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German Pages 262 Year 2012
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1204
Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich Eine Untersuchung anhand des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention
Von Lichun Tian
Duncker & Humblot · Berlin
LICHUN TIAN
Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1204
Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich Eine Untersuchung anhand des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention
Von Lichun Tian
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Im Januar 2011 wurde die vorliegende Arbeit von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Herrn Prof. Dr. Winfried Brugger (†) habe ich für die über vier Jahre währende engagierte Betreuung meiner Arbeit sehr herzlich zu danken. Seiner mich stets ermutigenden wertvollen Ratschläge und konstruktiven Anregungen, seiner freundlichen Unterstützung in fachlichen und außerfachlichen Diskussionen und Gesprächen, die für die Abfassung meiner wissenschaftlichen Arbeit so förderlich werden sollten, werde ich über seinen unerwarteten Tod im November des Jahres 2010 hinaus als eine fernab in China wirkende Juristin ein nicht ermüdendes, dankerfülltes Gedenken bewahren. Herrn Prof. Stephan Kirste gilt mein besonderer Dank für seine professionelle und verständnisvolle Betreuung bei Übernahme der Aufgaben des Doktorvaters nach dem Ableben von Professor Brugger während meines Promotionsabschlusses. Herrn Prof. Dr. Michael Anderheiden, dem zweiten Gutachter meiner Dissertation, danke ich für die freundlicherweise übernommene Ausfertigung des Zweitgutachtens und für alle seine wertvollen Ratschläge und Anregungen betreffend der Verbesserungsmöglichkeiten meiner Arbeit. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern für ihren unbeirrten, verständnisvollen Zuspruch bei der Entstehung meiner Dissertationsschrift sowie für alle ihre ermutigenden Unterstützungen im Verlauf meiner gesamten Studienzeit. Zudem sei der Konrad-Adenauer-Stiftung ein herzlicher Dank gesagt, indem Sie mir im Rahmen ihres Förderprogramms die Möglichkeit eröffnete, dem Abschluss meiner Dissertation in überschaubarer Zeit entgegenzusehen. Lichun Tian
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Teil 1
Die Vergleichsgrundlage
22
Kapitel 1 Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
22
A. Begriff: Objektive Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Objektive Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung zu den subjektiven Grundrechtsfunktionen und ihres Vorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 22 23 24
B. Entstehungshintergrund der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen. . . I. GG-Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. EMRK-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 28 29
C. Inhalt der objektiven Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Leistungs- und Teilhabekomponenten der objektiven Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung. . . . . . . . . . . . . . . IV. Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 30
24 26
31 33 33
D. Bedeutung der Lehre von objektiven Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . 35 I. GG: Die Wiedergeburt der Rechtsordnung aus dem „Geist der Grundrechte“ und die Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit. . . . . . . . . . . . . . 35 II. EMRK: Die Verstärkung der Abwehrrechte durch die objektiven Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
8
Inhaltsverzeichnis Kapitel 2 Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen
36
A. GG als nationale Verfassungsordnung und die EMRK als internationaler Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Wechselwirkung zwischen dem GG und der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rang der EMRK in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einfluss der EMRK auf die Auslegung des GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einfluss der nationalen Rechtsprechung auf die Auslegung der EMRK
38 38 39 40
C. Übertragbarkeit der deutschen Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen auf die EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
D. Bedeutung des Vergleichs zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verstärkung des Dialogs zwischen GG und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere Systematisierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen in der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erkennen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen GG und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stärkungen der subjektiven Abwehrrechte beider Rechtssysteme . . . . . . .
42 43 44 44 45
Teil 2
Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
46
Kapitel 1 Schutzpflichten A. Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten im GG und in der EMRK I. Herleitung in der Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG . . . a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick über die Entwicklung der Spruchpraxis der Konventionsorgane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Herleitung aus dem Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansätze im Wortlaut des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46 47 47 47 47 48 50 51 51 52 55 57 57
Inhaltsverzeichnis
9
a) Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz von Ehe und Familie, Art. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf Asyl, Art. 16 a Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20 a GG . . . . . . . . e) Schrankenbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ansätze im Wortlaut der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . b) Ausdrückliche Normierung der staatlichen Schutzpflichten . . . . . aa) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 1 EMRK. . . . . . . . . . . . . . . dd) Sonstige Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Schrankenbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ansätze im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansätze im Schrifttum des deutschen Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . a) Rezeption der Rechtsprechung im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Ansätze im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abwehrrechtliche Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Staatstheorie auf Grundlage der mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ansätze im Schrifttum der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übernahme der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formelle Ansätze: Die Art. 1, Art. 2 und Art. 5 EMRK . . . . . . . . aa) Art. 1 EMRK (Allgemeine Vorgabe für die staatliche Grundrechtsgarantie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 2 S. 1 EMRK (Der Lebensschutz als allgemeines Rechtsprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK (Das Recht auf Sicherheit) . . . . . . c) Materielle Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Drittwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Dynamische Auslegung und Effektivitätsprinzip . . . . . . . . . . . d) Abwehrrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 58 59 59 60 60 61 61 64 64 65 65 65 66 67 68 68 68 68 69 70 70 73 73 74 77 78 78 79 80 80 81 82 82 83 83 84 85
10
Inhaltsverzeichnis
B. Die Struktur der Schutzpflicht im GG und in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. GG-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EMRK-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Gefahrenquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. GG-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beeinträchtigungen durch Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahrenquellen ausländischen Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Diplomatischer Schutz der eigenen Staatsangehörigen im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Auslieferungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Natürliche Gefahrenquellen und Naturkatastrophen . . . . . . . . . . . . . 2. EMRK-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beeinträchtigungen durch Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahrenquellen ausländischen Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aufenthaltsbeendende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Diplomatischer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Natürliche Gefahrenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. GG-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gefahrenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gefahrenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefährdungslagen unterhalb der Gefahrenschwelle . . . . . . . . . . . . . aa) Risiko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Restrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EMRK-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffe: Beeinträchtigung und Schwelle der Beeinträchtigung . . b) Beeinträchtigungslage unterhalb der Beeinträchtigungsschwelle. . aa) Risiko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beeinträchtigungs-Unmittelbarkeits-Zusammenhang . . . . . . . . . . . . d) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Adressaten der Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legislative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. In der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87 87 87 88 90 90 90 92 92 94 95 96 96 98 99 99 100 101 101 101 101 103 104 104 105 106 107 107 107 109 109 110 111 111 112 112 112 113 114 114 115
Inhaltsverzeichnis
11
a) Vertragsparteien als Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Pflichtzuweisungen innerhalb der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 C. Das subjektive Recht auf Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Im GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Meinungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritische Stellungnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zustimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Durchsetzung des subjektiven Rechts auf Schutz. . . . . . II. In der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansätze im Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anerkennung in der Rechtsprechung und im Schrifttum . . . . . . . . . . . 3. Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 117 118 118 118 119 120 120 120 121 122
D. Gerichtliche Durchsetzbarkeit der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 I. Im GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. In der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Kapitel 2 Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen A. Originäre Leistungsrechte und soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Soziale Grundrechte im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelnde ausdrückliche Erwähnung sozialer Grundrechte im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auseinandersetzungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Argumente für soziale Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Voraussetzungen für die Verwirklichung der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abhängigkeit des Einzelnen und das Monopol des Staates. . b) Argumente gegen die sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Freiheitsgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einschränkung des parlamentarischen politischen Spielraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Belastung der politischen Dynamik durch das Sozialstaatsprinzip?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verteilungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Haushaltsbelastung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126 127 128 128 129 130 130 130 131 131 131 132 133 134 135 135
12
Inhaltsverzeichnis 5. Umfang der sozialen Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt der sozialen Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Garantie des Minimalstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konkretisierungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wirkung der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrichterliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Balance zwischen Freiheitsrechten und Freiheitsbeschränkung . . . c) Auftrag an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassungsgarantie des „sozialen Besitzstandes“ und verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Soziale Grundrechte in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur besonderen Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Ablehnung der sozialen Grundrechte auf Ebene der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die im Ausnahmefall erfolgte Anerkennung einzelner sozialer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umfang der sozialen Grundrechte in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalte der sozialen Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Garantie eines sozialen Mindeststandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konkretisierungsspielraum der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 139 140 141 142 142 143 143 143 144 144 146 146 147 148 148 149 149 150
B. Abgeleitete Teilhaberechte auf Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Derivative Teilhaberechte im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Derivative Teilhaberechte in der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Kapitel 3 Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung A. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . I. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte im GG . . . 1. Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 154 154 154 154 155 155 155 155 157
B. Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . 158
Inhaltsverzeichnis Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte im Grundgesetz (GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte in der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
I.
158 158 159 161 162 162 162 165
Kapitel 4 Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte A. Entwicklung der Lehre von der Drittwirkung im Grundgesetz (GG) . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte . . . . . II. Unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Begründung der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung . 2. Kritik an der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . . . . III. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Begründung der Lehre der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsprechung: Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung und Akzeptanz der mittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Neue Tendenz: Rückgriff der grundrechtlichen Drittwirkung auf die grundrechtliche Schutzpflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Entwicklung der Drittwirkungslehre in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Übertragbarkeit der Lehre von der Drittwirkung auf die EMRK? . . . . . . II. Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung der Konventionsrechte . . . III. Neue Tendenz: Umgehung der Drittwirkungsfrage durch die grundrechtliche Schutzpflicht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166 166 166 166 167 168 168 169 171 171 172 173 174 176 176 178 179
14
Inhaltsverzeichnis Teil 3
Mögliche Probleme und Folgerungen
182
Kapitel 1 Objektive Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“ A. Objektive Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“ im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage: Verwirklichung der objektiv-rechtlichen Dimensionen durch Ausweitung der Kompetenz des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Problematik einer Machtverschiebung vom Gesetzgeber hin zum BVerfG im Wege der objektiv-grundrechtlichen Funktionen? . . . . . . . . . . III. Grenzen: Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts in der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontrollintensität: Evidenzkontrolle und Untermaßverbot . . . . . . . . . . a) Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begründung der Evidenzkontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Praxis der Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Evidenzkontrolle als Besonderheit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Untermaßverbot“-Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rückkehr zur Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterschiedliche Kontrolldichte bei Abwehr- und Schutzrechten? . . . IV. Wahrung der „Balancen der Gewaltenteilung“ bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltungsspielraum der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestaltungsspielraum der Judikative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Objektive Grundrechtsfunktionen in der EMRK und die Wahrung der demokratischen Ordnung in den Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Besonderheiten der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten des EGMR als internationaler Gerichtshof . . . . . . . . . 3. Verhältnis von BVerfG und EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Problematik: Eingriff des EGMR in die Kompetenzen der drei Staatsgewalten bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen III. Grenzen: Kontrolldichte des EGMR bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung: Margin of appreciation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontrollbefugnis der Straßburger Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182
182 182 183 185 185 185 186 187 188 188 190 190 191 192 192 193 194 195 195 195 197 198 200 201 201 202
Inhaltsverzeichnis 3. Unterschiedliche Kontrolldichte zwischen den positiven Schutzpflichten und den negativen Abwehrrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten („margin of appreciation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des staatlichen Beurteilungsspielraums. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
205 206 206 209
Kapitel 2 Abgrenzung der objektiven von den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen A. Kollision oder gegenseitige Unterstützung der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen im GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage: Doppelfunktion der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kollision von objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen im GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die subjektive abwehrrechtliche Funktion als vorrangige Grundrechtsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Grundrechtsfunktionen als sekundäre Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückkehr zur abwehrrechtlichen Konzeption? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Abgrenzung oder Konvergenz von objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen in der EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage: Doppelfunktion der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die primäre abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundäre objektive Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abgrenzung oder Konvergenz der objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen in der EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung zwischen subjektiver Abwehrfunktion und objektiver Schutzfunktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annäherung der subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen anhand der Prüfungsstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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212 212 214 215 216 217 219 220 220 221 221 222 223 223 225 226
16
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
229
Die Vergleichsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand des Vergleichs: Die objektiven Grundrechtsfunktionen . . 2. Die Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . II. Die einzelnen objektiven Grundrechtsfunktionen im Vergleich . . . . . . . . . 1. Schutzpflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung . . . . . . . . 4. Die Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mögliche Probleme und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die objektiven Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der objektiven von den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlussanmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 229
I.
230 230 230 234 235 237 238 238 240 241 241 244
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Abkürzungsverzeichnis AcP AfP AöR Art. Aufl. BAGE Bd. BerDtGesVR BGH BGHZ BVerfG BVerfGE BYIL bzw. d.h. ders. DÖV DVBl. ECHR EGMR EHRLR EKMR EMRK etc. EuGH EuGRZ f., ff. FG FS GG GS HdbGR HdbStR HRLJ Hrsg. ICLQ
Archiv für die civilistische Praxis Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts The British Year Book of International Law beziehungsweise das heißt derselbe Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Law of the European Convention on Human Rights Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Human Rights Law Review Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention et cetera Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende, fortfolgende Festgabe Festschrift Grundgesetz Gedenkschrift Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Handbuch des Staatsrechts Human Rights Law Journal Herausgeber International Comparative Law Quaterly
18 i. V. m. JöR JuS JZ KJ NJW NVwZ S. VVDStRL WiVerw ZaöRV ZAR z. B. ZeuS ZevKR ZP ZStrW
Abkürzungsverzeichnis in Verbindung mit Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Schulung Juristen Zeitung Kritische Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Seite Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wirtschaft und Verwaltung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für europarechtliche Studien The Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zusatzprotokoll Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung Historisch sind die Grundrechte als Rechte zum Schutz vor Eingriffen durch die Staatsgewalt entstanden. Diese freiheitssichernde Rolle haben sie immer noch, denn die Gefahr einer möglichen Bevormundung durch die Staatsgewalt lässt sich von Natur aus nicht ultimativ ausschließen. In Gestalt der negativen Abwehrfunktion formuliert sie das Grundgesetz oft als „Freiheiten“. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch seit dem Lüth-Urteil auch ergänzende objektive Funktionen der Grundrechte zur Stärkung der historisch negativen Ausgangsfunktion entwickelt. Die deutsche Rechtswissenschaft hat diese Rechtsprechung akzeptiert und unterscheidet insbesondere die folgenden Kategorien von Funktionen: die grundrechtliche Schutzpflicht, die „Drittwirkung“ der Grundrechte, die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Grundrechte, sowie die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Grundrechte. Die objektiven Grundrechtsfunktionen sind inzwischen nicht nur auf das deutsche Grundgesetz beschränkt, sondern strahlen auch auf Rechtsordnungen anderer Länder sowie auf Institutionen auf europäischer Ebene aus. Hier soll der Blick insbesondere auf die Europäische Menschenrechtskonvention gerichtet werden, die nicht nur die weltweit am weitesten entwickelte Menschenrechtskonvention ist, sondern deren Wirkung auch über Europa hinaus Strahlkraft entfaltet. Die Theorie der objektiven Grundrechtsfunktionen ist auch von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgegriffen worden. Dennoch fehlt der EMRK ungeachtet der zunehmenden Bedeutung der objektiven Grundrechtsfunktionen eine Systematisierung und dogmatische Beschäftigung mit der Lehre von objektiven Grundrechtsdimensionen. Der EGMR verweigert sich einer allgemeinen Akzeptanz der objektiven Grundrechtsfunktionen und beschränkt sich immer noch auf die Ad-hoc-Lösung von Einzelfällen bezüglich der objektiven Grundrechtsdimension. Einher geht damit die Gefahr, dass es seinen Entscheidungsfindungen einerseits an Verallgemeinerungsfähigkeit mangelt und andererseits die staatlichen Gerichte dazu neigen, in jedem Einzelfall das Besondere daraus zu entnehmen und sich folglich nicht von der Rechtsprechung des EGMR leiten zu lassen.1
1
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 3.
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Einleitung
Von daher erscheint ein analytischer Vergleich der objektiven Grundrechtsfunktionen zwischen GG und EMRK reizvoll, um die Reichweite der Grundrechtsdogmatik inhaltlich und strukturell weiter entwickeln zu können. Mit dieser Arbeit sei es gewagt, Neuland zu betreten, zumal sich auf EMRK-Ebene nur unzulängliche Hinweise auf die theoretische Möglichkeit der objektiven Grundrechtsfunktionen auffinden lassen. Um Licht in das dogmatische Dunkel der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen bringen zu können, verfolgt meine Dissertation im Vergleichsrahmen zwischen GG und EMRK die Fragen betreffend der objektiven Grundrechtsfunktionen nach Maßgabe der folgenden, Orientierung stiftenden Gesichtspunkte: In welchen Bereichen der Jurisdiktion von BVerfG und EGMR lassen sich Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen feststellen? Wo verlaufen die Grenzlinien zwischen einer effektiven „Stärkung“ der ursprünglichen Defensivfunktion der Grundrechte und einer „Abschwächung“ der Defensivfunktion? Funktioniert ein supranationaler Menschenrechtsgerichtshof wie ein nationales Verfassungsgericht oder gibt es hier Unterschiede (etwa die größere supranationale Zurückhaltung), die sich auch in der Art und Weise der Anwendung der objektiven Grundrechtsfunktionen niederschlagen? Wie und in wie weit mischen sich die Verfassungsgerichte in den Bereich der legislativen, politischen Selbstbestimmung ein? Wo liegen die Grenzen einer solchen gerichtlichen „Mitbestimmung“ in Fragen der Gewaltenteilung? Die Entscheidungen des BVerfG und EGMR bilden hier den Ausgangspunkt für die eingehenden, weiterleitenden Überlegungen. Leitentscheidungen wie das Lüth-Urteil,2 die Abtreibungs-Urteile3 des BVerfG sowie das Marckx-Urteil,4 das Aiery-Urteil5 und das X&Y gegen die Niederlande-Urteil6 des EGMR spielen eine große Rolle bei der Herausbildung der objektiven Grundrechtsfunktionen. Das jeweilige Gericht ist immer Schrittmacher für die Entwicklung der objektiven Grundrechtsdimension. In diesem Sinne sollte der Rechtsprechung insofern Aufmerksamkeit geschenkt werden, als sich mit einer bestehenden Rechtsprechung auf Grundlage des GG und der EMRK die angesprochenen objektiven Ggrundrechstfunktionen aus der Analyse des ergangenen Wortlauts entnehmen lassen. Effektive Geltung kann den objektiven Wirkungen der Grundrechte nur zukommen, wenn der entsprechende Gedanke im Verfassungstext und in der EMRK ausdrücklich 2
BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth. BVerfGE 39, 1 ff. – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 88, 203 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. 4 EGMR A 31, § 31 – Marckx vs. Belgien. 5 EGMR A 32, § 25 – Airey vs. Irland. 6 EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande. 3
Einleitung
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oder zumindest implizit enthalten ist. Infolgedessen bildet die Textanalyse stets den Ausgangspunkt der Untersuchung. Gleichzeitig ist die Ermittlung der Grundrechtsfunktionen ohne Grundrechtsauslegung nicht zu bewerkstelligen. Es geht um eine ausführliche Interpretation der offen formulierten Grund- und Menschenrechte, die die Form von Generalklauseln und abstrakten Rechtsbegriffen haben. Drittens darf die Rolle der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht unterschätzt werden. Sie ermöglicht vor allem die Klärung der Frage, ob die objektive Dimension schon in der Rechtslehre anerkannt ist und wie sie in den einzelnen Ausprägungen entfaltet ist. Danach kann die Literatur die aus den Gerichtsurteilen hergeleiteten Grundrechtsfunktionen durch eine kritische Auseinandersetzung würdigen, um sie in der Folge dogmatisch-verstärkend systematisieren zu können. Von daher kommt der Analyse der Literatur für die theoretische Systematisierung der objektiven Grundrechtsdimension eine nachhaltige Bedeutung zu. Die Arbeit ist in drei aufeinander folgende Teile untergliedert. Im ersten Teil steht die theoretische Grundlage des Vergleichs bezüglich der objektiven Grundrechtsfunktionen mit Blick auf Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention im Mittelpunkt der Erörterung. Die objektiven Grundrechtsfunktionen werden hinsichtlich Konzeption, Hintergrund, Inhalt und Bedeutung sowie Vergleichbarkeit beleuchtet. Im zweiten Teil werden die jeweiligen typologisch aufgegliederten objektiven Grundrechtsfunktionen von GG und EMRK im Vergleich näher dargestellt. Zunächst werden die Ableitungen der staatlichen Schutzpflichten aus der Judikatur, aus dem Wortlaut und seiner Auslegung und aus der Literatur sowie die Struktur der staatlichen Schutzpflichten auf den zwei Ebenen, GG und EMRK, parallel aufgezeigt. Danach werden die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Grundrechte, die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Grundrechte und die Drittwirkung der Grund- und Menschenrechten auf den zwei Ebenen, GG und EMRK, miteinander verglichen. Im dritten Teil rücken jene Problemstellungen und Schlussfolgerungen, die sich aus den vorausgegangenen Erörterungen ergeben, in den Blickpunkt der Untersuchung. Es wird darum gehen, die Kontrolldichte des BVerfG und des EGMR zur Einhaltung der objektiven Grundrechtsdimension näher zu bestimmen. Ein Augenmerk ist demzufolge auch darauf gerichtet, welche Grenzen einer gerichtlichen Mitbestimmung sich aus Sicht der Gewaltenteilung aus dem GG und der EMRK ergeben, und wie sich diese umschreiben lässt. Schließlich wird untersucht, wo zwischen einer effektiveren Defensivfunktion und einer Abschwächung der Defensivfunktion abgegrenzt werden muss, insofern den objektiv-rechtliche Grundrechtsfunktionen Anerkennung widerfährt.
Teil 1
Die Vergleichsgrundlage Kapitel 1
Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen A. Begriff: Objektive Grundrechtsfunktionen I. Grundrechte Grundrechte sind die bei Ausübung von staatlicher Gewalt verpflichtenden und verfassungskräftigen subjektiven Rechte des Einzelnen.1 Sie beinhalten vornehmlich die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, zudem umfassen sie auch die rechtlichen Wirkungen aus den Grundrechten zugunsten ihres Schutzgutes, denen die staatliche Gewalt positiv verpflichtet ist. Die Grundrechte sind anfänglich im Menschenrechtsdenken vor- und mit bedacht und aus ihm heraus entfaltet worden. Das Menschenrecht verweist auf Freiheits- und Autonomieansprüche (der Rechtsinhalt), welche Menschen (die Rechtsträger) allein kraft ihres Menschseins gegenüber Herrschaftsinstanzen (den Rechtsadressaten) auf sanktionierender legaler oder moralischer Berufungsgrundlage erheben und durchsetzen können.2 Im engeren Sinne ist das Menschenrecht unabhängig und losgelöst von der Frage nach der Staatsangehörigkeit des Menschen. Demgegenüber überwiegt bei den Grundrechten ihr Rückbezug auf die Staatszugehörigkeit des Menschen. Dennoch bezeichnen die heute aufgefundenen Begrifflichkeiten für das fundamentale Recht des Einzelnen (z. B. Menschenrechte, Bürgerrechte, Grundrechte, Abwehrrechte, Freiheitsrechte usw.) zum Teil Unterschiedliches.3 In Hinblick auf die Praxis könnten die Menschenrechte als Grundrechte bezeichnet werden. In diesem Wortgebrauch erscheinen sie nicht als etwaige vorstaatliche, im Naturrecht begründete Menschenrechte. In der 1 2 3
Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 16. Koenig, Menschenrechte, S. 12. Weber, A., Menschenrechte, S. 4.
Kap. 1: Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
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vorliegenden Arbeit jedoch sollen die Begriffe der Grundrechte und Menschenrechte synonym verwendet werden, weil dies die von der EMRK und dem GG geläufigen verwendeten Termini sind. Die rechtliche Entfaltung der Grund- und Menschenrechtskonzeptionen steht im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entstehung des bürgerlichen Verfassungsstaates der Moderne, der seine wegweisenden Ausformungen im Zuge der Revolutionen in Nordamerika und Frankreich erfahren hat.4 Diese Ereignisse haben die ersten verfassten Grundrechtskataloge hervorgebracht, die „Bill of Rights“ in den USA im Jahre 1791 sowie die Französische Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1789. Später sollten diese Vorbilder für die Verfassungen zahlreicher Staaten werden. Auch die heute bestehenden internationalen Menschenrechtsverträge gehen nicht zuletzt auf diese Ereignisse zurück.5 Die historischen Entwicklungen positivierter Menschen- und Grundrechte reichen von zunächst negativen Abwehrrechten und demokratischen Mitwirkungsrechten über ausformulierte Wirtschafts- und Sozialrechte bis hin zu Solidarrechten, die als die dem Kollektiv zukommenden Ziele (z.B., das Recht auf Frieden, das Recht auf Entwicklung und das Recht auf eine saubere Umwelt) überindividuell ausgerichtet sind. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält das Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (Art. 1 Abs. 2 GG), und in der Folgewirkung ist alle Staatsgewalt an die Vorgaben der darin ausgesprochenen Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG). In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten findet sich der Katalog der Grundrechte und des Menschenrechts verankert, aus dem sich die Pflicht zur Beachtung durch alle Mitgliedstaaten ergibt. Die nachfolgenden Untersuchungen befassen sich mit der Ausgestaltung der objektiven Grundrechtsfunktionen im deutschen Grundgesetz und der EMRK. II. Grundrechtsfunktionen Der Begriff ‚Grundrechtsfunktionen‘ bezeichnet die rechtlichen Wirkungen der Grundrechte zugunsten ihres Schutzgutes.6 Diese Funktionen kommen nicht nur den in einer Verfassung niedergelegten Grundrechten, sondern auch den in völkerrechtlichen Verträgen vereinbarten Menschenrechten zu.7 Die Grundrechtsfunktionen betreffen Fragen der Wirkungsweise der 4 5 6 7
Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 6. Weber, A., Menschenrechte, S. 1. BVerfGE 6, 55 (71 f.) – Steuersplitting. Krieger, in: EMRK/GG, S. 267; BVerfGE 6, 55 (71 f.) – Steuersplitting.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
unterschiedlichen Funktionen des Grundrechts im Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat.8 Im Vordergrund steht hierbei die Frage nach ihren Wirkungsarten und ihren Rechtsfolgen, die sich konstitutiv aus den Grundrechten ergeben.9 Hervorzuheben ist die Abwehrfunktion, die staatliche Eingriffe in die Freiheiten des Einzelnen verhindern oder einschränken soll. Dem treten beispielsweise die Schutz- und Leistungsfunktionen zur Seite, sowie Organisationsgarantien und Verfahrensgarantien. Diese Funktionen werden gelegentlich auch unter dem Oberbegriff „Grundrechtsdimension“ zusammengefasst.10 Die mannigfachen Funktionen der Grundrechte offenbaren, dass Grundrechte insgesamt, aber zuweilen auch das einzelne Grundrecht, nicht notwendig monofunktional, etwa aus dem vereinzelten darin umfassten individuellen Abwehrrecht ausgelegt werden können, sondern dass ihnen vielmehr eine Vielfalt an Funktionen zukommt, die im Verbund multifunktional wirken können.11 III. Objektive Grundrechtsfunktionen Die schematische Einteilung der sich unterscheidenden Grundrechtsfunktionen kann nach dem Gesichtspunkt ihres subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Aspekts erfolgen. Durch diese Einteilung wird die Doppelfunktion der Grundrechte offenbar: Primär sind die Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Sekundär entwerfen die Grundrechte nicht eine wertneutrale Ordnung, vielmehr bezeichnen sie die objektive Wertordnung für alle Bereiche des Rechts. Demnach sind die Abwehrrechte den subjektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen zuzurechnen. Hingegen gehören die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Drittwirkung der Grundrechte, Leistungs- und Teilhabekomponenten sowie die organisations- und verfahrensrechtliche Schutzwirkung zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen. Im Folgenden sollen die beiden Kategorien der Grundrechtsschutzfunktionen näher erörtert werden. 1. Vorbemerkung zu den subjektiven Grundrechtsfunktionen und ihres Vorrangs Die Abwehrfunktion der Grundrechte ist dominierendes Merkmal der Grundrechtsfunktion. Die Freiheitsentfaltung und das selbstbestimmte Han8
Kornbichler/Polster/Tiede/Urabl, Verfassungsrecht, S. 29. Jarass, in: HdbGR II, S. 626. 10 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 41 ff.; Jarass, in: HdbGR II, S. 626. 11 Stern, in: HdbStR V, S. 62. 9
Kap. 1: Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
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deln des Einzelnen sollen durch die Abwehrfunktion der Grundrechte geschützt werden und Freiräume oder Rechtsgüter des Bürgers vor staatlichen Übergriffen in Form von „Eingriffen“ oder „Verletzungen“ bewahrt werden. In diesem Kontext stellt sich die Freiheit als die Abwesenheit von staatlicher Einmischung und Zwang dar. Aus seiner zweihundertjährigen Bewährungstradition geht das Abwehrrecht als das anerkannte und über alle Zweifel erhabene Geltungsprinzip des Grundrechts hervor. Es entspricht den „Menschenrechten der ersten Generation“, wie sie in der Ideenwelt der Aufklärung und des Liberalismus entwickelt und in die amerikanischen wie französischen Rechteerklärungen und Verfassungsgesetzen des 18. Jahrhunderts Eingang gefunden haben.12 Durch die Rechtsprechung des BVerfG wird seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte aus deutscher Verfassungstradition erneut hervorgehoben. Dies ist eine Konsequenz der Reflexion über die Verhältnisse zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes. In bewusster Abwendung von der alles durchdringenden Staatlichkeit des Nationalsozialismus wurde das Grundgesetz daraufhin angelegt, die Grundrechte im Sinne des einklagbaren subjektiven Rechts auszugestalten. Somit mussten diese Rechte für die Rechtsprechungspraxis zugänglich gemacht werden. Die Erfahrungen mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts sollten sich als bestimmend für die Ausführungen zu den Abwehrrechten der EMRK auswirken. Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter, und Art. 4 EMRK, das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit, lassen am deutlichsten die abwehrrechtliche Schutzfunktion als Reaktion auf die Ereignisse vor und während des 2. Weltkriegs erkennen. Die Konvention sollte die justiziablen klassischen Freiheitsrechte, insofern diese auch von den demokratischen Staaten Westeuropas in der Praxis gewährt wurden, mit umfassen.13 Die tragenden Bestimmungen von Grundgesetz und EMRK zu den Grundrechten sind mehrheitlich in den Abwehrrechten verankert. Dies zeigt sich bei Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 10 Abs. 1 GG, Art. 13 GG, Art. 12 Abs. 1 & 2 GG. In der EMRK ist die Abwehrfunktion in Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK sowie in den Art. 8–11 EMRK angesprochen. Dementsprechend dominieren die subjektiven Grundrechtsfunktionen als Abwehrrechte des Individuums. Lassen die Grundrechtsbestimmungen keine eindeutige Lesart zu, so sind sie jedenfalls als Abwehrrechte auszulegen.14 12 13 14
Isensee, in: HdbStR V, S. 156. Krieger, in: EMRK/GG, S. 271. Sachs, in: HdbGR II, S. 657.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
Dieser Vorrang der Abwehrfunktion wird von der Rechtsprechung des BVerfG bestätigt. Auch in der deutschen Literatur zum Staatsrecht wird der Primat der Abwehrfunktion stets hervorgehoben. Weil sich der EGMR in der Anfangsphase seiner Arbeit ausschließlich mit der Frage des staatlichen Eingriffs konfrontiert sah, eröffnete sich ihm bei der Auslegung der Konventionsrechte zunächst allein die Perspektive auf das Abwehrrecht. Die Konventionsorgane umreißen die abwehrrechtliche Funktion als Hauptfunktion des erklärten Menschenrechts wie folgt: „Der wesentliche Zweck der in der Konvention gewährleisteten Rechte besteht darin, den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben zu schützen.“15
Demnach schützt das Abwehrrecht den Raum individueller Selbstbestimmung dergestalt, dass es die Einwirkung der hoheitlichen Gewalt an den formalisierten Rechtfertigungszwang knüpft.16 Daraus folgend ergeben sich für den Einzelnen entsprechende Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. 2. Objektive Grundrechtsfunktionen Unter dem Begriff der objektiven Grundrechtsfunktion versteht man über die herkömmliche abwehrrechtliche Funktion hinaus gehende zusätzliche Grundrechtsfunktionen.17 Als zusätzliche Grundrechtsfunktionen in diesem Sinne werden hauptsächlich die Leistungs- und Schutzgehalte der Grundrechte herangezogen, damit das subjektive Abwehrrecht als zentrale Grundrechtsfunktion ergänzend verstärkt wird. Die Grundrechte behaupten sich daher nicht ausschließlich als Individualansprüche; sie sind ebenso Bestandteil der objektiven Wertordnung. Jede staatliche Gewalt ist demnach in Anlehnung an die objektiven Grundrechtsfunktionen verpflichtet, die Grundrechtsgehalte positiv ihrer Verwirklichung zuzuführen.18 Damit wird ersichtlich, dass die objektiven Grundrechtsfunktionen übergreifend diejenigen Funktionen umfassen, die sich nicht aus abwehrrechtlichen Komponenten erklären lassen. Zu diesen Funktionen zählen die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Drittwirkung der Grundrechte, Leistungs- und Teilhabekomponenten sowie die organisations- und verfahrensrechtliche Schutzwirkung. Die Formulierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen in Rechtsprechung und Schrifttum haben sich im Laufe der Zeit mehrmals gewandelt, 15 EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall (= EuGRZ 1975, 298 ff.); EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 16 Krieger, in: EMRK/GG, S. 273. 17 Jarass, in: HdbGR II, S. 628. 18 Krieger, in: EMRK/GG, S. 267.
Kap. 1: Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
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sodass sich daraus mit der Zeit das terminologische Vokabular „objektive Grundsatznorm“,19 „objektive Grundrechtsdimension“,20 „objektive Grundrechtsgehalte“,21 „verfassungsrechtliche Grundentscheidung“,22 „objektive Wertentscheidung“,23 „objektive Wertordnung“, „objektive Bedeutung“24 „Richtlinien und Impulse“, und „Grundprinzipien“ sowie „Leitnorm“ oder „Maßstabsnorm“ ergab.25 In zunehmendem Maße werden die Termini „Schutzpflicht“ und „Schutzfunktion“ gebräuchlich.26 Ungeachtet der Tatsache, dass mit der Verwendung dieser Begriffsvielfalt nicht notwendig auch ein Gewinn an Eindeutigkeit einher geht, ergibt sich trotzdem ein gemeinsames Anliegen: das Erstreben von funktionaler Erweiterung und dimensionaler Anreicherung im Hinblick auf die Grundrechte. Um sich der in Rechtsprechung und Schrifttum stets gleichbleibenden „Multifunktionalität“ annähern zu können, sei im Verlaufe der vorliegenden Untersuchung der Ausdruck von den „objektiven Grundrechtsfunktionen“ durchgehalten. Daneben wird, soweit erforderlich, auf die Funktionsvielfalt mit dem Begriff von den „objektiven Grundrechtsdimensionen“ verwiesen, ohne dass die beiden Termini genauer voneinander abgegrenzt wären. Gegenüber den primären abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen sind die objektiven Grundrechtsfunktionen nur von sekundärer Bedeutung. Geprägt ist jedes Grundrecht vor allem durch seine führenden abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen, sodann aber können und sollen sich die sekundären objektiven Grundrechtsfunktionen dahingehend auswirken, dass sie die vorrangigen abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen ergänzen und somit verstärken. Der Geltungsraum der sekundären objektiven Grundrechtsfunktionen erstreckt sich über alle Bereiche der Rechtsordnung und ergibt eine Richtschnur für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Auf welche Weise die Rechtsprechung von BVerfG, EGMR, der Wortlaut von GG und EMRK und die zur Thematik erschienene Literatur den sekundären Status der objektiven Grundrechtsfunktionen bestimmt haben, soll im Rahmen dieser Arbeit näher aufgezeigt werden. 19 BVerfGE 80, 124 (133) – Postzeitungsdienst; 90, 1 (11) – Jugendgefährdende Schriften. 20 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 41. 21 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 19 ff. 22 BVerfGE 81, 242 (254) – Handelsvertreter; 85, 191 (213) – Nachtarbeitsverbot. 23 BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; 94, 268 (285) – Wissenschaftliches Personal. 24 BVerfGE 96, 56 (64) – Vaterschaftsauskunft. 25 Zur Entwicklung der Terminologien siehe Jarass, in: HdbGR II, S. 628 f. 26 BVerfGE 91, 335 (339) – Punitive Damages; 92, 26 (46) – Zweitregister; 92, 140 (150)-Sonderkündigung; 96, 56 (64) – Vaterschaftsauskunft; 97, 125 (146) – Caroline von Monaco I; 97, 169 (175 ff.) – Kleinbetriebsklausel I; 99, 216 (234) – Familienlastenausgleich.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
B. Entstehungshintergrund der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen I. GG-Ebene Wenngleich im heutigen Staatsdenken die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte offenkundig dominiert, sind dennoch die objektiven Grundrechtsfunktionen als Verpflichtung des Staates zum Schutz seiner Bürger in vielen Verfassungstraditionen deutlich erkennbar. Anlässlich der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde es für zweifelsfrei befunden, dass die Staatsgewalt dem Schutz von Grund- und Menschenrecht verpflichtet ist. Auch die deutsche Paulskirchen-Verfassung, die Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert wurde, beinhaltete bereits Aspekte allgemeiner Sicherung und staatliche Schutzpflichten hinsichtlich grundrechtlicher Freiheiten der Bürger. Ungeachtet des frühen historischen Ansatzes zu einer Verwurzelung des Sicherheits- und Schutzgedankens traten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die objektiven staatlichen Schutzfunktionen der Grundrechte gegenüber der abwehrrechtlichen Funktion des Grundrechts deutlich in den Hintergrund. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem politischen Scheitern der Weimarer Republik und angesichts einer zwölfjährigen nationalsozialistischen Diktatur ist mit der Herausstellung der objektiven Dimension der Grundrechte nach 1945 in der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, auf spektakuläre Weise juristisches Neuland betreten worden.27 Gestützt auf das Wirken des Bundesverfassungsgerichts und die Ausformung der Staatsrechtslehre entwickelte und entwickelt sich weiterhin die objektive Grundrechtsdimension zu einem charakteristischen Merkmal des deutschen Staatsrechts der Gegenwart. Dementsprechend spiegeln die objektiven Grundrechtsfunktionen sozusagen eine Wiedergeburt der Rechtsordnung aus dem Geist der Grundrechte wider.28 Damit waren der gegenwärtigen Rechtsordnung die grundrechtlichen Voraussetzungen beigegeben, aus denen sich die aus der diktatorischen Vergangenheit anhaftende Missachtung des Menschen- und Grundrechts bewältigen ließ. Die im Rückblick auf vergangene Zeiten gewonnenen Einsichten sind mit der nachdrücklichen Verkündigung der Unantastbarkeit der Menschenwürde als ein oberstes Prinzip nach Art. 1 GG verankert.29
27 28 29
Wahl, in: HdbGR I, S. 746. Wahl, in: HdbGR, S. 746. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 75.
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II. EMRK-Ebene Dem Wortlaut der EMRK-Freiheitsrechte lässt sich deutlich entnehmen, dass sie erkennbar darauf abzielen, den Bürgern vornehmlich ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat zu gewähren. Ergänzend wird zudem auf die objektiven staatlichen Schutzfunktionen hingewiesen, die bereits im Naturrechtsdenken und den europäischen Verfassungstraditionen angelegt sind.30 Als am 4. November 1950 in Rom die Unterzeichnung der EMRK anstand, war kurz zuvor im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen die Universelle Erklärung der Menschenrechte verkündet worden.31 Es ist deutlich erkennbar, dass die EMRK dem Inhalt nach von der Universellen Erklärung der Menschenrechte beeinflusst ist. Während jedoch die Universelle Menschenrechtserklärung allein Programmvorgabe ohne rechtliche Verbindlichkeit und ohne eigenen Kontrollmechanismus war, war die EMRK von Beginn an bestrebt, die staatlichen Grundpflichten rechtsverbindlich zu kodifizieren. Diese Besonderheit stimmt nicht mit dem traditionellen Verständnis des völkerrechtlichen Vertrages überein. Dennoch ergab sich aus diesem Bemühen um die rechtliche Verbindlichkeit der Konventionsrechte nach und nach eine schrittweise Entwicklung hin zur staatlichpositiven Schutzfunktion der Grundrechte, den objektiven Grundrechtsfunktionen. Allerdings sind dem Wortlaut der Konventionsrechte keine Hinweise zu entnehmen, die eindeutig für eine generelle Annahme der objektiven Grundrechtsfunktionen sprechen. Dennoch haben die Konventionsorgane in ihrer ständigen Rechtsprechung die Verletzungen der objektiven staatlichen Schutzfunktionen der Grundrechte wiederholt gerügt. Insofern darf daraus gefolgert werden, dass der konstitutionelle Staat gehalten ist, den Bürgern Sicherheit und Schutz auf der Grundlage der objektiven Grundrechtsfunktionen zu gewähren. Hinsichtlich des europäischen Rahmens gilt es wiederum festzustellen, dass die objektiven Grundrechtsfunktionen nur in Ergänzung zu den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen Anerkennung finden.
C. Inhalt der objektiven Grundrechtsfunktionen Der Fachausdruck „objektive Grundrechtsfunktion(en)“ als Obergriff ist die Klammer und innere Begründung für eine Reihe weiterer Grundrechtswirkungen; er bezeichnet den überdachenden Leitgedanken im Geflecht der sich weiter ergebenden Grundrechtsdimensionen oder Grundrechtsfunktio30 31
Bleckmann, in: FS für Bernhardt, S. 310. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Einführung, Rn. 1.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
nen. Welche unter den Grundrechtsfunktionen sich entsprechend ihrer inhaltlichen Ausformung den objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen kategoriell einfügen ließen, ist nicht unumstritten. Denn von der Grundrechtsjudikatur werden diesbezüglich die „Ausstrahlungswirkung“, die „Einrichtungsgarantien“, „die Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren“ und die „grundrechtlichen Schutzpflichten“ und weitere Begriffe genannt. In der Fachliteratur ist das Augenmerk ebenso auf die Vielfalt der objektiven Funktionen der Grundrechte gerichtet.32 Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn der Begriff „Funktion“ mehrdeutig bemüht wird. Zum Einen können die Grundrechte als Wertordnung und somit logische Grundlage für die abgeleiteten Grundrechtsfunktionen verstanden werden. Zum Anderen ließen sich die objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen als erweiternde rechtswirksame Entfaltung aus den als Wertordnung interpretierten Grundrechtsbestimmungen verstehen.33 In vorliegender Untersuchung umfasst der Begriff der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Drittwirkung der Grundrechte, Leistungsund Teilhabekomponenten sowie die organisations- und verfahrensrechtliche Schutzwirkung. Der Begriff „Objektivierung“ der Grundrechte stellt die Entwicklung der objektiven Funktionen der Grundrechte heraus. I. Schutzpflichten Die Anerkennung der staatlichen Schutzpflichten ist der wichtigste Ausfluss der objektiv-rechtlichen Funktionen zugunsten der in den Grundrechten geschützten Rechtsgüter.34 In ihr manifestiert sich der Grundgedanke, dass der Gehalt eines Grundrechts, sein Wert, Zweck und Ziel in der Rechtsordnung verwirklicht werden muss.35 Dem Staat ist die Pflicht auferlegt, den grundrechtlich geschützten Rechtsgütern Schutz angedeihen zu lassen; das bedeutet, dass die Rechtsgüter gegen Beeinträchtigungen durch private Dritte, durch ausländische staatliche Stellen oder durch Naturgewalten zu schützen sind.36 Demnach sind die „staatlichen“ Schutzpflichten als Synonym für „grundrechtliche“ Schutzpflicht zu bewerten. Folglich wendet sich die „staatliche“ Schutzpflicht an den Adressaten der Pflicht, wohingegen die „grundrechtliche“ Schutzpflicht auf das Objekt und den Rechtsgrund des Schutzes verweist.37 In diesem Zusammenhang dient in der deut32
Bleckmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 243 ff. Jarass, AöR 110 (1985), S. 366; Bleckmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 315. 34 Manssen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 15. 35 Isensee, in: HdbStR V, S. 143 ff. 36 Manssen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 15. 37 Isensee, in: HdbStR V, S. 146. 33
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schen Verfassung der Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG für die Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen als Geburtshelfer: „die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“. Auch das BVerfG hat durch seine Rechtsprechung die Wortlautinterpretation der grundgesetzlichen Vorschriften bestätigt, dass dem Staat die Schutzpflicht zugunsten eines jeden Freiheitsgrundrechts als ein garantiertes Rechtsgut obliegt.38 Auf der Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention wird den objektiven Grundrechtsfunktionen seit langem Anerkennung und eine erhebliches Maß an Aufmerksamkeit entgegengebracht. Zunächst werden hier unter Schutzpflichten jene Gehalte der EMRK-Garantien verstanden, die den Staat dazu verpflichten, die Angriffe durch Private (Störer) auf die Rechtspositionen der betroffenen Grundrechtsberechtigten (Opfer) abzuwehren.39 Zum Beispiel verlangen die Grundrechte nach Art. 1 oder Art. 2 EMRK ausdrücklich von ihren Grundrechtsadressaten eine Leistung. Abweichend von der Verfassung eines durch Gewaltenteilung gekennzeichneten Rechtsstaates ergibt sich aus der EMRK keine verbindliche Zuweisung der Verantwortung an eine bestimmte Staatsgewalt.40 Obwohl nach der Konvention der Gesetzgeber zur Erfüllung bestimmter Schutzpflichten aufgefordert wird, ist dem Mitgliedstaat ein weitgehender Spielraum überlassen, aus dem heraus er durch Gesetz, Vollzugsmaßnahmen oder Gerichtsverfahren einen Grundrechtsgehalt den Angriffen Dritter entziehen kann.41 II. Leistungs- und Teilhabekomponenten der objektiven Grundrechtsfunktionen Mit den Leistungskomponenten der Grundrechte sind die grundrechtlich fundierten Ansprüche auf positives staatliches Handeln gemeint.42 Hierbei handelt es sich um die originären Leistungsansprüche,43 die in der Literatur auch als die sozialen Rechte hervorgehoben werden. Obwohl das Sozialstaatsprinzip als ein charakteristisches Merkmal der Bundesrepublik Deutschland gelten darf, haben die Väter des Grundgesetzes auf die Festlegung sozialer Grundrechte bewusst verzichtet. Weil die Leistungsanrechte stets von der Verteilung knapper finanzieller Ressourcen abhängig sind, hat der Verfassungsgesetzgeber im Grundsatz keine detaillierte Entscheidungs38 39 40 41 42 43
Zum Ganzen Manssen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 15. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 127. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 127. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 127. So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 402. Rüfner, in: HdbGR II, S. 680.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
befugnis in Anspruch genommen. Die Verwaltung des Haushalts obliegt vielmehr dem Parlament. Zwischen der Pflicht zu sozialer Verantwortung seitens des Staates und den gewährleisteten Abwehrrechten seiner Bürger besteht ein Spannungsverhältnis, das dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft entspricht. Unter Wahrung des freiheitlichen Charakters des Grundgesetzes übt das Grundgesetz Zurückhaltung bei der detaillierten Zumessung und Gewährung der Leistungsanrechte. Eine ebensolche Tendenz läßt sich auf europäischer Ebene den Konventionsrechten entnehmen. Dennoch hat dieser Umstand weder das Bundesverfassungsgericht, noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, noch die wissenschaftlichen Lehre in der Literatur davon abgehalten, Vorstöße in Richtung einer Interpretation von Grundrechtsbestimmungen als soziale Grundrechte vorzunehmen. Die grundrechtlichen Teilhabekomponenten ergeben sich nicht unmittelbar und direkt aus den grundrechtlichen Leistungskomponenten der Grundrechte. Sie sind vielmehr von abgeleiteter Natur. Im Vordergrund steht der gerechte Anteil des Einzelnen an der Freiheitsverwirklichung durch den Staat.44 Dies ergibt sich in der Praxis häufig aus Art. 3 GG in Verbindung mit den Freiheitsrechten oder dem Sozialstaatsprinzip: Da dem Einzelnen regelmäßig kein Anspruch auf Schaffung bestimmter Leistungen zusteht, beschränkt sich sein Anspruch darauf, dass die bestehenden Ressourcen gerecht verteilt werden.45 Gegenstand der Teilhabekomponente ist damit die Chancengleichheit beim Zugang zu Ressourcen. Darüber wird oft das Recht auf Teilhabegleichheit zu einer Frage des Verfahrensrechts: Das Einräumen von Chancengleichheit und die gerechte Bewertung und Berücksichtigung von Qualifikationen kann im gegebenen Einzelfall nur das Verfahren ergeben. Das Verfahren muss den Grundsätzen der Fairness entsprechen und wegen der Bedeutung des Verfahrens von der Rechtssetzung abgestützt sein. Durch das Verfahren sind die Positionen des Einzelnen abzusichern.46 Abgeleitete Teilhaberechte hat der EGMR unter Bezugnahme auf verschiedene Konventionsnormen überdies anerkannt oder zumindest darüber beraten.47 Bei den abgeleiteten Leistungsrechten genießen die Vertragsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum. Gleichwohl würde ein europäischer Konsens basierend auf den Vorgaben der EMRK den nationalen Beurteilungsspielraum einengen.
44 45 46 47
Zum Ganzen Manssen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 18. Epping, Grundrechte, S. 280. Epping, Grundrechte, S. 280. Krieger, in: EMRK/GG, S. 320.
Kap. 1: Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
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III. Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung Unter dem Begriff der „objektiven Grundrechtsfunktionen“ wird auch die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Grund- oder Menschenrechte zusammengefasst.48 Dennoch sind hiermit die grundrechtlichen Auswirkungen in den Bereichen von „Organisation und Verfahren“ nur undifferenziert angesprochen. Der Staat ist dazu angehalten, die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte auch in prozessualer Hinsicht effektiv abzusichern. Zum einen ergibt sich der Absicherungsmodus aus den echten Verfahrensgarantien von Grundgesetz und EMRK. Mit das wichtigste Beispiel hierfür ergibt sich aus den Justizgrundrechten, insbesondere der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG.49 Zum anderen lassen sich die Verfahrens- und Organisationsgehalte ebenso aus den materiellen Grund- oder Menschenrechten herleiten. Dabei bilden die im Text ungeschriebenen Organisations- und Verfahrensregelungen die abhängigen oder bedienenden Voraussetzungen, aus denen die angestrebte Verwirklichung des allgemeinen Grund- und Menschenrechts mitsamt ihrer materiellen Grundrechtsgehalte hervor gehen soll.50 Es besteht seitens des Bürgers ein Anrecht auf entsprechende Verfahrens- und Organisationsregelungen. IV. Drittwirkung der Grundrechte Im Begriff von der „Drittwirkung der Grundrechte“ wird auf die „Horizontalwirkung“51 der Grundrechte verwiesen, also auf ein „Hineinwirken“ der Grundrechte „in das Privatrecht“.52 Das bedeutet, dass die Schutzwirkung der Grundrechte nicht allein im Verhältnis zwischen Bürger und Staat besteht, sondern sie ebenso im Verhältnis zwischen Bürger und Bürger in Erscheinung tritt. Die Drittwirkung der Grundrechte erweist sich als die Ausnahme von der Regel, womit soviel besagt ist, dass die Entfaltung der grundrechtlichen Wirkung dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat primär vorbehalten ist. Bei der Drittwirkung wird unterschieden zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung. Unter der „unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ versteht man, dass die Grundrechte über das klassische Zweierverhältnis Bürger-Staat hinaus auch im Verhältnis der Einzelpersonen untereinander unmittelbare An48 49 50 51 52
Krieger, in: EMRK/GG, S. 322. Schmidt-Aßmann, in: HdbGR, S. 994. Schmidt-Aßmann, in: HdbGR, S. 994. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 19. Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 21.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
wendung finden.53 Das ist beispielsweise bei Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG der Fall, wonach bestimmt wird, dass Vereinbarungen unter Bürgern oder Maßnahmen von Bürgern, die den Zweck verfolgen, die Bildung von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden zu verhindern (Koalitionsfreiheit), als nichtig zu bewerten sind. Unter der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wird demgegenüber verstanden, dass die Grundrechte nur mittelbar in das Privatrecht hineinwirken. Die Schutzwirkung ergibt sich durch die Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, beispielsweise § 242 BGB, da hierbei die in den Grundrechten verankerte objektive Wertordnung zu berücksichtigen ist. Es ergeben sich aus dem konventionsrechtlichen Wortlaut der EMRK keine eindeutigen Anhaltspunkte darauf, dass sich aus ihn eine „unmittelbare Drittwirkung“ entfalten ließe. Dennoch wirkt die EMRK in Form der mittelbaren Drittwirkung zwischen den privaten Rechtsträgern durch die Gesetze.54 Demnach werden die Staaten dazu angehalten, ihr Zivil- und Strafrecht dahingehend auszurichten, dass den von der Konvention gewährleisteten Rechten im Rechtsverkehr zwischen Privatpersonen auch ein effektiver und nachhaltiger Schutz widerfährt. Die von der deutschen Staatsrechtslehre herausgestellte Verknüpfung zwischen Drittwirkung und Schutzpflicht findet ebenso Beachtung im Konventionsrecht der EMRK. In der Tendenz wird die Einwirkung der EMRK auf das Verhältnis zwischen den privaten Rechtsträgern als eine Frage der Schutzpflicht eingeordnet.55 Die vorgenommenen Kategorisierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen, so wie sie sich aus Grundgesetz und der EMRK ergeben, sind nicht zwingend. Abweichungen und Überschneidungen der gewählten inhaltlichen Kategorien betreffend der objektiven Grundrechtsfunktionen sind möglich. Weil das Ziel aller grundrechtlichen Schutzkomponenten die tatsächliche Auswirkung der als Wertordnung betrachteten Grundrechte auf das gesamte Rechtssystem ist, ist es naheliegend, die oben erwähnten Schutzkomponenten im Begriff der objektiven Grundrechtsfunktionen mit aufzunehmen.
53 54 55
Papier, in: HdbGR, S. 1336. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 131. Krieger, in: EMRK/GG, S. 309.
Kap. 1: Gegenstand des Vergleichs: Objektive Grundrechtsfunktionen
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D. Bedeutung der Lehre von objektiven Grundrechtsfunktionen I. GG: Die Wiedergeburt der Rechtsordnung aus dem „Geist der Grundrechte“56 und die Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Herausbildung der objektiven Dimension der Grundrechte ist die spektakulärste Neuerung des deutschen Staatsrechts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1945. In Anlehnung an philosophische Metaphorik kann von einer Wiedergeburt der Rechtsordnung im Geist der Grundrechte gesprochen werden.57 Die Grundrechte figurieren in diesem Bild als bevollmächtigte Geburtshelfer der Rechtsordnung. Das ursprüngliche Verständnis der objektiven Grundrechtsdimension als eine nur sekundäre Verstärkung der Abwehrfunktion wurde zu einer eigenständigen Grundrechtsfunktion weiterentwickelt. Demnach sind die Grundrechte als ranghöchste Inhaltsnormen der Rechtsordnung dergestalt herausgestellt, dass sie nicht allein auf den Staat und seine gesamte Rechtsordnung, sondern darüber hinaus auf die gesamte Gesellschaft prägend einwirken können. Ebenso soll die Auslegung des einfachen Rechts unter Berücksichtigung der Grundrechte erfolgen. Somit ergibt sich aus der objektiven Dimension der Grundrechte die Vorrangstellung von Verfassungsrecht und der das Verfassungsrecht auslegenden Verfassungsgerichtsbarkeit, die folglich an die Spitze der gesamten Rechtsordnung und der Gerichtsbarkeit tritt. Die Urteilsverfassungsbeschwerde erstreckt die grundrechtliche Kontrolle über alle Rechtsgebiete des einfachen Rechts und wird somit Leitschiene für die zu etablierende objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte bei gleichzeitiger Erweiterung und Befestigung der Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der deutschen Rechtsordnung. Die Leitvorstellung von den objektiven Grundrechtsfunktionen ist hervortretendes Merkmal deutschen Staatsrechts der Gegenwart und sie ist für das gesamte deutsche Öffentliche Recht von fundamentaler Bedeutung. Darin findet sich die Absage an den Missbrauch von Grundrechten während der Diktatur und die konsequente Hinwendung zur Achtung und Beachtung der Grundrechte in der deutschen Nachkriegsdemokratie. Ohne die objektive Dimension ist der hohe Grad von Verrechtlichung der politischen Aktivitäten, die enge Verbindung von Verfassungsrecht und einfachem Gesetz, sowie die Wiedergeburt der Grundrechte in der gesamten Rechtsordnung nicht 56 57
Wahl, in: HdbGR I, S. 746. Wahl, in: HdbGR I, S. 746.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
zu erklären.58 Diese Entwicklung ist nicht zuletzt der wirkungsvollen Initiative der Verfassungsgerichtsbarkeit geschuldet.59 II. EMRK: Die Verstärkung der Abwehrrechte durch die objektiven Grundrechtsfunktionen Der Zielvorgabe und dem Wortlaut entsprechend begründen die Freiheitsfeststellungen der EMRK primär die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber staatlichen Eingriffen im Umkreis der zu schützenden Freiheiten.60 Im Laufe der Zeit hat sich aus dem Betätigungsfeld des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Fülle von argumentativ vorgetragenen Hinweisen auf die bestehende positive staatliche Schutzpflicht bezüglich der Grundrechtsbeeinträchtigungen aus nichtstaatlicher Richtung mit dem Ziel ergeben, die abwehrrechtlichen Freiheiten einer effektiven Verwirklichung zuzuführen. Entgegen einer zunehmenden Bedeutung der positiven grundrechtlichen Schutzfunktion fehlt auf Ebene der EMRK in Rechtsprechung und Literatur die systematisierende und dogmatisierende Eingliederung der objektiven Grundrechtsfunktionen.61 Während der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung den objektiven Grundrechtsfunktionen im Ansatz weitgehend zuspricht, wird von ihm ihre generalisierende Allgemeinverbindlichkeit in Frage gestellt. Infolge der zunehmenden Bedeutung der objektiven grundrechtlichen Schutzfunktionen für die Rechtsprechung des EGMR entsteht daraus im Umfeld dieser Fragestellung ein Systematisierungsanspruch, mit dem sich gegenüber den Vertragsstaaten ein erhöhtes Maß an Kontinuität, Einheitlichkeit und voraussehbarer Verlässlichkeit der europarechtlichen Rechtsfindungen begründen ließe.62 Kapitel 2
Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen Der Rechtsvergleich unterliegt den allgemein geltenden Normen für das Vergleichsverfahren, wonach bei den zu vergleichenden Phänomenen im Vorhinein eine Gemeinsamkeit nach einem oder mehreren Gesichtspunkten 58
Wahl, in: HdbGR I, S. 746. Siehe z. B. BVerfGE 7, 198 – Lüth; BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II. 60 Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 309. 61 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 3. 62 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 3. 59
Kap. 2: Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK
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nachweisbar sein muss. Folglich können sich aus der strukturellen oder funktionellen Parallelität der zu vergleichenden Objekte die Bedingungen ihrer möglichen Vergleichbarkeit ergeben.63 Gelingt es dem mit der Rechtsfrage Befassten, die Grundlage des intendierten Vergleichs zu erkennen, so kann demnach der Vergleich in Anlehnung an die erkannten Strukturähnlichkeiten, an die funktionalen Äquivalenzen oder ebenso unter Inanspruchnahme der heuristischen Vergleichbarkeitshypothese stets vorgenommen werden. Somit kann als Erstes gefragt werden, in welchem Sinne die objektiven Grundrechtsfunktionen in der Diktion von EMRK und dem GG ein Vergleichsfeld erkennen lassen. Der überzeugende Rechtsvergleich erfordert eine schrittweise Analytik in Richtung auf die Grundfrage. Dazu gehören die Fragen nach der Anerkennung und Einzelentfaltung der objektiven Dimension in der Konventionsrechtsdogmatik, genauer: ob diese Vorgaben in die Rechtsprechung des EGMR Eingang gefunden haben und ob die Lehre in ein nachhaltig wirkendes Umfeld gerichtlicher Zuständigkeiten eingebettet ist, die sich dann als wegweisend im Hinsicht auf eine Entfaltung und Weiterentwicklung der objektiven Dimension empfehlen. Das institutionelle Umfeld der EMRK erschwert ihre Orientierungsfindung, denn es gilt zu bedenken, dass der EGMR als internationaler Gerichtshof sich von anderen Vorgaben leiten lassen muss als die, die auf nationaler Ebene für das Handeln des BVerfG bestimmend sind.64
A. GG als nationale Verfassungsordnung und die EMRK als internationaler Vertrag Die rechtlich politische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wurzelt im Gültigkeitsbereich des Grundgesetzes als Verfassung des deutschen Staates. Im Rückblick auf die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Vorgängerstaat sind den im Grundgesetz verankerten Grundrechten eine besondere Bedeutung beizumessen. Mit Art. 1 der Verfassung als unmittelbar geltendes Recht ist alle Staatsgewalt gebunden. In Anlehnung an den materiellen Verfassungsbegriff ergab sich die grundlegende Weichenstellung für die künftige politische Ordnung und Entwicklung des Landes in Richtung auf Republik, Demokratie sowie Sozial- und Bundesstaat im Wege einer konsolidierenden Deutung unabdingbarer Rechtsprinzipien. Aus diesen Grundentscheidungen gingen die Vorgaben an die Organisation des Staates und an die Absicherung der individuellen Freiheiten hervor. Mit der Zeit zeigte sich ein Ordnungsgefüge, das sich im Begriff einer objektiven Werteordnung verstehen lässt. 63 64
Sommermann, in: HdbGR I, S. 661. Wahl, in: HdbGR I, S. 777.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
Als multilaterales, internationales Vertragswerk untersteht die EMRK dem Völkerrecht. Mit Blick auf den europäischen und somit regionalen Schutz der Menschenrechte gilt diese Übereinkunft als ein erster europäischer Vorstoß in Richtung auf ein vordringliches Anliegen. Ihre Entstehung verdankt sie den Initiativen zur Etablierung einer stabilen europäischen Nachkriegsordnung vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Missachtung der Menschenrechte.65 Heute behauptet sich die EMRK als europäisches Verfassungsinstrument und gilt demnach im gleichen Maße als Bestandteil des EGRechts (Art. 6 EUV). Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention wurden fast zeitgleich aus der Taufe gehoben. Sie haben die gemeinsamen Wurzeln in den Bürger- und Menschenrechten als Teil der politischen Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankereich. Die im Jahre 1948 angenommene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war nicht nur das Vorbild für die EMRK, vielmehr ertreckte sich ihr Einfluss bis hin zur Textausgestaltung des Grundgesetzes. Trotz einer weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung im Wortlaut von Konvention und Grundgesetz hat Deutschland ähnlich den anderen Vertragsstaaten an den Besonderheiten seiner nationalen Rechtsordnung beharrlich festgehalten. Ein Vergleich zwischen den in der Konvention und im Grundgesetz verbürgten Rechten macht deutlich, dass das deutsche Recht in Teilen über die europäischen Gewährleistungen hinausgeht, hingegen in anderen Bereichen hinter diesen zurückbleibt. Der Vergleich zwischen EMRK und GG bezüglich der objektiven Grundrechtsfunktionen wird zeigen, in welchem Maße sich Ansätze zu einer Systematisierung seiner objektiven Dimensionen auf nationaler und europäischer Ebene finden lassen. Diese Anregungen können für die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen auf den beiden genannten Ebenen fruchtbar gemacht werden. Dazu ist es erforderlich, dass das Verhältnis von Grundgesetz und EMRK näher beleuchtet wird.
B. Wechselwirkung zwischen dem GG und der EMRK I. Rang der EMRK in der deutschen Rechtsordnung Die Vorgaben der EMRK lassen keinen expliziten Bezug zu Stellung, Rang oder Folgewirkung für das nationale Recht erkennen. Entsprechend
65
Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 1.
Kap. 2: Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK
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uneinheitlich ist die Stellung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten und im Besonderen ihr Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht. Der EMRK ist nach Art. 59 Abs. 2 GG, ähnlich allen völkerrechtlichen Verträgen, nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes und damit eine Stellung unterhalb der Verfassung zugewiesen.66 Das BVerfG hebt unmissverständlich hervor, dass der EMRK kein Verfassungsrang zukommt.67 Die Verfassungsbeschwerde kann demnach nicht allein auf die Verletzung der EMRK gestützt werden, denn der alleinige Prüfungsmaßstab für die Verfassungsbeschwerde ist das Grundgesetz und die dort ausgewiesenen Grundrechte.68 Trotzdem zeigt die Rechtsprechung des BVerfG, dass sehr wohl Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes Berücksichtigung finden.69 De facto kommt auf diese Weise der EMRK im deutschen Recht zwar kein verfassungsrechtlicher aber doch ein übergesetzlicher Rang zu. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte es aufgrund einer zunehmenden Harmonisierung von nationaler Rechtspraxis und internationaler Grundrechtsordnung nur noch selten zu Konfliktfällen kommen. II. Einfluss der EMRK auf die Auslegung des GG Wenngleich die Europäische Menschenrechtskonvention der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nachgeordnet ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Pflicht der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit zur „Berücksichtigung“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte festgestellt.70 Ziel ist es, die Harmonisierung von Verfassungsrecht und Menschenrechten der EMRK zu befördern. Demzufolge übt die EMRK im Sinne einer Durchsetzung ihrer menschenrechtlichen Standards einen nicht zu unterschätzenden, indirekten Einfluss auf die in nationaler Verantwortung agierenden Instanzen aus.71 Ausweislich der in jüngster Zeit ergangenen Rechtsprechung findet sich in Deutschland diese „völker- und europarechtfreundliche Tendenz“ weitgehend bestätigt.72 Im Einzelnen wirken die rechtlichen Vorgaben der EMRK als interpretatorische Leitschnur bei der Konkretisierung von materiellen Verfassungsbestimmungen und Grundrechtsvorschriften. 66 67 68 69 70 71 72
Schweitzer, Staatsrecht III, S. 282. BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 19. BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü. BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü. Sommermann, in: HdbGR I, S. 639. Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
Allerdings bietet die als ein gemeinsames Erbe der europäischen Völker überkommene und als eine europäische „öffentliche Ordnung“ zu betrachtende EMRK nur eine zusätzliche Gewährleistung für die in nationaler Verantwortung der Vertragsstaaten zu implementierenden Menschenrechte. Demnach entspricht es nicht dem Anliegen der Konvention, die nationalen Grundrechtskataloge der Vertragsstaaten aufzuheben und insbesondere den ihnen beigegebenen staatlichen Grundrechtsschutz zu schmälern.73 Unter Beachtung von Art. 25 GG und den völkerrechtlichen Rechtsgepflogenheiten ist der EMRK faktisch doch ein übergesetzlicher Rang zuerkannt,74 und dieser rechtliche Mindestanspruch wird schließlich auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbar. Als verpflichtender Maßstab bei der Bestimmung des inhaltlichen Mindestgehalts ihres grundgesetzlichen Äquivalents erwächst der EMRK unter diesem Aspekt faktisch Verfassungsrang. Als unabdingbarer Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips nähert sich die EMRK zunehmend sogar dem formellen Verfassungsrang mit der Tendenz zur Bindung selbst des verfassungsändernden Gesetzgebers über Art. 79 Abs. 3 GG.75 Diese Ergebnisse lassen sich durch Heranziehung des Art. 1 Abs. 2 GG jeweils zusätzlich abstützen. III. Einfluss der nationalen Rechtsprechung auf die Auslegung der EMRK Obwohl die Konvention das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten beeinflusst, vermag das Recht der Mitgliedstaaten sich ebenso auf Auslegung und Anwendung der Konvention auszuwirken. Da sich die Zuständigkeit von Kommission und Gerichtshof im Grundsatz nur aus der Konvention, ihren Zusatzprotokollen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergibt, ist die Berücksichtigung der von allen Vertragsstaaten akzeptierten verfassungsrechtlichen Gemeinsamkeiten bei der Interpretation der EMRK auch ein „zusätzliches Kriterium“, das als Allgemeinstandard für alle europäischen Mitgliedstaaten angesehen wird.76 Mit Verkündung des Grundgesetzes im Nachkriegsdeutschland und dank der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts hat sich so eine nachhaltig prägende „Kultur des Grundrechts“ herausgebildet, dass damit eher die Annahme eines Exports als eines Imports europäischer Standards nahegelegt ist.77 Dieser Umstand kann mit Sicht auf eine gesamteuropäische 73 74 75 76
Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff. Schweitzer, Staatsrecht III, S. 283. Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff. Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff.
Kap. 2: Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK
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Beförderung und Verbesserung der Menschenrechtssituation nicht unberücksichtigt bleiben. In Zukunft sollte eine stärkere Öffnung des deutschen Grundgesetzes für gemeineuropäisch definierte Verfassungswerte gefördert werden, um deutsche Exportbestrebungen weniger hegemonial und akzeptabler erscheinen zu lassen.78 Für die so bewirkte Wechselbeziehung zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung ergibt sich im Überblick, dass die Konventionsorgane einesteils bei Auslegung und Anwendung des Konventionsinhalts die innerstaatliche Rechtspraxis berücksichtigen und im Gegenzug für die Fortentwicklung der nationalen Rechtsprechung neue Perspektiven anregen. Die Wechselwirkungen sind hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen ebenso von Bedeutung. Angesichts der breitgefächerten Vielfalt dieser objektiven Grundrechtsfunktionen vermag eine nationale oder europäische Rechtsprechung, die neue Grundrechtsfunktionen anzuerkennen oder deren Grenzen auszuweiten gedenkt, auf lange Sicht Auswirkungen auf Inhalt, Umfang und Grenze der Systematisierung der objektiven Grundrechtsfunktionen auf der nationalen und europäischen Ebene zu entfalten.79
C. Übertragbarkeit der deutschen Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen auf die EMRK Im Mittelpunkt der Konventionsrechtsprechung steht die Bedeutung der Konventionsrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber den Eingriffen des Staates. Dass sich mit den objektiven Grundrechtsfunktionen und den damit gewährten Freiheiten eine positive Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern verbindet, lässt sich sowohl der Rechtsprechung des BVerfG und der einschlägigen Literatur als auch den Urteilen der Konventionsorgane entnehmen. Da der EGMR in seinen Entscheidungen noch stark auf den Einzelfall abstellt, bleibt die Frage erst einmal offen, ob die von der Lehre vertretene Ansicht betreffend der sich den objektiven Grundrechtsfunktionen anlehnenden Ausprägungen von objektiven FunktionsSchutzpflichten und Verfahrensgarantien sich wird im Rahmen der EMRK aufnehmen oder ausbilden lassen können. Grundgesetz und EMRK stimmen beim Schutz der Grund- und Menschenrechte weitgehend überein. Dennoch unterliegen die zu interpretierenden Konventionsbestimmungen den Auslegungsgrundsätzen menschenrechtlicher Verträge. Folglich lassen sich die am Grundrechtekatalog des Grundgesetzes anknüpfenden allgemeinen Grundrechtslehren nicht vorbehaltslos 77 78 79
Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff. Giegerich, in: EMRK/GG – Konkordanzkommentar, S. 62 ff. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 65.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
auf die EMRK übertragen.80 Das innerstaatliche Rechtsverständnis ergibt sich aus der Anwendung der vergleichenden Methode des Rechts auf dem Wege der Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze oder der eines gemeinsamen europäischen Standards.81 Ferner zeigt sich in der Beschränkung auf die Einzelfalllösung, dass sich der EGMR einer allgemeinen Theorie der objektiven Grundrechtsfunktionen nur mit zunehmendem Vorbehalt nähert, was derzeit die Übernahme der Lehre von den objektiven Grundrechtsdimensionen in die EMRK erschwert.
D. Bedeutung des Vergleichs zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es die Erfahrungen im Umkreis von Unrechtsbewusstsein, Diktatur, Totalitarismus und Krieg in Europa, die die effektive Gewährleistung individueller Rechte in das Zentrum einer neu zu gestaltenden Rechtspolitik rücken ließen. Schlussendlich hat es die Europäische Menschenrechtskonvention dennoch vermocht, die verfassungsrechtlichen Rahmen der unterschiedlichsten europäischen Vertragsstaaten in Richtung eines übereinkommenden Ausgleichs zu bewegen.82 In diesem Sinne erweist sich die EMRK als das grundlegende System Europas in Hinblick auf rechtliche Zusammenführung, Koordinierung und Verschmelzung nationaler Standards und Lösungsansätze. Die damit einhergehenden Verfahrensweisen waren und sind stets nur im Wege des Rechtsvergleichs vermittelbar Ein Grundrechtsvergleich kann zunächst die verschiedenen Phänomene auf nationaler und internationaler Ebene analysieren und systematisieren. Im Folgenden können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen einer weiterführenden Würdigung unterzogen werden.83 Aus den angesprochenen Rechtsphänomenen ergibt sich ein Beitrag zur Gewinnung normativ-empirischer Daten als Grundlage für die Ausgestaltung von Theorie, der Vervollständigung der Argumente bei der Grundrechtsinterpretation oder der Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze.84 Dennoch besteht weiterhin Zweifel darüber, ob die aus anderen Rechtsordnungen gewonnenen Einsichten in der gebotenen Differenziertheit für die eigene Rechtsfindung nutzbar gemacht werden können. Diese Frage 80 81 82 83 84
Krieger, in: EMRK/GG, S. 269. Krieger, in: EMRK/GG, S. 269. Sommermann, in: HdbGR I, S. 656 ff. Weber, A., Europäische Verfassungsvergleichung, S. 5. Sommermann, in: HdbGR I, S. 647.
Kap. 2: Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK
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stellt sich dort, wo die Einzelstaaten ihre Selbstständigkeit hervorheben und die abweichende Logik ihres nationalstaatlichen Rechtssystems betonen. Für die Praxis ergibt sich hieraus, dass der Grundrechtsvergleich als Erkenntnismethode bislang nur selten angewendet wird. Dennoch fordert der wachsende Bedarf an vergleichenden Erkenntnissen die Weiterentwicklung des auf der Wissenschaft basierenden Rechtsvergleiches heraus. Weil der Grundrechtsvergleich hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen die grundrechtsbildende, grundrechtskonkretisierende und grundrechtsergänzende Wirkung auf den Aufbau der Grundrechtsdogmatik auf den deutschen und europäischen Ebenen hat, spielt der vertikale Grundrechtsvergleich zwischen GG und EMRK eine wegweisende Rolle.85 Demgemäß ist die Lehre von den objektiven Grundrechtsfunktionen in ihrer Ausführung gehalten, die europäischen Standards unter Hervorhebung des Etablierten und Gemeinsamen zu umreißen, aber die neuen, aus nationalem und internationalem Recht sich ergebenden Anregungen einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Zudem sind abschließend die allgemeinen, allen objektiven Grundrechtsfunktionen inne wohnenden Schranken für ihre Anwendung aufzuzeigen. Im Folgenden wird die Bedeutung des Vergleichs zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen im Detail ausgeführt. I. Verstärkung des Dialogs zwischen GG und EMRK Die Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen ist ein herausragendes Kennzeichen des gegenwärtigen deutschen Staatsrechts, das wie erwähnt zur Wiedergeburt der deutschen Rechtsordnung aus dem Geist der Grundrechte nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hat. Ein Vergleich hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen wird den Dialog zwischen GG und EMRK im Bereich der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik verstärken: Beispielweise lässt sich durch einen solchen Dialog die Besonderheit des deutschen Staatsrechts mit Sicht auf die objektiven Grundrechtsfunktionen hervorheben, aber es lassen sich eben auch die im internationalen Kontext geltenden Besonderheiten der EMRK ins Bewusstsein rufen. Möglicherweise könnte sich aus dem deutschen Verständnis bezüglich der objektiven Grundrechtsfunktionen eine Vorbildfunktion für und über die EMRK hinaus in dem Sinne ergeben, das sich dieses Verständnis als Vorreiter zu einer gesamteuropäischen Entwicklung entwickelte.
85
Sommermann, in: HdbGR I, S. 677.
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Teil 1: Die Vergleichsgrundlage
II. Weitere Systematisierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen in der EMRK Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag etabliert das Kernstück der europäischen Grundrechtsverfassung. Dabei dient die Rechtsprechung des EGMR in jüngerer Zeit auch als Erkenntnis- bzw. Inspirationsquelle. Aber, wie bereits dargelegt, lassen sich am Prozess der Rezeption der Lehre von objektiven Grundrechtsfunktionen Lähmungserscheinungen insofern ausmachen, als der EGMR der Einzelfalllösung überwiegend zuneigt und gegenüber den allgemeinen Grundrechtstheorien seine Zurückhaltung aufrecht erhält. Vor diesem Hintergrund kann es sinnvoll erscheinen, die inhaltliche und strukturelle Fülle der europäischen Grundrechtsdogmatik in der EMRK um die weitergehende dogmatische Systematisierung der objektiven Grundrechtsfunktionen zu erweitern. III. Erkennen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen GG und EMRK Ein allgemeiner Vergleich von GG und EMRK ist für das Erkennen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf deutscher und europäischer Ebene von großer Bedeutung. Auf der einen Seite unterscheidet sich die EMRK wesentlich vom GG. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der in den Vertragsstaaten eine zusätzliche Gewährleistung der Menschrechte und Grundfreiheiten bietet und somit den deutschen Grundrechtsschutz ergänzt. Das GG ist die in Deutschland gültige innerstaatliche Grundrechtsverfassung, die sich eher im innerstaatlichen Beurteilungsspielraum bewegt und nur im Rahmen der rechtsvergleichenden Methode zur Ermittlung eines gemeinsamen europäischen Standards zum Tragen kommen kann. In der Wechselwirkung zwischen GG und EMRK spielt der Grundsatz der Subsidiarität insofern eine gewichtige Rolle, als der primäre Schutz dem GG obliegt und die EMRK zusätzlich einen subsidiären Schutz des Grundrechts gewährleistet. Damit ist der EMRK die Rolle eines europäischen Mindeststandards zugewiesen. Vor diesem Hintergrund trägt das Erkennen der Unterschiede zwischen GG und EMRK anhand der objektiven Grundrechtsfunktion zu effektiven Parallelgewährleistungen auf deutscher und europäischer Ebene bei. Auf der anderen Seite zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen GG und EMRK eine aktuelle Tendenz: Die Grundrechte sollen einen tatsächlichen und wirksamen Grundrechtsschutz immer in dynamischer Weise gewähren. Die durch Rechtsvergleich gewonnenen Gemeinsamkeiten von GG und EMRK können Argumente für die Auslegung der jeweils anderen Rechtsordnung liefern.
Kap. 2: Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK
45
IV. Stärkungen der subjektiven Abwehrrechte beider Rechtssysteme Ziel der objektiven Grundrechtsfunktion ist die Stärkung der klassischen, negativen Abwehrfunktion der Grundrechte. Ein systematischer Vergleich der objektiven Grundrechtsfunktion zwischen GG und EMRK leistet hiermit einen theoretischen Beitrag zur Stärkung der Schutzwirkung der Grundrechte und gleichzeitig auch zur Stärkung der subjektiven Abwehrrechte, da sie sich gegenseitig ergänzen.
Teil 2
Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich Im Folgenden sollen die typologisch aufgegliederten objektiven Grundrechtsfunktionen von GG und EMRK im Vergleich näher untersucht werden. Dazu zählen die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Leistungs- und Teilhabekomponenten, die verfahrens- und organisationsrechtlichen Schutzwirkungen und die Drittwirkung. In diesem Zusammenhang gilt es, die sich aus dem jeweiligen Einzelfall einer objektiven Grundrechtsfunktion ergebenden, konkreten grundrechtsdogmatischen Herleitungen, Inhalte und Schlussfolgerungen zu erörtern. Kapitel 1
Schutzpflichten Seit den achtziger Jahren steht die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflichten im Zentrum der Diskussion über die objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen.1 Bei den grund- und menschenrechtlichen Schutzpflichten geht es um die dem Staat zugewiesene Pflicht, Rechtsgüter seiner Bürger vor nicht hoheitlicher Gefährdung, insbesondere von privater Seite, durch das Ergreifen zweckdienlicher Maßnahmen zu schützen.2 Ansatzpunkt für diese Thematik ist der Gedanke, dass das grundrechtliche Gut der Bürger durch Einwirkungen Dritter einer ebenso schwerwiegenden Beeinträchtigung unterliegen kann, wie wenn ein Eingriff auf eine hoheitliche Maßnahme zurückzuführen ist.3 Im Zuge einer fortschreitenden wissenschaftlich-technischen Entwicklung haben die nichthoheitlichen Gefährdungen für die Grund- und Menschenrechte ein in der Menschheitsgeschichte ungekanntes Ausmaß erreicht.4 Derzeit lässt sich kaum noch ein grundrechtlich geschütztes Gut benennen, welches nicht auch aus dem ge1 Siehe z. B. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 41 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 17 ff. 2 Krieger, in: EMRK/GG, S. 277. 3 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 17. 4 Calliess, Schutzpflichten, in: HdbGR II, S. 967 ff.
Kap. 1: Schutzpflichten
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sellschaftlichen, privaten oder auch natürlichen Umfeld heraus bedroht und gefährdet wäre. Als einige der aktuellen Beispiele gelten die Phänomene AIDS, Abtreibung, Atomenergie, Hausbesetzungen, Kindesmisshandlung und Waldsterben, die einen ersten Eindruck von der zugrunde liegenden Problematik vermitteln.5 Daneben lauern als schicksalhafte und unentrinnbare Begleiter der menschlichen Existenz die natürlichen Gefahren wie Naturkatastrophen und Krankheit. Der Einzelne allein kann das Ringen um die Absicherung seiner Existenz kaum alleine bestehen. Vor diesem Hintergrund muss der staatlichen Ordnungsmacht die Aufgabe zukommen, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, welche eine effektive Durchsetzung der Grundrechte gewährleisten. Obwohl die Grundrechte in erster Linie auf die Abwehr des staatlichen Übergriffs hin entworfen wurden, hat die positive Schutzfunktion des Grundrechts bereits früh Eingang in die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts gefunden. Auch die deutsche juristische Literatur hat dieses Thema intensiv kommentiert und erörtert. Zudem hat sich inzwischen auch im Rahmen der EMRK die Anerkennung der positiven Schutzpflichten durchgesetzt. Die Schutzpflichten zeichnen sich durch einen übernationalen Ansatz aus; gleichwohl sind ihre Einzelausprägungen noch wenig aufgearbeitet.
A. Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten im GG und in der EMRK I. Herleitung in der Rechtsprechung Die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten ist vor allem an eine allmählich sich etablierende Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Konventionsorgane geknüpft. Die Urteile und Beschlüsse dieser beiden Rechtsprechungsorgane lassen die Konturen der grundrechtlichen Schutzpflichten immer deutlicher erkennen. 1. Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG a) Vorbemerkungen Das Bundesverfassungsgericht hat sich einer Herleitung positiver Schutzpflichten aus den Grundrechten schrittweise genähert. Anhand einer Auswahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts soll im Folgenden ein Überblick über die Entwicklung positiver Schutzpflichten in der deut5
Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 16.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
schen verfassungsrechtlichen Judikatur nachgezeichnet werden. Im Sprachgebrauch des Bundesverfassungsgerichts wird durchgehend der Begriff „Schutzpflicht“ verwendet. Auf der Ebene der EMRK wird hingegen von der Rechtsprechung der Terminus von der „positiven Verpflichtung des Staats“ bevorzugt. Die beiden Begriffe sind in ihrem Gebrauch weitgehend sinnverwandt, jedoch kommt ihnen im erweiterten Sinne zuweilen die Bedeutung der objektiven Grund- oder Menschenrechtsfunktionen zu. b) Leitentscheidungen Indem beispielsweise vom Schutz des ungeborenen Lebens vor Tötung, vom Schutz der Gesundheit vor Gefahren durch Kernkraftwerke oder vom Schutz vor gesundheitsgefährdendem Fluglärm gesprochen wird, wird deutlich, dass die hinsichtlich der Schutzpflicht ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vielgestaltig ist. Alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beschäftigen sich mit der Ausgangsfrage, ob und in wie fern es im Einzelfall eine staatliche Pflicht ist, die Rechte des Bürgers vor Beeinträchtigungen Dritter wirksam zu schützen. Eine Leitentscheidung war das im Jahre 1975 ergangene erste Urteil in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs.6 Dem Verfahren lag die Frage zugrunde, ob die sich aus dem Fünften Strafrechtsreformgesetzes ergebende Fristenlösung, wonach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis straffrei bleiben solle, mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts beanstandeten, dass das Gesetz zur Fristenregelung dem Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Rechnung trage.7 Das Bundesverfassungsgericht stellte die Schutzverpflichtung des Gesetzgebers gegenüber dem ungeborenen menschlichen Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG fest, das im Notfall bei Zuwiderhandlung mit den Mitteln des Strafrechts zu ahnden sei. Die Schutzpflicht des Staates sei umfassend: „Sie verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen. Das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“8 Diese Schutzverpflichtung sei ebenso auf das Verhalten der Mutter zu erstrecken; der Schutz des Lebens genieße grundsätzlich über die Gesamtdauer der Schwangerschaft den Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren.9 6 7 8 9
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
39, 39, 39, 39,
1 1 1 1
– – – –
Schwangerschaftsabbruch Schwangerschaftsabbruch Schwangerschaftsabbruch Schwangerschaftsabbruch
I. I. I. I.
Kap. 1: Schutzpflichten
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Nach Meinung der Fachkreise war diese Entscheidung in Verbindung mit dem später ergangenen zweiten Urteil aus dem Jahr 1993 zum Schwangerschaftsabbruch hinsichtlich der Entwicklung der deutschen verfassungsrechtlichen Schutzpflichtlehre wegweisend. Das Bundesverfassungsgericht hat hiermit erstmalig auf die originäre Verletzung der Schutzpflicht durch den Staat erkannt. Eine Besonderheit des Urteils lag darin, dass das Bundesverfassungsgericht aus der staatlichen Pflicht zum Schutz des Lebens folgerte, dass dem Gesetzgeber die verpflichtende Aufgabe zuzuweisen sei, dem Urteil im Notfall durch Erlass von Strafvorschriften Geltung zu verschaffen. Den Urteilen und Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auch zu anderen Themenbereichen die Annahme einer staatlichen Schutzpflicht für die Rechtsgüter des Einzelnen im Falle ihrer Beeinträchtigung durch Dritte entnehmen. Als beispielhaft gelten die Urteile zu den folgenden Themenkomplexen: Der Schutz des Bürgers vor Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernenergie,10 vor Straßenverkehrs- und Fluglärm11 sowie vor Luftverunreinigungen durch Schadstoffe12 wie Ozon (Sommersmog).13 Im Mülheim-Kärlich-Beschluss14 hebt das Bundesverfassungsgericht hervor, dass sich die „Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“, aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 2 Abs. 2 GG ergebe.15 Parallel hierzu wurde die sich aus der ständigen Rechtsprechung herleitende und mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung atomrechtlicher Normen übereinstimmende Sicht auf die Schutzpflicht bestätigt. Dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zufolge solle der Staat die Schutzpflicht in der Weise verankern, „dass er die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie von einer vorherigen staatlichen Genehmigung und die Erteilung solcher Genehmigungen von näher geregelten materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen abhängig macht.“16
Das Gericht hielt das Genehmigungsverfahren für ausreichend, um den Schutz vor Gefährdung durch Dritte zu gewährleisten. Ähnlich dem Mülheim-Kärlich-Urteil wird die Schutzpflicht bei der Fluglärmentscheidung17 10 11 12 13 14 15 16 17
BVerfGE 49, 89 (140 ff.) – Kalkar I; 53, 30 (57 ff.) – Mülheim-Kärlich. BVerfGE 79, 174 (201 f.) – Straßenverkehrslärm; 56, 54 (73 f.) – Fluglärm. BVerfG in NJW 1998, S. 3264 (3265 f.) – Waldsterben. BVerfG in NJW 1996, S. 651 – Ozon. BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich. BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich. BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich. BVerfGE 56, 54 (78 f.) – Fluglärm.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
aus Art. 2 Abs. 2 GG hergeleitet: Dem Staat ist die Pflicht aufgetragen, den die Gesundheit gefährdenden Auswirkungen durch den Fluglärm entgegen zu treten. In dieser dem Staat auferlegten Verpflichtung war inbegriffen, dass er die bislang als verfassungskonform geltenden Lärmvorschriften einer Nachbesserung zu unterziehen habe.18 Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Entscheidungen steht das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG sowie auf Freiheit der Person. In seinen Entscheidungen lässt das BVerfG zwei Ansätze zu einer dogmatischen Begründung erkennen. Zum einen ergeben sich die staatlichen Schutzpflichten aus den objektiven Grundrechtsfunktionen als objektiver Wertordnung. Zusätzlich wird die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG für die Begründung herangezogen.19 Demgegenüber verneinte das Bundesverfassungsgericht in anderen Fällen eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten, so etwa im Entführungsfall Schleyer.20 Die Anwälte des von Terroristen entführten Arbeitgeberpräsidenten beabsichtigten vor dem Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erwirken. Ziel der Anwälte war es, eine Anordnung zu erreichen, im Wege derer die Bundesregierung dazu verpflichtet werden sollte, die Forderungen der Entführer zu erfüllen, um somit das Grundrecht des Entführten aus Art. 2 Abs. 2 GG (Leben und Gesundheit) zu schützen.21 Der Antrag wurde vom Gericht mit folgendem Hinweis abgelehnt: Das Gericht nehme davon Abstand, innerhalb des bestehenden Beurteilungs- und Entscheidungsspielraums der verantwortlichen staatlichen Organe, dem Staat eine Entscheidung darüber vorzugeben, welche der konkret zu ergreifenden Maßnahmen der Erfüllung seiner Schutzpflichten dienten.22 Eine nicht geringe Anzahl von Verfassungsbeschwerden sind bereits mit dieser Argumentation durch das Bundesverfassungsgericht als unzulässig oder zumindest als unbegründet erklärt und von ihm abgewiesen worden.23 c) Bewertung Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt deutlich erkennen, dass das Gericht der Anerkennung staatlicher Schutzpflichten aus den 18
BVerfGE 56, 54 (78 f.) – Fluglärm. Krieger, in: EMRK/GG, S. 283. 20 BVerfGE 46, 160 – Schleyer. 21 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 74. 22 BVerfGE 46, 160 – Schleyer. 23 So z. B. BVerfG, 1 BvR 2234/97 v. 9.12.1998 – Nichtraucherschutz; BVerfG, 2 BvR 943/99 v. 26.3.2001 – Religionsgemeinschaften. 19
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Normen des Grundgesetzes positiv gegenübersteht. Jedoch ist die Rechtsprechung in einen Konflikt hineingeraten, der sich aus der gebotenen staatlichen Zurückhaltung und möglicher gesellschaftlicher Selbstregulierung einerseits und der geforderten, umfassenden staatlichen Schutzpflicht andererseits ergibt. Die Analyse der verfassungsrechtlichen Entscheidungen verdeutlicht die Schwierigkeiten einer Gratwanderung, insofern das Gericht gehalten ist, die Gewährung eines umfangreichen Grundrechtsschutzes einerseits und die Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung andererseits rechtlich gegeneinander abzuwägen. 2. Überblick über die Entwicklung der Spruchpraxis der Konventionsorgane a) Vorbemerkungen Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ebenfalls zur Entwicklung positiver Schutzpflichten in den Mitgliedstaaten beigetragen. Die diesbezüglichen Urteile des EGMR werfen die folgende Frage auf: Begründen die Freiheiten neben dem in der Konvention deklarierten abwehrrechtlichen Freiheitsanspruch auch einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Ausgestaltung positiver Schutzmaßnahmen seitens des Staates?24 Auf diesem Wege wirken die deklarierten Menschenrechte mittelbar auch in den Beziehungen von Privatpersonen. Betroffen sind zahlreiche Lebensbereiche. Als Beispiele können die körperliche Züchtigung von Kindern durch ihre Lehrer,25 der staatliche Schutz friedlicher Demonstranten vor gewalttätigen Gegendemonstrationen26 oder der Schutz der Gesundheit und des Lebens vor tätlichen Angriffen Dritter genannt werden.27 Die Rechtsfindung des EGMR zur staatlichen Schutzpflicht folgt nicht allgemeingültigen, theoretischen Erwägungen. Das bedeutet, dass das Urteil stets als Entscheidung im Einzelfall ergeht. Die gleichbleibend geübte richterliche Zurückhaltung lässt sich damit begründen, dass die einer Konventionsverletzung zu Grunde liegenden Sachverhalte im jeweiligen Einzelfall immer aus ganz unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen stammen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich die Schutzpflichten für die Konventionsorgane aus 24
Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 315. EGMR A 48 – Campbell & Cosans vs. the UK; EGMR A 247-C – SostelloRoberts vs. the UK. 26 EGMR A 139 § 32-Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 27 EKMR, in: DR 7, S. 81 ff. – X. vs. Denmark; EKMR, in: DR 32, S. 190 ff. – W. vs. The UK; EGMR A 91 – X. & Y. vs. Netherlands; EKMR, in: DR 47, S. 27 ff. – M. vs. the UK and Ireland. 25
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
der Vertragspraxis der Konvention unter Anwendung einer effektiven, dynamisch-evolutiven Auslegung der dort festgestellten Vorgaben zum Menschenrecht.28 b) Leitentscheidungen Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Rechtsprechung die Gedanken zur Schutzpflicht in einigen Leitentscheidungen entwickelt. Im Leiturteil zu Young, James und Webster29 galt es, die „closed shop“-Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK zu prüfen. Den drei Beschwerdeführern war von ihrem Arbeitgeber, der British Rail Company, das Arbeitsverhältnis unter dem Vorwand gekündigt worden, sie hätten sich geweigert, einer der vorgesehenen Gewerkschaften beizutreten.30 Indem der Arbeitgeber mit dieser Gewerkschaft eine sogenannte „closedshop“-Vereinbarung abgeschlossen hatte, war jener gehalten, diejenigen Arbeitnehmer zu entlassen, die nicht Mitglieder der Vertragsgewerkschaft waren.31 Die Gesetze des Vereinigten Königreiches verboten derartige auf closed-shop-Klauseln beruhende Kündigungen nicht, sondern ließen diese bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen als rechtmäßig zu. Der Europäische Gerichthof stellte daraufhin die Mitverantwortung des Staates für die Kündigung fest, weil die Verletzung des Konventionsrechts unmittelbar aus der staatlichen Gesetzgebung resultiere.32 Der EGMR verwies mit seinem Urteil auf Art. 1 EMRK, wonach allen Personen, die der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstünden, gleichermaßen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zukommen. Er fügte ergänzend hinzu, dass das Vereinigte Königreich aufgrund seiner Gesetzgebung, die derartige Entlassungen ermöglichte, dafür verantwortlich sei.33 Dabei ist der EGMR in der Begründung im Einzelnen jedoch nicht näher auf die Abwehrrechte oder Schutzpflichten eingegangen. Vielmehr argumentierte der EGMR neutral bezüglich des Verantwortlichen, indem er feststellte, dass er vorhabe zu prüfen, in wie fern sich eine derartige Zwangssituation mit Art. 11 vereinbaren ließe. Der Gerichtshof führt aus: 28
Krieger, in: EMRK/GG, S. 278. EGMR A 94 – Young, Webster & James vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1981, 559). 30 EGMR A 94 – Young, Webster und James vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1981, 559). 31 EGMR A 94 – Young, Webster und James vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1981, 559). 32 Krieger, in: EMRK/GG, S. 278. 33 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 128. 29
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„Wenn ein Staat unter Verletzung seiner Schutzpflicht die Rechte und Freiheiten der Konvention in seiner Gesetzgebung nicht absichert, ist er für die daraus resultierenden Verletzungen dieser Rechte und Freiheiten verantwortlich.“34
Hiermit wird deutlich, dass der Gerichtshof die Garantien der Konvention an die den Mitgliedstaaten aufzuerlegende Schutzpflicht anbindet. In der Leitentscheidung X & Y gegen die Niederlande35 hat der Gerichtshof die Figur der staatlichen Schutzpflicht vertieft. Y, ein geistig behindertes, sechzehn Jahre altes Mädchen, war vergewaltigt worden. Ihr Vater X beantragte die strafrechtliche Verfolgung des Täters. Die Beschwerdeführer vertraten die Rechtsauffassung, dass der niederländische Staat angesichts mangelnder strafrechtlicher Gesetze nur unzureichend vor Vergewaltigungen schütze und dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) verletzt sei.36 Es bestand also eine vom Gesetzgeber unvorhergesehene Lücke im Recht, aufgrund derer keine strafrechtliche Verfolgung des Täters möglich war. Der EGMR stellte zu Art. 8 EMRK fest, dass es bei einer solchen schwerwiegenden Verletzung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Handeln Privater bedürfe. Der Gerichtshof führt aus: „Zu dieser Unterlassungspflicht kann eine positive Verpflichtung hinzukommen, die Teil einer wirksamen Beachtung des Privat- und Familienlebens darstellt. Diese Verpflichtungen können Maßnahmen einschließen, um die Achtung des Privatlebens selbst im Bereich der Beziehungen der Individuen untereinander zu schützen.“37
Des Weiteren falle die Wahl des Schutzmittels grundsätzlich in den Beurteilungsspielraum des Konventionsstaates. Aber wenn existenzielle Rechtsgüter des Privatlebens bedroht sind, sei der Staat dazu angehalten, das Strafrecht zur Abschreckung einzusetzen.38 Dieses Urteil X und Y v. Niederlande machte zum ersten Mal deutlich, dass der Schutz der physischen Integrität vor Eingriffen und Übergriffen Dritter einer Ahndung durch das Strafgesetz bedürfe. Im Fall Plattform „Ärzte für das Leben“ musste der EGMR darüber befinden, ob einer Demonstration der Ärztevereinigung gegen die Abtreibungspolitik ein zureichender Schutz durch die Polizeikräfte vor Gegendemonstrationen gewährt worden war.39 Die Ärztevereinigung hatte auf der 34 EGMR A 94 – Young, Webster und James vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1981, 559). 35 EGMR A 91, § 23 – X und Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 36 EGMR A 91, § 23 – X und Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 37 EGMR A 91, § 23 – X und Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 38 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 224. 39 EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.).
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Grundlage des geltenden Demonstrationsrechts darauf verwiesen, dass die von ihr veranstalteten Demonstrationen von Gegendemonstranten im Übermaß gestört worden sei. Anlässlich der ersten Demonstration war die Gegendemonstration durch die Behörden verboten worden, und es erschienen die Polizeikräfte vor Ort, um die Einhaltung des Verbots zu überwachen. Die Polizei verweigerte der Demonstration ihren Schutz auch dann nicht, als die Demonstranten kurzfristig ihre Route geändert hatten. Desgleichen stellten sich die Polizeikräfte bei der zweiten Demonstration schützend zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten. Der EGMR führte hierzu aus:40 „Wenn es den Vertragsstaaten auch obliegt, vernünftige und geeignete Maßnahmen zu treffen, um den friedlichen Ablauf von erlaubten Demonstrationen zu gewährleisten, so müssen sie solche nicht in absoluter Weise garantieren und, was die Beurteilung der anzuwendenden Mittel anbelangt, verfügen sie über einen weiten Ermessensspielraum [. . .]. Im vorliegenden Fall übernehmen sie auf Grund von Art. 11 der Konvention eine Verpflichtung zum Einsatz angemessener Mittel, aber nicht zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolges.“41
Dem Urteil lässt sich entnehmen, dass es Ziel und Zweck des in Rede stehenden Konventionsrechts ist, die Gewährleistung einer wirklichen und tatsächlichen Freiheit zu ermöglichen, und dass sich infolgedessen die Pflichten der Staaten nicht in der bloßen Nichteinmischung erschöpfen, vielmehr ebenso positive Maßnahmen erforderlich sind. Gleichzeitig stellt der Gerichtshof darüber hinaus am Fall Plattform Ärzte für das Leben die Frage, welche Mittel im konkreten Fall zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht einzusetzen sind. Eine genaue Antwort auf diese Frage wird nicht gegeben. Vielmehr führt der Gerichtshof aus, dass die Wahl des konkret zu wählenden Mittels im Ermessen des Staates steht. Einzige Vorgabe ist, dass das vom Staat eingesetzte Mittel die Konventionsrechte effektiv und wirksam schützen muss.42 Im Falle Marckx43 beanstandeten eine Mutter und ihre uneheliche Tochter das unter Verletzung von Art. 8 EMRK geltende belgische Recht, das die zwischen ihnen bestehenden familiären Bindungen nur in unzureichendem Maße anerkenne.44 Realiter erkennt das belgische Recht eine bestehende familiäre Bindung zwischen Mutter und ihrem unehelichen Kind erst 40 EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 41 EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 42 EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 43 EGMR A 31 – Marckx vs. Belgien (= EuGRZ 1979, 454 ff.). 44 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 220.
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dann an, wenn die formelle Anerkennung des Kindes durch die Mutter erfolgt ist. Aber diese Anerkennungserklärung zieht notwendigerweise nach sich, dass die Mutter in ihrem Recht, ihr Vermögen an ihr Kind zu vererben, stark eingeschränkt ist. Der Gerichtshof sah hierin eine Verletzung von Art. 8 EMRK und stellte dazu fest:45 „Mit der Proklamation des Rechts auf Achtung des Familienlebens in Abs. 1 bedeutet Art. 8 zunächst, dass der Staat in die Ausübung dieses Rechts nur nach Maßgabe der strengen Voraussetzungen des Abs. 2 eingreifen darf: Wie der Gerichtshof im belgischen Sprachenfall46 festgestellt hat, besteht der ‚wesentliche Zweck‘ des Artikels darin, den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben zu schützen [. . .]. Er beschränkt sich aber nicht darauf, dem Staat die Vornahme derartiger Handlungen zu verbieten: Zu dieser vorwiegend negativen Verpflichtung können positive, der tatsächlichen ‚Achtung‘ des Familienlebens immanente Pflichten hinzutreten.“
Auf der Grundlage der so abgeleiteten „positiven Verpflichtung“ hielt der Gerichtshof das belgische Königreich für verantwortlich, seine Rechtsordnung so umzugestalten, dass die „normalen“ Familienbeziehungen zwischen unehelichen Kindern und ihren Müttern sichergestellt werden. Gleichzeitig aber betonte der Gerichtshof, dass dem Konventionsstaat bei der Erfüllung dieser Pflicht die freie Wahl der Mittel zustehe, solange nur das vom Art. 8 EMRK erforderte Ziel erreicht werde.47 c) Bewertung Ausweislich der angeführten Urteile haben die Straßburger Konventionsorgane einen unübersehbaren Schritt unternommen, die „positiven Verpflichtungen“ als gemeineuropäische Grundrechtsdimension allmählich zu etablieren. Zu Beginn griff der Gerichtshof die Frage nach den „positiven Verpflichtungen“ als ein spezifisches Auslegungsproblem des bestehenden, einschlägigen materiellen Konventionsrechts auf.48 Dabei gilt es, die folgenden Gesichtspunkte zu beachten: Vorderhand haben die Konventionsorgane zur Herleitung der positiven Schutzpflichten den materiellen Gehalt des Menschenrechts herangezogen. Dabei steht stets die Gewährleistung der Menschenrechte im Vordergrund. In der Folgezeit haben sich die Konventionsorgane zunehmend auf das Zusammenspiel von materiellem Gehalt des angesprochenen Konventionsrechts und der allgemeinen Gewährleistungsvorschrift des Art. 1 EMRK be45 46 47 48
EGMR A 31 – Marckx vs. Belgien (= EuGRZ 1979, 454 ff.). EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall. EGMR A 31 – Marckx vs. Belgien (= EuGRZ 1979, 454 ff.). Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 225.
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rufen.49 Der EGMR hat in seiner ständigen Rechtsprechung zu erkennen gegeben: „Die Verantwortlichkeit eines Staates ist dann ausgelöst, wenn eine Verletzung eines der Rechte oder eine der Freiheiten der Konvention das Ergebnis der Nichteinhaltung der Verpflichtung dieses Staates nach Art. 1 ist, jeder seiner Jurisdiktion unterstehenden Person diese Rechte und Freiheiten in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung zuzusichern.“50
Nach Ansicht des EGMR sind die verpflichtenden positiven Aufforderungen nicht allein der allgemeinen Gewährleistungsvorschrift des Art. 1 EMRK zu entnehmen, sondern sie ergeben sich darüber hinaus bereits aus dem Wortlaut einiger Konventionsrechte selbst, z. B. Art. 2 Abs. 1 EMRK (Recht auf Leben). Zum anderen ziehen die Konventionsorgane häufig die dynamisch-evolutive Auslegungsmethode heran und berufen sich auf Ziel und Zweck dessen, was mit der Konvention verbürgt wird.51 Die Rechte und Freiheiten der Konvention sollen nicht theoretisch und illusionär, sondern effektiv und praktisch sein, ein wirkliche und tatsächliche Freiheit gewährleisten.52 In seinen Urteilen hat der EGMR somit durch ein Zusammenspiel von materiellem Gehalt, Gewährleistungsgarantie und Wirksamkeit des Menschenrechtsschutzes auf der Grundlage der EMRK einen umfassenden und effektiven Schutz hergeleitet. Zuletzt lassen die Urteile des Gerichts deutlich erkennen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Staaten einerseits bei der Erfüllung der staatlichen Schutzpflichten einen Ermessensspielraum einräumt, wonach der aufgeforderte Staat selbstbestimmt das geeignete Mittel wählen kann, das dem Anspruch an die jeweilige Schutzpflicht genügt. Andererseits gelangt der Gerichtshof im konkreten Einzelfall unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die Schutzpflichten manchmal zu einer Ermessensreduzierung auf null.53 Damit stellt der Gerichtshof letzten Endes auf das Effektivitätsprinzip ab. Der Staat kann selbstbestimmt die Mittel wählen, die zur Erfüllung der Schutzpflicht eingesetzt werden, so lange hierdurch ein effektiver Schutz der Konventionsrechte gewährleistet ist.
49 50 51 52 53
Krieger, in: EMRK/GG, S. 279. EGMR A 247-C, § 26 – Costello-Roberts vs. Vereinigtes Königreich. Krieger, in: EMRK/GG, S. 280. EGMR A 32, § 24 – Airey vs. Ireland. Zum Ganzen Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 318.
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II. Herleitung aus dem Wortlaut 1. Ansätze im Wortlaut des Grundgesetzes Während sich die abwehrrechtliche Funktion unmittelbar aus der sprachlichen Fassung der Grundrechte erschließt, findet die jeweils ergänzende Schutzpflicht im Text des Grundgesetzes nur beiläufige, indirekte und vereinzelte Erwähnung. Als normative Ansätze zu einer allgemeinen grundrechtlichen Schutzpflicht dürfen gleichwohl die Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Schutz der Menschenwürde), Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) sowie Art. 6 Abs. 4 (Anspruch der Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft) gewertet werden. Darüber hinaus ist der Schutzgedanke in einigen Schrankenbestimmungen ausgesprochen, so etwa in den Abs. 2 der Art. 5, 10, 11 und 13 GG, die Einschränkungen des Grundrechts im Hinblick auf den Schutz von Jugend und Ehre bzw. der freiheitlich demokratischen Grundordnung (Art. 10 Abs. 2 GG) vorsehen. Das belegt, dass der Schutzpflichtgedanke als solcher dem Grundgesetz nicht fremd ist. a) Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG Mit Art. 1 Abs. 1 GG haben die Väter der Verfassung die Achtung der Würde des Menschen als Leitprinzip dem gesamten folgenden Grundgesetz vorangestellt. Die Menschenwürde, als der höchste zu beachtende Wert, wird mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG für unantastbar erklärt, und infolge dessen ist aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auferlegt, die Würde der Menschen zu achten und zu schützen. Diese herausragende Bestimmung behauptet heutzutage im Gefolge seiner Positivierung durch das Verfassungsrecht die Stellung eines Rechtsgrundsatzes. Soweit die einzelnen Grundrechte generell oder nur in einem gewissen Grade die Würde des Menschen zu schützen vermögen, erstreckt sich die Schutzpflicht nach Art. 1 Abs. 1 S. 22 GG auf die Schutzgüter dieser Grundrechte hinsichtlich des „Menschenwürdekerns“.54 Es wird heute kaum mehr bestritten, dass die Anerkennung der Menschenwürde und die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, diese zu achten und zu schützen, Bestandteil des positiven Verfassungsrechts ist und unmittelbar rechtsverbindliche Wirkung entfaltet.55 Die staatlichen Pflichten zum Schutze der Menschenwürde beinhalten nicht nur die Macht beschränkende Wirkung im Sinne eines absoluten 54 55
Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 28. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 28.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Übergriffverbotes seitens des Staates, sondern im gleichen Maße ergeht mit dieser Wirkung die Aufforderung an den Staat, innerhalb des Funktionsbereichs aller staatlichen Gewalt das aktive Handeln nach Maßgabe des zu gewährenden Schutzes auszurichten. Über die staatliche Sphäre hinausgehend gebietet die Maxime von der Anerkennung der Menschenwürde gleichermaßen eine positive Gewährleistungsfunktion für das Verhalten der Bürger untereinander. Jedoch kann das verfassungsrechtlich allen Bürgern auferlegte Achtungs- und Respektierungsgebot bezüglich der Menschenwürde im Privatverkehr nur in der Vermittlung durch die staatlichen Organe in Geltung gesetzt werden. Der Staat bleibt demnach aufgefordert, der Gefahr eines illegalen Angriffs auf die Menschenwürde durch private Dritte dergestalt vorzubeugen, dass er durch den Erlass von Gesetzesnormen sowie deren konsequente Anwendung im Einzelfall den wirksamen Schutz des Bürgers gewährleistet. b) Schutz von Ehe und Familie, Art. 6 GG Insbesondere Art. 6 GG bietet ergiebige Anhaltspunkte für eine staatliche Schutzpflicht. Zum einen stellt Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Hervorhebung der staatlichen Ordnung weist darauf hin, dass der Staat Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen zu bewahren hat, und dabei ist es einerlei, ob die diesbezüglichen Eingriffe aus staatlicher oder nichtstaatlicher Quelle in den ehelichen und familiären Lebensbereich hinein erfolgen.56 Gleichwohl sind auch die in Art. 6 Abs. 1 GG angesprochenen Grundrechte primär als Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen zu verstehen. Es ergibt sich jedoch darüber hinaus auch eine Pflicht des Staates zur positiven Förderung von Ehe und Familie, die sich insbesondere im Bereich des Materiell-Wirtschaftlichen entfaltet. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unterstehen Art und Umfang der Förderung jedoch grundsätzlich dem Ermessensspielraum des Gesetzgebers. Demnach sind Details der Förderung einer gerichtlichen Nachprüfung weitestgehend entzogen.57 Zum anderen regelt der Art. 6 Abs. 2 GG die Rechte und Pflichten der Eltern bezüglich der Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Darüber hinaus sind die Eltern der Aufsicht durch die staatliche Gemeinschaft unterstellt.58 Die Beurteilungsgrundlage ergibt sich aus der staatlichen Verpflichtung, die Pflege und Erziehung von Kindern sicherzustellen. 56 57 58
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 32. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 30. BVerfGE 24, 119 (114) – Adoption I.
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Zudem wird jeder Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG ein Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch die Gemeinschaft gewährt. Das Schutzgebot wirkt sich in erster Linie wegweisend auf die soziale Ausrichtung der Vorschrift aus. Sie schützt vornehmlich die Mutter durch die Gewährung staatlicher Fürsorge in Notsituationen. Dieser grundrechtliche Schutzauftrag findet sich heute insbesondere im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts.59 c) Recht auf Asyl, Art. 16 a Abs. 1 GG Art. 16 a Abs. 1 GG gewährt ausländischen, politisch Verfolgten das Recht auf Asyl. Die Formulierung von Art. 16 a Abs. 1 GG stellt insbesondere die positive Schutzpflicht des Staates zugunsten der aus politischen Gründen Verfolgten heraus. Im Gegensatz zu den meisten Grundrechten bedarf es hier eines gewissen Begründungsaufwandes, um die abwehrrechtliche Dimension des Grundrechtes zu erfassen. Diese kann darin gesehen werden, dass ein Abwehrrecht gegenüber einer beabsichtigten, rechtswidrigen Zurückweisung und Abschiebung besteht. Dennoch steht die positive Schutzpflicht deutlich im Vordergrund, so dass Art. 16 a GG eindrucksvoll belegt, dass positive staatliche Schutzpflichten vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen sind. d) Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20 a GG Mit Art. 20 a GG ist dem Staat die Verantwortung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen hinsichtlich der künftigen Generationen auferlegt. Mit diesem Artikel ist nach durchgehend herrschender Ansicht nicht die Begründung eines subjektiven Rechts auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beabsichtigt. Dennoch weist die Positionierung in der Nähe zu Art. 20 GG sowie die erneute Verwendung des Wortes „schützen“ deutlich darauf hin, dass der Verfassungsgesetzgeber eine objektive Schutzverpflichtung aller drei Staatsgewalten und nicht nur einen bloßen Programmsatz schaffen wollte.60 Obwohl mit dieser Verfassungsnorm zwar kein Grundrecht gewährt wird, ist dem Staat mit rechtlich bindender Wirkung die Beachtung und Erfüllung einer bestimmten Aufgabe anvertraut, nämlich der Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen.
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Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 30 f. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 34.
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e) Schrankenbestimmungen Der Schutzgedanke findet sich desweiteren in einigen Schrankenbestimmungen wieder: Zu nennen sind die Art. 5 Abs. 2 GG (Eingriffe zum Schutz der Jugend), Art. 11 Abs. 2 GG (Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen und schwere Unglücksfälle) und Art. 13 Abs. 4 GG (Eingriff zur Abwendung von Lebensgefahren). Die Artikel begründen mit ihren Bestimmungen die staatlichen Befugnisse zur Durchführung der Schutzmaßnahmen. Obwohl die Artikel einmal mehr die Aufgeschlossenheit des deutschen Verfassungsrechts für die staatliche Schutzpflicht bekunden, begründet allein der Wortlaut dieser Normen noch nicht das subjektive Recht des Bürgers auf den staatlichen Schutz. Darüber hinaus wäre es theoretisch möglich, aus der Ableitung der grundrechtlichen Schutzplichten in diesen Grundrechtsartikeln einen Umkehrschluss zu ziehen, nämlich dass staatliche Schutzpflichten dem ursprünglichen Verständnis des Wortlauts widersprechen würden. Allerdings entspricht ein solcher Umkehrschluss nicht dem Ergebnis der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG.61 f) Bewertung Obwohl die den Grundrechten beizumessende abwehrrechtliche Bedeutung bislang im Vordergrund der zusammenfassenden Bewertung der Wortanalyse steht, lassen sich den Grundrechtsartikeln direkte und indirekte Hinweise entnehmen, die auf staatliche Schutzpflichten verweisen.62 Das gilt insbesondere für die bereits erwähnten Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1, 2 und 4 GG und Art. 20a GG, die allesamt begrifflich auf den Schutz oder die Funktion des Schützens abstellen. Daneben leiten die sprachlichen Wendungen wie „Jeder hat das Recht auf . . .“, „Alle Deutschen haben das Recht auf . . .“, „Unverletzlichkeit“ oder „Gewährleistung“ als Anknüpfungspunkte im Wortlaut des Grundrechtskatalogs nicht notwendig zu einer eingeforderten staatlichen Schutzpflicht über, da mit ihnen ebenso die abwehrrechtliche Interpretation ermöglicht gemeint sein kann.63 An die Offenheit der Sprachregelung ist unmissverständlich die Anforderung geknüpft, dass ungeachtet der Provenienz einer Beeinträchtigung der umfassende Schutz des Rechtsguts gewährleistet werden soll, und demzufolge die betroffenen Rechte von niemandem, somit auch nicht von anderen Bürgern oder fremden Staaten, beeinträchtigt wer61 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 143. 62 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 30. 63 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 33.
Kap. 1: Schutzpflichten
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den dürfen. Dieser Auslegung folgen in überwiegender Zahl die Kommentare.64 In ihren Ausführungen findet sich argumentativ belegt, dass auch wenn die objektive Schutzfunktion der Grundrechte nicht ausdrücklich im Gesetzestext ausgewiesen sei, sich diese aus der sprachlichen Abfassung des Grundgesetzes durchaus herleiten lasse. Freilich haben die genannten Termini „Unverletzlichkeit“ und „Gewährleistung“ usw. nicht in jede der Normen des grundrechtlichen Katalogs Eingang gefunden. Von daher ergäbe sich im Vorhinein eine positive Verpflichtung des Staates nur bezüglich einiger Grundrechte. Aus dem Wortlaut oder der Wortlauslegung der Grundrechte lässt sich noch keine eindeutige Zuordnung der „Unverletzlichkeit“ oder „Gewährleistung“ zu einem konkreten Adressaten vornehmen. Daher ist von einer allgemeinen, sich aus der Verfassung herleitenden und für alle Grundrechte gleichermaßen geltenden Schutzverpflichtung im Ergebnis abzusehen.65 2. Ansätze im Wortlaut der EMRK a) Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention Hinsichtlich der Herleitung der „positiven Verpflichtungen“ bieten bedauerlicherweise weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte der EMRK einen überzeugenden Ansatzpunkt. Der Konventionstext ist, ebenso wie das deutsche Grundgesetz, vielmehr einem liberal-abwehrrechtlichen Duktus angelehnt. In diesem Sinne liegt der Schlüssel zur Öffnung der EMRK für die „positiven Verpflichtungen“ in einer sinnvollen Auslegungsmethode, worunter insbesondere die teleologische, evolutiv-dynamische Methode figuriert, die schon längst zu einem Merkmal der Judikatur unter der Federführung des Straßburger Konventionsorgans geworden ist.66 An die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag und einer dem entsprechenden Internationalität ihrer Gerichtsbarkeit knüpft sich freilich auch eine besondere Problematik: diese zeigt sich an der nationalen Herkunftsdiversität des EGMR-Richtergremiums, insofern sich damit die disparaten Erfahrungen im Umgang mit dem Recht und die voneinander abweichenden Vorprägungen verbinden. Die internationalen Rechtsprechungsorgane sehen sich einer nationalen Rechtsordnung gegenüber, die viele ungeschriebene Regeln enthält. In einer solchen nationalen Rechtsordnung sollen die internationa64 Siehe Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz; Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar; Hamann/Lenz, Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949; Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar. 65 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 79. 66 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 217 f.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
len Verträge ihren Anwendungsbereich dadurch erweitern, dass sie nicht selten mannigfache Kompromissformeln enthalten.67 Jedoch zeichnet sich die EMRK als regionale internationale Konvention dadurch aus, dass sich eine relativ große Homogenität aus den Gemeinsamkeiten der Verfassungstraditionen in den Mitglieds- oder Vertragsstaaten ergeben hat.68 Das hat im System der EMRK auf geradem Wege dazu geführt, dass die ursprünglich dem nationalen Recht unterstehenden und demnach ausschließlich der rechtlichen Kompetenz des souveränen Staates überantworteten Regulierungen Gegenstand des internationalen Schutzes und der internationalen Überwachung geworden sind. Mit den Art. 31–33 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) bestehen allgemeine Regeln für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention von Art. 31 ff. WVK leiten lassen, wonach für die Auslegung der Vertragswortlaut, der systematische Zusammenhang, Ziel und Zweck des Vertrages sowie die vorbereitenden Arbeiten (Art. 31 WVK) und die Umstände des Vertragsabschlusses heranzuziehen sind. Nach Art. 31 Abs. 1 WVK ist primär an den Wortlaut des Vertrags und die gewöhnliche Bedeutung der in ihm verwendeten Begriffe anzuknüpfen, die nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung des Zusammenhangs sowie der Ziele und Zwecke des Vertrages zu interpretieren sind.69 Ferner lassen sich die positiven Verpflichtungen aus Art. 1 EMRK (Allgemeine Schutzgarantie zugunsten der normierten Rechte und Freiheiten), Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK (Schutz des Lebens) und Art. 6 Abs. 1 S. 2 (Schutz des Privatlebens der Prozessparteien) herleiten. Daneben können auch die Schrankenbestimmungen der Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 EMRK als Hinweis für die Anerkennung von Schutzpflichten dienen. Darüber hinaus gilt es, die später erzielten Übereinkünfte sowie die übereinstimmende Übung der Vertragsparteien bei Anwendung des Vertrages in die Auslegung mit einzubeziehen. Andere völkerrechtliche Übereinkünfte sowie die nationalen Rechtsordnungen können auf der Basis eines Vergleichs in den Rahmen der angewandten Auslegungskriterien mit hinein genommen werden.70 Ein historischer Gesichtspunkt ist bei der Auslegung nur subsidiär zu berücksichtigen. Bekanntermaßen hat sich die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 in ihren Auslegungsmaximen dezidiert von einer historischgenetischen, am subjektiven Willen der ursprünglichen Vertragspartner aus67 68 69 70
Bernhardt, in: FS für K. Zemanek, S. 11 ff. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 61. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 108. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 109.
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gerichteten Methode distanziert.71 Dem „Ziel und Zweck“ des Vertrages ist parallel hierzu ein größeres Gewicht verliehen worden: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zwecks auszulegen.“72
Der Art. 31 Abs. 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention verweist auf ein weitergehendes Prinzip der dynamischen Vertragsexegese: „Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zur berücksichtigen a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare Völkerrechtssatz.“
Ergehen somit die Entscheidungen der Konventionsorgane in Anlehnung an die Vorgaben der WVK, so wird es nachvollziehbar, dass die Anwendung der dynamischen Auslegungsmethode heute mit zunehmender Tendenz als Grundlage bei den Entscheidungen des Gerichtshofes herangezogen wird. Bezeichnenderweise lautet eine Passage aus dem Urteil Tyrer in deutscher Übertragung wie folgt: „Der Gerichthof muss auch darauf hinweisen, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, das im Lichte der heutigen Verhältnisse zu interpretieren ist. Im vorliegenden Fall kann sich der Gerichtshof nicht den Entwicklungen und allgemein akzeptierten Maßstäben der Strafvollstreckungspolitik der Mitgliedsstaaten des Europarates in diesem Bereich entziehen.“73
Diese Sicht der Konventionsorgane vorausgesetzt, ergibt sich die Hervorhebung der staatlichen Schutzpflicht als Ergebnis im Gefolge der Anwendung der evolutiv-dynamischen Auslegungsmethode. Indessen werden die potentiellen Grenzen für die Annahme und Reichweite der positiven Verpflichtungen im Auslegungsverfahren mit bedacht: Ein „Zuviel“ an Rechtsfortbildung auf europäischer Ebene könnte auf die Dauer dazu führen, dass die Vertragsstaaten in Zukunft durch eine allzu extensive Rechtsfortbildung mittelbar die europäische Rechtsprechung umgehen könnten.74
71 72 73 74
Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 218. EGMR A 18 § 29 – Golder vs. United Kingdom. EGMR A 26 § 31 – Tyrer vs. United Kingdom. Bernhardt, in: FS für K. Zemanek, S. 23.
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b) Ausdrückliche Normierung der staatlichen Schutzpflichten Die folgenden Normen der EMRK beinhalten ausdrücklich eine Schutzgarantie: Art. 1 EMRK (Allgemeine Schutzgarantie zugunsten der normierten Rechte und Freiheiten), Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK (Schutz des Lebens) und Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK (Schutz des Privatlebens der Prozessparteien). Zudem enthalten, den deutschen Regelungen vergleichbar, einige der Schrankenbestimmungen den Gedanken des Schutzes der Gesundheit, der Moral, des guten Rufes sowie der Rechte und Freiheiten anderer (Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 EMRK). aa) Präambel Obwohl die Präambel zur Konvention die ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz der Grundrechte vor nichtstaatlichen Bedrohungen undeklariert belässt, können die in der Präambel bemühten Begriffe von der „Gewährleistung“ und „Wahrung und Fortentwicklung“ der Konventionsrechte als zustimmendes Signal in Richtung auf ein intendiertes, effektives und umfassendes Schutzanliegen interpretiert werden, die demnach einer schutzpflichtbezogenen Auslegung nicht entgegen stehen.75 Mit Abs. 2 der Präambel wird darauf abgestellt, dass hinsichtlich der von der Konvention erklärten Rechte die Vertragsstaaten bei der Umsetzung gehalten sind, die nachhaltige Anerkennung und Geltung derselben zu gewährleisten. Die so angesprochene Wirksamkeit der Rechte und ihre Gewährleistung lassen einen möglichen Anhaltspunkt erkennen, an dem die umfassende, schutzorientierte Auslegung der Freiheiten der Konvention ansetzen könnte. Abs. 3 der Präambel hat die fördernde Zusammenführung der Mitgliedsstaaten in Richtung größer werdender Einheitlichkeit auf dem Boden des auszugestaltenden Menschenrechts und der Grundfreiheiten zum Ziel. Dem Sinn nach ergeht hiermit an die Rechtsprechungsorgane die Aufforderung, bei Anwendung der dynamisch-evolutiven Methode der Interpretation die Anerkennung „neuer Grund- und Menschenrechtsfunktionen“ mit zu berücksichtigen. Der weitgefasste, allgemein gehaltene Wortlaut der Erklärung lässt eine Interpretation im obigen Sinne zu. Es wird allgemein anerkannt, dass die Vertragspräambel bei Auslegung und Interpretation des völkerrechtlichen Vertrags nach Art. 31 Abs. 2 WVK. ebenfalls berücksichtigt werden kann.76
75 76
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 111. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Präambel, Rn. 5.
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bb) Art. 1 EMRK Der Art. 1 EMRK lautet wie folgt: „Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die in dieser Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu.“
Hiermit wird zum Ausdruck gebracht, dass dem Staat eine übergreifende Sicherheitsfunktion bezüglich aller erklärten Rechte zugewiesen ist. Diese Generalklausel versteht die Rolle des Staates nicht nur als die eines möglichen Übertreters von Rechten, vielmehr wird er auch direkt als Beschützer der Grundrechte angesprochen. Ob sich diese Funktion unmittelbar bereits aus dem Wortlaut von Art. 1 EMRK ergibt, kann bezweifelt werden. Während der englische Wortlaut („secure“) diese Interpretation möglicherweise noch nahelegt, gilt das für den französischen Wortlaut („reconnaissent“) nicht mehr im gleichen Maße. Dem natürlichen Wortsinn des Französischen folgend deutet das Wort auf die Anerkennung bereits bestehender Rechte.77 Daher kann aus dem Wortlaut von Art. 1 EMRK lediglich gefolgert werden, dass eine positive Verpflichtung der Vertragsstaaten zum Schutz der Freiheitsrechte ihrer Bürger zumindest nicht ausgeschlossen ist. cc) Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 1 EMRK Nach Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK wird das Recht auf Leben eines jeden Menschen gesetzlich geschützt. Zwar bezieht sich der Wortlaut explizit nur auf das Lebensrecht und seinen Schutz durch die Legislative, eine Verpflichtung zum Schutz vor Eingriffen Dritter ist im Wortlaut nicht direkt angelegt. Jedoch erscheint eine Auslegung insbesondere des Satzes 1 („Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt“) als einleitende Bestimmung und erstes herausgehobenes materielles Menschenrecht naheliegend. Im Einzelfall besteht also auch eine staatliche Schutzpflicht bei nicht hoheitlichen Eingriffen (Eingriffe Privater, Naturkatastrophen, Gefahren ausgehend von anderen Staaten). Die Vertragsstaaten scheinen daher durch diese absolute und umfassende Formulierung eine staatliche Schutzpflicht beabsichtigt zu haben. dd) Sonstige Freiheitsrechte Mit dem Wortlaut der eher „neutral“ ausgeführten Konventionsrechte und nachfolgenden Zusatzprotokolle ergibt sich kein eindeutiger Hinweis auf 77
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 240 f.
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eine Schutzpflicht. Dennoch steht der Wortlaut dem Ansatz der Schutzpflicht auch nicht entgegen.78 Nach Art. 8 Abs. 1 der Konvention ist beispielsweise Bezug genommen auf die „Achtung“ des Privat- und Familienlebens. Mit dem Wort „Achtung“ ist zwar zunächst eine Auslegung im Sinne des Abwehrrechts nahe gelegt, aber das Wort „Achtung“ zielt ebenso begrifflich auf die Bedeutung „Wertschätzung“ ab, durch die eine Annahme zusätzlicher staatlicher Pflichten zum Schutz und zur Bewahrung der gewährleisteten Rechtsgüter doch möglich ist.79 Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK beinhaltet ausdrücklich neben dem Recht auf Freiheit auch das Recht „auf Sicherheit“. Freilich ist der Inhalt dieses Begriffs im Hinblick auf eine Schutzpflicht nicht eindeutig. Aber die Wortwahl der „Sicherheit“ kennzeichnet in der Bedeutung des Wortgebrauchs den Zustand des Sicherseins, des Geschütztseins vor Gefahr oder Schaden, der ein deutlicher Hinweis auf die positiven Schutzpflichten zu sein scheint.80 ee) Schrankenbestimmungen Die Schrankenbestimmungen zu den gewährleisteten Konventionsrechten ergeben sich jeweils aus den Absätzen 2 der Art. 8 bis 11 EMRK, aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK und aus Art. 2 Abs. 3 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK. Auf Grundlage dieser Schrankenbestimmungen ist es in Teilen ausdrücklich begründet, dass die Mitgliedstaaten die Schutzmaßnahmen zugunsten von Privatpersonen durchführen können.81 Die Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte umfassen vorwiegend Normen, die Eingriffe durch den Mitgliedsstaat zulassen. Demzufolge zielen die jeweiligen zweiten Absätze auf die Begrenzung staatlicher Machtausübung, insofern eine grund- und menschenrechtliche Freiheit durch diese staatlichen Maßnahmen beeinträchtigt wird.82 Indem die Schrankenbestimmungen neben anderen Rechtfertigungsgründen ebenso staatliche Schutzmaßnahmen erwähnen, so macht dies deutlich, dass die Konvention einer zugunsten von Privatpersonen erfolgten Zuweisung der Schutzaufgabe an den Staat Rechnung trägt.83 Dennoch ergibt sich aus diesem Ansatz noch kein Hinweis darauf, dass sich auf Grundlage dessen die dogmatische Herleitung einer positiven Staatsverpflichtung überzeugend ausgestalten ließe.84 78 79 80 81 82 83 84
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 215. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 215. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 215.
S. 115. S. 115. S. 114 f.
S. 116.
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Ein Anspruch der Bürger im Hinblick auf eine zu etablierende positive staatliche Schutzpflicht kann dem normativen Wortlaut allein nicht entnommen werden.85 ff) Bewertung Die Textanalyse offenbart ein vielschichtiges Bild. Die unmissverständliche Festschreibung staatlicher Schutzpflichten ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen. Dessen ungeachtet finden sich im Wortlaut der Konvention ebenso Ausführungen, die hinsichtlich der niedergelegten Rechte Hinweise dafür bereit halten, dass mit der deutlich angesprochenen abwehrrechtlichen Funktion die ihr zukommende schutzrechtliche Bedeutung ebenso in den Vordergrund der Erwägungen zu rücken ist. Beispielsweise lassen die Präambel, Art. 1 EMRK und Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK einen Raum für schutzpflichtbezogene Interpretationen. Jedoch genügen die teilweise auf spezielle Rechte eingeschränkten Hinweise auf staatliche Schutzpflichten nicht, sofern die Etablierung eines allgemeinen staatlichen Schutzkonzepts auf der Grundlage des Wortlauts der Konvention angestrebt wird. Die Herleitung der staatlichen Schutzpflichten hinsichtlich der erklärten Konventionsfreiheiten kann daher nicht nur aus dem Wortlaut erfolgen, sondern bedarf der näheren Herleitung, wobei insbesondere der Vertragszweck berücksichtigt werden muss. Dies entspricht den Auslegungsgrundsätzen nach Art. 31 und 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention, die auf die EMRK als Völkerrechtsvertrag Anwendung finden: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“
Daher ist die teleologische Auslegung eine besonders dynamische und von entscheidender Bedeutung für die Herleitung der Schutzpflichten. Die weiteren Auslegungsansätze (Systematik, historische Auslegung) dienen eher der Begrenzung der Herleitung der staatlichen Schutzpflichten.
85 EGMR A 24 § 54 – Handyside vs. Vereinigtes Königreich ( EuGRZ 1977, 38, 45 f.).
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III. Ansätze im Schrifttum 1. Ansätze im Schrifttum des deutschen Grundgesetzes a) Rezeption der Rechtsprechung im Grundgesetz Die Reaktionen der Literatur auf die vom Bundesverfassungsgericht hergeleiteten grundrechtlichen Schutzpflichten waren zunächst eher zurückhaltender Natur. Im Laufe der Zeit wich die anfängliche Zurückhaltung jedoch zunehmend befürwortenden Stellungnahmen. aa) Kritik Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aus der die grundrechtlichen Schutzpflichten hergeleitet wurden, war im Schrifttum immer Gegenstand von Kritik. Zunächst stieß die vom Bundesverfassungsgericht vorgetragene, überwiegend wertorientierte Argumentation bei der Literatur auf Ablehnung. Das Bundesverfassungsgericht verwendete beispielsweise im Zuge der Herleitung der Schutzpflichten abwechselnd Begriffe wie „Wertordnung“, „Wertsystem“, „objektiv-rechtlichen Gehalt“ sowie „wertentscheidende Grundsatznorm“, die nach Ansicht mancher zu diffus und unbestimmt seien, um eine dogmatische Einordnung zu ermöglichen und es somit an Prägnanz fehlen ließen.86 Kritisiert wurde, dass das Bundesverfassungsgericht aus der objektiven Wertordnung zusätzliche Grundrechtsfunktionen ableitete, obwohl die objektive Wertordnung selbst, als „Begriffswolke“, die klaren und einsehbaren Regeln nicht bereit hielte. Darum bestehe bei einem solchen Ansatz die Gefahr, dass die Richter die Grundrechte nicht nach klaren und nachvollziehbaren Regeln auslegen, sondern durch ihre subjektiven Wertvorstellungen ersetzen könnten.87 Die weitergehende Kritik nimmt Bezug auf das Prinzip der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung. Es wird die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass die Etablierung einer staatlichen Schutzpflicht zu einer Verlagerung des Verfassungsgefüges hin zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat führen könnte. Diese Verlagerung ließe sich nur unter Umgehung der Funktion des Parlaments vollziehen.88 Sofern die Grundrechte auch 86 Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 135 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 286; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 101 ff. 87 Zum Ganzen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 293 ff.; Kratzmann, Grundrechte-Rechte auf Leistungen, S. 114 f. 88 Böckenförde, Der Staat 29, 1990, S. 25 ff.; Calliess, in: HdbGR II, S. 970.
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Schutzpflichten enthielten und somit zugleich als Grundlage für freiheitsbeschränkende Reglementierungen herangezogen würden, ließe sich die positive Schutzpflicht nicht mehr mit der freiheitssichernden Funktion der Grundrechte vereinbaren.89 Diesbezüglich warnt Ernst Wolfgang Böckenförde vor einem Hinübergleiten aus dem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat in einen verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, im Verlaufe dessen der qualitative Unterschied zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung verwischt würde.90 Helmut Goerlich weist auf die Gefahr hin, dass die staatlichen Schutzpflichten zu einer „latenten Umbildung der Grundrechte in Grundpflichten“ führen könnten. Er fordert daher, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten strikt auf die in den Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 1 und 4 GG ausdrücklich genannten Fälle beschränkt bleiben sollten.91 bb) Zustimmung Bei einem Großteil des Schrifttums sind die die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten grundrechtlichen Schutzpflichten auf Zustimmung gestoßen. Das Bundesverfassungsgericht tendierte in seinen nachfolgenden Entscheidungen dazu, die Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten weniger an das Verständnis der einzelnen Grundrechte als Werte, sondern vielmehr an die „wertentscheidende Grundsatznorm“92, den „objektiv-rechtlichen Gehalt“93, die „objektiven Prinzipien“94 oder die „objektiven Grundentscheidungen95“ des Grundrechtskatalogs anzulehnen. Weil die obigen Formulierungen die Klarheit und Präzision des Begriffs der grundrechtlichen Schutzpflichten, wie er sich im Schrifttum herausgebildet hat, näher bezeichnen, werden sie heute auch als Anknüpfungspunkte für die Ableitung der staatlichen Schutzpflichten allgemein herangezogen.96 89
Calliess, in: HdbGR II, S. 970. Böckenförde, Der Staat 29, 1990, S. 25. 91 Goerlich, DÖV 1982, S. 633 f., insb. zu den Grundrechten als Verfahrensgarantien. 92 BVerfGE 35, 79 (2) – Hochschulle. 93 BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich. 94 BVerfGE 50, 290 (337) – Mitbestimmung. 95 BVerfGE 81, 242 (254) – Handelsvertreter. 96 So Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 62 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 21 ff.; Unruh, Zur Doamatik grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 29 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 177 ff.; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 52 f.; Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 88. 90
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Ein Teil der Literatur stimmt mit der Rechtsprechung des BVerfG überein und begründet die Schutzpflicht mit dem Staatszweck der Sicherheit. Demnach bestehe der Zweck des modernen Staates darin, die Sicherheit und den Rechtsschutz des Bürgers auf Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols und der bürgerlichen Friedenspflicht zu gewährleisten.97 Dieser Staatsauftrag bilde die Grundlage, auf der die heutige staatliche Schutzpflicht beruhe. Andere Autoren knüpfen in ihren Ableitungsbemühungen primär an Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG an. Dem Wortlaut entsprechend sei der Staat aufgefordert, die Menschenwürde in Verbindung mit einem konkreten Einzelgrundrecht in der Verfassungswirklichkeit umfassend zu verwirklichen.98 Teilweise wird die grundrechtliche Schutzpflicht dogmatisch auch aus der Auswirkung des Menschenwürdegehalts auf das einzelne Grundrecht hergeleitet. Zudem kommt dem Sozialstaatprinzip in der Literatur bei der Herleitung der staatlichen Schutzpflicht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Im Zentrum des Sozialprinzips stehe das Bemühen um den Ausgleich sozialer Gegensätze, die Beachtung der sozialen Gerechtigkeit und die Bewahrung sozialer Bedürfnisse, welche erst die Mindestvoraussetzungen zu einem menschenwürdigen Dasein bildeten.99 Auf diesem Wege solle die Voraussetzungen für einen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet werden. b) Weitere Ansätze im Schrifttum aa) Abwehrrechtliche Einordnung Der abwehrrechtliche Ansatz wurde zuerst von Schwabe100 und Murswiek101 im Schrifttum etabliert und in der Folgezeit von Szczekalla102 aufgegriffen und weiterentwickelt. Anstoß zu diesem Ansatz gab die vom Bundesverfassungsgericht ergangene Entscheidung im Fall Mülheim-Kärlich, in der dem Staat aufgrund der staatlich genehmigten Errichtung einer kerntechnischen Anlage eine Mitverantwortung für die Gefährdungen der körperlichen Integrität durch Dritte zugeschrieben wurde.103 Dem abwehrrechtlichen Ansatz liegt die folgende Überlegung zugrunde: Den Bürgern sei 97
Isensee, in: HdbStR V, S. 186; Klein, E., NJW 1989, S. 1635 f. Calliess, in: HdbGR II, S. 971. 99 Zum Ganzen Calliess, Schutzpflichten, in: HdbGR II, S. 971. 100 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 201 ff. 101 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 57 ff. 102 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 94 ff. 103 BVerfGE 53, 30 (57 f.) – Mülheim-Kärlich. 98
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kraft des staatlichen Gewaltmonopols durch den Staat eine Friedenspflicht auferlegt. Jedes Verhalten, das nicht verboten werde, werde dem Privatmann rechtlich zugestanden und somit durch die Rechtsordnung abgesichert. Der Bürger, der durch ein nichtverbotenes Handeln eines Dritten beeinträchtigt werde, sei gehalten, diesen Übergriff seitens des Privaten zu dulden. Aber das ergebe sich nur auf Grundlage dessen, dass sich das Bestehen eines staatlichen Gewaltmonopols insoweit rechtfertigen lasse, als der Staat seine Bürger vor privater Gewalt effektiv zu schützen habe.104 Sollte der Staat die Gefährdungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Dritte nicht verbieten, könne ihm dies demnach ebenso wie eigenes Handeln zugerechnet werden, so dass auch dieses Unterlassen einen staatlichen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen darstelle.105 Folglich wird mit dieser Sicht auf den Eingriff des Staates auf die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte verwiesen, und demzufolge bedürfe es nicht einer gesonderten Begründung der staatlichen Schutzpflichten.106 Dieser abwehrrechtliche Ansatz ist in der Literatur teilweise auf massive Kritik gestoßen. Hier seien im Folgenden lediglich die wesentlichen Gesichtspunkte dargestellt. Zunächst ließe sich die abwehrrechtliche Lösung nicht mehr aufrecht erhalten, wenn eine Beeinträchtigung nicht von einer dritten inländischen Person ausgeht. Wenn ein „Störer“ nicht an die staatlichen Verbote und Zugeständnisse gebunden ist, wie beispielsweise ein ausländischer Staat oder ein nicht der staatlichen Rechtsordnung unterliegender beeinträchtigender Dritter, so könne das von ihm ausgehende Handeln nicht dem Staat als Eingriff in die Grundrechte des Bürgers zugerechnet werden. In diesen Fällen beinhaltet die abwehrrechtliche Lösung einen rechtsfreien Raum.107 Das Schrifttum knüpft bei der Entwicklung der grundrechtlichen Abwehrdimension fast immer dogmatisch an den Begriff des Grundrechtseingriffs an. Mit Blick auf die Aktivierung der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte erfolgt die Ausdehnung des Eingriffsbegriffs, womit eine Zurechnung privaten Verhaltens an den Staat erreicht werden soll.108 Es wird darauf abgestellt, dass ein grundlegender Unterschied zwischen einem Abwehranspruch, der auf Unterlassen eines genau bestimmten Eingriffs ge104 Zum Ganzen Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 85; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 201 ff.; Murswiek, WiVerw 1986, S. 182. 105 Calliess, in: HdbGR II, S. 973. 106 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 36. 107 Zum Ganzen Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 86; siehe auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 128; Pietrzak, Jus 1994, S. 748. 108 Calliess, in: HdbGR, S. 974 f.
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richtet sei, und einer staatlichen Schutzaufgabe bestehe, die durch eine Vielfalt verschiedener aktiver Maßnahmen erfüllt werden könne.109 Daher würde der abwehrrechtliche Ansatz die Trennlinie zwischen hoheitlichem und privatem Verhalten weitestgehend verwischen. Eine generelle Zurechnung des schädigenden Verhaltens an den Staat bedeute, dass dieser als an jeder nicht verbotenen, rechtlich relevanten und potenziell schädlichen Handlung beteiligt angesehen werden müsse.110 Da auf diesem Wege die Abwehrfunktion und der Eingriffsbegriff ihre jeweiligen Konturen verlören, führe das unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu einem „dogmatischen Chaos“. Im Extremfall ließe sich dann die Ausdehnung des Eingriffsbegriffs kaum noch eingrenzen. Daneben erwachse dem Rechtsstaat die beachtliche Gefahr, dass sich aus einer unreflektierten Kombination von weitem Schutzbereich und weitem Eingriffsbegriff angesichts der vielfältigen Fernwirkungen staatlichen Verhaltens aus dem Gesetzesvorbehalt ein „Totalvorbehalt“ für alle möglichen Grundrechtsbeeinträchtigungen ergeben würde.111 Zu guter Letzt ließe sich der abwehrrechtlichen Lösung auch ein methodischer Einwand entgegenhalten: Der Theorie läge insofern ein Zirkelschluss zugrunde, da das, was es zu beweisen gelte, bereits vorausgesetzt würde.112 „Denn die Ableitung eines Duldungsgebotes für all diejenigen Verhaltensweisen Privater, die nicht explizit verboten worden sind, und die aus ihr geschlussfolgerte Zurechnung dieses Verhaltens an den Staat, impliziert die ‚stillschweigende Unterstellung‘ einer staatlichen Verpflichtung zum Verbot.“113
Warum jedoch ein Verhalten des Privaten dem Staat zuzurechnen wäre, sei an die dem logisch vorgelagerte Voraussetzung geknüpft, dass eine staatliche Schutzpflicht bestanden habe. Vor diesem Hintergrund bildet die Lehre von der grundrechtlichen Schutzpflicht die nicht zu umgehende logische Voraussetzung. Demnach ist die abwehrrechtliche Lösung abzulehnen, da sie nicht verallgemeinerungsfähig ist. Das lenkt wiederum die Aufmerksamkeit auf die grundrechtlichen Schutzpflichten, die im Wege einer dogmatischen Erschließung einer bestmöglichen Effektivität zugeführt werden sollen.
109
Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 ff.; Wahl/Masing, JZ 1990, S. 558; Roth, W., Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 343. 110 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 86. 111 Calliess, in: HdbGR II, S. 975. 112 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 87. 113 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 87.
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bb) Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip stellt nach Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG allgemein auf alles staatliche Handeln ab. Hierbei kann sich der Inhalt der staatlichen Handlungspflicht aus weiteren Verfassungsbestimmungen, darunter ebenso den Schrankenregelungen, ergeben. Dieses Zusammenwirken von qualifizierten Schrankenbestimmungen, Verfassungsaufträgen und Sozialstaatsprinzip bewirkt eine positive Schutzpflicht des Staats.114 Das Sozialstaatsprinzip soll dem Ausgleich sozialer Gegensätze dienen, indem es einer gerechten Sozialordnung und dem Aufbau einer sozialen Grundausstattung der Gesellschaft den Weg bereitet, um jene Mindestvoraussetzungen zu schaffen, mit Hilfe derer sich ein menschenwürdiges Dasein absichern lässt.115 Das Sozialprinzip kann demnach als Verfassungsgrundsatz dazu beitragen, die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates dogmatisch weiter zu begründen. Die dogmatische Herleitung staatlicher Schutzpflichten aus dem Sozialstaatsprinzip wird jedoch in der Literatur von einigen Autoren beanstandet.116 Das Sozialstaatsprinzip lasse zum einen aufgrund seiner Offenheit und seiner Unbestimmtheit der inhaltlichen Formulierungen nicht zu, dass sich aus ihnen konkrete Rechtsfolgen entnehmen ließen.117 Obwohl das Sozialstaatsprinzip als verfassungsrechtlicher Auftrag bei der Auslegung von Gesetzen durch Gerichte und Verwaltungen zu beachten sei, ergäben sich daraus keine konkreten Handlungsanweisungen.118 Es ist demnach problematisch, die Lehre von den staatlichen Schutzpflichten im Sozialstaatsprinzip zu verankern. cc) Staatstheorie auf Grundlage der mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisse Die Legitimation von Staatlichkeit beruhte in der früheren Zeit in erster Linie auf dem Gedanken der Sicherheit.119 Im Staatsdenken von Thomas Hobbes und Jean Bodin gründet die Rechtfertigung für das Bestehen eines Staates in der Gewährleistung von Sicherheit. Diese Vorstellung wirkt bis heute als einer der zentralen Staatszwecke in den modernen Zivilisationen 114
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 44. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 20 Rn. 29. 116 Z. B., Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 49. 117 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 45. 118 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 45. 119 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit – zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 3. 115
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nach. Gemäß dieser Staatstheorie ist den Bürgern im Wege des Gewaltmonopols des Staates eine allgemeine Friedenspflicht in der Ausformung des privaten Gewaltverbots auferlegt. Das private Gewaltverbot wird durch eine korrespondierende Pflicht des Staates zum Schutz der Bürger kompensiert.120 In diesem Gefüge wird der Schutzpflicht des Staates im Wege der verfassungsrechtlichen, grundrechtlichen Schutzpflichten Ausdruck verliehen. Die dogmatische Herleitung staatlicher Schutzpflichten auf Grundlage dieser Staatstheorie ist jedoch in der Literatur auf Kritik gestoßen. Nach Calliess drohen die Eingriffe von verschiedenen Seiten, beim Abwehrrecht vom Staat und bei der Schutzpflicht von privater Seite. Dennoch wendeten sich das Abwehrrecht und die Schutzpflicht an denselben Adressaten, den Staat. Wenn der Staat sich zwei Grundrechtsträgern mit gegensätzlichen Interessen gegenübersehe, ergebe sich daraus ein grundrechtlich determiniertes Dreieck. Dieses definiere sich zwischen dem an der Spitze stehenden Staat, dem Opfer des privaten Handelns, dem ein grundrechtlicher status positivus in Form eines Rechts auf Schutz zukomme, und dem Störer, welchem ein status negativus in Form eines Rechts auf Eingriffsabwehr zustehe. Innerhalb eines sich so definierenden mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses könne es leicht geschehen, dass der grundrechtliche Schutzanspruch eines Opfers dem Abwehrrecht eines Störers entgegen stehen könnte, womit dem Staat eine widersprüchliche Rolle zugewiesen sei. Dann müsse der Staat Sorge tragen, die grundrechtlichen Schutzpflichten und die Abwehrrechte gleichzeitig in einer ausgewogenen Balance zu beachten.121 Mit Blick auf die Herstellung einer solchen Balance spielt die Dogmatik der staatlichen Schutzpflichten eine nicht zu übersehende Rolle. dd) Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG Die darüber hinaus vertretene Konzeption von Streuer122 und Dolderer123 setzt hingegen bei der Frage nach der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 GG an. Diese Auffassung verweist vor allem auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
In der Vermittlung der Worte „achten“ und „schützten“ sei die Pflicht des Staates zum Schutz der Grundrechte am deutlichsten herausgestellt. Die 120 121 122 123
Calliess, in: HdbGR II, S. 981. Zum Ganzen Calliess, in: HdbGR II, S. 980 f. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 94 ff. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 84 ff.
Kap. 1: Schutzpflichten
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Menschenwürde umfasse demnach nicht lediglich die Abwehrgehalte, sondern sie gebiete mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich ebenso den staatlichen Schutz vor Privaten. Demnach seien nach Art. 1 Abs. 2 GG die Einzelgrundrechte als Ausstrahlungen aus dem Grundsatz der Menschenwürde zu verstehen, und von daher sei die Pflicht des Staates zum Schutz der Würde auf alle Grundrechte ausgedehnt.124 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung diese enge Beziehung des Schutzgutes der Menschenwürde zu den anderen Grundrechten stets hervorgehoben.125 Im Schrifttum herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Menschenwürde als ein oberstes Prinzip Ausgangs- und Mittelpunkt für die ganze Verfassungskultur sei.126 Da insofern eine Verbindung zwischen der Menschenwürde und den anderen Werten der Verfassung bestehe, könne sich diese Pflicht auf die anderen Rechte und Rechtsgüter des Grundrechtskatalogs ausdehnen.127 Vor diesem Hintergrund ließe sich davon sprechen, dass die rechtliche Fundierung der Menschenwürde ihre Wirkung auf die anderen Grundrechte ausstrahle. Dennoch halten manche Autoren diese These für anfechtbar. Zunächst ergebe sich aus der allzu großen Unbestimmtheit des Menschenwürdebegriffs ein hoher Interpretationsbedarf.128 Weiterhin bestünden Zweifel, ob zwischen der Menschwürde und den einzelnen Grundrechten eine innere Verknüpfung bestehe.129 Das ergebe sich bereits aus der Tatsache, dass die Verfassung keinen Rechtssatz bereit halte, aus dem die einzelnen Grundrechte allgemein als Konkretisierungen des Menschenwürdesatzes zu begreifen wären. Damit sei der Gefahr nicht ausreichend vorgebeugt, dass der hohe und für unantastbar erklärte Wert der Menschenwürde durch die Ausweitung über den Kern der Menschenwürde hinaus grenzenlos verwässert werde. Auf diesem Wege verkümmere die Menschenwürde zur „kleinen Münze“. Zudem unterscheide der Gesetzestext nach Art. 1 GG deutlich zwischen unantastbarer und zu schützender Menschenwürde, unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten sowie den grundgesetzlich positivierten Grundrechten.130 Diese Unterscheidung zeige, dass sich zwar einerseits Grundrechte anführen ließen, in denen bestimmte Menschenrechte 124
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 94 f. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; BVerfGE 35, 202 (225)-Lebach; BVerfGE 39, 1 (43) – Fristenlösung. 126 Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 1 GG, Rn. 29; Zippelius, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 1 Rn. 2; Benda, Gefährdungen der Menschenwürde, S. 8. 127 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 93 f. 128 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 88. 129 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 88. 130 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 146. 125
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
positiviert vorlägen und demnach einen Menschenwürdegehalt enthielten. Andererseits ließen sich jedoch auch jene Grundrechte nachweisen, denen ein Menschenwürdegehalt nicht zukomme. Somit zeige sich die Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als thematisch auf den elementaren Schutz der Menschenwürde begrenzt, was aber soviel bedeute, dass sich jene im allgemeinen nicht auf den Schutzbereich der nachfolgenden Einzelgrundrechte ausdehnen ließe.131 Die hier wiedergegebenen Argumente gegen die Ausstrahlungswirkung des Menschenwürdesatzes, die wesentlich in einem fragwürdigen Verständnis von Menschenwürde und Einzelgrundrecht gründen, vermögen indes nicht zu überzeugen. Die Textfassung des Art. 1 GG steht der Annahme einer Überschneidung von Menschenwürde, Menschenrechten und Grundrechten nicht entgegen. Nachdem nach Abs. 1 des Art. 1 GG die Unantastbarkeit und die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde festgestellt wurde, bekennt sich das deutsche Volk nach Art. 1 Abs. 2 GG zur Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte.132 Dies zeigt, dass die in Abs. 2 angesprochenen Menschenrechte unmittelbarer Ausfluss der Menschenwürdegarantie des Abs. 1 sind. Aus systematischer Sicht spricht die enge räumliche Nähe des Art. 1 Abs. 3 GG zu den in Art. 1 Abs. 2 GG angesprochenen Menschenrechten dafür, dass die Grundrechte zumindest auch den Geist dieser Menschenrechte – welche Ausfluss der Menschenwürde sind – teilen. Die Formulierung des Art. 1 Abs. 3 GG impliziert, dass die „Grundrechte“ des Art. 1 Abs. 3 GG im Prinzip die „Menschenrechte“ im Sinne des Art. 1 Abs. 2 GG zumindest einschließen. Damit ist die rechtliche Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde über die Vermittlung der Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG) prinzipiell auch auf die Grundrechte nach den Art. 2 ff. GG und somit auch auf die sich aus diesen Grundrechten ergebende staatliche Schutzpflicht übertragbar.133 Demnach ist die Menschenwürde den Menschenrechten unmittelbar eingewoben, wobei die Menschenwürde in der Folge Ausstrahlungswirkung auf die selbständigen Einzelgrundrechte hat. Der untrennbare historische Entstehungszusammenhang zwischen der Menschenwürde, den Menschenrechten und den im Verfassungsgesetz positivierten Grundrechten ist zudem ersichtlich: Die Erhebung der Menschenwürde zu einem obersten, alles durchdringenden Prinzip des Menschenrechtsschutzes ist untrennbar verbunden mit der Erinnerung an ein „unsagbares Leid“, das im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust über die Menschheit hereingebrochen war.134 Dementspre131 132 133 134
Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 147. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 95. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 101 f. Ress, Würde des Menschen, in: FS Schäffer, S. 703 ff.
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chend ist die Ableitung einer grundrechtlichen Schutzpflicht aus der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG konzeptionell überzeugend und rechtlich nachvollziehbar. c) Schlussfolgerung Die zuvor dargestellten Ansätze zu einer dogmatischen Begründung der Schutzpflicht des Staates zeigen, dass die Literatur der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten grundrechtlichen Schutzpflicht mehrheitlich positiv gegenübersteht. Es gilt nochmals festzuhalten, dass weder die vorgebrachte Kritik noch die alternativ erörterten Lösungsansätze Anlass zu einer grundsätzlichen Abkehr von diesem Ansatz bieten. Im Vergleich zu den anderen Ansätzen ist der Herleitung der Staatspflichten aus der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde mit Blick auf die damit angesprochenen Einzelgrundrechte die größere Überzeugungskraft eigen. Jedoch folgt aus der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde nicht, dass allen Grundrechten pauschal ein „Menschenwürdekern“ zuzuschreiben ist. Es lassen sich auch Grundrechtssätze anführen, die weder mit den Menschenrechten noch mit der Menschenwürde eine originäre Verbindungslinie haben und folglich keinen „Menschenwürdekern“ aufweisen. Je spezifischer die grundrechtlich geschützten Lebensbereiche und umso weiter sich diese von den vitalen körperlichen und geistigen Grundlagen menschlicher Existenz abheben, desto schwächer erscheint das Menschenwürdeprinzip in den betroffenen einzelnen Grundrechten eingebunden. Während die Sicht auf das einzelne Grundrecht ergibt, dass sich zwar nicht alle Grundrechte im gleichen Maße auf das Menschenwürdeprinzip zurückführen lassen, so zeigt sich dennoch bei der überwiegenden Zahl aller klassischen Grundrechte ein einmal mehr oder einmal weniger zu berücksichtigender „Menschenwürdekern“, der es nahe legt, die objektiv-rechtliche Ausstrahlungswirkung des Menschenwürdeprinzips im Ansatz zu verallgemeinern.135 Demnach ließe sich das Grundrechtssystem als die Geometrie einer Kugel beschreiben, in deren Zentrum, in einem Kernbereich, die Menschenwürde ruht, die gleichzeitig jenseits ihrer engen Grenzen eine Ausstrahlungswirkung entfaltet.136 In dessen Wirkungsumkreis befinden sich die Einzelgrundrechte verankert. Diese werden von der Ausstrahlungswirkung des Menschenwürdekerns betroffen, ohne dass sie ihre Selbstständigkeit verlieren. Ihre Positionierung in Bezug auf diesen Kern variiert in Abhängigkeit davon, welches der Grundrechte auf welche konkrete Weise einer Beeinträchtigung ausgesetzt ist. Im Einzelfall kann eine Einwirkung so intensiv sein, dass es zu Überschneidungen 135 136
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 107. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 97.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
zwischen dem durch Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG geschützten Menschenwürdekern und dem betroffenen Grundrechtsgehalt eines Einzelgrundrechts käme, womit dann beide Rechte verletzt würden.137 Hinsichtlich dieses Verhältnisses zwischen Menschenwürde und Einzelgrundrecht ist alle staatliche Gewalt zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet, und dieser Schutzauftrag erstreckt sich dann logischerweise auch auf diejenigen Einzelgrundrechte, die um der Menschenwürde Willen bestehen. Zusammenfassend sei festgehalten, dass sich vor diesem Hintergrund die Schutzpflichten als ein weithin anerkanntes und zur effektiven Gewährleistung des Grundrechtsschutzes notwendiges Instrumentarium erweisen, die letzten Endes der Wahrung des obersten Prinzips der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG dienen. 2. Ansätze im Schrifttum der EMRK Der Rechtsprechung des EGMR bezüglich der positiven Schutzpflichten wird von Seiten der Literatur weitestgehend zugestimmt. Mitunter finden sich ebenso Vorschläge, die mit einer Reihe dogmatischer Ableitungsversuche darauf abzielen, dem Problem der Beeinträchtigung konventionsrechtlicher Güter durch Privatpersonen beizukommen. a) Übernahme der Rechtsprechung Ausweislich der vergleichsweise umfangreichen Literatur auf deutscher Ebene zur Frage der dogmatischen Herleitung der Lehre von den Schutzpflichten, hat diese Problematik im Rahmen der EMRK nur beschränkt Eingang in ihrer Literatur gefunden. Die Gegenüberstellung zeigt, dass sich bei erstmaliger Annahme staatlicher Schutzpflichten durch den EGMR, wie beispielsweise im Urteil X und Y v. Niederlande,138 sich keine Reaktion einstellte, die mit der Reaktion der deutschen Literatur auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch vergleichbar wäre.139 Denn der EGMR hat sich in der Tendenz einer generellen Theorie der staatlichen Verpflichtung verweigert und sich durchgehend jeweils nur im verhandelten Einzelfall auf die Schutzpflichten bezogen. Nichtsdestoweniger hat die Literatur die Entwicklungen der Rechtsprechung mehrheitlich mit Zustimmung aufgenommen und zum Teil die sich daraus ergebenden Erwägungen zur Herleitung der Schutzpflichten noch ergänzt und vertieft. 137 138 139
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 97. EGMR A 91 – X & Y vs. Niederlande. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 130.
Kap. 1: Schutzpflichten
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Eindeutige Tendenzen zu einer Anerkennung positiver Schutzpflichten aus der EMRK, beispielsweise aus Art. 1 oder einem konkreten Einzelrecht, sind in der Literatur bislang noch nicht erkennbar. Häufig stellten die Ableitungsbegründungen der staatlichen Schutzpflichten vielfach eher eine Art Rechtfertigung für die Notwendigkeit dar, das klassische abwehrrechtliche Verständnis zu erweitern: Es ergäben sich die positiven Staatspflichten aus der dynamischen Auslegung der Konvention, die sich an die Veränderung wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse anzulehnen habe.140 Dem kann im Prinzip nicht widersprochen werden, dennoch würde diese richtige Feststellung allein noch nicht den Anforderungen an eine saubere Dogmatik genügen. Darüber hinaus finden sich auch solche Stimmen, die der Rechtsprechung des EGMR ablehnend gegenüberstehen. Im Schrifttum werden die kritischen Begründungen häufig unter dem aus dem deutschen Recht entlehnten Stichwort der mittelbaren Drittwirkung erörtert, worunter überwiegend die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Bedrohungen seitens der Privaten verstanden wird. Von den Kritikern wird vorgebracht, dass die staatlichen Schutzpflichten mit einer klassischen Grundrechtskonzeption, wonach die Menschenrechte als die Abwehrrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt bezeichnet werden, nicht zu vereinbaren seien.141 Unter den Mitgliedstaaten der EMRK habe bei Abschluss des Konventionsvertrags Einigkeit nur in Bezug auf die obengenannte „traditionelle“ Auffassung bestanden. Außerdem sei es schlechthin untersagt, den primär innerhalb der deutschen Rechtsauffassung entwickelten Gedanken von den grundrechtlichen Schutzpflichten geradewegs in einen völkerrechtlichen Vertrag aufzunehmen.142 b) Formelle Ansätze: Die Art. 1, Art. 2 und Art. 5 EMRK Gelegentlich hat es weitere Ansätze zur Erarbeitung der Ableitung der grundrechtlichen Schutzpflicht aus dem Konventionsrecht gegeben. In der Literatur wird bei dieser Ableitung aus den Freiheitsbestimmungen der EMRK zwischen einem formellen und einem materiellen Aspekt unterschieden. Im Folgenden werden zunächst die formellen Ansätze dargestellt.
140
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 211. Siehe Morvay, ZaöRV 21 (1961), S. 319 ff.; Guradze, EMRK, S. 20 ff. 142 Guradze, in: FS Nipperdey, Bd. II, S. 766 ff.; ders., EMRK, Einleitung, S. 20 ff. 141
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aa) Art. 1 EMRK (Allgemeine Vorgabe für die staatliche Grundrechtsgarantie) Es gilt in der Literatur als umstritten, ob sich die Schutzpflichten allein aus Art. 1 EMRK oder aus Art. 1 EMRK in Verbindung mit einer Einzelgarantie herleiten lassen. Von einigen Stimmen in der Literatur wird Art. 1 EMRK als allgemeine Vorgabe für eine staatliche Schutzpflicht angesehen. Demnach könnten sich die Schutzpflichten bereits mit Hinweis auf diese Vorgabe für alle weiteren Rechtsgarantien ergeben, sei es, dass der Art. 1 EMRK allein zugrunde gelegt wird oder dieser in Verbindung mit einer jeweiligen Einzelgarantie bemüht wird.143 Jedoch überwiegen die Stimmen in der Literatur, die diesen Ansatz ablehnen, indem sie die Ableitung einer umfassenden Gewährleistungspflicht aus Art. 1 EMRK für gänzlich unergiebig halten.144 Denn es ließe sich im Wege dieser Vorgehensweise den sich aus den Konventionsgarantien ergebenden staatlichen Schutzpflichten materiell nichts hinzufügen, weil sich diese Vorschrift jedes Mal auf die nachfolgenden Einzelgarantien, welche den Schutzgegenstand näher bestimmten, bezögen.145 Folglich ließen sich auch aus Art. 1 EMRK keine eigenständigen Schutzpflichten entnehmen. Zudem sei festzustellen, dass dieser Artikel von den Straßburger Instanzen auch immer nur unterstützend herangezogen wird, während letztlich das jeweils einschlägige Einzelgrundrecht ausschlaggebend bleibt.146 bb) Art. 2 S. 1 EMRK (Der Lebensschutz als allgemeines Rechtsprinzip) Nach Art. 2 S. 1 EMRK ist mit dem Wortlaut, „das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt“ formell und unmissverständlich die Schutzpflicht des Gesetzgebers festgestellt. Dadurch, dass der Satz mit zu den einleitenden Erklärungen der EMRK gehört, kommt ihm die Rolle eines Grundprinzips zu, wonach sich dieses dann auch weiterhin auf die nachfolgenden Freiheiten zu erstrecken vermag.147 143 Szczekalla, Die so genannten und europäischen Recht, S. 894. 144 Classen, JöR 1987, S. 36 f.; tungsverfahren, S. 222 f. 145 Szczekalla, Die so genannten und europäischen Recht, S. 894. 146 Szczekalla, Die so genannten und europäischen Recht, S. 894 f.
grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen Murswiek, in: Grundrechtsschutz und Verwalgrundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen
Kap. 1: Schutzpflichten
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Es tritt hinzu, dass nach den jeweils zweiten Absätzen der Art. 8–11 und des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls den Mitgliedstaaten eine Einschränkung der Freiheiten zum Schutz der Rechte Dritter gestattet ist. Die EMRK gibt demnach zu erkennen, dass es auch Aufgabe des Staates sei, im gegebenen Fall die erklärten Freiheitsrechte gegenüber den Übergriffen Dritter zu schützen.148 Von dieser im formellen Ansatz gründenden Ausgangssituation ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Begründung der staatlichen Schutzpflicht, die im Wege einer zusätzlichen „materiellen“ Ableitung zu vollenden wäre. cc) Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK (Das Recht auf Sicherheit) Von Teilen der Literatur wird die eigenständige, auf die positiven staatlichen Schutzmaßnahmen gerichtete Funktion des Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK mit dem Wortlaut „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ angesprochen.149 Es wird diesbezüglich die Ansicht vertreten, dass ein Recht auf Sicherheit, das nur im Sinne eines Schutzes vor willkürlichen staatlichen Eingriffen in die Freiheitsrechte zu verstehen sei und damit vollständig in einem Recht auf Freiheit aufgehe, nicht genüge.150 Vielmehr sei der Begriff „Sicherheit“ auf einen originären Inhalt, nämlich, einem Geschütztsein vor Gefahr für die persönliche Integrität, zurückzuführen.151 Daher bestehe ein tatsächliches Bedürfnis für eine solche Schutzpflicht. Zwar haben die teleologischen, auf das tatsächliche Schutzbedürfnis ausgerichteten Argumente zweifelsohne ihre Berechtigung. Dennoch vermag ein allein im Art. 5 EMRK abgestützter Ansatz eine für alle Freiheitsrechte gleichermaßen geltende allgemeine Herleitung staatlicher Schutzpflichten nicht zu ersetzen, was den Begriff der Sicherheit unangemessen überdehnen würde.152 Zudem widerspricht die Entstehungsgeschichte der Konvention bereits der selbständigen Ableitung positiver Schutzpflichten aus dem Begriff der Sicherheit.153 Vor diesem Hintergrund kann eine eigenständige 147
Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 310. Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 311. 149 Herzog, Grundrechtsbeschränkung, S. 17 ff; Partsch, EMRK, in: Grundrechte, S. 354; Schorn, EMRK in Einwirkung auf das deutsche Recht, S. 131. 150 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 345. 151 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 345. 152 Murswiek, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren, S. 227 ff.; Trechsel, in: The European System for the Protection of Human Rights, S. 284 ff. 153 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 119. 148
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Herleitung staatlicher Schutzpflichten allein aus dem Recht auf Sicherheit nicht überzeugen. c) Materielle Ansätze Angesichts des Ungenügens formeller Ansätze zur Begründung der staatlichen Schutzpflichten muss weiterhin auf die materiellen Ansätze zur Begründung der staatlichen Schutzpflichten abgestellt werden. aa) „Drittwirkung“ Weil sowohl von der Lehre als auch von der Rechtsprechung die enge Verbindung zwischen der staatlichen Schutzpflicht und der Drittwirkung der Grundrechte im Rahmen von Grundgesetz und EMRK bestätigt wird, kann demzufolge hinsichtlich einer Begründung der staatlichen Schutzpflichten zunächst bei den Drittwirkungslehren angesetzt werden.154 Die Lehre einer unmittelbaren Wirkung der Konventionsrechte unter den Privatpersonen wird nur selten vom älteren Schrifttum bemüht.155 Sie wurde anschließend von Schrifttum und Rechtsprechung durch die Lehre der mittelbaren Drittwirkung weitgehend ersetzt. Werden ebenso die Privatpersonen durch die Grundrechte der EMRK zumindest mittelbar über die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe der Gesetze gebunden, so liegt es dann nahe, aus diesen Ansätzen gleichfalls die Schutzpflichten des Staates zu entfalten.156 Von der juristischen Fachliteratur wird hinsichtlich der Herleitung der mittelbaren Drittwirkung vielfach thematisch von dem Prinzip der Menschenwürde, dem Recht auf Achtung des Familienund Privatlebens (Art. 8 Abs. 2 EMRK), dem Recht auf Wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) sowie der positiven staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber den einzelnen Menschenrechten ausgegangen.157 Gleichwohl gilt es noch in der Literatur als umstritten, ob sich die staatliche Schutzpflicht mit der Voraussetzung logisch verträgt, dass die betreffenden konventionsrechtlichen Freiheiten eine Drittwirkung zu entfalten vermögen.158
154 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 891 f. 155 Weiß, EMRK, S. 31 f.; Weber, H., ZStrW 1953, S. 346 f. 156 BVerfGE 7, 198 (204) – Lüth; Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 311. 157 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 119. 158 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 202; Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 311.
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bb) Menschenwürde Bei den materiellen Ansätzen wird auch auf die Konzeption von der Menschenwürde abgestellt. Allen Freiheitsbestimmungen von sowohl der EMRK als auch dem Grundgesetz ist der Gedanke des Schutzes der Menschenwürde implizit eingewoben. Sollte das Individuum nicht mehr in der Lage sein, seine Freiheiten in der Gesellschaft primär und somit autonom durchzusetzen, so ist der Staat als Garant der Freiheiten aufgefordert, die Eingriffe in den Schutzbereich der Freiheiten durch Dritte abzuwehren.159 Der Schutz der Menschenwürde darf sich nicht in der formellen Zuerkennung von Rechten erschöpfen, sondern verlangt vielmehr die effektive Ausübung von Freiheiten. Obwohl in der EMRK die Menschenwürde im Wortlaut nicht explizit genannt wird, liegt der Gedanke durch Art. 3 EMRK, der unmenschliche und erniedrigende Behandlung verbietet, der gesamten Konvention unmissverständlich zugrunde. Darüber hinaus wird mit dem ersten Satz der Präambel der EMRK Bezug auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung genommen, in der die Menschenwürde ebenfalls ausdrücklich angesprochen wird.160 cc) Dynamische Auslegung und Effektivitätsprinzip Die dynamische Auslegung und das Effektivitätsprinzip bilden nach Auffassung des EGMR und der KomMR die Grundlage für die Ableitung der positiven Pflichten aus der EMRK.161 Dem Gerichtshof ist es im Wege der dynamischen Auslegung aufgegeben, die Konvention im Lichte sich wandelnder gesellschaftlicher Umstände zu deuten und sich vom ursprünglichen Willen der Vertragsparteien, allein die negative Freiheit zu gewährleisten, zu lösen.162 Damit wohnt der Konvention ebenso das positive, die staatlichen Schutzpflichten beinhaltende Freiheitsverständnis inne. Zudem fördert das Effektivitätsprinzip des Grundrechtsschutzes auch eine Herleitung der staatlichen Schutzpflichten, damit eine tatsächlich wirksame Gewährleistung des Grundrechtsschutzes bei den EMRK-Garantien verwirklicht werden kann.163 Das „dynamische Vorgehen“ des Gerichtshofs alleine kann noch keine eigenständige Basis für die Schutzpflichten ergeben; hierzu bedarf es vielmehr einer anderen Begründung. 159
Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 312. Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 313. 161 Buß, DÖV 1998, S. 323 ff. 162 Krieger, in: EMRK/GG, S. 281. 163 Siehe Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 309 f.; Buß, DÖV 1998, S. 323; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 12 ff. 160
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d) Abwehrrechtlicher Ansatz Im Rahmen der EMRK lässt sich zudem eine abwehrrechtliche Lösung, die der von der deutschen Literatur vertretenen ähnlich ist, bemühen. Das heißt, dass sich eine Verantwortlichkeit des Staates für ungerechtfertigte Übergriffe seitens Privater aus der abwehrrechtlichen Funktion der Konventionsrechte herleitet. Dementsprechend ergäben sich die staatlichen Schutzpflichten direkt aus der „Zurechnung“ des privaten Verhaltens an den Staat, wenn das private Verhalten von der nationalen Rechtsordnung erlaubt und rechtlich abgesichert ist.164 Damit wäre sowohl die eigenständige Lehre der staatlichen Schutzpflichten als auch die Konzeption einer Drittwirkung der Konventionsrechte überflüssig. Aber die abwehrrechtliche Lösung stößt gleichermaßen auf Kritik. Entscheidender Kritikpunkt ist, dass sie die Unterschiede von Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte nivelliere.165 Denn die Abwehr der durch den Staat verübten Eingriffe und die positiven staatlichen Schutzpflichten gegen Eingriffe Dritter haben verschiedene Voraussetzungen, die nicht im Wege einer Gleichstellung eingeebnet werden dürfen. Im ersten Falle sollten die staatlichen Eingriffe durch Aufhebung oder Unterlassung beseitigt werden, im zweiten Falle solle der wirksame Schutz dadurch gewährleistet werden, dass eine aktive Nachbesserung durch Erlass einer hinreichenden Schutzvorschrift oder einer darauf beruhenden aktiven Einzelmaßnahme vorgenommen wird.166 Diese Unterscheidung zeigt sich auch bei der Rechtsprechung der Straßburger Organe, die durchwegs zwischen den abwehrrechtlichen Schutzpflichten und den positiven Schutzpflichten der Staaten zum Grundrechtsschutz unterschieden haben.167 Auch würde die abwehrrechtliche Lösung mit den Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden Entwürfen der ILC (Völkerrechtskommission) zur Staatenverantwortlichkeit in Widerspruch stehen. Zwar kann nicht behauptet werden, dass die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit es verbieten, den Vertragsstaaten privates Verhalten zuzurechnen, aber nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit soll staatliches Verhalten (staatliche Rechtsdurchsetzung) in der Regel Anknüpfungspunkt vertraglicher Verantwortlich164 Murswiek, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren, S. 224 ff.; Holoubek, Gewährleistungspflichten, S. 253. 165 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 123. 166 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 123. 167 EGMR A 32, § 32 – Airey vs. Irland (= EuGRZ 1979, 626 f.); EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.); EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich; EGMR A 112, § 72 – Johnston (= EuGRZ 1986, 313, 318); EGMR A 106, § 37 – Rees.
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keit sein. Demnach lässt sich bei der abwehrrechtlichen Lösung eine Trennung zwischen „privatem“ und „staatlichem“ Verhalten im Wesentlichen noch nicht unbesehen umgehen. Nur für den Fall, dass der Staat Kenntnis von der geplanten Verletzungshandlung habe und diese zudem billige, sei die abwehrrechtliche Lösung einschlägig. Ohne Bestehen eines solchen subjektiven Elements könne eine staatliche Unterlassung noch nicht eine eigenständige Begründung für die Zurechnung privaten Verhaltens zum Staat werden.168 Vor diesem Hintergrund ist auf der Ebene von EMRK ebenso wie auf der Ebene des deutschen Rechts von der rein abwehrrechtlichen Lösung abzusehen. e) Schlussfolgerung Die Ausführungen der vielfältigen Ansätze zur dogmatischen Ableitung grundrechtlicher Schutzpflichten im Rahmen der EMRK haben gezeigt, dass sich noch keine einheitliche Schutztheorie etabliert hat. Es finden sich vielmehr eine Reihe perspektivischer Versatzstücke zu einem „Theoriebündel“ zusammengefügt. Nach Meinung von Steuer169 ergibt sich diese Situation aus vielerlei Gründen. Einerseits würden ein Teil der Ansätze, in denen die allgemeinen Erwägungen zu Sinn und Zweck der Konvention im Vordergrund stünden, die alleinige Basis für die Begründung positiver Staatspflichten bilden. Da jedoch diese ergebnisorientierten Argumentationen sich überhhaupt nicht dem Wortlaut und der Systematik der Konvention anschlössen, seien sie leider nicht überzeugend. Zum anderen würden im Schrifttum die unterschiedlichen Begriffe wie Handlungspflichten, Schutzpflichten des Staates und positive Verpflichtungen desselben meistens synonym verwendet. Obwohl es sich bei dieser Begriffsvielfalt durchgehend um die grundsätzliche Frage nach einem Ansatz für eine staatliche Schutzpflicht handele, bestünden unter diesen Begriffen doch gewisse Unterschiede hinsichtlich ihrer inhaltlichen und formellen Natur. Damit gehe einher, dass eine einheitliche Theorie der Schutzpflichten erschwert sei.170 Den Schwerpunkt der kritischen Einwendungen bildet der Einwand, dass die Konzeption der staatlichen Schutzpflichten nicht mehr von der Konvention als der einer völkerrechtlichen Vereinbarung gedeckt sei, sondern sich vielmehr mit dieser Konzeption eine nicht von den Vertragsparteien legitimierte Vertragserweiterung offenbare.171 Nach Art. 32 der Wiener Vertrags168 Zum Ganzen siehe Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 896 f. 169 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 219. 170 Zum Ganzen Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 219 f.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
rechtskonvention ist der historische, subjektive Wille der Vertragsparteien als Auslegungskriterium nur subsidiär heranzuziehen.172 Ein evolutives dynamisches Auslegungskriterium zeigt sich bei der Interpretation der Präambel der Konvention und in Art. 2 Abs. 1 S. 1 der EMRK selbst, demzufolge sich die Mitgliedstaaten nicht nur zur Wahrung, sondern auch zur „Entwicklung“ der Menschenrechte verpflichtet hätten.173 Von daher spricht der Gerichtshof zu Recht von der Konvention als einem „living instrument“.174 Dieses Verständnis vorausgesetzt, ist der Gerichtshof gehalten, die Grundrechte der EMRK nicht nur theoretisch und illusorisch, sondern auch praktisch und effektiv zu garantieren,175 um auf diesem Wege Sinn und Zweck der Konvention zu verwirklichen. Mit dieser Sicht auf die Konventionsrechte sind die Staaten verpflichtet, sich nicht nur eigener Eingriffe zu enthalten, sondern auch Bürger vor Beeinträchtigungen und Übergriffen durch Privatpersonen zu schützen. Jedoch wird damit eine Bindung des staatlichen Handelns an die primären Rechte, als Abwehrrechte bezeichneten Konventionsrechte, nicht durch die Anerkennung der staatlichen Schutzpflichten, die nur zusätzlich zur Stärkung der Abwehrrechte entwickelt wurden, aufgehoben. Weil die Konventionsrechte nicht uneingeschränkt gewährleistet werden, sind die staatlichen Gewährleistungsmaßnahmen, die im wesentlichen ebenfalls als staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte anderer zu verstehen sind, nur zum Schutze der Rechte anderer oder zur Verhinderung der Begehung von Straftaten zugelassen.176 Hierbei ist der Staat seinerseits an die Grenzen gebunden, die ihm durch die grundrechtliche Abwehrfunktion der Konventionsrechte gesetzt sind. Wenn der Staat aufgrund der positiven Schutzpflicht Maßnahmen zum Schutze der Grundrechte des einen Bürgers ergreift, darf er hierdurch nicht (übermäßig) in die Abwehrrechte anderer Privater eingreifen. Letzten Endes läuft es auch hierbei auf eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte der EMRK hinaus, wobei sich bei der Abwägung die abwehrrechtliche Funktion und die positive Schutzfunktion gegenüberstehen. Die Annahme der staatlichen Schutzpflichten führt auch nicht zu einer übermäßigen Einmischung der Konventionsorgane in die Souveränität des Mitgliedsstaates und des jeweiligen nationalen Parlaments. Auf Grundlage der staatlichen demokratischen Legitimation verfügen die Mitgliedstaaten 171
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 131. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 132. 173 Matscher, in: The European System for the Protection of Human Rights, S. 68 ff. 174 EGMR A 26 § 31 – Tyrer vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1979, 162). 175 EGMR A 23, § 53 – Kjedsen vs. Dänemark (= EuGRZ 1976, 478). 176 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 137. 172
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bei der Umsetzung ihrer Schutzaufgaben über einen weitgefassten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum, der seitens der Konventionsorgane beachtet werden muss.177 Der Staat vermag die ihm auferlegten Schutzpflichten in der Regel durch unterschiedliche Maßnahmen zu verwirklichen, und im Grundsatz bleibt die Wahl der Mittel der Verantwortung des Mitgliedstaates vorbehalten.178 Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die im Rahmen der EMRK zu vollziehende, dogmatische Entwicklung einer eigenständigen Lehre zur Begründung der staatlichen Schutzpflichten sinnvoll und somit auch erstrebenswert ist, insofern sich damit das Problem einer Beeinträchtigung konventionsrechtlich geschützter Güter von nichtstaatlicher Seite einer Lösung zuführen lässt.
B. Die Struktur der Schutzpflicht im GG und in der EMRK Nach den vorausgegangenen Erläuterungen zu den unterschiedlichen Ableitungsmöglichkeiten der Schutzpflichten auf den Ebenen von GG und EMRK wird ein näheres Eingehen auf die Strukturen derselben erforderlich. Mit dem Hinweis auf ihre juristische Handhabbarkeit und ihre gerichtliche Nachprüfbarkeit lassen sich die grundrechtlichen Schutzpflichten von den traditionellen Abwehrrechten abheben. Im Zuge des Vergleichs zwischen GG und EMRK gilt es die Faktoren, die die zu schützenden Rechtsgüter, die Gefahrenquellen und den Gefahrenbegriff betreffen, näher zu untersuchen. Ferner sollen hier die Adressaten der Schutzpflicht erörtert und abschließend Inhalt und Reichweite der Schutzpflichten auf den beiden Ebenen umrissen werden. I. Schutzgüter 1. GG-Ebene Jedes der in den Freiheitsgrundrechten des Grundgesetzes normierten Güter ist Gegenstand der staatlichen Schutzpflicht.179 Denn das Ziel der grundrechtlichen Schutzpflichten liegt gerade darin begründet, die Geltungskraft der grundrechtlichen Abwehrrechte zu verstärken und die damit ange177 EGMR A 91, § 23-X und Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.); EGMR A 139 § 34-Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 178 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 138. 179 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 62.
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sprochenen grundrechtlichen Güter ebenso gegen die nichtstaatlichen Eingriffe zu schützen.180 Aus dem so Umrissenen ergibt sich auf logischem Wege folgende Betrachtungsweise: Dort, wo sich im „zweidimensionalen“ Bürger-Staat-Verhältnis der grundrechtlichen Abwehrfunktion der grundrechtliche Schutzbereich zutreffend definieren lässt, sind in dem „dreidimensionalen“ Schutzgeflecht Staat-Störer-Opfer die Freiheitsgrenzen des einzelnen Grundrechtsträgers notwendig „mitgedacht“.181 Der Gegenstand der Schutzpflicht entspricht dann nach Inhalt und thematischer Reichweite folglich dem Schutzbereich der entsprechenden Abwehrrechte.182 Aufgrund der Grundrechte als objektive Wertordnung wurden die staatlichen Schutzpflichten vom BVerfG zum Schutz aller Grundrechtspositionen begründet. Damit hat das Gericht die Schutzgüter der staatlichen Schutzpflichten auf alle Freiheitsrechte ausgedehnt. Besonders häufig sind es der Schutz des Lebens und der Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, die im Mittelpunkt der gerichtlichen Entscheidungen stehen.183 Darüber hinaus hat das BVerfG die Schutzpflichten für folgende andere Grundrechte angenommen: Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 4, Art. 12 und Art. 14 GG.184 Bei diesen Grundrechten obliegt es allerdings dem Gesetzgeber, den Schutzbereich der staatlichen Verpflichtung im Wege der Inhaltsbestimmung näher auszugestalten.185 2. EMRK-Ebene Bislang ist im Rahmen der EMRK noch nicht geklärt, auf welche menschenrechtliche Schutzgüter sich die staatlichen Schutzpflichten gegenüber den Beeinträchtigungen durch private Dritte beziehen sollen.186 Jedoch sind in Anbetracht der Tatsache, dass der Grundrechtsschutz der EMRK prinzipiell auf den wirksamen und effektiven Schutz aller Konventionsgüter abzielt, die staatlichen Schutzpflichten auf alle in der EMRK geschützten Güter zu erstrecken.187 180 So Isensee, in: HdbStR V, S. 192; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 74 ff. 181 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 75; Wahl/ Masing, JZ 1990, S. 556. 182 Isensee, in: HdbStR V, S. 192. 183 Siehe BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 46, 160 – Schleyer; BVerfGE 49, 89 – Kalkar I; BVerfG in: NJW 1995, 2343 – Alkoholgrenzwert; NJW, 1996, 651 Nr. 1 und 2 – Ozongesetz; NJW, 1997, 3085 – Breithaupt. 184 Krieger, in: EMRK/GG, S. 293. 185 BVerfGE 58, 300 – Naßauskiesung; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, S. 37 ff.; Schwertfeger, NVwZ 1982, S. 5. 186 Krieger, in: EMRK/GG, S. 291.
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In der Rechtsprechung haben die Konventionsorgane die staatlichen Schutzpflichten vor allem im Zusammenhang mit den Art. 8,188 Art. 11189 und Art. 2 EMRK190 angesprochen. Die Rechtsprechung des EGMR erfasst ebenso das Verbot erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung191 sowie das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit,192 das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person,193 die Glaubens-194 und Meinungsfreiheit,195 die Unschuldsvermutung196 und schließlich das Recht auf Eigentum.197 Denn der EGMR begründet die staatlichen Schutzpflichten aus einem Zusammenspiel von materiellem Gehalt der Konventionsrechte und ihrer Wirksamkeit mit der allgemeinen Gewährleistungsklausel des Art. 1 EMRK.198 Diese vom EGMR geführte Begründungsweise entscheidet eigentlich schon darüber, für welche Rechtsgüter die staatlichen Schutzpflichten angenommen werden können. Da die oben vom EGMR begründeten Gewährleistungsgarantien und Wirksamkeitsgedanken alle Grundrechte der Konvention betreffen, ha187 Siehe Murswiek, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren, S. 233; Wiesbrock, Internationaler Schutz, S. 150 ff. 188 EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.); EGMR A 172, § 41, 45-Powell u. Rayner vs. Vereinigtes Königreich; EGMR A 303-C, § 51 – Lopez Ostra vs. Spanien, (= EuGRZ 1995, 530). 189 EKMR Nr. 10182/82, 4 – Cabado; EKMR DR 42, 178 – Cheall (= EuGRZ 1985, 733 f.); EGMR, A 94 – Young, Webster und James vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1981, 559); EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 190 EKMR DR 83-A, 26 – Tugar; YB 16 (1973), 388 (392) – X vs. Irland; DR 32, 190 (200) – Mrs. W. vs. Vereinigtes Königreich; DR 32, 211 (216) – Mrs. W vs. Irland; Nr. 9839/82 – K vs. Vereinigtes Königreich und Irland, usw. 191 EGMR Rep. 1998-VI, 2692, § 22 – A vs. Vereinigtes Königreich; Rep. 2001-V, 1, § 73 – Z. u. a. vs. Vereinigtes Königreich; Nr. 33218/96, § 88 – E. u. a. vs. Vereinigtes Königreich; Nr. 38719/97, § 109 – D. P. und J. C. vs. Vereinigtes Königreich, usw. 192 EKMR DR 32, 180 (182) – X vs. Niederlande; Nr. 73316/01, §§ 77–89 – Siliadin. 193 EGMR A 144, § 63, 72 f. – Nielsen vs. Daenmark. 194 EGMR A 295-A, § 47 – Otto – Preminger-Institut vs. Österreich; EKMR DR 22, 27 (36.) – X vs. Vereinigtes Königreich; DR 87, 68 (75) – Kontinenen. 195 EKMR DR 62, 151 (160) – Rommelfanger; DR 8, 5 (14, § 88) – De Geillustrerde; EGMR Rep. 2000-III, § 43 – Özgür Günden vs. Türkei; Rep. 2001-VI, 243, §§ 44–47 – VGT Verein vs. Tierfabriken. 196 EKMR Nr. 2413/65 – X vs. Deutschland; Yb 13 (1970), 302 – X vs. Norwegen; DR 14, 64 (112 f.) – Ensslin, Baader und Raspe; DR 22, 100 (126 f.) – Guy Jespers. 197 Für Art. 8 EMRK: EGMR A 334, § 23, 37 – Velosa Barreto; für Art. 1 ZP 1: Rep. 2002-VII, § 96 f. – Soutransavto Holding; auch Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina, Nr. 96/17, § 32 – Blentic; Nr. 96/27, § 31 – Bejdic; Nr. 96/28, § 33 – M. J. vs. Republika Srpska. 198 Krieger, in: EMRK/GG, S. 292.
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ben die Schutzpflichten ebenso Bestand für alle Grundrechte, die durch private Dritte verletzt werden können.199 II. Die Gefahrenquellen Der Unterschied zwischen den abwehrrechtlichen Grundrechten und den positiven staatlichen Schutzpflichten ist eng verflochten mit dem Umstand, ob eine Gefährdung ursächlich vom Staat ausgeht oder nicht.200 Werden von den Staaten selbst die Eingriffe in die Schutzgüter des Grundgesetzes oder der EMRK vorgenommen, so ist der Grundrechtsschutz der abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion zugewiesen. Demnach muss der Staat als Gefahrverursacher ausgeschlossen sein.201 Die staatlichen Schutzpflichten können folgerichtig nur aufgrund nichtstaatlicher Beeinträchtigungen ausgelöst werden. Von daher ist auf den beiden Ebenen von Grundgesetz und EMRK die Abgrenzung zwischen privatem Verhalten und staatlicher Maßnahme demnach erforderlich. Daneben ist die Frage zu untersuchen, ob und in wie fern die Maßnahmen ausländischer Staaten oder Naturereignisse eine grundrechtliche Schutzpflicht auszulösen vermögen. Im Folgenden werden die Gefahrenquellen auf den Ebenen des deutschen Grundgesetzes und der EMRK im Vergleich erörtert. 1. GG-Ebene Über den primären grundrechtlichen Abwehranspruch hinaus, mit dem die Schutzgüter gegenüber Eingriffen staatlicher Maßnahmen abgeschirmt sind, betrifft die staatliche Schutzpflicht ebenso aus nichtstaatlicher Quelle drohende Beeinträchtigungen.202 Dabei zählen zu den nichtstaatlichen Gefahrenquellen die Privatpersonen, Naturereignisse und das Verhalten ausländischer Staaten. Diese Gefahrenquellen werden im Folgenden näher umrissen. a) Beeinträchtigungen durch Privatpersonen Der Schutzpflichtgedanke, der als Konzeption gegenüber den Übergriffen Dritter errichtet ist, wurzelt im Verständnis eines Schutzauftrags als Ausprägung einer auf das Gemeinschaftsleben bezogenen Schutz- und Friedens199 Bleckmann, in: FS für Bernhardt, S. 313 ff.; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 140; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 157. 200 Isensee, in: HdbStR V, S. 205. 201 Krieger, in: EMRK/GG, S. 294. 202 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87.
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funktion des Staates.203 Um die mögliche Gefahrenursache durch Privatpersonen erörtern zu können, muss zuvor eine Abgrenzung zwischen staatlichem und privatem Verhalten aus dem Blickwinkel der Schutzpflichten erfolgen. Denn obwohl die staatlichen Schutzpflichten theoretisch die Abwesenheit eines staatlichen Grundrechtseingriffs voraussetzen und die nichtstaatlichen, insbesondere die privat-verursachten Gefährdungen erfassen, erweist sich diese Grenzziehung in der Praxis häufig als problematisch und unsicher.204 Das ergibt sich daraus, dass die vielseitigen Handlungsformen des modernen Staates eine Erweiterung des traditionellen abwehrrechtlichen Eingriffsbegriffs bewirken.205 Zu den erwähnten, vielfältigen Handlungsformen des Staates gehören etwa staatliche Förderungen, Warnungen, Empfehlungen, Genehmigungen, Subventionen, Investitionslenkungen, Auftragsvergaben sowie die sonstigen staatlichen beratenden oder unterstützenden Handlungen.206 Damit wird der traditionelle Eingriffsbegriff über die erweiterten modernen staatlichen Handlungsformen erweitert. Unter dem modernen Eingriffsbegriff wird nicht mehr allein das unmittelbare rechtsförmliche Zwangshandeln des Staates bezeichnet, sondern es wird darunter ebenso die schutzgutorientierte Beeinträchtigung durch den Staat verstanden.207 Jedoch besteht ein Einwand gegenüber diesem erweiterten Eingriffsverständnis: Der Begriff entbehre eines klaren Profils und der Berechenbarkeit und sei daher „nicht mehr im System“ abgesichert, sondern stecke „in der Krise“.208 Die vom BVerfG vorgenommenen Entscheidungen bezüglich der Abgrenzung des staatlichen Verhaltens vom Verhalten der Privaten sind uneinheitlich. Die einschlägigen Analysen in der Literatur bewerten die Verfassungsgerichtsentscheidungen ebenso einmal nach dem Gesichtspunkt des Abwehrrechts und wiederum unter dem Aspekt der Schutzpflichten. Wenngleich eine herrschende einheitliche Meinung in Rechtsprechung und Literatur noch nicht zu erkennen ist, besteht ein möglicher Lösungsansatz darin, eine staatliche Verantwortung und damit ein eingreifendes Handeln des Staates nur für solche Fälle vorzusehen, in denen die staatlichen Maßnahmen das drittbeeinträchtigende Privatverhalten als wesentliche Bedingung erst ermöglichen und das Bild der Gesamterscheinung bestimmen.209 Dadurch kann eine Privatperson durch ihr grundrechtsbeeinträchtigendes Ver203 204 205 206 207 208 209
Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Roth, W., Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 33. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 37. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht,
S. 103. S. 64. S. 64. S. 64. S. 79.
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halten grundsätzlich zum „Auslöser“ einer staatlichen Schutzpflicht werden.210 Indem einige Grundrechte ausschließlich staatsbezogen sind und deshalb auch nur hoheitlich verletzt werden können, bestehen jedoch einige Einschränkungen bezüglich der privaten Auslöser der staatlichen Schutzpflichten.211 Diese Beschränkungen ergeben sich bereits aus dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechts. Können beispielsweise die Grundrechte in Art. 16 und 16a GG, die den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, die Auslieferung und die Gewährung von Asyl betreffen, nur durch den Staat selbst verletzt werden, dann sind Beeinträchtigungen durch Privatpersonen, die Schutzpflichten auszulösen vermögen, im diesem Bereich nicht zu erwarten.212 b) Gefahrenquellen ausländischen Ursprungs Daneben vermögen auswärtige Staaten die grundrechtlichen Schutzgüter ebenso zu beeinträchtigen. Weil die auswärtigen Staaten nicht der deutschen Hoheitsgewalt unterliegen, sind den Einwirkungsmöglichkeiten der deutschen Staatsorgane in diesem Bereich Grenzen gesetzt. Den zuständigen staatlichen Organen ist vielmehr aufgegeben, sich in einem weiten, politisch und diplomatisch geprägten Ermessensspielraum zu bewegen, der einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nur bedingt zugänglich ist. Im Folgenden werden die Fragen bezüglich des diplomatischen Schutzes vor völkerrechtswidrigen Maßnahmen auswärtiger Staaten und der Auslieferungen näher dargelegt. aa) Diplomatischer Schutz der eigenen Staatsangehörigen im Ausland Das Bundesverfassungsgericht hat seit langem die Pflicht des Staates zum diplomatischen Schutz seiner Staatsangehörigen anerkannt. Eine wichtige Entscheidung in diesem Zusammenhang ist die C-Waffen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts213 Gegenstand dieser Entscheidung war der Schutz deutscher Bürger vor der Lagerung chemischer Waffen durch Streitkräfte der USA in der Bundesrepublik Deutschland. Im Fall Hess hatte der Beschwerdeführer R. Hess im Jahre 1980 beim Bundesverfassungsgericht 210 211 212 213
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 102. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 102. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 157. BVerfGE 77, 170 ff. – C-Waffen.
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Verfassungsbeschwerde mit der Begründung eingelegt, dass seine Grundrechte dadurch verletzt worden seien, dass die Bundesrepublik es pflichtwidrig unterlassen habe, gegen die vier Alliierten Schritte zur schnellstmöglichen Freilassung einzuleiten.214 Im Jahre 1947 war der Beschwerdeführer R. Hess als ehemaliger Stellvertreter des Führers in der NSDAP wegen Verbrechens gegen den Frieden durch das Internationale Militärtribunal in Nürnberg verurteilt worden und infolgedessen durch die Besatzungsmächte in Berlin-Spandau inhaftiert worden.215 In den richterlichen Erwägungen zeigte sich eine besondere Schwierigkeit darin, dass der Fall neben den völkerrechtlichen Aspekten eine ebenso unübersehbare politische Prägung enthielt. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass der Bundesregierung bei der Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahmen zu Gunsten des Beschwerdeführers ein erheblicher Ermessensspielraum zustehe, innerhalb dessen politischen Überlegungen ein entscheidendes Gewicht zukommen könne. Solange sie das ihr eingeräumte Ermessen nicht gänzlich verkenne, sei es folglich auch nicht weiter zu beanstanden, wenn die Bundesregierung den politischen Aspekten eine dergestalt große Bedeutung beimesse, dass sie in eine detaillierte Prüfung über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Tribunals nicht eintrete. Insbesondere sei auch das überwiegende Interesse der Allgemeinheit zu berücksichtigen, das einem spektakulären Einschreiten zu Gunsten des Beschwerdeführers entgegenstehen könne.216 In der Literatur herrscht keine einhellige Meinung bezüglich dieser Thematik. Die Literatur begründet die Schutzpflicht des Staates zu Gunsten des Einzelnen vor Maßnahmen fremder Staaten unter Betonung des weiten staatlichen Ermessensspielraums teilweise aus der Staatsangehörigkeit als solcher heraus,217 in Teilen sehen sie die Schutzpflicht in den Grundrechten zusätzlich verankert.218 Nach letztgenannter Auffassung bilden die Grundrechte eher eine Richtlinie für das staatliche Ermessen, wobei die Überprüfung des staatlichen Handelns dann darauf eingeschränkt wäre, den im potenziellen Fall vorliegenden Ermessensfehler aufzuzeigen.219 Allerdings müssen die angestrebten diplomatischen Schutzmaßnahmen mit dem Völkerrecht übereinkommen. 214
BVerfGE 55, 349 ff. – Hess. BVerfGE 55, 349 ff. – Hess. 216 BVerfGE 55, 349 ff. – Hess. 217 Treviranus, DÖV 1979, S. 36 ff.; Isensee, in: HdbStR V, S. 211; ders., Grundrecht auf Sicherheit – zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaats, S. 30. 218 Bleckmann, Staatsrecht II, § 11 Rn. 213; Klein, E. DÖV 1977, S. 704 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 122. 219 Klein, E., DÖV 1977, S. 707 f.; Klein, E. DÖV 1979, 39 f.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 261 f. 215
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bb) Auslieferungen Nach Art. 16a GG wird ausländischen Staatsangehörigen, die aus politischen Gründen der Verfolgung ausgesetzt sind, ein Recht auf Asyl gewährt. Die Ausländer, die für den Fall ihrer Auslieferung von der Todesstrafe bedroht sind, aber die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts nicht erfüllen, werden hingegen im Grundgesetz nicht ausdrücklich angesprochen.220 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer frühen Entscheidung ausgeführt, dass Art. 102 GG die Auslieferung wegen einer Straftat, die im ersuchenden Staat mit der Todesstrafe bedroht ist,221 nicht schlechthin verbiete. In späteren Entscheidungen hat das Gericht seine Position dahingehend revidiert, dass es die Auslieferung zumindest einer Prüfung auf Vereinbarkeit mit dem völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den „unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen“222 der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung unterzieht.223 Die Begründungen werden von dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und den Anforderungen nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG flankiert, wonach „eine Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein dürfe“.224 Weiterhin wird darauf verwiesen, dass das Grundgesetz von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft ausgehe (Präambel, Art. 24 bis 26 GG). und dass damit die grundsätzliche Achtung vor der fremden Rechtsordnung und den ihr zugrunde liegenden Rechtsanschauungen geboten sei.225 Im Schrifttum gehen die Meinungen hinsichtlich der von deutschen Behörden vorgenommenen Auslieferungsakte bislang noch auseinander. Einige Stimmen begründen die Verfassungswidrigkeit einer Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung eines aus politischen Gründen verfolgten Ausländers mit dem aktiven Eingriff des Auslieferungsstaates in die Abwehrrechte und verweisen insbesondere auf die Rechte nach Art. 102 GG, Art. 16a GG, Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG unter dem Aspekt des Abwehrrechts.226 Das Bestehen einer grundrechtlichen Schutzpflicht wird in diesem Fall nur vereinzelt befürwortet. Die Behörden und die Gerichte seien gehalten, eine Ab220
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 83. BVerfGE 18, 112 (116 ff.– Auslieferung I. 222 BVerfGE 59, 280 (283) – Auslieferung bei politischer Straftat; 63, 332 (337) – Auslieferung; 75, 1 (17) – Völkerrecht; BVerfG in: NJW 1991, 1411. 223 BVerfGE 59, 280 (283) – Auslieferung bei politischer Straftat; 63, 332 (337) – Auslieferung; 75, 1, (16 ff.) – Völkerrecht; BVerfG in: NJW 1991, 1411. 224 BVerfGE 75, 1 (16 f.) – Völkerrecht. 225 BVerfGE 75, 1 (17) – Völkerrecht. 226 Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 102 Rn. 13 f.; Hermes, Schutz von Leben und Gesundheit, S. 84. 221
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wägung unter den betroffenen Grundrechten und Rechtsgütern vorzunehmen, in der die von einem auswärtigen Staat drohenden Gefahren hinsichtlich möglicherweise bestehender staatlicher Schutzpflichten berücksichtigt werden müssen.227 Falls jedoch bei einer Beurteilung anhand der Grundrechte alle Grundrechtsbestimmungen zu berücksichtigen wären, so sei bei Auslieferung der gesamte jeweilige Grundrechtsstandard des Empfängerstaates zu beachten,228 was in der rechtlichen Praxis faktisch nicht durchführbar sei. Demgemäß sei mit dem Bundesverfassungsgericht nur auf die „unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze“ abzustellen.229 Hierbei ist der Staat hinsichtlich der Beeinträchtigung durch den fremden Staat eigentlich weniger unter dem Aspekt der abwehrrechtlichen Funktion, sondern vielmehr unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Schutzpflicht dazu angehalten, die Völkerrechtsordnung und die jeweils fremden Rechtsordnungen zu beachten und gleichzeitig die Kernaussagen der deutschen Grundrechte zu gewähren. c) Natürliche Gefahrenquellen und Naturkatastrophen Das BVerfG hat bislang zu der Thematik des Schutzanspruchs bei Naturkatastrophen noch keine Stellung bezogen. Das ergibt sich möglicherweise aus dem Umstand, dass die staatlichen Organe jeweils nur in Abhängigkeit von ihrem Kenntnisstand und ihrer Kapazität allein warnend und helfend bezüglich der Naturkatastrophen eingebunden werden können. Der Meinungsstand in der Literatur ist auch zu dieser Problematik uneinheitlich. Umstritten ist, ob eine staatliche Schutzpflicht nur bei „reinen Naturkatastrophen“ oder auch bei vom Menschen verursachten Naturkatastrophen besteht. Die Schutzpflicht beschränke sich nach dieser Ansicht auf die vom Menschen hervorgerufenen (Natur-)katastrophen und erstrecke sich demnach nicht auf die Katastrophen rein natürlichen Ursprungs.230 Dieser Sichtweise wird entgegen gehalten, dass sie mit dem Ziel einer durchgehend wirksamen Schutzfunktion nicht vereinbar sei und infolge dieses Verständnisses die Schutzpflicht auf alle Gefahrenquellen ausgedehnt werden müsse, so dass ebenso die eigentlichen Naturkatastrophen rein natürlichen Ursprungs erfasst würden.231 Denn reine Naturereignisse wie Überschwemmungen, Unwetter oder Erdrutsche, aber auch Epidemien und Krankheits227 So z. B. in BVerfG, 2 BvR 1363/00 v. 22.8.2000, Abs. 3; BVerfG, 2 BvR 1459/99 v. 7.3.2001, Abs. 10; BVerfG, 2 BvR 1410/00 v. 13.6.2001. 228 Isensee, in: HdbStR V, S. 406. 229 Isensee, in: HdbStR V, S. 406. 230 Isensee, in: HdbStR V, S. 202; Herms, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 228. 231 Krieger, in: EMRK/GG, S. 297.
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erreger könnten die grundrechtlichen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit im gleichen Maße gefährden wie das sozialschädliche Verhalten des Menschen.232 Im Ergebnis spricht die umfassende staatliche Verpflichtung gegenüber dem Leben und der Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) dafür, „reine Naturkatastrophen“ nicht dem Bereiche staatlicher Schutzpflichten zu entziehen. Im Übrigen dürfte eine Abgrenzung von rein natürlichen zu „vom Menschen verursachten“ Naturkatastrophen im Einzelfall schwierig sein. Als Beispiel kann die Überschwemmung aufgrund eines übergetretenen Flusses genannt werden. Wer kann in diesem Falle schon die Frage beantworten, ob die Ursache allein auf übermäßigem Niederschlag beruht oder ob und in welchem Umfang auch die Begradigung des Flussbettes durch den Menschen verantwortlich ist. Um solche Abgrenzungsprobleme erst gar nicht aufkommen zu lassen, sollten generell auch reine Naturkatastrophen die staatlichen Schutzpflichten auslösen können. Um eine ausufernde staatlichen Schutzpflicht zu vermeiden, kann die staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der Kausalität und Zurechenbarkeit des Verletzungserfolges beschränkt sein.233 2. EMRK-Ebene a) Beeinträchtigungen durch Privatpersonen Sofern der Auslöser einer Beeinträchtigung der grundrechtlichen Schutzpflicht eine Privatperson ist, entstehen sowohl im Rahmen der EMRK wie auch beim deutschen Grundgesetz Probleme bei der Abgrenzung zwischen Handlungen von Privaten und staatlichen Maßnahmen. Denn die Straßburger Gerichtsorgane haben bei der Rechtsprechung hinsichtlich der Abgrenzung eines staatlichen Eingriffs von privatem Handeln sehr unterschiedlich entschieden.234 In einigen Fällen wurde diese Frage offen gelassen,235 demgegenüber wurde jedoch in einigen anderen Fällen einzelfallbezogen argumentiert.236 Allgemeingültige Abgrenzungskriterien sind bislang noch nicht zu erkennen. Dieser Umstand gründet einerseits in den vielfältigen Formen eines staatlichen Verhaltens, die nicht allein die direkten staatlichen Eingriffe umfasst, sondern vielmehr auch staatliche Warnungen, Empfehlun232
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 80. Krieger, in: EMRK/GG, S. 297. 234 So in EKMR DR 77-A, 116; EGMR A 290, 19, § 49 – Keegan; Rep. 2002-I, 141, § 58 – Mikulic; EGMR Rep. 2004-V, 509, § 143 ff. – Broniowski. 235 EGMR A 172, § 41 – Powell u. Rayner(= ÖJZ 1990, 418); A 303-C, § 51 – Lopez Ostra (= EuGRZ 1995, 530). 236 EGMR A 303-C, §§ 51 ff. – Lopez Ostra (= EuGRZ 1995, 530); Rep. 1998-I, 210, § 58 – Guerra (= EuGRZ 1999, 188 ff.). 233
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gen, Genehmigungen sowie die Duldung privater Vorhaben ansprechen. Indem sich andererseits die Europäische Menschenrechtskonvention als Völkervertrag an alle Mitgliedstaaten wendet, lassen sich die bereits im Rahmen des jeweiligen nationalen Rechts getroffenen Einteilungen zwischen privaten Handlungen und staatlichen Handlungen nicht unmittelbar auf die Konvention übertragen. Ist der Staat an der Grundrechtsbeeinträchtigung aktiv beteiligt, so ist zudem bei der Abgrenzung auf die Unterscheidung zwischen staatlichem Tun und staatlichem Unterlassen zurückzugreifen.237 Im Grundsatz ist demnach auf das Kriterium der Unmittelbarkeit abzustellen. Wird das Rechtsgut vom Privaten selbst unmittelbar beeinträchtigt, so ergibt sich daraus die staatliche Schutzpflicht. Denn die dabei entstehende staatliche Schutzpflicht zielt auf Ausgestaltung oder Durchsetzung der staatlichen Vorschriften, die die Tätigkeiten der Privaten regeln.238 Ist das Rechtsgut durch den Staat selbst unmittelbar beeinträchtigt, so ist die abwehrrechtliche Funktion einschlägig.239 Hiermit ergeben sich bei der Fallunterscheidung zwei Gruppen von besonderer Relevanz. Obwohl zum einen die gefahrgeneigten Maßnahmen von Privatpersonen vorbereitet und durchgeführt werden, unterstehen diese Maßnahmen nach nationalem Recht der Aufsicht des jeweiligen Staates oder sie sind ausdrücklich von den staatlichen Behörden genehmigt worden. Zum anderen schafft der Staat Einrichtungen, die von Privaten genutzt werden können, dass sich aus der Benutzung in der Folge eine Beeinträchtigung der Konventionsrechte Dritter ergibt. Als Beispiel sei der Bau von Straßen oder Flughäfen genannt, von deren Betrieb beträchtliche Lärmemissionen ausgehen.240 In den Entscheidungen der Konventionsorgane zeichnet sich eine Tendenz ab, die dem Lösungsansatz des Grundgesetzes bezüglich der parallelen Problematik der Abgrenzung zwischen privatem Handeln und staatlichen Handeln entspricht. Diejenigen drittbeeinträchtigenden Handlungen im privaten Verhalten, die ohne das Zutun des Staates nicht möglich wären, sollen den staatlichen Maßnahmen zugerechnet werden. Dazu zählen beispielsweise die Schutzgüter einzelner Justizgrundrechte, bei denen die Verfahrensrechte nach Art. 6 EMRK und Art. 2 des 7. ZP zur EMRK, das Verbot rückwirkender Strafgesetze und der Doppelbestrafung nach Art. 7 EMRK und Art. 4 des 7. ZP zur EMRK zu nennen sind. Auch die Rechtsgarantien bei staatlicher Freiheitsentziehung können nach Art. 5 EMRK nur durch den Staat selbst gewährleistet werden.241 Das gilt gleichermaßen bei der 237
Krieger, in: EMRK/GG, S. 294. EGMR Nr. 4143/02, §§ 57 ff. – Moreno Gomez. 239 Klein, H. H., DVB1 1994, S. 496 f. 240 Zum Ganzen Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 144; Krieger, in: EMRK/GG, S. 295. 238
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Gewährleistung von Einrichtungsgarantien (Art. 3 des 1 ZP zur EMRK).242 In diesen Fällen ist der Staat als eigentlicher Verursacher angesprochen, so dass die Konventionsrechte diesem gegenüber nur in ihrer abwehrrechtlichen Funktion geltend gemacht werden können.243 Ansonsten können alle anderen Schutzgüter der EMRK durch Privatpersonen verletzt werden, während das Verhalten dieser Privaten lediglich der staatlichen Aufsicht und Kontrolle unterstellt bleibt. Diesbezüglich ist dann die Berufung auf die staatliche Schutzpflicht möglich. b) Gefahrenquellen ausländischen Ursprungs Ob ausländische Gefahrenursachen die staatlichen Schutzpflichten auszulösen vermögen, ist umstritten. Die Rechtsprechung der Straßburger Organe und ein überwiegender Teil des Schrifttums bejaht diese Frage unter Verweis auf das Erfordernis eines effektiven und umfassenden Schutzes. Denn die Gefahren für die konventionsrechtlich geschützten Güter entspringen nicht allein aus dem jeweiligen Inland, sondern können sich ebenso aus dem Einwirken des Auslands ergeben. Hinzu kommen die Besonderheiten, die sich aus der Eigenschaft der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag ergeben. Indem die EMRK nicht an Nichtmitgliedsstaaten, sondern allein an die Vertragsstaaten gerichtet ist, sind die Nichtmitgliedsstaaten nicht gehalten, den Konventionsstandard zu beachten.244 Daher stellt sich die Frage, ob die Verpflichtung der Staaten nach Art. 1 EMRK nur an die jeweilige Hoheitsgewalt anknüpft und ob die staatlichen Handlungsmöglichkeiten durch die Souveränität anderer Nichtmitgliedsstaaten einer Begrenzung ausgesetzt sind.245 Als Antwort auf diese Frage hatte die Europäische Kommission für Menschenrechte den Mitgliedstaaten zunächst einen weiten politischen Ermessensspielraum eingeräumt. Die Mitgliedstaaten müssten selbst einen Ausgleich zwischen den eigenen Interessen, den allgemeinen Interessen der Vertragsparteien oder den Nichtmitgliedsstaaten dahingehend vornehmen, dass die Verhandlungsergebnisse für alle Vertragsparteien annehmbar sind und eine normale und freundschaftliche Beziehung zu den Nachbarstaaten aufgebaut werden kann.246 Im Folgenden sollen zwei spezielle Problem241
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 228. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 228. 243 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 154. 244 Siehe EGMR, in: NJW 1992, 3222-zum deutsch-polnischen Grenzvertrag. 245 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 157. 246 EKMR, Nr. 24928/94 – Luck vs. Deutschalnd; Nr. 22353/93 – Jüngling u. a. vs. Deutschland; Nr. 21591/93 – Thun-Haye; Nr. 27718/95-Nadler und Reckziegel vs. Deutschland; Nr. 25045/94, Doberstein vs. Deutschland. 242
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kreise zu dieser Thematik angesprochen werden: Aufenthaltsbeendende Maßnahmen und diplomatischer Schutz. aa) Aufenthaltsbeendende Maßnahmen Die EMRK beinhalt kein ausdrückliches Asylrecht. Dementsprechend wird von einigen Autoren in der Literatur die Meinung vertreten, dass die Konvention auf die im Ausland eintretenden Folgen aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht anwendbar sei.247 Die Kommission und der EGMR in seiner ständigen Rechtsprechung haben sich hingegen einvernehmlich auf eine einheitliche Formel verständigt. Demnach stellt die Auslieferung, die Abschiebung oder die Ausweisung in einen anderen Staat dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der betroffene Bürger im Empfängerstaat dem tatsächlichen Risiko von Folter, von unmenschlicher oder degradierender Behandlung oder von Bestrafung ausgesetzt ist.248 Die Konventionsorgane haben jedoch offen gelassen, ob es sich in solchen Fällen um einen staatlichen Eingriff oder eine Verletzung der Schutzpflichten handele. Das Urteil Gruz Varas legt eine abwehrrechtliche Lösung nahe. Der ausweisende Staat hat dadurch, dass er den Beschwerdeführer der Gefahr der Folter ausgesetzt hat, Art. 3 EMRK verletzt.249 Im Grundsatz prüfen die Konventionsorgane differenziert in Anlehnung an den Einzelfall die spezifisch vorliegenden Gegebenheiten und das tatsächliche Begehren. In der Tendenz beginnt sich doch eine Entwicklung abzuzeichnen, nach der eine zu erwartende Beeinträchtigung durch den Empfängerstaat zum Auslöser für die grundrechtliche Schutzpflicht des ausliefernden Staates wird.250 bb) Diplomatischer Schutz Die Frage, ob den Bürgern der Mitgliedsstaaten im Ausland aus den Konventionsrechten Ansprüche auf diplomatischen Schutz erwachsen, hat die Kommission deutlich verneint.251 Das Recht zur Ausübung des diplo247
Maaßen, Rechtsstellung des Asylbewerbers, S. 117 ff.; Buß, DÖV 1998, 324 ff. 248 EGMR A 161, §§ 80 ff. – Soering vs. The UK; EGMR A 201, §§ 68 ff. – Cruz Varas and other vs. Sweden; EGMR A 215, §§ 101 ff. – Vilvarajah and others vs. The UK; EGMR Reports nº 22, 1996-V, §§ 72 ff. – Chahal vs. The UK,; EGMR H.L.R. vs. France, Reports nº 36, 1997-III, §§ 30 ff.; EGMR Reports nº 37, 1997-III, §§ 39 ff. – D. vs. The UK. 249 Hailbronner, DÖV 1999, S. 620 f.; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 159 f.; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, 126 f. 250 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 228.
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matischen Schutzes gehört nach völkerrechtlichen Prinzipien zum Recht der Nationalstaaten, demzufolge ist es dem Einzelnen nicht möglich, einen Anspruch gegenüber seinem Heimatstaat oder dem schädigenden Staat geltend zu machen.252 Nunmehr hat der EGMR im Fall Ilascu eine staatliche Schutzpflicht zur Gewährleistung der Konventionsrechte seiner Bürger bejaht und festgestellt, dass unter gewissen Voraussetzungen diplomatische Maßnahmen gegen ausländische Staaten zu ergreifen sind.253 Der EGMR gesteht den Staaten einen Ermessensspielraum zu, wobei bei der Ermessensausübung der Mindeststandard an Konventionsrechtsschutz gewahrt bleiben muss.254 Allerdings ist es den Mitgliedstaaten in der Regel untersagt, effektive Hoheitsgewalt bei der Konventionsverletzung außerhalb ihres Staatsgebietes auszuüben.255 Über die grundrechtlichen Schutzpflichten vermag der EGMR die Verantwortlichkeit des Staates gegenüber seinen sich im Ausland befindlichen Staatsangehörigen dennoch zu begründen.256 Die Herleitung aus den Schutzpflichten erlaubt aber eine Verallgemeinerung dieser Feststellung des EGMR. c) Natürliche Gefahrenquellen Im Rahmen der EMRK kommt wie auch im Rahmen des Grundgesetzes die Frage auf, ob sich in Folge der Einwirkung von Naturereignissen staatliche Schutzpflichten ergeben. Die Rechtsprechung hat bereits in einigen Fällen zu der Problematik Stellung bezogen. Beispielsweise hat die Kommission im Fall Association X v. Vereinigtes Königreich257 die staatliche Schutzpflicht zur Vermeidung der in freiwilligen Impfprogrammen auf natürlichem Wege aufgetretenen Impfschäden bestätigt. In sehr weitreichenden Entscheidungen betreffend der Ausweisung eines Aidskranken in einen anderen Staat, in dem seine medizinische Versorgung nicht als gesichert galt, sind sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof davon ausgegangen, dass die Ausweisungsgefahr eines Aidskranken im Zielstaat nicht notwendig auch von den dortigen Behörden ausgehen müsse, sondern dass im Ausnahmefall auch ein Mangel an medizinischer Versorgung, Sozial- oder Um251
EKMR Nr. 38985/97 – Jasinskij; Nr. 25045/94 – Dobberstein; Nr. 12920/87 – de Lukats; DR 54, 201 – Kapas; DR 14, 117 (123 f.) – Bertrand Russell Peace Foundation Limited. 252 Epping/Gloria, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, S. 341. 253 EGMR Rep. 2004 – VIII, 1, § 22 ff. – Ilascu. 254 EGMR Rep. 2004 – VIII, 1, § 25 – Ilascu. 255 Krieger, in: EMRK/GG, S. 297. 256 Krieger, in: EMRK/GG, S. 297. 257 EKMR, DR 14, 31 – Association X vs. Vereinigtes Königreich.
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weltbedingungen Relevanz beanspruchen können.258 Ebenso hat der EGMR in einem Fall, in dem durch gefahrgeneigte staatliche Aktivitäten Umweltkatastrophen ausgelöst wurden, auf die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates verwiesen.259 Das Schrifttum neigt ebenfalls zur Einbeziehung der natürlichen Gefahrenursachen in die staatliche Schutzpflicht. Der Grund liegt darin, dass sich die Naturkatastrophen häufig nur ungenügend von den durch das menschliche Verhalten ausgelösten Gefahren scheiden ließen.260 Beispielsweise kann ein unbedachtes Abholzen von Wäldern eine Steigerung der Lawinengefahr nach sich ziehen. Als ein weiterer Grund fungiert die Zweckgerichtetheit der Konvention, den Schutzgütern einen fördernden und wirksamen Schutz angedeihen zu lassen. Demnach sind zumindest Warnung und Vorbeugung vor Naturereignissen als Inhalte einer staatlichen Schutzpflicht anzuerkennen.261 III. Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle 1. GG-Ebene a) Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle aa) Gefahrenbegriff Insofern das Verhältnis zwischen Störer und Opfer bei der Entstehung der staatlichen Schutzpflicht angesprochen wird, so geschieht das umfassend im Begriff „Gefahr“ oder „Beeinträchtigung“. Im Rahmen des GG versteht man dabei einen Eingriff oder eine drohende Gefahr durch Private in das grundrechtliche Schutzgut, der gegen den Willen des Grundrechtsträgers erfolgt. Es ergibt sich jedoch die Frage, ab welcher Gefährdungsstufe eine „Beeinträchtigung“ als so erheblich anzusehen ist, dass die Auslösung der staatlichen Schutzpflicht damit geboten erscheint? Eine „totale“ staatliche Schutzpflicht kann offensichtlich nicht gemeint sein. Denn die Sicherheit stellt die Kehrseite der Freiheit dar und totaler Schutz würde demnach notwendigerweise die Freiheit vollkommen beschränken. Von daher ist der Umfang der staatlichen Schutzpflicht auf die Gewährleistung eines „Minimalstandards“ an Sicherheit für die Existenz zu begrenzen. Das BVerfG hat zu den Fragen, die den Gefahrenbegriff betref258 EGMR Reports 1997-III, Nr. 37, § 49 – D. vs. Vereinigtes Königreich; EKMR, § 54 Nr. 30930/96 – Bamba vs. Frankreich. 259 Vgl. EGMR Nr. 48939/99, § 71/89 ff./102 f. – Öneryildiz; s. a. Rep. 1998-III, § 36 – L.C.B. v Vereinigtes Königreich. 260 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 155. 261 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 156.
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fen, nur vereinzelt Stellung bezogen. Im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch heißt es dazu, dass eine Schutzpflicht dem Staat gebiete, das grundrechtliche Schutzgut „vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“262 Zweideutig ist bereits der oben benutzte Terminus eines Eingriffes. Der Begriff „Eingriff“ lässt sich in diesem Kontext ebenso definieren wie der weite Begriff im Kontext des Abwehrrechts, nämlich als die gegen den Willen des Grundrechtsträgers vom Staat vorgenommene, nicht unerhebliche Einwirkung auf das grundrechtliche Schutzgut.263 Diese Definition setzt eine wesentliche Unterscheidung zwischen dem Eingriff seitens des Staates und dem durch Private voraus, wobei eine unmissverständliche Abgrenzung in der Praxis kaum möglich ist. Dies erschwert die Handhabung des Gefahrenbegriffs. Genauer betrachtet geht es hier um die Erweiterung des klassischen Eingriffsbegriffes in Richtung auf ein modernes Grundrechtsverständnis.264 Dieser Erweiterung liegt die Entwicklung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat zugrunde. Im Verlaufe dieser Entwicklung haben die abwehrrechtlichen Gewährleistungsgehalte der Grundrechte eine Erweiterung erfahren, und sind um den objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt ergänzt worden.265 Der moderne Eingriffsbegriff, den das BVerfG gelegentlich im Begriff „Beeinträchtigung“ aufgreift, bedeutet jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein in den Schutzbereich eines Grundrechts fallendes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich macht. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt.266 Der Eingriff in ein Grundrecht kann zulässig oder unzulässig sein. Demnach ist die Verletzung eines Grundrechts der unzulässige Eingriff in das Grundrecht.267 Infolgedessen ist die staatliche Schutzpflicht dort gefragt, wo ein grundrechtliches Schutzgut durch Private verletzt wird oder sich die Gefahr des Eintretens einer solchen Verletzung abzeichnet.268 Hier schließt sich die Frage an, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich ist, damit die staatlichen Schutzpflichten ausgelöst werden?269 Einige Stimmen in der Literatur schlagen vor, den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff als Ausgangspunkt zu wählen, der die rechtlich relevante Gefahr im Verhältnis von Schadenswahrscheinlichkeit, Schadensausmaß und Bedeutung des betroffenen Rechtsguts bestimmt.270 Unter einer Gefahr im 262 263 264 265 266 267 268 269
BVerfGE 39, 1 (42) – Schwangerschaftsabbruch I. Isensee, in: HdbStR V, S. 194. Isensee, in: HdbStR V, S. 175. Isensee, in: HdbStR V, S. 174. Vgl. Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 205 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 53. Isensee, in: HdbStR V, S. 194. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 86.
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Sinne des Polizeirechts wird eine Sachlage verstanden, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei ungehindertem Geschehensablauf zum Eintritt eines Schadens führt.271 Andere Stimmen in der Literatur lehnen die Anwendung polizeirechtlicher Maßstäbe ab.272 Dennoch sind die inhaltlichen Unterschiede in den beiden vertretenen Positionen nicht so unüberbrückbar groß, weil den Befürwortern des polizeirechtlichen Ansatzes dieser nur als Anknüpfungspunkt dient, sie die Thematik jedoch verfassungsrechtlich abwandeln und sich darüber hinaus mit den Fragen des Risikos auseinandersetzen.273 Letzten Endes kommen Rechtsprechung und Literatur weitgehend darin überein, dass bei Vorliegen einer Gefahr im Sinne des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs und somit eines mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Schadenseintritts die Geltungsanforderungen an die grundrechtlichen Schutzpflichten zweifellos erreicht sind.274 bb) Gefahrenschwelle In den Zusammenhang mit dem Gefahrenbegriff gehört zugleich die Frage nach der Gefahrenschwelle, die als eine vom Gefahrenbegriff negativ reflektierte Seite erörtert wird. Mit der Gefahrenschwelle erfolgt die Untersuchung nach der graduellen Beeinträchtigung der Schutzgüter, wie sich diese beispielsweise bei der Gesundheit, der Ehre, der Persönlichkeit und der Glaubensfreiheit ergeben kann, aber sich nicht auf das Schutzgut Leben selbst beziehen lässt.275 In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, ob es einer bestimmten Intensität der Lärm- oder Strahlenemissionen bedarf, damit diese eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit sachlich begründen können.276 Die Antworten hierzu leiten zu den Gefahrenschwellen über, die abhängig von den der Gefahrenabwehr gewidmeten einzelnen Gesetzen häufig zu vielschichtigen Ansätzen führen. Hier gilt es nach dem Sicherheitsempfinden des gefährdeten Grundrechtsgutes zu unterscheiden, nach der Art des möglichen Schadens sowie nach den Funktionsbedingungen des handelnden Staatsorgans und nach dem gewählten Mittel.277 270 Stern, Das Staatsrecht III/1, S. 740; Hermes, Schutz von Leben und Gesundheit, S. 236; Breuer, DVB1 1978, S. 833. 271 Isensee, in: HdbStR V, S. 199. 272 Isensee, in: HdbStR V, S. 199; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 107 ff; Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 77 f. 273 Siehe Abwandlung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs, Hermes, Schutz von Leben und Gesundheit, S. 236 ff. 274 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 86. 275 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 112. 276 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 112. 277 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 112.
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b) Gefährdungslagen unterhalb der Gefahrenschwelle aa) Risiko Mit dem Begriff „Risiko“ sind die unterhalb der Gefahrenschwelle liegenden Möglichkeiten eines Schadenseintritts angesprochen, die dann die grundrechtliche Schutzpflicht auslösen können.278 Ein Risiko muss objektiv bestehen, subjektive Ängste sind ohne Belang.279 Mit dem Begriff des Risikos wird der Ungewissheit über den Ablauf eines Geschehens Ausdruck verliehen, ungeachtet der Tatsache, ob sich diese Ungewissheit an mangelnde Erkennbarkeit oder an nicht wahrgenommene Erkenntnismöglichkeit knüpft.280 Der Unterschied zwischen dem Risiko und der Gefahr besteht darin, dass die Gefahr eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ für den abzuwendenden Erfolg unterstellt, wohingegen das Risiko die fernen oder unbekannten, bloß denkbaren Möglichkeiten des Schadens erfasst.281 Jede nach dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht drohende Gefahr ist zugleich ein Risiko, dennoch bedeutet nicht jedes Risiko auch schon eine Gefahr. Oder anders ausgedrückt: Der Begriff des Risikos bezeichnet jede Möglichkeit eines Schadenseintritts, mag sie noch so gering sein. Dagegen spricht man von Gefahr erst dann, wenn eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit für einen Schadenseintritt besteht.282 Im Schnittpunkt zwischen Risiko und Gefahr liegt die so bezeichnete Gefahrenschwelle. Bei Vorliegen eines Risikos ist der Staat auf der Grundlage einer Risikovorsorge gleichermaßen verpflichtet, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen unterhalb der Gefahrenschwelle vorzunehmen. Denn bei Bestehen eines Risikos können sich aus dem Zustand oder einem Verhalten, das ein Geschehen dem ungehinderten Verlauf überlässt, möglicherweise unerwünschte Folgen ergeben.283 Dass sich die unerwünschten Folgen oder Schäden einstellen, ist zwar beim Vorliegen eines Risikos nicht ausgeschlossen, jedoch liegt die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen solcher Ereignisse unterhalb der Gefahrenschwelle.284 Nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht liegen Risiken zwar unterhalb der Gefahrenschwelle, ausnahmsweise aber kann das Bestehen eines Risikos ebenfalls eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des mög278 279 280 281 282 283 284
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 86. Isensee, in: HdbStR V, S. 199. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 82. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 114. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 114. Ipsen, in: AöR 1982, S. 261. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 81 f.
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licherweise gefährdeten Bürgers auslösen.285 Das Bundesverfassungsgericht hat beispielsweise im Urteil Kalkar I die Entstehung der staatlichen Schutzpflicht ebenfalls über die reine Störungs- und Gefahrenabwehr hinaus bis zu der bestmöglichen Risikovorsorge zum Schutz der Bürger erweitert.286 bb) Belästigung Einen weiteren Streitpunkt stellt die Behandlung von so genannten Belästigungen dar. Im Gegensatz zum Risiko liegen die Belästigungen unterhalb der Gefahrenschwelle. Abweichend vom Restrisiko knüpfen die Belästigungen nicht an einen entfernt liegenden Wahrscheinlichkeitsgrad an, sondern sie bezeichnen den geringeren Grad einer tatsächlich bestehenden Beeinträchtigung. Während der Eingriff an ein Mindestmaß an quantitativer und qualitativer Erheblichkeit der Einwirkung gebunden ist, muss die Belästigung einen solchen Mindeststandard nicht erreichen. Demnach ist im Begriff der Belästigung auf eine Art Niemandsland zwischen grundrechtlich illegitimem privatem Handeln, das die staatliche Schutzpflicht auslöst, und grundrechtstypischer Freiheitsbetätigung verwiesen.287 Da die Schutzpflicht erst bei der real nachgewiesenen Verletzung von Rechtsgütern greift, sind die sich daraus ergebenden Maßnahmen noch nicht bei jedweder Berührung gefragt. Unter dem Begriff der Belästigung werden demnach Einwirkungen verstanden, die im mitmenschlichen Verkehr unvermeidbar, nach den sozialen Gepflogenheiten üblich sind oder sich zumindest im Rahmen einer hinzunehmenden Zumutbarkeit bewegen.288 Der Staat ist nicht auf Grundlage verfassungsrechtlicher Vorgaben verpflichtet, den Belästigungen entgegenzutreten. Jedoch ist auch nicht im Vorhinein ausgeschlossen, dass er bestimmten Belästigungen dennoch Einhalt gebietet.289 Die Abgrenzung der Belästigung von der Rechtsverletzung ist auf der Grundlage vorwiegender gesellschaftlicher Anschauungen bezüglich der sozialen Zumutbarkeit nachzuvollziehen.290 Das Passivrauchen galt beispielsweise nach herkömmlicher Ansicht nur als Belästigung. Demgegenüber wird es heute als eine Verletzung der Gesundheit bewertet.291 285 Reichert/Ruder/Fröhler, Polizeirecht, S. 122 f.; BVerwG 45, 51 (57) – Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. 286 BVerfGE 49, S. 89 (142 f.) – Kalkar I. 287 Isensee, in: HdbStR V, S. 200. 288 Isensee, in: HdbStR V, S. 201. 289 Pietzcker, in: FS Günter Dürig, S. 357. 290 Isensee, in: HdbStR V, S. 201. 291 Suhr, JZ 1980, S. 166 ff.; Loschelder, ZBR 1977, S. 340 ff.
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Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen angedeutet, dass die „bloßen“ Belästigungen vom Kreis der für die Entstehung der staatlichen Schutzpflichten maßgebenden Beeinträchtigungsformen auszunehmen seien. In der Fluglärm-Entscheidung wurde vom Bundesverfassungsgericht intensiv die Frage erörtert, welche psychischen und physischen Folgen permanenter Lärmbeeinträchtigung sich mit dem Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit vereinbaren lassen. Das Gericht machte geltend, dass gewisse Lärmbeeinträchtigungen, die sich in Gestalt von leichteren Schlafstörungen zu erkennen geben, nach damaligem Erkenntnisstand möglicherweise noch keine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ausmachten.292 Das Gericht spricht sich mit dem Urteil Verkehrslärm293 deutlich dahingehend aus, im Rahmen der tatsächlichen Beeinträchtigungen zwischen Verletzungen und Belästigungen zu unterscheiden. Im konkreten Einzelfall seien die Zumutbarkeitsgrenzen abzustecken und die Einwirkungen unterhalb einer gewissen Intensitätsschwelle von der schutzpflichtbegründenden Vielfalt der Beeinträchtigungsformen auszunehmen.294 Das Gericht führt weiter aus, es ließen sich letztendlich gewisse Konfrontationen im Zusammenleben der Menschen nicht vermeiden.295 Darum dürften die Zielvorgaben der Schutzpflichten nicht dazu führen, dass alle freiheitlichen Errungenschaften aufgegeben werden und der Staat mit einer übermäßigen Staatskontrolle beauftragt wird.296 cc) Restrisiko Weiterhin sind die weitab unterhalb der Risikoschwelle liegenden Restrisiken vom Kreis der für die Pflichtentstehung relevanten Beeinträchtigungsformen auszuschließen.297 Dabei handelt es sich um jene Risiken, die mit dem Zivilisationsprozess unvermeidbar einhergehen und jenseits der Grenzen menschlicher Vorhersehbarkeit angesiedelt sind. Die Restrisiken bewegen sich innerhalb des sozialadäquat Zumutbaren und stellen daher eine Last dar, die von allen Bürgern gemeinsam zu tragen ist. Beispielweise ist das Restrisiko bei der zivilen Nutzung der Kernenergie vom Anwendungsbereich der staatlichen Schutzpflicht ausgeschlossen, denn 292
BVerfGE 56, 54 (77 f.) – Fluglärm. BVerfGE 79, 174 – Straßenverkehrslärm. 294 Isensee, in: HdbStR V, S. 200; Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 76; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 88. 295 BVerfGE 79, 174 – Straßenverkehrslärm. 296 Isensee, in: HdbStR V, S. 200. 297 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 115; auch BVerfGE 49, 89 (143) – Kalkar I. 293
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für eine absolute Sicherheit gibt es keine Gewähr.298 Da das Gemeinwesen gehalten ist, mit dem Restrisiko zu leben, ist die Forderung nach einem völligen Risikoausschluss unverhältnismäßig.299 Jedoch kann sich im Einzelfall eine präzise Grenzziehung zwischen einer rechtlich relevanten Gefahr und dem irrelevanten Restrisiko als äußerst schwierig erweisen. Als Beispiel hierfür kann die staatliche Vorsorge gegenüber den Folgen möglicher Erdbeben dienen. Auch wenn der Staat alle möglichen Vorkehrungen zur Vermeidung schwerwiegender Schäden getroffen hat, beispielsweise durch eine umsichtige Städteplanung oder durch den Erlass entsprechender Bauauflagen, müsste dem Staat im Falle des Erdbebens trotzdem die Sorge dafür auferlegt werden, die Schäden zu begrenzen und zu beheben. Somit hebt das Restrisiko als solches die Verantwortung des Staates nicht automatisch auf. c) Schlussfolgerung Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates dann ausgelöst werden kann, wenn Anhaltspunkte für das Bestehen eines Risikos oder einer Gefahr für das grundrechtlich geschützte Gut gegeben sind.300 Die möglichen Einwirkungen unterhalb der Gefahrschwelle, zu denen die bloßen Belästigungen und Restrisiken gehören, vermögen es demgegenüber nicht, die staatlichen grundrechtlichen Schutzpflichten auszulösen. 2. EMRK-Ebene a) Begriffe: Beeinträchtigung und Schwelle der Beeinträchtigung Im Rahmen der EMRK wird häufig der Begriff „Beeinträchtigung“ verwendet, um das Verhältnis zwischen dem „Störer“ und dem Opfer bei der Entstehung der staatlichen Schutzpflicht zu kennzeichnen. Die Fachwörter von der „Gefahr“, dem „Eingriff“ oder der „Gefährdung“ werden bisweilen ebenfalls synonym benutzt. Dennoch vermag nicht jede Beeinträchtigung eine staatliche Schutzpflicht auszulösen. Eine rechtlich relevante Beeinträchtigung muss dort einen Grad von Relevanz erreichen, wo sie erkennbar 298
BVerfGE 49,89 (143) – Kalkar I. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 87; Isensee, in: HdbStR V, S. 201. 300 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 107 f.; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 87; Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 116. 299
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eine näher zu definierende untere Schwelle überschreitet. In Folge dessen ergibt sich die Frage, wo und wie hoch die europäischen Rechtsprechungsorgane die Schwelle für die Entstehung der staatlichen Schutzpflichten ansetzen. Dazu ist festzustellen, dass die Schwelle nicht nur durch die bereits bestehenden Schutzgutbeeinträchtigungen, sondern auch durch die bevorstehende Möglichkeit eines irreparablen Schadenseintritts überschritten wird.301 Demnach ist der Staat gehalten, auf die vorbeugende Vermeidung eines irreparablen Schadenseintritts für von der Konvention geschützte Rechtsgüter hinzuwirken. Demgemäß wird von den europäischen Rechtsprechungsorganen unter der „Beeinträchtigung“ die rechtlich relevante Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das konventionsrechtlich geschützte Rechtsgut verstanden.302 Offen bleibt, welchen Grad der Wahrscheinlichkeit der Schadenseintritt erreichen muss, um die Schutzpflichten auszulösen. Die Kommission und der Gerichtshof haben offensichtlich den tatsächlich vorliegenden Eingriff in ein Recht als auslösendes Moment für die Entstehung staatlicher Schutzpflichten angenommen.303 Das lässt sich unter Zugrundelegung einer Reihe von Entscheidungen belegen: Als Beispiel seien der Fall Campbell and Cosans vs. the UK,304 der Fall Costello-Roberts vs. the UK,305 der Fall Kaya vs. Turkey,306 der Fall Aksoy vs. Turkey,307 und die Verfahren X. und Y. gegen die Niederlande,308 sowie Young, James und Webster gegen das Vereinigte Königreich von Großbritannien angeführt.309 Einige Stimmen in der Literatur machen geltend, dass konkrete Indizien vorliegen müssten und dass die Berufung allein auf vage und abstrakte Gefahren ungenügend sei. Indes wenden sich andere Stimmen in der Literatur gegen die allzu strengen und hohen Anforderungen an den Beeinträchtigungs-, Gefahr- und Eingriffsbegriff.310 Demnach bestimmt sich der Grad an Wahrscheinlichkeit jedes Mal erst aus der Verbindung von im konkreten Fall zu erwartendem Schadensumfang, dem gefährdeten Rechtsgut und der Unumkehrbarkeit des drohenden Schadens. 301 Vgl. EGMR, Reports 1998-VIII, Nr. 95, § 115 – Osman vs. Vereinigtes Königreich. 302 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 165. 303 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 234. 304 EGMR A 48 – Campbell and Cosans vs. the UK. 305 EGMR A 247-C – Costello-Roberts vs. the UK. 306 EGMR Reports nº 65, 1998-I – Kaya vs. Turkey. 307 EGMR Reports nº, 1996-VI – Aksoy vs. Turkey. 308 EGMR A 91 – X. &. Y. vs. Netherlands. 309 EGMR A 44 – Young, James and Webster vs. The UK. 310 Zum Ganzen Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 165.
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b) Beeinträchtigungslage unterhalb der Beeinträchtigungsschwelle Ein geschütztes Recht oder Rechtsgut kann auf vielfältige Weise der Beeinträchtigung ausgesetzt sein. Aber nicht jede Beeinträchtigungslage reicht aus, eine staatliche Schutzpflicht auszulösen. Damit eine Beeinträchtigung eine staatliche Schutzpflicht auszulösen vermag, muss Erstere einen gewissen Grad erreicht haben, womit auf das Überschreiten einer unteren Beeinträchtigungsschwelle abgestellt wird. Wie bereits im Rahmen der Betrachtung des Grundgesetztes erwähnt, sind die Beeinträchtigungsformen oberhalb der Beeinträchtigungsschwelle in der Regel die „Gefahr“ oder der „Eingriff“, wobei auf Ebene der EMRK normalerweise nur der Begriff der „Beeinträchtigung“ verwendet wird. Im Folgenden soll dargelegt werden, ob auch Beeinträchtigungslagen unterhalb der Beeinträchtigungsschwelle die staatlichen Schutzpflichten auszulösen vermögen. aa) Risiko Entscheidendes Abgrenzungskriterium zwischen Risiko und Gefahr ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Verletzungserfolges. Für die „Gefahr“ bedarf es einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass der abzuwendende Erfolg eintritt; hingegen kann für ein „Risiko“ die damit zu verbindende Schädigungswahrscheinlichkeit überaus gering sein.311 Probleme bereitet hierbei die Frage, ab welchem Risikograd eine staatliche Schutzpflicht entsteht. Nach den früheren, nicht einheitlichen Entscheidungen der Konventionsorgane lassen die jüngst ergangenen Entscheidungen nunmehr eine einheitlichere Linie erkennen. Danach bestimmen die Konventionsorgane das Auslösungsmoment für die staatlichen Schutzpflichten innerhalb der EMRK sowohl nach dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Rechtsverletzung als auch nach dem realen Risiko für eine Rechtsverletzung.312 Laut dem EGMR wird die staatliche Schutzpflicht bei einem bestehenden Risiko nur dann verletzt, wenn der Staat wusste oder hätte wissen müssen, dass ein Risiko für ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut besteht.313 Die Auslösung der Schutzpflicht bedarf bei einem Risiko daher auch eines subjektiven Elements, damit der Verletzungserfolg vorbeugend verhindert werden kann. Obwohl der konkrete Eingriff durch eine Privatperson, durch einen Drittstaat oder aufgrund einer Situation die grundrechtliche Schutzpflicht und ein ihr entsprechendes aktives Handeln des Staates zu begründen ver311 312 313
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 235 ff. Isensee, in: HdbStR V, S. 199; Krieger, in: EMRK/GG, S. 299. EGMR Rep. 2001-III, 93, §§ 89, 92 – Keenan.
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mag, kann ebenso eine bloße Bedrohung des Rechts oder des geschützten Rechtsguts eine solche Schutzpflicht auslösen.314 Das ist jedoch an die Voraussetzung geknüpft, dass es sich um ein tatsächliches oder wirkliches Risiko handelt, das im Unterschied zu den anderen, milderen Risiken, zur höchstwahrscheinlichen Weiterentwicklung in Richtung auf eine Schadensverwirklichung tendiert. Das reale Risiko bildet gleichsam eine notwendige, aber nicht zwangsläufig auch die hinreichende Bedingung für die Auslösung staatlicher Schutzpflichten. Die hinreichende Bedingung bei einem realen Risiko setzt für die Auslösung einer staatlichen Schutzpflicht voraus, dass die diesbezüglichen Anhaltspunkte, Hinweise, Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnisse verifizierbar und objektiv nachweisbar sind, weil solche Kriterien des Risikos für eine qualifizierte Beurteilung unentbehrlich sind.315 bb) Belästigung Eine Belästigung liegt dann vor, wenn der Schutzbereich eines Rechtes nur in einem sehr geringen Ausmaß tangiert wird und die Schwelle zum Eingriff, der Rechte tatsächlich verletzt, nicht überschritten wird.316 Die Konventionsorgane geben in einigen ihrer Entscheidungen zu erkennen, dass die einfache Belästigung im Unterschied zum Eingriff zumeist keine staatliche Schutzpflicht zum Schutz des beeinträchtigten Bürgers auslöst.317 Erreicht die Belästigung eine dem Eingriff gleichkommende Qualität, so ist damit die Schwelle zum pflichtbegründenden Umstand überschritten.318 Zu einem allgemeinen Grundsatz, nach dem die Schäden aus den Belästigungen wegen Geringfügigkeit nicht zu berücksichtigen sind, hat sich das Gericht jedoch nicht durchgerungen. So hat der Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Urteilen zum Folterverbot nach Art. 3 EMRK das Vorliegen eines Mindestmaßes an Schwere als Voraussetzung für die Auslösung staatlicher Schutzpflichten anerkannt,319 dagegen hat er in anderen Entscheidungen320 bereits unerhebliche Beeinträchtigungen ausreichen lassen.
314
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 238. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 238. 316 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 234. 317 Vgl. z. B. EKMR DR 76-B, S. 80 ff. – Whiteside vs. The UK. 318 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 235. 319 EGMR A 201, § 83 – Cruz Varas vs. Schweden, (= EuGRZ 1991, 203); EGMR A 215, § 107 – Vilvarajah vs. Vereinigtes Königreich (= NVwZ 1992, 869). 320 Vgl. EGMR Report 1997 – VIII, Nr. 58 – K. F. vs. Deutschland. 315
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c) Beeinträchtigungs-Unmittelbarkeits-Zusammenhang Bei dem Beeinträchtigungs-Unmittelbarkeits-Zusammenhang geht es um einen direkten Zusammenhang zwischen dem staatlichen Unterlassen, die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen und dem Eintritt des Verletzungserfolgs durch private Handlungen.321 Der EGMR hat bei Nichtbestehen eines solchen unmittelbaren Zusammenhangs in verschiedenen Fällen eine staatliche Schutzpflicht abgelehnt. Im Fall X und Y v. Niederlande hat der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht anerkannt, weil nach seiner Auffassung kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der niederländischen Gesetzeslücke und dem Schutzbereich von Art. 3 EMRK bestand.322 Im Fall Tugar hielt die Kommission den Beklagtenstaat Italien für nicht verantwortlich. Sie lehnte die Auffassung des Beschwerdeführers, wonach Art. 2 EMRK aufgrund der fehlerhaften Gesetzgebung zum Waffenhandel verletzt ist, mit der Begründung ab, dass keine unmittelbare Verbindung zwischen der Gefährdung und der fehlerhaften Gesetzgebung bestehe.323 Im Fall Botta lehnte der EGMR die Verletzung von Art. 8 EMRK ab, weil zwischen dem staatlichen Unterlassen hinsichtlich der Bereitstellung behindertengerechter Badegelegenheiten am Urlaubsort und dem Privatleben des behinderten Beschwerdeführers keine enge, unmittelbare Verbindung bestehe.324 In der Tendenz zeigen die erwähnten Entscheidungen, dass die Rechtsprechungsorgane darum bemüht sind, die Auslösung der staatlichen Schutzpflicht in angemessenen Grenzen zu halten. Dennoch findet das Kriterium der Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung des Schutzgutes nicht durchgehend sauber differenzierte Anwendung. Daher ist für die Zukunft eine klarere diesbezügliche Dogmatik, wann die staatlichen Schutzpflichten ausgelöst werden, aus Gründen der Transparenz und Rechtssicherheit wünschenswert. d) Schlussfolgerung Die Kriterien, nach denen die staatlichen Schutzpflichten ausgelöst werden, haben sich zu einem überwiegenden Teil aus der die Schutzpflicht betreffenden Rechtsprechung entwickelt. Zusammenfassend darf festgestellt werden, dass eine staatliche Schutzpflicht dann ausgelöst wird, wenn eine Beeinträchtigung oberhalb der Gefahrenschwelle angesiedelt ist. Das Vorlie321 322 323 324
Krieger, in: EMRK/GG, S. 298. EGMR A 91, § 34 – X & Y vs. Niederlande. EKMR DR 83-A, 26 (29) – Tugar. EGMR Rep. 1998-I, § 35 – Botta; Nr. 36448/97 – Marzari.
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gen eines Risikos oder einer Belästigung unterhalb der Gefahrenschwelle reicht für die Auslösung der staatlichen Schutzpflicht nicht aus. Jedoch können sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und im Einzelfall unterschiedliche Lösungen bei der Gewährleistung staatlicher Schutzpflichten ergeben. IV. Adressaten der Schutzpflicht 1. Im GG Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Die Gültigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion, sondern sie gilt gleichermaßen für die aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflicht des Staates. Von daher sind alle Träger staatlicher Gewalt Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten. Folglich sind im Grundsatz die staatlichen Organe Legislative, Exekutive und Judikative gehalten, innerhalb ihrer Kompetenzbereiche die Schutzpflichten unter Aufwendung aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem in einer Abfolge von Entscheidungen325 hervorgehoben, dass mit dieser Verpflichtung der Gesetzgeber beauftragt ist, Schutzlücken eines geltenden Gesetzes zu schließen oder Nachbesserungen vorzunehmen, sofern dies grundrechtlich geboten ist. Gleichzeitig betreffe diese Verpflichtung auch den entsprechenden Vollzug der Exekutive. Der Judikative ist abschließend die Aufgabe zugewiesen, bei Anwendung und Auslegung von Vorschriften die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte hinreichend zu beachten. Die Verteilung der Pflichten innerhalb des Staates wird im Verlaufe der folgenden Untersuchung Gegenstand der Erörterung sein. a) Legislative In einer Vielzahl von Entscheidungen des BVerfG wird die Frage nach der grundrechtlichen Schutzpflicht vornehmlich an den Gesetzgeber gerichtet. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass die schützende Tätigkeit des Staates häufig in die Freiheitsrechte des privaten Störers eingreift und die Schutzpflichtregelung aufgrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesvor325 Vgl. z. B. BVerfGE 1, 97 ff. – Fürsorgenentscheidung; BVerfGE 39, 1 ff. – Fristenlösung; BVerfGE 40, 121 ff. – Waisenrente; BVerfGE 49, 89 ff. – Klakar I; BverGE 46, 160 ff. – Scheyer; BVerfGE 89, 276 ff. – § 611 a BGB.
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behaltes in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt.326 Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung aufgefordert, der Gefahr rechtswidriger Übergriffe nach Möglichkeit mindernd oder beseitigend vorzubeugen. In diesem Sinne soll der Gesetzgeber durch den Erlass von Gesetzen oder, sofern erforderlich, durch eine Nachbesserung bestehender Gesetzesregelungen, die Schutzvorschriften zur Prävention von Übergriffen erlassen. Der Gesetzgeber steht vor der Aufgabe, handeln zu müssen, sofern schützende Regelungen entweder nicht bestehen oder diese dem Anspruch an die Schutzpflicht nicht mehr genügen. Ebenso muss er die Schutzmaßnahmen dem Stand neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse anpassen. b) Exekutive Die Exekutive ist im gleichen Maße Adressat der Schutzpflichten. Während die gesetzliche Absicherung der Freiheit des Bürgers der Legislative überantwortet ist, erfolgt die fallbezogene Umsetzung des abstrakten gesetzlichen Schutzes im Aufgabenbereich der Exekutive. Denn die grundrechtliche Schutzpflicht erschöpft sich nicht in der Gewährung abstrakten gesetzlichen Schutzes, sondern verlangt auch die konkrete hoheitliche Durchsetzung der schützenden Norm. Allerdings besteht für die Exekutive in ihrer Stellung als Adressat eine Besonderheit: Ohne Vorliegen eines Gesetzes ist es der Exekutive nicht gegeben, allein unter Berufung auf eine bestehende staatliche Schutzpflicht zu handeln. Aufgrund des Gesetzesvorbehaltes sind die grundrechtlichen Schutzpflichten für die ausführende Gewalt vielmehr „gesetzesmediatisierte“ Schutzpflichten.327 Die Aufgabe der administrativen Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflicht zielt auf ihre Ausübung im Einzelfall ab. Dabei kann die Exekutive zur Normsetzung, zum Erlass von Verwaltungsakten, oder zu faktischem Handeln aufgefordert sein. Der Handlungsspielraum reicht von dem ein schlichtes Gesetz ausführenden Verwaltungshandeln über Planungsentscheidungen bis hin zu dem Erlass von normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften.328 Die grundrechtlichen Schutzpflichten gelten für die Administrative als „Leitlinien“ für die Interpretation der Normen sowie der Ermessensbetätigung. Die grundrechtlichen Schutzpflichten können unmittelbare Handlungsanweisungen ergeben, die der Exekutive die Betätigung im Bereich gesetzesfreier Räume ermöglicht.
326
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 89. Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 151. 328 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 71 f. 327
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c) Judikative Die Judikative ist ebenfalls Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten. In diesem Sinne sieht sich auch das BVerfG an die von den Grundrechten geforderten positiven Schutzpflichten gebunden. Im Prinzip obliegt es der Judikative, im Rahmen der richterlichen Betätigung die Vorgaben aus den gesetzlichen Schutzvorschriften anzuwenden und ihre Einhaltung durch den Staat sowie Private zu überprüfen.329 Bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessensnormen kommt der Rechtsprechung bei der Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflicht eine besondere Rolle zu.330 Je nach Dichte der gesetzlichen Normierung steht der Judikative ein beträchtlicher Spielraum bei der Interpretation der Rechtsbegriffe zu. Die sich aus den Grundrechten herleitenden Schutzpflichten sind für die Rechtsprechung vorwiegend keine Handlungsnormen, sondern vielmehr Kontrollnormen, anhand derer die Gerichte überprüfen, ob die anderen Staatsgewalten ihren durch das Gesetz mediatisierten Schutzpflichten nachgekommen sind.331 Jedoch können sich Handlungspflichten auf der Grundlage der Schutzpflicht in seltenen Fällen auch für die Judikative ergeben, beispielsweise wenn die Sicherheit in einem Gerichtssaal durch Anordnungen des Richters gewährleistet werden muss. d) Bewertung Die Schutzpflichten des Staates sind zwar grundrechtlich verankert. Die Adressaten der Schutzpflicht, Legislative, Exekutive und Judikative, können diese jedoch nur im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzzuweisungen verwirklichen. Nur auf der Grundlage hinreichend bestimmter, klarer gesetzlicher Regelungen darf der Staat zur Durchsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten in den Rechtsbereich von Privaten eingreifen.332 Die grundrechtlichen Schutzpflichten können für sich alleine nicht als unmittelbare Eingriffstitel der Exekutive oder der Fachgerichte herangezogen werden. Das bedeutet, dass sie vielmehr unter Berücksichtigung der bestehenden formalen Voraussetzungen und der rechtlichen Voraussetzungen ihre Wirkung entfalten sollen. Die einzelnen Staatsgewalten sind angehalten, nur nach Maßgabe der ihnen zugewiesenen Kompetenzen, Funktionen und Instrumentarien zu verfahren und zu handeln.333 329 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 125; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 58 ff. 330 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 39. 331 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 72. 332 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 91.
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2. In der EMRK a) Vertragsparteien als Adressaten Vergleichbar mit dem deutschen Grundgesetz sind die grundrechtlichen Schutzpflichten der EMRK an alle staatlichen Gewalten adressiert. Während jedoch die Bindung von Exekutive, Legislative und Judikative mit Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich normiert ist, erfolgt die Zuweisung der entsprechenden konventionsrechtlichen Schutzpflicht nach Art. 1 EMRK nur allgemein an die Vertragsstaaten.334 Demnach können die Kompetenzregelungen in den nationalen Rechtsordnungen im Detail unterschiedliche Ausformungen erfahren. Dennoch ist die vollständige Bindung aller Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten an die Konventionsrechte durch die EMRK bekundet.335 Wenn der Gerichtshof dazu aufgerufen ist, über das Bestehen der staatlichen grundrechtlichen Schutzpflicht zu entscheiden oder die Verletzung einer staatlichen grundrechtlichen Schutzpflicht zu überprüfen, so betreffen seine Entscheidungen hinsichtlich einer möglichen Verletzung des Konventionsrechts stets nur die allgemeine Staatsinstanz. Von welchem Staatsorgan im konkreten Fall die Verletzung ausging, ist hier nicht unmittelbar von Bedeutung, weil die Verantwortlichkeit des hoheitlichen Staats als die völkerrechtlich vertragsschließende Partei immer im Vordergrund steht. Das bedeutet, dass die Konventionsorgane nicht darüber befinden, an welche der staatlichen Gewalten die Aufforderung zum Ergreifen einer bestimmten Maßnahme zu richten wäre. Diese Vorgehensweise steht in Übereinstimmung mit Art. 1 EMRK, wonach es den nationalen Rechtsordnungen unbenommen bleibt, die Kompetenzen nach eigenem Ermessen zu verteilen.336 b) Pflichtzuweisungen innerhalb der Vertragsstaaten Obwohl von den europäischen Rechtsprechungsorganen die Frage nach der Pflichtzuweisung innerhalb der Vertragsstaaten im Grundsatz offen gelassen wird, lässt sich der Urteilsbegründung häufig ausdrücklich oder indirekt ein Hinweis darauf entnehmen, welche der drei Gewalten zur Erfüllung der positiven Pflichten berufen ist.337 Das gilt insbesondere für die Pflichten der Legislative, auf die eine Vielzahl von Entscheidungen des Gerichtshofes 333
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 109. Krieger, in: EMRK/GG, S. 300. 335 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 9. 336 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 9. 337 Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 160 ff. 334
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hinweisen.338 Ist der Gesetzgeber primär aufgerufen und verpflichtet, die dem Schutz des Individuums dienenden Vorschriften zu erlassen, so treten daneben ebenso die der Exekutive und Judikative auferlegten Pflichten hinzu, das Recht schutzpflichtkonform anzuwenden bzw. die Normen unter Berücksichtigung der Schutzpflicht auszulegen. In zunehmendem Maße spricht der Gerichtshof jedoch Exekutive und Judikative direkt an, sofern sie von der Urteilsfindung betroffen sind.339 Die detaillierten Vorgaben der EMRK nach Art. 5, 8–11 EMRK und Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK lassen deutlich hervortreten, dass die aufgrund eines vom Staat für erforderlich gehaltenen Eingriffs eintretende Freiheitsbeschränkung eine gesetzliche Grundlage haben muss.340 So darf nach Art. 7 Abs. 1 EMRK eine strafrechtliche Verurteilung nur dann erfolgen, wenn Straftatbestand und Strafe zuvor im Gesetz verankert sind. In der Präambel zur Konvention wird gleichfalls auf die „Vorherrschaft des Gesetzes“ hingewiesen.341 Daraus folgt, dass primär der jeweilige nationale Gesetzgeber den Schutzpflichten, die sich aus den Konventionsrechten ergeben, verpflichtet ist. Demnach sind Exekutive und Judikative sekundäre Träger der auferlegten Schutzpflichten. Für den Fall, dass die legislative Gewalt eines Vertragsstaates den Vorgaben des europäischen Konventionsrechts hinsichtlich der Schutzpflichten nur ungenügend nachkommt, dürfen die gesetzgeberischen Versäumnisse von den nationalen Exekutivorganen und Gerichten nicht kompensiert werden. Allerdings ist den Anforderungen an eine gesetzliche Grundlage nicht Genüge getan, wenn die Vorgaben der EMRK nur schlicht in das innerstaatliche Recht inkorporiert werden.342 Im Interesse der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns und der gesetzlichen Bindung der Exekutive sind in hinreichendem Maße bestimmte Vorschriften und Eingriffsermächtigungen erforderlich, die nicht allein den Ausführungen der EMRK entnommen werden können.343
338 Z. B. EGMR A 31, §§ 31, 45 – Marckx vs. Belgium; EGMR A 44, § 49-Young, James und Webster vs. the UK; EGMR A 91, §§ 24 ff. – X. and Y. vs. Netherlands; EGMR A 112, § 57 – Johnston and others vs. Ireland. 339 Siehe z. B. EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.); EGMR A 48, § 35 – Campbell and Cosans vs. The UK. 340 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 4 und Vorb. Art. 8–11 Rn. 2 ff. 341 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168. 342 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168. 343 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168.
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c) Bewertung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung des jeweiligen Zeichnerstaates Adressaten für die grundrechtlichen Schutzpflichten sind. Sie sind aufgrund der konventionsrechtlichen Bestimmungen aufgefordert, durch aktives innerstaatliches Handeln jene Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die das Menschenrecht seiner gesetzlich geschützten, effektiven Verwirklichung zuführt. Jedoch führt das Gebot der effektiven Verwirklichung des Menschenrechts keineswegs dazu, dass die Einzelstaaten im Rahmen ihrer Schutztätigkeit von der Einhaltung der abwehrrechtlichen Funktion der Konventionsrechte entbunden wären. Abwehrrechte und Schutzpflichten sind nur zwei verschiedene Säulen eines absichernden Aspekts bezüglich der Konventionsgüter. Beide begründen auf jeweils eigene Weise die Anforderungen an das innerstaatliche Handeln.
C. Das subjektive Recht auf Schutz Nicht zuletzt ist mit der Anerkennung der grundrechtlichen Schutzpflicht die für den einzelnen Bürger nicht unerhebliche Frage aufgeworfen, in wie fern mit den staatlichen Schutzpflichten auch ein subjektives Recht auf Schutz einhergeht. Entscheidend ist, ob der Einzelne mit der Individualbeschwerde das Bundesverfassungsgericht oder den Konventionsgerichtshof mit der Begründung anrufen kann, der Staat sei seiner Schutzpflicht nicht oder nur unzureichend nachgekommen. Während das auf die Unterlassung einer staatlichen Handlung bezogene Abwehrrecht unproblematisch mit der Verfassungsbeschwerde eingeklagt werden kann, ist die Geltendmachung eines aus den Grundrechten hergeleiteten, subjektiven Rechts bezüglich der Schutzpflichten weiterhin nicht eindeutig geklärt. I. Im GG Es gilt bislang als umstritten, ob sich aus den staatlichen Schutzpflichten des Grundgesetzes gleichermaßen ein individuelles subjektives Recht auf Schutz vor Übergriffen von privater Seite dem Staat gegenüber ergibt, oder ob dieses Recht nur auf eine objektivrechtliche Geltungsanordnung beschränkt ist. Teilweise wird geltend gemacht, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten an die Vorstellung der Grundrechte als objektiver Wertordnung anknüpfen und demnach die grundrechtliche Schutzpflicht nicht subjektiv-rechtlich begründet ist.344 Jedoch gibt es auch einige Stimmen in der 344
Krieger, in: EMRK/GG, S. 305.
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Literatur und Rechtsprechung, welche das subjektive Recht auf Schutz befürworten. Im Folgenden sollen die wichtigsten zu dieser Thematik vertretenen Rechtsauffassungen dargestellt werden. 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat das subjektive Recht auf grundrechtliche Schutzpflicht anerkannt. In einem verhandelten Fall bezüglich der „Lagerung chemischer Waffen“345 gab das Bundesverfassungsgericht erstmalig und ausdrücklich zu verstehen, dass in der Verletzung von Schutzpflichten zugleich auch eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG liege, gegen die sich ein Betroffener mit der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen könne. In den nachfolgenden Entscheidungen hat das Gericht das subjektive Recht auf Schutz weiterhin anerkannt, jedoch wurden Inhalt und Herkunft des jeweils angesprochenen subjektiven Rechts noch nicht konkretisiert.346 2. Meinungen in der Literatur a) Kritische Stellungnahmen In der Kommentarliteratur beziehen einige Autoren Stellung gegen die Subjektivierung der Schutzpflichten, oder sie versuchen diese auf bestimmte Grundrechte oder Staatsgewalten zu begrenzen.347 Anknüpfungspunkte der Kritik sind insbesondere die mangelnde Konkretisierung der Schutzaufgaben, die vom Bundesverfassungsgericht zu übende Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen sowie die vorrangige Aufgabenzuweisung an den Gesetzgeber. Weiter wird auch darauf verwiesen, dass aus der hergeleiteten Schutzpflicht der objektiven Grundrechtsfunktionen sich nicht zwingend auch eine Schutzpflicht von subjektiv-rechtlichem Charakter ableiten lasse.348 Es wird darauf abgestellt, dass sich das subjektive Recht auf Schutzpflicht weder aus dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte der Grundrechte ergebe.349
345
BVerfGE 77, 170 – Lagerung der chemischen Waffenaffen. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 180. 347 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 58; Steinberg, NJW 1984, S. 460 f. 348 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 88; Steinberg, NJW 1984, S. 459. 349 Krieger, in: EMRK/GG, S. 305. 346
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b) Zustimmung Die wohl herrschende Literaturmeinung ist der Auffassung, dass mit der staatlichen Schutzpflicht auch ein subjektives Recht einhergeht, das im Wege der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann. Die Begründungsansätze fallen jedoch unterschiedlich aus. Oft wird darauf verwiesen, dass bereits der Individualcharakter der Grundrechte selbst die Annahme eines subjektiven Rechts auf Schutz impliziert, weil die grundrechtlichen Schutzpflichten durch einen eigenen durchsetzbaren Status des subjektiven Rechts abgesichert sein müssen.350 Ferner unterstütze der Prinzipiencharakter der Grundrechte ebenso eine Subjektivierung des schützenden Rechts.351 Wenn die Grundrechte Prinzipien des Staates sind, müssen sie als Staatsziel in möglichst hohem Maße tatsächlich und damit auch rechtlich optimiert werden. Dieses Ziel wird durch die Gewährung eines durchsetzbaren subjektiven Rechts auf Schutz unterstützt. Hinsichtlich der Effektivität und Geltungskraft des abgeleiteten Grundrechtsschutzes sei der grundrechtlichen Schutzpflicht ihre Subjektivierung wie von selbst nahe gelegt.352 Es gelte zu bedenken, dass die Grundrechte ursprünglich dem Schutze der Interessen des Einzelnen dienten, und demnach komme ihnen zweifelfrei der Status eines vollwertigen, gerichtlich durchsetzbaren Rechts zu.353 Darüber hinaus ergebe sich ein Hinweis auf das subjektive Recht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Es entspräche dieser Norm, dass alle staatliche Gewalt gehalten sei, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.354 Der damit einher gehende Schutzauftrag entfalte Ausstrahlungswirkung zu Gunsten der Menschen- und Grundrechte, die einerseits vorstaatlich, andererseits aber auch in das deutsche Grundgesetz nach Art. 1 Abs. 2 GG eingegliedert worden sind. Hierbei liege der Entstehung der Menschen- und Grundrechte im Wesentlichen eine geschichtliche Vorstellung der Menschenwürde zu Grunde, was gleichzeitig den staatlichen Schutzpflichten einen spezifischen Inhalt verleiht.355 Es sei dann nur folgerichtig, wenn den Schutzpflichten, die sich aus dieser Norm im Verbund mit dem Gehalt der anderen Rechte herleiteten, auch die ihnen entsprechenden subjektiven 350
Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 64. Dazu Alexy, Der Staat 1990, S. 61. 352 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 60. 353 So Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 530. 354 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 183. 355 Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 27; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 187; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 7 I, Rn. 398. 351
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Rechte zugeordnet würden.356 Vor diesem Hintergrund überwiegt die Ansicht im Schrifttum, dass nicht nur eine staatliche Schutzpflicht, sondern auch ein subjektives Recht auf Schutz anzunehmen sei. 3. Grenzen der Durchsetzung des subjektiven Rechts auf Schutz Die obigen Ausführungen in der Literatur machen deutlich, dass überwiegend ein subjektives Recht auf Schutz anerkannt wird. Daraus ergibt sich jedoch nicht ein Anspruch auf eine konkrete Maßnahme. Der subjektive Anspruch beschränkt sich für gewöhnlich nur auf die sachgerechte Ausübung der Handlungspflicht, da ansonsten dem angesprochenen Staatsorgan der notwendige Gestaltungs- und Ermessensspielraum versagt würde. Nur für den seltenen Fall, dass eine „Ermessensreduzierung auf null“ vorliegt, kann die staatliche Schutzpflicht nur durch eine einzige Maßnahme erfüllt werden. In allen anderen Fällen beschränkt sich der Kontrollumfang der Gerichte auf die ermessensfehlerfreie Ausübung der Handlungsverpflichtung durch die Staatsorgane.357 II. In der EMRK 1. Ansätze im Wortlaut Mit Art. 1 EMRK sind durch die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I erklärten Rechte und Freiheiten zugesichert. Den Mitgliedstaaten ist auferlegt, die in den Normen angesprochenen Individualrechte wirksam zu schützen und sie einer effektiven Ausgestaltung zuzuführen. Diese Vorgaben umfassen auch die Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Der Einzelne kann diese Garantie mittels der Individualbeschwerde durchsetzen. Daneben gibt es in einigen einzelnen Normen der EMRK doch Anhaltspunkte für die Begründung eines subjektiven Rechts auf Schutz. Dazu zählen beispielsweise der Begriff der „Achtung“ in Art. 8 EMRK sowie die Verstärkung der Individualbeschwerde im 11. Zusatzprotokoll der EMRK. Auch die Tatsache, dass im Rahmen der EMRK im Gegensatz zum allgemeinen Völkerrecht ausdrücklich die Möglichkeit einer Individualbeschwerde besteht, spricht dafür.
356 357
Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 187. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 183.
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2. Anerkennung in der Rechtsprechung und im Schrifttum Auf der völkerrechtlichen Ebene wird der einzelne Mensch nach der klassischen Lehre vorwiegend als Angehöriger eines Staats angesehen. Im Laufe der Zeit erwächst dem Einzelnen in Folge der völkerrechtlichen Verträge ein Mehr an „Völkerrechtssubjektivität“, so dass dem Einzelnen auch subjektive Rechte eingeräumt werden können.358 Die EMRK ist mit der ermöglichten Individualbeschwerde dafür ein wichtiges Beispiel. Von den europäischen Konventionsorganen wird die Herleitung subjektiver Rechte auf Erfüllung der sich aus der Konvention ergebenden Schutzpflichten nicht mehr bestritten.359 Allerdings leitet der EGMR im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz das subjektive Recht bisher nicht aus der objektiven Wertordnung der EMRK oder der Vorstellung von der Menschenwürde her, sondern stellt vielmehr den individualrechtlichen Ansatz heraus.360 Die Rechtsprechungsorgane sind nach Art. 34 EMRK gehalten, die Individualbeschwerde, die auf die Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht bezogen ist, durchgehend für zulässig zu erklären.361 Die jeweilige Individualbeschwerde ist an die Voraussetzung geknüpft, dass mit ihr die Verletzung eines Konventionsrechts behauptet wird. Den bislang ergangenen Urteilen zu den positiven Schutzpflichten lässt sich entnehmen, dass hinsichtlich der positiven Schutzpflicht des Staates ein subjektives Recht des Bürgers bestehen kann. Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof haben die staatliche Schutzpflicht aus der Notwendigkeit eines möglichst umfassenden und effektiven Schutzes der gewährleisteten Konventionsrechte hergeleitet. Daraus kann gefolgert werden, dass es im Sinne eines effektiven Schutzes ist, wenn dem Bürger ein subjektives Recht bezüglich der Schutzpflichten ebenso zuerkannt wird. Im juristischen Schrifttum wird diese Thematik in Anbetracht der vom EGMR eindeutig vollzogenen Anerkennung individueller Rechte als nicht problematisch gewertet.362 Wie bereits ausgeführt, hat sich im Gefolge der als subjektive Rechte ausgestalteten Konventionsrechte die Möglichkeit einer Ableitung staatlicher Schutzpflichten eröffnet. Demnach ist die von der 358 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 39; Epping, in: Völkerrecht, S. 95 f.; Klein, E., Menschenrechte, S. 11 f. 359 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 322. 360 Krieger, in: EMRK/GG, S. 305. 361 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 322. 362 Murswiek, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren, S. 229; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 188 f.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Literatur vertretene Annahme eines Bestehens subjektiver Schutzansprüche konsequent und systematisch folgerichtig. 3. Grenzen Obgleich von der EMRK ein subjektives Recht auf Schutz keineswegs bestritten wird, lassen sich die subjektiven Rechte dennoch nicht unbegrenzt durchsetzen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Reichweite des subjektiven Rechts auf Schutz in der EMRK, die bedeutend enger gefasst ist als die auf nationaler Ebene. Unter Berücksichtigung des nationalen gewaltenteiligen Verfassungssystems und des Subsidiaritätsprinzips des Menschenrechtsschutzes gewährt die Straßburger Rechtsprechung den Mitgliedsstaaten einen Beurteilungsspielraum. Damit wird die Gefahr umgangen, dass der europäische Gerichtshof auf der Grundlage der Individualbeschwerde stellvertretend für die nationalen Parlamente handelt.363 Demnach lässt sich unter Berücksichtigung des weiten staatlichen Ermessensspielraums ein subjektives Recht auf eine ganz bestimmte Handlung durch ein Staatsorgan nur dann herleiten, wenn der Staat die ihm obliegende Schutzpflicht ausschließlich nur durch eine Handlungsvariante erfüllen kann. Für alle weiteren Konstellationen gilt, dass das subjektive Recht auf den Anspruch zur Durchführung einer angemessenen Maßnahme begrenzt ist. Für den Fall, dass eine Schutzpflichtverletzung aufgrund staatlicher Unterlassung gerügt wird, ergibt sich ein Anspruch nur bei nachweisbarer, vollkommener Untätigkeit oder der Ergreifung völlig ungeeigneter Maßnahmen.
D. Gerichtliche Durchsetzbarkeit der Schutzpflichten Nachfolgend soll aufgezeigt werden, vor welchen Rechtsinstanzen die mit den staatlichen Schutzpflichten einhergehenden Grundrechte durchgesetzt werden können und welcher diesbezügliche Rechtsweg jeweils in Deutschland und auch auf der Ebene der EMRK vorgesehen ist. I. Im GG Gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG ist der Einzelne gehalten, den Rechtsschutzweg der Schutzpflichten zuerst durch die Fachgerichte auszuschöpfen. Erst danach kann der Einzelne im Wege einer Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht anrufen. Die Fachgerichte sind bei Anwendung 363
Krieger, in: EMRK/GG, S. 305.
Kap. 1: Schutzpflichten
123
und Auslegung des einfachen Rechts gehalten, nicht allein die sich aus den Abwehrrechten ergebenden Anforderungen zu berücksichtigen, sondern darüber hinaus ebenso die objektive Schutzfunktion der Grundrechte zu beachten. Nur wenn die vorherige Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes in einem konkreten Fall zu unzumutbaren und nicht mehr korrigierbaren Folgen führen würde, kommt gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG die sofortige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Wege der Verfassungsbeschwerde in Betracht.364 Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG können alle Handlungen der öffentlichen Gewalten aus Exekutive, Judikative und Legislative Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein.365 Mit der Vorgehensweise werden nach Art. 92, 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG nicht nur die positiven Handlungen, sondern auch Unterlassung zum Gegenstand der Untersuchung. Folglich kann das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob die Judikativ- und Legislativorgane die grundrechtliche Schutzfunktion hinreichend berücksichtigt haben. Des Weiteren kann das Gericht prüfen, ob der Gesetzgeber es unterlassen hat, die unabdingbaren einfachgesetzlichen Regelungen zu erlassen, auf Grundlage derer der wirksame Schutz der Grundrechtsgüter vor nichtstaatlichen Übergriffen sicher gestellt werden kann.366 Es gilt hier im Einzelfall zwischen echtem und unechtem Unterlassen zu unterscheiden. Unter dem echten Unterlassen werden nicht allein das Ausbleiben und das Nichthinreichen der gesetzgeberischen Tätigkeit verstanden. Der Begriff ist vielmehr dahingehend erweitert, dass auch der Erlass einer verfassungswidrigen Regelung aufgrund des Verkennens der grundrechtlichen Schutzfunktion sowie die mangelnde Nachbesserung nicht qualifizierter Gesetze darunter zu subsumieren ist.367 Unter unechtem Unterlassen wird dagegen verstanden, dass ein Gesetz existiert, dieses aber keinen hinreichenden Schutz bietet und insoweit der Nachbesserung bedarf.368 364 Siehe BVerfGE 4, 193 (198), in: NJW 1955 1 145; BVerfGE 49, 252 (258), in: NJW 1979, 538; BVerfGE 63, 77 (79), in: NJW 1983, 1900; BVerfGE 9, 3 (7) – Eigenmietwert; BVerfGE 56, 54 (69) – Fluglärm; BVerfGE 51, 130 (139) – Ausbildungskapazität. 365 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 97. 366 Siehe BVerfGE 56, 54 (70) – Fluglärm; BVerfG in EuGRZ 1987, S. 353 – AIDS; BVerfG in: NJW 1998, S. 3264 (3265) – Waldschäden. 367 Siehe BVerfGE 77, 170 (215) – C-Waffen; BVerfG in: EuGRZ 1987, S. 353 – AIDS; BVerfG in: NJW 1995, 2343 – Alkoholgrenzwert; BVerfG in: NJW 1996, S. 651 (652) – Geschwindigkeitsbegrenzung; BVerfG in: NJW 1996, S. 651 – Ozon; BVerfG, 1 BvR 2234/97 v. 9.2.1998, Abs. 5 – Nichtraucherschutz; BVerfG, 1 BvR 1262/01 v. 9.8.2001, Abs. 11 – Lebenspartnerschaft; siehe auch Hermes, Schutz von Leben und Gesundheit, S. 268 f.; Möstl, DÖV 1998, S. 1029 f. 368 BVerfGE 56, 54 (70 ff.) – Fluglärm.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Die Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist an die Bedingung geknüpft, dass der Beschwerdeführer zu einem jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt persönlich und unmittelbar von der Sache betroffen ist.369 In dieser Hinsicht gleicht die Prüfung der objektiven grundrechtlichen Schutzfunktion im Wesentlichen der Prüfung der Voraussetzung der subjektiven Abwehrrechtsfunktion. Der Hinweis auf die persönliche Betroffenheit besagt, dass der Beschwerdeführer in einem Grundrechtsgut nachweislich selbst beeinträchtigt ist.370 Ist die Rechtsgutbeeinträchtigung bereits eingetreten, so wird das mit dem Terminus der gegenwärtigen Betroffenheit erfasst.371 Die unmittelbare Betroffenheit bedeutet, dass ein staatliches Handeln oder Unterlassen ohne einen weiteren vermittelnden Rechtsakt auf den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt.372 Wenn die obengenannten Voraussetzungen bezüglich eines Beschwerdeführers erfüllt sind, ist eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG zulässig. Im Hinblick auf eine mögliche Schutzpflichtverletzung verfährt das Bundesverfassungsgericht entsprechend den für das Gericht geltenden Vorschriften, wonach je nach Sachlage die folgenden Möglichkeiten offen stehen: Ist die Verfassungsbeschwerde gegen eine die Schutzgewähr ablehnende Entscheidung gerichtet, wird die angegriffene Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und zur Neuentscheidung an das Fachgericht verwiesen (§ 95 Abs. 2 BverfGG).373 Die Fachgerichte sind gehalten, ihre frühere Entscheidung bei erneuter Prüfung zu revidieren. Ist die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz gerichtet, so wird das Bundesverfassungsgericht dieses nach § 95 Abs. 3 BverGG für nichtig erklären. Fehlt es hingegen an einer gesetzlich hinreichenden Regelung, oder ergibt sich die Pflichtverletzung aus einem ursprünglichen legislativen Unterlassen, so ist eine Nichtigkeitserklärung ausgeschlossen und es verbleibt nach § 95 Abs. 1 BVerfGG bei der Feststellung der Grundrechtsverletzung.374 Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle kann das Bundesverfassungsgericht die Verletzung einer legislativen Schutzpflicht gemäß § 78 BVerGG feststellen, was die Nichtigerklärung des Gesetzes zur Folge haben kann.375
369
Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90 Rn. 50; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 98. 370 Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 743 f.; Hermes, Schutz von Leben und Gesundheit, S. 217 f. 371 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 98. 372 Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90 Rn. 50. 373 Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 493. 374 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 187. 375 Graßhof, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 12 ff., S. 22 ff.
Kap. 1: Schutzpflichten
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II. In der EMRK Gemäß Art. 34 EMRK ist es einzelnen Bürgern, den nichtstaatlichen Organisationen oder den Personenvereinigungen gestattet, Individualbeschwerde zu erheben, wenn sie geltend machen können, eins oder mehrere der ihnen zugestandenen Konventionsrechte sei infolge einer unzureichenden Realisierung einer staatlichen Schutzpflicht verletzt. Zudem ist nach Art. 33 EMRK die Möglichkeit vorgesehen, dass ein Vertragsstaat eine solche Verletzung durch einen anderen Zeichnerstaat vor dem europäischen Gerichtshof rügt. Allerdings spielt diese Staatenbeschwerde im Hinblick auf die Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflicht in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle. Bei Vorliegen einer Konventionsverletzung sind die Möglichkeiten des Gerichtshofs nach Art. 50 EMRK auf den Erlass eines Feststellungsurteils sowie die Zusprechung von Schadensersatz beschränkt.376 Die Befugnisse des Gerichtshofs indes reichen nicht so weit, dass sie die der Konvention zuwiderlaufenden Handlungen in den Mitgliedsstaaten aufheben, sie ändern oder entsprechende Schutzmaßnahmen eigenständig anordnen können.377 Nach Art. 46 EMRK sind die Mitgliedstaaten allerdings gehalten, die ihnen gegenüber ergangenen Urteile des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und im Zweifelsfall auch zu befolgen. Die den Staaten auferlegte Verpflichtung enthält neben der Aufforderung zur Beendigung einer fortdauernden Verletzung die Pflicht zur Wiedergutmachung sowie zur Gewährung von Entschädigung.378 Während vom Bundesverfassungsgericht im Verlaufe eines Streitfalls eine vorläufige Anordnung ausgesprochen werden kann, ist eine solche Möglichkeit dem EGMR nicht an die Hand gegeben. Wenn einstweilige Maßnahmen im Interesse der Parteien oder zur effektiven Fortführung des Verfahrens sinnvoll erscheinen, kann der Gerichtshof nach § 39 seiner Verfahrensordnung dem Mitgliedsstaat jedoch die Anordnung vorläufiger Maßnahmen empfehlen.379 Die Konventionsorgane haben in der Praxis die vorläufigen Maßnahmen normalerweise dort empfohlen, wo Auslieferungsund Ausweisungsfälle zur Verhandlung anstanden.380 376
Paukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 50. Villiger, EMRK, Rn. 218; Paukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 53 Rn. 3; EGMR, Report 1998-I, Nr. 64, §§ 71 ff. – Guerra vs. Italien. 378 Karl, in: Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, S. 118; Bernhardt, in: Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht, S. 147 ff. 379 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 176. 380 EGMR A/161 (1989), §§ 4 und 77-Soering vs. Vereinigtes Königreich; EGMR A/201 (1991), §§ 52 ff. und 90 ff. – Cruz Varas vs. Schweden. 377
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Im Grundsatz ist das System der Konvention auf den nachträglichen Rechtsschutz angelegt, aber dieser greift erst ab dem Eintritt des Verletzungserfolges.381 Demgegenüber hat der EGMR unter engen Voraussetzungen schon eine Rechtsgutgefährdung gelten lassen. Dies ist nach Auffassung der Gerichts dadurch gerechtfertigt, dass die Konvention nach ihrem Sinn und Ziel praktisch wirksam und effektiv gestaltet, verstanden und angewandt werden müsse.382 Wenn daher eine Bedrohung mit vorhersehbaren, ernsten und irreparablen Schäden vorliegt, prüft der Gerichtshof einen Fall sogar schon vor Eintritt des Verletzungserfolges.383 Allerdings darf auf diesem Wege nicht einer Popularklage stattgegeben werden. Denn Voraussetzung für die gerichtlich korrigierbare Gefahr ist, dass sie für den Beschwerdeführer hinreichend konkretisiert und vorhersehbar ist. Kapitel 2
Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen Mit der Thematik der Leistungs- und Teilhabekomponenten der Grundund Menschenrechte ist die Frage aufgeworfen, ob das Freiheitsverständnis der Grund- und Menschenrechte mehr voraussetzt als die Abwesenheit staatlichen Zwanges, nämlich tatsächliche Entfaltungsmöglichkeiten.384 Zwar schützen viele Grundrechte Interessenpositionen des Einzelnen. Dieser kann das jeweilige Grundrecht jedoch nur geltend machen, wenn er bestimmte Voraussetzungen erfüllt, die nicht durch das betreffende Grundrecht gewährleistet sind. Beispielsweise ist der grundrechtliche Schutz der Wohnung daran geknüpft, dass zuvor der Besitz einer Wohnung gegeben ist. Ebenso ist es dem Analphabeten verwehrt, das Recht auf Schutz des Briefgeheimnisses zu nutzen. Demjenigen Bürger, der kein enteignungsfähiges Eigentum besitzt, ist die Möglichkeit verwehrt, gegen eine willkürliche Enteignung vorzugehen.385 Die Leistungs- und Teilhabekomponenten umfassen demnach eine soziale Dimension der Menschen- oder Grundrechte, die weder wie die Abwehrrechte einen staatlichen Eingriff, noch wie die staatliche Schutzpflicht eine grundrechtliche Verletzung durch Dritte zum Gegenstand haben.386 Gegenstand ist vielmehr, dass der Staat durch positives Tun die 381
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 176 f. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 177. 383 EGMR A 161, § 90 – Soering vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1989, 314); EGMR in: EuGRZ 1995, 507, 508 f. – Kley-Struller. 384 Krieger, in: EMRK/GG, S. 312. 385 Zum Ganzen Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 356 f. 382
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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Voraussetzungen schafft, die dem Einzelnen die Verwirklichung seiner Freiheitsrechte ermöglichen. Bildlich lässt sich das so fassen: Während die staatliche Schutzpflicht als horizontale Dimension der objektiven Grundrechtsfunktionen von der Dreiecksbeziehung zwischen dem Grundrechtsträger, dem Staat und dem Dritten bestimmt wird, besteht bezüglich der Leistungs- und Teilhabekomponenten der objektiven Grundrechtsfunktionen nur eine zweiseitige Beziehung, nämlich die Wechselbeziehung zwischen dem Grundrechtsträger und dem Staat.387 Hierbei sind die in der Literatur und in der Rechtsprechung nicht einheitlich durchgehaltenen Termini „Leistungsrechte“, „Teilhaberechte“ und „soziale Grundrechte“ zum Teil verwirrend. In der vorliegenden Untersuchung werden unter die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen die originären Leistungsrechte aus den Freiheitsrechten und die derivativen Teilhaberechte auf Gleichbehandlung gefasst.
A. Originäre Leistungsrechte und soziale Grundrechte Mit dem Begriff des originären grundrechtlichen Leistungsrechts ist ein subjektives Recht des Bürgers auf ein staatliches Tun bezeichnet, das sich unmittelbar aus den Freiheitsgrundrechten herleitet.388 Auf diesem Wege ist eine grundrechtliche Absicherung der Forderungen möglich, zu denen beispielsweise das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnung und überhaupt das Recht auf eine menschenwürdige Existenz gehören.389 Beim originären grundrechtlichen Leistungsrecht stehen nicht die grundrechtlichen oder grundrechtsgleichen Ansprüche auf Abwehr oder staatliche Unterlassung im Vordergrund, sondern ein bestimmtes Gut bzw. eine bestimmte, vom Staat zu ergreifende, positive Maßnahme. In der deutschen Literatur wird der Begriff der originären Leistungsrechte, der sozialen Grundrechte, sowie der Teilhaberechte oft synonym verwendet, wobei ihr Begriffssinn im Sprachgebrauch einmal weit und einmal eng gefasst ist.390 Teile der Literatur zur EMRK tendieren zu einem inhaltlichen Verständnis der sozialen Grundrechte. Ein solches hat zum Ziel, die gesellschaftliche Stellung des Menschenrechtsträgers zu verbessern. Dennoch besteht ein Bedeutungsunterschied zwischen originären Leistungsrechten und den sozialen Grundrechten: 386 387 388 389 390
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 85. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 85. Michael/Morlok, Grundrechte, S. 262. Krieger, in: EMRK/GG, S. 313. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 680 ff.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
„Die Frage nach den originären Leistungsrechten beschreibt die mögliche rechtliche Wirkung zugunsten des grundrechtlichen Schutzgutes selbst, während die Qualifizierung als soziales Grundrecht an den faktischen Nutzen des Grundrechtsgebrauchs für weitergehende Ziele anknüpft.“391
Die originären Leistungsrechte umfassen soziale Grundrechtsinhalte, also die Bedeutung der Grundrechte für das Wirtschafts- und Sozialleben.392 I. Soziale Grundrechte im GG 1. Zur Terminologie Die in der deutschen Fachliteratur teilweise heftig geführte Diskussion um die sozialen Grundrechte wird bedauerlicherweise zusätzlich durch eine terminologisch nicht einheitliche Wortwahl belastet. Das Bemühen von Begrifflichkeiten wie „sozialen Grundrechte“, „grundrechtliche Leistungsansprüche“, „Leistungsrechte“ und „Teilhaberechte“ erweist sich im Rahmen einer terminologischen Wortwahl als undurchsichtig, indem manchmal Identisches und manchmal auch Unterscheidbares umfasst wird.393 Da im Urteil zur „Privatschulsubventionierung“394 hinsichtlich der Funktion der Freiheitsrechte vom BVerwG und BVerfG von den „sozialen Grundrechten“ gesprochen wird, so sei im weiteren Verlauf dieser Untersuchung ebenso der Begriff von den „sozialen Grundrechten“ verwendet. Als „die Grundrechte“ haben im ursprünglichen Verständnis des Grundgesetzes nur diejenigen Rechte zu gelten, auf Grundlage derer eine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit für alle Staatsorgane festgestellt ist und deren gerichtliche Durchsetzbarkeit dem Bürger als Grundrechtsträger möglich ist.395 Hierbei fehlt den sozialen Grundrechten die kennzeichnende Qualität der so bezeichneten Grundrechte. Mit der Bezeichnung „soziale Grundrechte“ soll eine Abgrenzung zum klassischen Freiheitsverständnis der Grundrechte erreicht werden. Weil diese Wortwahl als sozialpolitisch korrekt gilt und im internationalen juristischen Sprachgebrauch gebräuchlich geworden ist, erscheint es wenig sinnvoll, diesem Begriff juristisch dogmatische Einwendungen entgegenzuhalten. Demnach sind „die sozialen Grundrechte“ diejenigen Rechte, die nicht dem Schutz eines privaten oder politischen Individualfreiraums vor 391
Krieger, in: EMRK/GG, S. 313. Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum deutschen und europäischen Grundrechtsschutz, S. 313. 393 Siehe Murswiek, in: HdbStR V, S. 112; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 241 f.; Stern, Das Staatsrecht Bd. III/1, S. 749 f.; Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 352. 394 BVerwGE 27, 360; BVerfGE 75, 40 – Privatschulfinanzierung I. 395 Murswiek, in: HdbStR V, S. 266. 392
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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staatlicher Fremdbestimmung dienen. Vielmehr gelten sie der Erschaffung jener sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen, aus denen sich erst ein solcher Freiraum konstituiert.396 Die sozialen Grundrechte wirken im Vorfeld der liberalen Freiheitsrechtsverbürgungen und bilden somit deren Grundlage. 2. Mangelnde ausdrückliche Erwähnung sozialer Grundrechte im Grundgesetz Während die klassischen Freiheitsrechte im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes ausführlich und detailliert verankert sind, werden demgegenüber die sozialen Grundrechte im vergleichbaren Maße deutlich herausgestellt. Der Grund für diesen bewussten Verzicht des Parlamentarischen Rats auf ausdrückliche Erwähnung der sozialen Grundrechte liegt in der Bestrebung zur Herstellung einer größtmöglichen Stringenz und Durchsetzbarkeit der Grundrechte. Die Aufnahme der sozialen Grundrechte hätte diesem Ziel entgegen gewirkt, da sie nur in engen Grenzen justiziabel sind und somit zur Aufweichung der grundrechtlichen Durchsetzbarkeit geführt hätten.397 Zu der Zeit als das Grundgesetz noch Züge eines Provisoriums trug, konnte die Verfassungskommission noch keine klare Prognose darüber abgeben, ob in Zukunft soziale Grundrechte im Grundrechtsteil der Verfassung verankert würden, oder ob die Sozialordnung sich nur über Gesetzgebungsaufträge und Staatszielbestimmungen realisieren sollte.398 Die Gegner einer Aufnahme sozialer Grundrechte in die grundrechtlichen Erklärungen hielten dem entgegen, dass den erklärten Freiheitsgrundrechten ihre Prägnanz verloren ginge. Sie fürchteten darüber hinaus die Gefahr einer Verlagerung der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gestaltungskompetenz vom Parlament hin zur Gerichtsbarkeit, insbesondere einer solchen hin zur Verfassungsgerichtsbarkeit.399 Letzten Endes wurden jene Vorschläge, die sozialen Grundrechte doch noch zu berücksichtigen, mit überwältigender Mehrheit von der Sachverständigenkommission abschlägig beschieden. Das führte dazu, dass von der Kommission weder zu den sozialen Grundrechten, noch zu den sozialen Staatszielen eine Empfehlung abgegeben wurde. Das Ausbleiben einer Erklärung zu den sozialen Grundrechten im Rahmen des Grundgesetzes bedeutet keine apodiktische Absage an die ihnen zugrunde liegende Idee. Diese Idee ist dem Konzept der Sozialstaatlichkeit 396
Hernekamp, Soziale Grundrechte, S. 13. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 681. 398 Papier, Grundrechte und Sozialordnung, in: HdbGR II, S. 258. 399 Konegen, in: Konegen/Nitschke, Revision des Grundgesetzes? S. 47; Papier, Grundrechte uns Sozialordnung, in: HdbGR II, S. 258. 397
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
immanent. In der Tat umfasst das Grundgesetz die Aspekte von verfassungsrechtlich garantierten Leistungsansprüchen, die freilich nur teilweise auf die finanziellen oder geldwerten Leistungen bezogen sind.400 Beispielweise ist der Anspruch auf das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 GG zu nennen. Abweichend von der EMRK wird dieser vom Grundgesetz gewährt.401 Eine unmittelbare rechtsfundierte Inanspruchnahme von sozialen Leistungen ist allerdings in der Regel nicht vorgesehen, obwohl der verfassungsrechtlich verbürgte und unmittelbar geltende Leistungsanspruch unter logischen Gesichtspunkten bestehen kann. Ohne die sozialen Grundrechte explizit in den Verfassungstext aufgenommen zu haben, ist die Bundesrepublik Deutschland jenen sich aus den Internationalen Sozialrechtspakten ergebenden Verpflichtungen nachgekommen. Das deutsche System der sozialen Sicherheit ist durch seinen auf einfachgesetzlicher Ebene ausgebauten Sozialstaat schon viel besser ausgebildet als das der meisten anderen Staaten der Welt. Darum ist die Auffassung vertreten worden, dass eine Verankerung der sozialen Grundrechte in der Verfassung zu keinem besseren Niveau hätte führen können.402 3. Auseinandersetzungen in der Literatur a) Argumente für soziale Grundrechte aa) Soziale Voraussetzungen für die Verwirklichung der Freiheit Allen Forderungen nach den originären sozialen Grundrechten liegt eine Vorstellung von Freiheit zugrunde, die diese „reale“ Freiheit an die Verwirklichung komplementärer Voraussetzungen bindet. Im juristischen Sinne wird unter den Freiheitsrechten nicht allein das die Freiheit schützende, ursprünglich negative Abwehrrecht gegenüber dem staatlichen Übergriff verstanden, sondern es ist darin ebenso die erweiterte, staatlich positive Gewähr einer „realen“ Freiheit inbegriffen. Wenn die freiheitlichen Grundrechte die „reale Freiheit“ mit einbeziehen, so steht der Staat für die sozialen Voraussetzungen ihrer „Verwirklichung“ selbstredend in der Pflicht. 400
Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 681. Siehe BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente II; 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe; 48,346 (361) – Witwen-Urteil; 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; 87, 153 (170 f.) – Grundfreibetrag; 91, 93 (111) – Kindergeld; 110, 412 (445) – Teilkindergeld; BVerfG, 1 BvR 347/98 v. 6.12.2005, Nr. 64 f.; Krieger, in: EMRK/GG, S. 317. 402 So Murswiek, in: HdbStR V, S. 272. 401
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In diesem Fall könnte dem Einzelnen unter Umständen ein solcher Anspruch zugesprochen werden. bb) Abhängigkeit des Einzelnen und das Monopol des Staates Der Mensch ist zur Wahrung seiner Existenzgrundlage in der heutigen Industriegesellschaft auf staatliche Leistungen angewiesen. Hinzu kommt, dass der etablierte moderne Sozialstaat durch seine perfektionierten Verteilungs- und Zuteilungssysteme diese Abhängigkeit zunehmend verstärkt.403 Angesichts dieser zunehmenden Abhängigkeit des Einzelnen soll der Staat die relevanten sozialen Voraussetzungen der Grundrechtsverwirklichung absichern und ebenso garantieren, weil er ganz häufig die tatsächlichen Voraussetzungen der Grundrechtsverwirklichung monopolisiert.404 Dort wo der Staat seine Monopolstellung faktisch beansprucht und wo die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist, muss der Staat den Grundrechtsträgern bei den bereits bestehenden Leistungseinrichtungen den gleichberechtigten Zugang offen halten.405 Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Grundrechte auch als soziale Grundrechte verstanden werden können, und dass die soziale Grundrechtsdimension des deutschen Verfassungsrechts zunehmend stärker in das dogmatische Blickfeld von Rechtsprechung und Lehre rückt. b) Argumente gegen die sozialen Grundrechte aa) Freiheitsgefährdung Freiheit bedeutet im Verständnis des Grundgesetzes, dass die individuelle Autonomie gewährleistet ist. Die „negativen“, abwehrenden Freiheitsrechte ermöglichen es dem Einzelnen, selbstbestimmt und frei sein Verhalten dahingehend einzurichten, dass er den rechtlich gewährleisteten Umfang von Freiheit inhaltlich ausfüllt.406 Die staatliche Förderung gibt allerdings auf der Grundlage der sozialen Grundrechte die Inhalte realer Freiheit positiv vor. Deshalb beschränkt diese die Freiheit hinsichtlich der individuellen Selbstbestimmung. Demnach bringt wiederum das Bestreben, die realen 403 Breuer, in: FG aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, S. 91; Murswiek, in: HdbStR V, S. 279. 404 Murswiek, in: HdbStR V, S. 279. 405 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 292. 406 Murswiek, in: HdbStR V, S. 281.
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sozialen Freiheiten aus den staatlichen Gewährungen zu ermöglichen, auch eine reale Abhängigkeit des Einzelnen vom Staat hervor.407 Im Verhältnis zwischen den positiven sozialen Grundrechten und den negatorischen abwehrrechtlichen Freiheitsrechten besteht manchmal ein Widerspruch. Notwendigerweise geht mit der sozialen grundrechtlichen Umdeutung der Freiheitsrechte der Zuwachs der staatlichen Eingriffs- und Regelungsbefugnisse einher. Das sich mit den sozialen Grundrechten verbindende Interesse, die Freiheitsentfaltung von Einzelnen möglichst effektiv zu gestalten, kollidiert notwendigerweise mit den Grenzen der Freiheitsrechte anderer Individuen. Dies führt zu einem beklagenswerten Selbstwiderspruch der Grundrechte.408 Die Freiheitsrechte, die durch die sozialen Grundrechte umgedeutet werden, entwickeln sich tendenziell zu zusätzlichen und freiheitsbeschränkenden Eingriffsbefugnissen.409 Die Verwirklichung der sozialen Grundrechte kann oft nur durch Einschränkung der Möglichkeiten anderer Bürger gewährleistet werden. Demzufolge widerspricht die generelle Umdeutung der Freiheitsrechte in „positive“ und „reale“ Freiheit gewährleistende originäre soziale Grundrechte im Sinne eines gerichtlich durchsetzbaren Individualanspruchs dem Grundgesetz. Die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte behauptet stets ihren Vorrang gegenüber den sozialen Grundrechten, und in der Abfolge stehen die sozialen Grundrechte für die Ergänzung der überkommenen liberalen Grundrechte. Angesichts dessen wird häufig nahegelegt, die Leistungskomponente der objektiven Grundrechtsfunktionen nicht als soziales „Grundrecht“ anzusehen, sondern vielmehr als objektiven Auftrag des Staates, damit klar wird, dass hieraus kein subjektiver Anspruch erwächst.410 bb) Einschränkung des parlamentarischen politischen Spielraumes Die Entscheidung über die konkretisierende Ausgestaltung der in soziale Grundrechte umgedeuteten Freiheitsrechte ergibt sich eigentlich aus der parlamentarischen politischen Entscheidungskompetenz. Entsprechend dem Prinzip der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung sind die diesbezüglichen Entscheidungen den politischen Führungsorganen zugewiesen, womit in erster Linie das für die Gesetzgebung zuständige Parlament angesprochen ist. 407
Murswiek, in: HdbStR V, S. 281. Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG, S. 454 f; Martens, in: VVDStRL 1972, S. 33. 409 Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 698. 410 Murswiek, in: HdbStR V, S. 243 ff. 408
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Sollten die Verfassungsgeber sich entschließen, die sozialen Grundrechte in der Verfassung verbindlich und justitiabel zu verankern, so würde dies zukünftig zu einer Begrenzung der politischen Gestaltungsfreiheit führen: Ein Verständnis der sozialen Grundrechte im Sinne von subjektiven, gerichtlich durchsetzbaren Teilhaberechten hätte eine Erweiterung der Machtbefugnis der Gerichte zur Folge, die in weite Bereiche der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik hineinreichen würde.411 Diese Kompetenzüberschreitung stünde im Widerspruch zum Gewaltenteilungsgrundsatz und zum Demokratieprinzip. Die Festsetzung eines nach Inhalt und Ausmaß konkretisierten Sozialstandards ist eine politische Gestaltungsaufgabe, die nicht im Grundgesetz fixiert ist. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe durch die staatlichen Gerichte würde daher eine mit den Verfassungsprinzipien unvereinbare Kompetenzüberschreitung darstellen.412 Es obliegt vielmehr dem Gesetzgeber, die Einzelheiten der Ausformung der sozialen Grundrechte näher zu regeln, und es wird dann Sache der zuständigen Verwaltungsorgane der Regierung sein, jene konkreten Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die der abstrakt bestimmten sozialen Zielvorgabe der Verfassung dienen. Der Gesetzgeber darf und er muss hierbei Prioritäten setzen. Ansonsten würde den Richtern politische Entscheidungsfindung überantwortet werden. cc) Belastung der politischen Dynamik durch das Sozialstaatsprinzip? Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nicht für die Aufnahme der sozialen Grundrechte in die Verfassung, sondern für das Sozialstaatsprinzip ausgesprochen. Da über die an den Sozialstaat zu stellenden Minimalanforderungen weitgehend Einigkeit herrschte, konnte dieser Weg umso entschlossener beschritten werden. Dem Sozialstaatsprinzip ist aufgrund einer flexiblen Verfassungsinterpretation die Möglichkeit eröffnet, soziale Grundrechte dynamisch auszugestalten. Infolgedessen kann eine sich möglicherweise einstellende Finanzkrise auch nicht in eine Verfassungskrise einmünden.413 Im Vergleich zum Sozialstaatsprinzip sind die sozialen Grundrechte sehr viel konkreter ausgestaltet, sodass sie mehr Anhaltspunkte für die Gewichtung sozialer Belange und Prioritäten liefern können.414 Es kann bei einer von der Verfassung nicht vorhergesehenen Entwicklung zu Fehlgewichtungen kommen.415 Eine mit der verfassungsrechtlichen Ausformulierung der 411 412 413 414 415
Murswiek, in: HdbStR V, S. 282. Murswiek, in: HdbStR V, S. 282. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 687. Böckenförde, in: Soziale Grundrechte, S. 15 ff. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 688.
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sozialen Grundrechte möglicherweise einhergehende unerwünschte Fehleinschätzung ist nur schwer korrigierbar. Diese Korrektur ist jedoch aufgrund einer flexiblen Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips in der einfachen Gesetzgebung und in den Grundsätzen der diesbezüglichen Rechtsprechung eher möglich.416 Die erwähnte Dynamik des Sozialstaatsprinzips würde mit einer verfassungsrechtlichen Ausformulierung der sozialen Grundrechte ihre soziale Triebkraft in Teilen einbüßen. Es ist daher zu beachten, dass die sozialen Grundrechte als unmittelbar vollziehbare Normen (z. B. Ansprüche auf Rente, auf Mindestrente, auf Sozialhilfe), juristisch zu umfangreich und zu kompliziert sind, und daher kaum in einen Verfassungstext eingefügt werden können.417 Das ergibt sich schon daraus, dass die sozialen Grundrechte sich an die wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen sollten. Wären die sozialen Grundrechte also in der Verfassung verankert, müssten in geringen Abständen Verfassungsänderungen durchgeführt werden, um zu vermeiden, dass die Verfassung im Zuge eines Wechsels der sozialen und wirtschaftlichen Lage ihre Aktualität verliert. Vor diesem Hintergrund kann es als nur vernünftig angesehen werden, wenn der Verfassungsgeber die diesbezüglichen Formulierungen vergleichsweise unbestimmt belässt, um auf diesem Wege das „System der sozialen Sicherheit“ auf der Grundlage des Sozialstaatsprinzips ohne restriktive Auflagen offen ausgestalten zu können.418 Von daher kommen in der Regel die konkretisierenden Fassungen der sozialen Grundrechte in der Verfassung nicht in Betracht. Dennoch ist es vorstellbar, dass einige der sozialen Ordnungsnormen einer hinreichenden Konkretisierung zugeführt werden könnten. So zum Beispiel das Verbot von Kindesarbeit, die Vorschriften über die Dauer des Mindesturlaubs, Höchstarbeitszeit oder über betriebliche Mitbestimmung. dd) Verteilungsprobleme Indem die Ressourcen begrenzt sind, wird das Verteilungsproblem auf der Grundlage der sozialen Grundrechte berührt. Werden die materiellen Substrate des menschlichen Verhaltens in die Sicht auf die sozialen Grundrechtsgarantien mit einbezogen, so ergibt sich in diesem Bild, dass die Begrenztheit der verfügbaren Verteilung und der Zuteilung von Ressourcen auch den Umfang der sozialen Grundrechtsgarantie begrenzt. Das bedeutet aber auch, dass die staatliche soziale Verpflichtung nur in dem Maße der Verwirklichung zugeführt werden kann, in dem Inhalt und Ausmaß der Ver416 417 418
Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 699. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 699. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 700.
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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pflichtung dem Umfang der verfügbaren Ressourcen im Vorhinein angeglichen werden. Forderungen, öffentliche Mittel unbegrenzt zur Verwirklichung der sozialen Schutzpflicht des Staates zur Verfügung zu stellen, um somit jedem Bürger unbegrenzt die tatsächlichen Voraussetzungen seiner Freiheitsrechte zu gewähren, schießen indes weit über das Ziel hinaus. Sie übersehen die wirtschaftliche Belastungsgrenze des Staates und den Umfang realer Staatsverantwortung mit Blick auf eine Ausgabenpolitik, die zukünftigen Generationen eine ansprechende Perspektive auf die sozialen Schutzpflichten gewähren muss. ee) Haushaltsbelastung Es darf davon ausgegangen werden, dass der Finanzbedarf hinsichtlich der sozialen Grundrechte die Staatshaushalte künftig zunehmend belasten wird. Die Fülle finanzwirksamer sozialer Verpflichtungen, die sich bei allzu extensiver Auslegung aus der Verfassung ergeben könnten, würde Gesetzgeber und Parlament die erforderliche Flexibilität bei der Verfügung über den Staatshaushalt nehmen.419 Demzufolge meidet der Verfassungsgeber die kostenintensiven Versprechungen der sozialen Grundrechte und sollte nur weichere Formulierungen wählen, welche die „sozialen Grundrechte“ unter den Vorbehalt des Möglichen stellen.420 Vor diesem Hintergrund sind die sozialen Grundrechte in der Verfassung regelmäßig auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Verfassung keine konkrete Bestimmungen über die Höhe der zu gewährenden Leistungen enthalten muss.421 Nachdem die sozialen Grundrechte nur einen einfachgesetzlichen Rang einnehmen, hält der Gesetzgeber es weder für geboten noch für opportun, diese als unmittelbar geltende Anspruchsnormen auf Verfassungsebene auszugestalten. 4. Rechtsprechung Wenngleich das Grundgesetz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die Normierung sozialer Grundrechte im Sinne originärer Leistungsrechte verzichtet hat, bedeutet dies nicht, dass der zugrundeliegenden Idee eines sozialen Grundrechts insgesamt eine Absage erteilt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der Annahme des Bestehens und der möglichen Verletzung sozialer Grundrechte große Zurückhaltung gewahrt 419 420 421
Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 685. Murswiek, in: HdbStR V, S. 267 ff. Jarass, AöR 120 (1995), S. 374.
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und diese überwiegend abschlägig beschieden. Weil eben die sozialen Pflichten in vielen Bereichen wie Bildung, Gesundheitsvorsorge, soziale Sicherheit und Fürsorge dem Staat erhebliche finanzielle Belastungen auferlegen, sind jene verallgemeinerungsfähigen Bestimmungen des Grundgesetzes, die soziale Grundrechte betreffen können, für die unterschiedlichen Bereiche kaum aussagekräftig. Es gilt daher der allgemeine Grundsatz, dass die Erfüllung positiver sozialer Grundrechte unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen. Die soziale Dimension der Menschenrechte wird vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflicht422 und des unmittelbar an die Idee von der Menschenwürde anknüpfenden „sozialen Existenzminimums423 verarbeitet. Aus Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip)424 hat das Bundesverfassungsgericht daher regelmäßig die staatliche Verpflichtung zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein abgeleitet.425 Demnach kann beispielsweise ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip sowie ein Verstoß gegen die staatliche Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 vorliegen, wenn ein gesetzlich Krankenversicherter unter bestimmten Voraussetzungen von der Leistungsgewährung ausgeschlossen wird.426 Dennoch ist das Maß dessen, was unter einem sozialen Existenzminimum zu verstehen ist, sehr variabel. Eine diesbezügliche Bewertung wird Schwankungen unterliegen, die sich aus dem Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ergeben.427 Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich hier zurück, indem es den zuständigen staatlichen Organen einen weiten Einschätzungs-, Bewertungs- und Gestaltungsspielraum einräumt. Die Verletzung einer sozialen Schutzpflicht kann nur dann angemahnt werden, wenn die öffentliche Gewalt ihrer Gewährleistungsverantwortung überhaupt nicht nachgekommen ist. Ansonsten haben nach der Meinung des Bundesverfassungsgerichts die gebotenen sozialen Schutzpflichten „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“, zu stehen.428 422
BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I. BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; 99, 246 (259) – Kinderexistenzminimum I. 424 BVerfGE 1, 97 – Hinterbliebenenrente I. 425 BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 293. 426 BVerfG, 1 BvR 347/98 v. 6.12.2005, Nr. 64 f. 427 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 294. 428 BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus I; BVerfGE 103, 242 (259) – Pflegeversicherung III; BVerfG, 1 BvR 2320/98 v. 10.12.2004, Abs. - Nr. 21. 423
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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Das BVerfG hat nur vereinzelt zu der Frage Stellung bezogen, ob das Grundgesetz die originären Leistungsansprüche aus sozialen Grundrechten gewährt, wenn ihre materielle Absicherung mittels des Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zwingend erforderlich ist. Das Gericht hat beispielsweise in der Numerus ClaususEntscheidung über die Ableitung eines einklagbaren Anspruchs auf Schaffung von Studienplätzen aus Art. 12 GG entschieden.429 Das BVerfG hat sich hinsichtlich der Erweiterung der Ausbildungskapazitäten die Frage gestellt, ob Art. 12 Abs. 1 GG der Funktion eines originären sozialen Grundrechts genügt. Es galt darüber zu befinden, ob sich ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag auf Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des staatlichen Ausbildungsmonopols ergibt.430 In dieser Leitentscheidung gab das Gericht zu erkennen, dass dem Staat eine grundrechtliche Gewährleistungsverantwortung nur hinsichtlich der real verwirklichbaren Voraussetzungen für die im Grundgesetz positivierten Freiheitsrechte zukomme.431 Es könne unter Berücksichtigung des Gedankens der Wesensgehaltsgarantie nur um wesentliche Voraussetzungen für den Freiheitsgebrauch gehen.432 Deshalb hat das BVerfG die Frage angesichts der Tatsache, dass die verfassungsrechtlichen Konsequenzen erst bei evidenter Verletzung dieses Verfassungsauftrags in Betracht kommen, bewusst offen gelassen. In anderen Entscheidungen hat das Gericht diese Fragestellung nicht mehr aufgegriffen. Im Bereich der staatlichen Schutzpflicht bezüglich der Gesundheit hat das BVerfG im Fall „AIDS“ die Beschwerde gegen das gesetzliche Unterlassen der Bundesregierung zur Bekämpfung dieser Krankheit nicht unterstützt.433 Das Gericht trug vor, die staatliche Verpflichtung zum Schutz von Leben und Gesundheit gegenüber den von AIDS verursachten Gefahren leite sich zwar aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 2 Abs. 2 GG her. Dies bedeute aber nicht zugleich, dass die verantwortlichen staatlichen Organe hinsichtlich der Krankheit gänzlich in Untätigkeit verharrt oder nachweislich unzureichende Maßnahmen getroffen hätten.434 Obwohl das Bundesgesundheitsministerium zum Ziel hat, mittels Aufklärung und Kampagnen gegen die Krankheit vorzugehen, bedeutet ein Scheitern dieser Maßnahmen nicht automatisch eine Verletzung der sozialen Grundrechte 429
BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus I. BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus I. 431 BVerfGE 33, 303 (333) – numerus clausus I; auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 291. 432 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 291. 433 BVerfG in: EuGRZ 1987, S. 353 (354) – AIDS. 434 BVerfG in: EuGRZ 1987, S. 353 (354) – AIDS. 430
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des Einzelnen. Obwohl das Bundesministerium für Gesundheit mit Aufklärungsprogrammen und Initiativen präventive Maßnahmen getroffen hat, kann unter der Berücksichtigung der Gewaltenteilung und der damit verbundenen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nicht zwangsläufig auf den Misserfolg dieser Maßnahme und somit die Verletzung der sozialen Grundrechte des Bürgers durch den Staat geschlossen werden.435 Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde eines Transsexuellen gegen ein ablehnendes Urteil des BGH stattgegeben, mit welcher dieser die Umschreibung der Geschlechtsangabe im Geburtenbuch erreichen wollte.436 Das Verfassungsgericht sah in der Entscheidung des BGH eine grundrechtliche Verletzung des Beschwerdeführers nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG als gegeben an. Mit der Entscheidung in der Sache des Transsexualismus vertritt das BVerfG die Auffassung, dass es Ausfluss des Persönlichkeitsrechts des Menschen sei, über sich selbst zu verfügen und dass es ihm unbenommen bleibe, in Eigenverantwortung sein Schicksal zu gestalten.437 Die Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gebieten es, dass der Personenstand des Menschen dem Geschlecht zugeordnet werde, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution angehört.438 Im rechtlichen Umfeld von sozialer Absicherung und Fürsorge hat das Verfassungsgericht in einer Abfolge von Urteilen die an das Existenzminimum geknüpfte Fürsorge als eine nicht zu hinterfragende Pflicht des Sozialstaates herausgestellt: „Die staatliche Gemeinschaft muss ihnen [Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, die sich nicht selber versorgen können] jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung in der Familie oder durch Dritte zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen.“439
Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht auch deutlich gegen eine Verpflichtung des Staates ausgesprochen, sämtliche wirtschaftlichen Unterschiede und Belastungen in der Gesellschaft auszugleichen.440 Darüber hinaus werden vom BVerfG in der Vermittlung durch das Sozialstaatsprinzip die sozialen Rechte sogar im Rahmen der Abwehrrechte ge435
BVerfG in: EuGRZ 1987, S. 353 (354) – AIDS. BVerfG in: EuGRZ, 1979, S. 50 ff. – Transsexuelle. 437 BVerfG in: EuGRZ 1979, S. 50 (51) – Transsexuelle. 438 BVerfG in: EuGRZ 1979, S. 50 (51) – Transsexuelle. 439 BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente; BVerfGE 1, 97 (104 f.) – Fürsorgeentscheidung. 440 BVerfGE 40, 121 (132) – Waisenrente; BVerfGE 97, 332 (349) – Kindergartengebühren; BVerfG, 1 BvR 1629/94 v. 3.4.2001, Abs. 46 – Pflegeversicherung. 436
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sichert. Es sei beispielsweise auf Art. 7 Abs. 4 GG für Privatschulen verwiesen. Desgleichen werden nach Art. 6 Abs. 1 und 4 GG spezielle Leistungsrechte angesprochen, die vom Gesetzgeber ausgestaltet werden müssen.441 Insgesamt lassen sich der Rechtsprechung des BVerfG nur wenige für die Thematik der sozialen Grundrechte verallgemeinerungsfähigen Schlussfolgerungen entnehmen.442 Das Bundesverfassungsgericht hat sich ausweislich obiger Ausführungen in der Tendenz sehr zurückhaltend gegenüber der Annahme eines Bestehens und möglicher Verletzung der sozialen Grundrechte gezeigt. Obwohl die sozialen Grundrechte im Einzelnen vom Bundesverfassungsgericht geprüft wurden, ist das Bestehen oder die Verletzung dieser in der Mehrheit aller Fälle vom Gericht abgelehnt worden. 5. Umfang der sozialen Grundrechte a) Inhalt der sozialen Grundrechte Die sozialen Grundrechte sind im Grundgesetz in folgende drei Kategorien unterteilt: die immateriellen sozialen Grundrechte, die materiellen sozialen Grundrechte und die gesetzliche Ausgestaltung sozialer Grundrechte. Im Grundgesetz finden sich die immateriellen sozialen Grundrechte wie etwa der Anspruch auf Genehmigung von Privatschulen (Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG), der Anspruch auf die Verleihung des Körperschaftsstatus443 (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 4 S. 2 WRV), der Anspruch auf die Gewährleistung des Religionsunterrichts444 (Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG) oder der Anspruch auf Gewährung von Asyl445 (Art. 16d GG). Die sozialen Pflichten des Staates ergeben sich ferner aus dem Petitionsrecht (Art. 17 GG) und den Justizgrundrechten wie Rechtsschutz und rechtliches Gehör (Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG).446 Die materiellen sozialen Grundrechte sind im Grundgesetz für gewöhnlich in den Schadensersatz- und Entschädigungsnormen (z. B. Art. 34 GG, Art. 14 Abs. 3 GG), die Geld oder geldwerte Leistungen versprechen, angesprochen. Indem diese Vorgaben auf vielfache Weise nur von schwankenden 441 BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 84, 133 (156) – Warteschleife. 442 Zum Untermaßverbot vgl. Isensee, in: HdbStR V, S. 232. 443 BVerfGE 102, 370 – Zeugen Jehovas. 444 De Wall, NVwZ 1997, S. 465 ff. 445 Jarass, AöR 120 (1995), S. 368 f.; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 2 S. 2, Rn. 117. 446 Jarass, AöR 120 (1995), S. 350 (355); Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 682.
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Voraussetzungen bestimmt werden können, zu denen beispielsweise situationsbedingte Umstände, die Inflationsrate, die jeweils vorherrschende wirtschaftliche Lage, sowie der jeweils angemessene Bedarf gehören, lassen sich diese Bestimmungen als unmittelbar geltende Anspruchsnormen nur mit Einschränkungen dauerhaft in einer Verfassung verankern.447 Die sozialen Grundrechte können auch als subjektive Rechte formuliert sein, wenn der Gesetzgeber sie zuvor dahingehend ausgeformt hat.448 Daneben finden sich im Grundgesetz einige Grundsätze der sozialen Ordnung in unterschiedlicher Form wie etwa als Programmsätze, Einrichtungsgarantien, Leitprinzipien, Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge.449 Und obwohl zumindest die Einrichtungsgarantien, Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge inzwischen rechtlich konturiert sind und als Rechtsbegriffe anerkannt werden können, fehlt ihnen immer noch eine ausreichende Klarheit.450 b) Garantie des Minimalstandards Gegenstand der sozialen Grundrechte ist nicht der Optimalstandard sozialstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit, für dessen Verwirklichung die Zuständigkeit der Legislative gegeben wäre, „sondern der Minimalstandard der notwendig gebotenen staatlichen Stützung zum Zwecke der Absicherung des Bestehens der grundrechtlichen Freiheit“.451 Die Feststellung des Minimalstandards hat indessen stets in Anlehnung an die Erfordernisse des jeweilig angesprochenen Grundrechts zu erfolgen. Mit dem Hinweis auf den Mindeststandard ist zwar der Umfang einiger von Rechtsprechung und Literatur gleichermaßen anerkannter sozialer Grundrechte angesprochen, dennoch ist hiermit nicht auch schon begründet, warum diese Rechte anzuerkennen sind. Vielmehr ist der Inhalt der sozialen Minimalgarantie für jedes einzelne Grundrecht mit jeweils gesonderten zusätzlichen Einzelargumenten abzustützen. Das so verstandene Postulat der Minimalgarantie würde so in Einzelbestimmungen ausufern. Zum Beispiel ließe sich fragen, ob sich die Kunstfreiheit bei Entbehrung der materiellen Grundlage noch ausüben lasse? Bräuchte der Pianist zur Ausübung seiner Kunst zumindest ein eigenes Musikinstrument? Ergebe sich aus der Garantie der Pressefreiheit ein Anspruch auf die finanziellen Mindestvorausset447
Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 706 f. Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 81 ff. 449 Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 683. 450 Mager, Ute, Einrichtungsgarantien, S. 437; Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 683. 451 Sendler, DÖV 1978, S. 581 ff. 448
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zungen für die Gründung einer Tageszeitung?452 Bislang ist noch von niemandem versucht worden, diese impliziten Ansprüche ernsthaft argumentativ zu untermauern. Aber, es könnten sich im Prinzip besondere Begründungen für die Privatschulen nach Art. 7 Abs. 4 GG453 sowie für die allgemeine Garantie des Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG454 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergeben. Dessen ungeachtet erweist sich die Konkretisierung der Minimalgarantie nach wie vor als schwierig. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass die Verteilungsmasse für die sozialen Grundrechte in der Regel begrenzt ist, lassen sich vernünftigerweise die Ansprüche an soziale Grundrechte nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ verfassungsrechtlich garantieren. Im Prinzip behauptet der „Vorbehalt des Möglichen“ dann seine Geltung, wenn die in Frage stehende Leistung an die grundgesetzlich zu bestimmende Mindestvoraussetzung für eine reale Freiheitsausübung geknüpft ist.455 Dieser Vorbehalt dürfte aber im Hinblick auf die Leistungen praktisch nur in Zeiten der Not ausschlaggebend werden. Dies bedeutet, dass soziale Teilhaberechte nur dann gewährt werden können, wenn dies dem Staat finanziell zuzumuten ist. Bisweilen werden soziale Grundrechte auch nur als Ziele der staatlichen Politik angesehen. Es gilt diesbezüglich hervorzuheben, dass die an die sozialen Grundrechte anknüpfenden Leistungen von der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates oder der gesamtwirtschaftlichen Lage abhängig sind. Vor diesem Hintergrund erreicht der Umfang einer Gewährleistung des Tatbestands sozialer Grundrechte dort seine Grenze, wo die Konjunkturabhängigkeit der sozialen Grundrechte tangiert wird.456 c) Konkretisierungsspielraum Auf Grundlage dessen, dass das Grundgesetz keine verfassungsrechtlich einzufordernde quantitativ exakte Mindestgewährung vorzeichnet, muss der Gesetzgeber die Entscheidungsbefugnis über die verfügbaren Haushaltsmittel im Rahmen der ihm gewährten Gestaltungsfreiheit haben und damit politische Prioritäten setzen.457 Insoweit verfügt der Gesetzgeber über einen 452
Murswiek, in: HdbStR V, S. 285. BVerfGE 75, 40 (62 ff.) – Privatschulfinanzierung I; Starck, in: FG – BVerfG, II, S. 525; Sendler, DÖV 1978, S. 582 ff.; Hardorp, in: Müller/Jeand’Heur, Zukunftsperspektiven der Freien Schule, S. 117 ff. 454 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. II Rn. 26 f.; Starck, in: FG – BVerfG, II, S. 521; Kratzmann, Grundrechte-Rechte auf Leistungen, S. 4 ff., 61 ff. 455 Zum Ganzen Murswiek, in: HdbStR V, S. 287. 456 Martens, in: VVDStRL 1972, S. 30 f; Starck, in: FG – BVerfG, II, S. 518. 457 BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente II; 75, 40 (68 f.) – Privatschulfinanzierung I. 453
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gewissen Konkretisierungsspielraum. Beispielsweise muss der Gesetzgeber das Existenzminimum der sozialen Grundrechtsgarantien unter Berücksichtigung vielfältiger wirtschaftlicher und sozialer Faktoren bestimmen. Die so grundlegenden Rechte wie das Recht auf Wohnung, auf Bildung und ähnlichem sind noch nicht vollzugsfähig. Sie bedürfen vielmehr noch einer inhaltlichen Konkretisierung und Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, damit durch gesetzliche Regelungen die Voraussetzungen und das Ausmaß der Gewährung geschaffen und die Finanzierung sichergestellt werden kann.458 Es gilt zu bedenken, dass die sozialen Grundrechte nicht als einklagbare Rechte verstanden werden können, weil sie keine Grundrechte im juristisch exakten Sinne sind, sondern objektive Pflichten der Staatsorgane in Form von Gesetzgebungsaufträgen, Staatszielbestimmungen, Verfassungsaufträgen und Leitprinzipien darstellen. Diese objektiven Pflichten sind erst dann verletzt, wenn der Staat das Untermaßverbot verletzt, also in keiner oder zu geringer Weise tätig wird. Daher kann das Bundesverfassungsgericht auch nur in solchen Fällen den Konkretisierungsspielraum des Staates hinsichtlich der sozialen Grundrechte beschränken. 6. Wirkung der sozialen Grundrechte a) Verfassungsrichterliche Kontrolle Welche Wirkungen die sozialen Grundrechte in der Rechtspraxis entfalten können, ist zu einem erheblichen Teil von den bestehenden Kontrollmechanismen abhängig. In Deutschland stehen die richterliche und insbesondere die verfassungsrichterliche Kontrolle im Vordergrund.459 Demzufolge ergibt sich ein erheblicher Kompetenzzuwachs für die Rechtsprechung und vor allem für das Bundesverfassungsgericht. Werden die sozialen Rechte nicht als subjektive Rechte ausgeformt, so ist der Kompetenzzuwachs aus prozessualen Gründen geringer. Dieser ergibt sich aber zwangsläufig, wenn die rechtliche Verbindlichkeit der sozialen Grundrechte angestrebt wird.460 Verbleibt der Gesetzgeber im Zustand der Untätigkeit, so kommt dem Richter dann die Aufgabe der sozialen Gestaltung zu. Das Sozialstaatsprinzip kann zwar auf ähnliche Weise wirken, es bleibt aber der Rechtsprechung aufgrund dieser allgemeinen Formulierungen des Sozialstaatsprinzips verwehrt, einen Anhaltspunkt ausfindig zu machen, auf Grundlage dessen sich die konkreten Forderungen an die soziale Gestaltung anknüpfen ließen.
458 459 460
Böckenförde, in: Soziale Grundrechte, S. 10. Zum Ganzen Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 690. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 690 f.
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b) Balance zwischen Freiheitsrechten und Freiheitsbeschränkung Die sozialen Grundrechte beziehen sich im Wesentlichen auf die Aktivitäten des Staates. Einerseits engen die sozialen Grundrechte die staatlichen Aktivitäten ein, andererseits erweitern sie auf gleicher Linie die Befugnisse des Staates.461 Hierbei bilden die sozialen Grundrechte ein reales Gegengewicht gegenüber den reinen Freiheitsrechten. Darum wirken die sozialen Grundrechte zum Teil auch freiheitseinschränkend, da sie die Möglichkeiten eines staatlichen Eingriffs zugunsten der Realisierung der sozialen Grundrechte erweitern.462 c) Auftrag an den Gesetzgeber Den Gesetzgeber ist bezüglich der sozialen Grundrechte vom Auftrag betroffen, diese in einfachen Gesetzen zu konkretisieren. Es gründet in dem Umstand, dass der Einzelne sich nicht unmittelbar auf die sozialen Grundrechte, wie etwa nach Art. 6 GG, berufen kann. Kommt der Gesetzgeber seiner Verpflichtung zur Konkretisierung nicht hinreichend nach, kann eine Individualverfassungsbeschwerde wegen beharrlicher Missachtung der sozialen Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht sich als zulässig erweisen. d) Verfassungsgarantie des „sozialen Besitzstandes“ und verfassungskonforme Auslegung Die gesetzlichen Regelungen, die im Zuge der Erfüllung verfassungsrechtlicher sozialer Pflichten ergangen sind, dürfen nicht ohne weiteres rückwirkend wieder entkräftet werden. Obwohl die Modifizierung oder Rücknahme von sozialen Leistungen nicht ausgeschlossen ist, muss sich eine solche trotzdem immer in gewissen Grenzen bewegen. Diese Beschränkung des Gesetzgebers bildet die Ursache nicht nur für das objektive Verbot einer späteren entgegengesetzten Gesetzgebung, sondern auch zuweilen für die Akzeptanz des subjektiven Abwehrrechts der Begünstigten.463 Sollte die Begünstigung entgegen der verfassungsrechtlichen Pflicht außer Kraft gesetzt werden, so bleibt es den Begünstigten auf Grundlage der sozialen Grundrechte unbenommen, den Weg der Verfassungsbeschwerde mit Aussicht auf Erfolg zu beschreiten. Auf diese Weise stellen die sozialen Grundrechte eine Verfassungsgarantie des „sozialen Besitzstandes“464 dar und 461 462 463 464
Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 691. BVerfGE 57, 70 (99). Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 693. Rüfner, Leistungsrechte, in: HdbGR II, S. 693.
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können zur Nichtigkeitserklärung solcher der Verfassung widersprechender einfachgesetzlicher Vorschriften führen. Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung stets die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzesrecht, um eine Nichtigkeitserklärung wegen Verstoß gegen soziale Grundrechte oder die Beanstandung von Gesetzesrecht weitestgehend zu vermeiden. II. Soziale Grundrechte in der EMRK 1. Zur besonderen Problematik Die sozialen Grundrechte ergeben sich letztendlich aus der erweiternden Entfaltung der objektiven Dimensionen der Menschen- und Grundrechte. Die Notwendigkeit einer solchen Entfaltung ergibt sich vor dem Hintergrund der Begrenztheit menschlicher Befähigungen und Möglichkeiten, mit den Lebensbedingungen und Überlebensbedingungen nach Maßgabe eines allgemein anerkannten kulturellen Standards überein zu kommen. Es gilt demnach, die drohenden Gefahren für Leib und Leben, die sich infolge von Schicksalsschlägen, von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, von Industrialisierung und Technisierung in einer modernen Gesellschaft, von Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Bürokratisierung, Verfremdung und Überfremdung einstellen können, zu bannen oder zumindest sozialverträglich abzufedern. Die sozialen Grundrechte können als Reaktion auf das Verhältnis des körperlichen und psychischen Daseins des Individuums zur modernen Gesellschaft und Umwelt betrachtet werden. Von dieser Herausforderung sind zum einen die freie Entfaltung der geistigen und seelischen Fähigkeiten und der Persönlichkeit betroffen. Darüber hinaus werden auch die äußeren Faktoren des physischen Daseins wie Gesundheit, Wohnung, Erholung, Freizeit und der Schutz vor Umweltgefahren angesprochen. Diese Aspekte berühren auch die Stellung des Einzelnen in Familie und Gesellschaft und tangieren auch den Bereich von sozialer Sicherheit und gebotener Fürsorge.465 Zur Zeit der Ratifizierung der EMRK herrschte unter den Vertragsstaaten Einvernehmen darüber, allein die Freiheitsrechte, bestimmte Verfahrensgarantien und politische Mitwirkungsrechte zu gewährleisten.466 Damals bestand ein weitreichender Konsens darüber, dass die politische Etablierung der Demokratie in den Vertragsstaaten der EMRK vorrangig abzusichern ist und erst dann der Wirtschaftsraum noch vor der Realisierung einer gemein465 466
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 311. Krieger, in: EMRK/GG, S. 313.
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samen „sozialen Demokratie“ zu koordinieren ist. Aus dieser Perspektive erschienen die sozialen Grundrechte vorwiegend als moralisch oder politisch zu erhebende Anforderungen und nicht so sehr als rechtlich justiziable Normen. Folglich musste ihre Handhabung einer künftigen Entwicklung vorbehalten bleiben.467 In der Folgezeit haben die sozialen Verbürgungen zwar in den Zusatzprotokollen der Konvention eine Ergänzung erfahren. Aber die nach wie vor vage Ausgestaltung der sozialen Grundrechte bedingt die bis heute anhaltende Zurückhaltung bezüglich der verfassungsrechtlichen Verankerung sozialer Grundrechte auf nationaler und europäischer Ebene.468 Zudem wurde das Bemühen um die rechtliche Fundierung der sozialen Grundrechte über einen längeren Zeitraum hinweg als eine mögliche Bedrohung für den liberal-individualistischen Konstitutionalismus angesehen.469 Die Aufnahme sozialer Grundrechte in die EMRK ist in erster Linie an folgende Problematik geknüpft: Die sozialen Grundrechte wirken in der Tendenz nicht allein hinsichtlich eines Ausgleichs naturbedingter Unterschiede unter den Menschen, sondern sie stehen ebenso den aus dem Zusammenwirken der Gesellschaftsteile sich unvermeidlich ergebenden Ungleichheiten entgegen. Eine wirtschaftliche Umverteilung der vorhandenen und begrenzten verfügbareren Ressourcen schließt im Vorhinein die Beeinträchtigung klassischer Freiheitsrechte nicht aus.470 Auf Ebene der EMRK erfährt das Problem eine Verschärfung dadurch, dass in den Vertragsstaaten der EMRK unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten vorherrschen, so dass die länderübergreifende Anerkennung und Realisierung der sozialen Grundrechte auf Grundlage finanziell ungleicher Belastung in den einzelnen Vertragsstaaten dann problemstiftend wirkt. Des Weiteren gewährleistet das Konventionssystem, dass jedem sich in einem Vertragsstaat aufhaltenden Individuum die zugestandenen Konventionsrechte zukommen, unabhängig von seinem Status und seiner Staatszugehörigkeit.471 Die davon berührte Anforderung an die Harmonie und Klarheit des Konventionssystems ließe sich nur sehr schwer aufrecht erhalten, wenn die objektive Dimension der Menschen- und Grundrechte allgemein und insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte stetig erweitert würde.472 467
Zum Ganzen siehe Krieger, in: EMRK/GG, S. 313. Friauf, DVBl. 1971, S. 674 ff. 469 Wildhaber, Soziale Grundrechte, in: GS Imboden, S. 371 f. 470 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 312. 471 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 312. 472 Ryssdal, in: Matscher, Die Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, S. 3 f. 468
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Darüber hinaus sind die sozialen Rechte bereits auf europäischer Ebene in die Europäische Sozialcharta (ESC) eingegangen und festgeschrieben. Im Wortlaut ist die Sozialcharta deutlich zurückhaltender als die EMRK; bemerkenswerterweise wird es vermieden, die subjektiven sozialen Rechte des Einzelnen zu umreißen. Der Mechanismus, der über die Erfüllung der Sozialcharta wacht, ist bedauerlicherweise nur von politisch beobachtender Natur.473 Mit Rücksicht auf diese oben genannten Sachzwänge wird es nachvollziehbar, dass es auf der Ebene der EMRK sehr schwierig sein dürfte, soziale Grundrechte herzuleiten. 2. Rechtsprechung a) Allgemeine Ablehnung der sozialen Grundrechte auf Ebene der EMRK In einer Abfolge von Entscheidungen hat der EGMR das Bestehen sozialer Grundrechte im Sinne originärer Leistungsanrechte auf EMRK Ebene verneint. So haben der EGMR und die Kommission beispielsweise den Anspruch auf eine Wohnung nach Art. 8 EMRK oder ein subjektives Recht auf Arbeit wiederholt ausdrücklich abgewiesen.474 Ebenso lehnte das Gericht den Anspruch auf finanzielle Unterstützung auf Grundlage der konventionsrechtlichen Garantie ab. Der EGMR begründet dies damit, dass die sozialen Pflichten wegen der real unterschiedlichen finanziellen Befähigungen der einzelnen Vertragsstaaten keine juristischen sondern eher politisch zu entscheidende Fragen sind.475 Davon ist gleichermaßen das Recht auf ein Existenzminimum betroffen, das von dem Straßburger Organ mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es in der EMRK an einer ausdrücklichen Vorschrift zum Schutz der Menschenwürde fehlt.476 Ferner wird vom EGMR beispielsweise den Mitgliedern einer Minderheit, wie der Roma, der Anspruch auf eine ausreichende Zahl angemessener Lagerplätze nach Art. 8 EMRK nicht zugestanden.477 Wenngleich sich einige zustimmende Hinweise der Spruchpraxis der EMRK entnehmen lassen, die auf staatlichen Minimal473
Zum Ganzen Krieger, in: EMRK/GG, S. 314. EGMR Rep. 2001-I, 41, § 99 – Chapman; Nr. 24882/94, § 110 – Beard; Nr. 24876/94, § 113 – Coster; Nr. 25289/94, § 111 – Lee; Nr. 25154/94, § 106 – Jane Smith. 475 Krieger, in: EMRK/GG, S. 315. 476 Siehe z. B. EKMR DR 3, §§ 30–32 – Müller; EGMR Nr. 40772/98, § 2 – Pancenko (1999); Nr. 58830/00 – Sarmina und Sarmin (2005); auch Frowein, in: Aspects of the Protection of Individual and Social Rights, S. 203 ff. 477 EGMR Rep. 2001-I, 41, § 115 – Chapman; Nr. 24882/94, § 109 – Beard; Nr. 24876/94, § 128 – Coster; Nr. 25289/94, § 116 – Lee. 474
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
147
gewährleistungen, wie im Fall schwerwiegender Erkrankung geschehen,478 abheben, hält der EGMR die Frage nach einer Pflicht zur Gewährleistung eines Mindeststandards an medizinischer Versorgung nach Art. 2 EMRK bisher noch offen.479 b) Die im Ausnahmefall erfolgte Anerkennung einzelner sozialer Grundrechte Abweichend vom Regelfall lassen sich in der Rechtsprechung des EGMR Ansätze finden, in denen sich die sekundären Leistungspflichten zum sozialen Grundrechtsschutz aus den primären Freiheitsrechten herleiten, um hiermit die materiellen Voraussetzungen zur effektiven Verwirklichung der Freiheitsrechte fundieren zu können. Die Rechtsprechungsorgane der EMRK haben im Fall Airey480 ausgeführt, dass die Konvention mit Blick auf den faktisch wirksamen Schutz für den Einzelnen „im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse“ ausgelegt werden müsse, und dass die in der Konvention erklärten Freiheitsrechte mitunter auch Elemente und Auswirkungen sozialer Natur umfassten.481 Die Annäherung einer Konventionsauslegung durch die Konventionsorgane an die Sphäre sozialer Grundrechte lässt sich grundsätzlich nicht ausschließen, denn das Trennende zwischen den zwei Rechtssphären, soziales Grundrecht und Abwehrrecht, gleicht eher einem fließenden Übergang.482 Teilweise wird erörtert, einen Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Rückgriff auf Art. 6 EMRK zu entwickeln. Desgleichen ist das Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich an die Adresse des Staates mit der Aufforderung zu verbinden, die zu gewährleistenden positiven Maßnahmen zu ergreifen. Mit Blick auf die Garantie des Existenzminimums nach Art. 3 EMRK hat das Straßburger Gericht einem Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung unmissverständlich entsprochen.483 Ein Anspruch auf kostenlose Grundschulausbildung ließe sich zumindest gleichermaßen begründen, indem sie sich aus dem Abwehrrecht gegen den Abbau von Grundschuleinrichtungen oder aus dem Recht auf gleichen Zugang ergibt.484 Obwohl diese zarten Ansätze der Ausbildung originärer so478
EGMR Nr. 36448/97 – Marzari. EGMR Rep. 2001-IV, 1, § 219 – Zypern vs. Türkei; Krieger, in: EMRK/GG, S. 314. 480 EGMR A 32, § 26 – Airey (= EuGRZ 1979, 626 ff.); Rep. 2000-XI, 373, § 56 – Annoni di Gussola u. a. 481 EGMR A 32, § 26 – Airey (= EuGRZ 1979, 626 ff.); Rep. 2000-XI, 373, § 56 – Annoni di Gussola u. a. 482 EGMR A 32, § 26 – Airey (= EuGRZ 1979, 626 ff.); Rep. 2000-XI, 373, § 56 – Annoni di Gussola u. a.; Krieger, in: EMRK/GG, S. 315. 483 EGMR, Nr. 29392/95, v. 10.05.2001 – Z. u. a vs. das Vereinigte Königreich. 479
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
zialer Grundrechte im Belgischen Sprachenfall485 vom EGMR wieder rückgängig gemacht werden, hat der EGMR in diesem Fall zumindest das Recht auf Zugang zur Teilnahme der im jeweiligen Zeitpunkt bestehenden öffentlichen Schulen und Unterrichtsmöglichkeiten bestätigt. 3. Umfang der sozialen Grundrechte in der EMRK a) Inhalte der sozialen Grundrechte Bei einer inhaltlichen Betrachtung der sozialen Grundrechte fällt auf, dass soziale Positionen des Einzelnen durch die Konventionsorgane regelmäßig mittels anderer Grundrechtsfunktionen (die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Drittwirkung der Grundrechte, sowie die organisations- und verfahrensrechtliche Schutzwirkung) geschützt werden. Die EMRK enthält beispielsweise mit dem nach Art. 11 EMRK gewährleisteten Recht auf Koalitionsfreiheit eine ausdrückliche soziale Verbürgung in der Ausformung eines Abwehrrechts.486 Die soziale Komponente des Grundrechtsschutzes wurde häufig im Wege einer entsprechenden Auslegung der Freiheitsrechte erreicht. So wurde der vom Wortlaut her als Abwehrrecht formulierte Art. 8 EMRK dahingehend ausgelegt, dass er auch die staatliche soziale Verantwortung im Bereich des Familienrechts enthielt.487 Im Fall Marckx hat der EGMR bezüglich des Verhältnisses der Mutter zu ihrem nichtehelichen Kind den rechtlich notwendigen Schutz des Familienlebens bestätigt.488 Mittlerweile hat der EGMR die soziale Not als einen möglicherweise entwürdigenden Zustand nach Art. 3 EMRK anerkannt.489 Die sozialrechtlichen Ansprüche des Individuums werden vom EGMR durch die verfahrensrechtliche Komponente des Grundrechtsschutzes sichergestellt.490 Zur Anerkennung gerichtlich durchsetzbarer, sozialrechtlicher Ansprüche zieht der EGMR auch Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls heran.491 484
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 105 ff. EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall. 486 Krieger, in: EMRK/GG, S. 316. 487 Dröge/Marauhn, in: Soziale Grundrechte in der EU, S. 86; Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 91 ff. 488 EGMR A 31, § 19 – Marckx; A 87, § 33 – Rasmussen; A 112, § 55 – Hohnston u. a.; A 130 § 1 – Olsson; A 138, § 21 – Berrehab. 489 EGMR Rep. 2001-V, 1, §§ 69 ff. – Z u. a. vs. Vereinigtes Königreich. 490 So EGMR A 99 – Feldburgge; A 100 – Deumeland; A 257 – E-Salesi; A 263 – Schuler-Zgraggen; A 265-B – Massa; Rep. 1996-IV, 1158 – Süßmann; Rep. 1997-III, 881 – Pauger. 491 Siehe EGMR Rep. 2002-III, 317, § 40 – Burdor; EGMR Nr. 63995/00, § 58 – Kukalo. 485
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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b) Garantie eines sozialen Mindeststandards Obwohl sich die Rechtsprechung selten ausdrücklich mit den sozialen Mindeststandards beschäftigt hat, haben sich doch in einigen wenigen Fällen aus der Konvention Hinweise auf die sozialen Mindeststandards ergeben. Dazu gilt es, die Fragen zu beantworten, welche sozialen Mindeststandards durch die Konvention gewährleistet werden und wo die Grenzen des sozialen Schutzes gezogen werden. Zu den einhellig anerkannten Mindeststandards gehören das Recht auf Prozesskostenhilfe und das Recht auf besondere konkrete soziale Leistungen, im Zuge derer die Menschenwürde des Grundrechtsträgers oder der Kernbereich seiner Rechte geschützt werden kann.492 Wie im Fall Airey geschehen, hat sich bislang das Recht auf konkrete soziale Leistungen nur aus Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) ergeben, da diese Konventionsvorgabe die Menschenwürde am unmittelbarsten schützt. Es gilt als weiterhin nicht ausgeschlossen, dass die sozialen Mindestverpflichtungen nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) erfolgen können, insofern die hohe Schwelle des Art. 3 EMRK (der Beeinträchtigung der Menschenwürde) gewahrt bleibt.493 Insgesamt wahrt die Rechtsprechung bei der Auslegung der Konventionsrechte hinsichtlich des sozialen Mindeststandards weitgehend Zurückhaltung. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass die sozialen Grundrechte außerordentlich schwer konkret zu fassen sind und zudem der Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung keine Entwicklung anstoßen will, die Gefahr läuft, auszuufern. Dennoch macht die Rechtsprechung deutlich, dass unter gewissen Voraussetzungen eine soziale Leistung in Form eines sozialen Mindeststandards zu fordern ist. c) Konkretisierungsspielraum der Vertragsstaaten Nach der Straßburger Rechtsprechung kann hinsichtlich der sozialen Grundrechte ein individuelles Recht auf Konkretisierung durch den Gesetzgeber bestehen, damit die nur abstrakt formulierten Grundrechte in der sozialen Wirklichkeit eine angemessen konkretisierende Ausgestaltung durch die Rechtsordnung erfahren. Die staatliche Pflicht zur gesetzlichen Konkretisierung der Konventionsrechte gehört zu den weitreichendsten staatlichen Pflichten in der Konvention. Von ihnen ist in erster Linie die jeweilige staatliche Legislative unmittelbar angesprochen, da sie die materiellen Vorgaben zur Formulierung der Gesetze macht. Diese staatlichen Pflichten sind gleichzeitig die am 492 493
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 156. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 156.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
schwersten zu beschreibenden objektiven Schutzfunktionen der Menschenund Grundrechte, da die Konventionsorgane hier in ihrem Bemühen, nicht zu weit in die nationalen Kompetenzen der Parlamente einzugreifen, stets große Zurückhaltung üben.494 Daran knüpft sich die Frage, wie weit die Konventionsrechte in den nationalen legislativen Spielraum hineinwirken dürfen. Einesteils sind die Ansprüche auf rechtliche Konkretisierung der sozialen Grundrechte zunächst von formeller Bedeutung. Es liegt primär in der Kompetenz des nationalen Gesetzgebers, die Rechte der EMRK vorbehaltlich der eingeschränkten Überprüfungskompetenz des europäischen Gerichtshofs auszugestalten. Anderenteils können den Urteilen des Gerichtshofs teilweise auch konkrete materielle Vorgaben für den Gesetzgeber entnommen werden. Gegen ein absolutes Unterlassen der Verwirklichung durch die Konventionsstaaten sind die Konventionsrechte durch das materielle Untermaßverbot geschützt, da der Gerichtshof zu keiner Zeit an die Definition des nationalen Gesetzgebers gebunden ist.495 Infolgedessen hat sich im Wirkungsbereich der Konvention ein individuelles Recht auf Normerlass ergeben: Sofern der Einzelne mit Erfolg konkret die ungenügende Umsetzung oder das völlige Untätig Bleiben des Gesetzgebers bei der Umsetzung der Konventionsrechte vorbringen kann, hat er auf Grundlage der EMRK einen Anspruch auf den Erlass einer Rechtsnorm, um den Mindeststandard der Konventionsrechte in seinem Land zu gewährleisten. Außerdem ist dem Staat die soziale Verpflichtung auferlegt, die Teilhabe an den staatlichen Leistungen abzusichern (z. B. nach Art. 2 und 10 EMRK und Art. 2 1. Zusatzprotokoll und 14 EMRK in Verbindung mit den materiellen Rechten). Diese Rechte bedeuten insofern die größere Einschränkung für den staatlichen Spielraum, als sie zumeist konkrete finanzielle Belastungen für den Staat nach sich ziehen.496 Anderseits ergibt sich aus den Rechten auf Teilhabe immer nur ein Anspruch auf Zugang zu schon bestehenden Leistungen. Demzufolge ist dem Staat immer noch ein genügend großer Spielraum für die Umsetzung dieser Rechte gewährt.497 4. Zusammenfassung Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof bei der Annahme sozialer Grundrechte weitgehend 494 495 496 497
Dröge, Dröge, Dröge, Dröge,
Positive Positive Positive Positive
Verpflichtungen Verpflichtungen Verpflichtungen Verpflichtungen
der der der der
Staaten Staaten Staaten Staaten
in in in in
der der der der
EMRK, EMRK, EMRK, EMRK,
S. S. S. S.
87 f. 100. 155. 155 f.
Kap. 2: Leistungs-/Teilhabekomponenten der Menschenrechtsfunktion
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Zurückhaltung gewahrt haben. Im Einzelfall erweist sich die Rechtsprechung bei dem Spagat zwischen gebotener Zurückhaltung und Intervention gegenüber einem Mitgliedstaat als sehr schwierig und komplex. Die Konventionsorgane sind darum bemüht, ein Gleichgewicht zwischen der freien, sich selbst regulierenden Marktwirtschaft und dem modernen Wohlfahrtsstaat hinsichtlich des Ausgleichs der miteinander widerstreitenden Interessen zu wahren. Die Beurteilungs- und Ermessensspielräume in den einzelnen Staaten sind für gewöhnlich weit gefasst, insbesondere wenn der wirtschaftlichen Leistungskraft eines Vertragsstaates notwendigerweise Berücksichtigung widerfahren muss. Auf vielen Gebieten, wie beispielsweise hinsichtlich der Rechte von Transsexuellen, sind die Standards der EMRK im Vergleich zu den Entwicklungen auf nationaler Ebene bislang vergleichsweise rückschrittlich gewesen. Deshalb bleibt es für den Gerichtshof weiterhin schwierig, sich bei seiner Urteilsfindung an einem in allen Mitgliedsstaaten allgemein anerkannten Konsens zu orientieren.498
B. Abgeleitete Teilhaberechte auf Gleichbehandlung Neben die originären Leistungsrechte treten bei der Kategorie der Leistungs- und Teilhabekomponenten der objektiven Grundrechtsfunktionen die abgeleiteten Teilhaberechte, die auf die chancengleiche Gewährleistung bestimmter Freiheiten abzielen.499 Die dementsprechende Zurechnung ergibt sich, wie im Falle aller anderen Gleichheitsrechte, aus den gleichen Beteiligungschancen an den vorhandenen staatlichen Leistungen bei begrenzten Ressourcen, zu denen beispielweise die Universitäten und sonstigen öffentlichen Einrichtungen gezählt werden. Die derivativen Teilhaberechte ergeben sich aus dem Gleichbehandlungsgebot, dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz, der Eigentumsgarantie oder aus den Freiheitsrechten.500 Es kann nicht jeder Begünstigte auf Grundlage der derivativen Teilhaberechte wegen eines Wegfalls der Begünstigung einen Anspruch auf staatliche Leistung erheben. Dem Einzelnen steht erst dann ein Anspruch zu, wenn der Staat die Verteilung einer begrenzten Ressource willkürlich verweigert und das zuständige Staatsorgan sich eigentlich bereits zu einer generellen Verteilung dieser Ressource gegenüber allen Bürgern entschlossen hatte.501 Es gilt zu bedenken, dass es sich bei dem Teilhabeanspruch um einen bedingten Anspruch handelt, der nur dann gel498 499 500 501
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 321. Michael/Morlok, Grundrechte, S. 262. Krieger, in: EMRK/GG, S. 320. Murswiek, in: HdbStR V, S. 272.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
tend gemacht werden kann, wenn die Haushaltslage dies zulässt. Auf diese Weise kann auch Konflikten zwischen den durchsetzenden Gerichten und den für die Haushaltslage zuständigen Staatsorganen vorgebeugt werden, da sowieso kein über die zur Verfügung stehenden Mittel hinausgehender Anspruch bestehen kann. I. Derivative Teilhaberechte im GG Nach deutscher Rechtsprechung gehen die derivativen Teilhaberechte vornehmlich aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung hervor. Hierzu gehören jene Ansprüche, die sich aus dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit ergeben, insbesondere bei der Nutzung öffentlicher Einrichtungen. Des Weiteren sind Fälle von Gleichstellungsklagen und gleichheitswidrigem Begünstigungsausschluss durch das Gesetz erfasst.502 Im deutschen Recht finden sich beispielsweise weitere Anwendungsbereiche wie die Gewährung von Subventionen und die Parteienfinanzierung.503 Abweichend von den originären Teilhaberechten, den sozialen Grundrechten, zielen die derivativen Teilhaberechte nicht auf sozialstaatliche Umdeutung von Freiheitsrechten in Teilhaberechte, sondern es geht um die Gewährleistung rechtsstaatlicher Gleichheit und Freiheit: Wenn ein Leistungsanspruch die Gewährleistung rechtsstaatlicher Gleichheit und Freiheit betrifft, dann verstößt ein vorheriges diese Leistung verletzendes Staatshandeln entweder gegen Art. 3 GG (Recht auf Gleichheit) oder gegen Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit) bzw. gegen Art. 14 GG (Recht auf Eigentum).504 II. Derivative Teilhaberechte in der EMRK Mit Blick auf einige Konventionsnormen hat der EGMR die derivativen Teilhaberechte ebenfalls anerkannt oder doch zumindest zum Gegenstand der Erörterung gemacht. Im Fall der Belgischen Sprachen505 hat der EGMR auf Grundlage des Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK darauf abgestellt, dass der Zugang zu gleichen Bedingungen bereitgestellt werden muss, soweit ein Vertragsstaat besondere Lehranstalten eingerichtet hat. Im Fall Petrovic506 hat der EGMR den Anspruch auf Erziehungsgeld für Väter 502 503 504 505 506
Krieger, in: EMRK/GG, S. 321. Krieger, in: EMRK/GG, S. 320. Murswiek, in: HdbStR V, S. 278. EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall. EGMR Rep. 1998-II, 579, § 47 – Petrovic.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
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nach Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK verneint. Im Fall der Staatenbeschwerde Zypern vs. die Türkei507 hat der EGMR nach Art. 2 EMRK ein derivatives Teilhaberecht an der im allgemeinen bereits zur Verfügung gestellten medizinischen Versorgung anerkannt, weil ein Staat das Leben des Einzelnen ansonsten gefährden würde. Den Vertragsstaaten kommt prinzipiell ein weitgefasster Beurteilungsspielraum bezüglich der Gewährung von derivativen Leistungsrechten zu, denn die Ausgestaltung nationaler Sozial- und Wohlfahrtpolitik obliegt den Vertragsstaaten.508 Dennoch kann ein vertragsstaatlicher Konsens dazu führen, dass der nationale Beurteilungsspielraum im Einzelfall Beschränkungen unterliegt.509 Kapitel 3
Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung Der Begriff der „objektiven Grundrechtsfunktionen“ erfasst ebenso die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Menschenrechte.510 Der Grundrechtsschutz verlangt geeignete Verfahrensvorkehrungen und Verfahrenssicherungen, vermittelst derer der grundrechtlich normierte Rechtszustand in der „sozialen Wirklichkeit“ zu realisieren ist. Der Staat ist dazu verpflichtet, die Grund- und Menschenrechte auf dem Wege der prozessualen Absicherung effektiv zu gewährleisten. Im Verhältnis von Grundrechten zu Organisation und Verfahren sind zumindest zweierlei Aspekte zu unterscheiden: Zunächst gibt es die ausdrücklich normierten, echten Verfahrensgarantien des Grundgesetzes oder der EMRK.511 Das mit wichtigste Beispiel hierfür sind die Justizgrundrechte, besonders die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG.512 Zum anderen ergeben sich Verfahrens- und Organisationsgehalte auch aus den materiellen Grund- oder Menschenrechten.513 In diesem Zusammenhang beinhalten die nicht ausdrücklich normierten Organisations- und Verfahrensregelungen die abhängigen oder bedienenden Voraussetzungen, aufgrund derer die Verwirklichung der allgemeinen Grund- und Menschenrechte sichergestellt werden soll. 507 508 509 510 511 512 513
EGMR Rep. 2001-IV, 1, § 219 – Zypern vs. Türkei. Krieger, in: EMRK/GG, S. 321. EGMR Rep. 1998-II, 579, §§ 38–42 – Petrovis. Krieger, in: EMRK/GG, S. 322. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 167. Schmidt-Aßmann, in: HdbGR I, S. 994. Schmidt-Aßmann, in: HdbGR I, S. 994.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
A. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte I. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte im GG 1. Überblick Um den Verfahrens- und Organisationsgehalt formeller Grundrechte geht es dann, wenn das Verfahren oder die Organisation selbst Gegenstand einer Grundrechtsgarantie sind.514 Als wichtigste Beispiele hierfür lassen sich die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und die Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG anführen. Die staatlichen Gerichte sind angehalten, die Verfahrens- und Organisationsgehalte der formellen Grundrechte bei ihrer Entscheidungsfindung zu beachten. 2. Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Art. 101 Abs. 1 S. 2 und Art. 103 Abs. 1 GG dem Inhalt nach „keine Individualrechte“ wie die Art. 1–17 GG gewährleisten, sondern die „objektiven Verfahrensgrundsätze“ enthalten.515 Insbesondere fungiert der Grundsatz rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG als ein objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren konstitutiv und unverzichtbar ist.516 Nicht zu übersehen ist die Zuordnung der formellen Grundrechte nach Art. 101 und 103 GG zur verfassungsrechtlichen Ausformung der judikativen Gewalt in den Art. 92 ff. GG.517 Die formellen Grundrechte haben neben ihrer prozessualen Dimension ebenso für die staatsorganisatorische Ebene Bedeutung. So sind demnach etwa die „Ausnahmegerichte“ nach Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG unzulässig, und nach S. 2 darf niemand seinem „gesetzlichen Richter“ entzogen werden. Der Art. 101 Abs. 2 GG bestimmt, dass Gerichte für besondere Sachgebiete nur auf dem Wege einer gesetzlichen Regelung eingerichtet werden dürfen.518 514
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 56; Denninger, in: HbdStR V, S. 296. 515 BVerfGE 3, 359 (363) – Tatsachenfeststellung; 12, 6 (8) – Société Anonyme. 516 BVerfGE 55, 1 (6), in: NJW 1980, 2698. 517 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 238. 518 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 238.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
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Diese Bestimmungen regeln die institutionellen Garantien aus der Sicht der objektiven Gerichtsverfassung. 3. Schlussfolgerung In Anlehnung an die obigen Ausführungen weisen die formellen Grundrechte eine objektiv-rechtliche, verfahrensbezogene, sowie eine organisationsbezogene Dimension auf. Darauf aufbauend lässt sich dem Grundgesetz ebenso ein Ansatz zur grundrechtlichen Unterlegung auch verfahrens- und organisationsrechtlicher Grundrechtsdimension entnehmen. Die speziellen formellen Grundrechte können somit eine Brücke vom verfassungsrechtlichen Staatsorganisationsrecht zu einem in den objektiven Grundrechtsdimensionen allgemein zu verankernden „grundrechtlichen Verfahrens- und Organisationsrecht“ schlagen.519 II. Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte in der EMRK 1. Überblick Wie bei den Verfahrens- und Organisationsgehalten formeller Grundrechte des Grundgesetzes enthält die EMRK neben den Freiheitsrechten ebenso die reinen Verfahrens- und Justizgarantien, die als „Selbstzweck“ das staatliche Handeln regulieren. Das Verfahren vor Gericht und die Organisation der Gerichte selbst sind Gegenstand der Grundrechtsgarantie der EMRK. Dazu zählen die Art. 5 Abs. 3 und 4, Art. 6 und Art. 13 EMRK sowie die Sicherung nach dem 7. Zusatzprotokoll der EMRK.520 2. Rechtsprechung Der EGMR hebt die Schutzwirkung der Verfahrensrechte in einer Reihe von Entscheidungen zu den Gewährleistungen nach Art. 5 und 6 EMRK hervor. Insbesondere wird vom EGMR Art. 6 EMRK viel Aufmerksamkeit gewidmet, der wie folgt lautet: „Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat.“ 519 520
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 239. Krieger, in: EMRK/GG, S. 323.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Daraus entwickelt der EGMR die staatliche Pflicht, seine Rechtspflege so auszugestalten, dass sie den Anforderungen des Rechts auf gerichtliches Gehör genügt.521 Nach Art. 6 Abs. 3 EMRK leitet der Gerichtshof hinsichtlich der Rechte des Angeklagten die positiven Handlungspflichten zur effektiven Gewährleistung des Rechts ab.522 Der Leitentscheidung im Fall Airey lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdeführerin konnte, obwohl ihr die rechtlichen Möglichkeiten eines Zugangs zu den Gerichten offen standen, aus finanziellen Gründen keinen Anwalt finden. Angesichts der besonderen Schwierigkeiten, die sich im Verlaufe des Gerichtsverfahrens einstellten, war der Beschwerdeführerin jedoch ohne einen anwaltlichen Beistand die wirksame Wahrnehmung ihrer Rechte nicht möglich.523 Hierzu entschied der Gerichtshof, dass der Staat nicht nur die rechtlichen, sondern auch die tatsächlichen Möglichkeiten eines Zugangs zu den Gerichten abzusichern habe, weil die Konventionsrechte nicht allein theoretisch und illusorisch sondern effektiv zu gewährleisten sind.524 Im Einzelnen führte der EGMR dazu aus: „Zum einen kann ein tatsächliches Hindernis genauso gegen die Konvention verstoßen wie ein rechtliches Hindernis. Außerdem macht die Erfüllung einer Verpflichtung aus der Konvention manchmal ein positives Tun seitens des Staates erforderlich. Unter solchen Umständen kann der Staat nicht einfach passiv bleiben, und es ist kein Raum für eine Unterscheidung zwischen Handlungen und Unterlassungen.“525
Daraus kann im Einzelfall aus der Verfahrens- und Organisationspflicht des Staates folgen, dass dem Rechtsuchenden die unentgeltliche Hilfe eines Anwalts zur Seite zu stellen ist, wenn die Hilfe zur Gewährleistung des wirksamen Zugangs zu den Gerichten unbedingt geboten erscheint.526 Desgleichen überprüfte der EMGR im Fall Goddi vs. Italy527 die behauptete Verletzung der Verfahrens- und Organisationspflicht des italienischen Staates nach Art. 6 Abs. 3 EMRK. Der Gerichtshof betonte, dass es zur Erfüllung der Verpflichtungen nach Art. 6 Abs. 3 c) EMRK nicht genüge, dem mittellosen Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen, der aufgrund seiner Abwesenheit bei der Anhörung im Vorfeld des Verfahrens nur unzureichend zu dem Sachverhalt unterrichtet war. Die effektive und adäquate Verteidigung des Angeklagten sei auf dieser Grundlage nicht möglich gewesen.528 521 EGMR A 81, § 38 – Guincho; A 119, § 18 – Milasi; A 265-B, § 3 – Massa; A 281-C, § 15 – Muti; A 143, § 60 – Martins Moreia. 522 EGMR A 37, § 33 – Artico (= EuGRZ 1980, 662 f.). 523 EGMR A 32, § 26 – Airey vs. Ireland. 524 EGMR A 32, § 26 – Airey vs. Ireland. 525 EGMR A 32, 12, § 24 f. – Airey (= EuGRZ 1979, 626 ff.). 526 EGMR A 32, § 26 – Airey vs. Ireland. 527 EGMR A 76 – Godii vs. Italy. 528 EGMR A 76 – Godii vs. Italy.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
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In einer Abfolge von Entscheidungen sahen sich der Gerichtshof und die Kommission auf Grundlage von Art. 6 Abs. 1 EMRK dazu veranlasst, die angemessene konkrete Verfahrensdauer bei zivil- oder strafrechtlichen Verfahren im Einzelfall zu konkretisieren.529 Obwohl ein diesbezügliches allgemeingültiges Kriterium nicht vorliege, dessen Überschreiten zwangsläufig einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründete, ließe sich dennoch im Einzelfall beurteilen, ob die veranschlagte Verfahrenslänge als angemessen zu bewerten sei.530 Der Gerichtshof hob beispielsweise die organisationsrechtliche Schutzwirkung im Fall Bouamar531 auf. Nach Art. 5 Abs. 1 EMRK ist der Staat gehalten, die Organisations- oder Einrichtungsgarantie zu übernehmen, um dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit und den erzieherischen Zielen des Staates zu genügen.532 Wenn der Jugendliche, wie in diesem Fall geschehen, mehrfach in einem Untersuchungsgefängnis untergebracht wurde, so bewertete der Gerichtshof das als einen unverhältnismäßigen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK.533 Im Fall Bezicheri534 hält der EGMR den Art. 5 Abs. 4 EMRK für verletzt. Der Staat solle seine Rechtspflege an den Anforderungen der Konvention ausrichten.535 Demnach begründet die Überlastung eines Richters noch keine Rechtfertigung dafür, im Gefolge dessen dem Inhaftierten sein Recht auf unverzügliche richterliche Entscheidung bezüglich einer Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung vorzuenthalten wäre.536 3. Schlussfolgerung Nach der Meinung von Kommission und Gerichtshof gilt es bezüglich der Verfahrens- und Organisationsgehalte formeller Grundrechte festzustellen, dass die effektive Umsetzung der in der EMRK bereits bestehenden Verfahrens- und Organisationsrechte ein vorrangiges Anliegen der Rechtsprechungsorgane bildet. Trotz weiter staatlicher Ermessensspielräume im Bereich der reinen grundrechtlichen Verfahrens- oder Organisationsgarantien sind die Anforderungen der EMRK an die Effektivität des staatlichen Verfahrens- oder Organisationsschutzes erheblich. 529 EGMR A 81, § 35 ff. – Guinche vs. Portugal; EGMR A 119, § 15 ff. – Milasi vs. Italy; EGMR A 143, § 60 f. – Martins Moreira vs. Portugal; EGMR A 265-B, § 23 ff. – Massa vs. Italy; EGMR A 281-C, § 13 ff. – Muti vs. Italy. 530 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 302. 531 EGMR A 129, § 52 f. – Bouamar. 532 EGMR A 129, § 52 f. – Bouamar. 533 EGMR A 129, § 52 f. – Bouamar. 534 EGMR A 164, § 25 – Bezicheri. 535 EGMR A 164, § 25 – Bezicheri. 536 EGMR A 164, § 25 – Bezicheri.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
B. Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte I. Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte im Grundgesetz (GG) 1. Überblick Die Verfahrens- und Organisationskomponenten der Grundrechte ergeben sich nicht allein aus den reinen Verfahrensgarantien des Grundgesetzes, sondern sie lassen sich auch aus den materiellen grundrechtlichen Normen des Grundgesetzes herleiten. Mit den Verfahrens- und Organisationsgehalten der materiellen Grundrechte ist gemeint, dass die materiellen Grundrechte auch über eine organisations- und verfahrensrechtliche Dimension verfügen. Dabei ist zu betonen, dass die Verfahrens- und Organisationskomponenten aufgrund ihrer engen Anbindung an die materiellen Grundrechte ebenso verfassungsrechtlichen Rang beanspruchen. Im Rahmen der Verfahrens- und Organisationsgehalte gilt es zwei Kategorien zu unterscheiden, einmal die verfahrensabhängigen materiellen Grundrechte, zum anderen die verfahrensgeprägten materiellen Grundrechte. Deutlich zeigen sich die verfahrensabhängigen materiellen Grundrechte beispielsweise bei dem Grundrecht auf Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe nach Art. 4 Abs. 3 GG und dem Asylgrundrecht sowie dem Petitionsrecht nach Art. 17 GG.537 Darüber hinaus ließen sich Art. 9 Abs. 1, Art. 16 Abs. 2 S. 2, Art. 38, Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 und Art. 9 Abs. 3 GG anführen.538 Die Verwirklichung des materiellen Grundrechtsschutzes ist durch den Unterlassungsanspruch gegen den Staat im Wege der Abwehrfunktion nicht zureichend abgesichert, vielmehr ist dieser in besonderem Maße von den Verfahrens- und Organisationsregelungen aus der objektiven Dimension materieller Grundrechte abhängig. Die verfahrensabhängigen materiellen Grundrechte finden sich hinsichtlich zweier Richtungen näher bestimmt. Zum einen kann eine aktuelle Pflicht des Gesetzgebers angesprochen sein, entsprechende Verfahrensgesetze zu erlassen. Zum Anderen erscheinen sie inhaltlich verdichtet mit Blick auf die Schaffung der spezifischen verfahrensrechtlichen Instrumentarien zur Verwirklichung des materiellen Grundrechts. Die wesentlichen Steuerungsinstrumentarien ergeben sich dabei aus der Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere dem „Untermaßverbot“.539 537 538 539
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 246 ff. Krieger, in: EMRK/GG, S. 324. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 248 f.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
159
Neben den verfahrensabhängigen materiellen Grundrechten tragen zudem die organisations- und verfahrensgeprägten materiellen Grundrechte zur Verwirklichung der Grundrechte bei, indem die materiellen Grund- und Menschenrechte auf die konkrete Ausgestaltung der konkreten Organisations- und Verfahrensbestimmungen ausstrahlen. Im Unterschied zu den reinen grundrechtlich Verfahrensrechten sind die verfahrensgeprägten materiellen Grundrechte für gewöhnlich nicht mit dem Inhalt des Grundgesetzes vorgegeben, vielmehr sind diese im Wege der Auslegung des Wortlauts zu ermitteln.540 Diese verfahrensgeprägten materiellen Grundrechte stellen eine spezielle Ausprägung der staatlichen Schutzpflicht zur Verwirklichung der Grundrechte dar.541 Demzufolge verrät die staatliche Schutzpflicht zur Grundrechtsverwirklichung einesteils eine ausgeprägte Nähe zur Verfahrenspragmatik, indem sie immer auf die Rechtswirklichkeit abzielt.542 Andernteils erfolgt die inhaltliche Steuerung der verfahrensbezogenen Schutzpflicht durch das jeweils damit angesprochene materielle Grundrecht auch unter dem erheblich mitwirkenden Einfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips.543 2. Rechtsprechung Die Rechtsprechung war bereits zu einem frühen Zeitpunkt mit der Ableitung der Organisations- und Verfahrensgehalte aus den „materiellen“ Grundrechten befasst. Im Jahre 1968 hat das Bundesverfassungsgericht anlässlich des Hamburger Deichurteils544 festgestellt, dass die Gewährung des effektiven Rechtsschutzes sich aus dem materiellen Grundrecht des Art. 14 GG als einem ihm wesensmäßig zugehörigen Recht ergibt.545 In einer Abfolge von Entscheidungen hat das Gericht seitdem diesen Ansatz auf die anderen Verfahrensmaterien, insbesondere auf das Verwaltungsverfahrensrecht, ausgedehnt. Die Bedeutung der verfahrensrechtlichen Komponente der materiellen Grundrechte für das Verwaltungsverfahrensrecht zeigte sich vollends im „Mülheim-Kärlich-Beschluss“.546 Im Januar 1975 hatte eine Beschwerdeführerin vor dem Bundesverfassungsgericht gegen einen Beschluss des OVG Rheinland-Pfalz im Zusammenhang mit dem Genehmigungsverfahren für das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich Verfassungsbeschwerde erho540 541 542 543 544 545 546
Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 961. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 253. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 250. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 255. BVerfGE 24, 367 (401 f.) – Hamburgisches Deichordnungsgesetz. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 242. BVerfGE 52, 380 (390) – Schweigender Prüfling.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
ben.547 Das Oberverwaltungsgericht hatte zuvor ihren Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den 7. Freigabebescheid abgewiesen, und dementsprechend die sofortige Vollziehbarkeit dieses Freigabebescheids für den Bau des Werkes bestätigt.548 Gegen diesen Bescheid wendete sich die Beschwerdeführerin, indem sie die Verletzung ihres Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG rügte.549 Der Verfassungsbeschwerde war jedoch ein Erfolg versagt. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts führten diesbezüglich aus, dass eine Grundrechtsverletzung nur dann als erwiesen gelten könne, wenn die Genehmigungsbehörden solche Verfahrensvorschriften unberücksichtigt gelassen hätten, die der Staat zuvor in Erfüllung seiner Pflicht zum Schutz der in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Schutzgüter erlassen habe.550 Dem „Mülheim-Kärlich-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts liegt der Gedanke zugrunde, dass der „Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und dass die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.“551
In dem Hochschulurteil aus dem Jahre 1973 hielt das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von nahezu 400 Hochschullehrern gegen das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz teilweise für begründet: „Dem einzelnen Grundrechtsträger erwächst aus der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind, weil sie ihm die freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.“552
Dabei sind einerseits die Organisationsnormen so auszuführen, dass den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, ein möglichst breiter Raum für ihre freie wissenschaftliche Betätigung gegeben ist, diese aber andererseits ebenso die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.553 Demzufolge ergeben sich aus der Freiheit der Wissenschaft für den einzelnen Wissenschaftler Ansprüche an die staatlichen Maßnahmen organisatorischer Art, zum Beispiel 547 548 549 550 551 552 553
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
53, 53, 53, 53, 53, 35, 35,
30 30 30 30 30 79 79
(57) – Mülheim-Kärlich. (57) – Mülheim-Kärlich. (57) – Mülheim-Kärlich. (57) – Mülheim-Kärlich. (57) – Mülheim-Kärlich. – Hochschule. – Hochschule.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
161
ein Anspruch auf Schaffung der erforderlichen Mitwirkungsrechte und Einflussmöglichkeiten in den Selbstverwaltungsorganen.554 Im Fall Kindesentführung hat das Bundesverfassungsgericht auf die Beschwerde eines Vaters und seiner Kinder hin den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle auf Grundlage des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung aufgehoben.555 Das Bundesverfassungsgericht erkannte daraufhin an, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle den Beschwerdeführer (Vater) in seinem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und die Beschwerdeführer (Kinder) in ihren Grundrechten nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit den Art. 2 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.556 Angesicht der im Verlaufe familienrechtlicher Streitigkeiten nicht mehr ausreichend wahrgenommenen Interessen der Kinder sollte vor den Familien- und Vormundschaftsgerichten ein Verfahrenspfleger für die Kinder nach § 50 FGG beigeordnet werden. Dies war im vorliegenden Verfahren vor dem Oberlandesgericht Celle jedoch nicht geschehen.557 Das BVerfG bezog sich darauf, dass die sich aus den Art. 6 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Pflichten des Staates für das Gerichtsverfahren auch verfahrensrechtliche und nicht nur materiellrechtliche Vorkehrungen zur hinreichenden Berücksichtigung des grundrechtlichen Kinderschutzes erfassen würden.558 Zugleich begründe der Verstoß gegen das Kindeswohl auch einen Verstoß gegen das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.559 3. Schlussfolgerung Wie sich den hier angeführten Urteilen entnehmen lässt, beeinflussen die Grundrechte nicht allein die Ausgestaltung des materiellen Rechts, sondern sie setzen zugleich „Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz verwirklichende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften“.560 Das BVerfG hat die organisations- und verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht nur hinsichtlich der in den dargelegten Fällen betroffenen Grundrechte nach 554
BVerfGE 35, 79 – Hochschule. BVerfGE 99, 145 (164) – Kindesentführung. 556 BVerfGE 99, 145 (164) – Kindesentführung. 557 BVerfGE 99, 145 (164) – Kindesentführung. 558 BVerfGE 99, 145 (164) – Kindesentführung. 559 BVerfGE 99, 145 (164) – Kindesentführung. 560 BVerfGE 69, 315 (355) – Brokdorf; BVerfGE 46, 325 (334) – Zwangsversteigerung II; 49, 220 (225) – Zwangsversteigerung III; 52, 380 (389) – Schweigender Prüfling. 555
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Art. 2 Abs. 2, Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 2 GG anerkannt, sondern diese ebenso in anderen Fällen wie dem Schutz von Ehe und Familie, des Instituts des Eigentums, der Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Berufsfreiheit, der Religionsfreiheit, des Gleichheitssatzes und des Persönlichkeitsrechts hervorgehoben.561 In der überwiegenden Zahl aller Fälle war die Ausgestaltung der Verwaltungsverfahrens Gegenstand des Urteilsspruchs. Die Ableitung der verfahrensrechtlichen Elemente aus den materiellrechtlichen Grundrechtsnormen ergänzt die reinen Verfahrensrechte der Verfassung, und verleiht der grundrechtskonformen Anwendung des reinen Verfahrensrechtes ein sicheres Fundament. Sie garantiert die Wirksamkeit des realen Grundrechtsschutzes, und beugt zudem der Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtspositionen vor. Dementsprechend haben die Organisations- und Verfahrensgehalte zum Schutz der materiellen Grundrechte eine Stellung von ausschlaggebender Bedeutung. II. Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte in der EMRK 1. Überblick Der europäische Gerichtshof hat die für die EMRK geltenden grundrechtlichen Verfahrens- und Organisationsgehalte nicht ausschließlich aus den reinen Verfahrensrechten hergeleitet, sondern er hat diese Gehalte darüber hinaus in den materiellen Grund- und Menschenrechten verankert. Bei den Verfahrens- und Organisationsgehalten materieller Grundrechte geht es um die organisations- oder verfahrensrechtlichen Grundrechtskomponenten mancher Freiheitsrechte, die als solche dem Schutz der materiellen Freiheitsrechte mit dem Ziel der Grundrechtsverwirklichung dienen sollen. Anders als bei den reinen Verfahrensrechten sind die Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte nicht dem Wortlaut der EMRK zu entnehmen. Vielmehr gilt es, diese im Wege der Auslegung zu ermitteln.562 In dieser Hinsicht ergibt sich eine deutliche Parallele zu den Verfahrensund Organisationsgehalten der materiellen Grundrechte im Grundgesetz. 2. Rechtsprechung Gegenstand der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs ist zumeist die Durchführung effektiver disziplinar- und strafrechtlicher Ermitt561 562
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 171. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 961.
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
163
lungsverfahren, während in den Entscheidungen des BVerfG Fragen hinsichtlich der Ausgestaltung von Verwaltungsverfahren überwiegen563 Zu einem wesentlichen Teil betreffen die Entscheidungen des EGMR die Untersuchungspflichten in den Einzelstaaten bei Verstößen ihrer Organe gegen die Art. 2564, 3565 und 5566 EMRK.567 Die Rechtsprechung ist vor allem auf jene Fälle bezogen, in denen Personen durch die Mitwirkung der Staatsorgane ihr Leben verloren haben oder im Laufe der Unterbringung in staatlichem Gewahrsam unauffindbar geworden sind. Dabei spricht der EGMR anlässlich der Leitentscheidung McCann vom verfahrensrechtlichen Schutz des Rechts auf Leben im Rahmen von Art. 2 EMRK.568 Dem Staat ist bei Vorliegen von Rechtsverletzungen die Pflicht auferlegt, wirksame Untersuchungen mit Ziel der Durchsetzung eines effektiven Menschenrechtsschutzes durchzuführen.569 Der EGMR hat im Fall Kaya hervor gehoben, dass der Staat die Rechtmäßigkeit des durch die staatlichen Organe geführten tödlichen Gebrauchs von Gewalt einer Überprüfung zuzuführen ist, damit das allgemeingültige Verbot der willkürlichen Tötung durch staatliche Organe nach Art. 2 EMRK auf Grundlage der staatlichen verfahrensrechtlichen Maßnahmen faktisch wirksam überprüft werden kann.570 Das Gericht folgerte weiter, dass der Art. 2 EMRK widrigenfalls unwirksam wäre: Ein Gesetz, das die willkürliche Tötung eines Bürgers verbiete, wäre praktisch wirkungslos, wenn nicht gleichzeitig ein Verfahren bereit stünde, das die Legalität der Anwendung von Gewalt mit Todesfolge durch den Staat überprüfen kann.571 Der EGMR zitierte aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 EMRK und führte diesbezüglich aus, dass der Staat, sollten durch den Einsatz von staatlicher Gewalt Individuen den Tod erleiden, aufgrund seiner Verpflichtung zum Lebensschutz nach Art. 2 EMRK und zur Achtung vor 563
Krieger, in: EMRK/GG, S. 324. So EGMR A 324, §§ 157 ff. – McCann u. a.; Rep. 1998-VI, 2411, § 98 – Yaa; Rep. 1999-IV, 457, § 101 – Tanrikulu; Rep. 2000-VII, 365, § 104 – Salmann; Rep. 2000-X, 389, § 97 – Akkoc; Nr. 24396/94, § 68-Tas; Nr. 22676/93, § 88 – Gül. 565 So EGMR Rep. 1998-VIII, 3264, § 102 – Assenov u. a.; Rep. 2000-IV, 25, § 131 – Labita; Rep. 2000-VIII, 223, § 101 – Dikme; Nr. 38812/97, § 125 – Poltoratskiy; Nr. 39042/97, § 105 – Kuznetsov; Nr. 15250/02, § 53 – Bekos und Koutropoulos. 566 So EGMR Rep. 1998-III, § 123 – Kurt; Rep. 2000-IV, § 103 – Timurtas. 567 Krieger, in: EMRK/GG, S. 325. 568 EGMR A 324, §§ 157 ff. – McCann u. a. 569 EGMR A 324, §§ 157 ff. – McCann u. a. 570 EGMR Rep. 1998-I, 297, § 86 – Kaya. 571 EGMR Rep. 1998-I nº 65, § 86 – Kaya vs. Turkey. 564
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
den Menschenrechten nach Art. 1 EMRK eine nachhaltig wirksame Untersuchung einleiten müsse.572 Im Fall Tepe hat der EGMR weiterhin festgestellt, dass sich die Untersuchungspflicht nicht allein aus der absichtlichen Tötung durch die Staatsorgane, sondern auch aus einem ebensolchen Handeln Dritter ergeben könne.573 Der EGMR sieht diese Pflicht im Einzelfall in den staatlichen Schutzpflichten begründet, denen neben der Verhinderungspflicht ebenso die Ermittlungs- und Bestrafungspflicht sowie die Pflicht zur Entschädigung innewohnen.574 Im Fall Ribitsch wurden die in Art. 2 EMRK umfassten Grundsätze von dem Europäischen Gerichtshof auf Art. 3 EMRK übertragen. Auf Grundlage dessen, dass weder der Beschwerdeführer noch der Inspektor auf Grund der Beweislage die Herkunft der Verletzung des Opfers während eines Polizeigewahrsams nachweisen konnten, legte der Gerichtshof dar, dass die staatliche Verpflichtung Österreichs ungeachtet des Freispruchs des Inspektors vor den Strafgerichten und der geltenden Unschuldsvermutung Österreichs nicht von den Organisations- und Verfahrensgehalten der Konvention entbunden werden könne.575 Wenn die hohen Anforderungen an die Beweisführung im Strafrecht noch keinen allgemeingültigen Prüfungsstandard statuierten, so gelte es, diesen Grundsatz noch mehr zu beachten.576 Des Weiteren wurde im Fall Assenov und in anderen verhandelten Fällen auf die Überprüfung und Untersuchung der sich während eines behördlichen Gewahrsams zugetragenen Verletzungen ebenso nach Art. 3 EMRK abgehoben.577 Im Fall Kurt vs. Turkey stellte der EGMR ebenfalls eine Verletzung von Art. 5 EMRK fest, die unter dem Gesichtspunkt eines Mangels an verfahrensrechtlicher Absicherung festgestellt wurde.578 Der Sohn der Beschwerdeführerin, Kurt, war im Verlaufe militärischer Aktivitäten der staatlichen Sicherheitskräfte unauffindbar geworden. Von staatlicher Seite erfolgten keine Angaben über den Verbleib und das Schicksal des Sohnes.579 In diesem Zusammenhang erkannte der Gerichtshof auf eine schwere Verletzung der verfahrensrechtlichen Verantwortlichkeit des türkischen Staates nach Art. 5 EMRK.580 572
EGMR Rep. 1998-I, 297, § 86 – Kaya. EGMR Nr. 27244/95, § 177 – Tepe. 574 Krieger, in: EMRK/GG, S. 327. 575 EGMR A 336, § 34 – Ribitsch vs. Austria. 576 EGMR A 336, § 34 – Ribitsch vs. Austria. 577 EGMR Reports nº 26, 1996 – VI, §§ 61 ff. – Aksoy vs. Turkey; EGMR Reports nº 96, 1998 – VIII, § 102 – Assenov and others vs. Bulgaris. 578 EGMR Report nº 74, 1998-III – Kurt vs. Turkey. 579 EGMR Report nº 74, 1998-III – Kurt vs. Turkey. 573
Kap. 3: Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung
165
Ein weiterer Teil relevanter Rechtsentscheidung betrifft die verfahrensrechtliche Schutzwirkung nach Art. 8 EMRK, wonach die staatlichen Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte garantiert sind. Im Fall Airey wurde vom Gerichtshof festgehalten, dass das Unterlassen des nationalen Gesetzgebers auf Grundlage eines Fehlens wirksamer Antragsmöglichkeiten bezüglich der Trennung von Ehegatten den Art. 8 EMRK verletzt hat.581 In dem Fall McMichael hat der Gerichtshof ausgeführt, dass im Adoptionsverfahren das Besuchsrecht der Väter nichtehelicher Kinder nicht ohne Rücksicht auf die Interessen der Betroffenen, insbesondere die Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, durchzuführen ist.582 Der Staat soll anhand der verfahrensrechtlichen Schutzwirkung nach Art. 8 EMRK auch den in Grundrechte eingreifenden Entscheidungsprozess fair ausgestalten und die davon betroffenen unterschiedlichen Interessen angemessen berücksichtigen.583 Dabei ist desgleichen die angemessene Verfahrensbeteiligung der Betroffenen zu berücksichtigen. In den Fällen Gaskin und M. G. v. Vereinigtes Königreich erkennt der EGMR beispielsweise auf die Pflichten des Staates nach Art. 8 EMRK, wonach dem Bürger Einsicht in seine Akten zu gewähren ist.584 In dem Verfahren McGinley und Egan beschwerten sich Soldaten wegen möglicherweise im Gefolge verstrahlender Atomtests eingetretener Gesundheitsschäden. Sie verlangten die Einsichtnahme in die gesamte Dokumentation der im Südpazifik in den 1960er Jahren von Großbritannien vorgenommenen Atomtests.585 In der Entscheidung hat der Gerichtshof abschließend entschieden, dass der Staat ein effektiv-offenes Verfahren zur Einsichtnahme in die geheimen Dokumente und den Zugang zu Informationen für diejenigen Bürger zu gewährleisten habe, die möglicherweise an den die Gesundheit gefährdenden staatlichen Aktivitäten beteiligt gewesen seien.586 3. Schlussfolgerung Insgesamt lässt sich für die europäische Ebene feststellen, dass die Organisations- und Verfahrenskomponenten der materiell-rechtlichen Konventionsnormen einen wesentlichen Aspekt des effektiven Grundrechtsschutzes 580
EGMR Report nº 74, 1998-III – Kurt vs. Turkey. EGMR A 32, §§ 28, 33 – Airey (= EuGRZ 1979, 454). 582 EGMR A 307-B, § 87 – McMichael vs. The UK. 583 Siehe EGMR A 121, § 64 – W vs. Vereinigtes Königreich; A 307-B, § 87 – McMichael; Rep. 2000-I, § 99 – Ignaccolo-Zenide; Rep. 2001-V, 119, § 72 – T.P. und K.M. vs. Vereinigtes Königreich; Rep. 2002-I, 207, § 56 – Kulzner. 584 EGMR A 160, § 49 – Gaskin; EKMR Nr. 13957/88 – Lehmann. 585 EGMR Report nº 76, 1998-III – McGinley and Egan vs. the UK. 586 EGMR Report nº 76, 1998-III – McGinley and Egan vs. the UK. 581
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
darstellen. Der Staat steht in der Pflicht, staatliche Ermittlungen bei vermuteter Grundrechts- oder Menschenrechtsverletzung einzuleiten, damit der Sachverhalt aufgeklärt werden kann und entsprechende rechtliche Konsequenzen getroffen werden können. Aus den vom europäischen Gerichtshof ergangenen Entscheidungen im Einzelfall lässt sich entnehmen, dass sich die Organisations- und Verfahrensgehalte der materiell-rechtlichen Konventionsnormen überwiegend aus den Rechten nach Art. 2, 3, 5 und 8 EMRK herleiten lassen. Dennoch ist eine Ausweitung auf andere Konventionsnormen vorstellbar. Kapitel 4
Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte Ob die Thematik der Drittwirkung von Grundrechten zum Inhalt der objektiven Grundrechtsfunktionen gehören kann, ist sowohl im GG als auch in der EMRK umstritten. Weil aber die Drittwirkung von Grundrechten häufig in Hinblick auf die objektiven Grundrechtsfunktionen in den deutschen und europäischen Rechtsordnungen diskutiert wird, wird sie in der vorliegenden Arbeit als ein Teil der objektiven Grundrechtsfunktionen behandelt. Dies dient der Vollständigkeit der Darstellung der Dogmatik der objektiven Grundrechtsfunktionen.
A. Entwicklung der Lehre von der Drittwirkung im Grundgesetz (GG) I. Überblick 1. Begriff der Drittwirkung der Grundrechte Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Die Grundrechte richten sich nach dem Wortlaut also nur an die öffentliche Gewalt. Es ergibt sich die Frage, ob die Grundrechte entgegen dem Wortlaut auch die Privatrechtssubjekte binden können und wie eine solche Bindung ausgestaltet sein kann.587 Da der Begriff von der Drittwirkung im Staatsrecht bedauerlicherweise immer noch uneinheitlich verwendet wird, ist die Beantwortung dieser Frage erschwert. Die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte beantwortet die Frage dahingehend, dass die Geltung der Grundrechte sich über das klassische Zweierverhältnis zwischen dem Ein587
Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1332.
Kap. 4: Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte
167
zelnen und dem Staat hinaus ebenso auf das Verhältnis der Einzelnen untereinander erstrecke.588 Die Gegenansicht hält dem entgegen, dass es bei der Drittwirkung nicht um die Grundrechtsgeltung zwischen Privaten gehe. Vielmehr gehe es ausschließlich darum, dass das die Verhältnisse zwischen den Privaten regelnde Zivilrecht die sich aus den Grundrechten ergebende Wertordnung heranziehen muss.589 Die Formulierung der „Drittwirkung der Grundrechte“ erfährt in Judikatur und im Schrifttum in Teilen Kritik. Dies führt dazu, dass davon abweichend auch von der „Horizontalwirkung“ der Grundrechte,590 von der „Geltung“ der Grundrechte „im Privatrecht“591 oder von einem „Hineinwirken“ der Grundrechte „in das Privatrecht“592 gesprochen wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist der Ausdruck „Drittwirkung“ verwendet, da sich der Begriff in dieser Terminologie weitgehend durchgesetzt hat. 2. Entwicklung der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte Den Bürgern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Grundrechte aus historischer Sicht noch ausschließlich als Abwehrrechte des Individuums gegenüber staatlichen Übergriffen. Der Wandel der sozialen Wirklichkeit brachte es mit sich, dass die Bürger sich nicht allein einer öffentlichen Gewalt gegenüber gestellt sahen, sondern in zunehmendem Maße auch andere soziale Mächte hinzutraten, z. B. Arbeitgeber, Banken und vermietende Eigentümer. Die grundrechtlichen Interessen des Individuums, die durch diese sozialen Mächte gefährdet werden können, sind nach Ansicht der Vertreter der Drittwirkungslehre ebenso schutzwürdig wie die Interessen des Individuums im Verhältnis zum Staat. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1957 anlässlich des Lüth-Urteils erstmals zur Drittwirkung Stellung bezogen. Es führte aus, dass eine objektive Wertordnung auf Grundlage des Grundrechtskatalogs im Grundgesetz zu errichten sei.593 Als verfassungsrechtliche Grundentscheidung hat dieses Wertsystem für alle Bereiche zu gelten und muss somit notwendigerweise ebenso das bürgerliche Recht beeinflussen.594 Für Jürgen Schwabe sind Handlungen Privater, die mit den Grundrechten nicht in Einklang stehen, ebenso der öffentlichen Gewalt zuzurechnen. 588 589 590 591 592 593 594
Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 43. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 68. So Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 19. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 332 ff. Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, § 2 Rn. 70. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Nach seiner Meinung kommt jede Zuwiderhandlung gegen ein Grundrecht durch Private einem Eingriff durch die öffentliche Gewalt gleich.595 Dieser Ansatz ist jedoch in Hinblick auf die daraus für den Gesetzgeber resultierenden Pflichten zu extensiv. Nipperdey äußert zu Gunsten der Drittwirkung die Ansicht, eine Reihe von Grundrechten enthielte neben ihrer abwehrrechtlichen Funktion gegenüber dem staatlichen Übergriff auch die objektiven Funktionen von Grundsatznormen, die für die Privatrechtssubjekte ebenso zu gelten hätten.596 Als Beispiele führt er in diesem Zusammenhang das Arbeitsrecht, das Vertrags- und Wettbewerbsrecht und das Familien- und Erbrecht an. Als Reaktion hierauf wandten sich zahlreiche Autoren in der früheren Literatur gegen die von Nipperdey eingenommene Position, indem sie die Lehre der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte verwarfen.597 So hat Günter Dürig die These von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte als Reaktion auf die Lehre der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte als Gegenposition entwickelt.598 Die neuere Literatur tendiert dazu, die These von der Auswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht nicht mehr an den Begriff der Drittwirkung zu knüpfen, sondern aus der Perspektive der staatlichen Schutzpflichten zu argumentieren, um Grundrechtsschutz auch im Verhältnis der Bürger untereinander sicherzustellen.599 Diese Argumentation beinhaltet, dass der Staat auf Grundlage der grundrechtlichen Schutzpflichten den einzelnen Bürger ebenfalls vor den Übergriffen der Privaten bewahren soll, indem er durch das Ergreifen geeigneter Maßnahmen den privaten Rechtsgutsverletzungen vorbeugt. II. Unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte 1. Begriff und Begründung der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung Unter der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte versteht man die direkte, nicht notwendig durch Gesetze vermittelte Wirkung der Grundrechte im Verhältnis der Privatpersonen untereinander.600 Im Mittelpunkt der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung steht der Gedanke, dass die Grundrechte neben ihrer Bedeutung als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber den staat595 596 597 598 599 600
Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 17 ff. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 14. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1333 ff. Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: FS Nawiasky, S. 157 ff. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1335. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 356 ff.
Kap. 4: Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte
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lichen Übergriffen außerdem die Funktion von Ordnungssätzen oder Grundsatznormen für die gesamte Rechtsordnung beinhalten.601 Sie stellt nämlich entscheidend auf den „Bedeutungswandel der Grundrechte“ ab, die als Ordnungsgrundsätze in das gesellschaftliche Leben am tiefgreifendsten einwirken. In diesem Sinne ist der Bürger nicht allein Rechtsberechtigter, sondern er ist zugleich ein dem Grundrecht Verpflichteter.602 Für die Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung sind zwei Gesichtspunkte maßgebend: Zum einen die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürde und der im Wortlaut nach Art. 1 Abs. 2 GG gegebene Hinweis, dass die Menschenrechte Grundlage „jeder“ menschlichen Gemeinschaft sind.603 In Anlehnung an die Lehre Nipperdeys ergibt sich die unmittelbare Geltung der Grundrechte im Privatrecht vorwiegend im Bereich des Arbeitsrechts und Verbandsrechts erst dann, wenn ein privater Verband oder eine Privatperson rechtliche oder real wirksame Macht gegenüber einem Einzelnen ausübt.604 Zum anderen ist zu beachten, dass die im Zuge der Entwicklung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat am gesellschaftlichen Kräftemessen nach wie vor beteiligten Konzerne, Wirtschaftsverbände, Standesorganisationen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gleichermaßen Freiheitsbedrohungen auslösen können. Vor diesem Hintergrund ist die unmittelbare privatrechtliche Wirkung der Grundrechtsbestimmungen in einer freiheitlichen und sozialen Gemeinschaft im Rechtsverkehr der Bürger untereinander unentbehrlich.605 An beiden Argumenten haftet zwar nicht die normative Kraft, die Stellung der sich aus dem Text, der Systematik und der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes gewonnenen primären Abwehrrechte in Frage stellen zu können. Sie machen aber dennoch deutlich, dass die Grundrechte auch im Verhältnis der Bürger untereinander für die rechtlichen Beurteilungen Bedeutung beanspruchen können.606 2. Kritik an der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung Gegen die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte lassen sich ernstzunehmende Argumente ins Feld führen: Die Lehre stimmt nicht mit dem Wortlaut des Grundgesetzes überein.607 Nach dem Wortlaut 601
Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1336. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 201 f. 603 Krieger, in: EMRK/GG, S. 306. 604 Nipperdey, Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung, Das Recht der Arbeit 3 (1950), S. 20 ff. 605 Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 44. 606 Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 44. 607 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 41. 602
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
des Art. 1 Abs. 3 GG sind die Grundrechte als geltendes Recht unmittelbar an Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gerichtet, und die Privatpersonen finden in diesem Zusammenhang keine Erwähnung. Im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes findet an vielen Stellen allein die Verpflichtung der staatlichen Gewalt ausdrückliche Erwähnung.608 Nur in Verbindung mit einigen wenigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, wie beispielsweise den Art. 9 Abs. 3 S. 2, Art. 20 Abs. 4, Art. 38 Abs. 1 S. 1, findet sich im Ausnahmefall die Wirkung der Grundrechte auf ein privates Rechtsverhältnis erstreckt.609 Die umfassende grundrechtliche Bindung aller gegenüber allen würde letztendlich auch Sinn und Ziel der Grundrechte verfehlen: Es würden die Rechte, die sich gegenüber der öffentlichen Gewalt ergeben, durchgehend zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern werden. Dies zöge eine weitgehende Freiheitsbeschränkung nach sich.610 Dem Wortlaut des Grundrechtskatalogs lässt sich deutlich entnehmen, dass der Einfluss der Grundrechte auf die Privatrechtsordnung doch noch etwas anderes ist als das, was sich aus der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im Verhältnis unter den Privaten ergeben würde.611 Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte geht zudem nicht einher mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Dieser lässt sich im Wesentlichen die Aufgabe einer Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur entnehmen, nicht aber ein Bemühen um Umgestaltung des Privatrechts.612 Demnach lässt eine historische Auslegung der Grundrechtskonzeption den Schluss zu, dass das entstandene und erstrittene Grundrecht eher als Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat zu sehen ist. Problematisch an einer unmittelbaren Drittwirkung wäre ferner, dass sie die Privatautonomie in solchen Fällen gefährden würde, in denen auch im Privatrechtsverkehr die für staatliche Grundrechtseingriffe geltenden Prinzipien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit Anwendung finden.613 Denn es bleibt einer Vertragspartei unbenommen, auch für sie ungünstige Verträge abzuschließen und somit die Grundrechte autonom einzuschränken. Wenn die erheblich strengeren Grundsätze für die Einschränkung der Grundrechte angewendet würden, so entstünden daraus in der Verkehrung der Grundrechte die Grundpflichten. Somit würde am Prinzip ungestörter selbstverantworteter Freiheitsentfaltung der Privatrechtssubjekte 608 609 610 611 612 613
Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1339. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 44. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 44. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 34 f. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 41 f. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1340.
Kap. 4: Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte
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gerüttelt und es wäre nicht mehr gewährleistet, dass das Prinzip der Privatautonomie erhalten bleibe.614 In der Literatur wird auch darauf abgestellt, dass die unmittelbare Wirkung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr eine Rechtsunsicherheit nach sich ziehen würde. Die durch die unmittelbare Anwendung von Grundrechten zwischen Privaten entstehenden Grundrechtskollisionen würden regelmäßig eine Güterabwägung erforderlich machen.615 Da es für einen Betroffenen im Rahmen einer vorzunehmenden Güterabwägung oft sehr schwierig ist, die Anforderungen an sein Verhalten deutlich zu erkennen, ergäbe sich daraus eine substanziell beeinträchtigende Wirkung für die Rechtssicherheit.616 Zudem ist die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung in Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip bedenklich. Nach Maßgabe des mit Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Gewaltenteilungsprinzips hat eine jede Teilgewalt, also Legislative, Judikative und Exekutive, nur die in ihre Zuständigkeit fallenden Aufgaben zu erfüllen. Eine unmittelbare Ausdehnung der Grundrechte auf den Privatrechtsverkehr würde dagegen die Balance unter den Staatsgewalten gefährden: Die Judikative müsste im Falle einer erforderlich werdenden Grundrechtsabwägung darüber befinden, welchem der kollidierenden Grundrechte der Vorrang einzuräumen ist, welche Privatperson in wie weit Schranken bei ihrer Grundrechtsausübung unterliegt.617 Das würde das Gefüge der Gewaltenteilung sprengen, weil eine solche Aufgabenstellung prinzipiell dem Gesetzgeber zugewiesen ist. Vor diesem Hintergrund lehnen die von der deutschen Rechtsprechung und Literatur vorgetragenen Ansichten überwiegend die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ab und ziehen dieser die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung vor. III. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte 1. Begriff und Begründung der Lehre der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte Die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte stößt in der Literatur weitestgehend auf Zustimmung. Diese Lehre entwickelte Günter Dürig als Antwort auf die Nipperdeysche These von der unmittelbaren 614 615 616 617
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 204. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1340. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1340. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1341.
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Drittwirkung.618 Der Theorie Dürigs zufolge gelten die Grundrechte nicht unmittelbar im Privatrecht, sondern sie entfalten sich „erst durch das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“.619 Es sind vor allem die Generalklauseln, die als Medium für die Ausstrahlung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht dienen, und die deshalb als die „Einbruchstellen“ der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet werden.620 Die Lehre der mittelbaren Drittwirkung vermag es daher, die grundrechtlich geschützte Privatautonomie im bürgerlichen Recht zu sichern, ohne dabei gegen den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung zu verstoßen.621 Zu den wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln gehören insbesondere, aber nicht nur, die §§ 138, 242, 826 BGB.622 Nur durch sie können die Grundrechte die innergesellschaftlichen Rechtsverhältnisse beeinflussen. 2. Problematik Lässt sich die Begründung der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte nicht auf direktem Wege aus dem Grundgesetz folgern, so zeigt sich auch der Umfang der Problematik daran, dass weiterhin Unklarheit darüber besteht, auf welcher Grundlage sich diese Drittwirkung errichten ließe. Die bereits erwähnte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ergibt sich zwar aus ihrer Position als Rechtssätze in der Normenhierarchie. Diese Ausstrahlungswirkung kann jedoch erst mittels Rückgriff auf die zivilrechtlichen Generalklauseln fruchtbar gemacht werden. Die Grundrechte wirken daher nur passiv-überformend und können nicht ohne Vorliegen einer bereits einschlägigen bürgerlich-rechtlichen Norm Anwendung finden.623 Sind die Voraussetzungen der betreffenden Norm nicht erfüllt, verebbt auch die Drittwirkung der Grundrechte. Es zeigt sich also, dass die Einwirkung der Grundrechte in den Bereich des Privatrechts auf die Wirkungen beschränkt ist, die durch richterliche Auslegung der Generalklauseln im jeweiligen Einzelfall ermittelt werden.624 Hieraus entspringt eine Unklarheit: Zu Recht ist Ziel dieser Lehre, die Privatautonomie des Bürgers unangetastet zu lassen, um diese nicht den engen Bindungen staatlicher Gewalt zu unterwerfen. Die Lehre gibt aber keine Antwort auf die Frage, warum einesteils die 618 619 620 621 622 623 624
Dürig, in: FS Nawiaksy, S. 157 ff. Dürig, in: FS Nawiaksy, S. 157 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 46. Dürig, in: FS Nawiasky, S. 176 ff. Papier, in: HdbGR II, S. 1342. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 205. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 205.
Kap. 4: Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte
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Privatrechtsgesetzgebung und die darauf bezogene Rechtsprechung als Teil der staatlichen Gewalt an die Grundrechte gebunden sein soll, zugleich aber die Grundrechte nur mittelbar und somit abgeschwächt auf den Bürger einwirken.625 Die Notwendigkeit einer weitergehenden rechtlichen Begründung hat dazu geführt, dass die Lehre von der staatlichen Schutzpflicht verstärkt Zuspruch erfahren hat. IV. Rechtsprechung: Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung und Akzeptanz der mittelbaren Drittwirkung Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich mit der Frage der Drittwirkung der Grundrechte bereits in den fünfziger Jahren des vorausgegangenen Jahrhunderts auseinandergesetzt. Anlässlich einiger Entscheidungen haben der Bundesgerichtshof und das Bundesarbeitsgericht sich für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte ausgesprochen.626 In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1954 wurde das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet, zudem hat das Gericht die unmittelbare Wirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bejaht.627 Ausweislich der jüngeren Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht von seiner ursprünglichen Sicht Abstand genommen und neigt zum gegenwärtigen Zeitpunkt dazu, der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zu folgen.628 Das Bundesverfassungsgericht hatte sich erst im Jahr 1957 anlässlich des Lüth-Urteils ausführlicher mit diesem Problem zu befassen. Der Sachverhalt liest sich wie folgt: Erich Lüth hatte als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs im Jahr 1950 zum Boykott gegen den Film „Unsterbliche Geliebte“ vom Regisseur Veit Harlan, der seinerzeit im nationalsozialistischen Propagandafilm „Jud Süß“ die Regie inne gehabt hatte, aufgerufen. Die Produktions- und Verleihfirma des Films „Unsterbliche Geliebte“ klagten daraufhin gegen Lüth auf Unterlassung des Boykottaufrufs nach § 826 BGB.629 Lüth wurde daraufhin vom Landgericht auf Grundlage des § 826 BGB wegen sittenwidriger Aufforderung zum Boykott dazu verurteilt, künftig solche Boykottanrufe bei Vermeidung einer Geld- oder Haftstrafe zu unterlassen.630 Die angestrengte Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil hatte Erfolg. Das 625
Hager, JZ 1994, S. 373 ff.; Windel, Der Staat 1998, S. 386 ff. BGHZ 13, 334 (338) – Veröffentlichung von Briefen; BGHZ 15, 249 – Cosima Wagner; 24, 72 (76 f.) – Persönlichkeitsrecht; BAGE 1, 185 (193); BAGE 23, 371. 627 Krieger, in: EMRK/GG, S. 307. 628 BAGE 47, 363; 48, 123; 76, 155. 629 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. 630 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. 626
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
Bundesverfassungsgericht sah in dem zivilgerichtlichen Urteil einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG.631 In seiner näheren Begründung gab das Gericht zu verstehen, dass die Grundrechte nicht allein subjektive Abwehrrechte des Einzelnen, sondern auch Bestandteil einer objektiven Wertordnung seien, die über die einfachgesetzlichen Generalklauseln auf das Zivilrecht wirken müssten.632 Und das Gericht fügte hinzu: „Der Richter hat kraft Verfassungsgebot zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften [. . .] grundrechtlich beeinflusst sind; trifft dies zu, dann hat er bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die sich hieraus ergebenden Modifikationen des Privatrechts zu beachten [. . .] beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf die zivilrechtlichen Normen, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm verkennt. Er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht.“633
Damit hatte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals für die nur mittelbare Wirkung der Grundrechte in den privatrechtlichen Rechtsverhältnissen ausgesprochen. In der Folgezeit hat das Bundesverfassungsgericht in seinen zahlreichen Entscheidungen diese Rechtsprechung zunehmend konkretisiert. Dazu gehören die Urteile Blinkfüer (BverfGE 25, 256), Benetton I (BVerfGE 102, 347) und II (BVerfGE 107, 275) zur Meinungsfreiheit, die Handelsvertreterentscheidung (BVerfGE 81, 242) zur Berufsfreiheit, der Bürgschaftsfall (BVerfGE 89, 214) zur Privatautonomie und dem Sozialstaatsprinzip, einige Entscheidungen zum Koalitionsprinzip und zum Arbeitsrecht und der Fall Miete als Eigentum (BVerfGE 89, 1) in Sachen Mietrecht. Mit Bezug auf die ergangene Rechtsprechung wird darauf verwiesen, dass vom Bundesverfassungsgericht der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte inzwischen durchgehend zugestimmt wird: Der Schutz der Grundrechte vollzieht sich unter Privaten ausschließlich dadurch, dass bei der Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen die Grundrechte der am Rechtsverhältnis Beteiligten zu berücksichtigen sind.634 V. Neue Tendenz: Rückgriff der grundrechtlichen Drittwirkung auf die grundrechtliche Schutzpflicht? Weil die Abgrenzung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung manchmal für erhebliche Verwirrung sorgt, vertreten manche Autoren 631 632 633 634
BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. BVerfGE 7, 198 (206 f.) – Lüth. Papier, in: HdbGR II, S. 1351.
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die Ansicht, dass es sich mit Hinblick auf die Grundrechtsdogmatik um eine überflüssige Begrifflichkeit handele.635 Daraus ergibt sich die Frage, ob die Drittwirkung der Grundrechte als Funktion der staatlichen Schutzpflicht verortet werden kann, insofern die staatliche Schutzpflicht in den allgemeinen objektiven Grundrechtsfunktionen gründet. In der neueren Literatur wird verstärkt eine Sichtweise vertreten, die das Problem der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht nicht mehr in Anlehnung an den theoretischen Gesichtspunkt von der Drittwirkung aufgreift, sondern diese in der These von den staatlichen Schutzpflichten zum Grundrechtsschutz der Bürger eingegliedert sieht.636 In den diesbezüglichen neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird verstärkt die staatliche Schutzpflicht betont.637 Das BVerfG hat im Fall Handelsvertreter638 deutlich zu erkennen gegeben, dass es sich bei der mittelbaren Drittwirkung eigentlich um einen Anwendungsfall der staatlichen Schutzpflichten handelt.639 Der Richter, der nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist, übt im Wege eines zivilrechtlichen Urteils unmittelbar hoheitliche Gewalt aus. Demzufolge ist es überflüssig, zusätzlich noch mittelbar auf die Drittwirkung unter Privaten abzustellen.640 „Selbst wenn der Gesetzgeber davon absieht, zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche oder für spezielle Vertragsformen zu schaffen, bedeutet das keineswegs, dass die Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre. Vielmehr greifen dann ergänzend solche zivilrechtlichen Generalklauseln ein, die als Übermaßverbot wirken, vor allem die §§ 138, 242, 315 BGB. Gerade bei der Konkretisierung und Anwendung dieser Generalklauseln sind die Grundrechte zu beachten. Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hierbei an den Richter, der den objektiven Grundrechtsentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat und diese Aufgabe auch auf vielfältige Weise wahrnimmt.“641
Der Staat ist demnach gehalten, im Sinne der ihm auferlegten grundrechtlichen Schutzpflichten den Bürger vor rechtswidrigen Übergriffen auch sei635 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 21; Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 9 f. 636 Papier, in: HdbGR II, S. 1335. 637 BVerfG in: NJW 1990, S. 1769; Hermes, in: NJW 1990, S. 1764. 638 BVerfGE 81, 242 – Handelsvertreter. 639 Siehe Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 205; Klein, H., NJW 1989, S. 1640. 640 Krieger, in: EMRK/GG, S. 307. 641 BVerfGE 81, 242 (256) – Handelsvertreter; BVerfGE 89, 214 (234) – Bürgschaftsverträge; 89, 276 (286) – § 611a BGB.
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tens Privater zu bewahren. Er ist ebenso verpflichtet, diejenigen geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, die der Verletzung der Rechtsgüter vorbeugen. Gesetzgebung und Rechtsprechung werden danach verpflichtet, die Grundrechte zu schützen und Übergriffe durch Private abzuwehren.642 Die Lehre von den staatlichen Schutzpflichten führt nicht zu einer Wiederbelebung der Konzeption der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Die staatliche Schutzpflicht der Grundrechtsgüter wird im Wege des jeweiligen grundrechtsschützenden Gesetzes vermittelt. Dabei hat die Gesetzgebung einen weiten Gestaltungsspielraum zur eigenständigen, privatrechtsnahen und somit sachgerechten Schlichtung von Konflikten, solange sie das Untermaßverbot nicht verletzt. Dabei ist zu beachten, dass das grundrechtliche Wertesystem keinesfalls die privatrechtlichen Interessenbewertungen ersetzt, sondern ergänzend herangezogen wird.643 Die Lehre von der Schutzpflicht steht der Rechtsfigur der mittelbaren Drittwirkung nicht entgegen, sie beinhaltet sie vielmehr. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die Richter die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in der juristischen Praxis durchsetzen müssen. In diesem Durchsetzungsakt liegt die Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht. Darüber hinaus kann die Lehre von der Schutzpflicht die Lehre der mittelbaren Drittwirkung auf dogmatischer Ebene besser präzisieren und bereichern.644 Die Grundrechte wirken mittels Schutzpflichten auf private Dritte durch das gesetzliche Privatrecht hindurch, wirken also mittelbar.645 Im Lichte dieser Ausführungen ließe sich die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte der Schutzpflicht der Grundrechte eingliedern, infolgedessen erweist sich aber die Erstere als entbehrlich. In diesem Sinne ist der Drittwirkung der Grundrechte nicht der Status einer eigenständigen Grundrechtsfunktion zuzusprechen.
B. Entwicklung der Drittwirkungslehre in der EMRK I. Übertragbarkeit der Lehre von der Drittwirkung auf die EMRK? Die Beantwortung der Frage, ob den Grundrechten eine unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung in der EMRK zukommt, oder ob die Übertra642
Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1335. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 252. 644 Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HdbGR II, S. 1336. 645 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 252 f. 643
Kap. 4: Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte
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gung der hinsichtlich eines nationalen Rechts vorgenommenen Begründung auf die EMRK ermöglicht ist, kann nicht auf geradem Wege erfolgen. Die Schwierigkeiten, welchen man hierbei begegnet, stellen sich folgendermaßen dar: Zum einen ergeben sich aus der Entstehungsgeschichte der EMRK keine Anhaltspunkte für eine Drittwirkung der Grundrechte. Der Wortlaut der EMRK lässt darüber hinaus keinen unmissverständlichen Hinweis erkennen, der für oder gegen die Ableitung einer Drittwirkung der Grundrechte spricht. Zum anderen hat die EMRK aufgrund der unterschiedlichen Stellung in den nationalen Rechtsordnungen keine generelle Priorität gegenüber den nationalen Rechtsordnungen. Hingegen sollen die Grundrechte wegen ihres übergeordneten Rechtscharakters im nationalen Verfassungsrecht auf das gesamte innerstaatliche Recht ausstrahlen.646 In ihrer Eigenschaft als völkerrechtlicher Vertrag hat die EMRK die Prinzipien von Subsidiarität und Diversität zu beachten, um in den Staaten auf diesem Wege die Eigenständigkeit ihrer jeweiligen Rechtsordnung unangetastet zu lassen. Auf Grundlage des damit gewährten staatlichen Ermessens- und Gestaltungsspielraums sind die Staaten aber gehalten, ihre Rechtsordnung entsprechend den Vorgaben der Konvention auszugestalten. Entgegen den erwähnten Schwierigkeiten geht das Bestreben in der Literatur aber dahin, die Drittwirkung der EMRK zu bejahen. Das Schrifttum leitet eine Drittwirkung aus dem Prinzip der Menschenwürde, dem Wortlaut von Art. 13 und Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie aus dem Gewährleistungsgehalt der einzelnen Menschenrechte her.647 Unabhängig davon, ob die Konventionsrechte in einem jeweiligen Staat unmittelbare Anwendung finden können, müssen die Vertragsstaaten nach Art. 1 EMRK für deren Einhaltung sorgen: In Fällen, in denen ein Verstoß gegen Bestimmungen der EMRK seitens eines Privaten vorliegt, ist ein Verfahren gegen den Vertragsstaat zulässig, falls dieser keinen oder einen nur unzureichenden gerichtlichen oder administrativen Schutz vor dem Handeln Privater vorgesehen hat.648 Hieran zeigt sich, dass das im Rahmen der EMRK aufgrund ihrer Stellung nur eine mittelbare Drittwirkung unter Privaten möglich ist. Es zeigt sich, dass von der Literatur häufig nicht zwischen einer mittelbaren und unmittelbaren Drittwirkung grundsätzlich unterschieden wird. Die Verknüpfung zwischen Drittwirkung und Schutzpflicht ausweislich der klarstellenden Ausführungen der deutschen Staatsrechtslehre wird weit646
Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 ff. So Krieger, in: EMRK/GG, S. 308; Alkema, in: FS Wiarda, S. 33 ff.; M. Hahne, Das Drittwirkungsproblem in der EMRK, S. 53 ff. 648 Meyer, Auswirkung des EG-Diskriminierungsverbots von Mann und Frau, S. 362. 647
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Teil 2: Einzelne objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich
gehend ebenso für die EMRK fruchtbar gemacht, was dann noch dargestellt werden soll.649 II. Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung der Konventionsrechte Unter einer unmittelbaren Drittwirkung der EMRK ist zu verstehen, dass die Konventionsrechte als absolute, gegen jedermann gerichtete Rechte Geltung beanspruchen. Diese verpflichteten dann nicht nur die Staaten, sondern darüber hinaus ebenso alle Privaten. Nach Art. 13 EMRK wird dem Einzelnen ein Beschwerderecht gewährt, selbst wenn die Rechtsgutsverletzung durch die Handlung eines Privaten erfolgt ist, die dann als Amtshandlung zu qualifizieren ist.650 Nach Art. 17 EMRK ist es untersagt, eine Konventionsbestimmung dahingehend auszulegen, dass damit dem Staat, einer Gruppe oder einer Person ein Recht zugesprochen wird, Handlungen zu vollziehen, die auf die Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechte oder auf weitreichende Beschränkungen derselben abzielen.651 Demnach wird in Art. 17 EMRK auch die staatliche Verpflichtung gegenüber Privatpersonen ausgesprochen, den Grundrechten anderer mit Achtung zu begegnen.652 Analog zum deutschen Grundgesetz erteilen, entgegen den oben erwähnten zustimmenden Stimmen, der überwiegende Teil des Schrifttums und die Rechtsprechung des EGMR, einer unmittelbaren Drittwirkung der Konventionsrechte unter Privatpersonen eine Absage. Entsprechend dem Wortlaut von Art. 1 EMRK sichern die vertragsschließenden Hohen Parteien allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Bürgern die in Abschnitt I der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu. Demnach sind die Schutzpflichten nachdrücklich an die Vertragsstaaten gerichtet und nicht an Einzelpersonen.653 Auch bei dem Art. 13 EMRK dürfte es sich weniger um einen Hinweis auf eine unmittelbare Drittwirkung handeln, ungeachtet der Tatsache, dass in ihm die Beschwerdemöglichkeit gegenüber der in amtlicher Eigenschaft handelnden Person für den Fall einer Rechtsverletzung gefordert ist.654 Ebenso wenig vermag der Art. 17 EMRK 649
Siehe ausführlich unten in Teil 2, Kapitel 4, B.III. Zum Ganzen Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 120. 651 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 120; Moser, Die EMRK und das bürgerliche Recht, S. 106. 652 Moser, Die EMRK und das bürgerliche Recht, S. 106. 653 Partsch, EMRK, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Grundrechte, S. 297. 654 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 13 Rn. 5; Guradze, in: FS Nipperdey, Bd II, S. 764. 650
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eine unmittelbare Drittwirkung überzeugend zu begründen, denn nach diesem Artikel ist es dem Einzelnen nicht erlaubt, sich gegenüber einer der Freiheit zuwiderlaufenden Handlung eines Privaten unmittelbar auf die Bestimmungen der Konvention zu berufen.655 Darüber hinaus ist mit Blick auf die prozessuale Rechtsschutzregelung allein der jeweilige Staat und nicht die Einzelperson angesprochen. Wenn die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung in der EMRK gelten würde, so würde sie zu einer materiell-rechtlichen Wirkung gegenüber den Privatpersonen führen. Dafür besteht in der EMRK aber gar kein entsprechender prozessualer Rechtsschutz bzw., es hat allein die nationale prozessuale Rechtsschutzregelung Bestand.656 Solange wie sich das Konventionsrecht noch nicht ausreichend in allen Rechtsordnungen im Sinne seiner innerstaatlichen Geltung etabliert hat, lässt sich eine allgemeingültige Regelung nicht feststellen. Zudem wirft die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung das Problem auf, dass aufgrund der Unbestimmtheit der grundrechtlichen Verpflichtungen gerichtliche Abwägungen die Abwägungsentscheidungen und Wertungen der nationalen Gesetze ersetzen würden.657 Danach würde eine Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Konventionsrechte mit großer Wahrscheinlichkeit zahlreiche Unstimmigkeiten nach sich ziehen. III. Neue Tendenz: Umgehung der Drittwirkungsfrage durch die grundrechtliche Schutzpflicht? Die Verfahrensvorschriften der EMRK richten sich allein an die Vertragsstaaten, aber nicht unmittelbar an ihre Bürger. Daher wirken die Grundrechte der EMRK nur mittelbar über die Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe der jeweiligen nationalen Gesetzgebung auf das vorliegende Verhältnis zwischen den Privaten ein.658 Die Annahme der nur mittelbaren Drittwirkung legt dann den Schluss nahe, dass die diesbezügliche Lehre in die grundrechtliche Schutzpflichtenproblematik einmündet.659 Gleichwohl wird es im Rahmen des Konventionsrechts nicht leicht, den Unterschied zwischen den staatlichen Schutzpflichten und der Drittwirkung deutlich zu umreißen. 655
Partsch, EMRK, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Grundrechte, S. 297. Partsch, EMRK, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Grundrechte, S. 297; Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 121 f. 657 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 122. 658 Bleckmann, in: FS Bernhardt, S. 311. 659 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 901 f. 656
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Das Verhältnis zwischen der Drittwirkung und der staatlichen Schutzpflicht ist hinsichtlich der Spruchpraxis der Konventionsorgane noch nicht einheitlich geklärt. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat eine Anzahl von Beschwerden, die auf Konventionsverletzungen durch Privatpersonen abstellen, mit der Begründung abgewiesen, dass nach Art. 19 und 25 EMRK nur ein staatliches Handeln Gegenstand einer Beschwerde sein könne.660 Dennoch hat der EGMR in einigen Fällen nicht auf die staatlichen Schutzpflichten abgestellt, sondern auf die abwehrrechtliche Funktion der Menschenrechte nach Art. 10 EMRK verwiesen.661 Der EGMR sah aber in der überwiegenden Zahl der Fälle die Frage der Konventionsverletzung durch zivilrechtliche Urteile an die staatlichen Schutzpflichten geknüpft.662 Demzufolge soll der Staat, in der vorwiegenden Vermittlung durch den Gesetzgeber und den Richter bei Auslegung und Anwendung der Gesetze das Konventionsrecht beachten. In der Literatur der Gegenwart findet sich die Tendenz, die Drittwirkung mit der Frage nach der staatlichen Schutzpflicht zu verknüpfen. Das steht in Verbindung mit dem Umstand, dass sich die Schutzpflicht vor allem auf das Bestätigungsfeld privatautonomer Gestaltungsmacht bezieht, anders gesagt: das durch privatrechtliche Normen geregelte Rechtsverhältnis unter den Privaten.663 Indem die von Privaten verursachten Beeinträchtigungen der Menschenrechte als eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht angesehen werden, bedeutet das, dass die EMRK zumindest auf indirektem Wege und punktuell die Drittwirkung anerkennt.664 Dafür verpflichtet sich der Vertragsstaat, die sich aus der EMRK ergebenden Bewertungen bei dem die Privatrechtsbeziehungen regelnden Zivilrecht zu beachten. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum diese Einwirkung der EMRK auf das Verhältnis zwischen den Privaten unter dem Gesichtspunkt der Schutzpflicht des Staates eine eingehende Betrachtung erfordert. Sollte ein Vertragsstaat es versäumen, die zureichenden rechtlichen oder tatsächlich wirksamen Schutzmittel bereitzustellen, so hat der Staat damit eine jeweilige Garantie verletzt.665 Der private Dritte, der den Schutz im Einzelfall 660 EKMR YB 4 (1961), 346 (352) – X vs. Deutschland; YB 9 (1966), 484 (490) – X vs. Deutschland; DR 8, 103 (104 f.) – X vs. Vereinigtes Königreich; DR 41, 264 (270) – Van der Heijden; DR 76 – A, 76 (79) – Durini. 661 EGMR A 30, § 23 – Sunday Times; EGMR A 165, § 25, 27 – markt intern Verlag GmbH u. Klaus Beermann; EKMR DR 41, 264 ff. – Van der Heijden. 662 Krieger, in: EMRK/GG, S. 309. 663 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 902. 664 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 901. 665 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 903.
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unterlässt, verletzt dabei aber nicht die jeweilige Garantie. Hinsichtlich dieses Kontextes ergeben sich viele „privatrechtliche“ Streitigkeiten, die dann zu „grundrechtlichen“ Streitigkeiten überleiten, aber sie können eben „nur“ in dieser „grundrechtlichen“ Vermittlung erst den Staat erreichen. Infolgedessen ist damit einerseits die Chance einer effektiven „Umsetzung“ der Konventionsrechte in der Vermittlung der vertragsstaatlichen konkreten Gesetze geboten. Andererseits ist dadurch die „Umsetzung“ der Konventionsrechte doch von der mühseligen Konkretisierungsarbeit der täglichen Rechtsanwendung entbunden. Des Weiteren ist der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität gewahrt, wonach die Rechtskonflikte zwischen den Privaten zunächst im Rahmen der nationalen Gerichtsbarkeiten verhandelt werden und erst dann erforderlichenfalls auf die internationale Ebene verlagert werden, auf der jedoch nur die Verantwortlichkeit eines Vertragsstaats und nicht die privater Dritter im Blickfeld stehen kann.666 Darüber hinaus fügt sich die Lehre von der staatlichen Schutzpflicht besser in das bisherige „klassische“ Völkerrechtsverständnis ein, als die Lehre der Drittwirkung es vermag. Sie kann im Gegensatz zur Lehre der Drittwirkung überzeugender die anderen Grundsätze der EMRK neben den klassischen völkerrechtlichen Grundsätzen in sich vereinen.667 Im Wege einer abschließenden Bewertung lässt sich festhalten, dass die enge Verbindung zwischen der Drittwirkung und den Schutzpflichten sich doch in der Rechtsprechung und Literatur auf Ebene der EMRK letztendlich weitgehend bestätigt findet. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser Zusammenhang im Rahmen der EMRK wie im deutschen Recht noch nicht unumstritten ist. Aus den obigen Ausführungen über das Verhältnis von „Drittwirkung“ und Schutzpflichten lässt sich jedenfalls folgern: Zum Einen ist durch Grundrechte grundsätzlich nur der Staat verpflichtet. Zum Anderen ist in aller Regel die befürwortete „mittelbare Drittwirkung“ nicht zu unterscheiden von der verfassungs- bzw. grundrechtskonformen Auslegung des einfachen Rechts. Schließlich ist diese „Drittwirkung“ über die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates im Rahmen der objektiven Grundrechtsdimension verankert.668
666 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 906. 667 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 907. 668 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 966.
Teil 3
Mögliche Probleme und Folgerungen Kapitel 1
Objektive Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“ A. Objektive Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“ im GG I. Ausgangslage: Verwirklichung der objektiv-rechtlichen Dimensionen durch Ausweitung der Kompetenz des BVerfG Das Bundesverfassungsgericht hat die objektive Funktion der Grundrechte ursprünglich mit dem Ziel entwickelt, eine Stärkung der Abwehrfunktion der Grundrechte zu erreichen.1 Am meisten profitierte das Bundesverfassungsgericht selbst von dieser Entwicklung. Spätestens seit dem LüthUrteil hat das Bundesverfassungsgericht die Stufe eines aktiven und in sämtliche Rechtsgebiete hineinwirkenden Gerichts erreicht.2 Mit diesem Prozess ging eine allgemeine Bedeutungssteigerung der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie eine sich daraus ergebende Expansion der Grundrechtswirkung einher. Die Ausweitung der Prüfungskompetenz durch das BVerfG selbst ermöglicht und verstärkt die Wirkungsmöglichkeiten der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen erheblich. Eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit ist notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der objektiv-rechtlichen Funktionen zur Schaffung eines optimalen verfassungsrechtlichen Umfelds. Das Verfassungsgericht ist nicht mehr allein als Verfassungsorgan oberster Hüter der Verfassung, sondern wirkt mittlerweile faktisch als ein „Gericht“ auf die Verwirklichung der Grundrechte hin. Die dem Bundesverfassungsgericht in der nationalen Rechtsordnung zukommende Stellung ist bereits im Grundgesetz selbst angesprochen. So wird nach Art. 92 GG die rechtsprechende Gewalt auch durch das Bundes1 2
BVerfGE, 7, 198 – Lüth. Wahl, in: HdbGR I, S. 757.
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verfassungsgericht ausgeübt. Aus dem Kompetenzkatalog des Art. 93 Abs. 1 GG ergeben sich nur die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zur fremd-veranlassten, reaktiv-kontrollierenden „Entscheidung“ über „Streitigkeiten“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, 4 GG), „Meinungsverschiedenheiten“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 3 GG), „Beschwerden“ (Art. 92 Abs. 1 Nr. 4a, 46 GG) und zur Normenkontrolle (Art. 100 GG).3 Durch die Verfassungsbeschwerde kann das Bundesverfassungsgericht kontrollieren, in wie fern die Grundrechte auf alle Rechtsgebiete des einfachen Rechts einwirken und ausstrahlen können. Durch die Möglichkeit der abstrakten und konkreten Normenkontrolle wird die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, den objektiven Grundrechtsfunktionen weitestgehend Geltung zu verschaffen, zusätzlich erweitert. Damit ist ein Zustand erreicht, in dem die Rechtsprechung aller Gerichte im Prinzip der verfassungsgerichtlichen Kontrolle und Korrektur unterliegt. Vor diesem Hintergrund gilt die Verfassungsbeschwerde als die Lebensluft der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen und als das wichtigste Merkmal der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit.4 II. Problematik einer Machtverschiebung vom Gesetzgeber hin zum BVerfG im Wege der objektiv-grundrechtlichen Funktionen? In Art. 20 Abs. 2 GG wird das Prinzip der Gewaltenteilung als Organisationsprinzip des Rechtsstaates angesprochen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Gewaltenteilung bedeutet Gewaltentrennung und Aufteilung der Staatsaufgaben in Exekutivorgane (Behörden), Legislativorgane (Parlamente) und Rechtsprechungsorgane (Gerichte). Demnach sind Behörden, Parlamente und Gerichte in eine wechselseitige Kontrolle eingebunden. Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Während die Entfaltung der objektiven Grundrechtsfunktionen durch das BVerfG die Geltungskraft der Grundrechte zweifellos verstärkt, gerät die Gewaltenteilung des Grundgesetzes, die dem Gesetzgeber die politische Gestaltung und den Gerichten die rechtliche Kontrolle aufträgt, in Gefahr. Die daran anknüpfende Kritik hebt hervor, dass die Entfaltung der objektiven Grundrechtsfunktionen die Ausgewogenheit der Gewalten im Verhältnis von demokratischer Gesetz3 4
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 283. Wahl, in: HdbGR I, S. 759.
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gebung und Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Gefahr einer Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit grundlegend verändert.5 Der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vertritt die Auffassung, dass mit den objektiven Grundrechtsfunktionen der unaufhaltsame Weg in den Jurisdiktionsstaat beschritten werde, in dem der Gerichtsbarkeit ein Übergewicht oder ein zu hohes Gewicht innerhalb der Staatsgewalten zukomme.6 Da die Ausstrahlung der Grundrechte ins Gesetzesrecht konturlos ist, liegt die Ausstrahlungsintensität allein in der Hand der Verfassungsrichter. Zwar haben die Verfassungsrichter die objektive Grundrechtsdimension bisher restriktiv ausgelegt. Es ist jedoch keinesfalls sichergestellt, dass die zukünftigen Verfassungsrichter ebenso entscheiden werden. Auf diesem Wege steht eine Ausweitung der Kontrollkompetenz des BVerfG zu befürchten, was möglicherweise sogar mit einer Machtverschiebung vom Gesetzgeber hin zum BVerfG einhergeht. Zwar beansprucht das BVerfG, indem es zugleich Verfassungsorgan und Gericht ist, eine Sonderstellung innerhalb der Gewaltenteilung. Das kann aber nicht den Verzicht auf die Gewaltenbalance bedeuten. In diesem Sinne lässt sich, so Böckenförde, die in der Gegenwart erfolgende Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt eines Sonderstatus des BVerfG rechtfertigen. Die Gefahr der Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird nicht allein theoretisch in der juristischen Literatur beschworen, vielmehr zeigt sich diese Gefahr nach Auffassung mancher Kritiker auch in der juristischen Praxis.7 Das hat nach derer Auffassung zur Folge, dass die starke Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit an Überzeugungskraft verliert.8 Im Anschluss daran wird dem Bundessverfassungsgericht nahe gelegt, die objektiven Grundrechtsfunktionen in der praktischen Ausübung mit größerer Zurückhaltung zu berücksichtigen. Damit werden die jeweiligen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraume der Staatsorgane grundsätzlich anerkannt, so dass das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Erfüllung der ob5 Dazu etwa Böckenförde, Der Staat 20, 1990, S. 24 ff.; Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: FS R. Wassermann, S. 279 ff.; Vogel, NJW 1996, S. 1505 ff.; Knies, in: FS K. Stern, S. 1155 ff.; Schmitt, in: FS Forsthoff, S. 37 ff. 6 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, S. 376; ders., Grundrechtsdogmatik, S. 60 ff. 7 Dazu etwa Böckenförde, Der Staat 20, 1990, S. 25; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 25 ff.; Höffe, Der Staat 1999, S. 184 ff.; Knies, W., Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: FS K. Stern, 1997, S. 1178 ff.; Vogel, NJW 1996, S. 1505 ff.; Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: FS R. Wassermann, S. 281 ff.; Schenke, NJW 1979, S. 1327 f. 8 Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? S. 25.
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jektiven Grundrechtsfunktion nur eine eingeschränkte Prüfungsdichte ausüben darf. Das gerichtliche Vorgehen ist auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Demnach wird die Feststellung einer Verletzung der grundrechtlichen Grundrechtsfunktionen nur dann ermöglicht, wenn die vollständige Untätigkeit der staatlichen Organe als erwiesen gilt oder sich die von ihnen getroffenen Maßnahmen als evident ungeeignet erweisen. Letzten Endes ist hiermit die Frage nach der Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfen. III. Grenzen: Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts in der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen 1. Kontrollintensität: Evidenzkontrolle und Untermaßverbot Obwohl die zentrale Relevanz der objektiven Grundrechtsfunktionen heute außer Zweifel steht, gibt sich weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur ein Konsens über die Qualität und Intensität der verfassungsgerichtlichen Erfüllungskontrolle der objektiven Grundrechtsfunktionen zu erkennen. a) Evidenzkontrolle Die sich im Wege der Verfassungsbeschwerde ergebende verfassungsgerichtliche Kontrolle der Entscheidung eines Gerichts ist mit den drei Merkmalen „nachfolgend“, „nachvollziehend“ und „nicht ersetzend“ näher bezeichnet.9 Primär entscheiden zunächst die Instanzgerichte und erst im Anschluss erfolgt eine verfassungsgerichtliche Kontrolle („nachfolgend“). Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich darauf, die Entscheidung eines anderen deutschen Gerichts daraufhin zu überprüfen, ob in nachvollziehbarer Weise die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet worden sind („nachvollziehend“). Die Verfassungsrichter sind gehalten, die Entscheidung nicht durch eine eigene Neuentscheidung zu ersetzen (demnach „nicht ersetzend“).10 Da die verfassungsgerichtliche Kontrolle für die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen über die oben dargelegten Besonderheiten verfügt, führt das Bundesverfassungsgericht in der Regel nur eine Evidenzkontrolle durch, die normalerweise allein auf die „offensichtlichen“ Grundrechtsverletzungen beschränkt ist. Dennoch übt das Gericht neben der Evidenzkontrolle zuweilen und nicht immer einheitlich eine Vertretbarkeitskontrolle und Inhaltskontrolle aus. Auf Grundlage der 9 10
Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 496. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 496.
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Evidenzkontrolle darf das BVerfG erst dann auf eine Verletzung der objektiven Grundrechtsfunktionen erkennen, wenn die staatlichen Organe völlig untätig geblieben sind, nämlich, wenn Schutzvorkehrungen von ihnen überhaupt nicht getroffen wurden oder wenn die bereits getroffenen Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet oder nicht weitreichend genug sind, um damit das gebotene Schutzziel zu erreichen.11 aa) Begründung der Evidenzkontrolle Die oben dargelegte Beschränkung der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte ergibt sich aus den Prinzipien von Gewaltenteilung und Demokratie. Diesen Prinzipien liegen drei Aspekte zugrunde: die Komplexität, der Kompromisscharakter und die angemessenen Erfahrungs- und Anpassungsspielräume. Vor allem stehen im Fall der objektiven Grundrechtsfunktionen nicht mehr die bloßen Unterlassungen von Handlungen (Eingriffe) im Vordergrund, sondern die positiven staatlichen Handlungen, insbesondere die gesetzgeberischen Maßnahmen.12 Aber wie die staatlichen Schutzpflichten die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen zu gewährleisten vermögen, ist in der Realität von vielen wirtschaftlichen, politischen und haushaltsrechtlichen Umständen eines Staates abhängig. Diese entziehen sich in der Regel der richterlichen Nachprüfung13 bzw. können nur begrenzt nachgeprüft werden.14 In diesem Kontext steht das BVerfG in seiner selbstauferlegten Zurückhaltung unter einer Art von „Vorbehalt der amtlichen Erkenntnis“.15 Im Rahmen der Evidenzkontrolle verlangt das BVerfG jedenfalls einen gewissen Festigkeitsgrad der wissenschaftlichen Erkenntnis, um „den Gesetzgeber zu einer bestimmten Behandlung einer von Verfassungs wegen gesetzlich zu regelnden Frage zu zwingen oder die getroffene Regelung als mögliche Lösung auszuschließen.“16
Dies begründet sich darin, dass das BVerfG nicht die Aufgabe hat, nicht verifizierte oder teilweise widersprüchliche Befunde zu bestätigen.17 11 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 226 f. 12 Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 493. 13 BVerfGE 56, 54 (71) – Fluglärm; BVerfG, 1 BvR 920/83, NJW 1983, 2931 (2932). 14 BVerfGE 79, 174 (202) – Straßenverkehrslärm. 15 BVerfG, 1 BvR 920/83, NJW 1983, 2931 (2932); BVerfGE 56, 54, 82 – Fluglärm; BVerfGE 94, 49 (50 f.) – Sichere Drittstaaten. 16 BVerfGE 50, 205 (212 f.) – Strafbarkeit von Bagatelldelikten. 17 So BVerfG, 1 BvR 1658/96, UPR 1997, 186 (187).
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Zum anderen können die Lösungen nach der jeweils vorzunehmenden Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen der aktiven gesetzgeberischen Maßnahmen und der Eignung der denkbaren Mittel und Wege unterschiedlich sein.18 Dann sollen solche Lösungen die Aufforderung zur Kompromissbereitschaft beinhalten. Deswegen sind der Gesetzgeber, die vollziehende Gewalt, sowie die Gerichte bei alledem gehalten, stets die konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen zu beachten.19 Zuletzt stehen dem Gesetzgeber angesichts des vom BVerfG gelegentlich postulierten Vorbehalts amtlicher Erkenntnis die angemessenen Erfahrungsund Anpassungsspielräume zu.20 Das BVerfG kann erst dann auf Verfassungswidrigkeit erkennen, wenn der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht überhaupt nicht nachgekommen ist oder wenn eine anfänglich rechtskonforme Bestimmung wegen sich später verändernder Verhältnisse nunmehr verfassungsrechtlich untragbar geworden ist und der Gesetzgeber dennoch weiterhin in Untätigkeit verharrt oder evident fehlerhafte Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat.21 bb) Praxis der Evidenzkontrolle Mit großer Regelmäßigkeit hat das BVerfG bei der praktischen Anwendung der Evidenzkontrolle die Verfassungsbeschwerden abgewiesen, bei denen eine Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflichten gerügt wurde. Dabei gilt es zu beachten, dass die Prüfungspunkte der Evidenzkontrolle „gänzliche Untätigkeit“ und „unzureichender Schutz“ trotz bestehender gesetzlicher Einzelfallregelungen regelmäßig nicht vorliegen werden.22 Zudem können die Richter in einigen Entscheidungen unterschiedliche Auffassungen über den Begriff der „Evidenz“ haben und bei der Bewertung der Auslegung dieses Begriffs unterschiedliche Kriterien anwenden, so dass sich keine gemeinsame Entscheidungsgrundlage einstellt.23 18 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 225. 19 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 225 f. 20 BVerfGE 56, 54 (82) – Fluglärm; BVerfG, in: NJW 1983, 2931; BVerfG in: NJW 1987, 2287; BVerfG, 1 BvR 180/88, UPR 1998, 341, 343. 21 Siehe BVerfGE 56, 54 (81) – Fluglärm; ähnlich BVerfG, in: NJW 1996, 651 (652). 22 BVerfGE 56, 54 (55 ff.) – Fluglärm; BVerfGE 77, 170 (217 ff.) – Lagerung chemischer Waffen; BVerfGE 79, 174 (202) – Straßenverkehrslärm; BVerfG in: NJW 1995, 2343; BVerfG UPR 1998, 341 (343). 23 So BVerfGE 77, 170 (214 ff.) – Lagerung chemischer Waffen.
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cc) Evidenzkontrolle als Besonderheit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen? In der Praxis bedient sich das BVerfG unabhängig von den abwehrrechtlichen und objektiven Grundrechtsfunktionen flexibel sehr verschiedener Kontrollmaßstäbe.24 Die Prüfungsintensität ist nach Art der überprüften Grundrechte unterschiedlich ausgestaltet. Dazu kommen die Erwägungen hinsichtlich Komplexität, schwerer Überschaubarkeit und Unklarheit der Verhältnisse ebenso bei den üblichen Abwehrrechtsfällen zum Tragen.25 Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die mit dem Begriff der „Evidenzkontrolle“ angesprochene Entscheidungspraxis des BVerfG eine Besonderheit bei der Überprüfung der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen darstellt.26 b) „Untermaßverbot“-Kontrolle Die Thematik der Untermaßverbot-Kontrolle wurde zuerst von den Autoren Schuppert27, Canaris28 und Isensee29 aufgegriffen und später zu einem verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab weiterentwickelt.30 In der Regel ist bei der Untermaßverbot-Kontrolle im Gegensatz zur Evidenzkontrolle eine höhere Kontrolldichte ermöglicht. Das Bundesverfassungsgericht prüft hier im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle auf der Grundlage sorgfältiger Tatsachenermittlung, ob der verfassungsgebotene Mindeststandard durch den Staat effektiv gewährleistet ist.31 Das Bundesverfassungsgericht hat die „Untermaßverbot“-Kontrolle schrittweise im zweiten Abtreibungsurteil32 aufgegriffen und insbesondere zum Maßstab für die Begrenzung des legislativen Gestaltungsspielraumes gemacht.33 Die „Untermaßverbot“-Kontrolle lässt zwei Merkmale erkennen: Zum einen ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle begrenzt auf die Ergeb24
BVerfGE 50, 290 (332 ff.) – Mitbestimmung. BVerfGE 77, 84 (106 f.) – Arbeitnehmerüberlassung; BVerfGE 95, 267 (309 ff.) – Altschulden; BVerfGE 96, 288 (303) – Integrative Beschulung. 26 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 229. 27 Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 15. 28 Canaris, JuS 1989, S. 163. 29 Isensee, in: HdbStR V, S. 203 f. 30 Klein, O., JuS 2006 (11), S. 960 ff. 31 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 230 f. 32 BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch II. 33 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 143. 25
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niskontrolle, womit das „Wie“ der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen der Kontrolle durch das Verfassungsgericht weitgehend entzogen bleibt.34 Zum anderen ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt auf eine Minimalkontrolle, denn „soll das Untermaßverbot nicht verletzt werden, muss die Ausgestaltung des Schutzes durch die Rechtsordnung Mindestanforderungen entsprechen“.35 Demnach soll das Schutzminimum dann jedenfalls nicht erreicht sein, wenn der Gesetzgeber evident seine Schutzpflicht verletzt hat (Evidenzformel).36 Beispielsweise genießt der Schutz des Lebens als ein Schutzminimum im zweiten Abtreibungsurteil einen absoluten Vorrang vor jedem anderen Rechtsgut.37 Demnach ist der Staat zur Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen hinsichtlich des Schutzes des Lebens aufgefordert, ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art zu ergreifen.38 Nach BVerfG ergibt sich für den Gesetzgeber aus der sich weiter verschärfenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle eine zunehmende Einengung seines Gestaltungsspielraums.39 Jedoch verbleibt die Reichweite der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen im Ermessensspielraum des Gesetzgebers, da die Verfassung der Legislative allein den Schutz als Ziel, aber nicht seine Ausgestaltung im Einzelnen vorgibt.40 Im Einzelfall ist die Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen immer an die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts sowie der kollidierenden Rechtsgüter geknüpft. Dennoch hat der Gesetzgeber „das Untermaßverbot“ bei seiner Schutzausgestaltung im einzelnen Fall zu berücksichtigen, wonach der Schutz angemessen, wirksam und ausreichend auszugestalten ist.41 Indem das Untermaßverbot so die Untergrenze des (legislativen) Gestaltungsspielraumes vorzeichnet, ist damit auch ein vorsorglicher Hinweis darauf gegeben, dass der Schutz nicht hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Minimum zurückbleiben darf. Im Wesentlichen entspricht das Untermaßverbot bei der konkreten Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen weitgehend einem positiv verstandenen Verhältnismäßigkeitsprinzip, da beide die Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit umfassen. 34
Klein, O., JuS 2006, S. 961. BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch (= NJW 1993, 1751). 36 Siehe BVerfGE 56, 54 (80) – Fluglärm (= NJW 1981, 1655); auch Klein, O., JuS 2006, S. 961. 37 BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch. 38 BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch. 39 BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch. 40 BVerfG, 2 BvR 169/93, NVwZ 1997, S. 54 (55). 41 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 231. 35
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Im Verlaufe später ergangener Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht sich nur noch im Einzelfall auf die Rechtsfigur des Untermaßverbotes bezogen, ohne dabei eine Begriffskonkretisierung vorzunehmen.42 Vor diesem Hintergrund ist die Frage, wann ein verfassungswidriges Schutzdefizit vorliegen soll und nach welchen Kriterien ein Verstoß gegen das Untermaßverbot festzustellen ist, bislang noch nicht hinreichend beantwortet. c) Rückkehr zur Evidenzkontrolle In jüngerer Zeit hat die Evidenzkontrolle bei der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen wieder an Bedeutung gewonnen. Demnach verbleibt die Feststellung einer Verletzung der objektiven Grundrechtsfunktionen durch das BVerfG auf Fälle beschränkt, in denen staatliche Organe gänzlich untätig bleiben, oder die bisher vom Staat getroffenen Maßnahmen evident ungenügend sind.43 2. Prüfungsstufen Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen erfolgt vom BVerfG in drei Stufen. Der Aufbau dieser drei verfassungsgerichtlichen Prüfungsstufen lässt hierbei erkennen, wie das BVerfG die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit zu umgehen bemüht ist. Das Bundesverfassungsgericht prüft in der 1. Stufe die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der bestehenden normativen Regelungen.44 Auf der 2. Stufe wird untersucht, ob eine Verletzung der objektiven grundrechtlichen Schutzfunktionen bei der Auslegung und Anwendung der untersuchten gesetzlichen Regelung durch die Fachgerichte im konkreten Fall überhaupt in Betracht zu ziehen ist. Dem folgt in der abschließenden 3. Prüfungsstufe eine Ergebniskontrolle anhand der objektiven Schutzwirkung der Grundrechte.45 Diese drei Prüfungsstufen sollen die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber präzisieren. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erfolgt somit durch unterschiedliche Kontrollmechanismen mit unterschiedlichen Voraussetzungen 42 BVerfG in: NJW 1995, S. 2343 – Alkoholgrenzwert; BVerfG in: NJW 1996, S. 651 – Ozon. 43 BVerfG in: NJW 1995, 2343 – Alkoholgrenzwert; BVerfG in: NJW 1996, 651 – Ozongesetz. 44 BVerfGE 53, 30 (56 ff.) – Mülheim-Kärlich; BVerfG, 1 BvR 1658/96, UPR 1997, 186 (187); BVerfGE 96, 375 (393) – Kind als Schaden. 45 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 232.
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(Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, intensivierte inhaltliche Kontrolle), damit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, insbesondere bei Prognoseentscheidungen, eine sachgemäße Berücksichtigung und der notwendige Respekt widerfährt.46 Die mit Rücksicht auf solche Erwägungen eingebundenen verfassungsgerichtlichen Prüfungsstufen erweisen sich als selbstständige Richtigkeitsgaranten, sofern eine bestimmte Problemlösung nicht schon aus den bestehenden materiellen Vorgaben vollzugsfähig nahe gelegt ist.47 3. Unterschiedliche Kontrolldichte bei Abwehr- und Schutzrechten? Den oben erwähnten Darstellungen lässt sich entnehmen, dass die Grundrechtskonformität der gesetzlichen Regelungen bei der Verwirklichung von objektiven Grundrechtsfunktionen ähnlich wie bei der Verwirklichung von subjektiven Abwehrrechten in den Schritten Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung des Eingriffs geprüft wird.48 Diese verfassungsgerichtliche Vorgehensweise in drei Prüfungsstufen kommt der allgemeinen verfassungsgerichtlichen Prüfung einer Grundrechtsverletzung entweder in ihrer abwehrrechtlichen Funktion oder in ihrer objektiven Grundrechtsfunktion gleich. Vor diesem Hintergrund greift das BVerfG stets auf seine allgemeine Rechtsprechung zur Kontrolldichte bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen zurück. Das ist ebenfalls der Fall, wenn die Fälle die staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen treffen.49 Jedoch hat das BVerfG in einem jüngst ergangenen Beschluss versucht, einen wesentlichen Unterschied zwischen abwehrrechtlicher Funktion und den objektiven Grundrechtsfunktionen dahingehend zu bestimmen, dass „das Abwehrrecht in Zielsetzung und Inhalt ein bestimmtes staatliches Verhalten fordert, während die (grundrechtliche) Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt ist.“50
Deshalb bleibt die zukünftige Entwicklung noch abzuwarten. Jedoch neigt das Bundesverfassungsgericht in Fällen, in denen die Beeinträchtigung schwer wiegt, zu einer intensiveren und umfassenden Prüfung der Verletzung einer Schutzpflicht.51 46
Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? S. 28. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, S. 493. 48 Grabenwarter, EuGRZ, 2006, S. 487. 49 So BVerfGE 53, 30 (61) – Mülheim-Kärlich; 32, 211 (316) – Grabstein-Vertreter; 42, 143 (148 f.) – Deutschland-Magazin; 49, 304 (314) – Sachverständigenhaftung. 50 BVerfGE 96, 56 (64) – Vaterschaftsauskunft. 51 So BVerfG, AfP 1998, 500 (501 f.) – Wehrmachtsausstellung. 47
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IV. Wahrung der „Balancen der Gewaltenteilung“ bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen Im Art. 1 Abs. 3 GG sind die drei Teilgewalten Legislative, Exekutive und Judikative als Adressaten der objektiven Grundrechtsfunktionen genannt. Daraus ergibt sich die Frage, in wie fern es den drei Staatsgewalten bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen möglich ist, die wechselseitige Balance aufrecht zu erhalten? 1. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Weil ein Spannungsverhältnis zwischen der politischen Entscheidungsbefugnis der Legislative und der gerichtlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht besteht, sind zunächst die Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen in den Mittelpunkt zu stellen. Seit langem hat das BVerfG aufgrund der Prinzipien von Gewaltenteilung und Demokratie in seiner ständigen Rechtsprechung52 der Legislative einen weiten Einschätzungs-, Bewertungs- und Gestaltungsspielraum zugestanden. Demnach ist eine Verletzung der objektiven Grundrechtsdimension im Sinne der Evidenz-Kontrolle erst dann vom BVerfG festzustellen, wenn der Gesetzgeber keine Schutzvorkehrung getroffen hat oder die getroffene Schutzvorkehrung hinsichtlich des zu schützenden Rechtsgutes offenkundig gänzlich unzureichend ist.53 Diese Kriterien fanden im Schrifttum weitestgehend Zustimmung. Mit dem zweiten Abtreibungsurteil54 erging vom Bundesverfassungsgericht die Aufforderung zur gesetzgeberischen Erfüllung der objektiven Grundrechtsdimension unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle des sogenannten Untermaßverbots. Der Gesetzgeber wird also aufgefordert, die Mindestanforderungen an einen angemessenen und wirksamen Grundrechtsschutz einzuhalten. Wenn die gesetzgeberische Erfüllung zum Schutz der objektiven Grundrechtsdimension unterhalb des Mindeststandards liegt, stellt dies eine Verletzung der objektiven Grundrechtsfunktionen dar. Dem Gesetzgeber steht es jedoch im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes frei, die notwendigen Mindestanforderungen zu Gunsten der Bürger überzuerfüllen. Der Umfang des Gestaltungsspielraums hängt von unterschiedlichen 52 BVerfGE 77, 381 (405) – Gorleben; 79, 174 (202) – Straßenverkehrslärm; 85, 191 (212 f.) – Nachtarbeitsverbot. 53 BVerfGE 56, 54 (81) – Fluglärm; 77, 381 (405) – Gorleben; 79, 174 (202) – Straßenverkehrslärm; 85, 191 (212 f.) – Nachtarbeitsverbot. 54 BVerfGE 88, 203 (254 ff.) – Schwangerschaftsabbruch II.
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Faktoren ab: Eigenart des Sachbereichs, Möglichkeit zur Bildung eines sicheren Urteils, Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter.55 Auch auf der Grundlage des Untermaßverbotes wird dem Gesetzgeber im gleichen Maße ein Gestaltungsspielraum eröffnet, dessen Überschreitung im Einzelfall zu überprüfen ist. Die Gefahren unterscheiden sich in ihrer Berechenbarkeit, ihrem Ausmaß und ihrer Reversibilität. Ebenso finden sich Unterschiede im Rahmen der Möglichkeiten zur Selbsthilfe oder der staatlichen Handlungsfähigkeit. Des Weiteren ist mit den unterschiedlichen Schutzgütern ebenso die unterschiedliche Schutzempfindlichkeit zu verbinden.56 Gleichzeitig hat der Gesetzgeber eine Abwägung unter Berücksichtigung der entgegenstehenden Allgemeininteressen sowie der Grundrechte Dritter vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund sollen die jeweils getroffenen Schutzmaßnahmen den sich immer verändernden Herausforderungen zu genügen versuchen und der dynamischen Auslegung der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen in Einzelfall immer große Bedeutung zukommen. Zusammenfassend konnte oder wollte das BVerfG noch keine allgemeingültige Formel für den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum auf der Grundlage des Untermaßverbots vorgeben.57 Mit dem Untermaßverbot lässt sich die Begrenzung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes nur abstrakt und allgemein bestimmen. Jedoch hat das gesetzgeberische Unterlassen aufgrund der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen zumindest besondere Bedeutung in der Grundrechtsdogmatik erlangt. Demnach prüft das Bundesverfassungsgericht immer zuerst, ob der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht zur Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen nachgekommen ist. Danach prüft das Bundesverfassungsgericht erst, ob der Gesetzgeber im Rahmen seiner gesetzgeberischen Pflichterfüllung alle wesentlichen Faktoren zum Grundrechtsschutz zureichend berücksichtigt hat. Anders gesagt, der Gesetzgeber verfügt zuerst über seinen eigenen Gestaltungsspielraum, danach bleibt dem Gesetzgeber trotz seines Gestaltungsspielraums jedoch auch grundsätzlich aufgetragen, die unterschiedlichen, manchmal kollidierenden Rechtsgüter zu beachten, verhältnismäßig zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. 2. Gestaltungsspielraum der Exekutive Seit der C-Waffen-Entscheidung58 gab das Bundesverfassungsgericht zu verstehen, dass der vollziehenden Gewalt neben dem Gesetzgeber ebenso 55 56 57 58
So BVerfGE 88, 203 (262) – Schwangerschaftsabbruch II. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 96. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 96. BVerfGE 77, 170 – C-Waffen.
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ein weiter Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen zukommt. Dadurch wird der Exekutive der Raum eröffnet, die konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen verhältnismäßig zu berücksichtigen. Dennoch sind, da für das Schutzhandeln der Exekutive das Prinzip der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ gilt, die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der Exekutive enger gefasst als diejenigen, die der Legislative zuteilwerden. Der Gesetzgeber ist zuerst aufgefordert, in den einschlägigen Rechtsgrundlagen, so beispielsweise im Versammlungsgesetz oder in einschlägigen Polizeigesetzen, die diesbezüglichen Handlungsermächtigungen bzw. Handlungsgebote für den Vollzug zu normieren. Danach obliegt es den Vollzugsorganen, die Schutzpflicht im Wege der Verwaltung zu konkretisieren.59 Die Exekutive und damit ihre Vollzugsorgane erfüllen den ihnen vom Gesetz aufgetragenen, ausgedehnten Schutzauftrag üblicherweise im Bereich der gesetzesakzessorischen Verwaltung in vielen unterschiedlichen gesetzeskonformen Formen. Dazu gehören u. a. die präventive Schutznormdurchsetzung mittels Kontrolle, Überwachung, regierungsamtlicher Warnungen oder unmittelbar gefahren-beseitigenden Einschreitens, repressive Maßnahmen im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts bis hin zur gesetzesfreien, „unbürokratischen“ Soforthilfen bei Vorliegen eines Not- und Katastrophenfalls.60 Außerdem kann die Exekutive auch als Schutznormgeber auftreten, wenn sie Rechtsverordnungen, Satzungen oder Verwaltungsvorschriften erlässt. Diesbezüglich sind beispielsweise Polizeiverordnungen und der Erlass normkonkretisierender Bestimmungen zu zulässigen Grenzwerten bei der Schadstoff- und Geräuschemission zu nennen.61 Der Exekutive ist dann ein Gestaltungsspielraum bei der Anwendung der gesetzlichen Vorschriften im jeweiligen Einzelfall ermöglicht, wenn der Gesetzgeber im Wege unbestimmter Rechtsbegriffe und der Einräumung vom Ermessensspielraum nur abstrakte, weitreichende Normen erlassen hat.62 Es darf als ausgeschlossen gelten, dass die objektiven Grundrechtsfunktionen dazu geeignet sind, die Ermessensspielräume der Verwaltung zu erweitern. 3. Gestaltungsspielraum der Judikative Auf den Gestaltungsspielraum der Judikative wurde bereits im Zusammenhang mit der Thematik der Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts andeutungsweise hingewiesen. Weil nicht allein das BVerfG son59 60 61 62
Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 282. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 15 ff. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 15 ff. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 142.
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dern ebenso alle übrigen Gerichte hiervon betroffen sind, ist die Judikative hiermit allgemein aufgefordert, sich nur im Bereich ihrer eigenen Kompetenzen zu bewegen und insbesondere die Vorschriften der einfachgesetzlichen Gesetzgebung zu beachten. Die Aufgabenerfüllung der Judikative erfolgt stets in Anbindung an die bestehenden Gesetzesnormen. Trotz dieser Bindung verfügt die Judikative doch über einen Gestaltungsspielraum, insbesondere wenn ihr der Gesetzgeber im Wege von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen die Möglichkeiten zur Auslegung und Interpretation eröffnet hat. Jedoch wird der Gestaltungsspielraum der Judikative von der verfassungsgerichtlichen Überprüfung anhand der Maßstäbe von Evidenzkontrolle oder Untermaßverbot im jeweiligen Einzelfall kontrolliert.
B. Objektive Grundrechtsfunktionen in der EMRK und die Wahrung der demokratischen Ordnung in den Vertragsstaaten I. Ausgangslage Die Lehre von den objektiven Grundrechtsfunktionen der EMRK hat sich in den letzten Jahrzehnten sowohl durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch durch die Europäische Kommission für Menschenrechte entwickelt. Die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen fördert einerseits die mitgliedsstaatliche Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten und andererseits die Erweiterung der Prüfungskompetenz des EGMR. Damit stellen sich einige Fragen wie beispielsweise die, ob sich die Prüfungskompetenz des EGMR ebenso wie die des Bundesverfassungsgerichts bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen unvermeidbar ausweiten wird? Soll der EGMR als ein übernationaler Menschenrechtsgerichtshof bei der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen größere Zurückhaltung üben? Bis zu welcher Kontrollintensität soll der EGMR bezüglich der Prüfung auf Einhaltung der objektiven Grundrechtsdimension befugt sein? Wie und in wie fern darf der EGMR in den Beurteilungsspielraum eines Staates eingreifen, und wo liegt jene Grenze zwischen der Prüfungskompetenz des EGMR und dem Beurteilungsspielraum der demokratischen Vertragsstaaten? In diesem Zusammenhang sind hier zunächst Besonderheiten von EMRK und EGMR aufzuzeigen. 1. Besonderheiten der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag Die Europäische Menschenrechtskonvention, die EMRK, ist ein den Bestimmungen des Völkerrechts unterliegender internationaler, multilate-
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raler Vertrag. Die Besonderheit dieses völkerrechtlichen Abkommens besteht darin, dass es nicht nur die Mitgliedstaaten verpflichtet, sondern auch der der Hoheitsgewalt eines der Mitgliedstaaten unterworfenen Person unmittelbar Rechte verleiht.63 Im Hinblick auf die von der EMRK gewährten Rechte hat jede Person ein Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz (Art. 13 EMRK). Nach der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung können natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personengruppen durch ihre Behauptungen, dass sie durch eine Vertragspartei in einem der in der Konvention und in den Protokollen anerkannten Rechte verletzt sind, den EGMR anrufen (Art. 34 EMRK). Als völkerrechtlicher Vertrag verfügt die EMRK im Vergleich zum jeweiligen nationalen Grundrechtskatalog über ihre eigenen Besonderheiten. Zum Beispiel steht das Subsidiaritätsprinzip beim Schutz der Konventionsrechte regelmäßig im Vordergrund. Die EMRK entfaltet ihre Wirkung also in Ergänzung des nationalen Grundrechtsschutzes. Dabei zielt die EMRK in keinem Fall auf die Aufhebung oder Verminderung des nationalen Grundrechtsschutzes ab. Im Rahmen der EMRK kann nur dann eine Verletzung der objektiven Grundrechtsfunktionen geltend gemacht werden, wenn der angeprangerte Vertragsstaat es versäumt hat, das unerlässliche und damit notwendige Maß an Schutz zu gewährleisten. Was unter einem notwendigen Maß an Schutz zu verstehen ist, kann nicht allgemein festgelegt werden. Vielmehr sind der Einzelfall und die sich daraus ergebenden näheren Umstände für die Interpretation des Begriffs entscheidend. Gerade weil auf der EMRK-Ebene nicht auf einen allgemeingültigen europäischen Standard zur Lösung eines bestimmten Problems zurückgegriffen werden kann, kommt den Vertragsstaaten ein erheblicher Beurteilungsspielraum bei der Klärung der jeweiligen Rechtsfrage zu.64 Die von Gerichtshof und Kommission erreichte Standardisierung hat daher nur zu graduellen Einschränkungen des staatlichen Beurteilungsspielraums in Verbindung mit abgestuften Rechtfertigungs- bzw. Argumentationslasten der Vertragsstaaten geführt.65 Daraus lassen sich aber noch keine klaren Kriterien für die Reichweite des staatlichen Beurteilungsspielraums im Einzelfall entnehmen. Das hängt damit zusammen, dass es auf der EMRK-Ebene an einer der nationalen Legislative vergleichbaren Instanz fehlt und diese 63 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Einführung Rn. 4; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 277. 64 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 876. 65 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 881.
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Staatsgewalt normalerweise die erforderliche unmittelbare Standardisierung des verbindlichen Rechts selbst vornimmt.66 In Deutschland kommt den Bestimmungen der EMRK als denen eines völkerrechtlichen Vertrags nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu. Die Gewährleistungen der EMRK sind daher allein als Hilfe zur Auslegung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes heranzuziehen.67 Dementsprechend ist das zeitlich nachfolgende Bundesrecht ebenfalls in Übereinstimmung mit der EMRK auszulegen und anzuwenden. 2. Besonderheiten des EGMR als internationaler Gerichtshof Der EGMR ist ein internationales Gericht. Dem EGMR obliegt die Überprüfung letztinstanzlicher Entscheidungen nationaler Gerichte unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung der konventionsrechtlich gewährten Menschenrechte.68 Aber der EGMR übt nur subsidiär seine Gerichtsbarkeit im Bereich der Menschenrechte über eine Reihe von europäischen Staaten aus, um das gemeinsame europäische Erbe zu verwalten.69 Dabei ist dieser Internationale Gerichtshof gehalten, die rechtlichen und tatsächlichen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, was insbesondere bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen in den Mitgliedstaaten gilt. Vor allem kann der EGMR nicht stellvertretend für die nationalen Instanzen (Gesetzgebung, Verwaltungen und Gerichtsbarkeit) handeln. Das EGMR darf nur die Rechtmäßigkeit der staatlichen Maßnahmen unter Berücksichtigung des staatlichen Beurteilungsspielraums überprüfen. Dies deshalb, weil die nationalen Instanzen aufgrund ihrer genauen Kenntnis der Bedürfnisse ihrer Gesellschaft den konkreten Fall besser beurteilen können als ein internationales Gericht.70 Diese Zurückhaltung der internationalen Gerichte trägt im Übrigen zur Wahrung des Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzips bei. Ein weiterer Grund für den weiten Einschätzungsspielraum der Vertragsstaaten ist es, dass der EGMR gegenüber dem Bundesverfassungsgericht nicht als oberstes Rechtsmittelgericht gesehen werden kann, sondern nur als 66
Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 881 f. 67 Mückl, Der Staat 2005 (44), S. 430. 68 Weber, A., Europäische Verfassungsvergleichung, S. 341. 69 Lenz, NJW 1997, S. 3290. 70 EGMR 98, 9, 32 § 46 – James u. a. vs. UK; Calliess, EuGRZ 1996, 293 ff.
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ein internationales und subsidiäres menschenrechtliches Spezialgericht.71 Vor diesem Hintergrund kann sich die Kontrolle des EGMR nur auf die Prüfung beschränken, ob die Rechte der Beschwerdeführer im Entscheidungsfindungsprozess angemessen geschützt werden, und ob die durch die nationalen Instanzen vorgetragenen Rechtfertigungsgründe vernünftigerweise von den von ihnen festgestellten Sachverhalten unterstützt werden können.72 Angesichts der Komplexität der Streitfragen auf den Gebieten von Medizin, Moral, Naturwissenschaft, Recht und sozialem Gebiet übt der EGMR bei der Ableitung der objektiven Grundrechtsfunktionen aus den Einzelgarantien der EMRK eher Zurückhaltung.73 Das ergibt sich schon daraus, dass viele Fragestellungen in einem bestimmten Entscheidungspunkt entweder noch nicht wissenschaftlich geklärt sind oder eine Einigkeit unter den Experten der einzelnen Disziplinen nicht besteht. Wie weit der Erkenntnisstand auf den oben genannten Gebieten fortgeschritten sein muss, gilt auch noch unter Richtern als im Einzelfall umstritten.74 Deshalb sind die Vertragsstaaten eher in der Lage, sich den konkreten Hintergründen einer Streitfrage auf den oben genannten komplizierten Gebieten zu nähern. 3. Verhältnis von BVerfG und EGMR Obwohl der EGMR und das BVerfG auf unterschiedlichen rechtlichen Systemen auf zum Teil parallelen und zum Teil komplementären Gewährleistungen basieren, haben sie doch eine gemeinsame Aufgabe, nämlich, die gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung zu fördern. Der Maßstab des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Europäische Menschenrechtskonvention, der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundgesetz. Jedoch zeichnen sich die Kataloge der Grundrechte von GG und der EMRK dadurch aus, dass sie eine Vielzahl gleichsinniger Regelungen umfassen und eine große innere Verwandtschaft aufweisen.75 In Deutschland ist der EMRK aufgrund ihrer Herkunft als völkerrechtlicher Vertrag der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zugewiesen. Das 71 Lenz, NJW 1997, S. 3290; Winkler, Der Beitritt der EG zur EMRK, S. 33 f.; Ekardt/Lessmann, EuGH, EGMR und BVerfG, in: KJ 39 (2006), S. 381 ff. 72 Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 886. 73 So EGMR in: ÖJZ 1998, 271 – X & Y vs. Z/VK (Transsexuelle-IV). 74 Siehe EGMR Report 1998-V, in: ÖJZ 1999, 571 – Sheffield und Horsham vs. GB. 75 Limbach, EuGRZ 2000, S. 417 ff.
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BVerfG vertritt deshalb die Auffassung, dass die Entscheidungen des EGMR keineswegs bedingungslos zu befolgen seien, sondern diesen vielmehr allein durch die nationalen Staatsorgane Berücksichtigung widerfahren müsse.76 Nichtsdestoweniger gilt die EMRK in der Rechtspraxis auf jeden Fall noch als „Auslegungshilfe“ für die Bestimmung der Grundrechte des Grundgesetzes.77 Obgleich zwischen dem EGMR und dem BVerfG inhaltliche Divergenzen bestehen, ergeben sich daraus dennoch keine Zuständigkeitskonflikte. Das liegt in dem Umstand begründet, dass die Beschwerde vor dem Straßburger Gerichtshof erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs möglich ist (Art. 35 EMRK).78 Dasselbe Prinzip gilt auch für den innerstaatlichen Rechtsweg, da die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts erst zulässig ist, wenn zuvor alle niedrigeren innerstaatlichen Instanzen erschöpft sind. So kann den Kompetenzkonflikten zwischen den beiden Gerichten vorgebeugt werden. Ferner sind die Entscheidungswirkungen des EGMR und des BVerfG in ihren textlichen Gesetzesregelungen auch unterschiedlich ausgestaltet. Nach § 31 BVerfGG binden die Entscheidungen des BVerfG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.79 In den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 BVerfGG hat die Entscheidung des BVerfG sogar Gesetzeskraft.80 Dagegen begründen die Urteile des EGMR nach Art. 46 Abs. 1 EMRK nur eine innerstaatliche Beachtungspflicht für jeden öffentlichen Rechtsanwender.81 Wie sich diese Entscheidungswirkungen des EGMR im innerstaatlichen Recht aktualisieren, geht aus dieser Vorschrift nicht hervor.82 Überlicherweise werden eine Rechtskraft- und eine Orientierungswirkung unterschieden.83
76
Ekardt/Lessmann, KJ 39 (2006), S. 386 ff. Mückl, Der Staat 2005 (44), S. 430. 78 Limbach, EuGRZ 2000, S. 418. 79 Siehe Heusch, in: BVerfGG, § 31; siehe auch BVerfGE 4, 31 (39) – 5% Sperrklausel; BVerfGE 5, 34 (37) – Baden-Abstimmung; BVerfGE 20, 56 (86 f.) – Parteienfinanzierung I; BVerfGE 33, 199 (203); BVerfGE 69, 92 (103) – Spenden an kommunale Wählergruppen. 80 Siehe BVerfGE 24, 300 (351) – Wahlkampfkostenpauschale; BVerfGE 85, 264 (326) – Parteienfinanzierung II; BVerfGE 82, 310 – Aschendorf. 81 Mückl, Der Staat 2005 (44), S. 430. 82 Mückl, Der Staat 2005 (44), S. 415. 83 Ress, EuGRZ 1996, S. 350; auch BVerfGE 111, 307 (323) – EGMR-Entscheidungen. 77
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II. Problematik: Eingriff des EGMR in die Kompetenzen der drei Staatsgewalten bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen Die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen könnte zur Ausweitung der Kompetenz des EGMR führen, weil der Gerichtshof die von Vertragsstaaten getroffenen Entscheidungen darauf überprüfen kann, ob sie möglicherweise die Konventionsrechte im Bereich der objektiven Grundrechtsfunktionen verletzt haben. Aufgrund der vielen bereits geschilderten Besonderheiten der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag und des EGMR als internationaler Gerichtshof ist es folgerichtig, wenn das Konventionsgericht im Wege seiner Rechtsprechung Zurückhaltung im Bereich der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen übt. Infolgedessen wird den Vertragsstaaten auf diese Weise ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum eingeräumt, der den Grundsätzen von staatlicher Souveränität und Demokratie in sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen entspricht.84 Das steht in Übereinstimmung mit den Aussagen der Art. 8 II–11 II EMRK, wonach die „Aufrechterhaltung der Grundfreiheiten wesentlich auf einem wahrhaft demokratischen politischen Regime und auf einer gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschenrechte beruht.“
Im Wortlaut der EMRK sind in der Präambel und im Art. 3 1. ZP EMRK das Demokratieprinzip und insbesondere „das Recht auf freie Wahlen“ verankert. Demnach ist es das oberste Ziel der Konvention, dem Schutz der Menschenrechte in der demokratischen Gesellschaft zu dienen. Während die abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen auf eine Unterlassungspflicht des Staates abzielen, zielen die objektiven Grundrechtsfunktionen auf die Reglementierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Da die EMRK jedoch nicht jede Detailfrage des gesellschaftlichen Miteinanders regelt, kann auch nicht der EGMR hierüber entscheiden. Vielmehr muss die vorzunehmende Reglementierung in den einzelnen Vertragsstaaten im Wege eines politischen und demokratischen Prozesses erfolgen.85 Eine allzu aktivistische konventionsrechtliche Rechtsprechung würde demnach ihr Ziel verfehlen. Wenn der EMGR die Maßnahmen eines nationalen Gesetzgebers für konventionswidrig erklärt, so kann das im Einzelfall im Widerspruch zu Entscheidungen des Parlamentes stehen, das aus vom Volk gewählten Vertretern besteht und daher demokratische Legitimation besitzt.86 Andererseits 84 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 154. 85 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 173. 86 Krieger, in: EMRK/GG, S. 301.
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sind die Vertragsstaaten auch nicht gehalten, den absoluten Grundrechtsschutz bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen zu gewährleisten.87 Ein absoluter Schutz würde ein Übermaß an Kontrolle und Überwachung des Staates erfordern und somit den freiheitlichen Geist der Konvention und die abwehrrechtlichen Funktionen der einzelnen Konventionsrechte gefährden. Deshalb verpflichtet die mit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen verbundene Schutzpflicht die Staaten nicht einen bestimmten Erfolg herbeizuführen. Außerdem ist ebenfalls unmöglich, dass die Vertragsstaaten infolge jeder bei einer Privatperson tatsächlich eingetretenen Rechtsgutverletzung unbedingt in der Verantwortung stehen.88 Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage: Wo ist eigentlich die Grenze zwischen einer Selbstbeschränkung der Prüfungskompetenz des EGMR und des weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraums des Staates zu ziehen? Wie lassen sich einesteils die Interventionen des EGMR auf dem Wege der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen in den „demokratischen Gesellschaften“ umgehen, um somit den Grundsatz der Gewaltenteilung in den Vertragsstaaten besser wahren zu können, und wie lässt sich anderenteils die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsdimension auf Ebene der EMRK dennoch richtig und wirksam absichern? Diese aufzufindende Grenze kann sich dabei als wichtiger Bestandteil einer Abwägung zwischen Individualinteressen und den Interessen der Allgemeinheit erweisen. Im folgenden ist die konkrete Kontrolldichte des EGMR bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen zuerst zu erörtern. III. Grenzen: Kontrolldichte des EGMR bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen 1. Einführung: Margin of appreciation Mit der Frage nach der Kontrolldichte des EGMR soll geklärt werden, mit welcher Dichte der EGMR die Tatsachenfeststellungen und die durch nationale Gerichte und Behörden erfolgte Auslegung des innerstaatlichen Rechts kontrolliert.89 Das betrifft Fragen nach der Subsidiarität und Zuständigkeitsverteilung zwischen den internationalen und nationalen Ebenen. Aus dem Blickwinkel des EGMR kommt dabei der Theorie des „margin of appreciation“ – zu Deutsch: „Beurteilungsspielraum der nationalen Behörden“ – weitreichende Bedeutung zu.90 Die Grundregel des „margin of appreciation“ 87 88 89 90
Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 174. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 174. Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 483. Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 483.
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lautet, dass die konventionsrechtlichen Kontrollen durch den EGMR und die EKMR umso strenger erfolgen, je intensiver die Konventionsgarantien von den staatlichen Maßnahmen oder Unterlassungen betroffen sind, oder je strengere Anforderungen an das vertragsstaatliche Handeln oder Unterlassen sich aus den Konventionsgarantien ergeben. Diese auf die Intensität einer Kontrolle bezogene Grundregel ist allerdings in hohem Maße vom Einzelfall abhängig und birgt die Gefahr richterlicher Willkür in sich.91 2. Kontrollbefugnis der Straßburger Organe Die EMRK umfasst nicht die ausdrücklichen, allgemeingültigen Gewährleistungsschranken zum Grundrechtsschutz. Diese Schranken der EMRK sind vielmehr in den einzelnen Grundrechten selbst verankert.92 Der Wortlaut einiger Artikel weist eindeutig aus, ob die Kontrollkompetenz des EGMR im konkreten Fall als eng oder weit eingestuft werden muss. Art. 2, Art. 3 und Art. 4 EMRK, die sich auf Leben, Tod, Folter und Sklaverei beziehen, enthalten ein absolutes Verbot, das dem Staat keinen Ermessensspielraum gibt.93 In den Schrankenvorbehalten nach den Art. 8–11 Abs. II EMRK, die die Garantien von Privatsphäre, von Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, von Meinungsfreiheit und von Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit betreffen, befindet sich die Kontrolldichte der Straßburger Organe in starker Abhängigkeit vom jeweils konkreten Verständnis der unbestimmten Rechtsbegriffe. Nach den Art. 15, 16 und 17 EMRK, die den Notstandsfall, Ausländerklausel und Missbrauchsverbot ansprechen, kommt Kommission und Gerichtshof eine strenge Kontrolldichte zu. Nach Art. 53 EMRK hat die Konvention jedoch lediglich einen Mindeststandard zu garantieren, denn die Rechte der EMRK sollen nicht als Ersatz der in nationaler Verantwortung getroffenen Regelungen herangezogen werden.94 Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP EMRK verweist bezüglich der eigentumsrechtlichen Regelungen auf eine lockere Kontrolldichte durch die Straßburger Organe. Der Art. 3 des 1. ZP EMRK deutet mit dem Wortlaut „die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Organe gewährleisten“ auf die ebenso niedrige internationale Kontrolldichte des EGMR gegenüber den Vertragsstaaten hin.95 91 Zum Ganzen Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 871 ff. 92 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 156. 93 Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 483; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 148. 94 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 150. 95 Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 483.
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Trotz der erwähnten Ansätze einiger Artikel lässt der Wortlaut der Konvention über die konventionsrechtliche Kontrolldichte, insbesondere über die im Mittelpunkt der Erörterung stehende Frage, ob ein Eingriff in eine demokratische Gesellschaft als notwendig zu erachten ist, nicht viel erkennen. Im Wesentlichen ist das Instrument der konventionsrechtlichen Kontrolldichte noch bis heute eine Schöpfung der Rechtsprechung geblieben. Bei der Auslegung der Rechtsprechung sollen die Konventionsorgane dennoch von jedweder Willkür absehen und eine Reihe von Prinzipien beachten. Zu diesen zählen die Prinzipien von Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Es ist zu bedenken, dass nationale Behörden im Vergleich zum internationalen Richter eher befähigt sind, Tatsachenfeststellungen zu treffen.96 Die Beurteilung der Kontrolldichte der Konventionsorgane hat sich zudem den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Naturgemäß gehören die Inhalte der gesellschaftspolitischen Entscheidungen in den weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten. Allerdings lässt sich unter veränderten Umständen – wie beispielsweise dem, eines neuen europäischen Konsenses oder im Zuge anderweitiger internationaler Entwicklungen auf einem bestimmten Gebiet – eine zunehmend ausgeprägte Kontrolldichte mit der Zeit doch rechtfertigen. Darüber hinaus gehören zu den relevanten Prinzipien ebenso diejenigen, die sich in allen Mitgliedstaaten als Grundwerte etabliert haben und die demnach von den Vertragsstaaten ebenso einer einheitlichen Auslegung zugeführt werden sollen. Tritt beispielsweise auf irgend einem Wege der Umstand ein, sodass im Zuge von Grundrechtseinschränkungen die Funktionalität von Demokratie im Kernbereich bedroht ist, so ist der EGMR entgegen dem grundsätzlich geltenden Subsidiaritätsprinzip aufgefordert, eine strikte Kontrolle auszuüben.97 Herrscht vielleicht in den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Gewichtung der kollidierenden Grundrechte kein Einvernehmen, so muss sich jedoch der EGMR mit der Kontrolle zurückhalten. Ohne Vorliegen schwerwiegender Gründe darf der EGMR Einheitlichkeit in solchen Fällen nicht erzwingen. Beispielsweise sind die Vorstellungen von Moral und Religion in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich. Andersherum bedeutet dies aber nicht, dass internationale Kontrolle notwendig da aufhört, wo der nationale Eingriff auf der Grundlage von Moral geschieht. Die britische Regierung hatte sich zum Beispiel im Fall Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich98 darauf berufen, dass ihre Entscheidung im Einklang stünde mit der in Nord-Irland herrschenden Moralvorstellung, wonach das Verbot der Homosexualität für Personen über 21 Jahre rechtens sei. 96 97 98
Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 484. Zum Ganzen Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 484. EGMR, A 45, § 52 = EuGRZ 1983, 488 (496).
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Hier hat der EGMR seine Ausübung strikter Kontrolle damit begründet, dass eine Verletzung eines Grundrechts vorliege, da die sexuelle Orientierung zum Kernbereich des Rechts auf Privatleben gehöre.99 Die Bestimmung der internationalen Kontrolldichte hat sich im Laufe der Zeit als dynamischer Prozess, ihre ständige Entwicklung oft als kompliziert erwiesen. Die oben genannten Kriterien müssen häufig gleichzeitig zur Anwendung kommen. In den frühen Entscheidungen begrenzte der Gerichtshof seine Kontrolle noch auf Ermessensentscheidungen nationaler Behörden anhand des jeweiligen Konventionsartikels.100 Die später vom Gerichtshof ergangenen Entscheidungen zeigen dann eine zunehmende Ausweitung des engen Kontrollmaßstabs. Eine an den „margin of appreciation“ geknüpfte zurückhaltende Auslegung der Konventionsrechte wurde zusehends eingegrenzt und die dem EGMR obliegenden Überwachungsfunktion genauer definiert.101 Inzwischen ist die Kontrollkompetenz des Gerichtshofes nicht mehr allein darauf beschränkt zu prüfen, ob der beklagte Staat eine Erwägung in seinem Ermessensspielraum sorgfältig und in gutem Glauben beraten hat. Vielmehr ermittelt und beurteilt er auch den Sachverhalt eines Falls selbst unabhängig von der vorherigen nationalen Einschätzung.102 Daher führt der Gerichtshof eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch, indem er prüft, ob der Eingriff in angemessenem Verhältnis zum legitimen Zweck steht und ob die von den nationalen Behörden vorgebrachten Gründe für den fraglichen Eingriff im Einzelfall einschlägig, sachbezogen und ausreichend sind.103 Indes ist es jedoch nicht Aufgabe des EGMR, die den innerstaatlichen Gerichten zukommende Stellung zu ersetzen. Die Berechtigung der Kontrolle des EGMR ist vielmehr allein darauf bezogen, die nationalen Entscheidungen an den Maßstäben der eingeschränkten Rechte zu messen, und die nationale Einhaltung der Grenzen des nationalen Beurteilungsspielraums zu kontrollieren.104 Demnach ist es irreführend, dem europäischen Gerichtshof die Stellung eines internationalen obersten Rechtsmittelgerichts zumessen zu wollen, sondern er fungiert vielmehr als begrenzte Überwachungsinstanz.105 Ferner bleibt der Gerichtshof oberste Auslegungsinstanz der Konvention und bestimmt über die Grenzen der Auslegung.
99
EGMR, A 45, § 52 = EuGRZ 1983, 488 (496). EGMR, A 24, § 48 – Handyside; Prepeluh, ZaöRV 2001, S. 773. 101 Yourow, ZeuS 1998, S. 237 ff.; Macdonald, in: The European System for the rotection of Human Rights, S. 83 ff; Prepeluh, ZaöRV 2001, S. 772 ff. 102 Prepeluh, ZäöRV 2001, S. 773. 103 Siehe EGMR, A 130, § 68 – Olsson; EGMR A 90, § 55 – Barthold; EGMR, A 103, § 40 – Lingens. 104 EGMR, A 24, § 50 – Handyside; EGMR A 30, § 59 – Sunday Times; EGMR A 61, § 97 (b) – Silver. 100
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3. Unterschiedliche Kontrolldichte zwischen den positiven Schutzpflichten und den negativen Abwehrrechten? Obwohl die Konzeption des „margin of appreciation“ von der Rechtsprechung des EGMR auf den Bereich der objektiven Grundrechtsfunktionen übertragbar ist, stellen weiterhin die mit der EMRK garantierten Menschenrechte, dem deutschen Grundgesetz vergleichbar, vorwiegend noch negative Abwehrrechte dar. Diese untersagen dem Staat gewisse Handlungen. Seit 1979 können einige Konventionsrechte, insbesondere Art. 8 EMRK, mittels einiger Fälle (z.B, Marckx106 und Airey107) positiv staatliche Schutzpflichten vermitteln. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, ob die Konventionsorgane, sich bei ihrer Kontrolle bezüglich der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen in Zurückhaltung üben müssen, um somit den nationalen Behörden einen größeren Ermessensspielraum bei der Erfüllung ihrer positiven grundrechtlichen Schutzpflichten zu gewähren. Auf dem Gebiet der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen ist ein weiter Spielraum des Staates vertretbar. Denn hier bekennt sich der Staat, anders als bei den negativen Abwehrrechten, zur positiven Schutzpflicht. Eine Verletzung dieser Schutzpflicht liegt dann vor, wenn der Staat verpflichtet gewesen wäre einzugreifen, dies aber unterlassen hat.108 Demzufolge kann der EGMR unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips dem Staat im gegebenen Fall nicht detailliert vorgeben, was er im Einzelnen positiv zu tun habe.109 Dennoch könnte eine lockere Kontrolldichte der Konventionsorgane verbunden mit weiteren nationalen Ermessensspielräumen viele Nachteile nach sich ziehen. Beispielsweise eröffnet die zurückhaltende Kontrolldichte der Konventionsorgane den Staaten die Möglichkeit, die strikten Bestimmungen der EMRK zu unterlaufen. In diesem Fall würde dann die zurückhaltende konventionsrechtliche Kontrolldichte entgegen der üblichen Prüfungsintensität des EGMR ein geringeres Schutzniveau bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen aufweisen.110 Fraglich ist, ob die theoretische Vermutung sich bestätigt, dass die nationalen Ermessensspielräume bei der Verwirklichung der objektiven Grund105 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 155. 106 EGMR, A 31, § 31 – Marckx. 107 EGMR, A 32, § 25/32 – Airey. 108 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 299. 109 Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 485. 110 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 161.
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rechtsfunktionen größer sind als diejenigen bei der Verwirklichung der negativen Abwehrrechte. Gegen eine enge Verbindung zwischen der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen und einem weiten nationalen Ermessensspielraum spricht zunächst, dass der EGMR weder in den Fällen Marckx und Airey, noch in einer Vielzahl später ergangener Urteile111 explizit auf den Begriff „margin of appreciation“ (Beurteilungsspielraum der nationalen Behörden) zurückgegriffen hat, und den Begriff in seinen Ausführungen zum Teil nicht einmal erwähnt hat. In der Praxis findet sich die Verletzung einer objektiven Grundrechtsdimension auch seltener als die Verletzung der Abwehrrechte durch Eingriffe des Staates. Dies deshalb, weil das Interesse des einzelnen Individuums bei der Verletzung der sich aus objektiven Grundrechtsfunktionen ergebenden positiven staatlichen Schutzpflichten regelmäßig in geringerem Maße beeinträchtigt ist, als bei der Nichterfüllung der sich aus negativen Abwehrrechten ergebenden negativen staatlichen Unterlassungspflichten.112 Demnach geht mit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen nicht unbedingt zwangsläufig auch ein Beurteilungsspielraum des Staates einher, der weiter ist als derjenige, der im Zusammenhang mit den negativen Abwehrrechten gegeben ist. Ob den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zuzugestehen ist und wie weit dieser zu bemessen ist, ergibt sich demnach bei beiden Konstellationen, positiven Schutzpflichten und negativen Abwehrrechten, aus denselben Kriterien.113 Dies lässt den Schluss zu, dass in der Praxis offenbar keine grundlegenden Unterschiede zwischen den negativen und objektiven Grundrechtsfunktionen bestehen. In beiden Fällen ist den Vertragsstaaten stets ein bestimmter Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum zugewiesen, deren Weite sich im Grundsatz danach bemisst, welche Umstände im jeweiligen Einzelfall berücksichtigt werden müssen. IV. Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten 1. Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten („margin of appreciation“) Der Begriffsinhalt von „margin of appreciation“ (wörtl. übertragen aus der Gerichtssprache des EGMR, franz. marge d’appreciation, mit der Bedeutung range of discretion) wird dem Inhalt des Begriffs, „Beurteilungs111 So EGMR A 160-Gaskin; EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande; EGMR A 232 C – B vs. Frankreich. 112 Siehe EGMR A 94 § 78 – Abdulaziz, Cabales and Balkandali. 113 EGMR A 121 § 60 – W. vs. UK; EGMR A 121 § 61 – B. vs. UK; EGMR A 172 § 41 – Powell and Rayner; EGMR A 299-B, § 38 – Stjerna.
Kap. 1: Grundrechtsfunktionen und „Balance der Staatsgewalten“
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spielraum der Vertragsstaaten“, üblicherweise gleichgestellt.114 Mit dieser Doktrin ist die Kompetenzfrage dahingehend aufgeworfen, in wie fern den nationalen Organen in der Beurteilung einer Rechts- und Sachlage ein Einschätzungsspielraum zu gewähren ist, der dann von Gerichtshof und Kommission zu beachten ist.115 Damit betrifft der „margin of appreciation“ im Kern die Frage nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten und den Straßburger Organen. Zudem ist mit dieser Vorstellung vom „margin of appreciation“ die rechtspolitische Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten hervorgehoben und damit die Kontrolle durch die Konventionsorgane begrenzt.116 Staatliche Maßnahmen zum Grundrechtsschutz auf der EMRKEbene, die im Rahmen des nationalen Beurteilungsspielraums getroffen werden, können je nach Abwägung im Einzelfall beispielweise aus Aufklärungsund Informationsmaßnahmen, Geboten und Verboten, Kontrollen, Anzeigeund Genehmigungspflichten und verwaltungsrechtlichen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen bestehen.117 Zur Ermittlung des konkreten staatlichen Ermessensspielraumes stellt die Rechtsprechung der Straßburger Organe regelmäßig auf die Besonderheiten des Einzelfalls ab. Im Fall X und Y v. Niederlande gab der Gerichtshof mit Blick auf die Versäumnisse des Gesetzgebers zu verstehen, die Sicherung eines Rechtsgutes sei mittels verschiedener Maßnahmen möglich und die Wahl der zu treffenden Maßnahme läge im Ermessen des Vertragsstaates.118 In den Fällen Young, James und Webster argumentiert der Gerichtshof auf ähnlicher Grundlage, indem er auf den wesentlichen Inhalt der betroffenen Freiheit und die prägenden Merkmale einer demokratischen Gesellschaftsordnung verweist.119 In dem Urteil Plattform „Ärzte für das Leben“ stellte der Gerichtshof fest, dass die staatliche Schutzpflicht sich zwar auf die Ergreifung geeigneter Maßnahmen erstreckt, jedoch nicht erfordert, dass eine absolute Garantie gewährleistet ist. Hinsichtlich der Geeignetheit der zu ergreifenden Mittel besitzt der Staat nämlich einen weiten Ermessensspielraum.120 Ebenfalls hob der Gerichtshof im Fall Osman hervor, dass aus der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen im Wege ihrer Auslegung keine untragbare oder unverhältnismäßige Belastung 114
So Calliess, EuGRZ 1996, S. 294; Yourow, ZeuS 1998, S. 239. Siehe Eiffler, Die Auslegung unbestimmter Schrankenbegriffe der EMRK, S. 40; Yourow, ZeuS 1998, S. 233. 116 So Harris/O’Boyle/Warbrick, the Law of ECHR, S. 15; Schokkenbroek, HRLJ 1998, S. 35 f. 117 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168 f. 118 EGMR A 91, § 23 – X & Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 119 EGMR A 44, § 55/§ 63 – Young, James und Webster (= EuGRZ 1981, 559). 120 EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 115
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Teil 3: Mögliche Probleme und Folgerungen
für die staatlichen Behörden resultieren dürfe.121 Obwohl der Gerichtshof den Mitgliedstaaten, insbesondere dem jeweiligen nationalen Gesetzgebungsorgan, einen weiten, eigenständig zu füllenden Gestaltungsspielraum zugestanden hat, sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, zumindest die zum Schutz eines Rechtsguts unentbehrlichen und notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Von der Literatur wird auch überzeugend dargelegt, dass der im Rahmen der EMRK zugestandene, weite staatliche Ermessensspielraum mit dem Ziel der Konvention vereinbar ist. Die Einräumung eines weiten staatlichen Beurteilungsspielraums fußt überwiegend in der sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Souveränität des Staates. Die Verantwortlichkeit für die Sicherung der Rechte und Freiheiten obliegt nach Art. 1 EMRK primär den Vertragsstaaten selbst.122 Die Konventionsorgane sind gehalten, die Gewaltenteilung in den Vertragsstaaten zu wahren. Ferner ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs als Konventionsorgan anstelle der Vertragsstaaten zu entscheiden. Er hat nur die in den Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen zu überprüfen.123 Folglich ist der einzelne Vertragsstaat nur eingeschränkt bereit, die ihm aufgrund seiner staatlich souveränen Macht obliegende Aufgabe auf eine übergeordnete, supranationale Instanz zu verlagern. Überdies darf unterstellt werden, dass für gewöhnlich die nationalen Behörden im Einzelfall einen vollständigeren Überblick über die Besonderheiten der örtlichen, technischen und persönlichen Verhältnisse besitzen. Außerdem haben sie direktere Möglichkeiten der Zeugenbefragung und Beweiswürdigung.124 Vor diesem Hintergrund haben die Mitgliedsstaaten selbst eine größere Eignung für die Beurteilung der tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten eines anstehenden Falls als die Konventionsorgane. Darüber hinaus ist die Gewährung eines weiten nationalen Gestaltungsspielraums angesichts der herrschenden kulturellen Diversität im Lebensraum der Konventionsstaaten ebenfalls naheliegend, weil gegenüber der kulturellen Vielfalt europäischer Vertragsstaaten nicht immer ein Bedarf besteht, die Lösungen zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter im gesamten Geltungsraum der Konvention zu vereinheitlichen.125 Insbesondere kommt den Vertragsstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zu, wenn sich das Recht in einem Mitgliedsstaat in einer Art Über121
EGMR, Report 1998-VIII, Nr. 95, § 116 – Osman vs. Vereinigtes Königreich. Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 171. 123 Mahoney, HRLJ 1998, S. 2 f.; Petzold, in: The European System for the Protection of Human Rights, S. 41 ff. 124 Siehe EGMR, A 30, § 59 – Sunday Times; Bleckmann, Staatsrecht I, S. 40; Calliess, EuGRZ 1996, S. 294. 125 EGMR, A 295-A, § 50 – Otto-Preminger-Institut; Matscher, in: The European System for the Protection of Human Rights, S, 75 ff. 122
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gangsstadium befindet.126 Da der Gesetzgeber hiermit die Befugnis zur experimentellen Legislation hat, sind ihm Anpassungsspielräume und Anpassungsfristen für das Übergangsstadium des Rechts zugestanden. Der Gesetzgeber ist zugleich verpflichtet, die Entwicklung der rechtlichen und tatsächlichen Lage zu beobachten. Wenn den Vertragsstaaten die objektive grundrechtliche Schutzpflicht zum Diplomaten- bzw. Ausländerschutz obliegt, so hat die EKMR ebenfalls einen weiten Gestaltungsspielraum der Vertragsstaaten angenommen, da der EGMR die Besonderheiten der zwischenstaatlichen Beziehung und des diplomatischen Verkehrs berücksichtigen soll.127 Sowohl die Kommission als auch der EGMR haben in ihren Entscheidungen128 die Abhängigkeit des konkret zu gewährleistenden Schutzes von der erforderlichen staatlichen Ressource und Haushaltsmittel betont. Daher muss den Mitgliedstaaten ebenso ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden werden, da widrigenfalls die mit der Entscheidung des EGMR gesetzten Zielvorgaben nicht mehr mit den Werten demokratischer Gesellschaften und den Grundrechten der Konvention übereinkommen könnten.129 Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass der Straßburger Gerichtshof im Wege seiner Entscheidungsfindung einerseits einen weiten mitgliedsstaatlichen Ermessensspielraum bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen anerkannt hat, und dass der Straßburger Gerichtshof andererseits eine freiwillige Selbstbeschränkung gegenüber dem weiten mitgliedsstaatlichen Ermessensspielraum herausgebildet hat. Aber das bedeutet nicht, dass die EMRK den Ermessensspielraum des Vertragsstaates unbegrenzt lässt. Der Straßburger Gerichtshof ist hinsichtlich der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen nämlich doch gehalten zu prüfen, ob die Vertragsstaaten die unerlässlichen, unentbehrlichen Maßnahmen zum Schutz der Grundrechtsgüter verwirklicht haben. Im Folgenden wird auf die Einschränkung des mitgliedsstaatlichen Gestaltungsspielraums näher eingegangen. 2. Grenzen des staatlichen Beurteilungsspielraums Unter welchen Bedingungen erreicht der Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten die Grenze einer Standardisierung durch die Konventionsorgane? Da die Konventionsorgane in ihrer Rechtsprechung grundsätzlich vor allem auf die Besonderheiten des Einzelfalls abstellen, lässt sich eine 126
EGMR, 633 § 44 II – Transsexuelle-IV; EGMR A 106 – Rees vs. GB. Zum Ganzen Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 883 ff. 128 EGMK, 3189 § 91 – Osman; EGMK, § 247 – Tanrikulu; EGMR A 32 – Airey. 129 EGMK, 3189 § 91 – Osman; EGMK, § 247 – Tanrikulu; EGMR A 32 – Airey. 127
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allgemeingültige Antwort auf diese Frage nur schwer finden. Aus den Konventionsbestimmungen ergeben sich keine ergiebigen Hinweise auf Grenzen des staatlichen Ermessensspielraums.130 Die mit ihrer Auslegung befassten Organe haben auch bisher keine genaue Vorgehensweise erkennen lassen.131 In dieser Hinsicht variieren Bedeutung, Inhalt und Umfang des staatlichen Ermessensspielraums vielmehr im Verhältnis zu dem im konkreten Einzelfall zu würdigenden Umstand, Gegenstand und Hintergrund.132 Demnach steht nur so viel fest, dass über die staatliche Gestaltungsfreiheit schließlich im Verbund mit der endgültigen Kontrolle durch die Entscheidung der europäischen Konventionsorgane befunden wird. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus dem Umstand, dass die europäischen Konventionsorgane als oberste Auslegungsinstanz im konkreten Fall zu prüfen haben, in wie fern ein „margin of appreciation“ zuzumessen sei oder eben auch nicht.133 Dennoch lassen sich den Urteilen des Gerichtshofs einige wenige Kriterien entnehmen, die bei ihrer Einzelanwendung oder bei ihrer Anwendung in Kombination, doch den staatlichen Ermessensspielraum auf der Ebene der EMRK einzuschränken vermögen. Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zum Beispiel vermag in solchen Fällen den staatlichen Beurteilungs- und Ermessensspielraum einzuschränken, in denen die Kollision von Interessen und Rechten eine Orientierung an festgelegten Maßstäben erfordert.134 Dabei müssen die von den staatlichen Maßnahmen betroffenen Interessen der Allgemeinheit und das Schutzinteresse des Individuums im Zuge der Ausführung der staatlichen Maßnahmen eine ausgewogene Berücksichtigung erfahren. Auf welche der staatlichen Maßnahmen zur Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen notwendig zurückgegriffen werden muss, ergibt sich aus der konkretisierenden Abwägung der betroffenen Interessen im Einzelfall. Damit haben die Staatsorgane in jedem konkreten Fall eine sorgfältige, an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit orientierte Prüfung vorzunehmen.135 Durch den Wesensgehalt eines Konventionsrechts kann der staatliche Beurteilungsraum ebenfalls eine Einschränkung erfahren. Der unantastbare Wesensgehalt eines Menschenrechts gibt der Verwirklichung der objektiven 130 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 156. 131 So Bleckmann, EuGRZ 1979, S. 485 ff; Brems, ZaöRV 1996, S. 241; Prebensen, HRLJ 1998, S. 17. 132 EGMR A 87, § 40 – Rasmussen; Lavender, EHRLR 1997, S. 380 ff. 133 Eiffler, Die Auslegung unbestimmter Schrankenbegriffe der EMRK, S. 41. 134 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 263. 135 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 264.
Kap. 1: Grundrechtsfunktionen und „Balance der Staatsgewalten“
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Grundrechtsfunktionen ihre oberen und unteren Grenzen der Pflichtentstehung vor. Die sich am Wesensgehalt der Menschenrechte orientierende Rechtsprechung begründet die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes unter Beachtung des gebotenen grundrechtlichen Schutzminimums.136 Das Kriterium des gemeinsamen europäischen Konsenses hat eine Konkretisierung des nationalen Beurteilungsspielraums zur Folge.137 Denn ein sich aus der gemeinsamen Praxis und Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten ergebender Konsens kann den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten effektiv einschränken. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der Ermessensspielraum in den Vertragsstaaten in dem Maße zunimmt, wie der gemeinsame Konsens unter den Vertragsstaaten abnimmt. Ein weiteres Kriterium ist die Abhängigkeit des staatlichen Beurteilungsspielraums von der normativ vorgesehenen Einschränkbarkeit des betroffenen Rechts.138 Da beispielsweise in Bezug auf Folter (Art. 3 EMRK), Sklaverei (Art. 4 Abs. 1 EMRK) und Zwangsarbeit (Art. 7 EMRK), sowie unter bestimmten Umständen das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) ein absolutes Eingriffsverbot ausgesprochen wird, ist der Ermessensspielraum der Vertragsstaaten in diesen Fällen auf null reduziert. Weil die oben angesprochenen Rechte von zwingendem Charakter sind, ist damit die Beschränkung des staatlichen Ermessensspielraums im Vorhinein verfügt. Ferner kann als Kriterium auch die Bedeutung des jeweils eingeschränkten Grundrechts für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft eine Rolle spielen.139 Der Beurteilungsspielraum der nationalen Staaten ist umso kleiner zu bemessen, je wichtiger das jeweilige Recht und sein Gebrauch für den Erhalt der demokratischen Gesellschaft sind. Hier müssen die Gründe umso schwerer wiegen, die Eingriffe der nationalen Behörden rechtfertigen können.140 Zudem ergibt sich ebenso ein bedeutsamer Maßstab aus dem Eingriffszweck und der Schwere des Grundrechtseingriffs für die Eingrenzung des staatlichen Ermessensspielraums: Je objektiver sich ein Eingriffszweck definieren lässt, desto schmaler wird der den Mitgliedstaaten zugestandene Beurteilungsspielraum. Aber auch, je schwerer sich der Eingriff auf die Betroffenen auswirkt, desto genauer erfolgt die Überprüfung der Konventionsorgane hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Falls und eine Einstufung des Eingriffs als unverhältnismäßig durch die Konventions136
Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 265. So Schokkenbroek, HRLJ 1998, S. 34; Brems, ZaöR 1996, S. 276 ff. 138 Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 260. 139 EGMR A 45, § 52 – Dudgeon; Marks, BYIL 1995, S. 218. 140 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 163. 137
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organe.141 Wenn der betreffenden Regelung ein Werturteil zugrunde liegt, erfährt der mitgliedsstaatliche Beurteilungsspielraum eine zusätzliche Erweiterung. Darüber hinaus umfassen die auf die regionalen Besonderheiten bezogenen Kriterien die prinzipiell größere Sachnähe und Kenntnis der örtlichen Behörden, den Rang eines von einer Maßnahme betroffenen Rechtsguts, die Möglichkeit des Einzelnen, der Gefahr selbständig auszuweichen sowie den Umfang der staatlichen Steuerungsmöglichkeiten.142 Es kommt hinzu, dass die Konventionsorgane den Umfang des staatlich zu gewährenden Schutzes ebenso in Abhängigkeit von der Haushaltslage im betroffenen Vertragsstaat ansprechen. Die oben näher bezeichneten Kriterien für die Konkretisierung des staatlichen Beurteilungsspielraums werden im zu verhandelnden Fall häufig in Kombination bemüht, um die Effektivität der Kontrolle durch den EGMR zu gewährleisten. Die Anwendung dieser Kriterien hat zum Ziel, einen Ausgleich zwischen den nationalen Interessen und den Interessen des international geprägten konventionsrechtlichen Menschenrechtsschutzes herbeizuführen, und eine angemessene Kooperation sowie adäquate Kompetenzverteilung zwischen den nationalen und internationalen Organen sicher zu stellen.143 Kapitel 2
Abgrenzung der objektiven von den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen A. Kollision oder gegenseitige Unterstützung der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen im GG? I. Ausgangslage: Doppelfunktion der Grundrechte Die Grundrechte besitzen eine Doppelfunktion. Mit der subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion wird den Bürgern das „klassische“ negatorische Abwehrrecht zugesprochen, das auf das Unterlassen des staatlichen 141 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 166. 142 Jäckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 173. 143 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 167.
Kap. 2: Abgrenzung objektiver von subjektiven Grundrechtsfunktionen
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Eingriffs in den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich abzielt.144 Weil es in erster Linie darum geht, die Freiheitssphäre des Einzelnen im Wege der Abwehr gegenüber dem hoheitlichen Eingriff zu schützen, steht regelmäßig die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte im Vordergrund.145 Demgegenüber verweisen die „objektiv-rechtlichen Funktionen“ der Grundrechte als Wertordnung auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das gesamte Rechtssystem. Diese objektiv-rechtlichen Funktionen ergänzen oder beschränken also lediglich die herkömmliche Leistung der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte.146 Beispielsweise ergibt sich aus den objektiven Grundrechtsfunktionen als wichtigster Bestandteil derselben die positive staatliche Verpflichtung, den Einzelnen vor nicht-hoheitlichen Gefahren zu bewahren. Zu diesen gehören insbesondere die Gefahren, die von privater Seite ausgehen. Eine vereinfachte Zusammenfassung der Entwicklung der grundrechtlichen Doppelfunktionen kann folgendermaßen lauten: Die objektiven Grundrechtsfunktionen geben erstens dem Gesetzgeber den Rahmen für einen freiheitlichen Gleichbehandlungsstaat vor; der Einzelne erhält zweitens mit den Abwehrrechten die subjektive Garantie seiner neuen Freiheiten. Mit diesen Freiheiten eröffnet sich drittens die Möglichkeit für eine Gesellschaft, zunehmend ausdifferenzierter und individualisierter zu werden. Aus der Dialektik von größtmöglicher Freiheit für alle und der Gleichheit selbst ergibt sich viertens zugleich die größtmögliche Freiheit gegen alle, was dann noch ein Drittwirkungskonzept der Grundrechte erforderlich macht. Fünftens bedarf die Wirkung der Grundrechte unter den Privaten einer Überprüfung nach der Kompatibilität der ausdifferenzierten Freiheiten der Einzelnen. Zur Förderung dieser Kompatibilisierung ist wiederum der Gesetzgeber aufgefordert, die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.147 Damit scheint sich der Kreis zu schließen. Zu Beginn der Entwicklung stand der Gesetzgeber vor der Aufgabe, den hierarchisch gegliederten Privilegienstaat in eine liberale und demokratische Bürgergesellschaft zu überführen, und am Ende der Entwicklung ist er wiederum aufgefordert, die stark divergierenden Einzelvorstellungen von Freiheit der Bürger in Einklang zu bringen. Am Anfang galt es im Wege der Gesetzgebung den autokratischen Staat umzubauen, was im Wesentlichen beinhaltete, allen Bürgern die gleichen Rechte und Pflichten zukommen zu lassen. Heute steht der Gesetzgeber vor der Situation, fortlaufend und direkt in die Verhältnisse der Gesellschaft eingreifen zu müssen, damit immer positiv aufs Neue darü144 145 146 147
Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 262. Vosgerau, AöR 133, 2008, S. 348. Ladeur, DÖV 2007, S. 1. Zum Ganzen Wenger, AöR 130, 2005, S. 620.
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Teil 3: Mögliche Probleme und Folgerungen
ber befunden werden kann, was die einzelnen Grundrechte im Detail beinhalten, und in welcher gesetzlich zu bestimmenden Grenze sich die Freiheitssphäre des Einzelnen erschöpft.148 II. Kollision von objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen im GG? Objektive und subjektiv-abwehrrechtliche Grundrechtsfunktionen erleben im Grundrechtskatalog ein symbolisches Miteinander, in der vollziehenden Verwirklichung jedoch ein faktisches Gegeneinander.149 Der immerzu im Zusammenhang mit den objektiven Grundrechtsfunktionen bemühte Begriff von der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte lässt mit dem Wort Strahl an eine unbegrenzte Ausdehnung denken.150 In der Tat ergibt sich aus dem Verständnis der Grundrechtsordnung als Wertordnung die Problematik, dass jeder Wert für sich absolute Geltung beansprucht. Eine hierarchische Ordnung ist somit nicht denkbar.151 Greift beispielsweise der Staat in das Grundrecht eines Privaten ein, so erfolgt die staatliche Maßnahme etwa nach den Grundsätzen von Gesetzesvorbehalt, der Beachtung der verfassungsimmanenten Schranken, der Verhältnismäßigkeit und dem Übermaßverbot.152 Wenn demgegenüber ein Privater auf Grundlage seines Grundrechts die Grundrechte anderer schmälert, so kann es leicht geschehen, dass zwei oder mehrere Grundrechte miteinander unvereinbar kollidieren.153 Folge der unbegrenzten Ausstrahlungswirkung der objektiven Grundrechtsfunktionen kann daher nur der Auftrag an den Gesetzgeber sein, die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen zu konkretisieren. Wird dieser Auftrag vom Gesetzgeber, sei es durch Untätigkeit oder Ungenügen, nur zögerlich angenommen, so ist zwangsläufige Folge, dass dieser Auftrag auf den Richter übergeht.154 Der Verfassungsrichter wird dann in die Rolle gedrängt, völlig allein über konkrete Auslegungen der Grundrechte befinden zu müssen, was eine Intervention 148
Wenger, AöR 130, 2005, S. 620. Wenger, AöR 130, 2005, S. 620. 150 BVerfGE 7, 198 (207) – Lüth; BVerfGE 34, 269 (280) – Soraya; siehe auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 220 ff. 151 Böckenförde, Geschichte Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: FS für Rudolf Gmür, S. 18 f.; Böckenförde, Der Staat 29, 1990, S. 13 ff.; Di Fabio, JZ 2004, S. 2 ff. 152 Wenger, AöR 130, 2005, S. 621. 153 Wenger, AöR 130, 2005, S. 620. 154 Wenger, AöR 130, 2005, S. 621. 149
Kap. 2: Abgrenzung objektiver von subjektiven Grundrechtsfunktionen
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des Verfassungsgerichts in die exekutiven und legislativen staatlichen Angelegenheiten bedeuten würde. Darüber hinaus ist mit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen eine zunehmende Abnahme der Formalisierung in der Grundrechtspraxis und Grundrechtsdogmatik verbunden. Jedoch steht ein unbegrenzt erhobener und von den Grundrechten ausgehender Geltungsanspruch prinzipiell jeder Art von Formalisierung unversöhnlich gegenüber, weil die Form letztendlich darauf abzielt, die potentiell unendliche Ausstrahlungswirkung der Grundrechte einzudämmen.155 Das zeigt im Endeffekt deutlich, dass die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in der Lage wäre, die Grundrechte als klassische Freiheitsrechte ihrer Kontur zu berauben und sie zu relativieren.156 Außerdem steht häufig ein weitläufiger grundrechtlicher Schutzbereich bei jeder Prüfung durch das Verfassungsgericht im Vordergrund. Dieser weitläufige Schutzbereich wird damit sogar zum wichtigsten Prüfungsmerkmal für die Grundrechtsanwendung. Je weiter sich aber der grundrechtliche Schutzbereich erweist, desto eher lässt sich ein damit einhergehender staatlicher Eingriff vermuten, der dann im konkreten Fall eines näher zu spezifizierenden Rechtfertigungsgrundes bedarf.157 So zeigt sich, dass ein durch objektive Grundrechtsfunktionen erweiterter Schutzbereich einen Teufelskreis heraufbeschwören kann. III. Das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen Der deutschen Grundrechtsdogmatik ist es bis heute verwehrt geblieben, die feinmaschige Wechselbeziehung zwischen den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen und objektiven Grundrechtsfunktionen in allgemein anerkannter und systematischer Form zu vermitteln. Dies macht es ausländischen Betrachtern oft schwer, eine Abgrenzung zwischen den objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsdimensionen vorzunehmen.158 Gleichwohl lassen sich bezüglich der Beziehung zwischen den subjektiven Grundrechtsfunktionen und objektiven Grundrechtsfunktionen einige Faustregeln feststellen.
155 156 157 158
Zum Ganzen Wenger, AöR 130, 2005, S. 621 f. Ladeur, DÖV 2007, S. 2 f. Wenger, AöR 130, 2005, S. 622. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1–3, Rn. 13–28.
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Teil 3: Mögliche Probleme und Folgerungen
1. Die subjektive abwehrrechtliche Funktion als vorrangige Grundrechtsfunktion „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen zu schützen; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.“159
Mit dieser Feststellung aus dem Lüth-Urteil macht das Bundesverfassungsgericht deutlich, dass die grundrechtlich geschützte individuelle Freiheitssphäre unlösbar mit der auf die Abwehr von äußeren Einwirkungen gerichteten zentralen Funktion der Grundrechte verknüpft ist.160 Diese Ansicht stützt sich auf den Wortlaut des Grundgesetzes mit Hinweis auf die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion nach den Vorgaben von beispielsweise Art. 2 Abs. 2 GG (das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 4 Abs. 1 GG (das Recht auf Religionsfreiheit), Art. 10 Abs. 1 GG (das Recht auf Post- und Fernmeldegeheimnis), Art. 13 GG (die Wohnung ist unverletzlich) und Art. 12 Abs. 1 und 2 GG (alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen; niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden).161 Aus dem oben erwähnten Wortlaut geht deutlich hervor, dass mit dem Grundgesetz an erster Stelle die subjektiven Rechte in der Ausformung eines gegen die staatliche Willkür gerichteten individuellen Abwehrrechts gestärkt und geschützt werden sollen. In der deutschen Grundrechtsdogmatik findet sich dieser abwehrrechtliche Grundansatz im Wege der Etablierung der gesamten öffentlich-rechtlichen Rechtsstellung des Einzelnen, die Georg Jellinek mit „status negativus“ bezeichnet.162 Da die abwehrrechtliche Komponente der Grundrechte regelmäßig den Kern der meisten Grundrechtsbestimmungen im Grundgesetz betrifft, sind die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes vor allem nach dem Verständnis der Abwehrrechte zu verstehen. Dies trifft auch zu, wenn der Wortlaut dieser Grundrechtsbestimmungen nicht ausdrücklich abwehrrechtlich formuliert ist.163 Eine Dominanz des Abwehrrechtscharakters der Grundrechte entspricht aus historischer Perspektive „den Menschenrechten der ersten Generation“. Es wird damit unübersehbar an die Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts angeknüpft. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben es demzufolge für notwendig gehalten, der grundgesetzlichen Einräumung der Freiheitssphäre einen Abwehranspruch des Bürgers zur 159 160 161 162 163
BVerfGE 7, 198 (204 f.) – Lüth. Sachs, Abwehrrechte, in: HdbGR II, S. 656. Krieger, in: EMRK/GG, S. 272. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff. Sachs, Abwehrrechte, in: HdbGR II, S. 657.
Kap. 2: Abgrenzung objektiver von subjektiven Grundrechtsfunktionen
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Seite zu stellen, der staatlichen rechtswidrigen Eingriffen in diesen Freiheitsraum entgegen wirken kann. Indem die Abwehrkomponente fast immer den gesamten Grundrechtsschutz des Grundgesetzes beinhaltet, bildet sie zugleich das Maß, nach dem die später entstehenden objektiven Grundrechtsfunktionen zu bemessen sind. Infolgedessen liegt es nahe, in der objektiv-rechtlichen Wirkung der Grundrechte nur die verstärkende Stütze der subjektiv-rechtlichen Abwehr- und Freiheitskomponente der Grundrechte zu erblicken. 2. Objektive Grundrechtsfunktionen als sekundäre Grundrechtsfunktionen Mit den objektiven Grundrechtsfunktionen wird die Reichweite der Grundrechte als Grundsatznormen oder als objektive Wertordnung auf die gesamte Rechtsordnung übertragen. Ihre Herausbildung ist der Tatsache zu verdanken, dass die abwehrrechtlichen Freiheitsrechte in alleiniger Funktion echte Freiheit nicht gewährleisten können. Vor diesem Hintergrund wird dem Staat als Träger des Gewaltmonopols die Aufgabe zugewiesen, auch Schutz gegenüber Beeinträchtigungen nichtstaatlicher Mächte zu gewährleisten. Außerdem soll der Staat Schutz vor Einschränkungen durch die innerstaatliche Rechtsordnung gewähren, auf die die Grundrechte in ihrer Form als Wertentscheidungen ausstrahlen. So sollen die Voraussetzungen für eine echte Freiheitsentfaltung geschaffen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat mit einer Abfolge von Urteilen wesentlich dazu beigetragen, den objektiven Grundrechtsfunktionen in Ergänzung der subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtrechte den Weg zu bereiten. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei ausgeführt, dass das Grundgesetz keine wertneutrale Ordnung will und in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat,164 damit die Geltungskraft der Grundrechte prinzipiell weiter zu verstärken ist. Des Weiteren heißt es: „Die Grundrechte sind in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben,“165
und die objektiven Grundrechtsfunktionen finden „ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung.“166 Und weiterhin wird festgehalten: 164 165 166
BVerfGE 2, 1 (2) – SRP-Verbot; BVerfGE 6, 32 – Elfes. BVerfGE 7, 198 (204 f.) – Lüth. BVerfGE 50, 290 (336 ff.) – Mitbestimmung.
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Teil 3: Mögliche Probleme und Folgerungen
„In diesem Kontext lässt sich die objektive Grundrechtsdimension nicht von dem eigentlichen Kern der abwehrrechtlichen Freiheitsrechte lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt.“167
Daher muss die objektive Dimension der Grundrechte besser auf die liberale Dimension der Eingriffsabwehr abgestimmt werden. Das bedeutet, dass sich die objektiven Grundrechtsfunktionen nur situationsgebunden und sekundär auswirken und den vorrangigen abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen somit nur ergänzend und verstärkend zur Seite treten dürfen. Hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen ergeben sich aus dem Wortlaut des Grundgesetzes keine eindeutigen Hinweise. Dennoch können sie in verschiedene Artikel hineingelesen werden, wie etwa beispielsweise in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Schutz der Menschenwürde), Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz der Ehe und Familie) sowie Art. 6 Abs. 4 (Anspruch der Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft).168 In der deutschen Grundrechtsdogmatik konstituiert die objektive Dimension der Grundrechte im Sinne der Systematik Georg Jellineks demnach einen „status positivus“.169 Dazu sind zu nennen beispielweise die Schutzpflicht-, Leistungs-, und Teilhabekomponenten der Grundrechte. Die Abwehrrechte sind begrifflich klar erfasst und ermöglichen, dass der Grundrechtsträger einen gerichtlich einklagbaren Unterlassungsanspruch gegen den Staat hat. Im Gegensatz dazu sind die objektiven Grundrechtsfunktionen begrifflich unzureichend ausgeführt.170 Denn jedes subjektive Grundrecht ist zugleich Teil des objektiven Grundrechts. Dennoch hat nicht jedes objektive Element der Grundrechte seine Entsprechung im subjektiven Grundrecht. Es kann durchaus eine staatliche grundrechtliche Schutzpflicht vorliegen, ohne dass dies notwendig einen einklagbaren Anspruch des Bürgers auf Erfüllung dieser Pflichten nach sich zieht.171 Über die Dogmatik der objektiven, ausnahmsweise und situativ ergänzend neben die subjektiven Grundrechtsfunktionen tretenden Grundrechtsfunktionen herrscht in der Literatur Streit. Damit besteht die Gefahr, dass die Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen willkürlich bemüht wird.172 So dehnt das Bundesverfassungsgericht beispielsweise den dem Gesetzgeber aufgetragenen Schutz des Lebens als objektive Auswirkung des Grundrechts nach Art. 2 S. 1 GG ebenfalls auf das ungeborene Leben aus, ohne dass die Frage nach der Grundrechtsberechtigung 167
BVerfGE 50, 290 (337 ff.) – Mitbestimmung. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 57 f. 169 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 170 Hierzu Alexy, Der Staat 29, 1990, 49 ff.; Böckenförde, Der Staat 29, 1990, 13 ff.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1–3, Rn. 25–27/53. 171 Ladeur, DÖV 2007, S. 1 ff. 172 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1–3, Rn. 25–27/53. 168
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des Embryos damit schon geklärt ist.173 Ein weiteres Beispiel für die Unsicherheiten des Gegenstands der objektiven Grundrechtsfunktionen zeigt die heftige Diskussion im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG.174 Somit gehören die sekundären objektiven Grundrechtsfunktionen zu den viel weniger bestimmbaren Grundrechtsfunktionen im Vergleich zur subjektiven Grundrechtsfunktion, die sich mit den primären Abwehrrechten verbindet. IV. Rückkehr zur abwehrrechtlichen Konzeption? Hinsichtlich der Problematik, die sich bei der Handhabung der objektiven Grundrechtsfunktionen zeigt, wird auch der Ansatz vertreten, man solle die Grundrechtsdogmatik auf das abwehrrechtliche Konzept zurückführen. Die Absicht liegt darin, alle anderen Grundrechtsfunktionen/-elemente/-dimensionen wie etwa die positive staatliche Schutzpflicht, die Leistungs- und Teilhabekomponenten und die Verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung auch in das abwehrrechtliche Verhältnis mit hinein zu nehmen. Demzufolge kann auf die von Literatur und Rechtsprechung entwickelten objektiven Grundrechtsfunktionen als eigenständige Figuren verzichtet werden, wenn nur das Abwehrrecht ausreichend konstruktiv weiterentwickelt wird.175 Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass man zwar zum „klassischen Eingriffsbegriff“ zurückgekehrt, dieser aber im Sinne eines „neoklassischen Eingriffsbegriffs“ interpretiert wird. Dieser soll nicht nur das staatliche Tun als einen möglichen Eingriff umfassen, sondern auch das staatliche Dulden oder Unterlassen.176 Nach dieser Auffassung beinhaltet die Rückkehr zu den abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen die Rückführung der ausufernden objektiven Grundrechtswirkung auf ein einziges Grundkonzept. Zum anderen lässt sich aus der Überantwortung des Konfliktregelungsentscheids an den Gesetzgeber die Problematik der unwägbaren Abwägung in Lehre und Rechtsprechung umgehen. Der Gesetzgeber würde damit wieder zur letzten Instanz, und die Politik erhielte ihr Primat zurück.177 Indes drückt diese Auffassung von der Rückführung der zusätzlichen objektiven Grundrechtselemente auf das abwehrrechtliche Konzept in der heu173 BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I; 88, 203 (251) – Schwangerschaftsabbruch II; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1–3, Rn. 25–27/53. 174 Siehe Ipsen, DVBL 2004, S. 1383 ff.; ähnlich Di Fabio, in: Maunz/Dürig u. a., GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 28; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1–3, Rn. 25–27/53. 175 Wenger, AöR 130, 2005, S. 624. 176 Vosgerau, AöR 133, 2008, S. 379 f. 177 Wenger, AöR 130, 2005, S. 625.
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Teil 3: Mögliche Probleme und Folgerungen
tigen deutschen Grundrechtsdogmatik zunächst nur eine Mindermeinung aus. Die herrschende Meinung ist immer noch diejenige, die eine Abgrenzung zwischen objektiven und abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen befürwortet. Ob auf Grundlage der geschilderten Mindermeinung künftig für die deutsche Grundrechtsdogmatik eine neue Entwicklung zu erwarten ist, lässt aus heutiger Sicht nicht mit Sicherheit beantworten.
B. Abgrenzung oder Konvergenz von objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen in der EMRK? I. Ausgangslage: Doppelfunktion der Grundrechte Wie sich in Anlehnung an die Status-Lehre von Georg Jellinek mit der Unterscheidung zwischen dem status negativus und dem status positivus178 zwei verschiedene Beziehungen des Individuums zum Staat ergeben, so ergeben sich aus den Grund- und Menschenrechten der Konvention über die rechtlichen Einwirkungen auf das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den Hoheitsträgern in den Mitgliedstaaten gleichermaßen die negativen/subjektiven und positiven/objektiven Rechtskonfigurationen.179 Damit ist mit den konventionsrechtlichen Bestimmungen, ähnlich dem deutschen Grundgesetz, ebenfalls die sogenannte Doppelfunktion der Grund- und Menschenrechte verbunden: Mit den Freiheitsrechten ist vor allem die negative, die staatlichen Übergriffe auf das Freiheitsrecht abwehrende Funktion angesprochen, und im Verständnis dieser abwehrrechtlichen Dimension sind die Bürger mögliche Gegner gegenüber dem eingreifenden Staat.180 Mit anderen Worten bedeutet das, dass sich dem Einzelnen aus den abwehrrechtlichen Freiheitsrechten ein Schutzraum ergibt, und dass in diesem Schutzraum der prinzipiell unbegrenzten Freiheitsgewährleistung die grundsätzlich begrenzte, rechtfertigungsbedürftige staatliche Befugnis zum Eingriff gegenüber steht.181 In diesem Sinne begründen die Freiheitsrechte in der Ausformung des negativen Abwehrrechts vielmehr die subjektiven Rechte auf staatliches Unterlassen. Darüber hinaus knüpfen sich an die Freiheitsrechte weitere Wirkungen, die bislang vorwiegend mit dem Begriff der „objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen“ benannt wurden.182 Damit ist dem Staat 178
Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 149. 180 Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 150 f. 181 Schlink, EuGRZ 1984, S. 467. 179
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aufgetragen, als Garant der Grundrechte zu handeln, womit nicht das staatliche Unterlassen von Eingriffen gemeint ist, sondern vielmehr die staatliche Pflicht zu positivem Handeln im Wege der Absicherung der individuellen Grundrechtsausübung. Im Zusammenhang mit den dargelegten beiden Funktionen grundrechtlicher Rechtsgehalte kommt die Frage auf, in welchem Verständnis die beiden Grundrechtsfunktionen einander zuzuordnen sind. Dies kommt aber der Frage danach gleich, wie die beiden Grundrechtsfunktionen mit ihren eigenen Funktionskomponenten zueinander ins näher zu bezeichnende Verhältnis zu setzen sind. Im Folgenden wird das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen beleuchtet. II. Das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen 1. Die primäre abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion Die Menschenrechtskonvention gründet wesentlich auf dem Gedanken, dem subjektiven Recht im Wege eines individuellen Abwehrrechts gegen die staatliche Willkür auf internationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Die klassische abwehrrechtliche Schutzfunktion kommt der ursprünglichen Intention der Konventionsschöpfer am nächsten.183 Außerdem ist mit dem Titel „Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ bereits auf die abwehrrechtliche Grundidee deutlich hingewiesen.184 Dem Wortlaut der Grund- und Menschenrechte in der EMRK lassen sich bereits häufig die Hinweise auf die negatorische abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion entnehmen, wie sich beispielsweise an den Art. 2 EMRK (No one shall be desprived of his life intentionally . . .), Art. 3 EMRK (No one shall be subject to torture . . .), Art. 4 EMRK (No one shall be required to perform forced labour . . .) und Art. 8–11 EMRK (Everyone shall have the right to freedom of thoght/expression/peaceful assembly and to freedom of association) zeigen lässt.185 Außerdem sind Menschenrechte und Grundfreiheiten vom Wortlaut der Konvention umfasst. Dies wird besonders deutlich in den oben genannten Artikeln und auch in der Präambel. In der Lite182 Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Rn. 73 ff.; Stern, in: HdbStR V, S. 68 ff. 183 Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 150 f. 184 Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa, S. 115. 185 Krieger, in: EMRK/GG, S. 272.
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ratur findet man die Vorrangigkeit der abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion ebenfalls in den meisten Fällen bestätigt. Da der EGMR in seiner Anfangszeit hauptsächlich Fälle behandelte, die mit staatlichen Eingriffen zu tun hatten, standen zunächst bei der Rechtsprechung des EGMR allein die Gesichtspunkte nach den abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen im Vordergrund.186 Mit dem Urteil Lawless aus dem Jahr 1961187 zieht sich die Gewährleistung des status negativus188 gegenüber physischem Freiheitsentzug durch die gesamte Judikatur des EGMR. Zu einem späteren Zeitpunkt hat sich zwar aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane eine Reihe objektiver Grundrechtsfunktionen ergeben, dennoch stehen die Grund- und Menschenrechte in der EMRK nach wie vor vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Abwehr hoheitlicher Eingriffe.189 Die hinzutretenden objektiven Grundrechtsfunktionen vermögen nicht die klassische abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion abzuwandeln oder sie zu ersetzen. Bezeichnend ist, dass von den Konventionsorganen bezüglich der abwehrrechtlichen Funktion als von der Hauptfunktion der Menschenrechte gesprochen wird: „Der wesentliche Zweck der in der Konvention gewährleisteten Rechte besteht darin, den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben zu schützen.“190
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion vielmehr „Ausgangspunkt und stets beibehaltener Fixpunkt der Rechtsprechung des EGMR“ bleibt.191 2. Sekundäre objektive Grundrechtsfunktionen Die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zu Rate ziehend kann den Konventionsrechten jedoch eine über die abwehrrechtliche Dimension hinausreichende objektive Dimension zugesprochen werden. Aus dieser lassen sich etwa die Schutzpflichten, die Leistungs- und Teilhabekomponenten, die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung sowie die Drittwirkung der Grundrechte ableiten. Obwohl sich über die objektivrechtlichen Wirkungen der Grundrechte die Bedeutung des Konventionssys186
Krieger, in: EMRK/GG, S. 272. EGMR A 3, § 14 – Lawless vs. Irland. 188 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff. 189 Krieger, in: EMRK/GG, S. 273. 190 EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall; A 91, § 23 – X und Y vs. Niederlande (= EuGRZ 1985, 297 ff.). 191 Weidmann, Der EGMR auf dem Wege zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 134. 187
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tems insgesamt erhöht, behandelt der EGMR die objektive Dimension der Grundrechte nur zur ergänzenden Verstärkung der subjektiven Abwehrkomponente der Grundrechte.192 Zwar lässt sich in der Judikatur des EGMR eine ansehnliche Verselbständigung der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte beobachten. Jedoch verzichtet der Gerichtshof auf die Ausformulierung einer allgemeinverbindlichen Theorie der objektiven Grundrechtsfunktionen, indem er im Allgemeinen noch Zurückhaltung im Bereich der objektiven Grundrechtsfunktionen übt.193 Es steht noch an, dass der EGMR im Wege seiner Einzelfallenentscheidungen die Grundrechtsgarantien in Hinblick auf ihre Allgemeingültigkeit fortentwickelt.194 Auf diesem Wege lässt sich das Ergänzungsverhältnis zwischen der abwehrrechtlichen und objektiv-rechtlichen Seite der Konventionsgarantien deutlich aufzeigen. III. Abgrenzung oder Konvergenz der objektiven und subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen in der EMRK? Dadurch dass die Konventionsorgane die objektiven Grundrechtsfunktionen aus zahlreichen Einzelgarantien hergeleitet haben, ist aber eine genau vorzunehmende Abgrenzung von objektiven und subjektiven Grundrechtsfunktionen nicht möglich. Im Anschluss daran ergibt sich die Frage, ob und wie sich die zwei Kategorien der objektiven und subjektiven Grundrechtsfunktionen auf der EMRK Ebene überhaupt unterscheiden lassen, und ob und wie sich im gegebenen Fall diese beiden Kategorien einander annähern lassen. 1. Abgrenzung zwischen subjektiver Abwehrfunktion und objektiver Schutzfunktion? Die Frage nach der Abgrenzung zwischen „klassischer“ Abwehrfunktion und moderner objektiver Grundrechtsfunktionen haben bislang weder die 192 Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa, S. 115. 193 EGMR A 18, § 39 – Golder vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1975, 91 (98)); EGMR A 35, § 49 – Deweer vs. Belgien (= EuGRZ 1980, 667 (672)); EGMR A 139 § 32 – Plattform „Ärtze für das Leben“ vs. Österreich (= EuGRZ 1989, 522 ff.). 194 EGMR, A 25, § 154 – Irland vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1979, 149 (152)); EGMR A 26, § 31 – Tyrer vs. Vereinigtes Königreich (= EuGRZ 1979, 162); EGMR A 31, § 58 – Marckx vs. Belgien (= EuGRZ 1979, 454); EGMR A 32, § 26 – Airey vs. Irland (= EuGRZ 1979, 626); EGMR A 39 – Guzzardi vs. Italien (= EuGRZ 1983, 633).
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Rechtsprechung noch die Literatur klar zu beantworten vermocht. Indes ist damit die Unterscheidungsmöglichkeit noch nicht endgültig ausgeschlossen. Die herrschende Meinung ist der Ansicht, dass die subjektive abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion der EMRK nur einschlägig ist, beziehungsweise ein Eingriff in eine Garantie nur dann vorliegen soll, wenn behördliches Handeln oder Nichthandeln unmittelbar die Verletzung des Konventionsrechts herbeiführt.195 Demgegenüber wird vorgeschlagen, dass die objektiven Grundrechtsfunktionen nur dann als einschlägig zu gelten haben, wenn vom Gesetzgeber zu erfüllende Verpflichtungen im Vordergrund stehen.196 Der Gerichtshof geht nach unterschiedlichen Prüfungsreihenfolgen vor, und zwar je nachdem, ob er nach dem Gesichtspunkt des Abwehrrechts die sich aus dem Eingriff ergebende Verletzung eines Konventionsrechts prüft, oder ob er die Nichterfüllung einer objektiven grundrechtlichen Schutzpflicht verhandelt. Wird von dem Gerichthof ein Eingriff in ein Abwehrrecht angenommen, so erfolgt die Prüfungsfolge stets einheitlich: (1) Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts vor? (2) War der Eingriff vom Gesetz vorgesehen? (3) Hatte der Eingriff ein legitimes Ziel? (4) War der Eingriff „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“?197 Aber bei Betrachtung der sich aus den Einzelfällen der Rechtsprechung ergebenden Ansätze wird deutlich, welche Schwierigkeiten sich mit der auf Tun und Unterlassen beruhenden Abgrenzung zwischen subjektiver Abwehrfunktion und objektiver Schutzfunktion verbinden. In welchem Fall tut der Staat etwas, und wann hat er etwas zu unterlassen? Da Kommission und Gerichtshof keine konstante Rechtsprechung auf diesem Gebiet erkennen lassen, zeigt sich deutlich, welche Unwägbarkeiten sich in ähnlichen Fällen in der juristischen Praxis ergeben könnten.198 Der Gerichtshof selbst äußert sich regelmäßig nicht zur Problematik der Abgrenzung zwischen subjektiven und abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen.199 Indes ist der sich darin zeigende Lösungsansatz der Konventionsorgane aus dogmatischer Sicht nicht befriedigend.
195 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 898. 196 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 11. 197 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 338. 198 EGMR A 160, § 41 – Gaskin vs. das Vereinigte Königreich; EGMR A 290, § 51 f. – Keegan vs. Irland. 199 EGMR A 297-C, § 31 f. – Kroon vs. die Nierderlande; EGMR A 303-C, § 51 – López-Ostra vs. Spanien.
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2. Annäherung der subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen anhand der Prüfungsstrukturen? Die sich in der Rechtsprechung zu erkennen gebende Entwicklung verweist in der Tendenz auf eine wechselseitige Annäherung der subjektiven abwehrrechtlichen und objektiven Grundrechtsfunktionen, bis hin zur gegenseitigen Durchdringung der beiden Katagorien.200 Bezeichnenderweise hat der EGMR die Verhältnismäßigkeitsprüfung der abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen bereits auf die objektiven Grundrechtsfunktionen ausgedehnt.201 Demnach haben die konventionsrechtlichen Überprüfungen sowohl für die subjektive abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion als auch für die objektiven Grundrechtsfunktionen dieselbe dreistufige Prüfungsstruktur: In der ersten Stufe erfolgt die Prüfung der Einschlägigkeit des jeweiligen Schutzbereichs. Die zweite Stufe gilt der Feststellung der Beeinträchtigung der betroffenen Einzelgarantie nach dem Gesichtspunkt eines Vorliegens von entweder einem unmittelbaren Eingriff oder einer Vernachlässigung einer aufgetragenen objektiven grundrechtlichen Schutzpflicht. Bei der dritten Prüfungsstufe steht die Suche nach einer möglichen Rechtfertigung für die Beeinträchtigung als Oberbegriff für Eingriff oder Vernachlässigung einer objektiven grundrechtlichen Schutzpflicht im Vordergrund, wobei die Suche dann in den jeweils geltenden Schrankenklauseln ihre Grenze findet.202 Das Prüfungsverfahren ist somit einer Vereinheitlichung der Abwägungsgrundsätze zugeführt, die insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeit für die subjektiven abwehrrechtlichen und objektiven Grundrechtsfunktionen im Wesentlichen die gleichen sind.203 Demzufolge wird von Teilen der Literatur inzwischen ebenso vorgetragen, dass sich auf Grundlage der vereinheitlichten Prüfungsstrukturen eine Annäherung der subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen auch vollziehen ließe.204 Aus ihrer Sicht wäre der Begriff des Eingriffs nicht mehr allein den negativen abwehrrechtlichen Grundrechten vorzubehalten.205 Folglich könne die Nichtbeachtung einer objektiven grundrechtlichen 200 EGMR, A 299-B – Stjerna vs. Finland, zustimmende Meinung des Richters Wildhaber, S. 67; EGMR, Report 1996-I Nr. 3, S. 159 – Gül vs. die Schweiz, abweichende Meinung der Richters Martens und Russo, S. 181, § 7 ff. 201 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 337. 202 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 899. 203 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 355. 204 Lübbe-Wollf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff.; Jarass, AöR 120 (1995), S. 345; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 234 ff. 205 Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 338 ff.
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Schutzpflicht ebenso einen Eingriff begründen, insofern die Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts, des legitimen Ziels und der Notwendigkeit erreicht werden.206 In der Praxis gehen die Grenzen zwischen dem Eingriff und einem Unterlassen des Staates tatsächlich ineinander über. Dennoch bleibt es weiterhin fraglich, ob diese Schritte zu einer gänzlichen Vereinheitlichung von subjektiver abwehrrechtlicher und objektiver Grundrechtsfunktionen führen werden. 3. Anmerkungen In Hinblick auf die angesprochene prüfungstechnische Konvergenz zwischen den subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen ist schließlich die Frage zu stellen, ob sich mit der zusammenführenden Rechtsprechung nicht auch schon die genaue Abgrenzung zwischen abwehrrechtlichen und objektiven Grundrechtsfunktionen erübrigt. In materieller Hinsicht unterscheiden sich die subjektiven Grundrechtsfunktionen von den objektiven Grundrechtsfunktionen in wesentlichen Punkten. Die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion zielt auf den Schutz einer dem freien und selbstbestimmten Bürger zugesprochenen Autonomie gegenüber den Eingriffen und Übergriffen des Staates ab. Dagegen sind die objektiven Grundrechtsfunktionen darauf gerichtet, die Autonomie des Einzelnen real zu fundieren und zu fördern, die nicht immer gleichgesetzt werden kann mit dem von den Grundrechten als Idealvorstellung vorausgesetzten Bild. Allerdings ergibt sich insbesondere dort ein Überschneiden der beiden Grundrechtsfunktionen, wo gesellschaftliche Ereignisse oder ein Verhalten des Einzelbürgers nicht gedacht werden können ohne die Mitwirkung oder die Einmischung des Staates.207 Viele staatliche Maßnahmen greifen mittlerweile in die Privatsphäre der bürgerlichen Gesellschaft ein, um auf diesem Wege die sogenannten vorstaatlichen Freiheiten und Grundrechte zu fördern. In diesem Kontext wäre eine Zurücknahme der objektiven freiheitsfördernden Schutzfunktion der Grundrechte daher eher ungeeignet. Eine Assimilation der Prüfungsstrukturen für die abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen und die objektiven Grundrechtsfunktionen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der qualitativen Konvergenz der beiden Funktionen. Ihre Prüfungsstrukturen zeigen punktuell doch einige Unterschiede auf: Zum einen fügt sich die Prüfung nach dem Gesetzesvorbehalt beim Abwehrrecht nicht in die Prüfung nach dem Anspruch auf eine positive staat206 207
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 338 ff. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 370.
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liche Schutzpflicht ein. Des Weiteren lässt sich die Prüfung der Einschränkungsziele bei den Abwehrrechten nicht widerspruchslos auf die Prüfung der objektiven Grundrechtsfunktionen übertragen. Zuletzt ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit, anders als bei der abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion, auch bei uneinschränkbaren Rechten vorgesehen.208 Beispielsweise ist der Schutz vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ein uneinschränkbares Recht. Die Prüfung eines Abwehrrechts endet in diesem Bereich schon bei der Feststellung eines Eingriffs, der niemals verhältnismäßig sein kann. Dagegen darf die Prüfung eines staatlichen Unterlassens in diesem Bereich noch weiterhin erwägen, ob es verhältnismäßig ist, dass der Staat in einer konkreten Situation keine positiven staatlichen Schutzpflichten hat.209 Daraus ergibt sich, dass Prüfungsstrukturen der negativen und der positiven Grundrechtsfunktionen nicht in Umkehrung der Reihenfolge ausführbar sind. Zudem ist der dem Staat zugewiesene Beurteilungsspielraum bei Ausführung der objektiven Grundrechtsfunktionen oft weiter gefasst, als das bei subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen der Fall ist. Allerdings ergibt sich dieser Unterschied nicht nach dem Gesichtspunkt der Qualität sondern eher nach dem der Quantität. Mit denselben Kriterien ist bei den objektiven wie bei subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen ein jeweils einmal weiterer oder engerer Beurteilungsspielraum abgesteckt. Im Wesentlichen ist die Antwort auf die Frage, ob und wie sich die objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen unterscheiden oder einander anzunähern vermögen davon abhängig, wie weit der Eingriffsbegriff gefasst ist.210 Dennoch knüpfen sich an den Eingriffsbegriff eine Vielzahl von Bewertungen unterschiedlichster Provenienz. Der Begriff der „Unmittelbarkeit“, der bisweilen im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen objektiven und subjektiven Grundrechtsfunktionen herangezogen wird, ist insofern weiterhin offen, als es nötig ist, ihn mit entsprechenden Wertungen auszufüllen.211 Das führt stets dazu, dass am Einzelfall ein ausladender Streit entbrennt. So wird es dann schwer zu entscheiden, welche der Zwischenursachen für die Grundrechtsbeeinträchtigung als unerheblich zu bewerten sind, um einen staatlichen Eingriff bejahen zu können.212 Im Endergebnis lässt sich verständlicherweise aus dieser Vorgehens208
Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 352 ff. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 354. 210 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 899. 211 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 899. 212 Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 899. 209
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weise die klare und erwünschte Abgrenzung zwischen subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen nicht herbeiführen. Alles in allem haben weder Rechtsprechung noch Literatur eine Abgrenzung oder Konvergenz der subjektiven und objektiven Grundrechtsfunktionen ausgesprochen oder einvernehmlich anerkannt. Es ist auch den Konventionsorganen bis auf den heutigen Tag noch nicht gelungen, sich zu diesem Problem eine konstant bleibende Meinung zu bilden.
Zusammenfassung I. Die Vergleichsgrundlage 1. Gegenstand des Vergleichs: Die objektiven Grundrechtsfunktionen Der Begriff der objektiven Grundrechtsfunktion umfasst die über die herkömmliche abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion hinausgehenden zusätzlichen Grundrechtsfunktionen. Als zusätzliche Grundrechtsfunktionen in diesem Sinne werden hauptsächlich die Leistungs- und Schutzgehalte der Grundrechte bezeichnet, die das subjektive Abwehrrecht als zentrale Grundrechtsfunktion verstärken. Die Grundrechte behaupten sich daher nicht allein als Individualansprüche; sie sind ebenso Bestandteil der objektiven Wertordnung. Dabei spielt das Bundesverfassungsgericht die Rolle eines Schrittmachers für die Entwicklung der objektiven Grundrechtsfunktionen. Mittlerweile wird der Rechtsprechung des BVerfG von Seiten der deutschen Rechtswissenschaft eine weitgehende Zustimmung zuteil. Allmählich sind die objektiven Grundrechtsfunktionen nicht mehr nur auf die deutsche Rechtsordnung beschränkt, sondern strahlen auch auf die Rechtsordnung der Europäischen Menschenrechtskonvention aus. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Rechtsprechung zwar nicht im Allgemeinen, aber in vielen Einzelfällen die Theorie der objektiven Grundrechtsfunktionen anerkannt. Von Seiten der Rechtswissenschaft auf den Ebenen von GG und EMRK wird der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR überwiegend Zustimmung signalisiert. Die Rechtswissenschaft unterscheidet bezüglich der objektiven Grundrechtsfunktionen zwischen der grundrechtlichen Schutzpflicht, der „Drittwirkung“ der Grundrechte, den Leistungs- und Teilhabekomponenten der Grundrechte und der verfahrensund organisationsrechtlichen Schutzwirkungen der Grundrechte. Die Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen ist ein wichtiges Merkmal des gegenwärtigen deutschen Staatsrechts, die einer neuen deutschen Rechtordnung auf Grundlage der Grundrechte nach dem zweiten Weltkrieg neuen Boden bereitet hat. Gleichzeitig geht mit der Rezeption der Lehre der objektiven Grundrechtsfunktionen auf Ebene der EMRK einher, dass die klassische Abwehrfunktion der Konventionsrechte gestärkt wird.
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Zusammenfassung
2. Die Vergleichbarkeitsgrundlage im Verhältnis zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen Der Rechtsvergleich unterliegt notwendigerweise einigen allgemeinen Bedingungen. So müssen die zu vergleichenden Phänomene Gemeinsamkeiten aufweisen. Aus den strukturellen oder funktionellen Parallelen der zu vergleichenden Objekte ergeben sich die Voraussetzungen ihrer möglichen Vergleichbarkeit. Demnach gilt es danach zu fragen, in welchem Sinne die objektiven Grundrechtsfunktionen in der Diktion von GG und EMRK ein wegweisendes Vergleichsfeld zu erkennen geben. Zuerst wurzeln das GG als nationale Verfassungsordnung und die EMRK als internationaler Vertrag in einer gemeinsamen Geschichte. Weiterhin haben das GG und die EMRK eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung in ihrem Wortlaut. Obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nachgeordnet ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit die Pflicht aufgetragen, der Rechtsprechung des EGMR „Berücksichtigung“ widerfahren zu lassen. Auf diesem Wege ist einerseits ein Einwirken der Konventionsbestimmungen auf das innerstaatliche Recht in den Vertragsstaaten gegeben, das mitgliedsstaatliche Recht wirkt andererseits ebenfalls über die Auslegung und Anwendung der Konvention auf diese zurück. Auf Grundlage dieser Wechselbeziehung ergeben sich einige Dimensionen des Vergleichs zwischen GG und EMRK hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen: Verstärkung des Dialogs zwischen GG und EMRK; weitere Systematisierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen in der EMRK; Erkennen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen GG und EMRK; Stärkungen der subjektiven Abwehrrechte beider Rechtssysteme. II. Die einzelnen objektiven Grundrechtsfunktionen im Vergleich 1. Schutzpflichten Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflichten steht im Zentrum der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen. Mit den grund- und menschenrechtlichen Schutzpflichten ist vornehmlich die dem Staat zugewiesene Schutzpflicht gemeint, die Rechtsgüter seiner Bürger vor nichthoheitlicher Gefährdung, insbesondere von privater Seite, durch das Ergreifen staatlicher Maßnahmen zu gewährleisten. a) GG: Das Bundesverfassungsgericht hat die grundrechtlichen Schutzpflichten in einer Reihe von Leitentscheidungen – vor allem in den Fällen Lüth, Abtreibung, Mülheim-Kärlich, Schleyer usw. – hergeleitet. Gleichzei-
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tig lassen sich im Text des Grundgesetzes auch jene vereinzelten und indirekten Ansätze nachweisen, die mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten Relevanz beanspruchen können: Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Schutz der Menschenwürde), Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) sowie Art. 6 Abs. 4 (Anspruch der Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft). Trotz der Zurückhaltung in der anfänglichen Literatur haben die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten grundrechtlichen Schutzpflichten im Großteil des späteren Schrifttums eine weitgehende Zustimmung erfahren. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze zur dogmatischen Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten: beispielsweise die abwehrrechtliche Einordnung, das Sozialstaatsprinzip, die Staatstheorie auf Grundlage der mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisse und die Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. EMRK: Auch die Konventionsorganen haben die grundrechtlichen Schutzpflichten in einer Reihe von Leitentscheidungen wie vor allem Young, James und Webster, X & Y gegen die Niederlande, Plattform „Ärzte für das Leben“, Marckx, hergeleitet. Gleichzeitig findet man in der EMRK den Schlüssel zur Öffnung der grundrechtlichen Schutzpflichten in der evolutiv-dynamischen Auslegung des Wortlauts und einigen indirekten und vereinzelten Erwähnungen im Wortlaut der EMRK selbst: Art. 1 EMRK (Allgemeine Schutzgarantie zugunsten der normierten Rechte und Freiheiten), Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK (Schutz des Lebens) und Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK (Schutz des Privatlebens der Prozessparteien) usw. Von der Literatur werden die von den Konventionsorganen entwickelten grundrechtlichen Schutzpflichten weitestgehend mit Zuspruch bedacht. Die damit verbundenen verschiedenen Ansätze – wie beispielsweise die formellen Ansätze (die Art. 1, Art. 2 und Art. 5 EMRK), die materiellen Ansätze (die „Drittwirkung“, die Menschenwürde, die dynamische Auslegung und das Effektivitätsprinzip) und der abwehrrechtliche Ansatz. – bereiten einer dogmatischen Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten den Weg. b) Von der Struktur der grundrechtlichen Schutzpflicht sind im Rahmen von GG und EMRK im Regelfall die zu schützenden Rechtsgüter, die Gefahrenquellen, der Gefahrenbegriff und die Adressaten der Schutzpflicht betroffen. GG: Gegenstand der staatlichen Schutzpflicht sind alle in den Freiheitsgrundrechten des Grundgesetzes normierten Güter, insbesondere die Güter nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 (Schutz des Lebens), Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Schutz der Gesundheit), Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 4, Art. 12 und Art. 14 GG. Die staatlichen Schutzpflichten können nur auf Grundlage eines Vorliegens von Beeinträchtigungen aus nichtstaatlicher Quelle ausgelöst werden. Unter diese nichtstaatlichen Gefahren-
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quellen fallen in der Regel die Handlungen von Privatpersonen, abträgliche Naturereignisse und das Verhalten ausländischer Staaten. Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates kann nur dann ausgelöst werden, wenn Anhaltspunkte für das Bestehen einer Gefahr oder eines Risikos für das grundrechtlich geschützte Gut gegeben sind. Unterhalb der Gefahrenschwelle angesiedelte Einwirkungen, zu denen bloße Belästigungen und Restrisiken gehören, vermögen demgegenüber noch nicht die staatliche grundrechtliche Schutzpflicht auszulösen. Nach Art. 1 Abs. 3 GG sind alle Träger staatlicher Gewalt Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten. Die Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten – Legislative, Exekutive und Judikative – sind gehalten, die grundrechtliche Schutzpflicht auf Grundlage der von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzzuweisungen der Verwirklichung zuzuführen. EMRK: Da der Menschenrechtsschutz der EMRK prinzipiell auf den wirksamen und effektiven Schutz aller Konventionsgüter zielt, erstrecken sich die staatlichen Schutzpflichten auf alle von der EMRK geschützten Güter, insbesondere auch die Schutzgüter der Art. 8, 11 und 2 EMRK. Auf Ebene der EMRK können die menschenrechtlichen Schutzpflichten gleichermaßen nur bei Vorliegen nichtstaatlicher Beeinträchtigungen ausgelöst werden, zu denen beispielsweise Beeinträchtigungen durch Privatpersonen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, der diplomatische Schutz im Ausland und natürliche Gefahrenquellen zählen. Eine staatliche Schutzpflicht kann nur dann ausgelöst werden, wenn der Grad der Beeinträchtigung oberhalb der Gefahrenschwelle angesiedelt ist. Das Vorliegen eines Risikos oder einer Belästigung unterhalb der Gefahrenschwelle reicht für die Auslösung der staatlichen Schutzpflicht nicht aus. Jedoch können sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation im Einzelfall unterschiedliche Lösungen bei der Gewährleistung staatlicher Schutzpflichten ergeben. Nach Art. 1 EMRK erfolgt die Zuweisung der entsprechenden konventionsrechtlichen Schutzpflicht nur allgemein an den Mitgliedstaat. Demnach sind Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung des jeweiligen Vertragsstaates Adressaten der menschenrechtlichen Schutzpflichten. An sie ergeht aufgrund der konventionsrechtlichen Bestimmungen die Aufforderung, durch aktives innerstaatliches Handeln jene Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die das Menschenrecht seiner effektiven Verwirklichung zuführen. c) Ob die staatlichen Schutzpflichten ein individuelles subjektives Recht auf Schutz vor Übergriffen von privater Seite begründen, ist bislang auf beiden Rechtsebenen umstritten. GG: Das Bundesverfassungsgericht hat das Bestehen eines subjektiven Rechts auf grundrechtliche Schutzpflicht bejaht. Obwohl einige Autoren einer Subjektivierung der Schutzpflichten ablehnend gegenüberstehen oder
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versuchen, diese auf bestimmte Grundrechte oder Staatsgewalten zu begrenzen, überwiegt in der Literatur die Auffassung, dass mit der staatlichen Schutzpflicht auch ein subjektives Recht einhergehe, das im Wege der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden könne. Allerdings beschränkt sich der subjektive Anspruch nur auf die sachgerechte Ausübung der staatlichen Handlungspflicht, weil in aller Regel ein weiter Gestaltungs- und Ermessensspielraum der Staatsorgane zu gewähren ist. EMRK: Mit Art. 1 EMRK sind durch die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt 1 erklärten Rechte und Freiheiten zugesichert. Diese Vorgaben umfassen gleichermaßen die Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Der Einzelne kann diese Garantie im Wege der Individualbeschwerde durchsetzen. Daneben gibt es in einigen vereinzelten Normen der EMRK auch Anhaltspunkte zur Begründung eines subjektiven Rechts auf Schutz. Allerdings leitet der EGMR bisher das subjektive Recht auf Schutz – anders als vom deutschen Grundgesetz nahegelegt – nicht aus der objektiven Wertordnung der EMRK oder der Vorstellung von der Menschenwürde her, sondern stellt vielmehr den individualrechtlichen Ansatz heraus. Vom rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird diese Thematik in Anbetracht der vom EGMR eindeutig vollzogenen Anerkennung individueller Rechte nicht weiter in Frage gestellt. Dennoch sind der Durchsetzung der subjektiven Rechte auf Schutz auch Grenzen gesetzt. Unter Berücksichtigung des weiten Ermessenspielraums des Staates ergibt sich ein subjektives Recht auf eine „ganz bestimmte“ Handlung durch ein Staatsorgan nur für den Fall, dass ein Staat der ihm obliegenden Schutzpflicht ausschließlich im Wege dieser einzigen Handlungsvariante nachkommen kann. Ansonsten ist das subjektive Recht auf den Anspruch zur Durchführung einer staatlichen Maßnahme im Hinblick auf die grundrechtliche Schutzpflicht begrenzt. d) GG: Der Einzelne ist mit § 90 Abs. 2 BVerfGG zunächst aufgefordert, den Rechtsweg durch die Fachgerichte auszuschöpfen. Im Anschluss daran steht es dem Einzelnen offen, im Wege der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Alle Handlungen der öffentlichen Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative können nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde werden. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist an die Voraussetzung geknüpft, dass der Beschwerdeführer gegenwärtig, persönlich und unmittelbar betroffen ist. EMRK: Einzelnen Bürgern, nichtstaatlichen Organisationen oder Personenvereinigungen ist nach Art. 34 EMRK die Individualbeschwerde – nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs – zugestanden, wenn sie behaupten, dass eines ihrer Konventionsrechte infolge unzureichender Realisierung einer staatlichen Schutzpflicht verletzt sei. Wird vom Gerichts-
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hof die Konventionsverletzung bestätigt, so sind nach Art. 41 EMRK die Möglichkeiten des Gerichtshofs auf den Erlass eines Feststellungsurteils sowie die Zusprechung von Schadensersatz beschränkt. 2. Die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen Die Leistungs- und Teilhabekomponenten umfassen eine soziale Dimension der Menschen- oder Grundrechte, die weder wie die Abwehrrechte einen staatlichen Eingriff noch wie die staatliche Schutzpflicht eine grundrechtliche Verletzung durch Dritte zum Gegenstand haben. Ihr Gegenstand ist vielmehr, dass der Staat durch positives Tun die Voraussetzungen schafft, die die Verwirklichung der Freiheitsrechte ermöglichen. Die Leistungs- und Teilhabekomponenten der Menschen- oder Grundrechtsfunktionen werden in der Regel in die originären Leistungsrechte aus den Freiheitsrechten und die derivativen Teilhaberechte auf Gleichbehandlung aufgliedert. a) Das originäre grundrechtliche Leistungsrecht zielt auf eine bestimmte vom Staat zu ergreifende positive Maßnahme und das damit umfasste bestimmte Gut. GG: Auf der Ebene des deutschen Grundgesetzes werden die Leistungsund Teilhabekomponenten der Grund- und Menschenrechte mit dem Begriff der „sozialen Grundrechte“ bezeichnet. Zwar sind die sozialen Grundrechte gar nicht unmittelbar in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes aufgenommen, aber die Vorstellungen, die sich mit den sozialen Grundrechten verknüpfen, sind dem Grundgesetz angesichts der Anerkennung des Rechts auf das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 GG doch nicht fremd. Das deutsche System der sozialen Sicherheit ist durch seinen auf einfachgesetzlicher Ebene ausgebauten Sozialstaat ausgebildet. Die Literatur nähert sich der Thematik der sozialen Grundrechte noch sehr kontrovers. Das Bundesverfassungsgericht wahrt bislang gegenüber der Annahme eines Bestehens und der möglichen Verletzung der sozialen Grundrechte in der Tendenz Zurückhaltung. Obwohl die sozialen Grundrechte im Einzelnen vom Verfassungsgericht gelegentlich mit einbezogen wurden, ist von ihm das Bestehen dieser Grundrechte und somit auch deren Verletzung vorwiegend abschlägig beschieden worden. Daher lassen sich aus der Rechtsprechung des BVerfG einstweilen noch keine verallgemeinerungsfähigen Schlussfolgerungen bezüglich der sozialen Grundrechte entnehmen. EMRK: Auf Ebene der EMRK erscheinen die sozialen Grundrechte vorwiegend als moralische oder politische Forderungen und nicht so sehr als
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rechtlich justiziable Normen. Obwohl die Kommission und der Gerichtshof gegenüber der Annahme sozialer Grundrechte weitgehende Zurückhaltung wahren, haben sie mit einigen wenigen Fällen doch darauf verwiesen, welche soziale Mindeststandards durch die Konvention gewährleistet werden und wo die Grenzen des sozialen Schutzes gezogen werden sollen. Die Beurteilungs- und Ermessensspielräume in den einzelnen Staaten sind hinsichtlich der Ausgestaltung der sozialen Grundrechte weit gefasst, insbesondere wird die wirtschaftliche Leistungskraft eines Vertragsstaates berücksichtigt. Im Detail erweist sich die Rechtsprechung der Konventionsorgane wegen des erforderlichen Spagats zwischen der gebotenen Zurückhaltung und der notwendigen Intervention gegenüber einem Mitgliedstaat als sehr komplex und ebenso schwierig. b) Die abgeleiteten Teilhaberechte zielen auf die chancengleiche Gewährleistung bestimmter Freiheiten ab. Sie gewähren gleiche Beteiligungschancen an vorhandenen staatlichen Leistungen, die unter dem Vorbehalt der Begrenztheit von Ressourcen stehen. GG: Die deutsche Rechtsprechung hat die derivativen Teilhaberechte in erster Linie aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung entwickelt. Damit sind jene Ansprüche umfasst, die sich insbesondere bei der Nutzung öffentlicher Einrichtungen aus dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit herleiten. Darüber hinaus sind auch Ansprüche auf Gleichstellung und gegen gleichheitswidrige Begünstigungsausschlüsse durch Gesetz umfasst. EMRK: Mit Blick auf einige Konventionsnormen hat der EGMR ebenfalls derivative Teilhaberechte anerkannt. Das geht insbesondere aus den Fällen Belgische Sprachen1, Petrovic2 und Zypern vs. die Türkei3 hervor. Prinzipiell ist den Vertragsstaaten zwar ein weitgefasster Beurteilungsspielraum bezüglich der Gewährung der derivativen Leistungsrechte zugestanden. Dennoch kann sich mit einem aus der Vermittlung durch die Konventionsorgane hervorgehenden vertragsstaatlichen Konsens auch verbinden, dass der nationale Beurteilungsspielraum im Einzelfall beschränkt ist. 3. Die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung Die „objektiven Grundrechtsfunktionen“ umfassen überdies die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Grund- und Menschenrechte. Der Grundrechtsschutz verlangt geeignete Verfahrensvorkehrungen 1 2 3
EGMR A 6, § 7 – Belgischer Sprachenfall. EGMR Rep. 1998-II, 579, § 47 – Petrovic. EGMR Rep. 2001-IV, 1, § 219 – Zypern vs. Türkei.
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und Verfahrenssicherungen, damit der grundrechtlich normierte Rechtszustand in der „sozialen Wirklichkeit“ realisiert werden kann. Der Staat ist dazu verpflichtet, im Wege der prozessualen Absicherung die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte zu gewährleisten. Mit der verfahrens- und organisationsrechtlichen Schutzwirkung werden zwei Kategorien voneinander unterschieden: die Verfahrens- und Organisationsgehalte der formellen Grundrechte und die Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte. a) GG: Mit dem Verfahrens- und Organisationsgehalt formeller Grundrechte ist das Verfahren oder die Organisation selbst Gegenstand einer Grundrechtsgarantie. Als wichtigste Beispiele lassen sich die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG, die Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und die Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG anführen. EMRK: Die EMRK enthält neben den Freiheitsrechten auch reine Verfahrens- und Organisationsgarantien, die aufgrund ihrer Ausgestaltung ein staatliches Handeln erfordern. Dabei sind das Verfahren vor Gericht und die Organisation der Gerichte selbst Gegenstand der Grundrechtsgarantie der EMRK. Beispielsweise ergeben sich reine Verfahrens- und Organisationsgarantien aus Art. 5 Abs. 3 und 4, Art. 6 und Art. 13 EMRK sowie den Sicherungen des 7. Zusatzprotokolls der EMRK. Kommission und Gerichtshof sind der Meinung, dass die effektive Umsetzung der in der EMRK bereits bestehenden Verfahrens- und Organisationsrechte ein vorrangiges Anliegen der Rechtsprechungsorgane bildet. b) GG: Mit den Verfahrens- und Organisationsgehalten der materiellen Grundrechte ist darauf verwiesen, dass sich an die materiellen Grundrechte auch eine organisations- und verfahrensrechtliche Dimension anschließt. Es gilt zu betonen, dass die Verfahrens- und Organisationskomponenten aufgrund ihrer engen Anbindung an die materiellen Grundrechte ebenso verfassungsrechtlichen Rang beanspruchen. Dementsprechend hat das BVerfG die organisations- und verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht nur auf Grundlage einer Reihe von Urteilen (Hamburger Deich-Urteil, MülheimKärlich-Urteil, Hochschul-Urteil, Kindesentführung-Urteil) in Bezug auf die Grundrechte nach Art. 2 Abs. 2, 5 Abs. 3 und 6 Abs. 2 GG bestätigt, sondern es hat ebenso in anderen Fällen, wie im Zusammenhang mit dem Schutz von Ehe und Familie, des Instituts des Eigentums, der Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Berufsfreiheit, der Religionsfreiheit, des Gleichheitssatzes und des Persönlichkeitsrechts, das Bestehen solcher Anforderungen hervorgehoben. EMRK: Auf Ebene der EMRK deuten die Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte auf die organisations- oder verfahrensrecht-
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lichen Grundrechtskomponenten mancher Freiheitsrechte hin, die mit dem Ziel der Grundrechtsverwirklichung dem Schutz der materiellen Freiheitsrechte dienen sollen. Die Verfahrens- und Organisationsgehalte materieller Grundrechte ergeben sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der EMRK. Vielmehr sind diese im Wege der Auslegung zu bestimmen. Aus den Entscheidungen des EGMR lässt sich entnehmen, dass sich die Organisationsund Verfahrensgehalte der materiell-rechtlichen Konventionsnormen überwiegend in den Rechten nach Art. 2, 3, 5 und 8 EMRK abstützen. 4. Die Drittwirkung der Grund- und Menschenrechte Mit der Drittwirkung der Grundrechte wird die Horizontalwirkung der Grundrechte bezeichnet, also die „Geltung“ der Grundrechte in der Privatrechtsordnung. Das bedeutet, dass die Schutzwirkung der Grundrechte nicht allein im Verhältnis zwischen Bürger und Staat besteht, sondern ebenso im Verhältnis der Bürger untereinander. Hinsichtlich der Drittwirkung der Grundrechte wird zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Drittwirkung unterschieden. GG: Dem Begriff der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte liegt die direkte und nicht notwendig durch Gesetze vermittelte Wirkung der Grundrechte im Verhältnis der Privatpersonen untereinander zugrunde. Im Mittelpunkt der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung steht der Gedanke, dass die Grundrechte neben ihrer Bedeutung als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Übergriffe auch die Funktion von Ordnungssätzen oder Grundsatznormen für die gesamte Rechtsordnung umfassen. Die deutsche Rechtsprechung und Literatur lehnen jedoch die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung überwiegend ab. Hingegen widerfährt der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte in der Literatur weitestgehend Zustimmung. Dieser Lehre liegt zugrunde, dass die Grundrechte im Privatrecht keine unmittelbare Wirkung entfalten, sich jedoch deren Wirkung auch in Privatrechtsbeziehungen „durch das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“ entfaltet. Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte durchgehend zugestimmt. Demnach vollzieht sich der Schutz der Grundrechte im Rechtsverkehr der Privaten ausschließlich dadurch, dass den Grundrechten der am Rechtsverhältnis Beteiligten im Wege der Auslegung und Anwendung von zivilrechtlichen Normen Berücksichtigung zuteilwird. Aktuell wird von der Literatur verstärkt eine neue Tendenz vertreten, die das Problem der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht nicht mehr in Anlehnung an die mittelbare Drittwirkungslehre aufgreift,
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sondern diese in der These von den staatlichen Schutzpflichten zum Grundrechtsschutz der Bürger eingegliedert sieht. EMRK: Auf Ebene der EMRK wird in der Literatur häufig nicht grundlegend zwischen einer mittelbaren und unmittelbaren Drittwirkung unterschieden. Unter einer unmittelbaren Drittwirkung der EMRK ist zu verstehen, dass die Konventionsrechte als absolute, gegen jedermann gerichtete Rechte Geltung beanspruchen. Jedoch wird die „unmittelbare Drittwirkung“ der Konventionsrechte von der Rechtsprechung der Konventionsorgane sowie von der Fachliteratur überwiegend abgewiesen. Hingegen widerfährt der mittelbaren Drittwirkung der Konventionsrechte von Seiten der Rechtsprechung und Fachliteratur inzwischen Anerkennung. Da sich die Verfahrensvorschriften der EMRK allein an die Vertragsstaaten und nicht unmittelbar an ihre Bürger richten, können die Grundrechte der EMRK nur mittelbar über die Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe der jeweiligen nationalen Gesetze auf das Verhältnis zwischen den Privaten einwirken. Vor diesem Hintergrund sind die Staaten gehalten, ihr Zivil- und Strafrecht dergestalt auszurichten, dass die von der Konvention den Privatpersonen zugesprochenen Rechte effektiv geschützt werden. Die von der deutschen Staatsrechtslehre herausgestellte Verknüpfung zwischen Drittwirkung und Schutzpflicht findet auf Ebene der EMRK ebenso Beachtung. Damit ist mit dieser Tendenz die Frage nach der Einwirkung der EMRK auf das Verhältnis zwischen den privaten Rechtsträgern der Schutzpflichtthematik zugeordnet. III. Mögliche Probleme und Folgerungen 1. Die objektiven Grundrechtsfunktionen und die „Balance der Staatsgewalten“ GG: Mit der Herausbildung und Entwicklung der objektiven Dimension der Grundrechte ist für das Bundesverfassungsgericht ein Statusgewinn verbunden. Während mit der Entfaltung der objektiven Grundrechtsfunktionen durch das Verfassungsgericht die Stärkung der grundrechtlichen Geltungskraft zweifellos einhergeht, gerät gleichzeitig die Gewaltenteilung des Grundgesetzes in Gefahr, die dem Gesetzgeber die politische Gestaltung und den Gerichten nur die rechtliche Kontrolle aufträgt. Vor diesem Hintergrund erfolgt die verfassungsgerichtliche Kontrolle bezüglich der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen in der Regel nur über die Evidenzkontrolle, womit die Prüfung normalerweise allein auf „offensichtliche“ Grundrechtsverletzungen beschränkt ist. In seinen späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall ebenso die Rechts-
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figur des Untermaßverbotes einbezogen. Das Untermaßverbot entspricht hinsichtlich der konkreten Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen im Wesentlichen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil beide Rechtsfiguren Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit umfassen. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen wird vom BVerfG in eine dreistufige Abfolge untergliedert. In der 1. Stufe prüft das Bundesverfassungsgericht die bestehenden normativen Regelungen auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit. Auf der 2. Stufe wird untersucht, ob bei Auslegung und Anwendung der untersuchten gesetzlichen Regelung durch die Fachgerichte eine Verletzung der objektiven grundrechtlichen Schutzfunktionen im konkreten Fall überhaupt in Betracht zu ziehen ist. Ihr folgt auf der abschließenden 3. Prüfungsstufe eine mit Rücksicht auf die objektive Schutzwirkung der Grundrechte vorzunehmende Ergebniskontrolle. Als Adressaten der objektiven Grundrechtsfunktionen sollen die staatlichen Teilgewalten Legislative, Exekutive und Judikative bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen ihre wechselseitige Balance aufrechterhalten. Dabei verfügt der Gesetzgeber zunächst über seinen eigenen Gestaltungsspielraum. Der Gesetzgeber soll im Rahmen seines Gestaltungsspielraums jedoch auch das Untermaßverbot beachten und die unterschiedlichen, zuweilen kollidierenden Rechtsgüter beachten, verhältnismäßig gewichten und gegeneinander abwägen. Die Exekutive und ihre Vollzugsorgane erfüllen dann den ihnen vom Gesetz aufgetragenen, ausgedehnten Schutzauftrag. Dieser Erfüllungsauftrag vollzieht sich für gewöhnlich im Bereich der gesetzesakzessorischen Verwaltung in vielen unterschiedlichen, gesetzeskonformen Ausgestaltungen. Die Aufgabenerfüllung der Judikative erfolgt stets in Anbindung an die bestehenden Gesetzesnormen. Trotz der gesetzlichen Bindung ist der Judikative ein eigener begrenzter Gestaltungsspielraum zugemessen. Im jeweiligen Einzelfall kann dieser Gestaltungsspielraum der Judikative der verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch das BVerfG nach Maßgabe von Evidenzkontrolle oder Untermaßverbot unterliegen. EMRK: Mit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen wird einerseits die mitgliedsstaatliche Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten nachhaltig gefördert, andererseits geht damit eine Erweiterung der diesbezüglichen Prüfungskompetenz des EGMR einher. Aber aufgrund der vielen Besonderheiten, die dem völkerrechtlichen Vertrag (EMRK) und dem internationalem Gerichtshof (EGMR) eigen sind, übt das Konventionsgericht im Wege seiner Rechtsprechung eine gewisse Zurückhaltung bezüglich der Erfüllung der objektiven Grundrechtsfunktionen aus. Das ergibt sich schon daraus, dass eine allzu „apodiktische“ konventionsrechtliche Rechtsprechung den Grundsätzen von staatlicher Souveränität und Demokratie widerspricht. Demzufolge wird den Vertragsstaaten grund-
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sätzlich ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum eingeräumt. Im Ergebnis ist mit der Kontrolldichte des EGMR eigentlich auf die Grenze zwischen einer Selbstbeschränkung der Prüfungskompetenz des EGMR und einem weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum des Staates verwiesen. Dabei kommt aus Sicht des EGMR der Theorie vom „margin of appreciation“ („Beurteilungsspielraum der nationalen Behörden“) eine weitreichende Bedeutung zu. Aus dem „margin of appreciation“ leitet sich als Grundregel her, dass die konventionsrechtliche Kontrolle durch den EGMR und die Kommission umso strenger erfolgt, je intensiver die Konventionsgarantien von den staatlichen Maßnahmen oder Unterlassungen betroffen sind, oder je strenger die sich aus den Konventionsgarantien ergebenden Anforderungen an das vertragsstaatliche Handeln oder Unterlassen sind. Der EGMR hat im Wege seiner Entscheidungsfindung einen weiten mitgliedsstaatlichen Ermessensspielraum bei der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen anerkannt, und eine freiwillige und unverbindliche Selbstbeschränkung gegenüber dem weiten mitgliedsstaatlichen Ermessensspielraum herausgebildet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die EMRK den Vertragsstaaten einen unbegrenzten Ermessensspielraum unbesehen belässt. Der EGMR kontrolliert vielmehr, ob die Vertragsstaaten die unerlässlichen, unentbehrlichen Maßnahmen zum Schutz der Grundrechtsgüter beschlossen und in ihren Rechtssystemen verwirklicht haben. Die detaillierten Kriterien, betreffend Grenzen des staatlichen Beurteilungsspielraums, umfassen beispielsweise die Kriterien Verhältnismäßigkeit, Wesensgehalt eines Konventionsrechts, gemeinsamer europäischer Konsens und die regionalen Besonderheiten. 2. Abgrenzung der objektiven von den subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen GG: Die Grundrechte besitzen eine Doppelfunktion: Die subjektiv-abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion und die objektiven Grundrechtsfunktionen. Die primäre, subjektive abwehrrechtliche Funktion ist die vorrangige Grundrechtsfunktion, und die objektiven Grundrechtsfunktionen sind ihr als sekundäre Grundrechtsfunktionen nachgeordnet. Die abwehrrechtliche Komponente ist regelmäßig der Kern der Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes. Demnach sind die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes weitgehend als Abwehrrechte zu verstehen. Die objektiven Grundrechtsfunktionen wirken sich dagegen nur situationsgebunden und sekundär aus und treten den vorrangigen abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen nur ergänzend und verstärkend zur Seite. EMRK: Auf Ebene der EMRK besitzen die Menschenrechte ähnlich wie das deutsche Grundgesetz auch eine so genannte Doppelfunktion: die sub-
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jektiv-abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion und die objektiven Grundrechtsfunktionen. Die Menschenrechtskonvention wurzelt wesentlich in der Vorstellung, dass dem subjektiven Recht im Wege eines individuellen Abwehrrechts gegen die staatliche Willkür auf internationaler Ebene Geltung zu verschaffen ist. Dem Wortlaut der Menschenrechte in der EMRK lassen sich oftmals bereits jene Hinweise entnehmen, die auf die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion deuten. Die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion ist „Ausgangspunkt und stets beibehaltener Fixpunkt der Rechtsprechung des EGMR“. Wenngleich sich die Bedeutung des Konventionssystems über die objektiv-rechtlichen Wirkungen der Grundrechte insgesamt erhöht, wird vom EGMR die objektive Dimension der Grundrechte nur in ergänzender und verstärkender Funktion in die subjektive Abwehrkomponente der Grundrechte einbezogen. Auf Grundlage dieses Sachverhalts lässt sich das Ergänzungsverhältnis zwischen der abwehrrechtlichen und der objektivrechtlichen Seite der Konventionsgarantien deutlich aufzeigen. IV. Schlussanmerkungen 1. Die Gemeinsamkeiten Wie sich das unschwer dem allgemeinen Rechtsvergleich entnehmen lässt, zeigen sich bezüglich der objektiven Grundrechtsfunktionen auf den Ebenen von EMRK und GG wesentliche Übereinstimmungen. Vor allem ergeben sich im Bereich der Schutzpflichten viele wesentliche Parallelen zwischen GG und EMRK. Im Rahmen der EMRK finden, ähnlich wie bei dem deutschen Grundgesetz, eben auch die Schutzpflichten weitgehend Anerkennung seitens der Rechtsprechung und Literatur. Weder dem Wortlaut des deutschen Grundgesetzes noch dem Konventionstext ist die ausdrückliche Statuierung der staatlichen Schutzpflichten zu entnehmen. Dennoch werden beide Grundrechtskataloge von den Gerichten auf dynamische Weise ausgelegt, um damit über die staatlichen Schutzpflichten die Gewährleistung eines praktisch wirksamen, effektiven Grundrechtsschutzes zu erzielen. Somit ist die staatliche Gewährleistung fundamentaler Rechtsgüter und ihr Schutz vor Beeinträchtigung von nichtstaatlicher Seite (Privatpersonen, ausländische Staaten, Naturkatastrophen) in den Vordergrund gerückt. Von der deutschen und europäischen Literatur werden die von den beiden Rechtsprechungsorganen entwickelten grundrechtlichen Schutzpflichten überwiegend mit Zuspruch bedacht. In der inhaltlichen und strukturellen Ausgestaltung der Schutzpflichten zeigt sich ebenfalls die weitreichende Übereinstimmung zwischen den beiden Rechtsordnungen. Sowohl auf europäischer als auch auf deutscher Ebene
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können die staatlichen Schutzpflichten durch das Handeln von Privatpersonen oder ausländischer Staaten sowie durch natürliche Gefahrenquellen ausgelöst werden. Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht haben die Konventionsorgane hinsichtlich der Auslösung der staatlichen Schutzpflichten die unterhalb der Gefahrenschwelle liegende Belästigung einerseits ausgeschlossen, aber andererseits das konkrete Risiko und die Gefahr für rechtlich relevant erklärt. Auf den Ebenen beider Rechtsordnungen wird von der Rechtsprechung und dem Schrifttum einem subjektiven Recht auf Schutzpflichtmaßnahme überwiegend zugestimmt. Allerdings können diese subjektiven Ansprüche nicht weiter reichen als die korrespondierende objektive Verpflichtung der Staaten. Die Durchsetzung der staatlichen Schutzpflichten gestaltet sich auf beiden Rechtsebenen auf ähnliche Weise. Dabei können die beiden Rechtsprechungsorgane, BVerfG und EGMR, erst nach Erschöpfung des fachgerichtlichen Weges oder des nationalen Rechtsschutzes eine potenzielle Schutzpflichtverletzung prüfen. Nur wenn ein Legislativorgan es unterlassen hat, die je nach Sachlage erforderliche Schutzmaßnahme zu treffen und somit gegen das Untermaßverbot verstoßen hat, können die beiden Rechtsprechungsorgane auf Schutzpflichtverletzung erkennen. Während sich augenfällige Parallelen zwischen deutschem und europäischem Recht im Bereich der Schutzpflichten zeigen, so gilt das nicht in gleichem Maße für die Thematik der anderen objektiven Grundrechtsfunktionen, zu denen die Leistungs- und Teilhabekomponenten, die verfahrensund organisationsrechtliche Schutzwirkung, und die Drittwirkung der Grundrechte gehören. Obwohl diese weiteren objektiven Grundrechtsfunktionen auf den Ebenen von GG und EMRK nur zögerlich aufgegriffen werden, lassen sich doch einige Übereinstimmungen erkennen. Beispielsweise finden sich mit dem Wortlaut des Grundgesetzes und dem der EMRK noch keine sozialen Grundrechte positiv ausgewiesen. Dennoch ist die Rechtsprechung von BVerfG und EGMR mit Unterstützung der Rechtswissenschaft über die Auslegung der Grundrechtsbestimmungen zu den sozialen Grundrechten vorgestoßen. Von beiden Rechtsordnungen wird ebenfalls die verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzwirkung der Grundrechte weitgehend anerkannt. Diese verfahrens- und organisationsrechtliche Dimension der Grundrechte ergibt sich einerseits aus den konkreten Verfahrensrechten nach GG und EMRK und zum anderen lassen sich prozedurale Elemente aus den rein materiell-rechtlichen Regelungen des GG und der EMRK entnehmen. In der Rechtsprechung und der Literatur auf den beiden Ebenen zeigt sich übereinstimmend eine eindeutige Tendenz hin zur Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. In der neueren deutschen und europäischen Fachliteratur findet sich dennoch inzwischen eine dahin gehende Tendenz, die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte synonym mit den staatlichen Schutzpflichten anspricht.
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Die mit der Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen verbundenen Probleme und Folgerungen nehmen sich auf den Ebenen von EMRK und deutschem Recht ähnlich aus. Denn während die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen die staatliche oder mitgliedsstaatliche Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten befördert, so geht damit eine Erweiterung der Prüfungskompetenz des BVerfG und des EGMR ebenso einher. Indes den Mitgliedstaaten die weiten Beurteilungsund Ermessensspielräume gewährt sind, so ergeben sich auf Grundlage des deutschen Verfassungsrechts mit vorrangigem Blick auf die Gewaltenteilung und der Entscheidungsprärogative des Gesetzesgebers. Demgegenüber kommt den weiten vertragsstaatlichen Spielräumen im Rahmen der Konvention die Bedeutung eines Bemühens um Begrenzung staatlichen Souveränitätsverlustes und die Anerkennung einzelstaatlicher Besonderheiten innerhalb einer europäischen gemeinsamen Ordnung zu. Zwar ist es den Rechtsprechungsorganen auf beiden Ebenen, BVerfG und EGMR, möglich, Maßnahmen der innerstaatlichen gesetzgebenden Gewalt zu überprüfen, jedoch wird von diesen Rechtsprechungsorganen die Grenze zwischen ihrer Prüfungskompetenz und dem Beurteilungsspielraum der demokratischen Gewalten bzw. Vertragsstaaten gewahrt. Diese Grenze zwischen der Prüfungskompetenz der Rechtsprechungsorgane und dem Beurteilungsspielraum der demokratischen Gewalten und Vertragsstaaten bestimmt sich regelmäßig in Abhängigkeit von den betroffenen Rechten, den potenziellen gemeineuropäischen Standards, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie dem Schutz des Wesensgehaltes der Rechte. Darüber hinaus ergeben sich auf beiden Ebenen die gleichen Fragen hinsichtlich der gegenseitigen Abgrenzung von Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte. Sowohl nach deutschem Grundgesetz als auch nach Konventionsrecht findet sich die sogenannte Doppelfunktion der Grund- und Menschenrechte bestätigt: Mit den subjektiv-abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen wird den Bürgern das „klassische“ negatorische Abwehrrecht zugesprochen, das auf das Unterlassen des staatlichen Eingriffs in den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich abzielt. Demgegenüber verweisen die „objektiv-rechtlichen Funktionen“ der Grundrechte als Wertordnung auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das gesamte Rechtssystem. Von beiden Rechtsordnungen wird das wechselseitige Verhältnis der objektiven und subjektiven abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen anerkannt. Es herrscht dahingehend Übereinstimmung, dass die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte als primäre Funktion im Vordergrund steht, und dass die objektiv-rechtlichen Funktionen lediglich die subjektiv-abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion in sekundärer Funktion ergänzen. Aus den objektiven Grundrechtsfunktionen ergibt sich als ihr wichtigster Bestandteil die positive staatliche Verpflichtung, den Einzelnen vor
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nicht-hoheitlichen Gefahren zu bewahren. Zu diesen gehören insbesondere die Gefahren, die von privater Seite ausgehen. Auf diesem Wege ist die Frage nach der gegenseitigen Abgrenzung zwischen Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte im Wesentlichen auf die Unterscheidung zwischen Gefahren von hoheitlicher oder von privater Seite zurückgeführt. Infolgedessen findet sich auf beiden Ebenen die Frage in Übereinstimmung dahingehend beantwortet: es ergibt sich aus dem Kriterium des konstitutiven Beitrags, ob der hoheitliche oder private Beitrag für die Gefährdung des Rechtsgutes wesentlich bestimmend ist. In der obigen vergleichenden Gesamtbetrachtung zeigen sich hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen viele wesentliche Übereinstimmungen zwischen deutschem und europäischem Recht. Die sich dem Rechtsvergleich erschließenden Gemeinsamkeiten auf den Ebenen von GG und EMRK können dazu beitragen, die weitere Etablierung und Systematisierungen der objektiven Grundrechtsfunktionen in der jeweils anderen Rechtsordnung zu unterstützen und zu befördern. Nicht zuletzt kann der Dialog zwischen GG und EMRK auf die dogmatische Entwicklung der Grundrechtsfunktionen stärkend und befruchtend einwirken. 2. Die Unterschiede Ein allgemeiner Vergleich der objektiven Grund- und Menschenrechtsfunktionen auf den Ebenen von GG und EMRK lassen neben vielen Übereinstimmungen auch viele Unterschiede hervortreten. Diese Unterschiede resultieren in geringerem Maße aus der Struktur der objektiven Grundrechtsfunktionen der einzelnen Rechtssysteme, aber vielmehr aus ihrem Substrat und der Einpassung in das jeweilige Rechtssystem. Denn die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der in den Vertragsstaaten eine zusätzliche Gewährleistung der Menschrechte und Grundfreiheiten bietet und somit dem deutschen Grundrechtsschutz ergänzend zur Seite tritt. Das Grundgesetz ist die in Deutschland gültige innerstaatliche Grundrechtsverfassung, die sich eher im innerstaatlichen Beurteilungsspielraum bewegt und auf europäischer Ebene nur im Rahmen der rechtsvergleichenden Methode zur Ermittlung eines gemeinsamen europäischen Standards zum Tragen kommt. Folglich sind die hervortretenden Unterschiede in Herleitung und Ausgestaltung der objektiven Grundrechtsfunktionen auf den Ebenen GG und EMRK mit der oben erwähnten abweichenden Provenienz der Grundrechtskataloge zu verbinden: Auf deutscher Staatsebene ist der Katalog im Wesentlichen die Staatsverfassung, wohingegen der Katalog auf Ebene der EMRK aus einem völkerrechtlichen Vertrag hervorgeht. Die EMRK geht im Gegensatz zu einer Staatsverfassung erst aus der internationalen Vereinbarung und als Ergebnis einer gemeinsamen Willensbekundung
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der unterschiedlichen Vertragsstaaten hervor. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass sich dann die Frage nach der Überprüfung der mitgliedsstaatlichen menschenrechtlichen Gewährleistungen anschließt. Zudem gilt es zu beachten, dass der EMRK angesichts der ihr nicht einheitlich zugewiesenen normhierarchischen Stellung innerhalb der nationalen Rechtsordnungen, eine nicht notwendig auch der Staatsverfassung vergleichbare, übergeordnete Position gegenüber den nationalen Rechtsordnungen zukommt. In diesem Kontext spielt der Grundsatz der Subsidiarität in der Wechselwirkung zwischen GG und EMRK insofern eine gewichtige Rolle, als sich der primäre Grundrechtsschutz aus dem Grundgesetz erschließt, und die EMRK nur subsidiär den Schutz der Grundrechte gewährleistet. Vor diesem Hintergrund verkörpert die EMRK im Wesentlichen nur den gültigen europäischen Mindeststandard für den zu gewährleistenden Menschenrechtsschutz. Es kommt hinzu, dass das System der objektiven grundrechtlichen Funktionen unter der EMRK weniger ausgeprägt ist als unter dem Grundgesetz. Wenngleich im Schrifttum der EMRK den objektiven Grundrechtsfunktionen überwiegend Anerkennung widerfährt, verweigert sich der EGMR bislang der Entwicklung einer allgemeinen Theorie der objektiven Grundrechtsfunktionen. Denn ausweislich des bestehenden subsidiären Grundrechtsschutzes verfolgt das System unter der EMRK nicht dasselbe Ziel wie nationales Verfassungsrecht: nämlich das einer umfassenden Ausgestaltung der Beziehungen der Einzelnen zu ihrer jeweiligen Hoheitsgewalt. Während sich die objektiven Grundrechtsfunktionen aus dem „objektiv-rechtlichen Gehalt“ der im deutschen Verfassungsrecht verankerten Einzelrechte herleiten, wird den Normen der Konvention kein selbständiges und objektives Element zugesprochen, sondern die staatlichen Pflichten werden als direkte Kehrseite der Rechte zum Zweck des effektiven Menschenrechtsschutzes verstanden. Aufgrund dieses Unterschieds zwischen GG und EMRK wird die Frage, ob ein subjektives Recht auf Umsetzung der positiven Schutzpflichten besteht, vom EGMR und im europäischen Schrifttum nicht mit Entschiedenheit erörtert. Damit wird es nachvollziehbar, dass bestimmte Menschenrechte, Schutzaspekte und Menschenrechtsfunktionen im Rahmen der EMRK noch nicht gewährleistet sind. Beispielsweise ist der Schutz der Menschenwürde im Wortlaut der EMRK noch nicht explizit verankert; zudem ist das Recht auf ein Existenzminimum im Konventionsrahmen auch noch nicht anerkannt. Darüber hinaus ergibt sich ein weiterer Unterschied aus dem Fehlen eines gemeinsamen europäischen Standards hinsichtlich der Auslegung der EMRK-Rechte. Die mannigfachen Rechtstraditionen führen zu divergierenden Auslegungen der Menschenrechte und ihrer Funktionen. Dieser Aspekt tritt deutlich bei den unterschiedlichen Zuweisungsbestimmungen der
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Schutzpflicht an ihre Adressaten hervor, wobei sich diese Zuweisung aus der jeweils vorhandenen, nationalen Diversität von Kompetenzverteilung bestimmt. Von daher lässt sich die Verwirklichung der objektiven Grundrechtsfunktionen auf beiden Ebenen der Rechtssysteme auf keinen Fall nur durch deckungsgleiche einfachgesetzliche oder sekundärrechtliche Schutzbestimmungen erreichen. Ein Beispiel dafür ist, dass die zuständigen Legislativorgane bei der Erfüllung der Schutzaufgabe aufgrund des ihnen zukommenden politischen Gestaltungsspielraums in aller Regel auf eine Vielzahl sich unterscheidender aber im gleichen Sinne wirkender Möglichkeiten zurückgreifen können. Daraus können sich mit der einzelnen Sachfrage auch die verschiedenen dem Schutzauftrag genügenden Schutzvorkehrungen verbinden, insofern damit nicht das unabdingbar notwendige Maß an Schutz unterschritten wird. Ein weiteres Beispiel gibt sich ebenfalls bei den verschiedenen Möglichkeiten prozessualer Durchsetzung der Schutzpflichten innerhalb der beiden Rechtssysteme deutlich zu erkennen, da diese Möglichkeiten doch im Einzelnen durch die von einander abweichenden Zugangsvoraussetzungen und Verfahrensausgestaltungen in den beiden Rechtssystemen geregelt sind. Die obige vergleichende Gesamtbetrachtung hat eine Vielfalt an bestehenden Unterschieden zwischen deutschem und europäischem Recht hinsichtlich der objektiven Grundrechtsfunktionen offengelegt. Aber die sich dem Rechtsvergleich erschließenden Abweichungen auf den beiden Ebenen können im oben genannten Sinne ebenso der Etablierung und Systematisierung der objektiven Grundrechtsfunktionen in der jeweils anderen Rechtsordnung dienen und einer Verstärkung der effektiven Parallelgewährleistungen auf deutscher und europäischer Ebene den Weg ebnen.
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Sachverzeichnis Abwehranspruch 71, 90, 216 Abwehrrechte 22, 24–25, 36, 41, 45, 52, 58, 74, 79, 86–87, 94, 117, 126, 138, 167–169, 174, 205–206, 216, 218, 230, 234, 237, 240, 255 Amtshandlung 178 Angemessenheit 189, 239 Arbeitgeberverbände 169 Arbeitsrecht 168, 174 Asylgrundrecht 158 Ausbildungskapazität 123 Ausländerklausel 202 Auslegungskriterium 86 Ausnahmegerichte 154 Beeinträchtigungsformen 106, 109 Belästigung 105, 110, 112, 232 Berufsfreiheit 162, 174, 236 Besatzungsmächte 93 Bevölkerungsexplosion 144 Bundesgesundheitsministerium 137 Demokratieprinzip 133, 200 derivative Teilhaberechte 152 diplomatischer Schutz 92, 99, 251, 257 Dritter 31, 46, 48, 51, 53, 65, 71, 81, 84, 90, 97, 164, 181, 193, 250, 253 Drittwirkung der Grundrechte 24, 26, 30, 33–34, 82, 148, 166–177, 222, 237, 242, 254, 256 Effektivitätsprinzip 56, 83, 231 Einrichtungsgarantien 30, 98, 140, 253 Einzelgrundrecht 70, 76, 78, 80 Empfängerstaat 99
Enteignung 126 Entschädigung 125, 164 Entschädigungsnormen 139 Entscheidungsfindungsprozess 198 Erbrecht 168 Erforderlichkeit 170, 189, 239 Evidenzkontrolle 185–188, 190–191, 195, 238 Exekutive 112–116, 123, 171, 192–194, 232–233, 239 Existenzminimum 130, 136, 138–139, 142, 146, 234, 245 Fachgericht 124 Fernmeldegeheimnis 216 Freiheitsbeschränkung 116, 143, 170 Freiheitsgefährdung 131 Freiheitsverständnis 83, 126 Geeignetheit 189, 207, 239 Gefahrenbegriff 87, 101, 103, 231 Gefahrenschwelle 101, 103–105, 111, 232, 242 Gefahrverursacher 90 Genehmigungspflichten 207 Generalklausel 65 Gerichtsbarkeit 35, 39, 61, 129, 184, 197, 230 Gesetzesvorbehalt 72, 214, 226 Gesetzgebung 27, 52, 69, 111–112, 117, 132, 134, 143, 166, 170, 176, 179, 183, 195, 197, 213, 232 Gesetzgebungsstaat 69 Gesundheitsvorsorge 136 Gewährleistungsklausel 89 Gewaltenteilung 20–21, 31, 51, 68, 132, 138, 171, 183–184, 186, 192, 201, 208, 238, 243, 257
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Sachverzeichnis
Gewaltenteilungsgrundsatz 133 Gewerkschaften 34, 52, 169 Glaubensfreiheit 103 Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung 138 Grundrechtekatalog 41, 129 Grundrechtsbeeinträchtigungen 36, 72 Grundrechtsdimension 19–21, 24, 27–28, 35, 55, 131, 155, 181, 184, 192, 195, 201, 206, 218 Grundrechtsdogmatik 19, 43–44, 68, 70–71, 128, 175, 184, 193, 215–216, 218–220, 248, 251, 256–257 Grundrechtseingriff 247 Grundrechtskollisionen 33, 171, 247 Grundrechtsträger 127–128, 160, 218 Grundrechtsverwirklichung 30, 131, 159, 162, 237 Hoheitsgewalt 52, 92, 98, 100, 115, 120, 196, 233, 245 Individualbeschwerde 117, 120–122, 125, 233 Individualrechte 120, 154 Informationsmaßnahmen 207 Inhaltskontrolle 185 Internationales Militärtribunal 93 Investitionslenkungen 91 Judikative 112, 114–116, 123, 171, 192, 194, 232–233, 239 Jurisdiktionsstaat 68, 184, 191, 251–252 Justizgrundrechte 33, 97, 139, 153 Kindeswohl 161 Koalitionsfreiheit 34, 148 Koalitionsprinzip 174 Konjunkturabhängigkeit 141 Konstitutionalismus 145 Konventionsgarantien 80, 202, 223, 240–241
Konventionsorgane 26, 29, 41, 47, 51, 55–56, 63, 87, 89, 97, 99, 109–110, 115, 125, 147–148, 150–151, 180, 203, 205, 207–209, 211–212, 222–224, 235, 238, 242, 255 Konventionsstandard 98 Legislative 65, 112–115, 123, 140, 149, 171, 189, 192, 194, 196, 232–233, 239 Leistungsanspruch 130, 152 Leistungsrechte 127–130, 132–135, 139–140, 142–143, 234–235, 255, 257 Meinungsfreiheit 89, 174, 202 Minimalstandard 140 Missbrauchsverbot 202 Naturereignisse 90, 95, 232 Nichtigkeitserklärung 124, 144 Normenhierarchie 172 Notstandsfall 202 Oberverwaltungsgericht 160 originäre Leistungsrechte 127 Persönlichkeitsrecht 173 Petitionsrecht 139, 158 Popularklage 126 Pressefreiheit 140, 254 Privatautonomie 170, 172, 174 Privatrechtsverkehr 170–171, 256 Privilegienstaat 213 Programmsätze 140 Prozesskostenhilfe 147, 149 Rechtmäßigkeit 163 Rechtsfortbildung 63, 247 Rechtsgutbeeinträchtigung 124 Rechtsschutzgarantie 33, 153–154, 236 Rechtsschutzweg 122 Rechtssicherheit 111, 171
Sachverzeichnis Rechtsstaat 72, 102, 169 Rechtsverhältnis 170, 174, 180, 237 Religionsfreiheit 162, 202, 216, 236 Restrisiko 105–107 Sachverständigenkommission 129 Schadensausmaß 102 Schadenswahrscheinlichkeit 102 Schrankenbestimmungen 57, 60, 62, 64, 66, 73 Schutzgutbeeinträchtigungen 108 Schutzpflichtverletzung 122, 124, 242 Souveränität 86, 98, 200, 208, 239, 248 Sozial- und Wohlfahrtpolitik 153 Sozialstaatlichkeit 129 Sozialstaatsprinzip 31–32, 73, 130, 133, 136–138, 141–142, 174, 231, 234 Spezialgericht 198 Staatsangehörige 92, 94, 100 Staatsangehörigkeit 22, 92–93 Staatsgewalten 59, 114, 118, 171, 182, 184, 192, 200, 233, 238 Staatshaushalt 135 Staatsrechtslehre 28, 34, 177, 238, 247 Standesorganisationen 169 Subsidiaritätsprinzip 196, 203 Subventionen 91, 152 Teilhaberechte 32, 127–128, 141, 151–152, 234–235, 254, 256 Transsexualismus 138 Übergriffsverbot 58
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Unschuldsvermutung 89, 164 Unterlassungsanspruch 158, 218 Untermaßverbot 139, 142, 150, 158, 176, 185, 188–190, 193, 195, 239, 242, 251 Untersuchungsgefängnis 157 Vereinigungsfreiheit 162, 236 Verfahrensrechte 97, 155, 162, 250 Verfassungsänderungen 134 Verfassungsbeschwerde 39–40, 93, 117–119, 122–124, 138, 143, 159–160, 173, 183, 185, 233, 253 Verfassungsebene 135 Verfassungsgeber 133–135 Verfassungsgerichtsbarkeit 35–36, 129, 182, 184, 190 Verfassungsgesetzgeber 31, 59 Verfassungskommission 129, 252 Verfassungskrise 133 Verfassungsorgan 182, 184 Verfassungsprinzipien 133 Verfassungsrichter 184–185, 214 Verfassungswirklichkeit 70 Verfremdung 144 Versammlungsfreiheit 202 Vertragsrecht 175 Völkergewohnheitsrecht 84 Völkerrechtsordnung 94–95 Völkerrechtssubjektivität 121 Wesensgehaltsgarantie 137, 158 Wettbewerbsrecht 168 Wiedergutmachung 125 Wirtschaftsverbände 169 Wohlfahrtsstaat 151