchen an i h n gerichtet, die Geschäfte des Kanzlers weiterzuführen, sei auch das i n Wahrheit eine Ernennung zum Geschäftsführenden Kanzler kraft eines außerordentlichen Ernennungsrechtes, das aus A r t . 69 Abs. 3 GG nicht entnommen werden könne. Kurz, es w i r d eine Lücke i m Grundgesetz angenommen. Es fehle eine Regelung, u m i m Falle des Amtsverlustes des Bundeskanzlers durch 16 17 18 19 20
Kommentar Art. 69 Anm. V 7 b S. 1324. Geschäftsregierung S. 37 ff. Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 69 Rdnr. 2 S. 69/2. Lutz: Geschäftsregierung S. 38 ff. v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 69 Anm. I I I 1 b S. 1315 f.
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II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
strafrechtliche Verurteilung oder i m Falle der Vakanz durch Tod einen, wenn auch nur Geschäftsführenden Kanzler ernennen zu können. Die Frage aber ist, ob die Ernennung eines Geschäftsführenden Bundeskanzlers überhaupt notwendig ist. Sie w i r d i n der Literatur m i t der folgenden Begründung bejaht. Die Bundesrepublik bedürfe einer amtierenden, funktionsfähigen Bundesregierung, u m die Aufgaben der Exekutive zu erfüllen. Der Bundespräsident könne diese Aufgaben nicht wahrnehmen, da es i h m an den Zuständigkeiten fehle 21 . Soweit diese Argumentation die Bundesregierung als Kollegialorgan betrifft, ist ihr zuzustimmen. Gehört aber zur funktionsfähigen Regierung notwendig ein Kanzler? Für den Normalfall steht das außer Frage. Für die Geschäftsregierung kann aber etwas anderes gelten. Die Bundesregierung besteht gem. A r t . 62 GG aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Gem. A r t . 64 GG hat der Bundeskanzler das materielle Kabinettsbildungsrecht. Gem. A r t . 69 Abs. 2 GG endet das A m t der Minister m i t dem Ende des Amtes des Bundeskanzlers. Beides gilt nicht i m Falle der Geschäftsregierung. Die Ernennung eines Ministers nach A r t . 64 GG setzt einen voll amtierenden Bundeskanzler voraus 22 . Der u m Weiterführung der Geschäfte ersuchte Minister amtiert bis zum Amtsantritt seines Nachfolgers, also gegebenenfalls sogar, wenn bereits eine neue Bundesregierung gebildet ist, aber für sein fortbestehendes Ressort der Amtsnachfolger sein A m t noch nicht angetreten hat. Gem. A r t . 65 GG kombiniert das Grundgesetz das Kanzler-, das Kabinetts« und das Ressortprinzip. Zwar kommt dem Kanzler eine vorherrschende Stellung zu, da er die Richtlinien bestimmt und die Geschäfte der Bundesregierung leitet. Das kollegiale Element der Regierungsführung, also das Kabinettsprinzip, mag zwischen Kanzlerprinzip und Ressortprinzip schwach ausgebildet sein 28 . Aber sowohl das Kabinett als auch die Bundesminister sind ohne den Kanzler handlungsfähig. Zwar können sie nicht an die Stelle des Kanzlers treten, können also nicht die Richtlinien der Politik bestimmen. Aber soweit die Regierung eigene Zuständigkeiten hat, ζ. B. die Gesetzesinitiative, die Gestaltung des Haushaltsplanes, die Ausübung des Bundeszwanges, die Befugnisse i m Verteidigungsfall, handelt sie i m Normalfall als eigenes Organ. Die Bundesminister leiten ihre Ressorts innerhalb der Richtlinien selbständig. Innerhalb des Organs Bundesregierung ist der Kanzler nur Leiter der Geschäfte. Er kann seinerseits nicht Zuständigkeiten der Bundesregierung durch seine Richtlinienbe21 υ. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 69 Anm. V 5 S. 1322; Lutz: Geschäftsregierung S. 35. 22 Lutz: Geschäftsregierung S. 77. 23 Zur Kritik: Böckenförde: Organisationsgewalt S. 168 ff.; allerdings bezieht Böckenförde nur Art. 65 GG in die Betrachtung ein, nicht die zahlreichen anderen Zuständigkeiten, die das Grundgesetz der Bundesregierung als Kollegium zuweist, so daß das Bild nicht ganz zutreffend gezeichnet ist.
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 301 Stimmung unterlaufen. Als Vorsitzender der Sitzungen, an denen er nicht notwendig teilnehmen muß, sondern nicht nur durch den Vizekanzler, sondern durch den anwesenden dienstältesten Minister ersetzt werden kann, hat er nur i n drei besonderen Fällen eine Ausnahmestellung. Ist schon i m Normalfall die Bundesregierung bei Abwesenheit des Bundeskanzlers handlungsfähig, so ist die Geschäftsregierung es auch, wenn gar kein Bundeskanzler da ist. Um eine Geschäftsregierung zu bilden, bedarf es aber keines Geschäftsführenden Bundeskanzlers. Der Bundespräsident kann die Bundesminister selbständig u m die Fortführung der Geschäfte ersuchen. Die Funktionsfähigkeit des Kollegialorgans Bundesregierung wie der einzelnen Ressorts ist also gewährleistet. Die für die Bundesregierung als solche und die Bundesminister bestehende Verantwortlichkeit gegenüber dem Bundestag kann wie bei der v o l l amtierenden Regierung auch bei der Geschäftsregierung durch Anfragen, Verweigerung von Gesetzen und Mitteln und dergleichen realisiert werden. Es bleibt das Problem der Bestimmung der Richtlinien der Politik. Dieses Recht steht auch dem Geschäftsführenden Kanzler zu. Ein Übergang auf die Geschäftsregierung scheint ausgeschlossen. Es ist jedoch zu bedenken, daß die spezifische Verantwortung des Bundeskanzlers vor dem Bundestag gegenüber dem Geschäftsführenden Bundeskanzler nur schwer zu realisieren ist. Denn ein Geschäftsführender Bundeskanzler kann nicht nach A r t . 67 GG gestürzt werden. Ob ein solcher vorhanden ist oder nicht, der neue Bundeskanzler muß gem. A r t . 63 GG bestellt werden. Nur i n dringenden Ausnahmefällen w i r d darüber hinaus ein Geschäftsführender Bundeskanzler neue Richtlinien formulieren. Das gilt erst recht für einen Geschäftsführenden Kanzler, den der Bundespräsident von sich aus beruft. Wie soll er Verantwortung tragen können? Die Mitglieder der Bundesregierung befinden sich i m Amt, w e i l sie die Mehrheit des Bundestages hinter sich haben. Durch den Tod oder die Verurteilung des Kanzlers haben sie diese nicht verloren. Der neu ernannte Geschäftsführende Kanzler hat diese Mehrheit nicht, jedenfalls nicht für dieses Amt. Die Befugnis des Kanzlers aus A r t . 65 GG ist daran geknüpft, daß er das durch die Wahl zum Ausdruck gebrachte Vertrauen des Bundestages, jedenfalls einer Minderheit desselben genießt, daß seine Politik vom Bundestag gutgeheißen wird. Ein vom Bundespräsidenten berufener Geschäftsführender Bundeskanzler hat dieses Vertrauen nicht. Er w i r d daher kaum Richtlinien für längerfristige Entwicklungen bestimmen wollen, sondern innerhalb und m i t der Bundesregierung ad hoc entscheiden. Dann kann das aber für konkrete Sachfragen die Bundesregierung tun. Es handelt sich bis zur Wahl eines neuen Kanzlers u m eine Übergangszeit, i n der langfristige Entscheidungen sowieso politisch kaum möglich sind.
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Ein anderes Problem ergibt sich für die Befehls- und Kommandogewalt i m Verteidigungsfall gem. A r t . 115 b GG. Für diesen Fall scheint es eines Geschäftsführenden Kanzlers zu bedürfen. Aber der Kanzler w i r d die Ausübung der Befehls- und Kommandogewalt weitgehend auf den Verteidigungsminister und die Generale delegieren. Es kann daher als hinreichend angesehen werden, wenn es für eine Übergangszeit bei der tatsächlichen Ausübung der Befehls- und Kommandogewalt durch den Verteidigungsminister und die Generale verbleibt. Denn auch hier gilt, daß ein Geschäftsführender Übergangskanzler kaum weitreichende Beschlüsse fassen wird. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß militärische Entscheidungen nicht wie politische zurückgestellt werden können. Ein inneres Machtvakuum w i r d i m Krieg vom Gegner ausgenutzt werden. Aber hat ein Geschäftsführender, nur vom Bundespräsident berufener Kanzler Macht? Das Vorhandensein eines Geschäftsführenden Kanzlers erscheint auf Grund der vorherigen Darlegungen nicht notwendig. Es besteht dann auch keine Lücke i m Grundgesetz, für den Fall, daß die Vakanz i m A m t des Bundeskanzlers durch Tod oder strafrechtliche Verurteilung des Amtsinhabers eintritt. Es bedarf dann auch nicht der Annahme eines außerordentlichen Ernennungsrechtes des Bundespräsidenten für diesen Fall. I I . Die Entlassung Der Bundespräsident ist verpflichtet, einen Bundeskanzler auf Ersuchen des Bundestages zu entlassen, wenn dieser jenem gem. A r t . 67 GG unter Wahl seines Nachfolgers das Mißtrauen ausspricht oder gem. A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG einen anderen Bundeskanzler wählt. Ein eigenständiges, nach eigenem Ermessen auszuübendes Entlassungsrecht hat der Bundespräsident nicht, auch nicht i m Fall eines gem. A r t . 63 Abs. 4 GG gewählten und ernannten Bundeskanzlers oder i m Fall eines einmal ernannten „Geschäftsführenden Kanzlers", wenn man Kleins These folgen w i l l , obwohl die Ernennung ihrerseits i n beiden Fällen von dem freien Ermessen des Präsidenten abhängt. Einem i n anderen Formen als denen des A r t . 67 GG oder A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG beschlossenen Ersuchen des Bundestages, den amtierenden Kanzler zu entlassen, darf er wegen der offenbaren Verfassungswidrigkeit eines solchen Beschlusses nicht stattgeben. Reicht ein Bundeskanzler, aus welchen Gründen immer, seinen Rücktritt ein, so ist der Bundespräsident nicht berechtigt, die Annahme des Rücktritts zu verweigern. Er kann i h n nur u m die Weiterführung der Geschäfte i m Rahmen des A r t . 69 Abs. 3 GG ersuchen 24 . Die Entlassungszuständigkeit ist also noch mehr als a n g e :
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§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 303 die Zuständigkeit zur Ernennung des Bundeskanzlers eine nur förmliche, ohne eigene Entscheidungsbefugnis. Eine Wiederholung des Sturzes von Brüning ist ausgeschlossen. Auch von der Entlassungsseite her ist also das Vertrauen des Bundespräsidenten i n keinem Falle für den Bundeskanzler erforderlich.
I I I . Die Auflösung des Bundestages 1. Das Recht des Bundespräsidenten, den Bundestag gem. A r t . 63 Abs. 4 GG aufzulösen, wenn i n der dritten Wahlphase der gewählte Bundeskanzler nur die relative Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages auf sich vereinigt, ist das Gegenstück der Kreationszuständigkeit des Bundestages. Der zweite Fall eines Auflösungsrechts, die Auflösung nach Verneinung der Vertrauensfrage gem. A r t . 68 Abs. 1 GG, ist nicht unmittelbar, w o h l aber mittelbar m i t der Kreationszuständigkeit verbunden, weil der neue Bundestag immer selbst den neuen Kanzler wählen muß. I n beiden Fällen geht es darum, dem Bundeskanzler durch die Neuwahl eine hinreichende, d. h. absolute Mehrheit zu verschaffen, den Bundestag also i n Stand zu setzen, seiner Pflicht, einen positiven Willen über die Regierung zu bilden, nachzukommen 25 . Das Auflösungsrecht hat zur Voraussetzung, daß i m Bundestag keine positive Mehrheit vorhanden ist. Es ist daher kein Kampfmittel gegen einen regierungsfähigen und -willigen Bundestag. Es richtet sich nicht gegen einen unerwünschten, sondern gegen einen unzureichenden Kreationsakt bzw. gegen einen Mehrheitszerfall 26 . Die beiden Fälle unterscheiden sich durch den Anlaß der Auflösung. I m ersten Fall kommt eine regierungsbildende Mehrheit nicht zustande; ein sachlicher, durch die Wahlen entscheidbarer Konflikt zwischen verschiedenen Verfassungsorganen liegt also nicht vor. I m zweiten Fall braucht ein eindeutiger, sachlich konkreter Konflikt auch nicht gegeben zu sein, aber ein allgemeiner politischer Konflikt zwischen Bundeskanzler und Bundestag ist auch dann anzunehmen, wenn die Vertrauensfrage nicht m i t einer Gesetzesvorlage verbunden war. I m Verteidigungsfall ist die Auflösung des Bundestages gem. A r t . 115 h Abs. 3 GG i n jedem Falle ausgeschlossen. 2. Das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten ist gegenüber dem des Reichspräsidenten gem. A r t . 25 WRV inhaltlich erheblich eingeschränkt worden. Ein présidentielles Auflösungsrecht 27 gibt es nicht mehr; denn keiner der beiden Fälle dient dazu, einen Konflikt zwischen Bundespräsi25
Zu den Vorgängen im Sommer 1972 unten 6. So auch Ulrich Scheuner in der F A Z v. 19. Juni 1970 S. 15. 27 Dazu Schmitt: Reichstagsauflösungen S. 1 3 - 2 8 ; ders.: Verfassungslehre S. 354. 26
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dent und Bundestag zu lösen. Das präsidentielle Auflösungsrecht der Weimarer Republik war von Preuß als der Entscheidungsmodus und Stabilisator der Gleichgewichtskonzeption zwischen Reichspräsident und Reichstag i n die Verfassung eingeführt worden 2 8 . Auch hierin war er Redslob gefolgt. Vom monarchischen Auflösungsrecht der konstitutionellen Monarchie unterschied er sich dadurch, daß es zur Entscheidung eines politischen Sachkonfliktes durch Appell an den Wähler diente, während jenes zur Prärogative der die Staatsgewalt innehabenden Krone gehörte und ein Kampfmittel derselben gegen das Parlament w a r 2 0 . Konflikte zwischen Reichspräsident und Reichstag waren auf Grund der verfassungsrechtlich fixierten Gleichgewichtsstellung beider möglich. Die dualistische Spitze der Exekutive m i t der selbständigen Stellung des Reichspräsidenten neben dem Reichskanzler 30 ließ es nicht ausgeschlossen sein, daß Regierung und Reichstag gegen den Präsidenten standen. Die oben dargelegte Theorie des Kampfkabinetts, das die h. L. bejahte, behandelte diese Frage 31 . A r t . 25 WRV sprach das Auflösungsrecht dem Reichspräsidenten zu. 3. Der Fall des A r t . 63 Abs. 4 GG ist kein Konflikt zwischen Präsident und Bundestag, bzw. dessen Mehrheit. Zwar setzt er voraus, daß der Vorschlag des Bundespräsidenten verworfen worden ist; aber es geht nicht darum, nun für diesen Vorschlag i n den Wahlen eine Mehrheit zu erreichen, sondern darum, überhaupt eine Mehrheit zu erreichen. Die A u f lösung des Reichstages vom 20. Oktober 1924 erfolgte m i t eben der Begründung, daß weder die Beibehaltung der alten noch die Bildung einer neuen Regierung wegen parlamentarischer Schwierigkeiten möglich sei. Schmitt hat aus diesem Anlaß darauf hingewiesen, daß bei solchen A u f lösungen eine eindeutige Entscheidung gar nicht möglich sei, w e i l keine eindeutige Frage vorgelegt werde. Er hat dieser Auflösung den gleichen Zweck zugewiesen wie der Selbstauflösung, nämlich eine sichere regierungsfähige Mehrheit zu schaffen 32 . Ohne diesem Vergleich zu folgen, ist der entscheidende Punkt hervorzuheben. Es geht darum, innere Konflikte des Bundestages zu lösen. Der Bundespräsident hat für eine begrenzte Frist 3 3 die Wahl und damit eine Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsmacht zwischen zwei Mög28
Denkschrift S. 388; Begründung S. 417. So diente es in den sechziger Jahren des 19. Jhs. dem preußischen König dazu, das Abgeordnetenhaus „mürbe" zu machen. 30 Schmitt: Verfassungslehre S. 350 f. 31 Oben S. 212 f. 32 Reichstagsauflösungen S. 24. 33 Sie wurde während der Beratungen im Parlamentarischen Rat immer kürzer. I m Entwurf von Herrenchiemsee war vorgesehen, daß das Recht während der ganzen Wahlperiode bestehen solle, wenn der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernannt worden sei. Dann wurden es drei Monate und schließlich sieben Tage, JöR Bd. 1 S. 426 ff. 29
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 305 lichkeiten. Es ist so sehr seine eigene Entscheidung, daß sie keiner Gegenzeichnung bedarf. I n jedem Fall aber besteht die Entscheidungsmacht nur vorübergehend. Wie immer der Bundespräsident sich entscheidet, er selbst bestimmt den weiteren Lauf der Dinge allenfalls mittelbar. Hält er den Minderheitskanzler, kann er i h m keine zusätzliche Hilfe gewähren. Der Kanzler muß selbst über A r t . 68 GG weitere Wege eröffnen, wobei der Präsident dann eine gewisse Hilfsfunktion hat. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Entscheidung des Bundespräsidenten für die Lösung der Krise wichtige Weichen stellt 3 4 . Es macht den Bundespräsidenten aber nicht zum ebenbürtigen Partner des Bundestages; das Auflösungsrecht des A r t . 63 Abs. 4 GG dient nicht der Stabilisierung eines Gleichgewichts zwischen Bundespräsident und Bundestag. Dieses Verhältnis ist dadurch i m Grunde inhaltlich gar nicht betroffen. 4. Das Auflösungsrecht des A r t . 68 Abs. 1 GG ist ein Recht des Bundeskanzlers. Zwar kann dieser nur den Vorschlag machen. Der Bundespräsident ist keiner Rechtspflicht unterworfen, dem Vorschlag zu folgen 35 . Er hat auch i n diesem F a l l pflichtgemäßes Ermessen auszuüben, das unter gewissen Umständen die Auflösung zur Pflicht macht. Der Bundeskanzler hat die Initiative, nicht der Präsident. Inhaltlich w i r d ein Konflikt zwischen i h m als dem verantwortlichen Leiter der Politik, der die Richtlinien der Politik bestimmt, und dem Bundestag vor die Wähler gebracht. Es ist nicht ein Konflikt zwischen i h m und nur der — zerfallenden — Mehrheit, sondern dem ganzen Bundestag, der zu i h m i n seiner Mehrheit, die die Entscheidung des Bundestages trägt, i n Opposition gerät 36 . Die Wähler sollen entscheiden, indem sie i h m die Mehrheit für seine neue Wahl gem. A r t . 63 GG verschaffen oder eine andere Mehrheit entsenden. Allerdings ist zweifelhaft, ob dieser Mechanismus immer reibungslos funktioniert. Das ist dann nicht der Fall, wenn klare Mehrheitsverhältnisse nicht eintreten wie ζ. B. 1924. Das ist vorher abzuwägen. Denn das Grundgesetz versagt der Minderheitsregierung nicht die rechtliche Zulässigkeit. Der Austausch einer solchen gegen eine andere ist nicht die Intention des A r t . 68 Abs. 2 GG. 84 Eine automatische Auflösung ist im Parlamentarischen Rat absichtlich abgelehnt worden, weil nach den Erfahrungen der Weimarer Republik es keineswegs sicher schien, daß Neuwahlen immer krisenlösend wirken würden. 35 So v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 3 b S. 1310; a . A . Friesenhahn: Parlament S. 63. Kaltefleiter: Funktionen S. 245 ff. Folgte man dieser Ansicht, so könnte ein Minderheitenkanzler u. U. eine regierungsfähige und -bereite Koalition, die nicht nach seinem Geschmack ist, verhindern, obwohl er selbst keine Mehrheitschance hat, also das Grundgesetz gerade unterlaufen. Allerdings ist auch die von Kaltefleiter beschworene Gefahr nicht zu übersehen, daß der Bundespräsident dem Kanzler die Auflösung deswegen verweigern könnte, weil er andere politische Pläne hat als der Kanzler, daß sich also die Situation Hindenburg—Brüning wiederholen könnte. 36 Insofern unrichtig Hauch: Auflösung S. 136.
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Auch dieses Auflösungsrecht ist nicht Ausdruck eines Gleichgewichts, diesmal zwischen Bundeskanzler und Bundestag; denn der Bundestag kann durch Neuwahl eines anderen Bundeskanzlers m i t absoluter Mehrheit die Ausübung dieser Zuständigkeit abwenden. Das bedeutet, gegen eine regierungsbereite Mehrheit kann der Bundeskanzler nicht an das Volk appellieren. Das aber wäre für ein echtes Gleichgewicht notwendig. Das Auflösungsrecht des A r t . 68 Abs. 1 GG ist i m übrigen inhaltlich viel zu eng, u m wirksam gegen den Bundestag eingesetzt werden zu können. Das ministerielle Auflösungsrecht konnte i n der Weimarer Republik hingegen jederzeit und aus jedem Grund, wenn auch nur einmal aus dem gleichen Anlaß durch die Exekutive wahrgenommen werden. So hätte die Auflösung gegen den Koalitionszerfall ein Druckmittel sein können. Gegenwärtig ist die Auflösung ein Prozeß, i n dem der Bundestag selbst wichtige Entscheidungen treffen muß, dadurch weitgehend die Initiative behalten und u. U. an sich ziehen kann. I n jedem Fall obliegt i h m wiederum die neue Wahl des Bundeskanzlers. Das Auflösungsrecht ist nur noch sehr beschränkt ein Kampfmittel der Exekutive gegen den Bundestag, da es nicht diskretionär ausgeübt werden kann. Es setzt einen aus dem Bundestag selbst heraus nicht lösbaren Konflikt voraus. Wenn der Bundestag sich nicht auflösen lassen w i l l , hat er die Möglichkeit, das zu verhindern, da er selbst die Regierung allein bestimmt. I n keinem Fall ist das Auflösungsrecht nach dem Grundgesetz eine das „ganze System tragende . . . Einrichtung" 3 7 , es ist ein Notausgang geworden. Wenn A r t . 68 GG es auch, anders als A r t . 25 WRV, nicht vorsieht, so ist doch eine mehrmalige Auflösung aus dem gleichen inhaltlichen Grund für den Fall des ministeriellen Auflösungsrechts ausgeschlossen; denn, wie Schmitt bereits deutlich gemacht hat, folgt das aus dem Zweck dieser Auflösungen, die Entscheidung eines Konfliktes durch die Wähler herbeizuführen 3 8 . Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die Wahl nicht eindeut i g ausfallen kann, weil keine eindeutigen Fragen gestellt werden, sondern zu viele durcheinander gehen. Über A r t . 63 Abs. 4 GG ist eine neue Auflösung möglich, wenn keine Mehrheitswahl zustandekommt. Kommt sie zustande, ist eine Auflösung aus diesem Grunde auch über A r t . 68 GG nicht mehr möglich. Weil ein Konflikt entschieden werden soll, entfällt das Auflösungsrecht, wenn der Kanzler zurücktritt 3 9 . Dann ist er nicht mehr i m Amt. Der Bundestag muß gem. A r t . 63 GG einen neuen Kanzler wählen. Daran kann ihn der alte Kanzler auch dann nicht hindern, wenn er selbst gem. A r t . 69 GG die Geschäfte weiterführt. Insofern ist hier ein Unterschied 37
So Schmitt: Verfassungslehre S. 358 über Art. 25 WRV. Reichstagsauflösungen S. 19. 39 ν . Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 68 Anm. I I I 3 b S. 1310, ebenso auch die Einleitung des Gesetzgebungsnotstandes gem. Art. 81 GG. 38
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 307 zur Weimarer Verfassung gegeben. Dort konnte ein Geschäftsführender Kanzler oder Minister eine entsprechende Verordnung des Reichspräsidenten gegenzeichnen 40 . I n einem entscheidenden Punkt hat damit die Geschäftsführende Regierung nach dem Grundgesetz nicht die gleichen Rechte wie eine wegen A r t . 67 GG nicht stürzbare Minderheitsregierung 41 . I n der Weimarer Republik konnte das andere Haupt der dualistischen Exekutivspitze, das eben noch i m A m t war, den Konflikt übernehmen, da der Kanzler — zumindest auch — sein Mann war. Présidentielles und ministerielles Auflösungsrecht waren nur theoretisch, praktisch aber schon wegen A r t . 25 WRV nicht eindeutig zu trennen. Das ist unter dem Grundgesetz anders. Der Bundespräsident kann einen solchen Konflikt nicht übernehmen, da i h m die endgültige Benennung des Bundeskanzlers nicht obliegt. Zudem erfolgt der Rücktritt freiwillig. Der Kanzler hat i m Gegensatz zur Regierung der Weimarer Reichsverfassung die Wahl zwischen Auflösung und Rücktritt. Der Rücktritt ist dann ein A k t der Unterwerfung, der nicht rückgängig gemacht werden kann. M i t Recht geht die h. M. dahin, daß die Auflösung gem. A r t . 68 Abs. 1 GG von einem m i t schmaler Mehrheit regierenden Kanzler nicht durch formale Vertrauensverweigerung seitens der i h n i m Grunde stützenden Mehrheit herbeigeführt werden darf. Scheuner ist sogar der Auffassung, daß der Bundespräsident i n diesem Fall die Auflösung verweigern muß 4 2 . Als Mittel der Disziplinierung der Regierungsfraktionen ist die Auflösung i m Mehrheitsparteiensystem zudem von zweifelhaftem Wert 4 3 . 5. Durch die Auflösung, die i m Bundestag mündlich verkündet oder dem Bundestagspräsidenten schriftlich zugestellt werden kann, endet die Wahlperiode mit allen entsprechenden Rechtsfolgen für die Organwalter. Einen Geschäftsführenden Bundestag gibt es nicht. 6. I m Sommer 1972 wurde die Anwendung des Verfahrens nach A r t . 68 GG zum ersten M a l akut. Das ausdrückliche Ziel der Überlegungen, ob der amtierende Bundeskanzler Brandt die Vertrauensfrage stellen solle oder nicht, war es, die Auflösung des Bundestages und damit Neuwahlen zu erreichen, nicht aber eine sichere Mehrheit zur Unterstützung der Bundesregierung i m Bundestag wiederherzustellen. Diese war, wie bereits erwähnt, durch den Austritt von sechs Abgeordneten aus der Koalition i n den Jahren 1970 bis 1972 zerfallen. N u r 248 unterstützten die Bundesregierung noch. Der Haushaltsentwurf für das Kanzleramt war i n der zweiten Lesung abgelehnt und die Haushaltsberatungen waren 40
Anschütz: Kommentar Art. 25 Anm. 8 S. 199. Wie hier Lutz: Geschäftsregierung S. 75 f.; a. A. die h. L.: v. MangoldtKlein (Kommentar Art. 69 Anm. V S. 1324 f.), der den Widerspruch gegen die in Anm. I I I 3 b S. 1310 zu Art. 68 auch hier aufgenommene Meinung nicht bemerkt. 42 Scheuner: F A Z v. 19.6.1970 S. 15; Hauch: Auflösung S. 136 f. 43 v. Beyme: Regierungssysteme S. 865. 41
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daraufhin unterbrochen worden. Für andere wichtige, aber umstrittene Gesetzesvorhaben, so insbesondere für die Zustimmungsgesetze zur Ratifikation der Ostverträge m i t Moskau und Warschau war die Lage sehr kritisch. I h r Scheitern war zu befürchten. Da jedoch die Opposition ebenfalls nur 248 Abgeordnete auf sich vereinigen konnte, war sie nicht i n der Lage, einen neuen Bundeskanzler zu wählen und eine neue Bundesregierung zu bilden. Das konstruktive Mißtrauensvotum zugunsten des Oppositionsführers Barzel war i m A p r i l 1972 gescheitert. Angesichts dieser Lage begann eine lange Diskussion zwischen den Fraktionen und der Bundesregierung ,ob Neuwahlen stattfinden sollten, und wie der Weg zu ihnen frei gemacht werden sollte, u m auf diese Weise einen Ausweg aus der gegenseitigen Unfähigkeit, zu entscheidungsfähigen Mehrheiten i m Bundestag zu kommen, zu finden 44. Es erwies sich i n der Diskussion ,daß A r t . 68 GG nur ein beschränkt taugliches Verfahren bereitstellt, u m Neuwahlen zu erreichen und dam i t zu neuen entscheidungsfähigen Mehrheiten i m Bundestag zu kommen. Einmal war angesichts der konkreten Lage i n der Bundesrepublik umstritten, ob Wahlen überhaupt zu einer solchen Mehrheit führen w ü r den. Zum andern mußte der Bundeskanzler befürchten, daß, da der Bundestag gem. A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG durch Neuwahl eines anderen Bundeskanzlers die Auflösung abwehren kann, die Opposition nach dem angesichts der 248 Stimmen der Koalition zu erwartenden negativen Ausgang der Abstimmung über die Vertrauensfrage einen zweiten Versuch machen könnte, m i t Hilfe weiterer Stimmen von Abgeordneten aus den Fraktionen der SPD oder FDP einen neuen Bundeskanzler zu wählen. Die Opposition ihrerseits wollte die Regierung nicht gern i m Besitz der „Prämien auf den legalen Machtbesitz" für den Wahlkampf belassen. Innerparteiliche Schwierigkeiten aller Beteiligten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, kamen hinzu. Außerdem sollten noch einige wichtige Gesetzesvorhaben, insbesondere die oben genannten, vom Bundestag verabschiedet werden. Schließlich schien der Zeitpunkt von Neuwahlen wegen der bevorstehenden Sommerferien und der nahen Olympischen Spiele ungünstig. Daher wurden vor allem von der Regierungsseite Versuche unternommen, zu ausdrücklichen Vereinbarungen zwischen den Beteiligten über den modus procedendi zu kommen. Das aber scheiterte. So wurde die Vertrauensfrage nicht gestellt, als der Mehrheitszerfall eingetreten war. Sie wurde auch nicht gestellt, als das vordringliche Ziel der Bundesregierung, die Zustimmungsgesetze zur Ratifikation der Ostverträge zu verabschieden, erreicht war. Vielmehr kündigte der Bundeskanzler i m Juni an, nachdem er vorher i n seiner eigenen Partei entsprechende Beschlüsse herbeigeführt und m i t dem Führer 44 Zu den Vorgängen A d G 42. Jg., 1972 S. 17044 D, 17071 C, 17143 C; F A Z V. 26. 6.1972 S. 1 und SZ v. 26. 6.1972 S. 1.
§ 15 Ernennung und Entlassung des Kanzlers; Bundestagsauflösung 309 der Koalitionspartei sich darüber verständigt hatte, die Vertrauensfrage drei Monate später, i m September 1972, stellen zu wollen. Vor auf gegangen war zu dem eine Erklärung des Führers der Opposition, er wolle ebenfalls Neuwahlen, wenn er auch nicht bereit war, auf die Ausübung des Rechts nach A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich zu verzichten. Wenn es auch so zu keiner ausdrücklichen Vereinbarung kam, so w a r ein Einverständnis aller Fraktionen doch erforderlich, u m das Verfahren nach A r t . 68 Abs. 1 Satz 1 GG für Neuwahlen i n Gang zu setzen. Das bedeutet aber i m Grunde, eine einverständliche Auflösung des Bundestages, die das Grundgesetz, anders als einige Länderverfassungen, nicht kennt, ist auch nach A r t . 68 GG tatsächliche Grundlage. Während der Diskussion wurde auch die Funktion des Bundespräsidenten i n diesem Verfahren erörtert. Es wurde die These vertreten, daß der Bundespräsident zunächst abzuwarten habe, bevor er die A u f lösung auf Antrag des Bundeskanzlers verfüge, ob sich eine neue Mehrheit für einen anderen Bundeskanzler i m Bundestag bilden könne. Bestehe eine entsprechende Aussicht, oder sei der Antrag auf Neuwahl bereits gestellt, so sei er an der Auflösung solange gehindert 45 . Dabei ist zu bedenken, daß zwischen dem Antrag auf Neuwahl und der Wahlhandlung keine 48 Stunden zu liegen brauchen, wie beim konstruktiven Mißtrauensvotum nach A r t . 67 GG. A r t . 68 sieht eine solche Frist i n Abs. 2 nur für die Abstimmung über die Vertrauensfrage vor, wie sich aus dem Wortlaut ergibt. Auch § 103 GOBT, der das Verfahren bei der Vertrauensfrage und der Wahl eines anderen Bundeskanzlers nach A r t . 68 GG regelt, enthält keine solche Frist. Er verweist auch nur auf den Abs. 3 des die Wahl nach A r t . 67 GG betreffenden § 98 GOBT, nicht aber auf dessen Abs. 4, der die Frist des A r t . 67 Abs. 2 GG wiederholt. I m Schrifttum werden die Wahl nach A r t . 67 GG und nach A r t . 68 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich unterschieden 46 . Es könnte also zu einem „Wettrennen" zwischen dem Bundespräsidenten und dem Bundestag, ähnlich den Vorgängen i m Reichstag am 12. September 1932 zwischen dem damaligen Reichskanzler v. Papen und dem damaligen Reichstagspräsidenten Göring, kommen. Aber abgesehen davon hat die Frage grundsätzlicheren Charakter. Sie betrifft die Entschließungsfreiheit des Bundespräsidenten i n einer solchen Krise. 45 Diese Frage ist von der vornehmlich im Schrifttum diskutierten Frage zu scheiden, ob die Auflösung nach Beginn der Wahlhandlung noch verfügt werden dürfe, dazu oben § 14 S. 273 und dort Fußnote 31. 46 So Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 68 Anm. 6 b, Rdnr. 5. Trossmann vertritt die Ansicht, der Antrag auf Neuwahl müsse den Erfordernissen eines „Mißtrauensvotums" gem. Art. 67 GG entsprechen (Parlamentsrecht S. 274); nur so könne die Pflicht des Bundespräsidenten begründet werden, den alten Bundeskanzler zu entlassen und den neuen Bundeskanzler zu ernennen. Daraus folgt aber nicht, daß auch die Fristen gelten müssen.
II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung Der Bundespräsident hat sein pflichtgemäßes Ermessen auszuüben. Dabei hat er zu bedenken, daß die Auflösung und die Neuwahl eine ultima ratio zur Krisenbeilegung sind. Der gewählte Bundestag soll nach dem erörterten System des Grundgesetzes möglichst aus sich heraus eine Mehrheit bilden. Besteht eine klare und sichere Möglichkeit, daß sich eine stabile und wirkungsvolle, d. h. positiv entscheidungsfähige, wenn auch geringe neue Mehrheit findet, so w i r d er von der erörterten Gesamtkonzeption des Grundgesetzes her das Zustandekommen derselben nicht durch voreilige Auflösung verhindern dürfen. Hier w i r d sein pflichtgemäßes Ermessen eingeschränkt. Ist das aber nicht der Fall, ist auf Grund gegebener Indizien die Bildung einer solchen Mehrheit ungewiß, oder würde sie auf Grund ihrer Zusammensetzung ebenfalls entscheidungsschwach sein, so ist er nicht verpflichtet, Bemühungen i n dieser Richtung abzuwarten, sondern er kann sofort auflösen, wenn er nicht aus anderen Gründen die Auflösung für unzweckmäßig hält. Allerdings w i r d er Konsultationen führen und sich über die Situation unterrichten müssen. Das w i r d er schon vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage tun können. Man w i r d i. ü. davon ausgehen können, daß es i n dem Fall, daß sich eine neue Mehrheit bilden kann, gar nicht erst zu einem Verfahren nach A r t . 68 GG kommen wird. Vielmehr w i r d die Opposition den Kanzler schon vorher i m Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums gem. A r t . 67 GG stürzen, wie sie es i m A p r i l 1972 ja auch, aber gerade vergeblich, versucht hat. Erst nach dessen Scheitern wurden Überlegungen, nach A r t . 68 GG i m Hinblick auf Neuwahlen zu verfahren, angestellt. Wenn die Einleitung des Verfahrens gerade der Herbeiführung von Neuwahlen dienen soll, w i r d der Bundespräsident die notwendige Auflösung auch sofort verfügen können. K o m m t es erst zu einer Vertrauensfrage, so ist das ein Zeichen dafür, daß sich eine entscheidungsfähige Mehrheit nicht bilden kann. Daher w i r d letzten Endes für die Entscheidung für oder gegen die Auflösung weniger die Lage i m Bundestag maßgebend sein, als die Frage, wie die Wählerschaft reagieren wird, vor allem ob Neuwahlen voraussichtlich zu einer neuen entscheidungsfähigen Mehrheitsbildung i m Bundestag führen können. Gerade das war aber zur Zeit der Weimarer Republik meist nicht der Fall. Ist jedoch m i t einem solchen Ergebnis der Wahlen zu rechnen, so w i r d eine Auflösung eher der Funktion des A r t . 68 GG gerecht als ein Abwarten, ob sich i m Bundestag irgendeine neue Mehrheit bilden kann 4 7 . Denn es steht zu befürchten, daß selbst wenn eine solche zustande käme, sie doch nicht oder nur sehr bedingt entscheidungsfähig sein würde. Auch hier geben die Vorgänge des Sommers 1972 Hinweise. Die Mehrheit des Bundeskanzlers Brandt zerfiel durch einzelgängerisches Verhalten von sechs Abgeord47 Zur intendierten Funktion: JöR Bd. 1, S. 447 ff.; v. Mangoldt: Kommentar Art. 68 Anm. 1, S. 360 f.
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neten aus durchaus verschiedenen Motiven. Diese waren mehr negativ bestimmt, eine bestimmte Politik zu verhindern, als dadurch, eine bestimmte andere Politik positiv verwirklichen zu wollen. Es w a r kein „Umsturz der Koalition" durch Seitenwechsel eines Koalitionspartners wie 1956 und 1966 i n Nordrhein-Westfalen. I n dieser Lage besteht die Möglichkeit, daß sich eine neue Mehrheit eher i n der Absicht der Abwehr der Auflösung als i n der Absicht der Durchsetzung einer bestimmten Politik findet. Die Entscheidung des Bundespräsidenten aber soll sich daran orientieren, daß eine positive Mehrheit zustandekommt.
§ 16 Die Regierungsbildung I. Der Vorgang der Regierungsbildung 1. Die Regierungsbildung 1 besteht aus zwei eng verbundenen, aber inhaltlich geschiedenen Teilen: die organisatorische Errichtung der M i nisterien, die Zuweisung der Sachgebiete und Kompetenzen und zum anderen die Berufung der Minister und parlamentarischen Staatssekretäre. Gem. A r t . 62 GG besteht die Bundesregierung aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Die Bundesregierung ist das politische Leitungskollegium; sie ist das Organ, das Regierung als Funktion zentral wahrnimmt 2 , die „Leitung und Führung des Staatsganzen", „Gestaltung des öffentlichen Lebens i m Ganzen und seiner Sachbereiche" 3 . Die Bundesminister leiten aber außerdem i. a. nach deutscher Tradition ein Ressort. Zwar hat es i n der zweiten Regierung Adenauer zeitweilig ressortfreie Sonderminister gegeben; aber diese Einrichtung hat sich nicht durchgesetzt4. Nicht zur Bundesregierung gehören die parlamentarischen 1 Zum folgenden insbesondere: Böckenförde (Organisationsgewalt S. 128166, 192 - 234, 286 - 324) mit weiteren Verweisen und Auseinandersetzungen mit der Literatur, und Amphoux (Chancelier S. 227 - 298) mit eingehender verfassungstheoretischer und verfassungsdogmatischer Begründung, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 2 Das gilt auch, obwohl die Richtlinienbestimmung dem Bundeskanzler obliegt. 3 Wolff : Verwaltungsrecht I S . 73. 4 I m einzelnen Böckenförde: Organisationsgewalt S. 221 ff. Auch der Status des Ministers Krone in den Regierungen Adenauer und Erhard 1961 - 1966 hat die Struktur der Regierung nicht berührt und war eher ein Fremdkörper, wie ja auch aus dem Bemühen hervorgeht, ein „Ministerium für den Verteidigungsrat" für ihn zu schaffen, ihn also in das herkömmliche Schema einzugliedern. Regelwidrig sind Sonderminister ohne Geschäftsbereich nicht. Art. 65 GG regelt nur, wie Minister ihren Geschäftsbereich leiten, wenn sie einen haben; er verlangt ihn nicht. Böckenförde bezeichnet die Sonderminister „als die zeitgemäße und der Regierungsstruktur des Grundgesetzes angemessene
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Staatssekretäre, ein 1967 neu eingeführtes A m t 5 . Sie werden gem. § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der parlamentarischen Staatssekretäre den Bundesministern zu ihrer Unterstützung beigegeben. Auch ihre Position spielt organisatorisch wie personell bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle. Die Minister sind also einerseits Behördenchefs mit leitenden Regierungs- und Verwaltungsaufgaben für ihr Ressort, andererseits als M i t glieder der Bundesregierung Mitglieder des allgemeinen politischen Leitungskollegiums und an der allgemeinen politischen Führung beteiligt 6 . Die besondere Verbindung dieser beiden Funktionen — Entwicklung und Durchführung der politischen Führung und Gestaltung des Staatsganzen einerseits und Leitung einer speziellen Verwaltung andererseits — eines Bundesministers führt bei der Regierungsbildung zur Überschneidung zweier Ansprüche: politische Führer und Repräsentanten i n der Regierung zu haben und die personellen Voraussetzungen für die Erledigung bestimmter notwendiger ressortgebundener Regierungs- und Verwaltungsaufgaben zu schaffen. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, daß Regierung sich jedenfalls nach innen i n Gesetzgebung und Verwaltung verwirklicht, also politische Entscheidung nicht nur Richtlinien setzt, sondern sich i n Gesetze und Verwaltungshandeln umsetzen muß, um die Gestaltung des Staatsganzen leisten zu können, und zwar i n jeweils konkreten sachlichen Bereichen. Die Verbindung von Ressortleitung und Mitgliedschaft i n der Regierung als politischem Leitungsorgan entspricht durchaus einer inneren Notwendigkeit 7 . Daher werden „bei jeder Regierungsbildung oder -Veränderung stets sachlich-politische, personal-politische, koalitions- und parteipolitische und auch allgemein-integrationsmäßige Gesichtspunkte zugleich wirksam" 8 , die i m demokratisch-parlamentarischen Staat notwendig die organisatorische wie die personelle Regierungsbildung funktionell bestimmen. Für die organisatorische Regierungsbildung bedeutet das, daß sie beweglich sein muß, u m den verschiedenen Gesichtspunkten Rechnung tragen zu können 9 . Erscheinungsform des Ministers ohne Portefeuille", Organisationsgewalt S. 222. Zweifel an der Einrichtung im Premierministersystem äußert aber v. Beyme: Regierungssysteme S. 618 f. 5 Gesetz v. 6. April 1967 (BGBl I S. 396). Bei der Regierungsbildung 1969 wurden sie allen Ministerien im Zuge der Einleitung einer Kabinettsreform zugeordnet. Zur Stellung der parlamentarischen Staatssekretäre in den einzelnen Bundesministerien: Bericht des Bundesministers des Innern an den Bundestag v. 17. April 1970, Drs. VI/642. 6 v. Mangoldt-Klein: Kommentar, Abschnitt V I . Die Bundesregierung, Vorbem. V I I 2 S. 1209 f. 7 ν . Beyme (Regierungssysteme S. 619) betont den Drang der Minister ohne Portefeuille zum Ressort. 8 Amphoux: Chancelier S. 231 f.
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a n e r S. 3 f.
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Das Grundgesetz hat keine bestimmten Fachministerien unmittelbar festgelegt, wohl aber durch Zuständigkeitsbegründungen für bestimmte Fachminister deren Ernennung vorausgesetzt und so mittelbar vorgeschrieben. Es läßt jedoch der notwendigen Variabilität weitgehendst Raum, ermöglicht, ja setzt das Spiel der sachlichen Notwendigkeiten und politischen Kräfte voraus. Es verlangt die Abstimmung der genannten Gesichtspunkte aufeinander bei den Entscheidungen des Inhabers der Organisationsgewalt wie des personellen Regierungsbildungsrechts. Die Frage, wieviele Ministerien errichtet werden, richtet sich allerdings unter diesen Voraussetzungen leicht danach, wer i n die Bundesregierung als Teilnehmer am politischen Leitungsprozeß eintreten soll 1 0 . Bei allen Regierungsbildungen seit 1949 hat sich das gezeigt 11 . Ein Grundbestand klassischer Ministerien ist vorgegeben, dessen innerster K e r n durch Nennung i m Grundgesetz besonders festgelegt ist; u m ihn legt sich ein variabler Kreis weiterer Bundesministerien 12 . Obwohl also organisatorische und personelle Regierungsbildung eng zusammenhängen, kann die organisatorische Regierungsbildung nicht nur von den personellen Gesichtspunkten abhängig sein 13 . Es sind inhaltlich getrennte Vorgänge; denn sachliche Notwendigkeiten und Gesichtspunkte spielen bei der Bildung und Errichtung von Ministerien durchaus eine bedeutende Rolle. Notwendigkeiten, Ministerien zu teilen, besonders wichtige Gebiete i n einem eigenen Ministerium zusammenzufassen, der Wunsch, durch die Bildung eines Ministeriums besondere politische Akzente zu setzen, und dergleichen sind auch tragende Gesichtspunkte bei derartigen organisatorischen Maßnahmen, wenn auch nicht immer m i t durchschlagender Kraft. 2. Die Regierungsbildung 1949 vereinigte organisatorische und personelle Regierungsbildung i n besonderer Weise, da sie den Umfang der Bundesregierung überhaupt bestimmte. Die besondere Lage erforderte 10
Amphoux: Chancelier S. 261. Dazu Böckenförde: Organisationsgewalt S. 193 f. und den folgenden Abschnitt im Text. 12 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 192 ff. Ausdrückliche Zuständigkeitszuweisungen finden sich für den Finanzminister (Art. 112, 114 GG), den Justizminister (Art. 95, 96, 96 a, 108 GG) und den Verteidigungsminister (Art. 65 a, GG). Aus sachlichen inneren Notwendigkeiten ergeben sich, wie Böckenförde (Organisationsgewalt S. 198 f.) dargetan hat, weitere Ministerien, die „unabhängig vom Wandel im Verhältnis von Staat und Gesellschaft" und insofern organisationsfest sind, obwohl natürlich nicht entgegenstünde, Finanz- und Wirtschaftsministerium wie in Frankreich zu vereinen, was aus sachlichen Gründen u. U. gerechtfertigt wäre und 1971 geschehen ist. 13 Die Unterscheidung betonen zu Recht Amphoux: Chancelier S. 229 und Böckenförde: Organisationsgewalt S. 193 ff. Amphoux hebt hervor, daß Organisationsgewalt und Recht zur Bestellung der Organ- bzw. Amtswalter zwar früher beim Staatsoberhaupt vereinigt waren, es heute aber keineswegs mehr zu sein brauchen, bei der Regierung diese Verbindung nur tatsächlich noch weithin bestehe. 11
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eine besondere Zusammensetzung. Drei klassische Ressorts, Kultus, Auswärtiges und Verteidigung, fielen aus, w e i l entsprechende Zuständigkeiten für die Bundesrepublik auf Grund des Grundgesetzes oder des Besatzungsrechtes fehlten. Das Auswärtige A m t wurde aber bereits 1951 errichtet. Besondere Ministerien für die Folgen des II. Weltkrieges, Vertriebene und Flüchtlinge sowie Gesamtdeutsche Fragen, aber auch Wohnungsbau wurden errichtet. Was sachlich, was personell gefordert war, ist nicht ganz eindeutig. Eine vor allem personell bedingte Errichtung war w o h l die des Ministeriums für den Marschallplan für Franz Blücher. Adenauer erklärte 1965 anläßlich der Auseinandersetzungen u m die Person Mendes für das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, dieses sei nur geschaffen worden, um Jakob Kaiser ein „Bekleidungsstück" zu schaffen 14 . I n beiden Fällen kam es wohl darauf an, auch auf Verlangen der Fraktionen bestimmte Leute i n die Regierung aufzunehmen 15 . Aber seitdem hat sich das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, seit 1969 Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen, als sachlich-politisch unaufhebbar erwiesen. 1953 sollten vier Parteien die Koalition bilden. Der Ausgleich der jeder zuzuschreibenden Ministerposten führte den designierten Bundeskanzler zunächst zu dem Vorschlag, vier neue Ministerien zu schaffen, wobei er, so mit einem Kriegsopferministerium, auch dem Interessentendruck nachgeben wollte. Ein Europaministerium sollte für Brentano geschaffen werden, der damit i n die Regierung aufgenommen werden, aber nicht das Auswärtige A m t leiten, also eine A r t „Trostpflaster" erhalten sollte. Die Fraktion der CDU/CSU erhob Widerspruch gegen diese Ausdehnung, und nur das u. a. auf Druck von Familienverbänden und katholischen CDU/ CSU-Abgeordneten zurückgehende Familienministerium wurde neu gebildet 1 6 . Aber es wurden vier Sonderminister ohne Geschäftsbereich aus CDU, CSU, FDP und GB/BHE zum Koalitionsausgleich i n die Regierung berufen. Ein anderes Projekt, ein Informationsministerium, war schon vorher aus politischen Gründen gescheitert. Die an der Koalition beteiligte FDP, aber auch der Kanzler selbst hatten sich eindeutig dagegen gewandt. Während der zweiten Legislaturperiode entstand das Minister i u m für Atomfragen, dessen Leitung einem Sonderminister übertragen wurde 1 7 . 1957 wurde wiederum eine organisatorische an eine personelle Frage angebunden. U m den bisherigen Finanzminister Schäffer gemäß dem Verlangen seiner Partei, der CSU, i n der Regierung zu halten, ohne i h m 14
Der Spiegel v. 27. Okt. 1965, Nr. 44, S. 33. AöR Bd. 75 (1949), S. 342 ff., wo die koalitionspolitische Bedeutung besonders auch für das Bundesratsministerium hervorgehoben wird. 16 Domes: Bundesregierung S. 57 ff. und S. 85. 17 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 62 Anm. I I I 12 c Nr. 22, S. 1222. 15
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das Finanzministerium geben zu müssen, einigte man sich i n den Verhandlungen auf die Errichtung eines Ministeriums für wirtschaftlichen Besitz des Bundes, i n das einerseits das bisherige OEEC-Ministerium, andererseits Teile des Finanzministeriums eingebracht werden sollten. U r sprünglich also für eine Person gedacht, lebte der Gedanke aber fort, als Schäffer ablehnte, und das Ministerium wurde unabhängig davon errichtet 1 8 . 1961 wurde auf Drängen der FDP gegen den Widerstand des W i r t schaftsministers das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit errichtet. Das Gesundheitsministerium entstand ebenfalls aus den Koalitionsverhandlungen, u m bestimmten Interessen entgegenzukommen und u m ein Ressort für eine Frau i n der Regierung zu schaffen 19 . 1966 wurde über ein Europaministerium zwischen der CDU/CSU und der SPD verhandelt, aber die SPD lehnte einen entsprechenden Vorschlag der anderen Seite ab 2 0 . 1969 wurden zum ersten M a l Ministerien zusammengelegt, die Gesamtzahl der Ministerien u m fünf verringert. Eine Verbindung von personalpolitischen Wünschen und organisatorischen Wünschen fand nicht statt. Die Einrichtung eines Ministers ohne Geschäftsbereich wurde erneuert, aber m i t der Leitung des Kanzleramtes verbunden 2 1 . Auch Kompetenzverteilungen zwischen bestehenden Ministerien waren Gegenstand von Koalitionsverhandlungen zur Regierungsbildung 22 . Die Fraktionen haben also immer wieder versucht und auch erreicht, bei der organisatorischen Regierungsbildung mitzuwirken und ihren Einfluß geltend zu machen, Neuerrichtungen wie 1953 verhindernd oder wie 1961 erzwingend, obwohl § 9 GO BReg dem Bundeskanzler die Kompetenz zuweist, die Geschäftsbereiche der Bundesminister i n den Grundzügen festzulegen. Allerdings waren bei der Errichtung mehr allgemeinpolitische und persönliche Argumente und Wünsche ausschlaggebend, nicht so sehr sachliche, ausgenommen selbstverständlich die Errichtung des Auswärtigen Amtes und des Ministeriums der Verteidigung 1951 bzw. 1955. Es ging bei der Regierungsbildung vorwiegend darum, eine angemessene Beteiligung i n den jeweiligen Kabinetten zu erhalten oder bestimmte Personen unterzubringen. I n keinem Fall aber entschied der Kanzler allein über die Errichtung von Ministerien. Nach 1949 gingen — zu einem gewissen Grad ausgenommen das Ministerium für Familien18
Domes: Bundesregierung S. 70 ff. Die Welt, 13. und 14. Nov. 1961. 20 F A Z v. 1. 2.1966, Nr. 279, S. 1. 21 Zusammenfassend: AdG 1969, S. 15 000 f. 22 ζ. B. 1966: N Z Z v. 1.12.1966 Fernausgabe Nr. 330, Blatt 2; Der Spiegel v. 5. Dezember 1966 Nr. 50, S. 33 f. berichtet von Versuchen von Kompetenzverschiebungen zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium und zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium. 19
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fragen — auch die Initiativen nicht von i h m aus. Maßgebend waren auch für den Kanzler koalitionspolitische Überlegungen. Zusammenlegungen kamen bis zur Regierungsbildung 1969 nicht vor. Die personelle Zusammensetzung der neuen Bundesregierungen war jedesmal von den Fraktionen mitbestimmt. 1949 fanden Abstimmungen i n den Fraktionen über die personelle Vergabe von Ministerien statt, an die aber Adenauer sich nicht immer hielt, so ζ. B. beim Landwirtschaftsministerium 2 3 . 1953 entzündeten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen und dem Kanzlerkandidaten Adenauer an den Personen Dr. Dehlers als Justiz- und Dr. Schuberths als Postminister. Die FDPFraktion stellte bezüglich Dr. Dehlers bestimmte Forderungen und drohte zunächst, sich nicht an der neuen Koalition zu beteiligen. Erst dem Eingreifen des Bundespräsidenten gelang es, Dr. Dehler und Dr. Schuberth zum Verzicht auf ein Ministeramt zu bewegen 24 . Der — inzwischen gewählte und ernannte — Kanzler schließlich entschied dann allein über die Besetzung des Justiz- und des Postministeriums. Trotz starken Druckes gab er das Auswärtige A m t nicht an Brentano ab, sondern behielt es. 1957 ging es personell vor allem u m den Finanzminister Schäffer. Adenauer setzte sich gegen die CSU-Landesgruppe durch 25 . Über die Besetzung des Finanzministeriums 1961 m i t Dr. Starke von der FDP fand i n dessen Fraktion eine Abstimmung statt. Die FDP-Fraktion erzwang zudem den Rücktritt v. Brentanos und wandte sich gegen die Ernennung Hallsteins als Außenminister 26 .1962 trat die FDP-Fraktion aus der Koalition aus, u m das Ausscheiden des Verteidigungsministers Strauß aus der Bundesregierung durchzusetzen 27 . Von besonderem Interesse ist i m vorliegenden Zusammenhang die Regierungsbildung 1965, des zweiten Kabinetts Erhard. Die FDP-Fraktion beharrte auf ihrem Vorsitzenden Mende als Vizekanzler und Minister für Gesamtdeutsche Fragen sowie auf einer Nichtbeteiligung von Strauß i m Kabinett 2 8 . Der Streit spielte sich aber 23
AöR Bd. 75 (1949), S. 342 ff. Allerdings stand der Bundespräsident dabei auch unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts in bezug auf die Person Dehlers, durch den sich das Gericht beleidigt sah, v. Beyme: Regierungssysteme S. 533. 25 Domes: Bundesregierung S. 62 ff. Gegen Schäffer agitierten auch Interessenverbände der Wirtschaft und Zeitungen. Aber entscheidend für den Sturz war, daß Adenauer Schäffer fallen ließ. 26 Der Spiegel v. 8.11.1961, Nr. 46 S. 23 ff. 27 Archiv der Gegenwart 19.11.1962, S. 10 253; in den anschließenden Koalitionsverhandlungen wurden auch andere Positionen im Rahmen der Koalitionsverhandlungen geändert, aber z. B. v. Hassel als Nachfolger von Strauß suchte Adenauer selbst aus. Dieses Beispiel zeigt, wie nachteilig es sein kann, daß der Bundestag keinen Minister stürzen kann. Ist ein Ministerwechsel wirklich erforderlich, hält aber der Kanzler an der Person fest, muß die Koalition gesprengt und damit die Bundesregierung als ganze in die Krise gestürzt werden. 24
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zwischen den Fraktionen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion ab. Der Kanzler entschied sich i m Sinne der FDP-Fraktion; die CDU/CSUFraktion brachte i h m daraufhin ihr erhebliches Mißfallen an seinem „Umfall" und seinem „Alleingang" zum Ausdruck. I n diesem Fall war der Versuch der personellen Festlegung des Kanzlerkandidaten ganz eindeutig. I m übrigen legten die Fraktionen Ministerwunschlisten vor, aus denen der Kanzlerkandidat sollte auswählen können 2 9 . Es wurde zwar eine Erklärung bereits am Anfang der Verhandlungen formuliert, i n der es u. a. hieß: „Insbesondere werden das uneingeschränkte Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers gemäß A r t i k e l 64 des Grundgesetzes und die uneingeschränkte Präsentationsmöglichkeit der Fraktionen anerkannt 3 0 ." Aber die Harmonisierung beider Grundsätze stieß zumindest i n der Frage der Berufung Mendes auf erhebliche Schwierigkeiten. 1966 war die Regierungsbildung dadurch gekennzeichnet, daß eine Einigung zwischen den Koalitionspartnern, nicht zwischen diesen und dem Kanzler über die Verteilung der Ressorts stattfand und daß dann jeder Koalitionspartner seine Kandidaten selbst benannte, die vom Kanzler dann auch vorgeschlagen wurden. Nur i n seiner eigenen Fraktion scheint er Einfluß gehabt zu haben. 1968 trat der Minister Wischnewski zurück. Die SPDFraktion benannte den Nachfolger schon Monate vorher. Der Bundeskanzler schlug i h n zur Ernennung vor. 1952 hatte Adenauer nach dem Tode Wildermuths ein entsprechendes Ansinnen der FDP-Fraktion hingegen abgelehnt 31 . Die Praxis bringt also auch einen sehr starken, teilweise bestimmenden Einfluß der Fraktionen auf die personale Regierungsbildung hervor 3 2 . Wegen mangelnder Einigung über die Ministerliste sind Kanzlerwahlen gefährdet gewesen. Nach der Wahl hat der Kanzler wegen A r t . 67 GG eine stärkere unabhängigere Position. Die Koalitionsabreden enthalten aber auch hier mehr oder weniger konkrete Absprachen, auf Grund derer die Wahl jedoch überhaupt erst stattfindet. Das materielle Kabinettsbildungsrecht des Bundeskanzlers ist i n der Praxis nicht immer unabhängig ausübbar 33 . Es steht weithin unter einer mehr oder weniger starken M i t w i r k u n g der Fraktionen, die i n Einzelfällen zur Aufnötigung eines 29 Zum vorstehenden: Der Spiegel v. 20. Oktober 1965, Nr. 43, S. 31 ff.; Der Spiegel v. 27. Oktober 1965, Nr. 44, S. 31 ff. 30 AdG 27. Okt. 1965, S. 12 136 A. 31 Amphoux: Chancelier S. 277, Note 3. 32 Die Fraktionen ihrerseits stehen unter einem starken Druck der Interessentengruppen und dergleichen; so wendete sich z.B. der Bauernverband 1957 gegen die Wiederernennung des Landwirtschaftsministers Lübke, Domes: Bundesregierung S. 69. Auch sonstige, insbesondere Proporz-Wünsche wurden vorgetragen. 33 I m Vorstehenden war nur vom Druck der Fraktionen auf den Kanzler die Rede. Daneben und in Konkurrenz mit ihnen üben auch Interessentenverbände u. ä. unmittelbaren Druck aus.
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Kandidaten führen kann, ζ. B. Mendes 1965. Wer sich i m Konfliktsfall letzten Endes durchsetzt, ist nicht festzulegen. Es hängt von den jeweils konkreten Umständen ab, von der Stärke und der gegenseitigen A b hängigkeit der einzelnen Faktoren. I. a. konzentriert sich das Aushandeln der Ministerpersönlichkeiten auf bestimmte Ressorts und/oder Personen, nicht auf alle. Es hat sich ein Zustand herausgebildet, der dem Kanzler die Prärogative des Vorschlags beläßt, ihre Ausübung aber an eine beeinflussende M i t w i r k u n g der Fraktionen bindet.
I I . Die Mitwirkungszuständigkeiten des Bundestages 1. Die Organisationsgewalt i n bezug auf die Errichtung von Ministerien sowie die Zuweisung der Kompetenzen an sie stehen nach dem Grundgesetz der Bundesregierung als Gesamtorgan und innerhalb derselben dem Bundeskanzler originär zu, wie Böckenförde ausführlich an Hand der entsprechenden Vorschriften des Grundgesetzes wie auch deren Entstehungsgeschichte dargelegt hat 3 4 . Der Bundestag hat aber einerseits gewisse gesetzgeberische Vorbehalts- und Zugriffs-Zuständigkeiten und andererseits die für die Organisation grundlegende Bewilligungszuständigkeit. Insbesondere die letzte ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Organisationsgewalt, die „durch das Budgetrecht bedingt und beschränkt ist", nicht umgekehrt 3 5 . Durch die organisationsrechtliche Gesetzgebung kann der Bundestag die Organisation i n bestimmten, durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen regeln und damit die Organisationsgewalt an sich ziehen 36 . Es ist aber festzuhalten, daß weder das Bewilligungsrecht noch die organisationsrechtliche Gesetzgebung die der Bundesregierung originär und als eigene zustehende Organisationsgewalt, die sich auf die i m Grundgesetz rechtlich festgelegte Systematik der Gewaltenteilung stützt, nicht beseitigen können 3 7 . Das bedeutet: Die Errichtung einzelner Ministerien wie die Verteilung der Geschäfte i m ganzen zwischen ihnen, also die Zuweisung des Geschäftsbereichs, kann nicht durch den Bundestag i m Wege der Gesetzgebung oder der Mittelbewilligung über das Haushaltsgesetz erfolgen 38 . Der Bundestag kann zwar über die Mittelverweigerung die Bildung von Ministerien verhindern, aber er kann sie 84
Organisationsgewalt S. 128- 144; ebenso: Amphoux: Chancelier S. 247 f. So zu Recht Böckenförde: Organisationsgewalt S. 313, i. e. S. 107 ff. und S. 302 ff. 88 Dazu i. e. Böckenförde: Organisationsgewalt S. 103 ff. und S. 286 ff. 37 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 291 ff., S. 103 ff. 88 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 291 ff. Durch die gesetzliche Regelung würden ein Ministerium und sein Geschäftsbereich der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers entzogen und damit die notwendige Beweglichkeit der Organisation aufgehoben, vor allem aber der Kanzler in seinen Rechten aus Art. 65 GG erheblich eingeschränkt. 35
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über die Mittelbewilligung nicht erwirken. Er kann — und muß u. U. — durch organisationsgesetzgeberische Maßnahmen Zuständigkeiten begründen, aber es kann sich dabei nur um Einzelzuständigkeiten handeln, die den Geschäftsbereich eines Ministeriums nicht ausschöpfen. Es muß Raum bleiben für die eigene selbständige Organisationsgewalt der Bundesregierung, des Bundeskanzlers und der Bundesminister. I n Betracht kommen aber noch weitere Zuständigkeiten des Bundestages aus der M i t w i r k u n g an der materiellen Regierung. Ist die Errichtung eines Ministeriums auch ein politischer A k t , also schon i n sich ein A k t der Regierung 39 , so ergeben sich auch von daher Einwirkungen, da dem Bundestag auch bei der Regierungsfunktion Mitwirkungsrechte zustehen 40 . Wenn auch nicht an die Zustimmung des Bundestages aus diesen Gründen gebunden, so ist doch die Errichtung eines Ministeriums u. U. eine derartige schwerwiegende sachlich-politische Maßnahme, daß sie nicht gegen den Willen des Bundestages durchzusetzen ist. Eine organisatorische Regierungsbildungszuständigkeit des Bundestages folgt aus diesen Zuständigkeiten keinesfalls, aber eine — teilweise notwendige — Mitbeteiligung an den Organisationsentscheidungen. Der Bundestag ist nicht ausgeschlossen von, aber auch nicht Inhaber der Organisationszuständigkeit zur Errichtung von Ministerien und Kompetenzverteilung zwischen ihnen; er w i r k t an der Ausübung mit. Er setzt die Voraussetzungen und Bedingungen oder verweigert sie. Die Koalitionsverhandlungen und -abreden, die sich auf die organisatorische Regierungsbildung beziehen, sind also ebenfalls wie die materiellen Koalitionsabreden, m i t denen sie oft i n engem Zusammenhang stehen und deren Verwirklichung sie dienen, Ausübung von Staatsgewalt i. w. S. durch die Abgeordneten, die i n den Fraktionen zusammengefaßt sind. I n der Teilhabe der Fraktionen an der staatlichen Entscheidungskompetenz des Bundestages als dessen Organteile liegt das missing link für die rechtliche Begründung ihrer Mitwirkung, nach dem Langner allerdings auf falschem Weg sucht 41 . Wenn sich die Koalitionspartner auf die Errichtung oder Kompetenzveränderung von Ministerien einigen, so vorbereiten, planen sie spätere Entscheidungen, etwa Billigungen der Stellen und Mittel 4 2 , oder den Erlaß 39 Das hebt vor allem Amphoux (Chancelier S. 248) hervor, wo er die Organisationsgewalt dem Bundeskanzler zur Erfüllung der Befugnis aus Art. 65 GG zuordnet. 40 Oben S. 19 f. 41 Langner: Recht S. 155 ff. 42 Geht das Ministerium aus einer derartigen Koalitionsvereinbarung hervor, so ist eine Genehmigung der Mittel durch den Bundesfinanzminister gem. Art. 112 GG m. E. aus diesem Grund keine abzulehnende Praxis. Denn diese Ausgaben sind als solche geplant, sind bereits feste Vorhaben. Zwar steht der formale Beschluß des Bundestages noch aus, aber inhaltlich ist die Ausgabe von der die Regierung tragenden Mehrheit gewollt. Umsomehr wird allerdings deutlich, wie sehr Koalitionsabreden bereits Ausübung von Staatsgewalt sind und wie nötig es ist, sie durchsichtiger und kontrollierbarer zu machen.
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entsprechender Gesetze. Allerdings geht es nur u m Mitwirkungsrechte, u m Förderung oder Hinderung, nicht u m Entscheidung. Diese M i t w i r k u n g ist ein Ausfluß des demokratisch-parlamentarischen Systems, wie es i m Grundgesetz und seiner Zuständigkeitsordnung festgelegt ist, das i n sich ein System von Abhängigkeiten ist und nicht so sehr ein System der Gewaltenteilung. Die Volksvertretung hat zwar nicht als solche eine Vorrangstellung. Auch der Bundestag als Gesetzgeber ist der konstitutionellen Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes unterworfen. Die anderen Organe sind m i t eigenen, originären und selbständigen Zuständigkeiten ausgestattet 43 . Aber die Zuständigkeiten der Organe sind aufeinander i n der Weise bezogen, daß der Bundestag auf Grund seiner Zuständigkeiten, insbesondere der Gesetzgebung, dem Budgetrecht, dem Kontrollrecht und der M i t w i r k u n g an der Regierung, vielfach auch dort ein unmittelbares oder mittelbares Mitwirkungsrecht hat, wo die Beschlußzuständigkeit i h m nicht zusteht. 2. Dem Bundestag steht keine personelle Regierungsbildungszuständigkeit zu. Die Minister werden gem. A r t . 64 GG auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Sie sind weder für den Amtsantritt noch für das Verbleiben i m A m t von dem Vertrauen des Bundestages abhängig. Entsprechende Vorschriften des Entwurfs von Herrenchiemsee sind vom Parlamentarischen Rat ersatzlos gestrichen worden 4 4 . Nur der Bundeskanzler ist also vom Vertrauen des Bundestages abhängig. Dadurch ist die Bedeutung des Vorschlagsrechts des Bundeskanzlers gem. A r t . 64 GG gegenüber dem des Reichskanzlers trotz des insofern gleichen Wortlautes des A r t . 53 WRV grundlegend geändert worden. Er hat allein das materielle Kabinettsbildungsrecht 45 . Die M i nister sind nur noch vom Vertrauen des Kanzlers abhängig. Der Bundestag hat keine unmittelbare Teilhabe an der materiellen Kabinettsbildung. Der Kanzler stellt sein Kabinett zusammen, nicht ein Kabinett des Bundestages. Der Kanzler erhält dadurch die zentrale Stellung i n der Exekutive 4 6 . Der Bundestag hat auch, anders als bei der organisatorischen Regierungsbildung, keine Zuständigkeiten, durch die er mittelbar auf die personelle Regierungsbildung einwirken kann, w e i l der Bundeskanzler insoweit notwendig auf den Bundestag angewiesen wäre, u m seine Vorstellungen durchzusetzen, oder w e i l der Bundestag unmittelbar selbst regelnd zugreifen könnte. Die tatsächliche M i t w i r k u n g bei der personellen 43
Böckenförde: Organisationsgewalt S. 79. Dazu im einzelnen unten S. 326 f. 45 Böckenförde: Organisationsgewalt S. 139. 46 Amphoux: Chancelier S. 269 f. Ein Vergleich zur Situation unter der Reichsverfassung von 1871 liegt zwar nahe, aber er trifft den Sachverhalt nicht; denn die Minister sind im parlamentarischen System immer politische Repräsentanten, mit denen der Kanzler tatsächlich nicht nach Belieben umspringen kann. 44
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Regierungsbildung bei den Koalitionsabreden und sonst kann also nicht als Beginn der Ausübung von i m Grundgesetz unmittelbar niedergelegten Zuständigkeiten des Bundestages durch die i n den Fraktionen zusammengeschlossenen Abgeordneten angesehen werden, nicht auf solche Zuständigkeiten unmittelbar zurückgeführt werden. Handelt es sich also bei den wesentlichen Einflußnahmen seitens der Fraktionen auf die personelle Regierungsbildung nur u m eine vom Verfassungsrecht ungedeckte soziale Wirklichkeit, eine politische Praxis neben, u. U. sogar gegen das Grundgesetz? Auch hier könnte die Meinung gelten, die dem Grundgesetz vorwirft, an der Wirklichkeit vorbeigegangen zu sein, sie nicht i n sein Gebäude des Verf assungsorganisationsrechtes aufgenommen zu haben 47 . Diese Auffassung ist jedoch nicht richtig 4 8 . Sie wäre nur dann berechtigt, wenn das Grundgesetz eine strikte organisatorische Trennung der Staatsgewaltfunktionen eingeführt hätte, nicht aber ein vielfältiges System der organisatorischen Gewaltenverschränkung. A r t . 64 GG sagt nichts darüber, wie der Bundeskanzler zu seinem Vorschlag kommt und auch nichts darüber, ob er dabei völlig frei ist 4 9 . Die Verfassungssystematik ist zu befragen. Der Bundestag hat ein Kreationsrecht für den Bundeskanzler. Er hat weiterhin das Gesetzgebungsrecht, weitgehende Kontrollrechte gegenüber der Bundesregierung und Mitwirkungsrechte i m Bereich der materiellen Regierungsfunktion. Durch die Mitwirkungsrechte bildet der Bundestag einen wenn auch nicht beschließenden positiven Willen i n den konkreten politischen Sachfragen und deren Bewältigung und Regelung auch da, wo sie nicht der Gesetze zur Regelung bedürfen. Die Kontrollzuständigkeiten berechtigen und verpflichten ihn, die Durchführung der durch Bundeskanzler und Minister — teilweise unter M i t w i r k u n g des Bundestages — verfolgten Politik sicherzustellen. Durch seine Zuständigkeit, die Gesetze 47 So: Nawiasky: Grundgedanken I I S. 98; Sternberger: Verfassung S. 121 ff. rechnet sie den „efficient parts" im Gegensatz zu den „dignified parts" zu, wobei allerdings der Verfassungsbegriff juristisch nicht präzisiert ist; Glum: Regierungssystem S. 377. Schon Kaufmann: Regierungsbildung S. 376 ff. hatte ähnliche Vorwürfe gegen die Weimarer Verfassung erhoben. 48 Dagegen auch: Bartelt: Regierungsbildung S. 121 ff. Zum Problem des Verhältnisses von „Verfassungsrecht" und „Verfassungswirklichkeit" oben S. 22 ff. 49 Allerdings schienen das einige Abgeordnete des Parlamentarischen Rates daraus zu folgern, daß das Erfordernis des Vertrauens des Bundestages für die Minister bei Amtsantritt gefallen sei. So vertrat insbesondere der Abgeordnete Carlo Schmid die Meinung, der Bundeskanzler sei „in ganz anderem Umfang zum Herrn der Regierung" gemacht worden, und es bestünde die Gefahr, daß das Parlament dem Minister zurufe: „Sie sind gar nicht unser Mann, wir haben Sie gar nicht gewollt." Demgegenüber wies bereits damals der Abgeordnete Dehler unwidersprochen darauf hin, als auf eine Selbstverständlichkeit, daß die Koalitionsverhandlungen auch die Aussprache über das Kabinett einschlössen und „die Billigung des Kanzlers natürlich auch die Billigung des Kabinetts" bedeute, 33. Sitzg. des Hauptausschusses v. 8.1.1949, Sten. Ber. S. 409.
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Steiger
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zu beschließen, setzt der Bundestag die politischen Entscheidungen i n Rechtssätze um. Das Recht, den Bundeskanzler zu wählen, gibt i h m die Möglichkeit, die personelle Voraussetzung zu schaffen, damit die Politik geführt wird, die die Mehrheit wünscht. Alle drei Zuständigkeiten sind indirekt m i t der personellen Regierungsbildung eng verknüpft. Die Durchführung der materiellen Regierung hängt aber nicht nur von der Person des Kanzlers ab, sondern auch von der Auswahl der Minister. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die Erfüllung der sachlichen politischen Aufgaben, für die dem Bundestag seine Zuständigkeiten zugewiesen sind. Die Abreden über die personelle Besetzung der Ministerposten sind ein Korrelat zu den planenden Koalitionsabreden sachlicher A r t , die ihrerseits bereits Beginn der Ausübung staatlicher Gewalt i m weiteren Sinne sind 5 0 . Ist die sachliche Regierungsführung der Beschlußfassung, Kontrolle und M i t w i r k u n g des Bundestages übergeben, so kann auch die Personalauswahl zu ihrer V e r w i r k lichung seinem Zuständigkeitsbereich nicht völlig entzogen sein; vielmehr ist i h m ein noch genauer zu bestimmendes Maß an M i t w i r k u n g auch rechtlich zuzubilligen. Auch umgekehrt folgt daraus, daß die Minister politische Führer und Repräsentanten der die Regierung tragenden Mehrheit i m Bundestag sind, daß jenen, von deren Unterstützung die Minister getragen werden sollen, ein gewisses Maß an M i t w i r k u n g bei der Ausw a h l rechtlich zukommen muß, der Kanzler diese nicht allein bestimmen, den Fraktionen als Führer und Repräsentanten aufdrängen kann. Die M i t w i r k u n g bei der Personenauswahl ist daher nicht nur politische Praxis ohne Grundlage i n den Bestimmungen des Grundgesetzes, auch nicht bloß zulässiger „legitimer" parlamentarischer Brauch 51 , sondern sie hat ihre Grundlage i n jenen Zuständigkeiten, deren Erfüllung sie dient. Sie ist rechtlich begründet; denn sie ergibt sich aus dem Sachzusammenhang der anderen primären Zuständigkeiten des Bundestages. Die M i t w i r k u n g bei der Ministerauswahl kann auf eine sekundäre Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs m i t den gesamten primären Zuständigkeiten zurückgeführt werden. Zu Recht hat daher auch der Abgeordnete Dehler gegenüber dem Abgeordneten Schmid i m Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates darauf hingewiesen, daß „die Billigung des Kanzlers natürlich auch die Billigung seines Kabinetts" bedeutet 52 . 50
Oben S. 253 ff. Sie wird bejaht z. B. von Schüle: Koalitionsvereinbarungen S. 81, sie ist nicht mehr bestritten. Die von der h. L. der Weimarer Zeit vertretene Auffassung, die aus Art. 53 W R V folgerte, daß nach dem Verfassungsrecht Reichskanzler und Reichspräsident allein die Minister auszuwählen und dann dem Reichstag zu präsentieren hätten, alles andere bloß Faktizität sei, Anschütz: Kommentar Art. 53 Anm. 2 S. 313 ff. wird heute so rigoros nicht mehr vertreten. Aber was „legitim" heißt, bleibt offen und ist theoretisch nicht begründet. 51
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33. Sitzg. v. 8. Jan. 1949, Sten. Ber. S. 409.
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Diese Zuständigkeit muß näher präzisiert werden. Wem steht sie zu, dem Bundestag, den Fraktionen oder dem Abgeordneten? Man könnte eine den Abgeordneten oder den Fraktionen selbständig und unmittelbar zustehende Organzuständigkeit annehmen. Es erscheint nur schwer möglich, sie dem Bundestag zuzurechnen, der u. U. zu dem Zeitpunkt der Wahrnehmung i n den Koalitionsabsprachen noch gar nicht konstituiert ist, w e i l er nicht als Einheit irgendwie bei einer Regierungsbildung nach Neuwahlen i n Erscheinung tritt. Aber trotzdem scheint es m i r richtiger zu sein, sie als Organzuständigkeit dem Bundestag zuzurechnen 53 , denn die Abgeordneten i n ihren Zusammenfassungen als Fraktionen handeln als Organwalter des Bundestages; daher haben sie ihr Amt, das sie zu diesem Handeln berechtigt; die jenem zustehenden Primärzuständigkeiten nehmen sie vorbereitend als Organwalter auch i n der Sekundärzuständigkeit, die als solche bereits abhängig ist, wahr. Da es sich bei den Mitwirkungszuständigeiten fast ausschließlich nicht u m Beschlußzuständigkeiten wie bei der Gesetzgebung handelt, durch einen diesbezüglichen Beschluß des Bundestages unmittelbar also keine Rechtsfolgen für das Verhalten D r i t ter, vor allem der Bundesregierung, ausgelöst werden, kann die Zuständigkeit der M i t w i r k u n g bei der personellen Regierungsbildung nicht weiter reichen als jene sachlichen Mitwirkungszuständigkeiten selbst. Es kann sich also nur u m eine Zuständigkeit zur rechtspflichtlosen M i t w i r kung handeln, vor allem i n Form einer Präsentation bzw. einer ablehnenden Stellungnahme zu einer vorgelegten Kabinettsliste. Aus dem Dargelegten folgt, daß die Koalitionsabreden über die Minister den Kanzler i n der Wahrnehmung seines Vorschlagsrechts w o h l zu beeinflussen, nicht aber derart zu binden vermögen, daß er die Vorschläge übernehmen oder einer Ablehnung folgen muß. Sie können auch nicht die Initiative des Kanzlers ersetzen. Der Bundeskanzler hat die letzte Entscheidung, wer vorgeschlagen w i r d und wen er i n der Regierung behält 5 4 . Aber er hat, wie oben für die Koalitionsabreden allgemein dargelegt 55 , 53 Die Fraktionen kommen nicht in Betracht, da sie nur für Organe und Organteile des Bundestages Kreationszuständigkeiten haben, die Bundesregierung aber kein Organ des Bundestages ist. Sie nehmen bei der Regierungsbildung nur an der Wahrnehmung einer Zuständigkeit des Bundestages teil. 54 Darauf beharrte Bundeskanzler Adenauer ausdrücklich nach dem Bruch der Minister Krafft und Oberländer 1955 mit ihrer Fraktion. Er erklärte: „Koalitionsabreden zwischen den Fraktionen, die die Regierung tragen, schaffen keine verfassungsrechtlichen Verpflichtungen, sondern haben politische Bedeutung. Eine Verpflichtung des Bundeskanzlers, eine bestimmte Persönlichkeit mit einem bestimmten Ministeramt zu beauftragen und sie auf Verlangen einer Koalitionsfraktion wieder abzuberufen, würde mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sein. Eine solche Auffassung ist übrigens bei den Koalitionsbesprechungen aus Anlaß der Regierungsbildung 1949 und 1953 von keiner Fraktion vertreten worden. Ich würde mich auch nicht darauf eingelassen haben." I I . Dt. Bundestag, 124. Sitzg. v. 19.1.1956, Sten. Ber. S. 6528 f. Er wies auch darauf hin, daß Minister nicht „Beauftragte bestimmter Fraktionen" seien.
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Oben S. 258 f.
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
Beachtungspflichten bei der Regierungsbildung. Man kann sagen, die Bundesregierung ist nicht als Bundestagsausschuß, sondern als unabhängiges Gremium, als selbständiges Organ vom Grundgesetz gewollt; aber die Regierung ist vom Bundeskanzler so zu bilden, daß sie m i t der sie tragenden Mehrheit des Bundestages nicht i n Konflikt gerät, solange daraus keine Totalabhängigkeit derselben von jenen folgt 5 6 , nicht nur aus praktischen Gründen, wie die h. L. annimmt, sondern aus dem verfassungsrechtlichen System der parlamentarischen Regierung des Grundgesetzes. 3. Diese Überlegungen führen zu der Notwendigkeit, die Rechte des Bundespräsidenten bei der Ernennung der Minister neu zu überdenken, wenn sie hier auch nicht des langen und breiten ausgeführt zu werden brauchen. Diese sind nach wie vor strittig 5 7 . Ein Prüfungs- und gar A b lehnungsrecht könnte i m Verhältnis zum Bundestag i n dessen M i t w i r kungszuständigkeit eingreifen und daher von da aus unzulässig sein. Aber gerade w e i l es sich nur um Mitwirkungszuständigkeiten handelt, ist dieses Argument nicht zwingend. Die Mitwirkungszuständigkeiten des Bundestages haben sich i n die Rechte der anderen Organe einzuordnen. Läßt sich ein Prüfungs- und Ablehnungsrecht des Bundespräsidenten gegenüber dem Vorschlag des Bundeskanzlers aus anderen Gesichtspunkten begründen, so ist das Mitwirkungsrecht des Bundestages insoweit weiter relativiert. Es spricht aber weiterhin i m Gegenteil gerade von der M i t w i r k u n g des Bundestages aus ein Argument für ein Prüfungs- und u. U. ein Ablehnungsrecht des Bundespräsidenten: der Schutz des Bundeskanzlers vor zu starkem Druck seitens der Fraktionen. Zwar w i r d der Bundespräsident dadurch u. U. i n einen parteibestimmten Konflikt zwischen zwei Organen verwickelt. Aber einerseits spricht nichts dagegen, daß der Bundespräsident politische Konflikte überhaupt entscheiden kann. Zum anderen aber, und das ist das Maßgebende, ist i n dieser Frage der Bundespräsident derjenige, der einen politischen Konflikt dieser A r t kraft seiner Stellung allein entscheiden kann, wenn eine Unabhängigkeit der Regierung vom 56 So erheben sich gegen manche Erscheinungen der Praxis, etwa den Kampf um Mende 1965, das Zugeständnis an die SPD, ihre Liste zu übernehmen, 1966, die Ablösung Wischnewskis durch Eppler 1968 auf Beschluß der SPD, erhebliche Bedenken. Die letzte Entscheidung für den Vorschlag liegt beim Bundeskanzler. Auch ist weder der Austritt der Fraktion aus der Koalition noch der Übertritt eines Ministers zu einer anderen Partei ein rechtlicher Entlassungsgrund. 57 Praktisch wurde die Frage vor allem bei der Ernennung Schröders zum Außenminister 1965, wo der Bundespräsident laut Der Spiegel v. 13.10. 65, Nr. 42, S. 39 ff. entschlossen gewesen sein soll, bis zum Verfassungskonflikt mit dem Bundeskanzler in der Ablehnung der Person Schröders zu gehen. Für ein Prüfungs- und evtl. Ablehnungsrecht: Bartelt (Regierungsbildung S. 86 -112) mit ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der bis 1959 vertretenen Lehre. Eine eingehende politischwissenschaftliche Behandlung des Problems findet sich bei Kalte fletter : Funktionen S. 224 ff.
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Bundestag gesichert werden soll. Der Kanzler ist jedenfalls vor der Wahl zu sehr abhängig vom Bundestag, als daß er sich dem von diesem ausgehenden Druck widersetzen könnte. Es sei nur an die Auseinandersetzungen u m die Berufung des Vizekanzlers Mende 1965 erinnert 5 8 . Andererseits ist umgekehrt zu Recht darauf hingewiesen worden, daß der Bundespräsident auch u. U. m i t einer Ablehnung die Interessen des Bundestages gegenüber dem gewählten und durch A r t . 67 GG weitgehend geschützten Bundeskanzler wahrnehmen könnte, wenn dieser die Beachtungspflichten gegenüber den Abreden über die Ministerliste nicht erfüllt und willkürlich davon abweicht 59 . Ob aus anderen Gründen, die nicht das Verhältnis des Bundespräsidenten zum Bundestag, sondern vor allem zum Bundeskanzler betreffen, ein Prüfungs- u. U. ein Ablehnungsrecht des Bundespräsidenten nicht doch zu verneinen ist, braucht hier nicht geprüft zu werden. I I I . Mißbilligung des Bundestages gegenüber Ministern Umstritten ist, ebenso wie beim Bundeskanzler, ob der Bundestag die Zuständigkeit hat, gegen die Minister Mißbilligungsvoten ohne Abgangspflicht abzugeben oder sonst denselben ihr Mißfallen auszusprechen. Das ist eine Frage aus dem Bereich der Kontrollfunktion. Sie hat aber für die Regierungsbildung auch ihre Bedeutung, so daß an dieser Stelle einige Bemerkungen zu der Frage am Platz sind. Es geht letzten Endes u m die Frage, ob nach der Regierungsbildung der Bundestag auf den Bestand der Regierung Einfluß nehmen kann. 1. Die h. M. bejaht die Zuständigkeit des Bundestages, gegen die M i nister derartige Mißbilligungsvoten zu beschließen. Gegen die Minister gibt es kein Mißtrauensvotum m i t Abgangspflicht. Sie hängen rechtlich nicht vom Vertrauen des Bundestages ab, aber sie sind dem Bundestag gegenüber verantwortlich 6 0 * 6 1 . Die Frage ist für die Minister insofern 58 1953 bedurfte es des Eingreifens des Bundespräsidenten Heuß, um zwei Ministeraspiranten zum Verzicht zu bewegen und damit die zweite Regierungsbildung Adenauers schließlich zu ermöglichen. Es scheint, daß Heuß geneigt war, Dehler im Falle, daß seine Fraktion seine Ernennung gefordert und Adenauer ihn vorgeschlagen hätte, nicht zu ernennen. Dazu aber auch oben Fußnote 24. 59 Schneider: Regierungsbildung S. 1332; Bartelt: Regierungsbildung S. 99 ff.; dagegen Kaltefleiter: Funktionen S. 226. 80 Strittig; wie hier Hesse: Grundzüge S. 233; v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 65 Anm. I V 4 S. 1263 mit weiteren Verweisen; a. A. Maunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 65 Rdnr. 4 S. 65/2 f. mit Verweisen. 81 v. Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 67 Anm. I V 3 S. 1302 f. mit weiteren Nachweisen; Küchenhoff: Mißtrauensantrag S. 119; auchMaunz-Dürig-Herzog: Kommentar Art. 65 Rdnr. 4 S. 65/3, obwohl eine Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Bundestag verneint wird. a. M. Münch: Bundesregierung S.178 -180.
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II. 2. Kap. : Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
etwas anders gelagert als für den Kanzler, als deren Stellung eine andere ist. Es gibt ausdrücklich keine irgendwie geartete Abhängigkeit der Minister vom Vertrauen des Bundestages. Es gibt aber andererseits die starke Abhängigkeit vom Kanzler durch sein Vorschlagsrecht für Ernennung und Entlassung. I n der Praxis ist die Zulässigkeit zwar umstritten gewesen 62 , aber entsprechende Anträge sind auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt und sachlich behandelt worden 6 3 , wenn auch noch keiner erfolgreich war. Es gibt verschiedene Formen: das ausdrückliche Mißbilligungsvotum 6 4 , den Antrag an den Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten einen Minister zur Entlassung vorzuschlagen 65 , den Antrag während der Haushaltsdebatte, das Ministergehalt zu streichen 66 . Die Beratungen des Parlamentarischen Rates schlossen aus, daß ein einzelner Minister aus dem Kabinett durch ein m i t Abgangspflicht versehenes Mißtrauensvotum „herausgeschossen" werden könne 6 7 . I m Plenum und i m Rechtsausschuß des Bundestages wurde i n der ersten Legislaturperiode die Frage diskutiert. Wie dargelegt, war das Ergebnis für die Mehrheit vor allem eine Unterscheidung von zulässiger Mißbilligung konkreter Vorgänge und unzulässiger allgemeiner inhaltlicher Mißtrauenserklärung gegenüber der gesamten Politik, worunter auch ein Entlassungsvotum fiele 68. Der Abgeordnete Adolf A r n d t wollte diese inhaltliche Unterscheidung nicht machen und stellte nur auf die Form ab. Er wollte den politischen Inhalt von den staatsrechtlichen-juristischen Konsequenzen scheiden 69 . Jedoch sind gegen solches Auseinanderreißen beider die oben anläßlich der Erörterung des Vertrauensfrage-Ersuchens erhobenen Bedenken zu wiederholen 70 . Aus dem Mitwirkungsrecht des Bundestages bei der Bestellung eines Ministers, an dessen Ausübung die Fraktionen teilnehmen, und auch aus der eigenen Verantwortung des 62
z.B. Abgeordneter Krone in der Sitzg. v. 21.1.1953, Sten. Ber. I. Wahlperiode S. 11 670 D, Kiesinger in der Sitzg. v. 4. 3.1953, Sten. Ber. I. Wahlperiode S. 12 110 D f. 63 I. Bundestag 253. Sitzg. 5. März 1953 gegen den Bundeskanzler, Sten. Ber. S. 12 158 C - 1 2 168 D; siehe die bei v.Mangoldt-Klein: Kommentar Art. 67 Anm. I V 3 S. 1302 f. aufgezählten Fälle. 64 So z. B. die bei v. Mangoldt-Klein genannten Anträge gegen die Minister Dehler und Schröder. 65 So z. B. die bei v. Mangoldt-Klein genannten Anträge gegen die Minister Erhard, Oberländer, Kraft, Schäffer und 1966 gegen den Minister v. Hassel. ββ Hier treten allerdings besondere Probleme auf, die mit der Rolle des Budgetrechts für außerhalb seiner liegende Zwecke zusammenhängen, dazu u. a. Böckenförde: Organisationsgewalt S. 314 ff. 67 Hauptausschuß 33. Sitzg. v. 8. Jan. 1949, Sten. Ber. S. 409. 88 Der Abgeordnete Kiesinger hielt allerdings formlose Einwirkungen des Bundestages auf den Bundeskanzler zur Entlassung eines Ministers selbst in einer beschlußlosen Debatte im Plenum für möglich, Prot, der 131. Sitzg. des 23. Ausschusses v. 7. Nov. 1951, S. 9/10. 69 Protokoll der 131. Sitzg. des 23. Ausschusses v. 7. Nov. 1953, S. 12. 70 Oben S. 285 f.
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Ministers i m Rahmen des A r t . 65 GG, die nicht nur gegenüber dem Kanzler, sondern auch gegenüber dem Bundestag besteht, folgt auch das Recht des Bundestages zur Mißbilligung 7 1 . Allerdings begründet ein Mißbilligungsbeschluß des Bundestages gegen einen Minister keine rechtliche Abgangspflicht. Die A r t und Weise, wie die Mißbilligung ausgesprochen wird, ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Nur hinsichtlich budgetrechtlicher Maßnahmen sind die Grundsätze des Bewilligungsrechtes zu beachten, die die Streichung des Gehaltes für einen Minister oder gar des ganzen Ministeriums-Etats deswegen unzulässig erscheinen lassen, weil ein ordnungsgemäß bestellter Amtsinhaber auch Anspruch auf Vergütung hat. I m übrigen kann die Mißbilligung unmittelbar ausgesprochen werden, kann der Bundeskanzler aufgefordert werden, dem Bundespräsidenten die Entlassung des Ministers vorzuschlagen u. ä. 2. Das Recht, gegenüber einem Minister die Mißbilligung auszusprechen, schließt den Kreis der abgestuften Mitwirkungsrechte des Bundestages bei der Regierungsbildung. Seine rechtliche Wirkung ist null. Seine politische Wirkung ist zweifelhaft. Als 1956 die FDP-Fraktion aus der Koalition ausschied, blieben die ihr angehörenden Minister i m A m t und lösten sich von der Fraktion und der Partei, da der damalige Bundeskanzler sie hielt. I n diesen und i n anderen Fällen war es dem Bundestag nicht möglich, einzelne Minister aus der Bundesregierung zu lösen, wenn er nicht den Kanzler selbst stürzen konnte. U m i m Herbst 1962 den damaligen Bundesverteidigungsminister aus der Regierung zu entfernen, bedurfte es des formellen Koalitionsbruches durch Austritt der der FDP angehörenden Minister, obwohl die FDP-Fraktion die Koalition fortsetzen wollte. Sie konnte ihre Forderung auf Entlassung von Strauß anders nicht durchsetzen. Ob ein mehrheitliches Mißbilligungsvotum von SPD und FDP eine Entlassung erreicht hätte, wenn die FDP-Fraktion nicht zum Koalitionsbruch bereit gewesen wäre, muß offenbleiben. I V . Zum Verhältnis von Bundestag und Bundesregierung Es erweist sich, daß der Bundestag zwar bei der Bildung einer Regierung eine zentrale, maßgebende Stellung hat, die i m Recht, den Bundeskanzler zu wählen, ihre rechtliche Grundlage hat, und er sich daher auch politisch durchsetzen kann. Wenn die Regierung gebildet ist, d. h. vor allem, wenn der Bundeskanzler gewählt ist, ist jedoch der Bestand der Regierung vom Bundestagswillen relativ unabhängig, wenn dieser nicht zur Wahl eines anderen Kanzlers schreiten kann oder w i l l . Das Grund71 Da dieses in jedem Fall nur dem Bundestag zustehen kann, ist auch aus diesem Grunde das erste dem Bundestag zugewiesen.
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II. 2. Kap.: Bestellung des Bundeskanzlers und Regierungsbildung
gesetz hat einerseits den Kanzler durch die Wahl durch den Bundestag stärker an diesen geknüpft als die Weimarer Verfassung den Reichskanzler an den Reichstag. Andererseits aber hat es die Bundesregierung als ein geschlosseneres und gegenüber dem Bundestag selbständigeres Organ konstruiert, als es die Weimarer Reichsverfassung für die Reichsregierung gegenüber dem Reichstag getan hat. Diese Konstruktion hat sich i n den zwanzig vergangenen Jahren der Verfassungspraxis auch verwirklicht, da i h r eine weitgehend stabile politische Lage i m Bundestag und i n der Bundesregierung entsprach. Ob sie i n einer anderen Lage nicht durch häufigere freiwillige Rücktritte einzelner Minister unterlaufen worden wäre, kann nicht nachgeprüft werden. Die relative organisatorische Selbständigkeit des Kanzlers und der Regierung gegenüber dem Bundestag ist die Basis für das Verhältnis dieser Organe zueinander bei der ihnen übertragenen Ausübung der Staatsgewalt i n der Gesetzgebungs- und i n der Regierungsfunktion. Erst i n dem gegenseitigen Zusammenwirken und i n der gegenseitigen Hemmung w i r d das parlamentarische System zur verfassungsrechtlichen Wirklichkeit der Gestaltung der politischen Machtausübung i n der Bundesrepublik. Es prägt sich aus i n der Ausübung der materiellen Zuständigkeiten der Gesetzgebung, der Kontrolle und der M i t w i r k u n g an der Regierungsfunktion. Erst ihre Analyse gibt ein vollständiges Bild des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik.
Schrifttumsverzeichnis Achterberg, Norbert: Grundzüge des Parlamentsrechts, München 1971 Adenauer, Konrad: Erinnerungen, Bd. 1, Stuttgart 1965 Agnoli , Johannes; Brückner, Peter: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt 1968 Altmann, Rüdiger: Zum Rechtscharakter der Geschäftsordnung des Bundestages; DÖV 1956, S. 751 - 753 Amphoux, Jean: Le Chancelier fédéral dans le regime constitutionnel de la République Fédérale d'Allemagne, 2 vol. hectogr. Aix-en-Provence 1960, Bd. 1 Anschütz, Gerhard: Deutsches Staatsrecht, ο. 0.1914 — Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl., Berlin 1933, Neudruck Darmstadt 1960 Apel, Hans: Die Willensbildung in den Bundestagsfraktionen — Die Rolle der Arbeitsgruppen und Arbeitskreise; Z. f. Pari. 1. Jg. (1969/70), S. 223 - 232 Apelt, Willipalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl., Berlin/München 1964 Arndt, Adolf (I): Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Berlin 1901 — Über Anfang, Unterbrechung und Schluß der Legislaturperioden, Annalen des Deutschen Reiches (Hirth's Annalen) 1903, S. 721 - 741 Arndt, Adolf (II): Das Bundesverfassungsgericht, DVB11951, S. 297 ff. Arndt, Klaus Friedrich: Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, Berlin 1966 Bartelt, Christian: Regierungsbildung nach dem Grundgesetz, Diss. iur. M a r burg 1960 Berg, Wilfried: Zur Übertragung von Aufgaben des Bundestages auf Ausschüsse; Der Staat Bd. 9 (1970), S. 21 - 42 Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission, 2. Aufl., Frankfurt/Berlin 1958 Bermbach, Udo: Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland, Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, Köln/Opladen 1967 — Probleme der Parteienstaates, Der Fall Littmann; Z. f. Pari. 1. Jg. (1969/70), S.342 - 363 Beyer, Wilhelm R.: Immunität als Privileg, Berlin/Neuwied 1966 υ. Beyme, Klaus: Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, M ü n chen 1970
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Schrifttumsverzeichnis
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Schrifttumsverzeichnis
Hauck, Peter: Auflösung des Bundestages zur Verbreiterung der Regierungsmehrheit? ; DVB1 1971, S.135 - 137 Hauenschild, Wolf-Dieter: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktion, Berlin 1968 Haungs, Peter: Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, Eine Studie zum Regierungssystem der Weimarer Republik in den Jahren 1924 1929, Köln/Opladen 1968 Hausdrucksache des Deutschen Bundestages 9800/1964, Sonderausschuß Strafrecht Heilfron, Eduard: Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, 9 Bände, Berlin o. J. Heller, Hermann: Staatslehre, 2. Aufl., Leiden 1961 Henke, Wilhelm: Das Recht der politischen Parteien, Göttingen 1964 Hennis , Wilhelm: Amtsgedanke und Demokratiebegriff; Festgabe für Rudolf Smend I I , Tübingen 1962, S. 57 - 70 — Der Deutsche Bundestag 1949-1965; Der Monat Nr. 215, August 1966, S. 26-36 — Rechtfertigung und Kritik der Bundestagsarbeit, Die neue Gesellschaft, 1967, S. 101 - 111 — Kleine Brötchen in Bonn? Besprechung der deutschen Ausgabe des Buches von Loewenberg; Der Spiegel, 1969, Nr. 40 v. 30.9.1969 Hereth, Michael: Die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments, Überlegungen zur Reform des Bundestages; PVS 11. Jg. (1970), S. 29 - 45 — Die Reform des Deutschen Bundestages, Opladen 1971 Herrfahrdt, Heinrich: Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, Berlin 1927 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 5. erg. Aufl., Stuttgart 1972 — Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat; VVDtStrL Heft 17, Berlin 1959, S. 11 - 52 υ. d. Heydte, Friedrich August: Freiheit der Parteien; Die Grundrechte, hrsg. von Franz L. Neumann u. a., Bd. I I , Berlin 1954, S. 457 - 506 v. d. Heydte, Friedrich August; Sacherl, Karl: Soziologie der deutschen Parteien, München 1955 Hirsch, Joachim: Haushaltsplanung und Haushaltskontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1968 Hirsch, Martin: Diktatur des Establishments? Zur Willensbildung in der Fraktion; Bundestag, S. 83 - 93 Hirsch-Weber, Wolf gang; Schütz, Klaus: Wähler und Gewählte. Eine Untersuchung der Bundestagswahlen 1953, Berlin/Frankfurt 1957 Hoff mann, Ε. H.: Die Stellung des Staatshauptes zur Legislative und Exekutive im Deutschen Reiche und seinen Ländern; AöR, N F Bd. 7 (1924), S.257 - 303 Hoppe, Werner: Organstreitigkeiten vor den Verwaltungs- und Sozialgerichten, Siegburg 1970
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Schrifttumsverzeichnis
Kremer, Clemens: Der Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, 2. Aufl., München 1956 Kreuzer, Arthur: Zuständigkeitsübertragungen bei Verfassungsrichterwahlen und Immunitätsentscheidungen des Deutschen Bundestages; Der Staat Bd. 7 (1968), S. 183 - 206 Kriele, Martin: Kriterien der Gerechtigkeit, Berlin 1963 — Mandatsverlust bei Parteiwechsel? (Mandatsverlust I); ZRP, 2. Jg. (1969), S.241 - 242 — Nochmals: Mandatsverlust bei Parteiwechsel (Mandatsverlust I I ) ; ZRP, 4. Jg. (1971), S. 99 - 101 Krüger, Herbert: Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., Stuttgart 1964 Küchenhoff, Erich: Präsentationskapitulationen des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundespräsidenten?; DöV 1966, S. 675 - 684 — Mißtrauensantrag und Vertrauensfrageersuchen; DöV 1967, S. 116 - 124 Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Aufl. Tübingen, 4. Aufl. Tübingen/Leipzig 1901 Landshut, Siegfried: Der politische Begriff der Repräsentation; Theorie S. 482 - 497 Langner, Manfred: Recht und Praxis der Regierungsbildung im Bund, Diss. iur. Tübingen 1969 Lassalle, Ferdinand: Über Verfassungswesen, Berlin 1862, Neuausgabe Darmstadt 1957 Leibholz, Gerhard: Parteienstaat und repräsentative Demokratie; Theorie 5. 235 - 259 — Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958 — Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1960 Lenz, Carl Otto: „Ist die Freiheit des Abgeordneten veraltet und historisch überholt?"; Z. f. Pari. 1. Jg. (1969/70), S. 478 - 481 Liermann, Hans: Über die rechtliche Natur der Vereinbarungen politischer Parteien untereinander; AöR Bd. 50 (1926), S. 401 - 412 Loewenberg, Gerhard: Parliament in the German Political System, New York 1966; dt.: Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969 Loewenstein, Karl: Verfassungsrecht und Verfassungsrealität (1952, Verfassungsrecht I) ; Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 430 - 480 — Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten (Verfassungsrpcht II), Berlin/Göttingen/Heidelberg 1959 — Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1961 Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1965 — Soziologie als Theorie sozialer Systeme; KZSS, Bd. 19 (1967), S. 615 - 644 — Soziologie des politischen Systems; KZSS, Bd. 20 (1968), S. 705 - 733 — Legitimation durch Verfahren, Neuwied/Berlin 1969 Lukas, Josef: Die organisatorischen Grundlagen der neuen Reichsverfassung, Tübingen 1920
Schrifttumsverzeichnis Lutz, Rudolf: Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, Berlin 1969 υ. Mangoldt, Hermann; Klein, Friedrich: Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 2 Bde., Berlin 1964 Maier, Hans; Rausch, Heinz; Hübner, Emil; Oberreuter, Heinrich: Zum Parlamentsverständnis des fünften Deutschen Bundestages, Bonn 1969 Maiwald, Joachim W.: Zum Wesen des „verfassungsrechtlichen Vertrages", dargestellt am Beispiel der zwischenparteilichen Koalitionsvereinbarung, Diss. iur. München 1963 Majonica, Ernst: Ein Parlament im Geheimen? Zur Arbeitsweise der Bundestagsausschüsse; Bundestag S. 114 - 126, München 1969 Marcic, René: Die Koalitionsdemokratie. Das österreichische Modell im Lichte der Wiener rechtstheoretischen Schule, Karlsruhe 1966 Mathias, Erich; Morsey, Rudolf: Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18, Erster Teil, Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hrsg. von Werner Conze, Erich Mathias, Georg Winter, Band 1/1, Düsseldorf 1959 — Die Regierung des Prinzen Max von Baden, Düsseldorf 1962 Maunz, Theodor; Dürig, Günter; Herzog, Roman: Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., München 1969 Maurer, Hartmut: Hat der Bundespräsident ein politisches Mitspracherecht?; DÖV 1966, S. 665 - 675 Mayer, Otto: Das Staatsrecht des Königreiches Sachsen, Tübingen 1909 Meissner, Otto: Das Staatsrecht des Reiches und der Länder, 2. Aufl., Berlin 1923 Menger, Christian Friedrich: Zur verfassungsrechtlichen Stellung der deutschen politischen Parteien; AöR Bd. 78 (1952/53), S. 149 - 162 — Vom Werden und Wesen der Demokratie; Staats- und verwaltungswissenschaftliche Beiträge, hrsg. von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Stuttgart 1957, S. 49 - 62 Meuschel, Adelheid: Die Regierungsbildung im Deutschen Reich und seinen Ländern nach den Vorschriften der gegenwärtig gültigen Verfassungen; AöR, N F Bd. 2 (1921), S. 1 - 52 Meyer, Georg; Anschütz, Gerhard: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., München/Leipzig 1919 Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1. Aufl. 1911, Neudruck der 2. Aufl. (1925), Stuttgart 1957 Moecke, Hans Jürgen: Die Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen; NJW 1965, S. 276 - 282 — Die parlamentarischen Fraktionen als Vereine des öffentlichen Rechts; NJW 1965, S.567 - 572 — Die verfassungsmäßige Stellung der Fraktionen; DöV 1966, S. 162 - 172 Mohl, Robert v.: Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1840 — Der Gedanke der Repräsentation im Verhältnis zu dem gesamten Staatenrecht; Politik I, Tübingen 1860, S. 3 - 32
336
Schrifttumsverzeichnis
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Steiger
338
Schrifttumsverzeichnis
Scheuner, Ulrich: Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik; DöV 1957, S. 633 - 638 — Der Staat und die intermediären Kräfte; Zeitschrift für evangelische Ethik, Bd. 1 (1957), S. 30 - 39 — Parteiengesetz und Verfassungsrecht; DöV 1958, S. 88 - 99 — Vom Nutzen der Diskontinuität zwischen Legislaturperioden; DöV 1965, S.510 - 513 — Der Entwurf des Parteiengesetzes; DöV 1967, S. 343 - 345 Schindler, Peter: Eine Ehrenordnung für die Abgeordneten?; Z. f. Pari. 1971, 2, S. 153 - 159 Schneider, Hans: Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz; VVDtStrL, Heft 8, Berlin 1950, S. 21 - 54 — Die Regierungsbildung nach dem Bonner Grundgesetz; NJW 1953, S. 1330 1333 — Autonome Satzung und Rechtsverordnung — Unterschiede und Ubergänge; Festschrift für Philip Möhring, München/Berlin 1965, S. 521 - 542 Schneider, Hans-Peter: Hare contra d'Hondt?; Z. f. Pari., Jg. 1 (1969/70), S. 442 447 Schmidt-Bleibtreu, Bruno; Klein, Franz: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Neuwied/Berlin 1967 Schmitt, Carl: Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931 — Verfassungslehre, 3. Aufl., Berlin 1957 — Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, Berlin 1958 — Reichstagsauflösungen; Aufsätze, S. 13 - 28 — Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3. Aufl., Berlin 1961 Scholler, Heinrich: Widerstand und Verfassung; Der Staat, 8. Bd. (1969), S. 19 39 Schroeder, Heinrich Josef: Die Kandidatenaufstellung und das Verhältnis des Kandidaten zu seiner Partei in Deutschland und Frankreich, Berlin 1971 — Mandatsverlust bei Fraktionswechsel?; DVB1 1971, S. 132-35 — Die Abhängigkeit des Mandats von der Parteizugehörigkeit; Z R P 4. Jg. (1971), S. 97 - 99 Schüle, Adolf: Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts, T ü bingen 1964 Schulte, Manfred: Manipulateure am Werk? Zur Funktion des Fraktionsvorstandes und der parlamentarischen Geschäftsführer; Bundestag, S. 68 - 82 Schulthess 9 Europäischer Geschichtskalender, Neue Folge, hrsg. von Wilhelm Stahl, 35. Jg. 1919,1. Teil Schulze, Hermann: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I I , Leipzig 1886 Schumpeter, Joseph: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., Bern 1950 Schweiger, Karl: Die Diskontinuität der Legislaturperioden; DöV 1954, S. 161 163
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22
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Gedanken zur 15.
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Franz Hubert: Der Koalitionsvertrag, Bonn 1966
Weber, Max: Politik als Beruf, Gesammelte Politische Schriften (1921), 2. Aufl., Tübingen 1958 Wertheimer, Rudolf: Der Einfluß des Reichspräsidenten auf die Gestaltung der Reichsregierung, Diss. iur. Heidelberg 1929 Wienand, Karl: Der Partei oder dem Gewissen verpflichtet?; Die neue Gesellschaft 1970, S. 366 - 371 Winkler, Hans-Joachim: Der Bundespräsident — Repräsentant oder Politiker, Opladen 1962 Wittmayer,
Leo: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922
Wolgast, Ernst: Die Kampfregierung, Ein Beitrag zur Lehre von der Kabinettsbildung nach der Weimarer Reichsverfassung, öffentlich-rechtliche Vorträge und Abhandlungen, Heft 1, Königsberg 1929 Wolfensberger, 1923
Fritz: Die Diskontinuität der Parlamente, Diss, iur., Tübingen
Wolff, Hans J.: Rechtsgrundsätze und verfassunggestaltende Grundentscheidungen, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955, S. 33 - 52 — Verwaltungsrecht I, 8. Aufl., München/Berlin 1971; Verwaltungsrecht I I , 3. Aufl., München/Berlin 1970; Verwaltungsrecht I I I , 1. Aufl., München/ Berlin 1966 — Organschaft und Juristische Person, Bd. 2, Theorie der Vertretung, Berlin 1934, Neudruck Aalen 1968 Wollmann, Hellmut: Die Stellung der Parlamentsminderheiten in England, der Bundesrepublik Deutschland und Italien, Den Haag 1970 Würmeling, F. J.: Die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung; AöR Bd. 11 N F (1926), S. 341 - 390
aerzeichnis Achterberg 41, 51 (7), 57 (44), 58 (45), 60 (58), 65 (76) (79), 69 (8), 75 (31), 105
(1)
Adenauer 235, 236, 238, 275, 290, 311, 314, 316 Agnoli 158 (25), 157 (24), 159, 166 (50), 174 (36), 175 (39), 176, 191 (32) Albert 223, 224 Amphoux 233, 239, 241 (40), 241, 242, 247 (11), 270 (20), 288 (75), 298 (14), 313 (13), 319 (39), 320 (46) Anschütz 60, 64, 212 (4), 214, 215, 215 (14), (16) (17), 216, 216 (18), 226 (69), 233, 322 (51) Apel 113 (35) Apelt 214 (7) Arndt, Adolf 136, 326 Arndt, K. F. 33, 34 (1), 35, 35 (4), 37, 40, 40 (31), 41, 48 (61), 68, 74 (31) Arndt, Abg. d. Bt. 275 Bagehot, Walter 16, 93 Bartelt 242, 324 (57) Barzel, Rainer 291, 308 Bauer 222 Berg 136 (116), 138 Bermbach 185 (10), 193 v. Beyme 205 (5), 210, 212 (3), 221 (48), 228 (82), 231 (95), 236, 243, 245, 249, 269 (17), 285 (70), 287 (74), 316 (27) Billing, Werner 137 (119) Binding 263 (81) Blackstone 63 Blücher, Franz 314 Böckenförde 39, 41, 43, 94, 182, 284, 289 (81), 290, 295 (67), 300 (23), 311 (4), 313 (12), 313 (13), 318 Bracher 222 (52), 227 (77) Brandt, Willy 290. 291. 292, 307, 310 v. Brentano 234, 268, 314, 316 Brüning 226. 227, 228, 303 Bullinger 265 (86) Bülow 205 de Chapeaurouge 270 Ciaessens 185 (25) Coke, Lord 62 Cuno 214, 217, 223, 226, 227, 228 Dehler 131, 234, 249, 267, 268, 269, 274, 316
Dexheimer-Hartmann 112 (29) Doehring 289 (81), 297 (13) Domes 259 (57) Dreier 74 (29) Draht 185 (8), 189 (23) Duguit 207 (18) Ebert, Fr. 222, 223, 224, 226 Ehmke 175, 175 (39), 294 (6) Emde 87 (20) Erhard, Ludwig 235, 236, 238, 288, 290, 316 Erti, Eric 159, 159 (29), 166 Ewers (Abg.) 67 (84) Flohr 178 (55) Forsthoff 169 (16), 182, 286 Freitag-Loringhoven 217 (25) Friauf 265 (89) Friesenhahn 20, 287 (74), 305 (35) Fromme 225 (68) Frost, Herbert 120 (64), 123 (73), 143 Genscher 278 Gerstenmaier 238 Giese 229 230 Glum 212 (2), 215 (14), (17), 216, 227 (76), 233, 242, 246, 289 (83) Gneist 62, 62 (68), 63 Goltz, Horst 138, 138 (125) Göring 309 Gottschalch, Wilfried 157,158,159,166, 174 (36), 175 (39), 176 Grewe 268 Guizot 142, 163 (39) Habermas 178 (55) Haenel 37, 38 Hallstein 316 von Hassel 91, 95 (57) Hatschek 37, 48, 51 (8), 52, 53, 59 (50), 60, 60 (54), 62, 68, 117 (55) Hauenschild 110 (18), 113, 117 (53) Haungs 224 (63) Heller, Hermann 15, 22 (12), 175 Henke 80, 202 (66) Hennis 16 (4). 89. 93, 123 (73) Hereth 85 (12). 86 (17), 87 (19), 89, 89 (28), (30), 93 (39) Herrfahrdt, Heinrich 213 (4), 217, 220, 221, 221 (45), 222 (50), 226 (69), 268
342
aerzeichnis
Hesse 22 (12), 24, 26, 28, 181 (73), 182 Heuss 249, 270 v. d. Heydte 174 (35), 182 Hindenburg 224, 227, 228 Hitler, A. 225, 228 d'Hondt 123, 126, 128 Huber 54 (29) Jellinek, G. 26, 27, 55, 63, 69 (8), 74, 74 (31), 75 (34), 76 (37), 77, 162 (36), 171 (23), 186 John 132 Kafka 260 (63), 262 (73) Kaiser, Josef K. 174 (36) Kaiser, Jakob 314 Kaltefleiter 211 (40), 288, 288 (80), 289 (81), 305 (35), 324 (57) Katz 269, 275 Kaufmann (Abg. d. P.R.) 208 (23), 216 231, 270, 321 (47) Kelsen, Hans 56 (37), 156 (15), 157, 159, 161 (33), 162 (36), 168 (10), 168 (6), 174 (35) Kewenig 123 (73), 133, 134, 139, 139 (131), 260 (64), 265 (87) Kiesinger, Kurt-Georg 235, 236, 238, 248, 252, 258, 275 Kimminich 289 (81) Kirchheimer 176, 176 (46), 178 Klein 60, 67, 233, 244, 247 Röttgen 72, 77, 182 (79) Kreuzer 136, 137 Kriele 201 (62), 202 (65) Krone 238 Krüger 38 (24), 39, 39 (26), 70, 194 (47) Küchenhoff, Erich 244, 276, 278, 279, 280, 281, 281 (60), 282, 283, 284 Laband 37 (16), 43 (47), 55, 63, 75 (34), 188 Laforet 269 Langner 117 (54), 250, 254 (35), 261 (69), 319 Lassalle, Ferdinand 28 Leibholz 167, 168, 169, 175 (41), 176, 180, 184, 185, 186, 193, 199 Liermann 255 (38), 259, 263 Lipset 178 (55) Loewenberg 86 (16), 118, 119,143 (145), 233 Loewenstein 25 (19) Lübke, H. 239 (33) Luhmann, Niklas 27, 161 (32), 163 (39), 163, 164, 174 (35), 177 (52), 178, 178 (55), 179, 182 (79), 185 (25), 190 (27), 191, 195 Luther 223, 225 Lutz 299
MacMahon 207 Majonica, Ernst 143 (145) v. Mangoldt 233, 244, 268 V. Mangoldt-Klein 81, 248 (16), 299, 305 (35), 307 (41) Marcic 254 (36), 261, 262, 262 (74) (76), 263 (77) (81) M a r x 223, 224, 225 Maunz 50, 60, 67, 233 Maunz-Dürig-Herzog 113 (45), 121 (67) Maier 16 (4), 96 (48) Mellies 275 Mende, Erich 238, 314, 316, 317, 318, 325 Menger 156 (19), 169 (16), 182 v. Merkatz 275 Meuschel 213 (4) Meyer-Anschütz 54 (28), 55 Mirabeau 52 Moeke 114 (47) v. Mohl, Robert 21, 59 (45), 62 Mokre 45 (54), 46 (55) Mommer 278, 286 Montesquieu 51 Müller, Hermann 221, 222, 227 Müller, Chr. 168, 168 (6), 172 (26), 174 (35), 186, 188, 190, 137 (52), 198, 202
(66)
Müller, K. 58 (45), 61, 63, 64, 66 (81) Münch 241 (40), 246, 275 Mußgnug 137 (122), 138 Nawiasky 230 Noske 222 Nörr, Dieter 46 (56) v. Papen 225, 228, 305 Pereis 37 (16) Preuß, Hugo 206, 207, 208 (22), 209, 210, 211, 212, 213, 214, 216, 225, 230, 267, 287, 289, 304 Rasner 118, 119 Radbruch 171 (23) Redslob 206, 207 (16) (18), 208, 209, 210, 211, 230, 304 Revermann 213 (4) Ritzel-Bücker 91 (32) v. Rönne 55, 62, 62 (68), 66 Rothenbücher 216 v. Rotteck 55 Rousseau 156, 162 Sattler 276, 277, 280, 289 (83) Sasse 254 (36), 257, 260 (64), 262 (74) Savigny 45 Schäfer, F. 16 (4), 17 (7), 47 (58), 100 (61), 112 (33), 113 (38), 118, 126, 128 (91), 137, 143, 148, 233, 247
aerzeichnis Schäffer, Julius 314, 315, 316 Schatz 111 (22). 112 (26) (27), 113 (38) Scheidemann 222 Scheicher 213 (4) Scheuner 63, 65, 66, 172 (26), 174 (35), 207 (18), 217, 225, 307 Schleicher 225, 228 Schmid, Carlo 269 Schmitt, Carl 77, 87 (21), 88, 85, 153, 153 (4), 154, 155, 155 (13), 156, 156 (19), 159, 161 (33), 167, 168, 175 (41), 184, 186, 188, 189, 189 (23), 193, 208 (23), 210 (35), 217, 218, 219, 220, 254 (38), 258 (55), 259, 268, 304, 306 Schneider, Hans 41, 42, 42 (42), 50, 181 (69), 233, 243, 291 (92), 294 (4) Schneider, Hans-Peter 126 (82) (84) Schröder, Gerhard 132 Schuberth, Dr. 316 Schüle 251, 253 (30), 254, 255, 256, 257, 258, 260, 263 (82), 322 (51) Schulte 100 (61), 111 (26) Schulthess 222 (50) Schumann 84 v. Seydel 54, 55, 188 Siegfried 201 (62) Sieyès 51 f. Sobolewski 177,178,178 (55), 196,197 Stahl, Friedr. Julius 62, 64 (75) Starke, Dr. 316 Stegerwald 223 Steiger 173 (33) Sternberger 321 (47) Strauß, Fr.-J. 316, 327 Stresemann 221, 222, 223, 224, 226
343
Stuby 158 (25), 176 (44), 193 (40), 201
(61) Tartarin-Tarnheyden 71 (18) Thudichum 62 Trautmann 174 (34), 192 (33), 194 (45),
201 (61) (62)
Triepel 168 (10), 174 (35), 263 (81) Trossmann 60 (54), 246, 247, 271, 309, (41) Tsatsos 201 (62) Ule 253 (35) Vaerst 170 (16) Wagner 25, 25 (19), 26, 26 (22) Waldecker 229 Wahl 28 (30), 40 (33), 44 (49) Weber-Timmermann 257 Wehner 278 Wertheimer 213 (4), 222 (54) (56), 224, 227 (76) Wildermuth 317 Wischnewski 317 Wittmayer 216 (20), 217 (25) Wolgast 212 (4) Wolfensberger 58 (47), 59 (50) (51), 64 (72) Wolff, Hans J. 38, 40 (33), 48, 48 (61), 50, 56, 58 (45), 72, 73, 73 (25), 74, 76, 77, 79, 115 (47), 147 (154), 193 Würmeling 213 (4) Zorn, Philipp 27 (25) Zundel, Rolf 185 (10)
Sachwortverzeichnis Abgeordneter 67 - 81, 184 - 202 — Amt 192 Recht auf Versehung des Amtes 125 — Amtswalter 68, 200 — Amtswaltergrundverhältnis 71 ff. — Amtswalterverhältnis 40, 74 ff., 191, 201 — Amtszuständigkeiten 70 — Aufträge vom Wähler 199 — Ausschußarbeit, Ausschluß von 76 — Berufspolitiker 71 — Entscheidungsprozeß, Stellung im 124, 193, 199 — Fraktion, Ausschluß aus 200 — Fraktionsmitgliedschaft 109 — Fraktion, Stellung in 201 — Fraktionswechsel 109 f. — Gewissensfreiheit 80 — Immunität 78 — Indemnität 78 — Inkompatibilitäten 71 — Interessen Vertreter 179 — Kontrollpflicht 86 — Organ 81 — Organstreitverfahren 76 — Organwalter 56, 67 — Organwalterverhältnis 40, 68, 76 — Partei, Zugehörigkeit zu einer 199 — Rederecht 75, 98 f. — Status 74 — Statusverhältnis 76 ff. — Teilnahmepflicht 82 f. — Volk, Verbundenheit mit 193 — siehe auch Abgeordnetenamt, Repräsentant Abgeordnetenhaus 79 f. — Beginn der Ausübung 253 — Fraktion 200 — Funktionswandel 72 — Partei 200 Abgeordnetenmandat, Amtscharakter 40 Abstimmung 90 — Abstimmungsanlage 104 — Auszählung 101, 103 — Beschlußmehrheiten 102 — Fragestellung 103 Formulierung 103 Teilung 103 — geheime 103
— namentliche 101 — Regeln 70 — Stimmenthaltung 102 — Wiederholung 104 Ältestenrat 34, 81, 100 — Funktion 118 f. — Organ des Bundestages 118 f. — Tagesordnung des Bundestages 90 f., 92 — Vereinbarungen 36 f., 90 f. — Zusammensetzung 117 f. — Zuständigkeiten 118 Amt — Begriff 70 — Recht und Pflicht zum 79 Amtsverwaltung, demokratische 248 Amtswaltergrundverhältnis — Kriterien 72 ff. — Repräsentantenverhältnis 73 Anfragen, große 97 Anhörungen, öffentliche 143 ff. Argumente, formal juristische 278 Auftrag an Gewählte 178 Auflösung 289, 303 ff. — Automatische bei Mehrheitswechsel durch Fraktionswechsel 109 f. — des Bundestages 1972 307 f. — Ermessen des Bundespräsidenten 310 f. — Initiative 305 — Kampfmittel 303 — Kritik des Artikel 68 GG 307 f. — ministerielle 218, 219 f. — präsidentielle 218 — des Reichstages 209 f., 224 — Selbstauflösung 284, 304 — Vereinbarung 307 f. — Verteidigungsfall 303 siehe auch Auflösungsrecht Auflösungsrecht 217, 269, 272, 298 — Artikel 68 GG 305 ff. — Kampfmittel 306 f. — Konstitutionelle Monarchie 304 — ministerielles 306, 307 — présidentielles 307 — des Reichspräsidenten 215, 218 Ausnahmefall 277, 294, 296 Ausschuß 68, 119 - 147, 198 — Auflösung 123
Sachwortverzeichnis
souverän 17, 285 Stellung 15 ff., 24, 165 Verfassungsorgan 32 Teilung in Regierungsmehrheit — Opposition 83 f. — Zuständigkeiten 21, 56, 70 Brauch, parlamentarischer 322 — siehe auch Parlamentsbrauch, Konventionalregeln Bülow-Block 205 Bundeskanzler — Abwesenheit 301 — Beendigung des Amtes 366 — Entlassung 272, 292 f. — Ernennung 292 ff. — Exekutive 320 — Geschäftsführender Kanzler 298 ff., 307 — Koalitionsabreden, Bindung an 259 ff. — Kabinettsbildungsrecht, materielles 317 f., 320 — Konflikt mit Bundestag 273 — Mißbilligungsantrag 274 — Neuwahl Artikel 68 GG 272, 309 — Organisationsgewalt 318 — Rücktritt 276, 290, 306, 307 — Rücktrittsoflicht 269, 272 — Selbständigkeit, organisatorische 328 — Sturz 264, 267 — Vakanz 280, 298 — Wahl 232 - 265 Wahl durch den Bundestag 18 ff., 203, 232, 237, 244, 245 f., Beratung 94 247 f., 298, 303 — Gesamtdauer 98 Aussprache 247 f. — Öffentlichkeit 87 ff., 90 Legalitätsreserve 249 — Wiedereröffnung 100 Koalitionsabmachungen 240 Beschlußfähigkeit 101 ff., 246 Verfassungstreue des KandidaBeschlußunfähigkeit 83 ten 239 Verteidigungsfall 248 f. — Aktzentrum 19 Voraussetzungen des Kandida— Arbeitsteilung, innere 124 ten 238 — Beschlußfassung 282 Vorschlag 255 — Bundeskanzler 264 Vorschlagsrecht 249 f. — Bundesregierung 84, 134 f. Vorschlaffsrecht der Abgeord— Führungsanspruch 285 neten 246 f. — Funktionswandel 72 Vorschlagsrecht des Bundes— Körperschaftliches Kollegialorgan präsidenten 232 - 244 20, 50, 105 — Wahlerfolg 236, 240 — Kontrollbefugnisse, — Hechte 284, Bundespräsident 321 — Auflösungsrecht des Bundes— Kontrollmittel 281 tages 303, 309 — Kontrollvorrang 276 f., 278 ff., 284 — Autorität 288 — Kreationszuständigkeit, — Recht — Bundeskanzler, Entlassung, -srecht 303, 321 303, 302 f. — Organ 56 — Bundeskanzler, Ernennung 203, — Organkontinuität 66 293, 298 — Rechtscharakter 50 ff. t — Gesamtinteresse 288 — Reform 144, 158 — — — — — — — — — —
Befassungsrecht 121, 130 ff. Beratung 140 Beratungspflicht 129 Bericht an das Plenum 97, 143 f. Bildung 120 Bundesrat 120 Bundesregierung 120, 133 Delegation vom Plenum 136, 139 Einrichtung 106, 121 f. Entscheidungsbefugnis, selbständige 135 — Funktion 143 — Geschäftsbereich 121 — Größe 123 f. — Mitglieder 126 f. Benennung 126 Fachleute 127 Interessen Vertreter 127 — Öffentlichkeit 88 — Organ des Bundestages 147 — Organteil des Bundestages 146 f. — Plenum 133 — Sitze, Verteilung 123 — Verfahren 88 — Vorlagen 121 _ Vnrqi+T 115, 128 f., 129 — Zahl 121 Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten 120, 135 Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität 121, 135 Ausschuß für Verteidigung 120, 135 Autorität 248
— — — —
345
346
Sachwortverzeichnis
— — — — —
Hüter der Verfassung 294, 296 Kompetenzbereich 296 Krisenlösung 277 Minister, Auswahl der 316 Ministerernennung, Prüfungsrecht 324 — Neutralität 288 — pouvoir neutre 289 — Prestige 240 — Regierungskrise 269, 288 — Schiedsrichter 242 — organschaftliche Stellung 297 — Vorschlag zur Wahl des Bundeskanzlers 232 - 244 Bindung 232 f. Ermessen 239 f. Frist 237 Krise 237 Bundesrat — Anhörung im Bundestag 94 — Antragsrecht im Bundestag 95 — Teilnahme an Ausschußsitzungen des Bundestages 140 Bundesregierung — Anhörung im Bundestag 94 f., 97 f. — Antragsrecht im Bundestag 95 — Bildung 311 - 328 siehe auch Regierungsbildung Bundestag 50 - 67 — Bundestag 84 f., 93 — ,,Bundestagsausschuß" 324 — Funktionsfähigkeit 300 f. — Handlungsfähigkeit 294 — Organisationsgewalt 318 — Kontrolle durch den Bundestag 85 — Leitungskollegium 311 — Rederecht im Bundestag 94 f., 99 — Organisatorische Selbständigkeit 328 — Teilnahme an Ausschußsitzungen des Bundestages 140 — Zusammensetzung 300, 316 — Zuständigkeiten 300 s. a. Regierung CDU/CSU-Fraktion 235 f. Charte 52 f. Constitutionelle Theorie 42, 51 f. Daily-Telegraph Affaire 205 Demokratie 153 - 167, 248 — Direkte 159 - 167 — Formale 157 — Indirekte 159 - 167 — Materiale 157, 158 — Parteiendemokratie 288 — Plebiszitäre 168 — Reale Erscheinung 159, 169 — Repräsentativ parlamentarische 15 f., 72 f., 97 f., 193, 208, 250, 278
— Staatsform 152 — Unmittelbare 156,157,165, 185 Diktatur 211 Diskontinuität 57 - 67 — Organschaftliche Kontinuität 58 f. — Legislaturperiode 65 — Monarch, Schließung der K a m mern 61 ff. — Persönliche 58, 64 — Sachliche 58, 59 ff. — Ständeversammlungen 64 — Sitzungsperiode 58, 61 — Verfassungsrechtscharakter 60 ff. Dualismus — Grundgesetz 233 — Organisatorischer 210, 211 — Reichspräsident — Reichstag 230 Ehrenordnung 78 Einheit, politische 154, 162, 194 Emanzipation 159, 166 Enauête-Kommission — Bildung 147 f., 150 — Funktion 148,151 — Kulturpolitik, auswärtige 148, 150 — Mitglieder, Stellung 149 — Rechtsstellung 149, 151 — Verfassungsreform 149, 150 f. — Zusammensetzung 147, 150 Entscheidung — Anerkennung durch Entscheidungsemofänger 192, 195 f. — Begriff 148 — Gesetz 153 f. — Legitimation 192 — Mittelbarkeit 161 f. — Richtigkeit 87, 194 — Staatliche 72 — Verbindlichkeit 255 — Vertragliche Konsensbildung 190 — von Ziel- und Zweckkonflikten 190 Entscheidungs- und Wirkungseinheit 15 Entscheidungsfunktion 155, 168 — des Bundestages 186, 189 f. — Teilhabe 162 — der Volksvertretung 192 Entscheidungsmacht, Monopol des Staates 172 Entscheidungsorgan, Bundestag 188 Entscheidungsprogramme 164 Entscheidungsprozeß 17, 25, 87 f., 185, 187, 194, 243 — Einfluß der Fachleute 127 f. — Teilhabe 166 — Verfahren im Bundestag 20 f. Entscheidungssystem, Verfassungsrecht 243 Executive 284, 320
Sachwortverzeichnis Fachbereiche 90 f. Fragerecht 32 Fraktion(en) 34, 81, 107 - 117, 200, 221 — Abgeordneter 100 — Abgeschlossenheit 216 — Antragsrechte im Bundestag 116 — Arbeitskreise 91, 112 f., 125 — Aufsicht des Bundestages 107 — Ausschüsse Anspruch auf Beteiligung 124 f. Benennung der Mitglieder 126 f. Stellenanteil 123 f. Funktionaler Vorrang 107 — Begriff 107 f. — Bindungswirkung der Beschlüsse 125 — Entscheidungsprozeß des Bundestages, Stellung im 125, 198 — Originäre Einrichtung des Bundestages 106, 108 — Geschäftsordnung 75, 112 f. — Kanzlerkandidat, Auswahl des 241 — Koalitionsverhandlung, Partner 256 ff. — Körperschaftliche Gliederung des Bundestages 68 — Minister, Auswahl der 226, 316 — Ministerien, Bildung der 315 — Mitglieder 108 Aufnahme — Ausschluß — 109 f. — Organ des Bundestages 115 f. — Organteil des Bundestages 117 — Innere Organisation 117 ff. — Partei 181 ff. — Rechte im Bundestag 200 — Regierungsbildung 214, 313 ff. — Reichskanzler, Bestallung des 216 — Ressortbesetzung — Weimarer Republik 226 — Stellung 257 — Tätigkeiten 255 — Vollversammlung 91, 112, 125 — Vorsitzender 111 — Vorstand 91, 111 f. — Zuständigkeiten 115 Fraktionsdisziplin 113, 201, 292 Fraktionsstärke 104, 108 Fraktionsvorsitzende, Zusammenkünfte 253 Fraktionszwang 113 f., 201 Freiheit 15, 156, 163, 173, 285 Führungsanspruch, Bundestag — Bundesregierung 93
Gesamtinteresse 288 Gesamtwohl 220 f. Geschäftsführer parlamentarischer 99, 100 Geschäftsordnung 31 — Bundestag 34 - 48 — geschriebene, Rechtscharakter 34 ff., 37 ff. — Satzung 41 f. — Verfassungssatzung 43 Geschäftsordnungsautonomie 21, 42, 81, 98 Geschäftsordnungsreform 21, 35, 81, 84, 89 f., 91 Geschäftsordnungsrecht 71, 97 Gesetz 31 — Entstehung 216 — Formelles 33 — Funktion 153 f. — Genese 262 — Materielles 33, 38 — Rechtssatz 38 — Überprüfung 296 — Vorbehalt 33 — Vorrang 33 Gesetzesbeschluß 64, 68, 254 Gesetzgebung 19, 89, 156, 188 f. — Begriff im 18./19. Jahrh. 51 f. — Entscheidung von Problemen 189 — Initiativrecht 66 — Organisationsrechtliche 318 — Regierungsmehrheit — Opposition 85 Gesetzgebungsfunktion 32 Gesetzgebungsnotstand 272 f., 283, 289 Gesetzgebungsstaat 219 Gestaltung 68 Gestaltungsspielraum 265 Gewalt, verfassungsgebende 53 Gewaltengliederung 32 Gewaltenteilungsprinzip 134 Gleichartigkeit 154 s. a. Homogenität Gleichgewicht 211, 212, 305 — Regierung — Parlament 206 — Reichspräsident — Reichstag 304 — Staatsoberhaupt — Volksvertretung 25 Gleichgewichtstheorie 230 „Gouvernement de l'Assemblée" 207 Große Koalition 158, 253, 257, 260 Grundentscheidungen, verfassunggestaltende 23, 31, 194, 264 Grundrechte 194 Gruppen im Bundestag 125
Gegenzeichnung 204 Gemeines Wohl 173 Gemeinsamer Ausschuß 83, 135, 249, 266, 293
Haushaltsausschuß 121 — Entscheidungen im Haushaltsvollzug 135, 137 f. Haushaltsgesetzgebung 20
348
Sachwortverzeichnis
Handelspolitischer Beirat 134 (108) Herrschaft 155 Homogenität 159, 165 s. a. Gleichartigkeit Hüter der Verfassung 294, 296 Idee und Wirklichkeit 157 Identität 154 f., 162, 167 f., 180, 184 f., 218 s. a. Demokratie Immunität 139 f. Industriegesellschaft 163, 165 Initiativrecht 34, 63, 65, 66 Innendifferenzierung 164,178 f., 190 f., 192 Interessen 145 — Ausgleich 166 f., 175, 191 — Fundamentale 195 — Vermittlung 166, 174 Interessentendruck, Regierungsbildung 314 Interpretation 160, 242, 243, 294 f. s. a. Methode Kabinettsbeschluß 259 Kabinettsbildung, Weimarer Republik 213 Kabinettsorinzip 218, 259, 300 Kaiser, Abberufung des Reichskanzlers 204 f. Kampfkabinett 209, 212, 293, 304 Kampfregierung 215, 241, 265 Kandidatenaufstellung 180 Kanzleramt 315 Kanzlerkandidat — Benennung 1966 290 f. — Präsentation an Bundespräsidenten 235 — Verfassungstreue 239 — Wahlergebnis 240 Kanzlerprinzip 300 Kanzlersystem 218 Kanzlerwahl 236 Kanzlerwechsel 235 s. a. Bundeskanzler Kapitalismus 158 Klasse 157 Klassenantagonismus 166 f. Klassengegensätze 166 Klassenkampf 159 Klassenkräfte 169 Koalition — Umsturz 264. 311 — Bruch 254, 288 Koalitionsabkommen, BadenWürttemberg 1968 257 Koalitionsabmachungen 261 ff. Koalitionsabreden 318, 322 — Ausübung der Staatsgewalt 253
— Bildung der Koalition 252 — Bindung 323 — Klage aus 262 — Partner Bundeskanzler 258 f. — Regierungsbildung 317 — Verbindlichkeit 259 Koalitionsabsprachen 250 - 265 — von 1961 und 1962 251 f., 275 — Abgeordnetenamt 254 — Amtshandeln 254 — Ausübung staatlicher Funktionen, von Staatsgewalt 254, 256, 260 — Beachtungspflichten 260, 265 — Befolgungspflichten 260, 265 — Bindungswille 254, 260 — Politische Gebundenheit der Organwalter 259 f. — Gesetzesbeschluß 254 — Partner 255, 256 //. — Regierungserklärung 252 — Tätigkeit der Staatsorgane 252 — Willensbildung, staatliche 254 — Vertrag 254, 261 — Vorhaben 254 Koalitionsausschuß 253 Koalitionsbildung 216, 244, 254 Koalitionspartner, Seitenwechsel 311 Koalitionsvereinbarung, Bruch 260 Koalitionsverhandlung 221, 229, 253 — Kanzlerkandidat 235, 238, 240 Koalitionswechsel 291 Koalitionszerfall 290 Körperschaft — Begriff 51 ff., 56 ff. — Kollegialorgan 57 — Trägerschaft 57 Kommunikation 141, 163,166, 173, 178, 192, 194, 195 Konflikt 178 Konsens 195 Kontaktausschuß für Deutschlandpolitik 134 (108) Kontrolle 19, 68, 133, 138, 143 s. a. Bundestag Kreationsakt 68 Legalitätsbegriffe 219 Legislaturperiode 82 Legitimitätsgrundlagen 210 Macht — gesellschaftliche 157 — politische 158 — staatliche 175 — Teilhabe 163 Machtausübung 286 Magistraturgeschäfte, Voraussetzung 257 Mandat
Sachwortverzeichnis — freies 80, 141, 163, 167, 184 - 202 Abgeordnetenrolle 199 Personelle Bindung 191 Entscheidungsfunktion des Bundestages 192 Kommunikative Funktion 192 Organisatorische Funktion 188 ff. Parteienstaat 184 f. Parteizugehörigkeit 198 Ständeversammlung 186 — Gebundenes 193 — Imperatives 163, 190, 197, 198 s. a. Abgeordnete Mandatsverlust 201 ff. Mehrheit 83, 214, 219, 225 — Abwechslung 214, 219 — kleine 284 — negative 278, 279 — positive 310 f. — regierungswillige 287 — Regeln 70 Mehrheitsprinzip 196 Mehrheitsregierungen 222, 224 Mehrheitsverhältnisse des Bundestages 242 s.a. Bundestag Mehrheitszerfall 303 Meinungsfreiheit 163 Methode 28 f., 282 s. a. Interpretation Minderheit 83 — Legitimitätsreserve 289 s.a. Opposition Minderheitskanzler 298, 305 Minderheitskabinett 249 Minderheitsregierung 219, 241, 267, 268, 283, 289, 290, 305 s. a. Kampfkabinette Minderheitenrechte 82 Minister — Behördenchefs 312 — Berufung 311 — Ernennung 324 — Bundesminister — Geschäftsbereich 315 — Mißbilligung durch den Bundestag 274 f., 325 ff. — Mißtrauensvotum 325 — Mitglied der Bundesregierung 312 — Parteiführer — Repräsentanten 322 — Portefeuilles, Verteilung 213 — Verantwortlichkeit 292 — Vertrauen des Bundestages 292 Ministerien — Organisatorische Errichtung 311 — Fachministerien 313
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— Kompetenzverteilung 315 — Ressortbesetzung 226 Ministerposten, personelle Besetzung 322 Ministerpräsident (Preußen) 229 Mißbilligung 273 ff. — konkrete 326 — Minister 275, 325 ff. Mißbilligungsbeschlüsse 275, 327 Mißbilligungsvotum 276 f. Mißtrauen, allgemeines 208 Mißtrauensantrag 287 Mißtrauensvotum 219, 220, 222, 225, 267, 268, 278, 284 — destruktives 274 — gegen den Kanzler 290 — ohne Kanzlertausch 283 — Konstruktives 229, 266 - 270 1972 291, 308 Antrag 270 Krisenlösung 290 Kritik 287 ff. Politische Stabilität 291 — gegen Minister 325 — Unzulässiges 276 Mitwirkungsrechte 321 Monarchie, konstitutionelle 97, 204 Monarchisches Prinzip 53 f., 189 Neuwahlen 206, 228, 268, 284 — des Bundeskanzlers 306 — des Bundestages 1972 307 f., 310 Normenexegese 243 s. a. Interpretation, Methode Notstandsverfassung 38 Notverordnungsrecht 210, 227 Obstruktion 102, 219, 246 öffentliche Meinung 196 Öffentlichkeit 163, 248 — Ausschußberatung 88, 141 f. — Plenumberatungen 87 f. Oligarchie 163, 169 Opposition 82 f., 89, 214, 269, 284, 288, 290, 305, 308 — außerparlamentarische 158 s. a. Minderheit Oppositionsparteien, Regierungsbildung 224 Organisation 17, 160, 174, 285 Organisationsgewalt 318 ff. Organ(e) — Begriff 146 — Bildung 15 — Handeln 70 — Legitimitätsanspruch 286 — Wille 70 — Zusammenwirken 285 Organklage 243
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Sachwortverzeichnis
Organteile 105 Organwalter 39, 163, 263 f. Parlamentarischer Hat 268, 273 Parlament — Repräsentation — Fiktion 156 — Sekundärorgan 196 — Staatsoberhaupt 206 — positiver Wille 287 s. a. Bundestag, Volksvertretung Parlamentarisches System 89,152 202, 276 f., 279, 319 Parlamentarismus 153, 156, 189, 218 — echter 208 — der konstitutionellen Monarchie 204 — konstitutioneller 283 — Kritik 158 — negativer 204, 208, 231, 267 — organisatorischer Notbehelf 157 — positiver 203, 231, 267, 284 — unechter 206, 208 — Theorie 16 — wahrer 206 Parlamentsbrauch 48 f., 100 — Verfahren d'Hondt 123 s.a. Geschäftsordnung Parlamentsrecht 34 - 48, 71, 274 — „eigenerzeugtes internes Organrecht" 44 f. s. a. Geschäftsordnung Parlamentssystem 280 Parteien 152, 167 - 183 — Bedürfnis- und Interessenträger 174 f. — Betraute 182, 198 — Eingliederung in Staatsapparat (-Organisation) 182, 231 — Funktion 168, 169 ff., 198 — Handlungsgefüge 174 — Identität mit dem Volk 199 — Koalitionsverhandlungen, -Partner 256 ff. — Mitglieder 176 — Mitwirkung an Willensbildung 180 — Staatliches Organ 170 — Präsentationsrecht für Bundestagskandidaten 180, 200 — Präsentation des Kanzlerkandidaten 235 — Partikularinteressen 270 — Prozessuale Stellung 170 — Programme 176 f., 254 — Rolle 217 — Totalität 219 — Verbände 175 — Verhärtung, dogmatische 207 — Vermittlung 177,181
— Vorbereitung staatlicher Entscheidungen 181 — Weimarer Reichsverfassung 211 — Plebiszitäre Zustimmung 178 s. a. Fraktion, freies Mandat Parteiengesetz 180 Parteienherrschaft 230 Parteienstaat 167 - 183, 215 — freies Mandat 186 — imperatives Mandat 185, 189 — parlamentarischer 255 — Weimarer Republik 216 Parteitag, Mehrheitsbeschlüsse 193 Petitionsausschuß 121 Plenum 68, 81 - 104 f 105, 198, 199 — Entscheidungsgremium 136 — Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung 139 — Mitarbeit der Abgeordneten 125 — Mitgliederversammlung der Körperschaft Bundestag 81 — Übertragung von Aufgaben auf und Verhältnis zu Ausschüssen 130, 136 — Zusammentritt 82 s. a. Ausschuß, Bundestag, Öffentlichkeit Pluralismus 166, 219 Politisch 171, 173, 250, 262 — politische Funktion des Rechts 281 f. pouvoir neutre 217 Präsentationskapitulationen des Bundeskanzlerkandidaten 244 Präsidentschaftsrepublik 215 Présidentielles System 218 Präsidialkabinett 225 ff., 297 Praxis 243 Pressefreiheit 88 Produktionsmittel, Verfügung über 158 Publikum 174 Rätedemokratie 157, 159, 163, 166 Recht — Organisatorisches — Funktion 47 — Politische Funktion 281 f. — Gestaltungswirkung 23 f. — Ungeschriebenes 31, 45 - 48 Ernstbegehren 46 ff. Funktion 46 Historische Rechtsschule 46 — Zweck — Mittel 39 — Vermittlung 281 Rechtsausschuß 275 f. Rechtsgrundsätze, allgemeine 31, 194 Rechtliche Normen 24 Rechtskonzept, soziales 15, 22 Rechtsquellen 31 - 34
Sachwortverzeichnis Rechtssatz — Begriffe 37 ff. — Brauch, Abgrenzung 45 — Organisatorischer — Funktion 15 — Verfassungsrechtliche Funktion — Organisatorische Regelung 39 Rechtsstaat 286 Rechtsstellung, Relativität 105 Rederecht 34 s. a. Abgeordneter Redezeit 98, 99 — Vereinbarung der Fraktionen 100 Rednerfolge 94, 95 f. — Regierungsmehrheit — Opposition 96 f. — Vereinbarungen im Ältestenrat 119 Regierung — Ausschuß des Reichstages 230 — Geschäftsregierung 300 — Geschäftsführende 225, 268, 290, 307 — Vertrauen des Bundestages 66 — auf Zeit 268 s. a. Bundesregierung Regierungsbildung 100, 216, 221, 224, 243, 276, 280, 287, 288, 311 - 328 — 1949 313 — 1953, 1957 314 f. — 1961, 1966, 1969 315 — Einfluß des Reichspräsidenten 214 — Fraktionen 223 — Mehrheit im Bundestag 267, 289 — Initiative 222 ff., 226, 236, 244 f. — Interessentendruck 314 — Koalitionsabreden 317 — Organisatorische 313 f. — Personelle 313 f. — Praxis 344 — Regelung, juristische 243 — Reichstag 223 — Verhandlungen zur 244 — Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers für Minister 317 — Zuständigkeit des Bundestages 319, 320 f. Regierungserklärung 97, 255 Regierungsfraktionen 93, 307 s. a. Fraktion, Mehrheit Regierungsfunktion 32, 311 — Kontrolle 264 — Mitwirkung des Bundestages 19 f., 86, 133 f., 143 f., 264, 319 Regierungskrise 277, 283, 290 Regierungsprogramm 253 Regierungsprozeß 197 Regierungssystem 165 Regierungsvorlage 97 Regierungswechsel 66, 287 s. a. Bundesregierung, Sturz
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Reichskanzler 204, 210 f. — Berufung 204 — Rücktrittspflicht 219 — Tolerierung durch Reichstag 219, 227 — Vertrauen des Reichstages 206 Reichspräsident 207 - 212 — Auflösung des Reichstages 209 f., 218 — Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers 211, 226 f. — Hüter des Gemeinwohls 220 f. — Legalitätsklammer, Legitimitätsreserve 228 — Parteien 217 — Volkswahl 205 — Zusammensetzung des Kabinetts 227 — Zuständigkeiten 210 Reichstag — Auflösung durch Reichspräsident 212 — Geschäftsordnung 59 — innere Geschlossenheit 211 — Körperschaft 55 — Organ der Staatsgewalt 54 ff. — Regierungsbildung 214 — (Kaiserreich) Einfluß auf Berufung des Reichskanzlers 205 — Versagen 230 — Vertrauen für Reichskanzler 210, 211 — (Kaiserreich) Vertrauen für Regierung 205 Reichsverfassung von 1871, Änderung V. 28.10.1918 205 Reichsverfassung v. 11. Aug. 1919 215, 216 Repräsentant 73, 154, 191 s. a. Abgeordneter Repräsentation 44, 153 ff., 170 ff., 177, 180 — genuine 193 — Handlungsprozeß 194 f. — Interessen 168, 193 — freies Mandat 184 f. — mediatisierte 193 — Prozeß 187, 197 — Prozeß der Angleichung 196 f. — Theorien 187 ff. — Verbundenheit 193 f. — Vertretung 156, 186 — Werte 193 — vulgarisierte 193 Repräsentativ parlamentarisches Regierungssystem 152 - 202 Repräsentativversammlungen 188,191 Ressort 250 Ressortprinzip 300
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Sachwortverzeichnis
Richtlinien der Politik 204, 288, 299, 301, 305 Schluß der Debatte 98 Selbstbestimmung, demokratische 161 Selbstversammlungsrecht 61 Senat der USA 98 Sicherheit 173 Sitzungsperioden 82 Sitzungstermine 90 Sonderausschuß 122 Sonderminister 311, 314 Souveränität der Volksvertretung 189 s. a. Bundestag Spätkonstitutionalismus 55 Staat — politische Einheit des Volkes 170 — „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" 15 — parlamentarisch-demokratischer 312 — pluralistischer 289 — politisch-rechtliche Existenzform 160 — Formprinzipien 160 — politisches System 27, 164 — moderner 15 Staatsapparat 164 Staatseinheit 289 Staatsform 32, 152, 192 Staatsgewalt 50 — Ausübung 15, 17, 21, 152, 160, 161, 185, 192, 241, 260 — Bundestag 21, 188 — Fraktion 185 — Koalitionsabsprache 256, 260 — Legitimation 161 — Organisation 17, 152, 160 — Planung 260 — Träger 53 f., 55, 57, 94, 161, 192, 304 — Zuständigkeit 38, 284 Staatsgewaltfunktionen 17, 321 Staatshaupt 289 s. a. Bundespräsident, Reichspräsident, Staatsoberhaupt Staatsnotwehrrecht 297 Staatsoberhaupt — Parlament 206 — Stellung 217 — Volksvertretung 203 s. a. Bundespräsident, Reichspräsident, Staatshaupt Staatssekretäre, parlamentarische 311 Stände Versammlung 191 Ständiger Ausschuß 120, 135 Status 77 f.
Stimmabgabe, Koalitionsabsprachen 255 f. System, politisches 27, 164 Tagesordnung — Aufstellung 90 f. — Plenum 82 — Vereinbarungen im Ältestenrat 118 f. Unterhaus 93, 191 Untersuchungsausschüsse 120 Verantwortlichkeit, Regierung — Volksvertretung 204 Verbände 179 — Mitwirkung in Ausschüssen 140, 145 f. — Parteien 175 Verfahren 23, 243, 286 — des Bundestages 179 Verfahren d'Hondt 126 — Verteilung der Ausschußsitze 123 — Verteilung der Ausschußvorsitze 128 Verfassung 38, 53 Verfassungsgesetz 23, 31, 285 f. Verfassungsordnung 152, 294, 295 Verfassungsorganisationsrecht 23, 32 Verfassungsrecht 22 - 29 — Beweglichkeit 23 — organisatorisch 15 — politische Praxis 22 — Starrheit 23 — Verfassungsrechtswirklichkeit 24 ff., 28, 86, 187 — Verfassungswirklichkeit 28, 242 — politisches Wesen 285 f. — Wirklichkeit 22, 25, 28, 243, 321 — Zuständigkeitsregelungen 275 Verfassungsrechtswandel 27 Verfassungstradition 15 f., 96 Verhaltensordnung 78 f. Verhandlungen 244 Vermittlung 162, 173 Verteidigungsfall 83, 302 Vertrauen — des Bundestages für Bundeskanzler 301 — Gewährung 387 — des Parlaments 267 — des Reichspräsidenten 227 — des Reichstages 222, 226 — Unterstellung 223 — Vermutung 218 f. — Wegfall 287 Vertrauensfrage 270 ff., 307, 309, 310 — selbständiger Antrag 271 — Beschlußfähigkeit 271
Sachwortverzeichnis — Verbindung mit Gesetzesvorlage 271 f. — Verneinung 272 Vertrauensfrage-ersuchen 272 ff. — Folgen 280 — Funktion 278 ff., 281 f. — negatives 279, 282 — neutrales 279 — positives 279, 282 — Zulässigkeit 278 — Zuständigkeit, eingeschlossene 281 Vertretung 167 Vertretungsmacht 160 Vizekanzler 299 Vizepräsidenten 48 Volk, Primärorgan 156 Volksvertretung — Körperschaft 50 ff. — Staatsorgan 50 ff. — „politischer Verein" (corps politique) 42, 51 f. volonté générale 162 Vorlagen 93 Wahl 101, 176 - 180 — Herstellung von Verbundenheit 193 f. — Funktion 163, 176 ff. Wahl im Bundestag, Wiederholung 104 Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts 136 f. Wahlakt 161, 254 Wahlalter 161 Wahlentscheidung 176 Wahlforschung 178 Wahlmänner-Ausschuß gem. § 6 BVerfGG 120, 135, 136 f. Wahlprüfungsausschuß gem. § 3 WahlprüfG 120 Wahlrecht 156
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Wahlrechtsreform 252 Wähler — Appell, an den 210, 273 — Instruktionen für Abgeordnete 189 f. — Verbundenheit mit Gewählten 195 Wählerparteien 176 Wählerschaft, Kreationsorgan 176 Wählerverhalten 176 f. Wehrbeauftragter 106 Weimarer Koalition 121 Wertverwirklichung 286 Widerstandsrecht 297 Willensbildung, politische 161, 171, 174, 180, 254 Willensbildungsprozeß 17, 25,119,172, 198 Wirklichkeit, verfassungsrechtl. 215 s. a. Verfassungsrecht Wirklichkeit und Idee 157 Wirklichkeit, Recht — Wechselbezüglichkeit 26 Zuständigkeit 18 ff., 23, 25, 285 Zuständigkeiten des Bundestages 17, 21, 31 — Kontrolle 20 — Koalitionsabsprachen 255 — Kreationen 18 f., 32 — Mitwirkung an Regierungsfunktion 19 f. s. a. Regierungsfunktion — eingeschlossene 281 — politische Funktion 281 f. — primäre 323 — sekundäre 323 Zuständigkeitsnorm 243 Zustimmung zur Ratifikation 20 Zweck 172 Zwecksetzung 171 f. Zweite Kammer des Preußischen Landtages 59