Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts: Struktur und Inhalt [1 ed.] 9783428472550, 9783428072552


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Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts: Struktur und Inhalt [1 ed.]
 9783428472550, 9783428072552

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Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 5

Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts Struktur und Inhalt

Von

Ralf Kaminski

Duncker & Humblot · Berlin

RALF KAMINSKI Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Hans Joachim Hirsch, Günter Kohlmann Michael W a l t e r , Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln

Band 5

Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts Struktur und Inhalt

Von Ralf Kaminski

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kaminski, Ralf: Der objektive Massstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts : Struktur und Inhalt / von Ralf Kaminski. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften ; Bd. 5) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07255-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-07255-3

Vorwort Die Abhandlung hat im Wintersemester 1990/91 der Rechts wissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation vorgelegen. Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch, der die Arbeit bis hin zur Aufnahme in die Reihe „Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften" gefördert hat, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Georg Küpper danke ich für vielfältige Anregungen und weiterführende Kritik. Köln, im Juli 1991 Ralf Kaminski

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Problemstellung

11

1. Kapitel Das Verhältnis von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit I. Fahrlässigkeit ohne Sorgfaltswidrigkeit IL Sorgfaltswidrigkeit ohne Vorhersehbarkeit

14 14 20

1. Schünemann

21

2. Gössel

25

3. Armin Kaufmann

29

III. Rechtsprechung

33

IV. Die Vorhersehbarkeit des Erfolges als Mittel zur Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens

38

1. Der historische Befund

39

2. Sorgfaltsregeln

48

3. Vertrauensgrundsatz

52

V. Zusammenfassung

55

2. Kapitel Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe I. Die Entwicklung des Merkmals der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens in der Fahrlässigkeitsdogmatik seit der Jahrhundertwende II. Fahrlässigkeitskonzepte subjektiver Prägung

57 58 60

1. Jakobs

60

2. Stratenwerth

64

3. Samson und Otto

65

4. Struensee

66

III. Subjektive Sorgfaltsmaßstäbe als Antwort auf vermeintliche Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre mit der Fahrlässigkeit

69

8

Inhaltsverzeichnis

IV. Der Sorgfaltsmaßstab des Fahrlässigkeitsdelikts im System der personalen Unrechtslehre

74

1. Zur Beschränkung des Handlungsunwerts auf ein Intentionsunrecht ...

74

2. Der normtheoretische Aspekt bei der Begründung einer subjektivierenden Fahrlässigkeitsdogmatik

79

V. Sonderwissen

86

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

92

1. Maßregeln

93

2. § 323 a StGB

95

3. Notwehr

97

4. Generelle Verhaltensnormen/Generalprävention

98

VII. Praktikabilität eines objektiven Sorgfaltsmaßstabs

102

3. Kapitel Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht I. Sorgfaltsmaßstäbe

105 105

1. Streng subjektive und streng objektive Auffassungen

107

2. Die modifiziert subjektive Richtung

107

3. Die objektive Lehre mit differenzierendem Sorgfaltsmaßstab

110

4. Partiell subjektive Richtungen

111

5. Rechtsprechung

112

6. Zivilrechtliches Spezifikum: Besondere Maßstäbe für Jugendliche, alte Menschen, Behinderte

115

7. Zusammenfassung

120

II. Das Problem der Verkehrskreise

121

1. Literatur

122

2. Rechtsprechung

126

3. Zusammenfassung und kritische Würdigung

129

4. Kapitel Der Standard der Verkehrskreise I. Typizität des Verhaltens II. Erweiterung des Tätigkeitsbereiches

135 135 139

Inhaltsverzeichnis

III. Bestimmtheit und Eignung

141

1. Der Verkehrskreis als potentieller Normadressat

142

2. Inhaltliche Voraussetzung der potentiellen Norm: Verhaltensregel

143

3. Funktionaler Zusammenhang

144

IV. Zusammenfassung

146 Literaturverzeichnis

149

Einleitung und Problemstellung „Man pflegt bisweilen zu erklären, die Bestimmung der unteren Kulpagrenze sei Sache des arbiträren Ermessens, es müsse der freien Würdigung des Richters überlassen bleiben, ob im Einzelfalle pflichtwidriges Verhalten oder Zufall und Schuldlosigkeit vorliege; ein »unbefangenes Gefühl' werde hier das Richtige treffen. Allgemeine Richtlinien können nicht aufgestellt werden, alles ist quaestio facti. Damit ist nun freilich das Problem nicht gelöst, sondern nur seine Unlösbarkeit behauptet. Die Frage, deren theoretische Beantwortung unmöglich sein soll, wird dem Richter zur Lösung zugeschoben. Denn dieser kann sie ja nicht umgehen; er legt seiner konkreten Entscheidung allgemeine Prinzipien zu Grunde, die er, um sie anwenden zu können, wissen und als richtig erkennen muß. Die Entscheidung des Einzelfalles setzt die Lösung im Prinzip voraus, und es geht nicht an, unter Hinweis auf das richterliche Ermessen die prinzipielle Frage abzutun. Man muß das Maß haben, um messen zu können. Um die Auffindung dieses Maßes, dieses Prinzips, handelt es sich hier." 1 Es sind mittlerweile acht Jahrzehnte vergangen, seit diese Zeilen Exners veröffentlicht wurden. Eine Einbuße an Aktualität ist nicht feststellbar. In abgewandelter Form findet sich der Gedankengang Exners auch in Abhandlungen der jüngeren Zeit. In einer Untersuchung des Jahres 1987 merkt Struensee an, das praktisch wie theoretisch dringlichste Interesse der Fahrlässigkeitsdogmatik gelte der Aufgabe, „Kriterien für die genauere Beschreibung des verbotenen Verhaltens zu finden, d. h. die vom Gesetz nicht hinreichend geleistete Unrechtsvertypung bei der Rechtsanwendung im Einzelfall nachzuholen".2 Wer die Tatsache, daß auch nach einem derart langen Zeitraum vergleichbare Fragen Gegenstand der Diskussion sind, als Indiz für einen Stillstand der Fahrlässigkeitsdogmatik nimmt, erliegt einem Mißverständnis. Die Fahrlässigkeitslehre hat seit der angesprochenen Monographie Exners einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Galt es bis zur Mitte des Jahrhunderts weithin als ausgemacht, daß die Fahrlässigkeit eine Schuldform und als solche dem Vorsatz an die Seite zu stellen sei, so geht seit den einschlägigen Arbeiten von Welzel 3 und Niese 4 die heute ganz überwiegende Ansicht in der Wissenschaft dahin, daß bereits im Tatbestand 1

Exner , Wesen der Fahrlässigkeit, 1910, S. 179. 2 JZ 1987, 53. 3 ZStW 58 (1939), 491; Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961; Welzel knüpfte hier an in Vergessenheit geratene Überlegungen Engischs, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1930, S. 314, an. 4 Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1951.

12

Einleitung und Problemstellung

die Frage des für das Fahrlässigkeitsdelikt wesentlichen Sorgfaltsverstoßes zu erörtern ist. Daß im Verlauf dieser Entwicklung nicht nur Systemfragen, sondern auch der materielle Gehalt der Fahrlässigkeit im Blickpunkt der Auseinandersetzung standen und inhaltlich fortentwickelt wurden, wird kaum verwundern und wird sich ebensowenig bestreiten lassen.5 Daß trotz allem in jüngerer Zeit erneut die Frage nach der „genaueren Beschreibung des verbotenen Verhaltens" aufgeworfen wird, ist Begleiterscheinung einer Entwicklung, die in den frühen siebziger Jahren eingesetzt hat. Fast zeitgleich entwickelten Jakobs 6 und Stratenwerth 1 Konzepte, nach denen bereits die Tatbestandsverwirklichung des Fahrlässigkeitsdelikts von den individuellen Fähigkeiten der konkret handelnden Person abhängig zu machen ist und sich nicht — wie dies die herrschende Lehre annimmt — an objektiven Kriterien orientiert. Die Thesen Jakobs und Stratenwerths lösten eine lebhafte Auseinandersetzung aus, bei der die kritischen Stimmen von Anfang an überwogen und dies heute noch tun, bei der sich in jüngerer Zeit aber auch neue Anhänger der subjektiven Richtung gefunden haben. Mittlerweile droht die Diskussion unübersichtlich zu werden. Dies findet seine Ursache in dem Umstand, daß die verschiedenen Entwürfe einer Subjektivierung des Fahrlässigkeitstatbestandes auf doch recht unterschiedlichen dogmatischen Grundüberzeugungen aufgebaut werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint daher eine zusammenfassende Darstellung sowie eine kritische Würdigung der zur Begründung der subjektiven Richtung vorgetragenen Argumente angezeigt, die denn auch im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen (2. Kapitel). Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, ob die von Jakobs und Stratenwerth geprägte Lehre im Bereich der Fahrlässigkeit nicht eine folgerichtige oder gar notwendige Fortentwicklung des Erkenntnisstandes ist, welcher in der strafrechtsdogmatischen Diskussion um die finale Handlungs- bzw. die personale Unrechtslehre in den Nachkriegsjahrzehnten erreicht wurde. Einen weiteren Schwerpunkt in diesem Bereich wird eine Untersuchung der Konsequenzen bilden, die mit einer Subjektivierung des Fahrlässigkeitstatbestandes verbunden sind. Gesonderter Erörterung bedarf ein Gesichtspunkt, der bisweilen als Argument für eine Abkehr vom Fahrlässigkeitsverständnis der herrschenden Lehre Verwendung findet. Es handelt sich hierbei um die Behauptung, ein objektiver Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts sei inpraktikabel und stelle der Rechtsprechung letztlich keine handhabbaren Kriterien zur Verfügung. Die Kritik entzündet sich hier vor allem am Leitbild des „durchschnittlichen und gewissenhaften Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises", der von der herrschenden Lehre zur Konkretisierung des eigenen Standpunktes eingesetzt wird. Um die 5 Es geht deshalb zu weit, wenn Gössel, Bengl-Festschrift, S. 23, die Fahrlässigkeit als „das unbekannte Wesen" bezeichnet. 6 Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972. 7 Strafrecht, AT, 1. Aufl. 1971, Rdn. 1164 ff.

Einleitung und Problemstellung

genannte Behauptung auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, liegt nichts näher, als sich mit der Situation im Zivilrecht auseinanderzusetzen (3. Kapitel). Da im Privatrecht gemeinhin auch von einem objektiven Maßstab ausgegangen wird, müßten die behaupteten Schwierigkeiten — sollten sie denn existieren — dort ebenso auftreten. Nennenswerte Probleme — so wird sich zeigen — sind in diesem Bereich jedoch nicht zu verzeichnen. Die Rechtsprechung in Zivilsachen kommt unter Verwendung objektiver Kriterien zu Ergebnissen, die über weite Strecken überzeugen. Was aber gleichzeitig — auch unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Literatur — als Manko feststellbar ist, ist das Fehlen einer hinreichenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Verkehrskreises, der ja sowohl in der straf- als auch in der zivilrechtlichen Doktrin eine entscheidende Rolle spielt. Um dem Standpunkt der herrschenden Lehre — der sich im Verlauf der Untersuchung als der zutreffende herausstellen wird — hier letzte Angriffsflächen zu nehmen und um die von Exner aufgeworfene und von Struensee wiederholte Frage einer Lösung ein Stück näher zu bringen, wird deshalb abschließend (4. Kapitel) der Versuch unternommen, Kriterien herauszuarbeiten, die es ermöglichen sollen, die jeweilige Gruppe von Verkehrsteilnehmern zu benennen, die als Vergleichsmaßstab zur Bewertung fahrlässigen Verhaltens heranzuziehen ist. Vor einer Auseinandersetzung mit den insoweit im Überblick skizzierten Problemen ist jedoch einleitend einer Frage nachzugehen, die sich — betrachtet man die Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung im Überblick — als weitgehend ungeklärt herausstellt: Die „Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens" und die „Vorhersehbarkeit des Erfolges" sind Merkmale, die in nahezu jedem Beitrag zu Fahrlässigkeitsfragen eine Rolle spielen; in welchem strukturellen Verhältnis die beiden Merkmale zueinander stehen, ist dabei allerdings — vorsichtig formuliert — undurchsichtig. Daß gleich eingangs der vorliegenden Untersuchung dieser Problemkreis Gegenstand der Erörterung ist, rechtfertigt sich allein durch die Überlegung, daß sich nicht sinnvoll über die Vorzugswürdigkeit objektiver oder subjektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe diskutieren läßt, wenn nicht zuvor das Verhältnis der Kriterien geklärt ist, die einer generellen oder einer individuellen Auslegung zugeführt werden sollen. Bereits an dieser Stelle ist insoweit dem Standpunkt Schünemanns zu widersprechen, der für eine strikte Trennung zwischen Fragen der „Systematik i. e. S." und denen der „Reichweite der Fahrlässigkeitshaftung" plädiert und dabei von einem Primat der materiellen Bestimmung des Strafbarkeitsbereichs ausgeht.8 „Systemfragen sind Sachfragen; Systemfehler wirken sich in sachlichen Fehlern aus und umgekehrt". 9

s JA 1975, 435 f. 9 So zu Recht Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 32 Fn. 88.

1. Kapitel

Das Verhältnis von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit Auch in der jüngsten Auflage seiner Kommentierung zum StGB merkt Lackner an, sowohl der genaue Inhalt des Fahrlässigkeitsbegriffs wie auch seine Integration in den Deliktsaufbau seien abschließend noch nicht geklärt und in Teilbereichen sehr umstritten, was im Ergebnis zu einer „schwer überschaubaren Vielfalt von Aufbaumodellen und Systembegriffen" führe. Lackners Einschätzung trifft zu, und zwar nicht nur für die Fahrlässigkeit im allgemeinen, sondern auch für das ungeklärte Verhältnis der Fahrlässigkeitsmerkmale „Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens" und „Vorhersehbarkeit des Erfolges" im besonderen. Die Spannweite der Vorschläge reicht hier von Konzepten, welche die Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes für verzichtbar erklären bis hin zu Modellen, die Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit strikt trennen und so im Ergebnis dazu gezwungen sind, Kriterien zur Ermittlung sorgfaltswidrigen Verhaltens zu benennen, ohne dabei auf den Aspekt im Handlungszeitpunkt drohender Erfolge Rückgriff nehmen zu können. In der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Lehrmeinungen wird sich jedoch zeigen, daß kein Weg daran vorbeiführt, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens über die Vorhersehbarkeit des Erfolges bzw. der Tatbestandsverwirklichung im Handlungszeitpunkt zu ermitteln.

I. Fahrlässigkeit ohne Sorgfaltswidrigkeit Engisch gibt im Jahr 1930 einem Kapitel seiner „Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht" die Überschrift „Die Fahrlässigkeit als mangelnde Sorgfalt". 1 Welzel erklärt die Definition des § 276 BGB, nach der fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt, zum Leitbild, anhand dessen die mangels einer Handlungsumschreibung „offenen" Tatbestände der Fahrlässigkeitsdelikte zu ergänzen seien.2 Die herrschende Lehre folgt dieser Sichtweise.3 Auch die Rechtsprechung verzichtet nicht darauf, bei der Bewertung 1 Untersuchungen S. 266; siehe auch DJT-Festschrift I, S. 417. 2 Strafrecht, S. 131; Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 15. 3 Blei, AT, S. 299; Bockelmann / Volk, AT, S. 159; Hirsch in: LK, Vor § 32 Rdn. 32; dersZStW 74 (1962), 94; 94 (1982), 276; Krümpelmann, Bockelmann-Festschrift, S. 443; Rudolphi, JuS 1969, 549; Cramer in Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 120 ff.; Schünemann, JA 1975, 435, 575 ff.; Wessels, AT, S. 197.

I.

hrskeit

n

Sorgfaltswidrigkeit

15

fahrlässigen Verhaltens auf das Kriterium der Sorgfaltsverletzung abzustellen.4 Allerdings gibt es auch Stimmen, die dem genannten Merkmal den dogmatischen Stellenwert absprechen wollen oder die eine „fahrlässige Straftat ohne Sorgfaltspflichtverletzung" für möglich halten.5 Zur Begründung einer derartigen Sicht wird von Schroeder darauf verwiesen, die Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit entbehre jeder begrenzenden Funktion. 6 Deutlich werde dies, wenn man sich den fragmentarischen Umfang normierter Sorgfaltspflichten vor Augen führe. Diese in einem abschließenden Katalog aufzuzählen, sei unmöglich, was zur Folge habe, daß regelmäßig statt auf eine benannte Sorgfaltsvorschrift auf die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zurückgegriffen werden müsse. Doch selbst wenn normierte Sorgfaltsmaßstäbe zur Verfügung stünden, so bedeute dies noch lange nicht, daß sie entscheidungsrelevant würden, da ihnen nach der herrschenden Meinung lediglich eine Indizfunktion zukomme. Aus alledem folge, daß eine eigenständige Funktion des Merkmals Sorgfaltswidrigkeit nicht anerkannt werden könne. In ähnlicher Weise argumentiert Schmidhäuser und bedient sich dabei eines Beispiels:7 Ein Arbeiter schüttet ein Aushebung zu, ohne eine darin befindliche, offen liegende Gasleitung zu sichern. Die Gasleitung wird beschädigt, Gas strömt aus und verursacht den Tod eines Menschen. Bei der Beurteilung dieses Verhaltens — meint Schmidhäuser — sei mit dem Sorgfaltsgedanken nichts gewonnen. Es sei unsinnig zu sagen, der Arbeiter hätte die Gasleitung sorgfältiger beschädigen sollen, und auch die Formulierung, er hätte die Grube sorgfältiger zuschütten müssen, führe nicht weiter; dies sei nicht mehr als die Feststellung, daß die Handlung so, wie sie vorgenommen wurde, nicht vorgenommen werden durfte. Schmidhäuser übersieht, daß gerade die letztgenannte Feststellung entscheidend ist. Es geht um den Nachweis, daß ein Verhalten in seiner konkreten Beschaffenheit dem hinter dem jeweiligen Fahrlässigkeitstatbestand stehenden Verbot zuwiderläuft. Um diesen Nachweis führen zu können, bedient man sich eines Vergleichs. Man fragt, wie sich der besonnene und gewissenhafte — kurz: sorgfältige — Angehörige eines bestimmten Verkehrskreises verhalten hätte. Bleibt das Täterhandeln hinter diesem Maßstab zurück, ist es im Ergebnis als sorgfaltswidrig zu bezeichnen. Der Begriff Sorgfaltswidrigkeit ist damit das Synonym für die verbotene Handlung des in Rede stehenden Fahrlässigkeitstatbestandes. Auch der Einwand Sehr oeders, die Funktionslosigkeit des Merkmals zeige sich an dem Umstand, daß selbst dem Verstoß gegen geschriebene Sorgfaltsregeln lediglich eine Indizwirkung beigemessen werde, überzeugt nicht. Geschrie4 Vgl. etwa BGHSt 11, 1; 21, 59; 24, 31. 5 Schmidhäuser, Schaffstein-Festschrift, S. 129 ff.; dersAT, S. 225; Schroeder in: LK, § 16 Rdn. 157 ff.; dersZStW 91 (1979), 275; ders., JZ 1989, 776; Wolter, GA 1977, 257 ff.; siehe auch Jakobs, AT, S. 260 f.; ders., Studien, S. 67 f.; 6 LK, § 16 Rdn. 157. 7 Schaffstein-Festschrift, S. 129, 131 ff.

16

1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

bene Sorgfaltsregeln sind nichts anderes als die Fixierung der Erkenntnisse aus häufig auftretenden, gefahrträchtigen Situationen.8 Infolge ihrer Häufigkeit hat man erkannt, daß bestimmt geartete Verhaltensweisen vorhersehbar zu schädlichen Erfolgen führen. Will man diese Erfahrung in eine typisierte Sorgfaltsnorm umsetzen, muß man — wie bei jeder Norm — generalisieren. Dies bedeutet aber, daß im einzelnen konkreten Fall der die Normsetzung veranlassende Gesichtspunkt — Vorhersehbarkeit des Erfolges — nicht notwendig vorliegen muß und deshalb gesondert zu prüfen ist. Die Kritik Schroeders beweist damit nicht die Funktionslosigkeit des Tatbestandserfordernisses der Sorgfaltswidrigkeit; sie beweist lediglich — dies allerdings völlig zu recht — daß die Vorhersehbarkeit eines Erfolges zentrales Kriterium bei der Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ist. 9 Ein weiterer Hinweis auf die Erforderlichkeit des Sorgfaltsgedankens im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ergibt sich, wenn man einen Blick auf die Fallkonstellationen wirft, die der Aufstellung der diversen Zusammenhangstheorien zugrunde liegen. Hier stellt sich die Problematik stets so dar, daß sich der Täter sorgfaltwidrig verhalten und einen bestimmten Erfolg verursacht hat, es allerdings fraglich ist, ob dieser konkrete Erfolg nicht auch bei sorgfaltsgemäßem Handeln eingetreten wäre. Die Erkenntnis, daß das Täterhandeln und die Erfolgsverursachung nicht beziehungslos nebeneinander stehen dürfen, versucht man dadurch umzusetzen, daß man der Bejahung von Fahrlässigkeit den Nachweis eines Rechtswidrigkeits-, Pflichtwidrigkeits- bzw. Kausalzusammenhangs voraussetzt. 1 0 Ohne auf die Unterschiede, die sich hinter den verschiedenen Begriffen möglicherweise verbergen, eingehen zu müssen, ist eine Gemeinsamkeit festzuhalten: Wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der eingetretene Erfolg auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, fehlt es an einer Bedin-

s Vgl. zu diesem Gesichtspunkt BGH VRS 10, 282, 285; BGHSt 4, 182, 185; 12, 75, 78 sowie die Ausführungen unten 1. Kap. IV 2. 9 Ähnliche Vorbehalte gelten hinsichtlich anderer, von Schroeder verwendeter Argumente. So begründet er seine These, die Sorgfaltswidrigkeit als Element der Fahrlässigkeit sei „überflüssig", mit dem Hinweis, es sei „höchst unklar", was unter dem Begriff zu verstehen sei — JZ 1989, 776 f. — und fügt ergänzend hinzu, auch die Frage der Feststellung sorgfalswidrigen Verhaltens sei kaum hinreichend bestimmt beantwortet. Daß diese Argumentation wenig aussagekräftig ist, wird deutlich, wenn man unterstellt, die These Schroeders träfe zu. Selbst wenn die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten als sorgfaltswidrig anzusehen ist, nur schwer zu beantworten wäre, so folgt aus dieser Feststellung wenig im Hinblick auf die Notwendigkeit dieses Merkmals. Schwierigkeiten bei der Auslegung eines Begriffs sagen nichts über dessen Erforderlichkeit aus. Es mag zutreffen, daß das ungeklärte Verhältnis von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit des Erfolges dazu führt, daß der Begriff der Sorgfaltswidrigkeit als nicht hinreichend bestimmt erscheint. Allein daraus läßt sich aber nicht ableiten, die Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes sei überflüssiges Beiwerk im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts. 10 Zusammenfassend zu den verschiedenen Ansätzen Gössel, AT, Teilband II, S. 128 und Wessels, AT, S. 204 f.

I.

hrskeit

n

Sorgfaltswidrigkeit

17

gung für die Annahme eines fahrlässigen Erfolgsdelikts. Dies zeigt aber, daß man allein schon bei dieser Fragestellung an dem Begriffspaar sorgfaltswidrig / sorgfaltsgemäß nicht vorbeikommt. Wenn man es als notwendig ansieht, zwischen einem bestimmt gearteten Verhalten und einem Erfolg einen Zusammenhang herzustellen, dann sollte man in der Lage sein, dieses Verhalten in seiner konkreten Beschaffenheit begrifflich zu erfassen, schließlich geht es um die jeweilige inhaltliche Bestimmung der Verbotswidrigkeit. Das Merkmal der Erkennbarkeit oder Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts reicht dafür entgegen Schroeder nicht aus, da der Begriff der Vorhersehbarkeit es nicht wie der Terminus Sorgfaltswidrigkeit erlaubt, die Bewertung eines Verhaltens zum Ausdruck zu bringen. Konnexität ist aber zwischen einem bereits als negativ bewerteten Handeln und einem Erfolg festzustellen: Im Erfolg muß sich gerade die Sorgfaltswidrigkeit realisieren. 11 Diese muß mithin das Ergebnis der Prüfung sein. Gegen das Tatbestandserfordernis der Sorgfaltswidrigkeit wird — insbesondere von Jakobs — ein weiterer Einwand vorgebracht: Knüpfe man beim Fahrlässigkeitsurteil an die Verletzung der gebotenen Sorgfalt an, so könne dies zu einer normlogisch falschen Sicht der Dinge führen, indem man nämlich im Bereich der Begehungsdelikte nicht mehr ein verbotenes Tun, sondern ein Unterlassen in den Vordergrund der Betrachtung rückt. 12 An dieser Kritik trifft zu, daß es in der Tat dogmatisch ungereimt wäre, wollte man den Vorwurf eines fahrlässigen Begehungsdelikts damit begründen, der Täter habe etwas nicht getan, er habe eine Sorgfaltspflicht nicht erfüllt. 13 Es trifft ebenfalls zu, daß dieser Fehlschluß gezogen wurde. Allerdings ist nicht richtig, daß die Heranziehung des Sorgfaltsgedankens zu einem derartigen Mißverständnis führen muß. Wenn man von sorgfaltswidrigem Handeln spricht, so wird das Handeln — also ein Tun — zum Objekt der Bewertung gemacht, und die Außerachtlassung der Sorgfalt bei diesem Handeln ist lediglich der Begriff, dessen man sich bei der Verhaltensbewertung bedient. Die These, der Aspekt der Sorgfaltswidrigkeit führe zu einer Umdeutung fahrlässiger Begehungsdelikte dergestalt, daß unrechtsbegründend auf ein Unterlassungsmoment abgestellt wird, ist deshalb nicht nachvollziehbar. Im Ergebnis mit Schmidhäuser und Schroeder übereinstimmend möchte auch Wolter die Sorgfaltswidrigkeit aus dem Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts verbannen. In der Begründung für seinen Standpunkt weicht er jedoch von den beiden erstgenannten Autoren ab: Das Hauptargument für seine These findet Wolter im strafrechtlichen Adäquanzprinzip, das wie ein roter Faden die weitverzweigte Problematik der Lehre von der objektiven Zurechnung durchziehe, mithin auch beim Fahrlässigkeitsdelikt seine Relevanz habe und das neben der objektiven

11 Vgl. statt vieler Welzel, Strafrecht, S. 136. 12 Jakobs, AT, S. 260. Hierzu auch Schroeder, JZ 1989, 779. 13 Zur angeblichen Unterlassungskomponente bei der Fahrlässigkeit vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 268 f. Siehe auch die Ausführungen im 2. Kapitel IV 2. 2 Kaminski

18

1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Erkennbarkeit keinen Raum für weitere Merkmale lasse.14 Wolter schließt sich hier zunächst der Kritik von Jakobs, Schroeder und Schmidhäuser am Merkmal der objektiven Sorgfaltswidrigkeit an, entwirft aber auch eine eigene Konzeption, die mit Hilfe einiger Kriterien der objektiven Zurechnung die Probleme der Fahrlässigkeit einer Lösung näherbringen will. 1 5 An zentraler Stelle seines Entwurfs findet sich der Vorschlag eines zweistufigen Vorgehens. 16 Zunächst habe man das „eigentliche Adäquanzurteil" zu fällen, das Wolter mit der objektiven Erkennbarkeit des Erfolgseintritts gleichsetzt.17 Da damit die unrechtsrelevanten Handlungen aber noch nicht präzise genug ermittelt seien, habe man im Anschluß unter Verwendung „eines zusätzlichen normativen Zurechenbarkeitsurteils einen Bereich der sozialadäquaten Verletzungshandlungen herauszuschneiden." 18 Abgesehen davon, daß Wolter lediglich Althergebrachtes in den modischen Rahmen der objektiven Zurechung steckt, läßt sich zunächst gegen seine Vorgehensweise wenig vorbringen. Auch die Autoren, die — wie etwa Welzel — die objektive Vorhersehbarkeit als konstituierendes Merkmal der Sorgfaltswidrigkeit verstehen, gehen zweistufig vor, indem sie nach zusätzlichen einschränkenden Kriterien neben der Vorhersehbarkeit suchen.19 Es läßt sich auch nichts gegen die grundsätzliche Kritik einwenden, die Wolter gegen eine eigenständige Verwendung des Merkmals Sorgfaltswidrigkeit in dem Sinne vorbringt, daß man unmittelbar aus diesem Kriterium Verhaltensmaßstäbe, beispielsweise durch Typenbildung, ableiten will. 2 0 Eine ganz andere Frage ist es aber, ob die objektive Sorgfaltswidrigkeit im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts überflüssig ist, ob sie „keinen dogmatischen Stellenwert neben der objektiven Erkennbarkeit" besitzt, wie Wolter das behauptet. 21 Diese These ließe sich nur halten, wenn es gelänge, das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts allein mit der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts zu beschreiben. So weit geht Wolter aber nicht, wie oben gezeigt wurde. Auch er sieht die Notwendigkeit, neben der Feststellung der Adäquanz ein weiteres, einschränkendes Kriterium zu gebrauchen. Warum nun aber ein Täterverhalten, das beide der von ihm aufgestellten Merkmale erfüllt, in der Summe nicht als sorgfaltswidrig bewertet werden kann, läßt Wolter offen. Wer akzeptiert, daß der Gegenstand des Verbots bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine wil14 Wolter, GA 1977, 267. 15 Kritisch zu Wolters Verständnis der Lehre von der objektiven Zurechnung äußert sich Triffterer, Bockelmann-Festschrift, S. 201. 16 GA 1977, 264. 17 A. a. O. S. 267, 272. 18 A. a. O. S. 264. 19 Strafrecht, S. 132 ff. 20 Dazu noch eingehend unten 1. Kap. II. 21 GA 1977, 274.

I. Fahrlässigkeit ohne Sorgfaltswidrigkeit

19

lensgesteuerte Handlung ist, aber nicht jede willensgesteuerte Handlung dem Verbot zuwiderläuft, der sollte den Kreis der unrechtsrelevanten Handlungen in der Gesamtheit ihrer Bestandteile benennen können. Der Verzicht auf ein entsprechendes Merkmal bedeutet den Verzicht auf ein Kriterium, welches die jeweils verbotene Handlung bezeichnet. Ein derart gravierender Eingriff in die Binnenstruktur des Fahrlässigkeitstatbestandes kann indessen nicht mit der nicht näher substantiierten Behauptung begründet werden, die Sorgfaltswidrigkeit sei „verwirrende Leerformel". 22 Darüber hinaus mutet es merkwürdig an, daß in Wolters Konzeption die objektive Sorgfaltswidrigkeit an anderer Stelle dann doch auftaucht. Er mißt ihr eine (untergeordnete) dogmatische Funktion als „Hilfselement des Erfolgsunrechts" bei. Dazu führt er aus, daß der Richter sich zwar „bei der objektiven Beurteilung z. B. des gefährlichen Autofahrens des objektiv gewissenhaft und sorgfältig handelnden Kraftfahrers" bediene; dies habe aber mit dem Handlungsunrecht des fahrlässigen Deliktes nichts zu tun. „Das mit Hilfe der objektiven Sorgfaltswidrigkeit gefundene richterliche Gesamturteil der objektiven Erkennbarkeit (Adäquanz)" betreffe „wie bei den Vorsatzdelikten allein das Erfolgsunrecht." 23 Dazu ist zweierlei anzumerken. Zum einen überzeugt die These Wolters nicht, die objektive Sorgfaltswidrigkeit diene dem Zweck, das Gesamturteil der objektiven Erkennbarkeit zu fällen. Das Gegenteil ist richtig. Sollte Wolters Annahme zutreffen, müßte folgende Gleichung aufgehen: Immer dann, wenn ein Autofahrer (um im Beispiel zu bleiben) gegen eine geschriebene Sorgfaltsregel verstößt, ist festzustellen, daß ein Erfolgseintritt objektiv erkennbar war. Die Gleichung geht jedoch nicht auf und steht dementsprechend auch im Gegensatz zu den Ergebnissen der Judikatur und der herrschenden Lehre. 24 Der BGH stellt sich — zu Recht — auf den Standpunkt, bei der Feststellung eines Fahrlässigkeitsvorwurfs sei die Beachtung oder die Nichtbeachtung von Verkehrsvorschriften nicht der allein maßgebliche Gesichtspunkt. Die Vorhersehbarkeit hänge stets von den Umständen des Einzelfalles ab und sei unabhängig davon zu prüfen, ob eine strafbare Verkehrsübertretung vorliegt. 25 Was die Ausführungen Wolters zur dogmatischen Funktion der Sorgfaltswidrigkeit anbelangt, erklärt er, wie dargestellt, die Sorgfaltswidrigkeit des Täterhandelns zum Hilfselement des Erfolgsunrechts. Um den Widerspruch darin entdekken zu können, muß man die Schritte seiner Argumentation verfolgen. Zunächst erklärt er, der Richter finde mit Hilfe der objektiven Sorgfaltswidrigkeit sein Gesamturteil der objektiven Erkennbarkeit. Zweitens betreffe diese Erkennbarkeit 22 So aber Wolter, GA 1977, 267. 23 GA 1977, 267 f. 24 Eingehend dazu unten 1. Kap. IV 2. 25 BGHSt 4, 182, 185. In dem Urteil ging es um die Frage, ob das gegen Regelungen der StVO verstoßende Überholen an Straßenkreuzungen allein den Vorwurf einer fahrlässigen Tötung begründen kann. 2*

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

wie bei den Vorsatzdelikten allein das Erfolgsunrecht und damit sei drittens die erwähnte untergeordnete Stellung der Sorgfaltswidrigkeit innerhalb des Erfolgsunrechts erwiesen. 26 Bei dieser Vorgehensweise stellt sich die Frage, was für das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts übrigbleiben soll. Die Sorgfaltswidrigkeit der untersuchten Handlung kann es nach Wolters Konzept nicht sein, denn diese soll nur zur Ermittlung der Vorhersehbarkeit dienen. Die Vorhersehbarkeit aber kann es auch nicht sein, da sie wiederum nur das Erfolgsunrecht betreffen soll, und Wolter meint mit „betreffen" allem Anschein nach „konstituieren". Unterstellt man, er verstehe den von ihm verwendeten Begriff „betreffen" lediglich im Sinne von „Bezug nehmen a u f , wird seine Lösung auch nicht klarer; denn warum ein Bestandteil des Handlungsunrechts — sei es die Sorgfaltswidrigkeit, sei es die Vorhersehbarkeit — sich nicht auf den wesentlichen Punkt des Erfolgsunrechts — nämlich den Erfolg — beziehen darf, ohne damit gleichzeitig Teilaspekt des Erfolgsunrechts zu werden, ist nicht nachvollziehbar. Insgesamt zeigt damit die Auseinandersetzung mit den Autoren, die das Merkmal der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts für verzichtbar erklären, zweierlei: Auf der einen Seite wird mit beachtlichen Argumenten Kritik an einer Vorgehensweise geübt, die unmittelbar aus dem Sorgfaltsgedanken, also unter Ausschluß von Überlegungen zur Vorhersehbarkeit des Erfolges, Verhaltensmaßstäbe abzuleiten versucht. 27 Auf der anderen Seite schießt diese Kritik über das Ziel hinaus, wenn sie die Feststellung eines Sorgfaltverstoßes für überflüssig erklärt. Die Begründungen für einen derartigen Standpunkt überzeugen dogmatisch nicht und scheitern letztlich daran, daß sie der allgemein anerkannten Notwendigkeit, zwischen einem bereits als negativ bewerteten Verhalten und einem eingetretenen Erfolg einen Zusammenhang herzustellen, nicht zu entsprechen vermögen.

I I . Sorgfaltswidrigkeit ohne Vorhersehbarkeit Fast im Gegensatz zu der soeben kritisierten Richtung, die durch eine Überbetonung des Vorhersehbarkeitsgedankens geprägt ist, wird von anderer Seite versucht, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ohne Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit des Erfolges festzustellen. Dabei wird von den Autoren, die eine derartige Vorgehensweise propagieren, nicht behauptet, daß die potentielle Erfolgsvoraussicht im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts überhaupt keine Rolle spielt, es wird lediglich eine strikte Trennung der Merkmale Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit vorgenommen. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Konzept die

26 GA 1977, 267 f. 27 Auf derartige Konzepte wird im folgenden näher einzugehen sein.

. Sorgfaltswidrigkeit

n

Vorhersehbarkeit

Herausarbeitung eigenständiger Kriterien verlangt, anhand derer ein Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt feststellbar ist. Der Auseinandersetzung mit den hierzu unterbreiteten Vorschlägen dienen die folgenden Ausführungen. Die Darstellung beschränkt sich dabei auf die Konzeptionen, die eine eigenständige Systematik der Ermittlung sorgfaltswidrigen Verhaltens zu entwickeln versuchen. In einer ganzen Reihe weiterer Stellungnahmen bleibt das Verhältnis von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit undeutlich. So meint etwa Tröndle 28, Elemente der Fahrlässigkeit seien Pflichtwidrigkeit und Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung, wobei diese nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern vielfach voneinander abhängen sollen, und Lackner 29 merkt an, das Fahrlässigkeitsunrecht setze eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung und die objektive Voraussehbarkeit voraus, wobei beide Merkmale innerlich verbunden seien, so daß man sie letztlich nicht isoliert beurteilen könne. Nähere Ausführungen zu der Frage, inwieweit Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit „innerlich verbunden" sind, finden sich dabei regelmäßig nicht, teilweise entsteht eher der Eindruck, als werde eine isolierte Überprüfung beider Fahrlässigkeitselemente für möglich gehalten. Eine abschließende kritische Auseinandersetzung mit den genannten Autoren kann angesichts der skizzierten Undeutlichkeit des Standpunktes nicht erfolgen. Nur eins sei bemerkt: Wer Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit als Fahrlässigkeitsmerkmale ansieht, die nebeneinander einer Prüfung zugeführt werden können, der ist auf ein geschlossenes Konzept zur Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit angewiesen. Der Verweis auf geschriebene oder ungeschriebene Sorgfaltsregeln reicht insoweit nicht aus, da diese niemals abschließend sämtliche in Betracht kommenden Fallkonstellationen erfassen können. Der letztgenannte Punkt wird sich im folgenden noch deutlicher herausstellen. L Schünemann Einer der Autoren, welche die objektive Sorgfaltswidrigkeit und die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts trennen, ist Schünemann, der im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts eine Dreiteilung vornimmt: Neben dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges sei als zweite Komponente das Vorliegen einer objektiv sorgfaltswidrigen Handlung und als dritter Bestandteil ein vierstufiger Zurechnungszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg festzustellen. 30 Da sich nach Schünemanns Konzept die Vorhersehbarkeit des Erfolges als Adäquanzzusammenhang innerhalb seiner mehrstufigen Zurechnungssystematik verbirgt, 31 ist er 28 Dreher I Tröndle, § 15 Rdn. 14. 29 StGB, § 15 Anm. III 1; ähnlich Cramer in: Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 120 ff. und Wessels, AT, S. 201. 30 JA 1975, 575 ff. 31 JA 1975, 578 ff.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

gezwungen, den Begriff der Sorgfaltswidrigkeit mit Leben zu füllen, ohne auf die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zurückgreifen zu können. Schünemann hält es nicht für angebracht, die Sorgfaltsbestimmung an der Maßfigur des besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises vorzunehmen, die er als konturenlos ansieht. Ein derart „blasses Leitbild" sei nicht dazu geeignet, die entscheidende Frage, welche konkreten Sorgfaltsregeln denn die zitierte Durchschnittsfigur für erforderlich halte, zu beantworten. Der einzig gangbare Weg sei der einer umfassenden Interessenabwägung, bei der auf der einen Seite das Interesse an der Vornahme der gefährlichen Handlung, auf der anderen Seite das Interesse an der Unversehrtheit der von ihr gefährdeten Rechtsgüter in die Waagschale geworfen werden müßten.32 Um diese Abwägung vornehmen zu können, unterscheidet Schünemann Handlungsziele, die er auf einer Skala anordnet. Ganz unten auf dieser Skala seien die sog. „Luxushandlungen" angesiedelt, an denen nur ein exzentrisches Individualinteresse bestehe. Darüber rangieren die „sozialüblichen Handlungen", welche die Handlungsfreiheit des Durchschnittsbürgers ausfüllen, gefolgt von den „sozialnützlichen" und an der Spitze den „sozialnotwendigen Handlungen". Diesen Kategorien, die er als ganz rohe Gliederung bezeichnet, stellt Schünemann das jeweils erlaubte Risikopotential gegenüber. Luxushandlungen seien dann zulässig, wenn sie entweder völlig ungefährlich oder durch Sicherungsvorkehrungen vollständig entschärft sind. Sozialübliche Handlungen müßten bei bescheidenem Gefahrenpotential, bei dem verkehrsübliche Vorsichtsmaßregeln einen ausreichenden Schutz verbürgen, hingenommen werden. Bei den sozialnützlichen Handlungen sei ein maßvoller Gefährdungsrest akzeptabel, und die sozialnotwendigen Handlungen erlaubten sogar erhebliche Betriebsgefahren. 33 Schünemann meint, die skizzierte Einteilung zeige, daß die Ermittlung der maßgeblichen Sorgfaltsnorm durch eine „Einordnung des konkreten Falles in ein System von mindestens fünf Großkoordinaten" zu erfolgen habe. Darunter versteht er Handlungsziele und bedrohte Rechtsgüter, die gegenüberzustellen seien und darüber hinaus den Gefahrengrad, die Verfügbarkeit von Sicherungsvorkehrungen und die Möglichkeit sowie Zumutbarkeit verkehrsinterner Vorsichtsmaßregeln, welche bei der Abwägung berücksichtigt werden müßten. Die letzten drei Gesichtspunkte bezeichnet er als Hilfskoordinaten. 34 Wer an dieser Stelle meint, es seien genug Kriterien aufgezählt, anhand derer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ermittelt werden könnte, sieht sich getäuscht. Die tabellarische Erfassung von Handlungszielen und die Ausrichtung der Sorgfaltsbestimmung am System der genannten Groß- und Hilfskoordinaten reicht nach Schünemanns Ansicht nicht aus. Er wertet seinen Entwurf eines 32 JA 1975, 575. 33 JA 1975, 576. 34 Ebd.

. Sorgfaltswidrigkeit

n

Vorhersehbarkeit

Abwägungsmaßstabs selbst als dezisionistisch, also dem Willensakt des jeweiligen Richters anheimgegeben, und sieht darin Gefahren für die Rechtssicherheit. Deshalb habe man zusätzlich „vier Fixpunktkategorien" zu Rate zu ziehen, denen bei der Auffindung des Sorgfaltsmaßstabs überragende Bedeutung zukomme. Als Fixpunkte sieht er zum einen gesetzliche Sorgfaltsnormen und zum zweiten technische Regeln, wozu er auch die Regelungswerke der Sportverbände zählt. Seien derartige Anhaltspunkte nicht zur Hand, müsse drittens auf die Verkehrsauffassung zurückgegriffen werden, und helfe auch diese nicht weiter, sei letztlich der Vertrauensgrundsatz bei der Konkretisierung der Sorgfaltsanforderungen heranzuziehen.35 Der Haupteinwand gegen die vorgestellte Konzeption wird vom Autor selbst geliefert. In derselben Untersuchung, in der er sich mit der Sorgfaltsproblematik auseinandersetzt, weist er auf die „beiden Fundamentalprinzipien einer jeden wissenschaftlichen Systembildung" hin: „Substratadäquanz" und „Begriffsökonomie". 36 Unter dem erstgenannten Begriff versteht er die Ausrichtung einer jeglichen Systematisierung am Gesamtbestand des materiellen Rechts, und der zweite Gesichtspunkt helfe eine unökonomische Begriffsvermehrung zu vermeiden; an sachlich überflüssigen Verzierungen bestehe nur in der Kunst, nicht aber in der Wissenschaft ein Interesse. Mißt man Schünemanns Sorgfaltsmodell an diesen Vorgaben, so scheint es insbesondere im Hinblick auf den letztgenannten Aspekt die selbst gesteckten Ziele nicht zu erreichen. Die Beantwortung der Frage, ob ein Verhalten der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt widerspricht, sieht sich zunächst einmal der Schwierigkeit ausgesetzt, die konkrete Handlung auf der angesprochenen „gleitenden" Skala einzuordnen. Hat man diese Hürde überwunden, gilt es, der nunmehr nach der Wertigkeit ihres Ziels lozierten Handlung ein dem Umfang nach bestimmtes, erlaubtes Risiko gegenüberzustellen. Sollte dies problematisch sein, ist ein Blick auf die genannten Groß- und Hilfskoordinaten zu werfen. Der somit ermittelte Sorgfaltsmaßstab ist des Autors eigenem Bekunden nach jedoch nur dezisionistisch — also gar keiner —, weshalb man in einem nächsten Schritt die geschilderten Fixpunktkategorien zu Rate zu ziehen hat. Möchte man zusätzlich wissen, ob das zu bewertende Verhalten nicht nur sorgfaltswidrig, sondern auch eine fahrlässige Erfolgsherbeiführung war, ist darüber hinaus ein vierstufiger Zurechnungszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg zu berücksichtigen. — Begriffsökonomie? Die Verwendung einer Vielzahl ungeklärter Begriffe birgt stets die Gefahr in sich, daß die mit ihrer Hilfe gefundenen Ergebnisse an Überzeugungskraft verlieren. Dies wird auch bei Schünemanns Ansatz deutlich, wenn man die von ihm gebildeten Beispiele genauer untersucht. So ist bei ihm der Kraftfahrzeugverkehr ein Bereich, den er der Rubrik der sozialnützlichen Handlungen zuordnet. Die

35 JA 1975, 577 f. 36 JA 1975, 440.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

mit dieser Einordnung verbundenen Schwierigkeiten beginnen nun nicht erst dann, wenn man mit ihrer Hilfe ein konkretes Verhalten zu bewerten versucht, sondern bereits bei der Einordnung an sich. Hier wird zwar Einigkeit zu erzielen sein, daß der Transport wichtiger Güter mit Kraftfahrzeugen oder der Betrieb eines Krankenwagens eine sozialnützliche Einrichtung ist, aber gilt dies auch für die private Vergnügungsfahrt am Wochenende? Das Ausführen von Raubtieren — so das praxisbezogene Beispiel von Schünemann — ist zweifelsfrei in der Diktion seines Systems eine „Luxushandlung", wie aber ist die Ausübung gefährlicher Sportarten zu bewerten? Handelt es sich hierbei um Luxus-, sozialübliche- oder gar um sozialnützliche Handlungen? Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, aber schon bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, daß die von Schünemann vorgeschlagene umfassende Interessenabwägung mit erheblichen Einordnungsschwierigkeiten verbunden ist. 37 Bemerkenswert ist desweiteren, daß der Autor seinen eigenen Ansatz in zweifacher Hinsicht selbst in Frage stellt und damit im Ergebnis paralysiert. Im Anschluß an die Erörterung der Kriterien, die eine Interessenabwägung ermöglichen sollen, erklärt er — darauf wurde bereits hingewiesen — die Aufstellung verbindlicher Abwägungskriterien für undurchführbar. Der aus diesem Grund hilfsweisen Heranziehung der geschilderten Fixpunktkategorien folgt nun ein vergleichbarer Rückzieher: Das Abstellen auf normative oder technische Sorgfaltsregeln, auf die Verkehrsanschauung und auf den Vertrauensgrundsatz stehe unter dem Vorbehalt des Regelfalles und sei damit letztlich ebenfalls nicht verbindlich. 38 Letzteres ist sicher zutreffend und entspricht auch der herrschenden Lehre. Allerdings wird an dieser Stelle ein Manko nicht nur der Theorie Schünemanns, sondern eines jeden Ansatzes deutlich, der Sorgfaltsanforderungen ohne den Rückgriff auf den Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts zu präzisieren versucht. Sind Sachverhalte zu bewerten, die nicht in das Raster bereits bestehender, ausformulierter Sorgfaltsregeln passen, ist man bei der Bestimmung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ohne jeglichen Anhaltspunkt. Wird man sich dessen bewußt, so verwundert es nicht mehr, daß Schünemann die von ihm zuvor als ominös und konturenlos kritisierte Maßfigur der herrschenden Lehre letztlich doch in sein Konzept integriert. In dem Bereich, in dem weder gesetzliche noch technische Verhaltensregeln zur Lösung von Fahrlässigkeitsproblemen herangezogen werden können und er infolgedessen auf die Verkehrsanschauung zurückgreifen will, heißt es nämlich wörtlich: „Für die rechtliche Beurteilung kann es immer nur auf die geläuterten Anschauungen der besonnenen und gewissenhaften Verkehrsangehörigen ankommen, deren intuitiver Sachverstand bei der rechtlichen Bewertung nutzbar zu machen ist". 3 9 37 Vergleichbare Kritik äußert Cramer in: Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 141. Bedenken im Hinblick auf die Wertungen Schünemanns im Rahmen seiner Katalogisierung von Handlungstypen bei Sehr oeder in: LK, § 16 Rdn. 162. Siehe auch Maurach / Gössel / Zipf, AT, Teilband 2, S. 115. 38 JA 1975, 577 f.

. Sorgfaltswidrigkeit

n Vorhersehbarkeit

2. Gössel Auch Gössel entwickelt ein System, welches vorgibt, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ohne Rückgriff auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts bzw. der Tatbestandsverwirklichung feststellen zu können. Dabei verzichtet er auf die Prognose von Geschehensabläufen jedoch nicht völlig: Zum einen sei bei der „objektiven Zurechnung" danach zu fragen, ob nach dem verständigen Urteil eines objektiven Beobachters mit dem tatsächlich eingetetretenen Erfolg als Verwirklichung einer vom Handelnden geschaffenen Gefahr zu rechnen war. 40 Zum zweiten komme es im subjektiven Tatbestand darauf an, ob der einzelne Täter die Möglichkeit der Rechtsgutbeeinträchtigung erkennen konnte. 41 Warum die potentielle Erfolgsvoraussicht in seinem objektiven Tatbestand — der Sorgfaltswidrigkeit 42 — keine Rolle spielt, begründet Gössel mit einem Beispiel: Würde einem Autofahrer, der sich absolut verkehrsgerecht verhält, plötzlich und unvorhersehbar ein Betrunkener von das Fahrzeug taumeln, so sei der Zusammenstoß im letzten Moment vor der Kollision regelmäßig erkennbar. Unter Zugrundelegung des Vorhersehbarkeitskriteriums bei der Ermittlung der Sorgfaltswidrigkeit hätte dies nun aber zur Folge, daß der Tatbestand des § 230 StGB verwirklicht sei, wenn der Betrunkene verletzt würde — und dies, obwohl von Sorgfaltswidrigkeit keine Rede sein könne. 43 Gössel distanziert sich von den Autoren, die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt individuell bestimmen wollen 44 und bemüht sich, einen generellen Maßstab zu entwickeln. Als ausschlaggebender Gesichtspunkt erscheint ihm dabei die Tatsache, daß auf nahezu allen Gebieten sozialrelevanten Handelns besondere soziale Regeln existieren. Infolgedessen dürfe eine menschliche Handlung dann als sorgfaltswidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung beurteilt werden, wenn sie gerade den zur Vermeidung von Rechtsgutbeeinträchtigungen dienenden Regeln widerspreche. Man könne dies auch als sozialinadäquates Verhalten bezeichnen oder umgekehrt von sozialer Adäquanz ausgehen, wenn sämtliche der angesprochenen Regeln beachtet worden sind. Bei der Feststellung von sozialinadäquatem Handeln sieht Gössel im Gegensatz zu Armin Kaufmann das Leitbild des besonnenen und gewissenhaften Verkehrskreisangehörigen in den Hintergrund gedrängt. Diese Maßfigur diene nicht unmittelbar als Vergleichsmaßstab, sie sei aber zur Ermittlung des entscheidenden sozialen Regelungswerks — Gössel spricht auch von „wirklicher Verkehrssitte" — heranzuziehen. 45 39 JA 1975, 577. Kritik hierzu bei Samson, in: SK, Anhang zu § 16 Rdn. 13. 40 AT, Teilband 2, S. 129. 41 AT, Teilband 2, S. 138 ff. 42 Als Objekt des Sorgfaltswidrigkeitsurteils bezeichnet er eine „ k o n k r e t e rechtsgutsbeeinträchtigende Handlung" (S. 111) und begibt sich dann auf die Suche nach dem generellen Maßstab, der es erlaubt, die konkrete Rechtsgutsbeeinträchtigung als unsorgfältig herbeigeführt zu beurteilen. 43 AT, Teilband 2, S. 108, 110. 44 AT, Teilband 2, S. 114.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Die damit primär entscheidungserheblichen Verhaltensvorschriften werden in drei Gruppen unterteilt. Zunächst sei das Täterhandeln an strafrechtlichen sowie sonstigen rechtlichen Regeln zu messen. Als Beispiele dienen ihm hier die abstrakten Gefährdungsdelikte des StGB, das Straßenverkehrsrecht oder einzelne Tatbestände des BSeuchG bzw. des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Gössel betont, daß hier ein Regelverstoß die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung sorgfaltswidrigen Verhaltens in sich berge. 46 Neben der Gruppe der rechtlich fixierten Sorgfaltsregeln sieht Gössel einen Bereich, in dem „die Verkehrssitte lediglich ein Konglomerat rein faktisch als sozial richtig befolgter, aber nirgendwo vollständig auch nur mit sozialem Geltungsanspruch schriftlich niedergelegter Regeln darstellt." Darunter versteht er die lex artis, den waidmännischen Brauch oder die Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns. 47 Schließlich finde man maßstabgebende Verhaltensregeln dort, wo bestimmte Expertengruppen mit dem Ziel der Vermeidung von Rechtsgutsbeeinträchtigungen normierend tätig waren. Hier seien etwa DIN- oder VDE-Vorschriften, aber auch die Regeln über die Austragung sportlicher Wettkämpfe zu nennen. Die beiden letztgenannten Gruppen sollen sich von den gesetzlich niedergelegten Verhaltensvorschriften in einem wesentlichen Punkt unterscheiden: Ihnen komme lediglich indizielle Wirkung für die wirkliche Verkehrssitte zu, sie liefern für die Bewertung eines Verhaltens als sozialadäquat bzw. sozialinadäquat nicht mehr als Anhaltspunkte.48 Angriffsfläche für Kritik bietet Gössels Sorgfaltskonzept zunächst im Hinblick auf die Argumentation, mit der er den Aspekt der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts als unbrauchbar zur Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens verwirft. Wie oben ausgeführt wurde, erklärt er die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung deshalb zum untauglichen Kriterium bei der Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens, weil im letzten Augenblick vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses ein solches regelmäßig vorauszusehen sei. Dies habe nämlich zur Folge, daß auch bei verkehrsgerechtem Verhalten ein Sorgfaltverstoß bejaht werden müsse, wolle man hier auf Erkennbarkeit abstellen. — Sollte dies ein tragfähiger Einwand sein, so müßte sich Gössel zunächst einmal fragen lassen, welche Funktion dem Adäquanzgedanken, den er im Rahmen der objektiven Zurechnung berücksichtigen will, verbliebe. Adäquanz wäre aufgrund der von ihm angestellten Überlegung genauso regelmäßig zu bejahen und auch die individuelle Erkennbarkeit im Rahmen seines subjektiven Tatbestandes würde zum Normalfall. Dies ist aber nicht das entscheidende Moment. Viel wesentlicher ist der Zeitpunkt, auf den Gössel bei seiner Betrachtung abstellt: Ob kurz vor Erfolgseintritt die Tatbestandsverwirklichung erkennbar wird, ist irrelevant. Benutzt man das Merkmal der Vorhersehbarkeit des Erfolgs bei der 45 AT, 46 AT, 47 AT, 48 AT,

Teilband 2, S. 116 ff. Teilband 2, S. 117. Teilband 2, S. 117 f. Teilband 2, S. 118 f.

. Sorgfaltsidrigkeit

n

Vorhersehbarkeit

Beantwortung der Frage, ob eine Handlung als sorgfaltswidrig zu bewerten ist, dann verfährt man auf diese Weise — die Fragestellung zeigt es — mit dem Ziel der //dwd/wrtgsbewertung. Ist dies einmal erkannt, so steht auch der Zeitpunkt fest, auf den für die Vorhersehbarkeitsprüfung abzustellen ist: Im Moment der Handlungsvornahme muß die Tatbestandsverwirklichung, nach objektiven Kriterien bemessen, erkennbar sein. 49 Ob kurz vor Erfolgseintritt ein objektiver Dritter oder der Täter selbst einen Schaden zu prognostizieren vermag, interessiert in bezug auf die Tatbestandsverwirlichung nicht mehr. Man kann es auch an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn ein Arzt aus Nachlässigkeit eine Spritze setzt, deren falsch dosierter Wirkstoff den Patienten tötet, so interessiert die Vorhersehbarkeit des Todeserfolges nur im Moment der Injektion und nicht zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Das von Gössel vorgetragene Argument sagt deshalb über die Tauglichkeit des Merkmals der Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zur Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit nichts aus. Was die von Gössel im Rahmen seines Sorgfaltskonzepts eingesetzten Begriffe anbelangt, so fällt zunächst der Gesichtspunkt der „sozialen Adäquanz" auf, dessen er sich des öfteren bedient. So heißt es, als unsorgfältig könne jedes Verhalten bezeichnet werden, das den jeweiligen Regeln des je betroffenen Gebiets des sozialen Verkehrs widerspreche — mit anderen Worten sozial inadäquat sei. Oder: „ . . . umgekehrt wäre ein Verhalten als sorgfältig zu bezeichnen, wenn es den Regeln des je betroffenen sozialen Verkehrs entspricht und insoweit sozial-verkehrsrichtig oder sozialadäquat ist." 5 0 Es wird bei Gössels Ausführungen nicht ganz klar, welchen Wert er dem Aspekt der Sozialadäquanz bei der Sorgfaltsbestimmung beimißt. Sollte er den Begriff lediglich als Synonym für das Ergebnis verwenden (Sorgfaltswidrigkeit entspricht sozialer Inadäquanz), so wäre dies im wesentlichen unschädlich, aber auch funktionslos. Wird die Sozialadäquanz hingegen als Kriterium zur Ermittlung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens verstanden, so erheben sich dagegen Bedenken. Diese liegen vor allem darin begründet, daß die Erscheinung, die sich hinter dem Begriff verbirgt, schillert und kaum hinreichend scharfe Konturen aufweist. 51 Darüber hinaus dürfte die Gleichung, die Gössel aufstellt, wohl kaum vollständig aufgehen. Es wird sich zwar Einigkeit darüber erzielen lassen, daß sorgfaltswidriges Verhalten stets als sozialinadäquat bezeichnet werden kann, die Umkehrung dieser These erscheint indessen zweifelhaft. Versteht man Sozialadäquanz als Übereinstimmung mit „außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen", so dürfte evident sein, daß nicht jedes Verhalten, welches den Sorgfaltsanforderungen strafrechtlicher Fahrlässigkeitstatbestände genügt, auch sozialerheblichen außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen entspricht. 4

9 Im Rahmen der objektiven Zurechnung ist diese Feststellung auch für Gössel eine Selbstverständlichkeit; vgl. AT, Teilband 2, S. 129. so AT, Teilband 2, S. 115. 5i Eingehend zur Kritik an der Lehre von der Sozialadäquanz Hirsch, ZStW 74 (1962), 87 ff.; ders. in: LK, Vor § 32 Rdn. 26 ff., jeweils m. w. N.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Ein weiterer Begriff, den Gössel verwendet und dessen Funktion sowie Inhalt nicht recht deutlich wird, ist der der „wirklichen Verkehrssitte". Man erfährt dazu, daß dieses Institut unabhängig von schriftlichen Fixierungen in rechtlichen und außerrechtlichen Regelwerken über die Sorgfalt der Ausführung einer Handlung Auskunft geben soll. Dies sei im Zivilrecht anerkannt, was mit dem Hinweis auf die Fahrlässigkeitsdefinition des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB belegt wird. Darüber hinaus müsse beachtet werden, daß den bereits angesprochenen Verhaltensregeln, die sich außerhalb von Gesetzen finden, für die Bestimmung der wirklichen Verkehrssitte indizielle Wirkung zukomme und daß diese in den genannten Regelungswerken zumeist auch nicht vollständig erfaßt seien. Auch dieser Begriff, den Gössel hier in die Debatte einbringt, läßt zu viele Fragen offen, als daß er zur Lösung von Fahrlässigkeitsproblemen fruchtbar gemacht werden könnte. Unklar bleibt hier zunächst, ob ein Unterschied zwischen der „Verkehrssitte" und der „wirklichen Verkehrsitte" besteht, und wenn ja, welcher das ist. Aber abgesehen davon überzeugt Gössels Hinweis auf die zivilrechtlichen Ergebnisse in diesem Zusammenhang nicht. Die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit einem Verstoß gegen die Verkehrssitte gleichzusetzen, ist der zivilrechtlichen Dogmatik fremd. Zivilrechtliche Fahrlässigkeitsprobleme werden weitgehend ohne Verwendung des Terminus Verkehrssitte gelöst. Dieser wird in ganz anderem Zusammenhang diskutiert. Ein weiteres, gravierendes Bedenken gegen Gössels Methode der Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes ergibt sich aber aus dem Umstand, daß eine noch so dezidierte Auseinandersetzung mit geschriebenen und ungeschriebenen Systemen von Sorgfaltsregeln letztlich kein geschlossenes Fahrlässigkeitskonzept zu entwickeln vermag. Wer die Sorgfaltswidrigkeit einer Handlung im Grundsatz vom Nachweis eines Sorgfaltsregelverstoßes abhängig macht, gerät in Begründungsnöte, wenn sich noch keine Sorgfaltsregeln gebildet haben. Gössel räumt in dieser Hinsicht auch selbst ein, daß seine Auffassung dort zu Schwierigkeiten führen kann, „wo neue, bisher unbekannte Handlungen" zu bewerten sind. 52 So zutreffend dieser Hinweis auf einen wesentlichen Mangel der eigenen Systematik auch ist, so wenig überzeugt auf der anderen Seite seine weitergehende Schlußfolgerung, im Fall des Fehlens sozialer Regeln über die Vornahme bestimmter Handlungen fehle auch die von der herrschenden Lehre zur Entscheidungfindung eingesetzte Maßfigur. 53 Letzteres zeigt allein schon die Überlegung, daß die von Gössel bemühten „neuen, bisher unbekannten Handlungen" sich nicht im luftleeren Raum entwickeln. Innovationen — man denke nur an den technischen Bereich — sind regelmäßig dort zu verzeichnen, wo die herrschende Lehre von der Existenz bestimmter Verkehrskreise — nämlich der jeweiligen Berufsgruppen — ausgeht. Macht man hier die Feststellung der Tatbestandsverwirklichung vom Vorhersehbarkeitsurteil des durchschnittlichen und gewissenhaften Angehörigen 52 AT, Teilband 2, S. 115. 53 Ebd.

. Sorgfaltswidrigkeit

n Vorhersehbarkeit

der entsprechenden Gruppe abhängig, so läßt sich die Frage eines Sorgfaltsverstoßes auch bei „neuen, bisher unbekannten Handlungen" beantworten; steht der Vorhersehbarkeitsaspekt nicht zur Verfügung, muß entweder auf die „Regeln vergleichbarer sozialer Gebiete für vergleichbare gefährliche Techniken" 54 abgestellt werden oder die Beantwortung der Sorgfaltsfrage führt zu einem non liquet, was im strafrechtlichen Bereich aber kaum zu vertreten ist. Die von Gössel postulierte strikte Bindung der Bestimmung sorgfaltswidrigen Verhaltens an die vorhergehende Feststellung eines Sorgfaltsregelverstoßes liefert schließlich den Haupteinwand gegen das vorgeschlagene Konzept. Wie bereits angesprochen wurde, sieht Gössel Handlungsweisen, die bestimmte strafrechtliche oder sonstige rechtliche Regeln verletzen, als „per se" sorgfaltswidrig an und spricht in diesem Zusammenhang von „geborenem" sorgfaltswidrigem Verhalten, das auf eine „unwiderlegliche gesetzliche Vermutung" zurückzuführen sei 55 . Daß eine derartige Vorgehensweise systematisch fragwürdig ist, läßt sich vor allem an dem von Gössel genannten Beispiel der abstrakten Gefährdungsdelikte aufzeigen: Hätte die Verwirklichung des Tatbestandes eines abstrakten Gefährdungsdeliktes zwingend die Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens zur Folge, dann wäre die Abstufung von abstrakten Gefährdungsdelikten als Ordnungswidrigkeiten 56 auf der einen und fahrlässigen Erfolgsdelikten auf der anderen Seite nur noch eine Frage des hinzutretenden Erfolges. Ein derartiges Ergebnis vermag jedoch kaum zu überzeugen, da die konkrete Sorgfaltswidrigkeit hinsichtlich des Erfolges mehr erfordert, als die bloße Verwirklichung einer nur abstrakt gefährlichen Handlung. Letzteres ist zumindest für denjenigen zwingend, der den Erfolg beim Fahrlässigkeitsdelikt als Merkmal des Unrechtstatbestandes begreift. 57 Da auch Gössel diese Ansicht vertritt 58 , ist sein Konzept schon in sich widersprüchlich. 3. Armin Kaufmann Auch Armin Kaufmann möchte die Frage der objektiven Sorgfaltsverletzung ohne Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts beantworten. Er erklärt die Konkretisierung der Sorgfaltsanforderungen zu einem Problem der Tatbestandsbildung, bei dem jedoch generelle Kriterien für den Inhalt von Sorgfaltsnormen nicht ersichtlich seien und sich auch nicht finden ließen. 59 Es bliebe 54 Gössel führt nicht näher aus, wie bei einem derartigen Vergleich vorzugehen ist. Da keine Kriterien benannt werden, ist dieser Ausweg nicht gangbar. 55 AT, Teilband 2, S. 117. 56 Beispiele hierzu bei Cramer, Ordnungswidrigkeiten, S. 47. 57 Auf dem Boden einer personalen Unrechtslehre läßt sich ein „zufällig" eingetretener Erfolg nicht sinnvoll in den Unrechtstatbestand integrieren. Vgl. zu dieser Frage Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 251 ff. m. w. N. 58 AT, Teilband 2, S. 107. 59 ZfRV 1964, 48, 50.

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

nur der Weg für die Rechtsprechung, in maßvoller Generalisierung das typischerweise sorgfaltswidrige Verhalten herauzukristallisieren. 60 Betrachtet man lediglich sein in diesen Sätzen zusammengefaßtes Ergebnis, so erweckt es den Anschein der Resignation vor den Schwierigkeiten der Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit. Allerdings zeigt sich bei nährerem Hinsehen, daß sich sein Fahrlässigkeitsverständnis nicht gravierend von dem der herrschenden Lehre, die sich später gerade auch unter seinem Einfluß gebildet hat, unterscheidet. Armin Kaufmann weist auf die Parallele hin, die zwischen der objektiven Vorhersehbarkeit des Erfolges und dem Urteil besteht, welches im Rahmen der Adäquanztheorie abgegeben werde. Der Blick auf die Entstehungsgeschichte sowie auf den Sinn und Zweck dieser Theorie zeige nun aber, daß Bedenken hinsichtlich deren Leistungsfähigkeit über ihre ursprüngliche Zielsetzung hinaus angemeldet werden müßten: Die Kriterien und Beurteilungsmaßstäbe der Adäquanzformel seien entwickelt worden, um bestimmte Fälle realer Kausalität auszugrenzen. Ihr Anlaß habe in Sachverhalten der Art bestanden, bei denen der Verletzte später im Krankenhaus verbrennt oder der Bauer seinen Knecht durch den Blitz erschlagen lassen will. Es liege auf der Hand, daß solche Fallkonstellationen bei der Bestimmung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ganz am Rande liegen, was ersichtlich mache, daß die Brauchbarkeit des Adäquanzurteils im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts eingeschränkt sei. 61 Um seine Bedenken zu verdeutlichen, bildet Armin Kaufmann ein Beispiel: Ein Kraftfahrer entdeckt vor Antritt der Fahrt einen Riß im Lenkgehäuse, benutzt sein Fahrzeug aber trotzdem. Der Schaden sieht gefährlich aus, ist aber — was der Kraftfahrer nicht erkennen kann — völlig harmlos und nicht dazu geeignet, schädliche Folgen herbeizuführen. Wolle man das Verhalten des Autofahrers nach Adäquanzgesichtspunkten bewerten, sei maßgeblich — und er zitiert dabei Engisch und Welzel — „der objektive Beurteiler, ausgestattet mit dem ontologischen Wissen eines einsichtigen Beobachters und dem etwaigen ontologischen Sonderwissen des Täters, im Besitz des nomologischen Höchstwissens seiner Zeit". 6 2 Dieser müsse ex ante zu dem Urteil gelangen, daß die Möglichkeit eines Erfolgseintritts besteht. Übertragen auf den Beispielsfall bedeute dies, daß etwa ein Mitarbeiter der Technisch-Physikalischen Bundesanstalt zu den Erfolgsmöglichkeiten zu befragen sei. Ein derartiger Experte käme nun aber zu dem Ergebnis, daß der beschriebene Defekt ungefährlich, die Benutzung des Kraftfahrzeuges mithin unbedenklich sei. Dies habe zur Folge, das das Verhalten des Autofahrers

60 ZfRV 1964, 51; man ist versucht, einem derartigen Stanpunkt die in der Einleitung zitierte Kritik Exners an Fahrlässigkeitsauffassungen seiner Zeitgenossen entgegenzuhalten. 61 ZfRV 1964, 48. 62 Ebd.

. Sorgfaltswidrigkeit

n Vorhersehbarkeit

mangels Vorhersehbarkeit eines Erfolges nicht als sorgfaltswidrig bewertet werden könne. Das Resultat sei aber untragbar, da es doch wohl selbstverständlich sei, daß die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ein sofortiges Aufsuchen einer Werkstatt geboten hätte. 63 Das skizzierte Ergebnis wäre in der Tat wenig überzeugend, allerdings erscheint es zweifelhaft, ob Armin Kaufmann den Adäquanzgedanken, so wie er in den von ihm kritisierten Stellungnahmen vertreten wird, zutreffend gedeutet hat. Zwar ist es richtig, daß bei Engisch und Welzel von der ontologischen Urteilsbasis und vom nomologischen Höchstwissen die Rede ist, 64 aber Armin Kaufmann interpretiert diese Begriffe — speziell den letzterwähnten — allem Anschein nach anders, als es der Intention der genannten Autoren entspricht. Insbesondere die Ausführungen Welzels machen dies deutlich, und zwar in dreierlei Hinsicht: Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erörterung der zitierten Begriffe findet sich bei Welzel die Bezugnahme auf Rechtsprechungsbeispiele aus dem Bereich des Straßenverkehrs. Dort wird der „tüchtige und gewissenhafte" oder der „verantwortungsbewußte und gewissenhafte Kraftfahrer" als maßstabgebendes Leitbild herangezogen, und Welzel schließt sich dieser Sichtweise an. 65 Schon allein daran wird ersichtlich, daß für ihn nicht die technisch-physikalische Bundesanstalt, sondern der durchschnittliche Autofahrer hier das nomologische Höchstwissen verkörpert. Zum zweiten spricht er im genannten Kontext von der maßgeblichen Modellperson des leitbildhaften Verkehrsteilnehmers. Auch dies gibt keinen Anlaß zu der Annahme, es komme bei der Vorhersehbarkeitsfrage auf die Fähigkeiten eines technischen Experten an. Drittens erläutert Welzel schließlich an anderer Stelle, 66 was er unter der nomologischen Urteilsbasis versteht, und dort ist vom allgemeinen Erfahrungswissen von den Kausalverläufen die Rede. Der von Armin Kaufmann beschworene „ex ante homunculus aus der Retorte der Rechtswissenschaft" personifiziert aber mit Sicherheit kein allgemeines Erfahrungswissen. Dies zeigt sein Beispiel, daß auf die prognostischen Fähigkeiten eines Fachmanns abstellt. A l l dies verdeutlicht, daß Armin Kaufmanns Kritik wohl auf einem Mißverständnis beruht. Das Adäquanzurteil, das er als zur Sorgfaltbestimmung untauglich glaubt ablehnen zu müssen, wird in der Ausprägung, wie er es umreißt, überhaupt nicht vertreten. Der entscheidende Gesichtspunkt ist demnach auch ein ganz anderer: Zur Aufstellung eines allgemeinen Verhaltensmaßstabs muß an die Vorhersehbarkeit eines sich in der konkreten Situation befindlichen Dritten des betreffenden Verkehrskreises angeknüpft weden. Warum ein in dieser Weise konkretisiertes Adäquanzurteil zur Sorgfaltsbestimmung untauglich sein soll, ergibt sich aus Armin Kaufmanns Ausführungen nicht. 63 ZfRV 1964, 49. 64 Vgl. Engisch, Kausalität, S. 54; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 16. 65 Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 16. 66 Strafrecht, S. 46.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Notwendige Folge seiner Distanzierung vom Kriterium der Vorhersehbarkeit ist die bereits angesprochene Feststellung, daß sich generelle Merkmale für den Inhalt von Sorgfaltsnormen nicht finden ließen. Das typischerweise sorgfaltwidrige Verhalten sei in maßvoller Generalisierung herauszukristallisieren. Würde dies zutreffen, so wären Friktionen mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz wohl nicht von der Hand zu weisen. Dies mag aber hier dahinstehen, denn die Art und Weise, wie Armin Kaufmann sich die Typisierung von Sorgfaltsmaßstäben vorstellt, deckt sich im Prinzip mit dem Vorgehen der herrschenden Lehre. Zu bedienen habe man sich „eines leitbildhaften, maßstabgebenden Handelnden, nach dessen Erfahrungen, Fähigkeiten und Beurteilungen die Sachgemäßheit des Verhaltens bewertet wird. Er wird entwickelt aus dem Handlungs- und Lebensbereich heraus, um den es jeweils geht. Wer Ziegel auf dem Dach deckt, wird beurteilt am Maßstab des besonnenen, erfahrenen und gewissenhaften Dachdeckers, auch wenn es der Hausmeister ist. Nicht anders steht es . . . soweit jedermann für eine Handlung sozusagen zuständig ist — mit der Sorgfalt des besonnenen und einsichtigen Bürgers schlechthin".67 Armin Kaufmann gibt zu, daß auch diese Sorgfaltstypen Homunculi sind, denen ein Wissen imputiert ist und die Gefahren beurteilen müssen. Gerade der letztgenannte Aspekt — Gefahrbeurteilung — zeigt aber doch, daß den Modellfiguren seiner Beispielsfälle das Vorhersehbarkeitskriterium inhärent ist. Der einzige Unterschied, der zwischen seinem Konzept und dem der herrschenden Lehre besteht, liegt somit darin, daß er den letzten Schritt der Beweisführung nicht mitzugehen bereit ist. Was bei Armin Kaufmann offenbleibt, ist die Frage nach dem maßstabgebenden hypothetischen Verhalten. Der Verweis auf eine maßstabgebende hypothetische Person reicht insoweit nicht aus. Anders formuliert: Anhand welchen Umstandes wird die Sorgfalt des zum Vergleich herangezogenen Verhaltens, das dem als möglicherweise unsorgfältig zu bewertenden gegenübergestellt wird, ermittelt? Die Antwort auf diese Frage — die Vorhersehbarkeit des Erfolges — findet sich bei Armin Kaufmann expressis verbis aus naheliegenden Gründen nicht. Sie ist aber zwingender Bestandteil seiner objektiven Fahrlässigkeitskonzeption. Insgesamt hat sich damit gezeigt, daß die unter der Überschrift „Sorgfaltswidrigkeit ohne Vorhersehbarkeit" skizzierten Fahrlässigkeitskonzepte nicht zu überzeugen vermögen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß ein Verzicht auf den Aspekt der Vorhersehbarkeit des Erfolges bei der Prüfung der Frage, ob ein Verhalten gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verstößt, ein abschließendes System von Kriterien erforderlich macht, welche in ihrer Gesamtheit dazu geeignet sein müssen, in jeder denkbaren Fallkonstellation eine Entscheidung über das Vorliegen einer Sorgfaltswidrigkeit zu begründen. Die erörterten Konzeptionen erfüllen diese Voraussetzung nicht. Die als entscheidungsrelevant

67 ZfRV 1964, 51.

III. Rechtsprechung

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benannten Merkmale haben sich als wenig praktikabel erwiesen. Soweit ausformulierte Sorgfaltsregeln in den Vordergrund der Betrachtung gerückt werden, hat sich gezeigt, daß insoweit keine abschließende Systematik entwickelt werden kann. Wenn dann in diesem Zusammenhang letztlich doch — verdeckt oder offen — auf die potentielle Erfolgsvoraussicht abgestellt wird, spricht dies nicht für die Schlüssigkeit der vorgestellten Erklärungsansätze. Schließlich vermag es auch nicht zu überzeugen, der Rechtsprechung einen Weg zu weisen, auf welchem in maßvoller Generalisierung typischerweise sorgfaltswidriges Verhalten herauszukristallisieren sei. Gerade der letztgenannte Aspekt zeigt überdeutlich, daß eine strikte Trennung von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit kaum zur Rechtssicherheit im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte beitragen kann.

I I I . Rechtsprechung Wer trotz oder gerade wegen der doch recht unterschiedlichen Standpunkte in der Literatur zur Funktion und zum Verhältnis der Fahrlässigkeitselemente Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts eine dezidierte Stellungnahme der Rechtsprechung erhofft, sieht sich getäuscht. Zwar existiert eine kaum noch überschaubare Fülle von Judikatur, in welcher der eine, der andere oder gar beide Begriffe zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden, im Überblick betrachtet läßt sich jedoch eine einheitliche Rechtsprechung zum Verhältnis der beiden Elemente nicht feststellen. So finden sich auf der einen Seite eine ganze Reihe von Entscheidungen, die bei der Beantwortung der Fahrlässigkeitsfrage isoliert auf den Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des Erfolges abstellen. Hier liegen die Dinge meist so, daß der eingetretene Schaden dem zu bewertenden Verhalten des Täters nicht unmittelbar nachfolgt, sondern daß Handlung und Erfolg durch mehr oder weniger atypische Kausalverläufe oder durch das ursächliche Eingreifen Dritter miteinander verknüpft sind. 68 Abgesehen von derartigen Fallkonstellationen wird aber bisweilen auch dann lediglich auf den Vorhersehbarkeitsaspekt abgestellt, wenn es die Frage zu beantworten gilt, ob der Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift Fahrlässigkeit indiziert. 69 Auf der anderen Seite kommt die Rechtsprechung häufig mit dem Hinweis aus, eine bestimmte Handlungsweise sei sorgfaltswidrig oder pflichtwidrig, ohne daß das Stichwort Vorhersehbarkeit auch nur beiläufig fiele. Ein solches Vorgehen findet sich in der veröffentlichten Rechtsprechung meist dann, wenn zweifelhaft ist, ob die evidente Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens sich im eingetretenen Erfolg realisiert hat. 70 68 Vgl. etwa BGHSt, 3, 62; BGH VRS 20, 278; OLG Karlsruhe NJW 1976, 1853; umfangreiche weitere Nachweise bei Cramer in: Schönke / Schröder, § 15, Rdn. 186 f. 69 Dazu noch eingehend unten 1. Kap. IV 2. 70 Vgl. hierzu nur BGHSt 11, 1; 21, 59; 24, 31. 3 Kaminski

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Ist es in den genannten Fallkonstellationen aus naheliegenden Gründen verzichtbar, zum Verhältnis der Merkmale Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit des Erfolges Stellung zu nehmen, so vermutet man Konkreteres dann, wenn beide Begriffe in quasi-definitorischer Weise in Beziehung gesetzt werden. Bereits im Jahr 1880 formulierte das RG wie folgt: „Eine fahrlässige Tötung liegt nicht schon dann vor, wenn der Täter im allgemeinen unvorsichtig gehandelt, wenn er bei seiner Handlung die gewöhnliche Sorgfalt und Vorsicht außer acht gelassen hat und wenn hierdurch der Tod eines Menschen verursacht worden ist, es ist vielmehr zum Tatbestand jenes Vergehens erforderlich, daß der Täter durch Anwendung der gewöhnlichen Sorgfalt und Vorsicht den eingetretenen Erfolg als eine mögliche Folge seiner Handlung hätte voraussehen können/' 71 Die nachfolgende Rechtsprechung schließt sich dieser Begriffsbestimmung an 72 , wobei insbesondere die Formulierung in RGSt 56, 349 bekannt geworden ist 73 , und man findet sie ähnlich lautend auch in der Judikatur der jüngsten Zeit. In einem Urteil des Jahres 1987 bejaht das LG München eine fahrlässige Tötung, weil der Täter bei Anwendung der gebotenen und ihm möglichen und zumutbaren Sorgfalt den Erfolgseintritt habe erkennen können und müssen.74 Allem Anschein nach sieht die Rechtsprechung also die Begriffe Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit in einem Stufenverhältnis: Im Vordergrund der Betrachtung steht die Sorgfaltsfrage; es ist zunächt zu ermitteln, ob der Täter die erforderliche Sorgfalt beachtet hat. Ist die Frage zu verneinen, hat man im Anschluß festzustellen, ob bei gehöriger Sorgfalt der Erfolgseintritt vorhersehbar gewesen wäre. Bei vordergründiger Betrachtung sieht dies nach einer konkreten und einheitlichen 75 Stellungnahme aus. Genaueres Hinsehen zeigt jedoch, daß hinter ein und 71 RGSt 3, 208. 72 RGSt 6, 249, 250; 56, 343, 349; 58, 27, 30; BGHSt 20, 315, 321; LG Saarbrücken, MedR 1988, 193. 73 „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichet und imstande ist und infolgedessen entweder den Erfolg, den er bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt vorhersehen könnte, nicht vorhersieht — unbewußte Fahrlässigkeit — oder den Eintritt des Erfolges zwar für möglich hält, aber darauf vertraut, er werde nicht eintreten — bewußte Fahrlässigkeit." 74 LG München JZ 1988, 565, 567. 75 Formulierungen wie die des OLG Saarbrücken, VRS 47, 343, 344 sind leider vereinzelt geblieben: „Die Erfüllung des Unrechtstatbestands eines fahrlässigen Erfolgsdelikts setzt voraus, daß die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung objektiv erkennbar ist, daß das konkrete Verhalten wegen der erkennbaren Gefahr einer Tatbestandserfüllung die zur Vermeidung des möglichen Erfolgs objektiv erforderliche Sorgfalt vermissen läßt und daß der eingetretene Erfolg auf dem objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten beruht." Vergleichbar auch OLG Hamm VRS 61, 353 355: „Vielmehr ist die vom Angeklagten begangene Tat nach allgemeinen Fahrlässigkeitsgrundsätzen zu bewerten. Hiernach kommt es darauf an, ob der Angeklagte die im Verkehr zur Vermeidung von tödlichen Unfällen erforderliche Sorgfalt verletzt hat... Dies würde voraussetzen, daß der Angeklagte den eingetretenen Erfolg und den zu ihm führenden Kausalverlauf in seinen Grundzügen hätte voraussehen und vermeiden können."

III. Rechtsprechung

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derselben Begriffsbestimmung durchaus unterschiedliche Konzepte zum Vorschein kommen. Verdeutlichen läßt sich dieser Befund am besten durch die Gegenüberstellung einiger Rechtsprechungsbeispiele. Das LG München hatte sich mit einem Sachverhalt auseinanderzusetzen, in dem der Täter unter Überschreitung der Grenzen vermeintlicher Notwehr auf flüchtende Autodiebe geschossen hatte. Dabei traf er mit einem ersten Schuß einen der beiden Diebe. Der Schütze bemerkte dies allerdings nicht, da jener seine Flucht scheinbar ungehindert fortsetzte. Er schoß ein zweites Mal. Dieser Schuß ging fehl, prallte an der Strebe eines Metallzaunes auf und verletzte als Querschläger den zweiten Flüchtenden tödlich. Das LG München sieht darin eine fahrlässige Tötung. Zur Begründung stellt es darauf ab, daß bei Anwendung der gebotenen und dem Täter möglichen und ihm zumutbaren Sorgfalt dieser hätte erkennen können und müssen, daß jemand durch ein abirrendes Geschoß getroffen werden konnte. Im Anschluß an diese Feststellung erörtert das Gericht die Umstände, aus denen sich — seiner Meinung nach — die erkennbare Möglichkeit des Erfolgseintritts ergeben sollte. Abschließend kommt es zu folgendem Ergebnis: „Für den Angeklagten war damit auch vorhersehbar, daß jemand anderer durch einen Querschläger tödlich getroffen werden konnte. Der bei den Gegebenheiten am Tatort durchaus nicht fernliegenden Gefahr eines Querschlägers war sich der Angeklagte bewußt. Dadurch, daß der Angeklagte gleichwohl den — wie ebenfalls dargelegt — gefährlichen zweiten Schuß abgegeben hat, hat er pflichtwidrig gehandelt."76 Es mag dahinstehen, ob die Entscheidung im Ergebnis überzeugt, im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur die Begründung. Dabei wird deutlich, daß das LG München nicht prüft, ob der Täter bei sorgfältigem Handeln vorausgesehen hätte — worauf es eingangs abstellte —, sondern seine Entscheidung vielmehr darauf stützt, daß der Täter voraussehen konnte und deshalb sorgfaltswidrig gehandelt hat. 77 Auch das LG Saarbrücken hatte im Fall einer fahrlässigen Tötung zu entscheiden. 78 Genau wie das LG München bedient sich das Gericht dabei im Ausgangspunkt der zitierten Formulierung des Reichsgerichts. Im Verlauf der Entscheidungsgründe findet diese dann allerdings anders als in dem soeben skizzierten Urteil recht wörtlich Anwendung, womit das LG Saarbrücken zwar zu einem akzeptablen Ergebnis kommt, in der Begründung jedoch kaum überzeugt. Im zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um das Verhalten eines Anästhesisten bei der Narkotisierung eines Kindes, das mit dem Verdacht auf eine akute Blinddarmentzündung in ein Krankenhaus eingewiesen wurde. Bei der Aufnahme

76 JZ 1988, 565, 567. Hervorhebungen vom Verfasser. 77 Eine vergleichbare Vorgehensweise findet sich auch in anderen Entscheidungen. Vgl. etwa RGSt, 6, 249, 250; 56, 343, 349; BGHSt 20, 315, 321. Siehe auch OLG Köln NJW 1963, 2381. 78 MedR 1988, 193. 3*

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

lagen erkennbar eine Reihe von Symptomen vor, aus denen sich Anhaltspunkte für einen entgleisten Zuckerstoffwechsel ergaben. Gleichwohl untersuchte der Narkosearzt das Kind nur oberflächlich und gab es zur Operation frei, bei der es infolge diabetischen Komas verstarb. In den Urteilsgründen findet sich im Anschluß an den Hinweis, der Arzt sei verpflichtet „alles zu tun, was nach den Regeln medizinischer Wissenschaft und Erfahrung in seiner Lage zu tun ist, um den Erkrankten vor Schädigungen an Leben und Gesundheit zu bewahren", eine Erörterung der Sorgfaltsregeln, die der Anästhesist nicht beachtet hatte. 79 Dabei zählt das Gericht eine Reihe von Maßnahmen auf, die zu ergreifen gewesen wären, aber nicht ergriffen worden sind, und spricht dabei stets von der „Verpflichtung" des Arztes, die einzelnen aufgeführten Untersuchungen vorzunehmen. Das Ergebnis formuliert das LG Saarbrücken wie folgt: „Infolge der aufgezeigten Sorgfaltspflichtverletzungen hat der Angegklagte den Tod des Kindes, den er bei pflichtgemäßer Sorgfalt im Zeitpunkt der Pflichtwidrigkeit hätte voraussehen können, nicht vorausgesehen." 80 Es bejaht damit eine fahrlässige Tötung. Bei der Entscheidung fällt auf, daß der ausschlaggebende Sorgfaltsverstoß, die den Regeln der ärztlichen Kunst widersprechende Narkotisierung des Kindes, an keiner Stelle des Urteils als solcher gekennzeichnet wird. Es wird lediglich darauf abgestellt, was der Anästesist nicht getan hat, bestraft wird jedoch wegen eines fahrlässigen Begehungsdelikts. Ein derartiges Vorgehen ist nun nicht deshalb hervorhebenswert, weil das LG Saarbrücken mit dem Postulat angeblicher SorgfdXtspflichten dogmatisches Neuland betritt. Der im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte normlogisch falsche Gebrauch des Begriffs der Pflicht hat mittlerweile Tradition. 81 Das Urteil ist aber deshalb interessant, weil es veranschaulicht, wie sehr eine Begründung unter einem derartigen systematischen Fehlgriff leidet, denn notwendig waren die dogmatischen Ungereimtheiten im Fall des LG Saarbrücken jedenfalls nicht: Hätte das Gericht festgestellt, daß es für den durchschnittlichen Anästhesisten erkennbar ist, daß eine Narkotisierung ohne ausreichende Vorbereitung tödliche Folgen haben kann, dann wäre das entscheidende sorgfaltswidrige Verhalten — die Betäubung — in den Vordergrund der Betrachtung gerückt und ein Tun, nicht ein Unterlassen zum Gegenstand der Bewertung geworden.

79 MedR 1988, 194. so MedR 1988, 195. 8i Vgl. neben der bereits zitierten Rspr. des RG aus der älteren Literatur etwa Niese, Finalität, S. 62, aus der neueren Dreher l Tröndle, § 15, Rdn. 16. Bei letzterem lassen sich selbst in der Diktion Fahrlässigkeit und Unterlassung kaum noch unterscheiden. Zur Diskussion um den dogmatisch wenig überzeugenden Gebrauch des Begriffs der Sorgfaltspflichtverletzung vgl. Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 168 ff.; Gössel, AT, Teilband 2, S. 109 f.; Jakobs, AT, S. 260 jeweils m. w. N. Von der Sorgfaltspflichtverletzung ist es i. ü. nur noch ein kleiner Schritt bis zur „Unterlassungskomponente" bei der Fahrlässigkeit. Darauf wird noch einzugehen sein, s. u. S. 118 ff.

III. Rechtsprechung

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Die Ambivalenz der Rechtsprechung in der Auslegung des Merkmals der Sorgfaltswidrigkeit ist keine auf den Bereich der fahrlässigen Begehungsdelikte beschränkte Erscheinung. Auch bei den schlichten Tätigkeitsdelikten findet man durchaus unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie sich der Gesichtspunkt der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens und der der Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung — der im Bereich dieser Tatbestände als Pendant zur potentiellen Erfolgsvoraussicht fungiert — verhalten. Betrachtet man hier etwa die Judikatur zu § 163 StGB, so gibt es auf der einen Seite Entscheidungen, die ganz auf der soeben skizzierten Linie des LG Saarbrücken liegen, das Kriterium der Sorgfaltspflicht in den Vordergrund der Betrachtung rücken und dem Täter des Begehungsdelikts letzlich ein Unterlassen vorwerfen. So formuliert das BayObLG: „Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Zeuge die Sorgfalt im vernünftigen Überlegen, in der Anspannung seines Vorstellungs- und Denkvermögens, die ihm nach den Umständen und seinen persönlichen Fähigkeiten zuzumuten ist, außer acht läßt." 82 Auf der anderen Seite finden sich Urteile, die schlicht und zutreffend den entscheidenden Gesichtspunkt betonen: „Fahrlässig hätte der Angeklagte gehandelt, wenn er die Unwahrheit seiner Angaben hätte kennen müssen."83 Angesichts der widersprüchlichen Ansatzpunkte auch in diesem Bereich verwundert es dann nicht mehr, wenn in einer Entscheidung gleich beide Sichtweisen zum Tragen kommen. Nach Ansicht des OLG Koblenz kommt Fahrlässigkeit beim Falscheid zunächst einmal dann in Betracht, wenn der Zeuge bei der Vernehmung sein Gedächtnis nicht mit der gebotenen Sorgfalt anstrengt: „Fahrlässig handelt der Zeuge in solchem Falle allerdings, wenn er es schuldhaft unterläßt (!), tatsächliche Anhaltspunkte oder äußere Hilfsmittel zu benutzen, die sich ihm bei der Vernehmung darbieten, die geeignet sind, mindestens Zweifel an der Richtigkeit seiner Vorstellung zu wecken und die ihm somit dazu veranlassen können zu bekunden, daß er Zweifel an der Verläßlichkeit seiner Überzeugung habe." 84 In dieser Hinsicht war dem Angeklagten im Fall des OLG Koblenz nach Auffassung des Gerichts kein Vorwurf zu machen, da er insoweit alles Erforderliche getan habe. Gleichwohl komme Fahrlässigkeit bei der Eidesleistung in Betracht, denn zu den Faktoren, die in die erforderliche kritische Selbstprüfung einzubeziehen seien, gehörten auch die Umstände der zeugenschaftlich bekundeten Wahrnehmung selbst. „Die Fahrlässigkeit eines Falscheids kann in solchen Fällen darin liegen, daß der Zeuge sich bei gehöriger Überlegung der Unzuverlässigkeit seiner Erkenntnisquellen bzw. der Mangelhaftigkeit seiner Erkenntnismittel hätte bewußt sein müssen und können.. . " 8 5 ; Fahrlässigkeit also bei Erkennbarkeit der Fehlerhaftigkeit der Eidesleistung, bei Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung. 82 NJW 1955, 1690, 1691; ähnlich schon RGSt 12, 317; 42, 236. 83 OLG Köln MDR 1980, 421; in dieser Richtung auch OLG Bremen NJW 1960, 1827 f. sowie im Ergebnis RGSt 60, 407. 84 JR 1984, 422, 423. 85 JR 1984, 424.

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

Faßt man den Standpunkt der Rechtsprechung zu den in der Überschrift dieses Kapitels aufgeworfenen Problemen in einem kurzen Ergebnis zusammen, so scheint dreierlei hervorhebenswert zu sein: Zum einen ist festzuhalten, daß es eine einheitliche Linie der Judikatur, welche ein bestimmtes Verhältnis der Fahrlässigkeitselemente Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung oder Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts auf der einen und Sorgfaltswidrigkeit auf der anderen Seite festschreibt, nicht gibt. 86 Zum zweiten ist zu verzeichnen, daß bei den Fällen, in welchen die Frage des Vorliegens eines Sorgfaltsverstoßes problematisch ist, die Entscheidungen überwiegen, die de facto die Vorhersehbarkeit des Erfolges zum entscheidenden Kriterium machen. Schließlich ist drittens zu konstatieren, daß Versuche der Rechtsprechung, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens anhand der Verletzung von Sorgfaltspflichten festzustellen und zu begründen, bisweilen zu nicht schlüssigen Ergebnissen führen.

IV. Die Vorhersehbarkeit des Erfolges als Mittel zur Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens Die bisherigen Ausführungen zum Verhältnis der Fahrlässigkeitselemente Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit des Erfolges haben gezeigt, daß es auf der einen Seite wenig sachgerecht ist, den Gesichtpunkt der Sorgfaltswidrigkeit aus dem Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts zu eliminieren, auf der anderen Seite Versuche, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ohne Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit des Erfolges ermitteln zu wollen, zu wenig überzeugenden Ergebnissen geführt haben. Angesichts dieses Befundes ließe sich die Auffassung vertreten, der Standpunkt der herrschenden Lehre, 87 welche die Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit einer Handlung von der Vorhersehbarkeit des Erfolges abhängig macht, habe sich schon insoweit als der einzig gangbare Weg herausgestellt. Dies gilt umso mehr, als auch die Rechtsprechung zwar nicht eindeutig Stellung 86 Die Ermittlung eines bestimmten Standorts der Rechtsprechung in Fahrlässigkeitsfragen wird i. ü. dadurch erschwert, daß es nach wie vor eine durchgängige Spruchpraxis hinsichtlich der Zuordnung der Fahrlässigkeitselemente zu den Stufen des Deliktsaufbaus nicht gibt. Vgl. OlG Köln, NJW 1963, 2381; OLG Saarbrücken, VRS 47, 343; OLG Stuttgart, JZ 1980, 618; JR 1982, 419, 420; OLG Koblenz, JR 1984, 422; 87 Soweit sich im verschwommenen Meinungsbild zur Frage des Verhältnisses von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit überhaupt eine dominierende Richtung feststellen läßt, dürfte es die hier skizzierte sein. Vgl. Welzel, Strafrecht, S. 131 ff.; Hirsch, ZStW 94 (1982), 266 ff.; dersFestschrift Rechtswiss. Fakultät Köln, S. 410 f.; Lenckner, Engisch-Festschrift, S. 498 f.; Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 31 ff.; ders., PallinFestschrift, S. 60; ähnlich Bohnert, JR 1982, 7. Auch Jescheck (AT, S. 520 ff.) muß als Vertreter dieser Lehre angesehen werden. Bei ihm verbirgt sich allerdings die Relevanz potentieller Erfolgsvoraussicht in einem schwer zu durchschauenden Geflecht von Voraussetzungen, welche mit der von ihm postulierten Notwendigkeit der Differenzierung innerer und äußerer Sorgfalt verknüpft sind. Zu dieser Differenzierung bereits Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 269 ff.

IV. Vorhersehbarkeit und Sorgfaltswidrigkeit

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bezieht, rein faktisch aber in vielen Fällen der in der Literatur vorherrschenden Richtung folgt. Wenn auch ein derartiges Vorgehen vertretbar erscheint, die möglichen Einwände liegen auf der Hand: Wer die Folgerichtigkeit des eigenen Standpunktes lediglich aus der mangelnden Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Alternativen herleitet, muß mit Einwänden rechnen, welche das Fehlen einer positiven Begründung monieren. Um derartige Vorwürfe nicht zu provozieren, soll im folgenden versucht werden, Aspekte aufzuzeigen, die dafür sprechen, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens über die Vorhersehbarkeit des Erfolges zu ermitteln. 1. Der historische Befund Betrachtet man die Fahrlässigkeitsentwicklung im weiteren historischen Zusammenhang, so wird deutlich, daß seit jeher das Vorhersehbarkeitskriterium eine entscheidende Rolle spielte. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Dabei ist eingangs zu betonen, daß der geschichtliche Überblick nicht dem Zweck dienen soll, die heutige dogmatische Erfassung des Gesichtspunktes der Erkennbarkeit der Tatbestandverwirklichung mit früheren Rechtszuständen zu vergleichen; es soll nicht bewertet werden, ob der Vorhersehbarkeitsgedanke in die Fahrlässigkeitskonzepte der jeweiligen Epochen schlüssig integriert wurde. Die folgenden Ausführungen sollen lediglich einen Eindruck davon vermitteln, daß zu keiner Zeit Fahrlässigkeitsprobleme unter Ausschluß dieses Merkmals diskutiert wurden. Obwohl der Kenntnisstand zur Stellung und Bedeutung der Fahrlässigkeit im römischen Recht defizitär ist 8 8 , erlauben die bislang feststehenden Ergebnisse der rechtshistorischen Forschung Rückschlüsse im Hinblick auf die aufgeworfene Frage. So ist zwar auf der einen Seite nicht eindeutig geklärt, ob die strafrechtliche Erfassung der Fahrlässigkeit sich aus einem Rechtszustand abgeleitet hat, in dem die reine Erfolgsherbeiführung pönalisiert wurde. 89 Keine Einigkeit besteht auch in der Frage, ob die Römer fahrlässiges Verhalten überhaupt kriminalrechtlich verfolgten oder ob nicht vielmehr lediglich die Haftungsfolgen des zivilen Deliktsrechts eintraten. 90 Andererseits steht jedoch die Tatsache außer Streit, daß das Phänomen Fahrlässigkeit als solches in der republikanischen und erst recht 88 So Wacke, RIDA 1979, 509 f. mit dem Hinweis, daß dieser Befund auf die Lage der Quellen und das geringe Interesse der römischen Juriprudenz an strafrechtlichen Fragen zurückzuführen ist. Vgl. dazu auch Käser, Rom. Rechtsgeschichte, S. 121 f. 89 Als erwiesen sehen dies an v. Jhering, Geist, 1. Teil, S. 126 ff; Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 85 ff.; v. Hippel, Strafrecht Band 1, S. 46 f., 476; dagegen Binding, Normen Band IV, S. 12. 90 Vgl. einerseits Binding, Normen Band II 2, S. 631 ff; ders., Normen Band IV, S. 65 ff., andererseits Löjfler, Schuldformen, S. 100 ff.; Beschütz, Str. Abh. 76, 53 ff. Zusammenfassend zum Meinungsstand Wacke, RIDA 1979, 508 f., 513 ff. m. w. N.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

in der klassischen Periode erkannt war. Um diese Erkenntnis Gesetz werden zu lassen, beschritt man zwei Wege: Einerseits findet sich recht häufig die Methode der kasuistischen Umschreibung bestimmter typischerweise gefährlicher Verhaltensweisen;91 daß hierbei der Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts überhaupt der Grund der Normsetzung ist, braucht nicht weiter betont zu werden. Andererseits stößt man bisweilen auch auf abstrakte Formulierungen. Bereits zu republikanischer Zeit formulierte Scaevola: culpa autem esse, quod cum a dilligente provideri poterit non esset provisum. 92 Der Klassiker Paulus äußerte sich ganz ähnlich: Fahrlässig sei es nämlich, etwas nicht vorauszusehen, was von einem Sorgfältigen vorausgesehen werden könne . . . 9 3 Im Hinblick auf die Ursprünge der Fahrlässigkeit im germanischen und fränkischen Rechtskreis steht die rechtshistorische Forschung vor den gleichen Streitfragen, wie sie für die römische Zeit angesprochen wurden. Zentraler Punkt der Auseinandersetzung ist das Problem, ob sich eine Periode reiner Erfolgshaftung nachweisen läßt. 94 Darüber hinaus ist anerkannt, daß eine unserem heutigen Verständnis von Fahrlässigkeit verwandte Erscheinung innerhalb der sogenannten „Ungefährwerke" existierte, wobei allerdings wiederum streitig ist, ob hier nur negativ das Fehlen des bösen Willens maßgeblich war oder ob auch eine Abgrenzung vom bloßen Zufall stattfand. 95 Nicht einheitlich beantwortet wird auch die Frage, ob die Haftung für „Ungefährwerk" — in heutiger Terminologie — strafoder zivilrechtlich konzipiert war. 96 Unstreitig ist jedoch, daß die Tatbestände außerhalb des Vorsatzbereichs in einer dem römischen Recht vergleichbaren Weise kasuistisch bestimmte, typische Fälle gefährlichen Verhaltens umschrieben. 97 Präzise, abstrakte Formulierungen finden sich in der italienischen Doktrin des 14. Jahrhunderts. Man bemühte sich um eine Abgrenzung von culpa und casus und sah dabei das entscheidende Moment in der Voraussehbarkeit des Erfolges. 91 Vgl. nur die Beispiele bei Wacke RIDA 1979, 508 ff. 92 Zitiert nach Binding, Normen Band IV, S. 58; siehe dazu auch Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 98; Wacke a. a. O. S. 523. 93 D. 9,2,31. Dazu Schaffstein, Allgemeine Lehren, S. 146 und Wacke a. a. O. S. 522. 94 Bejaht wird dies von Mitteis I Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 39 f.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 31 f.; einschränkend v. Bar, Handbuch, S. 62 ff.; Brunner, Forschungen, S. 487 ff.; Schwerin / Thieme, Grundzüge, S. 28 f.; Wilda, Strafrecht, S. 146 ff. Dagegen spricht Binding, Normen Band IV, S. 12 vom „unwissenschaftlichen Mißbrauch, der mit der angeblichen Periode reiner Erfolgshaftung bei allen Kulturvölkern getrieben wird" und Ekkehard Kaufmann, schließt sich der Sichtweise Bindings in einer eindrucksvollen, reichhaltiges Quellenmaterial verwendenden Monographie (Die Erfolgshaftung) an. Gegen Kaufmann — allerdings wenig überzeugend — Achter, ZRG (Germ. Abt.) 77, 387, 391; Mikat, Weber-Festschrift, S. 9, 13. 95 Dazu etwa Mitteis / Lieberich, Eb. Schmidt, Ek. Kaufmann jeweils a. a. O. 96 Zusammenfassend zu diesem Gesichtspunkt Ek. Kaufmann, Handwörterbuch, Stichwort „Fahrlässigkeit". 97 Vgl. etwa die in Fn. 95 angegebenen Autoren sowie mit weiteren Beispielen His, Strafrecht, S. 92 ff.

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Bezeichnend sind die Ausführungen des Baldus: „Casus fortuitus est, quem humana Providentia praevideri non potest." „Finis culpa est non intelligere, non cognoscere futurum casum." 98 Die Rezeptionsgesetze erläutern die Fahrlässigkeit einerseits abstrakt, andererseits bedient man sich aber auch der Methode kasuistischer Umschreibung typischerweise gefahrträchtiger Handlungen. Exemplarisch ist hier etwa Art. 146 der Carolina, der eine Begriffsbestimmung der fahrlässigen Tötung enthält. Nach dieser Regelung mußte die Todesfolge „auss geylheitt oder unfursichtigkeitt, doch widder des thätters willen" herbeigeführt worden sein. 99 Zusätzlich wurden Beipielsfälle vorangestellt, die dies erläutern sollten. So wurden in allen Einzelheiten die Strafbarkeitsvoraussetzungen für den Barbier beschrieben, der einem anderen „die gurgell wider seinen willen abschneidet". Ein strafrechtlicher Vorwurf wurde nur dann erhoben, wenn der Barbier seine Tätigkeit nicht an dem Ort ausübte, an dem „gewonlich zu scheren ist" — etwa auf der belebten Straße — und so die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls erhöht war. Es liegt auf der Hand, daß bei einer derartigen Systematik der Aspekt der Vorhersehbarkeit von Erfolgen der entscheidende Gesichtspunkt der Normsetzung ist. 1 0 0 Die Epoche der Wissenschaft des gemeinen Rechts, welche in den Jahrzehnten nach Inkrafttreten der Carolina ihren Anfang nahm und bis in die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts reicht, ist geprägt von einer anfangs sehr starken und sich später abschwächenden Beeinflussung der theoretischen Erfassung der Fahrlässigkeit durch die Lehre vom versari in re illicita. 1 0 1 Diese aus dem kanonischen Recht stammende Doktrin rechnete in ihrer ursprünglichen Form demjenigen, der eine unerlaubte Tat beging, sämtliche ihrer Folgen zu. 1 0 2 Ein derart striktes Haftungsprinzip postulierte die Versari-Lehre aber nur in ihrer frühen Form. Im 98 Zitiert nach Engelmann, Schuldlehre, S. 193, 197; a. a. O. auch eine ganze Reihe weiterer, ähnlich lautender Quellenbelege. Vgl. dazu auch Binding, Normen Band IV, S. 118 f.; Himmelreich, Unbewußte Fahrlässigkeit, S. 14; Löffler, Schuldformen, S. 149 f. Nach Beschütz, StrAbh 76, 1907, S. 147 ist das praevideri posse in der italienischen Doktrin das entscheidende Abgrenzungskriterium. 99 Zitiert nach Kohler, Die Carolina. Zum Begriff „geylheitt" vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Spalte 2604. Der Terminus hatte ursprünglich die Bedeutung von Übermütigkeit, Ausgelassenheit, Mutwillen. Art. 146 der Carolina hatte Vorläufer in der Bambergensis und im Klagspiegel. Zum Einfluß des Klagspiegels auf Bambergensis und Carolina vgl. Beschütz, StrAbh 76, S. 129 ff.; Binding Normen Bd. IV, S. 125 ff.; Brunnenmeister, Quellen, S. 143 ff.; v. Hippel, Band I, S. 190. Zur Entwicklungsgeschichte des Klagspiegels siehe Beschütz und Brunnenmeister jeweils a. a. O. 100 Beschütz (StrAbh 76, S. 144) sieht in Art. 146 einen objektiven Maßstab niedergelegt. Entscheidend sei, ob ein verständiger Mensch den Erfolg voraussehen konnte; so auch Himmelreich, Unbewußte Fahrlässigkeit, S. 20. 101 Zum Einfluß des Versari-Prinzips auf die gemeinrechtliche Wissenschaft im allgemeinen und auf die Fahrlässigkeitsentwicklung im besonderen vgl. Kollmann, ZStW 35 (1914), 46 ff; Löffler, Schuldformen, S. 149 ff., 160 ff., 166 ff.; Schaffstein, Allg. Lehren, S. 148 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 173. 102 Vgl. z u r Entwicklung der Lehre vom versari in re illicita neben den in Fn. 14 genannten Boldt, ZStW 55 (1936), 46 f.; Küpper, Zusammenhang, S. 14 ff.

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

genannten Zeitraum machte der Versari-Gedanke eine stufenweise Entwicklung durch, die schließlich dazu führte, daß nur bei pflichtwidriger Gefährdung eine Zurechnung stattfand. 103 Als opus illicitum wurde ein gegen ein Verbot verstoßendes Verhalten nur dann angesehen, wenn der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts durch eben dieses Verhalten voraussehen konnte. 104 An der Wende zum 19. Jahrhundert setzt eine eingehende und kontroverse Diskussion zu Fahrlässigkeitsfragen ein. Diese entzündete sich an dem Problem, wie die Fahrlässigkeit systematisch widerspruchsfrei in eine allgemeine Schuldlehre zu integrieren war, wobei die theoretischen Konzepte die culpa teils als Willensfehler, teils als Verstandesfehler deuteten.105 Die grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Fahrlässigkeit wichen dabei stark voneinander ab. In der materiellen Beschreibung des Verhaltens, das als fahrlässig bezeichnet wurde, bedienten sich die konkurrierenden Entwürfe jedoch vergleichbarer Kriterien. Die „Theorie des psychologischen Zwanges" war Grundlage des gesamten Feuerbachschen Werkes, sie stellte mithin auch das Fundament seiner Überlegungen zur Fahrlässigkeit dar. 106 Ausgehend von einem Strafrechtsverständnis, welches die sinnlichen Antriebe, aus denen Verbrechen entstehen, durch stärkere, unlustbetonte Vorstellungen aufheben will, war er gezwungen, die culpa als bewußten Verstoß gegen das Gesetz zu begreifen. Sehr deutlich wird dies, wenn man seine Begriffsbestimmung von Vorsatz und Fahrlässigkeit gegenüberstellt. Feuerbach versteht unter Vorsatz die „Bestimmung des Willens (Begehrungsvermögens) zu einer gewissen Rechtsverletzung als Zweck, mit dem Bewußtsein der Gesetzwidrigkeit des Begehrens". 107 Die Definition der Fahrlässigkeit lautet sehr ähnlich, auch sie beinhaltet eine Bestimmung des Willens zu einer Rechtsverletzung. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß hier der Rechtsbruch nicht intendiert, nicht als Zweck gesetzt ist, sondern nach Naturursachen, nicht nach den Gesetzen des Willens Folge einer Handlung oder Unterlassung ist. 1 0 8 Feuerbach betont, daß bei der Fahrlässigkeit die Willensbestimmung eine gesetzwidrige

103 Dazu Boldt a. a. O. S. 47. 104 Vgl. Jungclausen, Subjektive Rechtfertigungselemente, S. 6; Kollmann, ZStW 35 (1914), 105. In der Abgrenzung von culpa und straflosem casus findet sich daneben aber auch in der Spätphase der gemeinrechtlichen Epoche immer noch die Methode kasuistischer Umschreibung; vgl. dazu Boldt, Böhmer, S. 630; v. Hippel, Band I, S. 253. 105 Eingehend zu diesem Streit Exner, Wesen, S. 12 ff. 106 Ausführlich zur psychologischen Zwangstheorie Blohm, Str. Abh. 358, S. 7 ff. 107 So in der 9. Aufl. seines Lehrbuchs 1826, § 54. Schon in den Betrachtungen (1800) findet sich eine ähnliche Definition (S. 199). In der jüngeren Fassung sind die Begriffe Wille und Begehrungsvermögen getauscht, was anscheinend mit einem Wandel des Sprachgebrauchs zusammenhängt. Abgesehen davon benutzte Feuerbach die Termini synonym, worauf Hemmen, Str. Abh. 104, § 17 hinweist. 108 Wörtlich heißt es in der Revision, Bd. II, S. 64 f.: Culpa ist also die gesetzwidrige Bestimmung des Begehrens zur Begehung oder Unterlassung solcher Handlungen, aus welcher, wider die Absicht des Subjects, nach bloßen Naturursachen ein gesetzwidriger Erfolg entspringt.

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sein muß, was wiederum die culpa vom Zufall unterscheidet, bei dem gerade dieses Merkmal fehlt. 109 Ist also beim Vorsatz die Bestimmung des Willens gesetzwidrig, weil eine Rechtsverletzung bezweckt ist, so muß bei der Fahrlässigkeit erst ein Kriterium gefunden werden, welches zur Gesetzwidrigkeit führt. Feuerbach findet es in der obligatio ad diligentiam, der Verpflichtung eines jeden, alles zu tun bzw. zu unterlassen, woraus auch gegen seinen Willen ein rechtswidriger Erfolg resultieren könnte. Die Verletzung dieser Verpflichtung begründet Fahrlässigkeit unter drei Voraussetzungen: Es muß erstens eine willensgesteuerte Handlung vorliegen, der Täter muß zweitens das abstrakte Wissen um die Pflicht zur Vermeidung des rechtswidrigen Erfolges haben und drittens muß er vorhersehen, daß eine solche Handlung den Erfolg bewirken könnte, den das Gesetz zu vermeiden trachtet. 110 Vehementer Gegner der Feuerbachschen Fahrlässigkeitsdoktrin war v. Almendingen, der bei der Formulierung seiner Auffassung zur culpa allerdings die Ausgangspunkte seines Zeitgenossen teilte. 111 Auch für v. Almendingen galt der Satz, daß jede Schuld Willensschuld war, und auch er sah in der Theorie des psychologischen Zwanges die Grundlage seines Strafrechts Verständnisses. Die Wege trennten sich aber bei dem Problem, die Fahrlässigkeit in eine durch die Zwangstheorie determinierte Dogmatik einzufügen, v. Almendingen versuchte systematische Widersprüche auf der einen Seite dadurch zu vermeiden, daß er den Bereich der Vorsatzstrafbarkeit sehr weit ausdehnte. Er nahm einen dolos verwirklichten Erfolg stets dann an, wenn der Täter diesen als notwendig oder auch nur irgendwie möglich vorhersehen konnte; auf solche Weise schlug er die gesamte bewußte Fahrlässigkeit dem Vorsatz zu. 1 1 2 Auf der anderen Seite negierte er bei der unbewußten Fahrlässigkeit den Verbrechenscharakter. Eine Willensschuld könne bei der culpa nicht festgestellt werden, es handele sich bei ihr um einen Verstandesfehler, um einen Mangel des „PerceptionsVermögens". 113 Gleichwohl proklamiert er die Notwendigkeit der Bestrafung culposer Verbrechen aus Gründen der Rechtssicherheit. 114 Den bei einem derartigen Vorgehen naheliegenden Einwänden versucht er dadurch zu entgehen, daß er die Reaktion 109 So z. B. Lehrbuch, §§54 ff; zu Feuerbachs Abgrenzung zwischen culpa und Zufall vgl. auch Exner, Wesen, S. 16; Storch, Str. Abh. 175, S. 42. 110 So im Lehrbuch §§54 ff. und in den Betrachtungen S. 208 ff.; siehe dazu Binding, Normen Band IV, S. 216 ff.; Exner, Wesen, S. 14 ff.; Löffler, Schuldformen, S. 213; v. Hippel, Vorsatz, S. 456 ff.; Storch, Str. Abh. 175, S. 3 ff. Zur Kritik an der Lehre Feuerbachs vgl. Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 53. in Über das culpose Verbrechen, 1804; vgl. dazu Binding, Normen Band IV, S. 222 ff.; Exner, Wesen, S. 19 ff.; Löffler, Schuldformen, S. 219; Storch, Str. Abh. 175, S. 30 ff. Culposes Verbrechen, S. 46. 113 Culposes Verbrechen, S. 54 ff. 114 Culposes Verbrechen, S. 85 ff.

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auf den fahrlässig herbeigeführten Erfolg aus dem System der psychologischen Zwangstheorie herauslöste. Diese Reaktion habe mit der kriminellen Strafe nur den Namen gemeinsam. In Wahrheit stelle sie ein sogenanntes „Erfahrungsübel" dar, sie sei nicht eine Drohung vor der Tat, sondern eine Erfahrung post delictum, die erziehend wirken solle. In der materiellen Ausgestaltung deckt sich die Konzeption v. Almendingens insoweit mit der Feuerbachs, als auch er der Vorhersehbarkeit des Erfolges zentrale Bedeutung zumißt. Wie bereits angesprochen, dehnt dabei allerdings v. Almendingen den Vorsatzbereich sehr weit aus. Doch auch dort, wo er selbst von Fahrlässigkeit spricht, stellt er darauf ab, daß die Folgen einer Handlung absehbar waren, und bemüht sich hierbei um eine Grenzziehung zum straflosen casus.115 Den Konzepten Feuerbachs und v. Almendingens durchaus vergleichbare Fahrlässigkeitsansätze finden sich bei Klein 116 und Stübel. 117 Beide Autoren bemühten sich — bei unterschiedlicher Terminologie —, den gesamten Bereich des als strafrechtlich relevant erachteten Verhaltens mit Vorsatzkonstruktionen abzudekken, sahen daneben aber gleiwohl die Notwendigkeit der Bestrafung fahrlässigen Verhaltens. Für Klein liegt Fahrlässigkeit, die er als „Mangel des guten Vorsatzes, die zur Vermeidung gesetzwidriger Handlungen erforderliche Fähigkeit auszubilden oder anzustrengen" begreift, dann vor, wenn der Täter einer Verhaltensanforderung zuwider handelt, die ihn verpflichtet, alles zu unterlassen, woraus nach seiner Einsicht ein gesetzwidriger entstehen könnte. 118 Zumindest im Ergebnis fast identisch äußert sich Stübel, dessen Arbeit vom roten Faden der ständigen Verwendung des Kriteriums der Gefahr durchzogen ist. Unter Gefahr versteht er einen Zustand, bei dem „jemandem eine Rechtsverletzung wahrscheinlich bevorsteht". 119 Das, was seine Zeitgenossen als culposes Verhalten deklarieren, versucht er dabei in einer recht komplizierten Konstruktion zu erfassen, die er mit der Überschrift „unbewußt gefährliche Handlungen" versieht. 120 Anders als dies heute der Fall ist, fand die wissenschaftliche Fahrlässigkeitsdiskussion im genannten Zeitraum auch in der Gesetzgebung ihren Niederschlag. Dabei herrschte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Tendenz vor, die

Iis Culposes Verbrechen, S. 46, 244. 116 Grundsätze, § 120; Über dolus und culpa, S. 106; vgl. dazu Exner, Wesen, S. 13 f; Löffler, Schuldformen, S. 208 f.; Storch, Str. Abh. 175, S. 17 ff. 117 Über gefährliche Handlungen als für sich bestehende Verbrechen, 1825; Grundlegendes auch schon im System des allg. peinlichen Rechts, 1795; zu Stübel siehe Exner, Wesen, S. 22 f.; Löffler, Schuldformen, S. 210; Storch, Str. Abh. 175, S. 10. 118 Es ist sehr schwierig, die Unterschiede in Kleins Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdefinitionen auszumachen, was sich sowohl auf die terminologische, als auch auf die inhaltliche Seite bezieht; vgl. Über dolus und culpa S. 113 f. 119 Gefährliche Handlungen S. 237 f. 12° A. a. O. S. 284 ff.; dazu und zu den Parallelen mit der Lehre v. Almendingens vgl. Binding, Normen Band IV, S. 215; Exner, Wesen, S. 25; Storch, Str. Abh. 175, S. 11 f.

IV. Vorhersehbarkeit und Sorgfaltswidrigkeit

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jeweiligen Fahrlässigkeitsvorstellungen in deflatorischer Form Gesetz werden zu lassen. Ein treffendes Bild von den unterschiedlichen, im Ergebnnis aber vergleichbaren legislatorischen Bemühungen in den deutschen Teilstaaten liefert dabei die Entwicklung in Preußen und Bayern. 121 Im Bayerischen StGB von 1813 ließ Feuerbach seine Fahrlässigkeitsvorstellung Gesetzeswirklichkeit werden. In Art. 64 war bestimmt: „Jeder Unterthan ist schuldig, gefährliche Handlungen zu unterlassen, und in jedem Unternehmen mit gehöriger Aufmerksamkeit und Bedachtsamkeit zu verfahren, damit er auch nicht unabsichtlich Andere an ihren Rechten verletze, oder Gesetze des Staates übertrete. Wer dieser Verbindlichkeit zuwider etwas gethan oder unterlassen hat, woraus ohne seine Absicht eine in diesem Gesetzbuch enthaltene Übertretung entstanden ist, wird deshalb wegen Vergehen aus Fahrlässigkeit verantwortlich." In dieser Vorschrift ist also die bereits oben angesprochene obligatio ad diligentiam niedergelegt, welche für Feuerbach das zentrale Kriterium seiner Fahrlässigkeitstheorie darstellt. Die nähere Ausformulierung dieser Verpflichtung findet sich in den nachfolgenden Artikeln, in denen umschrieben wird, wann grobe, wann geringe Fahrlässigkeit anzunehmen ist und welche die zugrundeliegenden Fahrlässigkeitsmaßstäbe deutlich werden lassen. Art. 65 definierte die grobe Fahrlässigkeit. „Grobe Fahrlässigkeit ist vorhanden: I. Wenn der Beschädiger die Gefährlichkeit seiner Handlung selbst eingesehen, gleichwohl aber in unbesonnenem Leichtsinne dieselbe nicht unterlassen hat; II. wenn seine Handlung in so hohem Grade gefährlich war, daß er bei geringer Aufmerksamkeit hätte einsehen müssen, daß der rechtswidrige Erfolg wenigstens eben so leicht daraus entstehen, als nicht entstehen könne; III. wenn der Handelnde durch den Vortheil eigenthümlicher Kenntnisse oder Verhältnisse vorzüglich im Stande war, die Gefährlichkeit seiner Handlungsweise einzusehen, oder den nachtheiligen Folgen derselben zuvorzukommen; IV. wenn die fahrlässige Handlung zugleich schon aus anderen Gründen an Sich unerlaubt und rechtswidrig gewesen ist; oder V. der Handelnde nächst der allgemeinen Verbindlichkeit (Art. 64), noch durch besondere Pflichten des Standes, Berufs, übernommener Verpflichtungen und dergleichen, zu vorzüglicher Sorgfalt und Überlegung aufgefordert war." Ähnliche Kriterien verwendete Art. 68 bei der Bestimmung der Voraussetzungen geringer Fahrlässigkeit. „Geringe Fahrlässigkeit ist vorhanden: I. wenn die fahrlässige Handlung mit dem gesetzwidrigen Erfolge in entferntem Zusammenhange stand, und zwar als mögliche, doch nur als ungewöhnliche und unwahrscheinliche Wirkung vorauszusehen war; II. wenn zwar die Handlung an und für sich zu der in Art. 65 Nr. I I beschriebenen, gefährlicheren Gattung gehörte, der Handelnde aber entweder aus Schwäche oder Stumpfheit des Verstandes, oder wegen eines die Aufmerksamkeit und Überlegung störenden unverschuldeten Gemütszustandes, oder wegen ungünstiger äußerer Umstände, die hohe Gefährlichkeit seiner i2i Eine Gesamtdarstellung der Behandlung der Fahrlässigkeit durch die Partikularrechte gibt v. Hippel, Vorsatz, S. 454 ff.

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Handlung nicht leicht einzusehen vermochte oder ihren schädlichen Erfolg nur mit besonderer Anstrengung geistiger oder körperlicher Kräfte verhindern konnte; III. wenn der Handelnde durch unverschuldete dringende Umstände zu schnellen Entschließungen bestimmt war; IV. wenn die gefährliche Handlung in Ausübung einer Amts- oder anderen Pflicht aus bloßem Übermaße des Pflichteifers geschehen ist." 1 2 2 Parallelen zur bayerischen Entwicklung finden sich in der Gesetzgebungsgeschichte Preußens, sowohl was die schrittweise Abkehr von Fahrlässigkeitsdefinitionen anbelangt, als auch in bezug auf die materielle Ausgestaltung des Fahrlässigkeitsverständnisses. In Teil II., Titel 20 des Preußischen Allgemeinen Landrechts war neben einer Reihe von Begriffsbestimmungen im Vorsatzbereich unter den §§28 und 29 in bezug auf die Fahrlässigkeit ausgeführt: „Wer bei Übertretung eines Strafgesetzes zwar die gesetzwidrige Folge seiner Handlung nicht wirklich vorausgesehen hat, doch aber bei gehöriger Aufmerksamkeit und Überlegung hätte voraussehen können, der hat sich eines Verbrechens aus Fahrlässigkeit schuldig gemacht" (§ 28). „Je natürlicher und gewöhnlicher der gesetzwidrige Erfolg aus der Handlung entsteht, je leichter der Handelnde diesen Zusammenhang hat voraussehen können und je gefährlicher und unerlaubter die Handlung an sich ist, aus welcher der Schaden, obschon wider seinen Willen entsteht, desto mehr muß die dabei begangene Fahrlässigkeit bestraft werden" (§ 29). Schon bald nach Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts setzten Bestrebungen ein, dem Strafrecht eine eigenständige, von diesem Gesetz unabhängige Gestalt zu geben. Zum Ausdruck kam dies insbesondere in der Periode von 1827 — 1851, in der nicht weniger als zehn Entwürfe für ein preußisches StGB verfaßt wurden. 123 Definitionen finden sich aber nur noch im Entwurf von 1827. § 72: „Wer wider seinen Willen, jedoch aus Mangel gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht, durch eine gefährliche Handlung die Rechte eines anderen verletzt, der macht sich, insofern dieses Gesetz eine Strafe dafür androht, eines Verbrechens aus Fahrlässigkeit schuldig." § 73: „Für gefährlich ist eine Handlung zu erachten, wenn es ihrer Natur nach wahrscheinlich oder doch wenigstens zweifelhaft ist, ob dieselbe eine Rechtsverletzung zur Folge haben wird." § 74: „Je wahrscheinlicher der rechtswidrige Erfolg der Handlung war, je leichter der Handelnde denselben voraussehen oder abwenden konnte, und je unerlaubter die Handlung an sich war, desto mehr muß die Fahrlässigkeit gestraft werden." 124 Die nachfolgenden Entwürfe verzichten auf Inhaltsbeschreibungen, und dieser Zustand ändert 122 Die weitere Entwicklung in Bayern ist durch eine allmähliche Abkehr von der Feuerbachschen Schuldlehre im allgemeinen und von dem Bemühen um eine definitorische Erfassung der Fahrlässigkeit im besonderen gekennzeichnet. Im Gesetz von 1848 war bereits ein großer Teil der Vorschriften über Vorsatz und Fahrlässigkeit gestrichen, die endgültige Trennung von den Vorgaben Feuerbachs wurde im Jahr 1861 vollzogen; dazu v. Hippel, Vorsatz, S. 458. 123 Dazu Goltdammer, Materialien, Einleitung S. VII. 124 Zitiert nach v. Hippel, Vorsatz, S. 478 f.

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sich bis zum Inkrafttreten des StGB nicht mehr. 125 Über die Gründe für diese Entwicklung kann man nur spekulieren, weil die Materialien dazu wenig aussagekräfig sind. Es findet sich lediglich des öfteren der allgemeine Hinweis, daß man die Behandlung der Fahrlässigkeit als ein Problem der Doktrin ansah.126 Es hat den Anschein, als haben hier ähnlich Überlegungen eine Rolle gespielt, wie sie zur gesetzgeberischen Zurückhaltung in diesem Jahrhundert beigetragen haben. Die Diskussion um die Wende zum 20. Jahrhundert befaßte sich weniger mit der materiellen Ausgestaltung der Fahrlässigkeit, als vielmehr mit dem „Wesen" dieser Erscheinungsform strafbaren Verhaltens. Die Auffassungen reichten dabei von einer Sichtweise, die in der Bestrafung der Fahrlässigkeit lediglich eine Warnung für die Zukunft sah, über Erklärungen, die in ihr ein unmittelbares Unwerturteil über die Wesensart des Handelnden sahen, bis hin zu der Meinung, die Fahrlässigkeit als pflichtwidriges Wollen begriff. 127 Trotz des Streits in den Grundfragen glichen sich die Inhaltsbestimmungen. So definierte etwa v. Liszt in seinem Lehrbuch von 1905 wie folgt: „Fahrlässigkeit ist Nichtvoraussicht des voraussehbaren Erfolges bei Vornahme der Willensbetätigung. Voraussehbar ist der Erfolg, wenn der Täter ihn hätte voraussehen sollen und können. Fahrlässige Handlung ist mithin die Verursachung oder Nichthinderung eines nicht vorausgesehenen, aber voraussehbaren Erfolges durch Willensbetätigung." 128 Radbruch äußerte sich im Jahr 1904 ganz ähnlich: „Zur Fahrlässigkeit gehört zweierlei: Ein psychischer Zustand: der Fahrlässige hat einen rechtswidrigen Erfolg nicht vorausgesehen, besaß aber die intelektuelle Fähigkeit, ihn vorauszusehen, hat ihn also nicht vorausgesehen infolge ungenügender Willensanspannung, Aufmerksamkeit, Vorsicht, ist also unvorsichtig gewesen. Dieser psychische Zustand genügt nun aber nicht, es tritt noch eine Wertung hinzu: die ungenügende Willensanspannung, Aufmerksamkeit, Vorsicht, kraft deren er den für ihn intelektuell voraussehbaren Erfolg nicht voraussah, muß auch geringer gewesen sein, als die Willensanspannung, Aufmerksamkeit, Vorsicht, die der Normalmensch in seiner Lage angewandt hätte: er muß also unvorsichtiger gewesen sein als der Normalmensch." 1 2 9 Wesentlich kürzer faßte sich Löffler: „Fahrlässigkeit: Der Erfolg ist weder gewollt noch vorausgesehen, hätte aber vorausgesehen und vermieden werden können und sollen." 130 Das Fazit, das aus der Betrachtung der Fahrlässigkeitsentwicklung im weiteren historischen Zusammenhang131 zu ziehen ist, läßt sich knapp formulieren, verliert 125 Dazu v. Hippel, Vorsatz, S. 480 ff. 126 Vgl. v. Hippel, Vorsatz, S. 480 ff.; Goltdammer, Materialien, S. 236. 127 Eine Übersicht über die unterschiedlichen Erklärungsansätze gibt Mezger, Lehrbuch, S. 351. 128 S. 182 f. 129 ZStW 24 (1904), 345 f. 130 Schuldformen, S. 8 f. 131 Die Entwicklung der Fahrlässigkeitsdogmatik vom Beginn dieses Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit wird im folgenden Kapitel Gegenstand der Erörterung sein.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

dadurch aber nichts an Eindeutigkeit: In jeder der angesprochenen Epochen wurde die Vorhersehbarkeit schädigender Ereignisse zum zentralen Kriterium der Erscheinungsform strafbaren Verhaltens gemacht, die wir heute als Fahrlässigkeit bezeichnen. Ist dies einmal erkannt, so wird deutlich, daß sich das Fahrlässigkeitskonzept der herrschenden Lehre, welche die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens über die Vorhersehbarkeit des Erfolges ermittelt, nahtlos in die skizzierte rechtshistorische Tradition einfügt. Diese Tradition wirkt auch bis heute fort, was in Teilbereichen deutlich wird, wo nahezu selbstverständlich der Vorhersehbarkeitsaspekt die Begründung von Fahrlässigkeitsstrafbarkeit trägt. Darauf soll im folgenden eingegangen werden.

2. Sorgfaltsregeln Wer die Auffassung vertritt, die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens lasse sich ohne Rückgriff auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit des Erfolges bestimmen, dem scheint die unübersehbare Vielfalt geschriebener oder ungeschriebener Verhaltens- oder Sorgfaltsregeln ein schlagkräfiges Argument an die Hand zu geben. Enthalten doch derartige Normen häufig exakte Verhaltensbeschreibungen, die dann lediglich mit der Handlung zu vergleichen sind, die man unter eine Fahrlässigkeitsvorschrift zu subsumieren gedenkt. 132 Fällt dieser Vergleich so aus, daß die zu überprüfende Handlung hinter der vorgegebenen Verhaltensbeschreibung zurückbleibt, dann wurde eine Sorgfaltregel verletzt und das Urteil „Sorgfaltswidrigkeit" läßt sich finden, ohne daß der Begriff Vorhersehbarkeit fällt. Damit ist zumindest bewiesen — so ließe sich unter Zugrundelegung jener Auffassung formulieren —, daß Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit Fahrlässigkeitselemente sind, die unabhängig voneinander handhabbar sind, möglicherweise folgt hieraus sogar die Überflüssigkeit des Vorhersehbarkeitsaspekts. Überzeugend ist eine derartige Argumentation nur bei vordergründiger Betrachtungsweise, und es verwundert daher nicht, daß Rechtsprechung und herrschende Lehre in der Übertretung oder Einhaltung konkreter Verhaltensregeln lediglich ein Indiz zur Beantwortung der Sorgfaltsfrage sehen.133 So ist nach 132

Die Liste derartiger Regelungen ist lang. Sie reicht über ihre Domäne, das Straßenverkehrsrecht, weit hinaus und ist auch nicht auf gesetzlich fixierte Vorschriften beschränkt, man denke nur an die recht komplexen Regelungswerke der verschiedenen Sportverbände oder an technische Normen wie VDE- oder VDI-Regeln; vgl. zum letzteren eingehend Lenckner, Engisch-Festschrift, S. 490. 133 RGSt 71, 182; 76, 1; BGHSt 4, 182; 5, 271; 12, 75; BayObLGSt 1988, 127; Burgstaller, Fahrlässigkeit, S. 45; Cramer in: Schönke / Schröder, § 15, Rdn. 183; Dreher ITröndle, § 222, Rdn. 8; Jakobs, Teheranbeiheft zur ZStW 1974, S. 20; Jescheck, AT, S. 525; Lackner, § 15, Rdn. 183; Schroeder, JZ 1989, 780; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkersdelikte, S. 18 f.; ders., Strafrecht, S. 131 f. Bohnert (JR 1982, 6 ff.) verneint weitergehend als die herrschende Lehre selbst die Indizwirkung der Sondernormen, während auf der anderen Seite Gössel (AT, Teilband 2 , S. 117) im Verstoß gegen

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dieser Auffassung auf der einen Seite selbst dann nicht ohne weiteres von der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens auszugehen, wenn Unfallverhütungs- oder Sicherheitsvorschriften übertreten worden sind; auf der anderen Seite befreit aber auch die Befolgung derartiger Regeln nicht zwingend vom Fahrlässigkeitsvorwurf. Fragt man nach dem „Warum" des doch recht breiten Konsenses und damit nach dem Grund für einen Standpunkt, der trotz Sorgfaltsregelverstoß die Sorgfaltswidrigkeit des zugrundeliegenden Verhaltens zu verneinen ermöglicht, so stößt man auf Stellungnahmen, die auf den „Vorbehalt des Regelfalles" 134 verweisen oder hervorheben, daß „Sicherheitsvorschriften für den Normalfall gebildete Abstraktionen" darstellen. 135 So zutreffend derart pointierte Hinweise den letztlich entscheidenden Gesichtspunkt auch herausheben, zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit tragen sie nichts bei. Der Verweis auf den Vorbehalt des Regelfalles „paßt" nämlich unabhängig vom dogmatischen Standort, er trifft auch dann zu, wenn man den Sorgfaltsbegriff für so leistungsfähig hält, daß sich an ihm die Frage, ob ein Verhalten eine tatbestandsmäßig fahrlässige Erfolgsherbeiführung war, unmittelbar ablesen läßt. Man kommt dem Problem und gleichzeitig seiner Lösung aber ein Stück näher, wenn man statt des „Warum" der lediglich indiziellen Bedeutung von Verhaltensvorschriften das „Wie" in den Vordergrund der Betrachtung rückt, wenn man nämlich die Frage aufwirft, anhand welcher Kriterien es sich begründen läßt, daß trotz Verstoßes gegen eine explizite Sorgfaltsregel die Verneinung eines Sorgfaltsverstoßes möglich und umgekehrt trotz Befolgung einer derartigen Norm sorgfaltswidriges Verhalten zu bejahen vertretbar ist. Die gestellte Frage läßt sich anhand eines Beispiels aus der Rechtsprechung beantworten. In BGHSt 5, 271 war zu entscheiden, ob das Verhalten eines Autofahrers beim Überholen auf der Autobahn als sorgfaltswidrig zu bewerten und damit letztlich als fahrlässige Tötung zu bestrafen war. Der Angeklagte in diesem Verfahren hatte, ohne sich in ausreichender Weise über die Verkehrslage zu vergewissern, mit seinem Kraftfahrzeug die Fahrspur gewechselt. Ein Verstoß gegen die Ge- und Verbote des § 10 StVO in seiner damaligen Fassung konnte dabei jedoch nicht festgestellt werden. Der 3. Strafsenat des BGH hielt letzteres aber nicht für den entscheidenden Gesichtspunkt. Es sei schließlich anerkannt, daß weder die Übertretung noch die Einhaltung von Verkehrsvorschriften über die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens entscheiden. Das Maß der Sorgfaltspflicht hänge stets von den Umständen ab, und sei unabhängig davon zu prüfen, ob eine strafbare Verkehrsübertretung vorliege. „Umfang und Maß der Sorgfaltsgeschriebene Sorgfaltsregeln eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung für sorgfaltswidriges Verhalten sieht. Siehe in diesem Zusammenhang auch Lenckner, EngischFestschrift, S. 497 f. 134 So Schünemann, JA 1975, 577. 135 Samson in: SK, Anhang zu § 16, Rdn. 20. 4 Kaminski

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

pflicht richten sich in erster Linie nach der Verkehrserfahrung, aus der sich ergibt, daß bestimmte Fahrweisen mit bestimmten ihnen eigentümlichen Gefahren verbunden sind. Diese allgemein bekannten Gefahren muß der Kraftfahrer berücksichtigen. Dabei genügt es grundsätzlich nicht, daß er diesen Gefahren nur allgemein durch bestimmte mechanische Verrichtungen entgegenwirkt; er muß sich vielmehr im Einzelfall über die Gefahrlosigkeit der beabsichtigten Fahrweise vergewissern." 136 Läßt diese Entscheidung durch die ständige Verwendung des Gefahrbegriffs erahnen, welches Kriterium herangezogen wird, um unabhängig von der Frage eines Regelverstoßes die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens festzustellen, so ist ein wenige Monate zuvor ergangenes Urteil desselben Senats wesentlich eindeutiger. 137 Auch in diesem Verfahren war zu klären, ob ein Überhol Vorgang als fahrlässige Tötung zu werten war, im Unterschied zur vorerwähnten Entscheidung lag jedoch hier ein Verstoß gegen die genannte StVO Regelung vor. Gleichwohl schloß sich der BGH der Meinung der Vorinstanz, die freigesprochen hatte, an und stellte dabei genau wie in der Entscheidung im 5. Band darauf ab, daß ein Regelverstoß nicht das letzlich entscheidende Kriterium sein könne. Als maßgeblich erachtete der Senat vielmehr die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung im konkreten Fall, für die der Verstoß gegen eine Sorgfaltsregel allenfalls ein Indiz sein könne. „Für den strafrechtlichen Begriff der Fahrlässigkeit im Sinne des § 222 StGB ist nicht allein entscheidend, ob die polizeilichen Verkehrsvorschriften befolgt worden sind oder nicht. Die Voraussehbarkeit hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab und ist unabhängig davon zu prüfen, ob eine strafbare Verkehrsübertretung vorliegt. Weder begründet eine solche Übertretung für sich allein und notwendig den Vorwurf der Fahrlässigkeit, noch wird dieser Vorwurf durch die Einhaltung der Verkehrsvorschriften unbedingt ausgeschlossen. Freilich geben die Verkehrsvorschriften durch die Erfahrungen, die in ihnen niedergelegt sind, im Einzelfall einen wichtigen Anhalt für die Beurteilung der Vorhersehbarkeit. Denn sie sind das Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren; sie besagen schon durch ihr Dasein, daß durch ihre Übertretung die Gefahr eines Unfalls im Bereiche der Möglichkeit liegt. Die Übertretung gestattet deshalb häufig den Schluß auf die Voraussehbarkeit des Erfolges, selbst wenn die Verkehrslage einen bestimmten Anhalt für die Gefahr eines Unfalls nicht enthielt." 138 Liest man beide Entscheidungen im Zusammenhang, so wird deutlich, daß zumindest für den 3. Strafsenat des BGH die SorgfaltsWidrigkeit eines Verhaltens 136 BGHSt 5, 274. 137 BGHSt 4, 182. 138 BGHSt 4, 185. Hervorhebungen vom Verfasser. Auf der gleichen Linie liegt die Entscheidung BayObLGSt 1988, 127, deren Sachverhalt im übrigen anschaulich macht, daß es kaum vertretbar wäre, einem Verstoß gegen eine typisierte Sorgfaltsregel mehr als nur Indizwirkung beizumessen.

IV. Vorhersehbarkeit und Sorgfaltswidrigkeit

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letztlich von der Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts abhängt und daß der Verstoß gegen typisierte Sorgfaltsregeln in zwei gedanklichen Schritten zunächst Vorhersehbarkeit und weitergehend Sorgfaltswidrigkeit in bezug auf den tatbestandlichen Erfolg des jeweiligen Fahrlässigkeitsdelikts indiziert. Die überwiegende Literaturmeinung schließt sich dieser Sichtweise jedenfalls im Ergebnis an 1 3 9 , und dies ist auch folgerichtig: Gerade der Bereich typisierter Sorgfaltsregeln verdeutlicht, daß sich die für den jeweiligen Fahrlässigkeitstatbestand geforderte konkrete Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens letztlich nicht ohne Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit des Erfolges bestimmen läßt und daß Fahrlässigkeitsmodelle, die diesen Rückgriff für obsolet erklären, genau hier zum Scheitern verurteilt sind. Wer den Begriff der Sorgfalts widrigkeit zum selbständig handhabbaren Fahrlässigkeitsmaßstab deklariert und dabei auf die Vielzahl ausformulierter Verhaltensrichtlinien verweist, der steht mit leeren Händen da, wenn die Regelwirkung derartiger Richtlinien einmal nicht feststellbar ist. Der einzige Ausweg aus diesem dogmatischen Dilemma läge darin, aus dem Verstoß gegen eine solche Norm zwingend auf die fahrlässigkeitstatbestandliche Sorgfaltswidrigkeit des zugrundeliegenden Verhaltens zu schließen.140 Daß dieser Weg nicht gangbar ist, zeigt das Beispiel von Sicherheitsvorschriften im technischen Bereich, deren Zielsetzung auf der Hand liegt und die häufig in sehr eingehender Form beschreiben, wie ein Verhalten im Umgang mit einer bestimmten technischen Materie nach Auffassung des Gesetz- oder Verordnungsgebers auszusehen hat. 141 Wird das Ziel einer derartigen Vorschrift — die Erreichung eines gewissen Sicherheitsstandards — unter Übertretung der Vorschrift auf eine sehr viel effektivere Weise verwirklicht, so müßte das Ergebnis — sollte die folgenbehaftete Übertretung mehr als nur ein Indiz sein — lauten, daß ein solches Verhalten nicht der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt entspricht. Es erscheint zweifelhaft, ob ein derartiges Resultat den Betroffenen eines Strafverfahrens verständlich zu machen wäre. 142 Im Ergebnis läßt sich damit festhalten, daß gerade der Bereich typisierter Sorgfaltsregeln die Relevanz des Vorhersehbarkeitsaspekts für das Sorgfaltswi139 Vgl. die in Fn. 133 zitierten Autoren. 140 So nur Gössel, AT, Teilband 2, S. 117. 141 Exemplarisch etwa § 24 Sprengstoffgesetz, der in seinem Absatz 2 exakte Verhaltensanweisungen für die Personen gibt, die in sprengstoffverarbeitenden Betrieben tätig sind. Die Zuwiderhandlung gegen die Vorschrift ist nicht mit Sanktionen verknüpft, sie dient lediglich als Auslegungshilfe im Schadensfalle, wenn zu klären ist, ob Fahrlässigkeitstatbestände verwirklicht sind. Vgl. dazu Erbs / Kohlhaas, Anm. 2 zu § 24 Sprengstoffgesetz. 142 Anders entscheidet denn auch RGSt 57, 148, 151. Das RG verneint in dieser Entscheidung trotz Übertretung einer Sicherheitsvorschrift Fahrlässigkeit, da durch andere Vorsichtsmaßregeln möglichen Unfällen in ausreichender Form vorgebeugt wurde. „Die Übertretung einer polizeilichen Vorschrift, die als solche selbstverständlich strafbar ist, reicht für sich allein zur Begründung der Fahrlässigkeit in bezug auf den eingetretenen Unfall nicht aus; es muß stets auch in diesem Fall die Voraussehbarkeit geprüft werden." 4*

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

drigkeitsurteil deutlich macht. Wer in Verhaltensrichtlinien bestimmte Handlungsweisen beschreibt, der setzt die Erfahrung, daß das beschriebene Tun in der Regel und damit vorhersehbar zu schädlichen Erfolgen führt, in die Gesetzessprache um. Derartige Normen sind damit nichts anderes als „geronnene Vorhersehbarkeit". Sorgfaltsregeln erleichtern demnach die Feststellung, daß der Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt ist, denn ihre Übertretung liefert einen gewichtigen Anhaltspunkt dafür, daß der eingetretene Erfolg eine vorhersehbare Folge des zu bewertenden Verhaltens war. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß letztlich immer die Vorhersehbarkeit des Erfolges das entscheidende Kriterium sorgfaltswidrigen Tuns oder Unterlassens bleibt. Sorgfaltswidrigkeit und Verstoß gegen eine typisierte Sorgfaltsregel sind damit nicht gleichzusetzen. Wollte man hier anders entscheiden, so würde übersehen, daß es um zwei Stufen von Unrecht geht: auf der einen Seite der Verstoß gegen Normen, die abstrakt gefährliche Handlungen typisieren, auf der anderen Seite die wesentlich höheren Anforderungen ausgesetzte konkrete Sorgfaltswidrigkeit in bezug auf das durch die jeweilige Fahrlässigkeitsbestimmung geschützte Rechtsgut. Konkrete Sorgfaltswidrigkeit — die nicht mit der konkreten Gefährdung eines Rechtsguts bei den konkreten Gefährdungsdelikten verwechselt werden darf — bedeutet hier ein Verhalten, das gerade wegen der Erkennbarkeit des Erfolgseintritts zu diesem in einem spezifischen Bezug steht. Dort — also bei den vertypten, abstrakt gefährlichen Handlungen — ist lediglich erforderlich, daß das in Rede stehende Tun dem in der jeweiligen Norm beschriebenen und von ihr geforderten Verhalten widerspricht. 3. Vertrauensgrundsatz Ein in der Praxis eminent wichtiges Hilfsmittel bei der Beantwortung der Frage, ob ein Verhalten als fahrlässig zu bewerten ist, stellt der sog. Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr dar. Das sich hinter diesem Terminus verbergende Zurechnungsprinzip war der Sache nach bereits dem Reichsgericht bekannt, 143 wurde später als Begriff erstmals von Gülde verwendet 144 und hat dann, von der Nachkriegsjudikatur übernommen, 145 zu einer kaum noch überschaubaren Kasuistik straßenverkehrsrechtlicher Entscheidungen geführt. 146 Der Vertrauensgrundsatz besagt, daß ein Verkehrsteilnehmer, der sich selbst verkehrsgemäß verhält, davon ausgehen darf, daß auch die anderen Verkehrsteilnehmer die geltenden Verkehrsvorschriften beachten werden. Auch die nähere Betrachtung dieses Prin143 RGSt 70, 71. 144 JW 1938, 2785; vgl. dazu Schroeder in: LK, § 16 Rdn. 168 und Kirschbaum, Vertrauensschutz, S. 42 ff. 145 Vgl. etwa BGHSt 7, 118; 12, 81. 146 Eingehend dazu die in Fn. 141 genannte Monographie von Kirschbaum. Umfangreiche Rechtsprechungsnachweise finden sich bei Rüth / Berr / Berz, § 24 StVO Rdn. 42 und Jagusch, § 1 StVO Rdn. 20 ff.

IV. Vorhersehbarkeit und Sorgfaltswidrigkeit

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zips stützt die Auffassung der herrschenden Lehre zum Verhältnis der Bausteine des Fahrlässigkeitstatbestandes. An der Verwendung des Vertrauensgrundsatzes in der Praxis läßt sich recht deutlich ablesen, daß außerhalb von Definitionsbemühungen, die das Wesen der Fahrlässigkeit betreffen, nahezu selbstverständlich die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens über die Vorhersehbarkeit des Erfolgs ermittelt wird. Wer den Vorhersehbarkeitsgedanken zum zentralen Kriterium im Fahrlässigkeitstatbestand deklariert, bedarf eines strafbarkeitsbegrenzenden Korrektivs. Würde man jedes Verhalten, mit dem sich auch nur die entfernte Möglichkeit einer Schadensfolge verbindet, als sorgfaltswidrig bezeichnen, wäre nahezu jede Handlung im sozialen Raum mit unabwägbaren strafrechtlichen Risiken behaftet. Bei dem Bemühen um eine Grenzziehung kommt dem für den Bereich des Straßenverkehrs 147 entwickelten Vertrauensgrundsatz eine überragende Bedeutung zu. 1 4 8 Dabei darf jedoch die in Rechtsprechung und Lehre weitgehend akzeptierte Verwendung dieses Korrektivs nicht zu dem Schluß verleiten, ein einmal gefundenes Zwischenergebnis — Vorhersehbarkeit — würde nachträglich auf anderer Ebene durch ein diffuses, normatives Prinzip aufgehoben. Daß dem nicht so ist, zeigt schon ein etwas genauerer Blick auf die Handhabung des Vertrauensgrundsatzes durch die Rechtsprechung, der erkennen läßt, daß hier letztlich nichts anderes angestrebt wird als eine Konkretisierung des Vorhersehbarkeitsaspekts im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts. Der Vertrauensgrundsatz erlaubt ein Urteil darüber, „wie" vorhersehbar ein Erfolgseintritt sein muß, damit das ihn herbeiführende Verhalten als sorgfaltswidrig bezeichnet werden kann. Der vorerwähnte Gedanke kommt erstmals im Leitsatz der Entscheidung RGSt 70, 71 zum Ausdruck. Dort heißt es: „Wie weit hat sich der Kraftfahrer auf Unbedachtsamkeiten anderer einzurichten?" Im zugrundeliegenden Sachverhalt 147 Der Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes ist mittlerweile nicht mehr auf den Straßenverkehr beschränkt; siehe dazu Hirsch in: LK, § 230 Rdn. 6. 148 Vgl. hierzu etwa Welzel, Strafrecht, S. 132 f.; Hirsch in: LK a. a. O.; siehe auch Burgstaller, Fahrlässigkeit, S. 58 mit dem zutreffenden Hinweis, daß die in der österreichischen Rechtsprechung und Lehre mitunter anzutreffende Skizzierung des Vertrauensgrundsatzes als „Begrenzung der Vorhersehbarkeit" nicht ganz den Kern der Sache trifft. Vorhersehbarkeit läßt sich nicht begrenzen, allenfalls das „In-Rechnung-stellen-müssen" des Vorhersehbaren. — Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß der Vertrauensgrundsatz im so verstandenen Sinne nicht der einzige Aspekt ist, mit dessen Hilfe die Grenzen des erlaubten Risikos (näher zu diesem Begriff Hirsch in: LK, Vor § 32 Rdn. 32) ausgelotet werden. Bei dieser Grenzziehung greifen eine Reihe von Überlegungen ineinander, deren dogmatische Entflechtung durch das ungeklärte Verhältnis einiger in diesem Zusammenhang möglicherweise bedeutsamer Begriffe wie Gefahr, Adäquanz etc. beeinflußt wird und die im Rahmen der vorliegenden Aufgabenstellung allein schon aus Raumgründen nicht geleistet werden kann. Es soll hier zunächst einmal lediglich gezeigt werden, daß die Vorhersehbarkeit des Erfolges Mittel zur Feststellung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens ist. Zur Bedeutung des Veitrauensgrundsatzes für den Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts siehe auch Sehr oeder, YL 1989, 780.

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1. Kap.: Sorgfaltsidrigkeit und Vorhersehbarkeit

hatte ein Autofahrer, der sein Fahrzeug mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit, im vorgeschriebenen Abstand zum rechten Fahrbahnrand und auch sonst den Verkehrsregeln entsprechend führte, zwei Fußgänger angefahren, die die Straße betreten hatten, kurz bevor er ihre Position erreichte. Der Kraftfahrer wurde erstinstanzlich wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung verurteilt, wobei zur Begründung darauf abgestellt wurde, mit einem Betreten der Fahrbahn durch die geschädigten Fußgänger sei zu rechnen gewesen. Das Reichsgericht konnte sich dieser Argumentation nicht anschließen und setzte sich eingehend damit auseinander, unter welchen Voraussetzungen das genannte Verhalten der Fußgänger zu erwarten — vorhersehbar — gewesen wäre. Dabei kam es zu dem Schluß, daß ein Autofahrer im allgemeinen nicht damit zu rechnen braucht, daß erwachsene Menschen plötzlich und ohne sich vorher von der Gefahrlosigkeit ihres Tuns zu überzeugen, die Fahrbahn betreten. 149 Die Entscheidung verdeutlicht zweierlei: Zunächst zeigt sie einmal mehr, daß die Feststellung sorgfaltswidrigen Verhaltens gerade auch bei Beachtung der für den jeweiligen Bereich geltenden Verhaltens-, hier Straßenverkehrsregeln, letztlich nur über die Beantwortung der Vorhersehbarkeitsfrage erfolgen kann. 150 Darüber hinaus veranschaulicht das Urteil aber, daß das methodische Prinzip, das in der Nachkriegsjudikatur als Vertrauensgrundsatz bezeichnet wird, 1 5 1 de facto nichts anderes als eine Konkretisierung der Anforderungen ist, die an das strafbarkeitsbegründende Fahrlässigkeitselement „Vorhersehbarkeit des Erfolges" zu stellen sind. Plastischer noch als in den Fällen, in denen unter Anwendung des Vertrauensgrundsatzes die Vorhersehbarkeit verneint wird, tritt der letztgenannte Aspekt in den Entscheidungen hervor, die sich um eine Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes bemühen. 152 In einer Vielzahl von Fallkonstellationen erklärt die Rechtsprechung den Vertrauensgrundsatz für unanwendbar bzw. postuliert Ausnahmen, wobei jedoch stets der Vorhersehbarkeitsgedanke die entscheidende Rolle spielt. 153 Deutlich wird dies bereits in BGHSt 12,83. Nach dieser Entscheidung ist Vertrauensschutz dann zu versagen, wenn eine bestimmte Verkehrslage Anlaß dazu bietet, mit verkehrswidrigem Verhalten anderer zu rechnen, oder auch dann, wenn bestimmte 149 Vgl. zu diesem Urteil Kirschbaum, Vertrauensschutz, S. 21 und Martin, DAR 1946, 299, der von einem „Markstein" in der Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes spricht. 150 Siehe dazu schon oben 1. Kap. IV 2. 151 Vgl. aus einer großen Anzahl von Entscheidungen etwa BGHSt 7, 118; 8, 201; 9, 93. Materiell finden dort dieselben Kriterien Verwendung, die dem zitierten Urteil des RG zugrunde gelegen haben. 152 Rechtsprechungsübersichten zu diesem Gesichtspunkt bei Rüth I Berr / Berz, § 24 StVO Rdn. 43; Jagusch, § 1 StVO Rdn. 22 ff. 153 Eine Systematisierung der verschiedenen Fallgruppen liefert Kirschbaum, Vertrauensschutz, S. 113 ff.

V. Zusammenfassung

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Verkehrswidrigkeiten so häufig begangen werden, daß ein gewissenhafter Fahrer sie einzukalkulieren hat. Ähnliche Überlegungen gelten in einer langen Reihe von Urteilen, die sich mit dem von Kindern zu erwartenden Verhalten im Straßenverkehr auseinandersetzen und auch hier Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes vornehmen. 154 Faßt man den Tenor dieser kaum noch überschaubaren Kasuistik in einem Satz zusammen, so läßt sich festhalten, daß auf das verkehrsgerechte Verhalten anderer immer dann, aber auch nur dann vertraut werden darf, wenn keine besonderen Umstände für das Gegenteil sprechen. Jeder Leitsatz in straßenverkehrsrechtlichen Entscheidungen zum Vertrauensgrundsatz ist damit ein Beleg für die These, daß die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens nur über die Vorhersehbarkeit des Erfolges feststellbar ist.

V. Zusammenfassung In der Zusammenfassung stellt sich das Ergebnis des ersten Abschnitts der Untersuchung wie folgt dar: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit sind Elemente im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, die jedoch nicht isoliert nebeneinander stehen. Die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens wird erst über die potentielle Erfolgsvoraussicht im Handlungszeitpunkt ermittelt. Dieser Ansatz hat sich gerade in der Auseinandersetzung mit den alternativ vorgeschlagenen Konzeptionen als der überzeugendere erwiesen. Weder der Verzicht auf den Aspekt der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens noch die strikte Trennung der beiden genannten Merkmale konnten systematisch widerspruchsfrei begründet werden. Gegenüber der erstgenannten Richtung erheben sich vor allem deshalb Bedenken, weil sie letztlich auf ein das verbotene Verhalten inhaltlich bestimmendes Kriterium verzichtet und sich darüber hinaus dort als problematisch erweist, wo es um die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen einer bereits als negativ bewerteten Handlung mit einem eingetretenen Erfolg geht. Der entgegengesetzte Ansatz, also der Verzicht auf den Aspekt der Vorhersehbarkeit des Erfolges bei der Bestimmung sorgfaltswidrigen Verhaltens, sieht sich ebenfalls schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. Hier hat sich gezeigt, daß die vorgestellten Konzeptionen nicht in der Lage sind, ein abschließendes System von Kriterien zu entwickeln, welches ohne Rückgriff auf den Vorhersehbarkeitsgedanken die Beantwortung der Frage nach der Tatbestandsverwirklichung beim Fahrlässigkeitsdelikt erlaubt. Legen es schon die aufgezeigten Schwierigkeiten nahe, daß die Feststellung sorgfaltswidrigen Verhaltens letztlich nur über das Kriterium der potentiellen Erfolgsvoraussicht zu ermitteln ist, so verdeutlicht sich dieser Befund beim Blick 154 Exemplarisch hierzu etwa BGH VRS 24, 200. Zahlreiche weitere Rechtsprechungsnachweise zu diesem Punkt bei den in Fn. 149 genannten Autoren sowie bei Hirsch in: LK, § 230 Rdn. 30.

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1. Kap.: Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit

auf die rechtshistorische Entwicklung der Fahrlässigkeitslehre sowie auf die Handhabung der in Rede stehenden Merkmale durch die Rechtsprechungspraxis. Hier hat sich gezeigt, daß auch im weiteren historischen Zusammenhang die Vorhersehbarkeit des Erfolges stets der maßgebliche Aspekt bei der Feststellung der Sorgfaltwidrigkeit war. Entsprechendes gilt im wesentlichen für die aktuelle Judikatur. Diese deklariert selbst in Bereichen, in denen explizite Sorgfaltsregeln bestehen, die Vorhersehbarkeitsfrage zum letztlich entscheidenden Kriterium. Schließlich ist auch der in der Praxis sehr bedeutsame Vertrauensgrundsatz Beleg für die Überzeugungskraft der These, daß ein Verhalten nur dann sorgfaltswidrig sein kann, wenn der Erfolgseintritt im Handlungszeitpunkt vorhersehbar war. Auf dieser Grundlage kann nun im folgenden Kapitel der Frage nachgegangen werden, anhand welchen Maßstabs Vorhersehbarkeit und damit letztlich Sorgfaltswidrigkeit zu überprüfen sind: Ist ein sorgfaltswidriges Verhalten nur dann gegeben, wenn die konkret handelnde Person den drohenden Erfolg vorauszusehen in der Lage war oder ist das Vorhersehbarkeitsurteil nach objektiven Kriterien zu bemessen?

2. Kapitel

Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe „Wer sich mit dem Motiv zur Erfolgsvermeidung nicht zur Erfolgsvermeidung motivieren kann, kann kein Verletzungsdelikt übertreten, da dieses mehr als ein Motiv zur Erfolgsvermeidung nicht bezwecken kann, ohne nutzlos zu werden." 1 „Die Lehre von der objektiven Sorgfaltswidrigkeit kann nicht überzeugen, weil sie einen einigermaßen brauchbaren Maßstab für die Konstruktion des Leitbildes des »einsichtigen Menschen4 nicht abzugeben und auch die Notwendigkeit für die Zwischenstufe der objektiven Sorgfaltswidrigkeit nicht zu begründen vermag." 2 Das erste Zitat soll die normtheoretische Notwendigkeit eines subjektiven Maßstabs im Unrecht des Fahrlässigkeitsdeliktes untermauern, das zweite die mangelnde Praktikabilität eines objektiven Ansatzes begründen. Ob beides zutrifft, wird im folgenden untersucht. Dabei soll zu Beginn in einem kurzen Abriß die Entwicklung des Fahrlässigkeitsbegriffs in den vergangenen Jahrzehnten skizziert werden, da sich ohne den historischen Bezug die in jüngerer Zeit vertretenen subjektiven Fahrlässigkeitskonzepte — welche im Anschluß darzustellen sind — nicht angemessen würdigen lassen. In der darauf folgenden kritischen Auseinandersetzung mit der subjektiven Richtung soll dann zunächst die Frage aufgeworfen werden, ob sich aus Finalität der Handlung oder aus der Personalität des Unrechts Folgen für den Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ergeben. Im Anschluß daran ist zu untersuchen, ob sich aus dem Problembereich erhöhter individueller Fähigkeiten Einwände gegen eine Fahrlässigkeitslehre ergeben, die sich an objektiven Maßstäben orientiert. Letztlich darf auch die Frage nicht vernachlässigt werden, ob die subjektive Richtung auf dem Boden der geltenden Rechtsordnung zu tragfähigen Ergebnissen führt. Dies soll am Ende dieses Kapitels geklärt werden.

1 2

Jakobs , Studien, S. 66. Samson, SK, Anhang zu § 16 Rdn. 13.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

I. Die Entwicklung des Merkmals der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens in der Fahrlässigkeitsdogmatik seit der Jahrhundertwende Die im 19. Jahrhundert um die Einordnung der Fahrlässigkeit als Schuldform geführte Diskussion hatte zu Beginn dieses Jahrhunderts einen vorläufigen Abschluß gefunden. Das auf Beling zurückgehende klassische Strafrechtssystem stand zu dieser Zeit in voller Blüte. Die Fahrlässigkeit schien dabei ihren systematischen Standort gefunden zu haben. „Die Kulpa ist eine Schuldform und als solche dem Vorsatz an die Seite zu stellen", schrieb Exner im Jahr 1910 und formulierte damit die herrschende Auffassung seiner Zeit. 3 Differenziert wurde allerdings schon zum damaligen Zeitpunkt. Im Begriff der Fahrlässigkeit sah man zwei Momente vereinigt: Einerseits den Mangel an Vorsicht bei der Willensbetätigung, nämlich die nach objektiven Kriterien bestimmte Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt, und andererseits den Mangel an Voraussicht, worunter man die Möglichkeit des Handelnden verstand, den Erfolg als Wirkung der Körperbewegung vorauszusehen.4 Hinsichtlich der Lozierung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt deutete sich aber bereits in der Monographie Exners eine Verschiebung der Perspektive an. „Wer tut, was der Verkehr erfordert, ist schon deshalb von jeder Verantwortung frei, wenn auch sein Tun mit gewissen Gefahren verknüpft ist, die er wohl erkennt oder zu erkennen imstande ist. Es handelt sich um das Problem der Rechtswidrigkeit, mit dem der Schuld in diesem Punkt untrennbar verknüpft." 5 In seinen im Jahr 1930 erschienenen „Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit" nahm sich Engisch ausführlich der systematischen Stellung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit an und entwickelte den vorerwähnten Ansatz weiter. 6 Aufgrund normtheoretischer Überlegungen kam er zu dem Ergebnis, daß die Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt bereits eine Eigenschaft der Tatbestandsverwirklichung sei und die Einhaltung des erlaubten Risikos einen Unrechtsausschließungsgrund darstelle. 7 Relativiert wurde dieser Fortschritt allerdings dadurch, daß Engisch es für unschädlich erklärte, „in der gewohnten Weise von der Versäumung der gebotenen Sorgfalt in unmittelbarem Zusammenhang 3 Das Wesen der Fahrlässigkeit, S. 212; vgl. auch Beling, Grundzüge, S. 51; v.Liszt, Lehrbuch, 14. u. 15. Aufl. 1905, S. 182; y.Hippel, Strafrecht II, S. 351 ff.; Frank, StGB, § 59 Anm. VII. Zur Entwicklung des Fahrlässigkeitsbegriffs in den vergangenen Jahrzehnten vgl. Jakobs, Studien, S. 56 ff.; ders., AT, S. 261 Fn. 12. 4 v. Liszt, Lehrbuch, S. 183; ähnlich Frank, Strafgesetzbuch, 18. Aufl. 1931, § 59 Anm. VII 4-6. 5 Exner, Wesen, S. 193; ähnlich Kitzinger, Juristische Aphorismen, S. 35 und später v. Weber, Grundriss, S. 83 ff. Vgl. dazu Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 10; Schünemann, JA 1975, 438. 6 Dazu Bohnert, ZStW 94 (1982), 68. 7 Untersuchungen, S. 341, 344.

I. Fahrlässigkeitsdogmatik seit der Jahrhundertwende

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mit dem Fahrlässigkeitsbegriff 4 zu sprechen.8 Welzel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Engisch mit letzterem die Fahrlässigkeit als Schuldform meinte und somit im Ergebnis noch nicht die vollständige Trennung zum herkömmlichen Fahrlässigkeitsverständnis vollzog. 9 Im Vergleich zur Untersuchung Engischs wirken die Einwände, die Welzel 1939 der überkommenen Fahrlässigkeitsdoktrin entgegensetzte, ungleich massiver. Die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt sei bereits im Unrechtstatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte zu berücksichtigen, eine bloß kausale Rechtsgutverletzung könne niemals tatbestandliches Unrecht verwirklichen. 10 Welzel ging aber noch weiter. Der Verstoß gegen objektive Sorgfaltsanforderungen stelle nur die Überschreitung der untersten Grenze möglichen tatbestandsmäßigen Verhaltens dar. Gefordert werden müsse daneben — und dies ist im vorliegenden Zusammenhang bedeutsam —, daß die Verursachung für den konkreten Täter vermeidbar war, was dann der Fall sei, wenn dieser die Möglichkeit der finalen Voraussicht des Erfolges gehabt habe.11 Mit dem skizzierten Standpunkt Welzeis hat sich zu Beginn der fünfziger Jahre Niese auseinandergesetzt.12 Seine Kritik bezog sich vor allem auf den Begriff der „potentiellen Finalität" 13 , der im bis dahin vertretenen Fahrlässigkeitskonzept Welzeis eine entscheidende Rolle spielte. Dieser entwickelte daraufhin seine Auffassung zum Fahrlässigkeitsdelikt fort. Er schloß sich der Erkenntnis Nieses an, daß auch der Fahrlässigkeit eine aktuell finale Handlung zugrunde liege. Die Struktur der Fahrlässigkeitdelikte war nach den Untersuchungen Nieses und Welzels in der Form erkannt, wie sie der heute herrschenden Meinung entspricht: Der Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts beinhaltet die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, welche durch die objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges bestimmt werde. Dagegen sei es eine Frage der Schuld, ob der Handelnde auch individuell den drohenden Erfolg vorauszusehen in der Lage ist. 14 8

Untersuchungen, S. 346. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 10; es geht deshalb vielleicht etwas weit, mit Bohnert, ZStW 94 (1982), 68 die Arbeit Engischs als den „Wendepunkt" zu bezeichnen, insbesondere, da sie bis in die Nachkriegszeit ganz unbeachtet blieb. Erst von Welzel wurde a. a. O. auf die Ergebnisse Engischs hingewiesen. 10 Welzel, ZStW 58 (1939), 558 f. 11 Ebd. 12 Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1951. 13 Finalität, S. 43. 14 Welzel, Strafrechtssystem, 3. Aufl. 1957, S. 32, 53; ders. Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 30 ff.; ders., Strafrecht, S. 131 ff. Es wurde im 1. Kapitel bereits ausgeführt, daß sich die Befürworter eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs unterschiedlich äußern, was die nähere Ausgestaltung des Unrechtstatbestandes anbelangt. Insbesondere das Verhältnis der Merkmale Sorgfaltswidrigkeit und Vorhersehbarkeit ist dabei streitig. Einigkeit besteht jedoch innerhalb dieser Gruppe im Hinblick auf die Zuordnung der objektiven und subjektiven Elemente zu den Stufen des Deliktsaufbaus. Vgl. Blei, Strafrecht I, S. 296 ff.; Bockelmann I Volk, AT, S. 157 ff.; Bohnert, ZStW 94 (1982), 68; 9

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Betrachtet man die skizzierte Entwicklung in ihrer Gesamtheit und richtet dabei das Augenmerk auf den Umstand, daß die „Wanderungsbewegung" der objektiven Sorgfaltsverletzung aus der Schuld in den Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts unter weitestgehender Billigung des Schrifttums ihren Abschluß gefunden hat, so drängt sich die Frage auf, ob das Wiederaufgreifen des ursprünglichen Konzepts Welzeis durch Stratenwerth und Jakobs nicht eine folgerichtige Weiterführung ist. Ist es nicht gerade unter Zugrundelegung der finalen Handlungslehre bzw. des auf ihr aufbauenden personalen Unrechtsverständnisses zwingend, das Unrecht der fahrlässigen Straftat stärker zu subjektivieren und mithin das Voraussehenkönnen durch den individuellen Täter zum Tatbestandserfordernis zu machen? Um die Frage beantworten zu können, bedarf es zunächst einer etwas genaueren Darstellung der Thesen, die zur Begründung der subjektiven Lehre aufgestellt worden sind.

I I . Fahrlässigkeitskonzepte subjektiver Prägung 1. Jakobs Das von Jakobs konzipierte Fahrlässigkeitsmodell basiert auf einem umfangreich begründeten, normtheoretischen Ansatz, den er als Fortführung der von Welzel geprägten Unrechtslehre begreift. 15 Als Ausgangspunkt und zentrales Kriterium dient ihm hierbei der Aspekt der „Vermeidbarkeit", in welchem er den Oberbegriff normwidrigen Verhaltens überhaupt 16, also auch den Oberbegriff vorsätzlichen und fahrlässigen Handelns, sieht. 17 Dies bleibt nicht ohne Einfluß auf sein Handlungsverständnis: „Eine Handlung ist eine vermeidbare Erfolgsherbeiführung, wobei Erfolg schon der Vollzug einer Körperbewegung ist (Tätigkeitsdelikte), oder aber eine Folge über diese Bewegung hinaus (Erfolgsdelikte)." 18 Jakobs gewinnt dem Vermeidbarkeitsgedanken darüber hinaus noch eine Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 31 ff.; Cramer in: Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 133 ff.; Hirsch, ZStW 94 (1982), 266 ff.; dersFestschrift Rechtswiss. Fakultät Köln, S. 410 f.; Jescheck, AT, S. 508 ff.; Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 45; Lackner, StGB, § 15, Anm. III 2 a; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 104 ff.; Sehr oeder in: LK, § 16 Rdn. 144 ff.; Schünemann, JA 1975, 439, 512; Wessels, AT, S.202f.; Wolter, GA 1977, 257 f.; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 168 ff. Als bloße Schuldform wird die Fahrlässigkeit heute nur noch vereinzelt gesehen, vgl. etwa Baumann / Weber, AT, S. 428 ff. Einen Überblick zur Situation im ausländischen Recht gibt Jescheck a. a. O. S. 519. Der Standpunkt der Rechtsprechung ist unklar. Meist wird nicht zum Ausdruck gebracht, auf welcher Stufe des Deliktsaufbaus die Fahrlässigkeitsfrage zu stellen ist. Teilweise finden sich jedoch Entscheidungen, nach denen bereits vor der Ebene der Schuld die Fahrlässigkeitsfrage zu stellen sein soll. Vgl. etwa OLG Köln, NJW 1963, 2381; OLG Saarbrücken, VRS 47, 343; OLG Koblenz, JR 1984, 422. 15 Welzel-Festschrift, S. 308; Studien, S. 34 ff. 16 So ausdrücklich Welzel-Festschrift, S. 314. 17 AT, S. 118. 18 AT, S. 637.

II. Fahrlässigkeitskonzepte subjektiver Prägung

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normtheoretische Komponente ab: Wer sich mit dem Motiv zur Erfolgsvermeidung nicht zur Erfolgsvermeidung motivieren kann, kann kein Verletzungsdelikt übertreten, da dieses mehr als ein Motiv zur Erfolgsvermeidung nicht bezwecken kann, ohne nutzlos zu werden. 19 Als eine Fortführung der Gedankengänge Welzeis kann dies insoweit verstanden werden, als Jakobs das bereits von Welzel 20 betonte „kybernetische" Moment der Handlung aufgreift, es aber anders als dieser eng mit dem Vermeidbarkeitsaspekt verknüpft. „Kein Erfolg ist gesteuert, weil er gewollt ist, sondern weil er als gewollter Erfolg vermeidbar ist, und kein Erfolg ist bewußt steuerbar, weil er vorausgesehen wird, sondern weil er als vermeidbarer Erfolg vorausgesehen wird." 2 1 Die enge Verknüpfung des Vermeidbarkeitsaspekts mit dem der Handlungssteuerung kommt pointiert zum Ausdruck, wenn er anmerkt, die Nivellierung der durch die Vermeidbarkeit bestimmten Handlungssteuerung führe dazu, daß das Subjekt im Standard verschwinde und nicht als Subjekt, sondern lediglich „als Phantom des Normalbegabten" 22 für die Unrechtsbewertung interessant werde. Derartiges möge im Zivilrecht eine tragfähige Basis abgeben, im Strafrecht könne ein solcher Ansatz nicht überzeugen. 23 „Das Strafrecht garantiert kein Vertrauen auf gleiche Fähigkeiten bei der Gestaltung von Handlungsvollzügen, sondern garantiert Vertrauen darauf, daß die mit der Handlung gewählten Entwürfe der Weltgestaltung rechtskonform sind, mit anderen Worten, daß die rechtlichen Normen stets dominantes Motiv sind. Was auf Grund des dominanten Motivs beim einzelnen Menschen an Handlungsvollzügen herauskommt, hängt von der individuellen Fähigkeit zur Handlungsteuerung ab. Wenn schon die Möglichkeiten zur individuellen Handlungssteuerung versagen, der einzelne also unvermeidbar (nicht einmal fahrlässig) einen Erfolg, etwa eine Tötung verursacht, fehlt ein Sinnausdruck des Inhalts, daß eine Tötung sein soll (Vorsatz) oder nicht in Acht zu nehmen sei (Fahrlässigkeit); es fehlt also ein nicht rechtskonformer Weltentwurf, und die Norm ist nicht verletzt." 24 Im Ergebnis habe man damit innerhalb des Handlungsbegriffes die Handlungssteuerung nach den individuellen Fähigkeiten des Täters zu bestimmen. Die finale Handlungslehre erreiche dies im Vorsatzbereich, da sie dort die in der Finalität steckende Vermeidbarkeit als zentrales Kriterium erfassen könne. Allerdings sei die Übertragung dieser Erkenntnis auf das Fahrlässigkeitsdelikt bisher nicht gelungen.25 19 Studien, S. 66. 20 Strafrecht, S. 37. 21 Studien, S. 39. 22 Ähnlich Otto, Grundkurs, S. 206. Er wirft der h. L. vor, eine aus Gedankengängen des spekulativen Idealismus ins Recht hineinragende Kunstfigur zum Normadressaten zu machen. 23 AT, S. 116. 24 AT, S. 116. 25 AT, S. 117.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Die Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre mit der Fahrlässigkeit, die seiner Meinung nach dann bestehen, wenn man das Sorgfaltswidrigkeitsurteil anhand objektiver Kriterien bestimmt, versucht Jakobs anhand eines Beispiels aufzuzeigen: „Wenn bei identischer Gestaltung des Handlungsvollzuges ein Stein, der durch die Wucht des Falls einen Menschen voraussehbar tötet, von einem Weg bergab gestoßen wird, so ist das nach dieser Lehre 26 eine fahrlässige Tötungshandlung, gleich ob der Täter auf ein anderes Objekt zielte oder nur sehen wollte, wie weit der Stein rollt oder nur aus dem Weg räumen wollte oder erproben wollte, ob er es leistet, ihn vom Weg fortzuräumen etc." 27 Die finale Handlungslehre sei hier zwar in der Lage, den Handlungsvollzug in seiner Finalität zu erfassen, nicht jedoch das Unrecht des Tuns. Denn es sei ja „das Finale am finalen Handlungsvollzug mit den voraussehbaren Folgen eines Fahrlässigkeitstatbestandes nicht wegen der Finalität das Unrechte, sondern wegen der finalen Vermeidbarkeit." 28 Der Unrechtstatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts ist nur dann verwirklicht, wenn der Täter infolge seiner individuellen Fähigkeiten die Tatbestandsverwirklichung zu erkennen vermag. — Dies ist, in Kürze formuliert, die These, die Jakobs für den Bereich der Fahrlässigkeit aus seinen voranstehend skizzierten, grundsätzlichen Überlegungen ableitet. Zur Begündung seines Standpunkts begnügt er sich allerdings nicht mit dem Hinweis auf die schon erörterten Gesichtspunkte, er stützt sein Konzept darüber hinausgehend durch eine kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden Lehre, die den unrechtskonstituierenden Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anhand objektiver Kriterien feststellen will. 2 9 Hierbei merkt er zunächst an, daß die objektive Bestimmung der Voraussehbarkeit vielfach überflüssig sei. Könne nämlich der konkrete Täter das objektive Urteil subjektiv nachvollziehen, so bleibe das Ergebnis — nämlich Strafbarkeit — gleich, wobei der Frage des dogmatischen Standorts keinerlei Entscheidungsrelevanz zukomme. Aus derartigen Fallkonstellationen ließen sich mithin keine Vorteile eines objektiven Fahrlässigkeitsverständnisses ablesen.30 Vorteile zugunsten der herrschenden Lehre seien aber auch dann nicht erkennbar, wenn der subjektive Nachvollzug nicht möglich sei und so die rivalisierenden Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Bejahung schon des Unrechtstatbestandes kommen. Insbesondere lasse sich hier für eine objektive Ausgestaltung des Fahrlässigkeitstatbestandes nicht ins Felde führen, nur auf

26 Er meint damit ein auf der finalen Handlungslehre aufbauendes Fahrlässigkeitsverständnis, das die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anhand objektiver Kriterien bemißt. 27 AT, S. 112. 28 Ebd. 29 AT, S. 258 ff; vgl. auch Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45. 30 AT, S. 262.

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diese Weise könnten im Bereich der Maßregeln und des Vollrauschtatbestandes überzeugende Ergebnisse erzielt werden. Wer auf diese Weise Vorzüge einer Fahrlässigkeitslösung reklamiere, die das Sorgfaltswidrigkeitsurteil anhand objektiver Kriterien bemißt, stütze seine Argumentation auf eine „nur-begriffsjuristische Konstruktion". Der Begriff der Rechtswidrigkeit sei im Maßregelrecht anhand dessen Regelungszweck zu bestimmen. Dabei könnten sich durchaus Objektivierungen auch im Bereich der Fahrlässigkeit ergeben. Was den Vollrauschtatbestand anbelange, so gehe es dort allein um Schuldfähigkeit. Daraus folge, daß „ein Verzicht auf ein Schuldmerkmal der individuellen Voraussehbarkeit . . . schon nach dem Wortlaut von § 323 a StGB ausgeschlossen und . . . auch allenfalls im Bereich rauschbedingter Unfähigkeit sachgerecht" wäre. 31 Jakobs führt desweiteren aus, der Verzicht auf den subjektiven Nachvollzug des objektiven Sorgfaltswidrigkeitsurteils verwandele Verletzungsdelikte in subjektiv-abstrakte Gefährdungsdelikte. Nach der herrschenden Lehre könne dasjenige, was als Erkennbares Fahrlässigkeit begründet, als Erkanntes keinen Vorsatz bilden. Zum Beleg dieser These dient ihm das Beispiel eines Arztes, der eine Therapie anwendet, von deren Wirksamkeit er überzeugt ist, die jedoch, was ihm bewußt ist, nach allgemeiner Anschauung der lex artis widerspricht. Die beim Patienten zur Überraschung des Arztes auftretenden Verletzungsfolgen könnten mangels Erkennbarkeit nicht den Vorwurf vorsätzlichen Handelns begründen. Wie aber, so fragt Jakobs, könne dann „die Erkennbarkeit des Verstoßes gegen die lex artis ohne die Erkennbarkeit der Folgen Fahrlässigkeit begründen." 32 Schließlich — und dies ist ein Argument, das auch bei anderen Vertretern der subjektiven Richtung Verwendung findet — zeige die objektive Lehre Schwächen bei der Problematik erhöhter individueller Fähigkeiten. Lege die objektive Sorgfalt die obere Haftungsgrenze fest, so habe dies zur Folge, daß der begnadete Chirurg auch „normal" operieren dürfe oder der ortskundige Fahrer die ihm als besonders gefährlich bekannte Kreuzung nicht anders befahren müsse als der Ortsfremde. 33 Man schaffe auf diese Weise ein nicht vertretbares erlaubtes Risiko, eine Handlungsfreiheit trotz qualifizierter Vermeidbarkeit. Dem sei nur durch die Berücksichtigung des „Sonderwissens" und „Sonderkönnens" im Einzelfall zu entgehen; dies im Rahmen eines objektiven Sorgfaltskonzepts zu praktizieren, bedeute jedoch, den eigenen begrifflichen Vorgaben untreu zu werden. 34

31 Ebd. 32 AT, S. 263. 33 So Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45; vgl. dazu auch AT, S. 263. 34 In diese Richtung Studien, S. 55 f.

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2. Stratenwerth Stratenwerth sieht den Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdeliktes dann als erfüllt an, wenn eine Handlung aufgrund einer über das erlaubte Risiko hinausgehenden Rechtsgutsgefährdung, welche der Täter hätte ausschließen können, einen Erfolg verursacht. Ähnlich wie Jakobs begründet Stratenwerth die Subjektivierung der Anforderungen im Unrechtstatbestand einerseits mit normtheoretischgrundsätzlichen Überlegungen, andererseits weist auch er auf vermeintliche Konsequenzen der herrschenden Lehre hin, die er für wenig überzeugend hält. 35 Als zentrales Argument dient ihm der Gedanke, daß nur die Subjektivierung der Maßstäbe schon im Unrechtstatbestand einen Verstoß gegen den Grundsatz des ultra posse nemo obligatur im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte zu verhindern in der Lage sei. Er leitet dies aus einer Parallele zu den Unterlassungsdelikten ab. Auch dort sei es nach einhelliger Auffassung so, daß der Täter fähig sein müsse, sich in der rechtlich gebotenen Weise zu verhalten. Nicht anders könnten die Dinge bei der Tatbestandsmäßigkeit fahrlässigen Verhaltens liegen, was das Beispiel eines Autofahrers deutlich mache, dessen Reaktionsvermögen infolge fortgeschrittener Zerebralsklerose erheblich herabgesetzt ist: Wie beim Unterlassungsdelikt könne das Gebot nur dahin gehen, das mögliche zu tun; es sei nicht einzusehen, daß derjenige, der die Norm zu befolgen nicht in der Lage sei, den Unrechtstatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllen könne. 36 Stratenwerth geht nicht so weit, daß er generelle Sorgfaltsregeln zur Konkretisierung der Fahrlässigkeitstatbestände für obsolet erklärt. Zur Bestimmung der Grenze des erlaubten Risikos behielten sie durchaus ihren guten Sinn. Richte man allerdings die Frage nach dem Sorgfaltsverstoß ausschließlich anhand objektiver Kriterien aus, so könne ein derartiges Vorgehen nicht nur zu einer Benachteiligung des zur Normbefolgung untauglichen Täters führen, sondern auf der anderen Seite den besonders Befähigten unangebracht privilegieren. 37 Stratenwerth bedient sich hier der gleichen Argumente wie Jakobs 38, reichert seine Begründung aber auch an dieser Stelle durch eine Gegenüberstellung mit der Situation bei den Unterlassungsdelikten an: Beim hervorragenden Schwimmer, der seiner vom Ertrinkungstod bedrohten Ehefrau nur mit durchschnittlichen Schwimmkünsten und damit verspätet zu Hilfe kommt, würde niemand die Strafbarkeit bezweifeln. Diese Erkenntnis müsse auf das fahrlässige Begehungsdelikt übertragen werden; der besonders Befähigte habe „nicht ein besonderes Maß an Anstrengung, an moralischer Energie zu erbringen, sondern eben nur seine Fähigkeiten anzuwenden." 39 35 AT, Rdn. 1096 ff. 36 AT, Rdn. 1097. Auf die Kritik an dieser Argumentation hat Stratenwerth in einer Replik — Jescheck-Festschrift, S. 285 — reagiert. Auf die kritischen Stimmen und Statenwerths Erwiderung wird unter IV. noch einzugehen sein. 37 AT, Rdn. 1098. 38 Vgl. oben 2. Kap. II 1.

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3. Samson und Otto Samson40 und Otto 41 haben sich dem von Jakobs und Stratenwerth konzipierten Fahrlässigkeitsmodell im Ergebnis und im wesentlichen auch in der Begründung angeschlossen. Insbesondere bei Samson finden sich jedoch einige bemerkenswerte konzeptionelle und argumentative Abweichungen. So fällt zum einen auf, daß Samson die von Stratenwerth gezogene Parallele zu den Unterlassungsdelikten für verfehlt hält. 42 Er schließt sich hier der Kritik Armin Kaufmanns 43 an. Dieser hatte eingewendet, daß der Blick auf die Unterlassungsdelikte für die Frage der Ausgestaltung des Sorgfaltsmaßstabs bei der Fahrlässigkeit nichts hergebe, weil der Handelnde zur Unterlassung der ihm verbotenen sorgfaltswidrigen Handlung allemal in der Lage sei. Auffälliger als diese Dissonanz im subjektiven Lager sind jedoch die widersprüchlichen Aussagen zu der Frage, ob man objektive Kriterien bei der Feststellung des Unrechts einer fahrlässigen Straftat überhaupt in die Bewertung einzubeziehen habe und inwieweit ein derartiges Vorgehen praktikabel erscheint. Heißt es hierzu — wie bereits angesprochen — bei Stratenwerth, allgemeine Sorgfaltsregeln behielten durchaus ihren guten Sinn, so nimmt Samson den diametral entgegengesetzten Standpunkt ein: Die herrschende Lehre könne deshalb nicht überzeugen, weil sie nicht in der Lage sei, einen brauchbaren Maßstab zur Bemessung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit zu konstruieren und darüber hinaus keinen Grund dafür anführen könne, warum diese Zwischenstufe überhaupt notwendig sei. 44 Zum Beleg seiner These von der Inpraktikabilität objektiver Sorgfaltsbemessung setzt sich Samson mit dem Vorgehen der herrschenden Lehre auseinander, die nicht auf einen einheitlichen, auf alle nur denkbaren Fallkonstellationen gleichförmig anwendbaren Maßstab abstellt, sondern die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nach Verkehrskreisen differenziert. „Wenn versucht wird, den objektiven Sorgfaltstyp an dem Leitbild eines umsichtigen Verkehrteilnehmers zu orientieren, so muß dieses Unternehmen, eine mittlere Linie zwischen höchster Abstraktion und rein täterbezogener Konkretisierung der Sorgfalt zu finden, mangels eines geeigneten Maßstabs scheitern. Warum die Sorgfaltswidrigkeit eines 50jährigen, kurzsichtigen und farbenblinden Autofahrers, der erst kürzlich die Fahrerlaubnis erworben hat und an übergroßer Schreckhaftig39 A T , Rdn. 1098. 40 SK, Anhang zu § 16, Rdn. 9 ff. 41 Grundkurs, S. 206 f. 42 SK, Anhang zu § 16, Rdn. 14 a. 43 ZfRV 1964, 46 f. 44 SK, Anhang zu § 16, Rdn. 13. Ob in Samsons Konzept diese These überhaupt konsequent durchgehalten wird, steht auf einem anderen Blatt. Er erkennt nämlich die Relevanz des erlaubten Risikos an, über dessen (objektiven?) Abwägungsmaßstab sich allerdings kaum Konkretes sagen lasse. 5 Kaminski

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

keit leidet, am Leitbild eines durchschnittlichen, besonnenen Teilnehmers am Straßenverkehr gemessen werden soll, läßt sich kaum begründen. Ebenso ließe sich der Verkehrskreis kleiner oder größer schneiden oder gar behaupten, maßgebend sei der Verkehrskreis aller 50jährigen, kurzsichtigen, farbenblinden und besonders schreckhaften Autofahrer, die ihre Fahrerlaubnis soeben erworben haben." 45 Die Konkretisierung objektiver Sorgfaltsmaßstäbe mit Hilfe des Phänomens „Verkehrskreis" hält Samson aber nicht nur deshalb für bedenklich, weil ihm hierbei eine sinnvolle Grenzziehung als undurchführbar erscheint. Schwierigkeiten vermutet er auch dann, wenn es um die Bewertung von Verhaltensweisen in Bereichen geht, in denen sich noch kein Verkehrskreis gebildet hat. Dies sei im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung leicht denkbar, und die herrschenden Lehre stünde hier vor dem Problem, nachvollziehbare Kriterien der Sorgfaltsbemessung nicht angeben zu können. 46

4. Struensee Eine bemerkenswerte Variante zu den bereits skizzierten Individualisierungstendenzen stellt der in jüngerer Zeit von Struensee unternommene Versuch dar, die Fahrlässigkeitsdogmatik auf eine subjektive Grundlage zu stellen. Zwar ist auch nach Struensees Konstruktion die Erkenntnismöglichkeit der handelnden Personen entscheidend, allerdings hat sich bei ihm das potentielle Täterwissen nicht auf den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges zu beziehen.47 Anlaß seines Beitrages ist die auch von anderer Seite 48 schon häufig geäußerte Vermutung, die finale Handlungslehre habe im Bereich der Fahrlässigkeit ihren „wunden Punkt". Struensee schließt sich dieser Sichtweise an und sieht seine Eingangsthese insbesondere im Hinblick auf das sog. Sonderwissen bestätigt, mit dem die herrschende Fahrlässigkeitsdoktrin „unbekümmert um die Systemwidrigkeit" subjektive Elemente der objektiven Sorgfaltsverletzung zugrundelege. 49 Ausgehend von diesem Befund leitet er den ersten Schritt seiner Beweisführung durch eine Zusammenstellung einiger Kernthesen der finalen Handlungslehre sowie der Konsequenzen ein, die er aus der Erkenntnis der Finalität der Handlung für den Begriff des Unrechts glaubt ziehen zu müssen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß der Handlungsunwert, der durch die personale Unrechtslehre in den Vordergrund der Diskussion gerückt wurde, sich in einem „Intentionsunwert"

45 SK, Anhang zu § 16, Rdn. 13. 46 Ebd. 47 JZ 1987, 53 ff. und 541 ff.; ders., GA 1987, 97. 48 Vgl. etwa.Bockelmann / Volk, AT, S. 47; Jescheck, AT, S. 199; jeweils mit weiteren Nachweisen. 49 JZ 1987, 53.

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erschöpfe. Dieser „Intentionsunwert" kennzeichne das Verhaltensunrecht aller Deliktsarten gleichermaßen, so daß auch das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts dadurch charakterisiert sei, daß mittels einer Handlung eine unwertiges Ziel intendiert werde. Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt seien insoweit im Unrechtsbereich strukturell identisch. 50 Im Anschluß beschäftigt sich Struensee mit der Frage, ob das, was bisher in der Lehre zur Fahrlässigkeit geäußert worden ist, in das von ihm gezeichnete Bild der personalen Unrechtslehre paßt. 51 In diesem Zusammenhang stellt er fest, daß es keinem der Vertreter der finalen Handlungslehre geglückt sei, eine konsequent auf dem eigenen Ansatz aufbauende Fahrlässigkeitskonzeption zu entwickeln. Am Ende seiner kritischen Bestandsaufnahme meint Struensee dann bewiesen zu haben, daß „die folgerichtig zu postulierende Identität der Struktur der subjektiven Seite des Unrechts von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt" in den bisherigen Deutungen des Fahrlässigkeitsunrechts keinen Niederschlag finde. 52 Diesen Zustand empfindet Struensee als Inkonsequenz im Konzept der personalen Unrechtslehre und bemüht sich infolgedessen um Abhilfe. Ausgehend von der Tatsache, daß sich im Fall der Fahrlässigkeit die Finalität des Handelnden nicht auf den gesetzlich umschriebenen Erfolg bezieht, begibt er sich auf die Suche nach einem anderen unwertigen Sachverhalt, der dadurch gekennzeichnet sein müsse, daß das Täterhandeln in intentionaler Beziehung zu ihm steht.53 Den gesuchten anderen Sachverhaltsunwert 54 findet er in einer bisher unbekannten Größe, die er als „Risikosyndrom" bezeichnet. Um diesen Begriff kreisen im folgenden drei Fragen, denen sich Struensee in unterschiedlicher Ausführlichkeit zuwendet. 1) Was hat man unter einem Risikosyndrom zu verstehen? 2) Wie ist vorzugehen, wenn man im konkreten Einzelfall das Vorliegen eines Risikosyndroms feststellen will? 3) Welcher systematische Stellenwert ist einem derartigen Phänomen innerhalb des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts zuzumessen? Die erste Frage beantwortet Struensee zunächst dahingehend, daß er die allgemeinen Anforderungen nennt, denen der von ihm gesuchte Erfolgsunwert des Fahrlässigkeitsdelikts genügen muß. Diese sollen „in einer bestimmten Konstellation objektiver Umstände" bestehen, „die deshalb negativ bewertet werden, weil die Rechtsordnung an sie die Prognose möglicher Rechtsgutverletzung knüpft". Von diesem Ausgangspunkt kommt Struensee sehr rasch zu einer Definition. so JZ 1987, 54 f. 51 JZ 1987, 55 ff. 52 JZ 1987, 57. 53 JZ 1987, 57 ff. 54 Um Mißverständnisse in bezug auf die verwendeten Begriffe zu vermeiden, sei betont, daß Struensee die Termini Handlungs- und Aktunwert auf der einen, Sachverhaltsund Erfolgsunwert auf der anderen Seite synonym verwendet. Von letzerem unterscheidet er den in den gesetzlichen Tatbeständen beschriebenen Erfolg. 5*

2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

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Ein Risikosyndrom sei eine Kumulation erfolgsträchtiger Faktoren, welche die Toleranzgrenze übersteige. 55 Bei der zweiten Frage erhält man zunächst einen Hinweis auf den Standort des von Struensee kreierten Sachverhaltsunwerts. Im Vorfeld des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges seien die Untersuchungen zur Ermittlung des Risikosyndroms anzustellen. Abgesehen davon erklärt er die Herausarbeitung dieses Phänomens zur axiologischen Aufgabe der Tatbestandsbildung. Die Möglichkeit des Eintritts von Erfolgen werde dabei jedoch nicht zum Inhalt des Begriffs, sondern bliebe lediglich Motiv der Zusammenstellung erfolgsträchtiger Faktoren. Die Begriffsbildung sei nur so weit zu treiben, daß der jeweilige Einzelfall beurteilt werden könne. 56 Um den jeweils zu beurteilenden Einzelfall kreisen auch die Ausführungen Struensees zur dritten der oben angesprochenen Fragen nach der systematischen Stellung, nach der Funktion des Risikosyndroms im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts. Als Ausgangspunkt dient ihm hier eine Kritik an der Vorgehensweise der herrschenden Lehre, die nach Struensees Auffassung die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit letztlich — und dies in Widerspruch zu den eigenen begrifflichen Vorgaben — von der Reichweite des Täterwissens abhängig mache.57 Dies sei an einer Reihe von Beispielsfällen leicht zu erkennen. Daß die Krankenschwester, die gutgläubig die vom Arzt präparierte Injektion verabreicht, oder die Mutter, welche ihr Kind mit von anderen vergifteter Babynahrung füttert, nicht den Tatbestand der entsprechenden Fahrlässigkeitsdelikte erfüllen, folge auch für die herrschende Lehre aus der Risikounkenntnis der handelnden Personen. Die Anerkennung der Relevanz des Sonderwissens auf der einen, die Berücksichtigung eines „Fahrlässigkeitstatbestandsirrtums" als zwangsläufige Folge auf der anderen Seite, sei aber nur dann sinnvoll durchzuführen, wenn der Bezugspunkt der Kenntnis des Handelnden tatbestandlich umschrieben sei. 58 Diesem Zweck dient das von Struensee sogenannte Risikosyndrom, womit auch dessen Funktion im Fahrlässigkeitstatbestand deutlich wird: Lediglich zur Maßgabe für das Täterwissen sei die Herausarbeitung eines eigenständigen Unwertsachverhalts des Fahrlässigkeitsdelikts notwendig. Daraus wiederum soll folgen, daß der erforderlichen Begriffsbildung von vornherein nur solche Umstände zu „unterlegen" sind, deren sich der Täter bewußt ist. Für die praktische Anwendung der Konzeption Struensees bedeutet dies, daß man zunächst auf den Einzelfall bezogen fragen muß, welche Risikofaktoren dem Handelnden bekannt waren und im Anschluß abstrakt zu prüfen hat, ob von der Summe derartiger Risikofaktoren nach der „Bewertung der Rechtsordnung eine intolerable Gefahr ausgeht".59

55 JZ 56 JZ 57 JZ 58 JZ 59 JZ

1987, 58. 1987, 58. 1987, 58 ff. 1987, 60. 1987, 60.

I . Sorgfaltsmaßstab und

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In der Zusammenfassung bezeichnet Struensee ein Täterhandeln in Kenntnis der maßgeblichen Bedingungen des eingetretenen Erfolges als den subjektiven Tatbestand des fahrlässigen Delikts. In der Verwirklichung dieses subjektiven Tatbestandes sieht er die „Sorgfaltswidrigkeit" einer Handlung begründet. 60

I I I . Subjektive Sorgfaltsmaßstäbe als Antwort auf vermeintliche Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre mit der Fahrlässigkeit Der Vorwurf, die finale Handlungslehre sei nicht imstande, fahrlässige Handlungen als Handlungen zu erfassen, 61 ist nicht neu. Er wird auch in jüngster Zeit erhoben. So merkt etwa Jescheck in der neuesten Auflage seines Lehrbuchs weiterhin an, die fahrlässige Handlung sei nicht reibungslos in den finalen Handlungsbegriff einzuordnen. 62 Die Konsequenzen, die aus dieser Annahme gezogen werden, sind nun freilich ganz unterschiedlicher Natur. Zwei Richtungen sind dabei in den beiden vergangenen Jahrzehnten ganz besonders in den Vordergrund der Diskussion gerückt. „In einem finalistischen System entstehen Schwierigkeiten für die Einordnung der Erfolgsverursachung unmittelbar im Unrechtsbereich. Denn da die Finalität sich beim fahrlässigen Delikt gerade nicht auf den Erfolgseintritt bezieht, scheint dessen friktionsfreie Einordnung in das an der Handlung orientierte Unrecht unmöglich zu sein." 63 Das Zitat macht deutlich, an welcher Stelle hier zur Problemlösung angesetzt wird: Eliminiert man beim Fahrlässigkeitsdelikt den Erfolg als Unrechtsbestandteil, so kann der fehlende Finalbezug zwischen sorgfaltswidriger Handlung und dem durch sie bewirkten Erfolg nicht länger als Schwachstelle der finalen Handlungslehre bezeichnet werden. Neben Armin Kaufmann haben auch andere Autoren diesen Weg beschritten, sie sehen in dem Erfolg der fahrlässigen Tat lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit. 64 Ähnlicher Argumente bedienen sich die Befürworter eines sozialen Handlungsbegriffes, zu dessen Entwicklung die mit der Fahrlässigkeit verbundenen Probleme nicht unerheblich beigetragen haben. Nun wird auch von dieser Seite nicht bestritten, daß bei der Fahrlässigkeit eine finale Handlung vorliege. Gleichwohl bringe aber der Umstand, daß der Erfolg außerhalb des finalen Zusammenhangs stehe, die Vertreter der von Welzel geprägten Lehre in Begründungsschwierigkei-

60 JZ 1987, 60, 62. So etwa Arthur Kaufmann, JuS 1967, 146 m. w. N. 62 S. 199. 63 Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 44. 64 Schaffstein, Welzel-Festschrift, S. 561; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 128 ff., 200 ff. Ursprünglich auch Hirsch, Negative Tatbestandsmerkmale, S. 308 Fn. 122 und Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 19 ff. jedenfalls im Ergebnis.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

ten, die sich auch nicht dadurch umgehen ließen, daß man die Unsorgfältigkeit des Vollzuges der Handlung in den Vordergrund rücke, denn die Unsorgfältigkeit des Vollzuges sei gerade kein Moment der Finalität. 65 Konsequenz dieser Überlegungen ist dann das Bemühen um die Aufstellung eines Handlungsbegriffes, der sämtlichen Verhaltensweisen gerecht wird, die strafrechtliche Bedeutung haben können. 66 Nun kann im Rahmen der vorliegenden Bearbeitung weder eine Auseinandersetzung mit Ziel und Inhalt der sozialen Handlungslehre, noch mit der These erfolgen, der Erfolg des Fahrlässigkeitsdelikts sei lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit. Beides ist auch von anderer Seite bereits in eingehender Form geleistet worden. 67 Gleichwohl sind beide Richtungen hier zu erwähnen. Nur so wird deutlich, daß die Subjektivierung des Fahrlässigkeitsunrechts ihren dogmatischen Standort am Schnittpunkt zweier Entwicklunglinien findet: Zum einen kann das Postulat eines individuell-täterschaftlichen Sorgfaltsmaßstabs als ein Aspekt der im ersten Abschnitt dieses Kapitels skizzierten Entwicklung verstanden werden, zum anderen ist darin aber auch ein weiteres Glied in der Kette der Versuche zu sehen, den vermeintlichen Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre mit der Fahrlässigkeit Herr zu werden. Dies gilt insbesondere für die von Jakobs und Struensee konzipierten Fahrlässigkeitsmodelle. Es bedarf deshalb der Beantwortung der Frage, ob die genannten Autoren ihre Fahrlässigkeitsauffassung aus einer zutreffenden Prämisse ableiten und ob insoweit nicht schon der Handlungsbegriff zum Überdenken der herkömmlichen Fahrlässigkeitsdoktrin zwingt. Ansatzpunkt der Überlegungen ist hierbei der Umstand, daß die Subjektivierung des Unrechtstatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts auf Argumente gestützt wird, die in vergleichbarer Form bisher von den Vertretern der beiden oben skizzierten Richtungen geäußert worden sind. 68 Zwar sei es so, daß auch bei der fahrlässigen Straftat eine finale Handlung vorliege, dies reiche aber nicht aus, um das überkommene Fahrlässigkeitsverständnis mit einer Handlungslehre zu harmonisieren, die die Zielsetzung des Handelnden in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Bestimme man den Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anhand objektiver Kriterien — so wird behauptet — dann bleibe der Willensinhalt bei der Handlungsbewertung unberücksichtigt. Dies sei aber ein Widerspruch im System, denn wenn — wie es von Seiten der herrschenden Meinung formuliert wird 6 9 — die Strukturmerkmale des Han65 Jescheck, AT, S. 199. 66 Vgl. zum sozialen Handlungsbegriff neben Jescheck a. a. O., S. 199 ff.; E. A. Woljf, Handlungsbegriff, S. 17; Wessels, AT, S. 23; Maiwald, JuS 1981, 476. 67 Vgl. Hirsch, ZStW 93 (1981), 856 ff; ZStW 94 (1982), 251 ff; dersFestschrift Rechtswiss. Fakultät Köln, S. 407 ff., jeweils m. w. N. 68 Es geht hier namentlich um die Behauptung, die Finalität der bei fahrlässigem Verhalten zu bewertenden Handlung sei rechtlich irrelevant. So etwa neben den bereits schon genannten Autoren Bockelmann / Volk, AT, S. 46; Arthur Kaufmann, JuS 1967, S. 149 f.

I . Sorgfaltsmaßstab und

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delns uns Aufschluß darüber geben, auf welche generellen Erfordernisse es insoweit bei der Unrechtstatbestandsmäßigkeit ankommt, dann — so etwa Struensee — könne es nicht richtig sein, daß das wesentliche Strukturelement bei der Unrechtsbewertung unberücksichtigt bliebe: Träger des Unwerturteils könne nur der Akt mit und wegen seiner inhaltlich bestimmten Finalität sein, dies werde bei einem objektiven Fahrlässigkeitskonzept vernachlässigt. 70 Richtig an dieser Argumentation ist, daß eine Fahrlässigkeitsbegründung, welche den Willensinhalt des Handelnden vernachlässigen würde, ihren eigenen finalen Vorgaben nicht treu bliebe. Aber ist es wirklich so, daß es bei objektiver Sorgfaltsbestimmung keine Rolle spielt, was der Täter gewollt hat? Daß die Frage zu verneinen ist, wurde schon in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen eindrucksvoll belegt, 71 hat sich aber gleichwohl noch nicht als allgemeine Erkenntnis durchgesetzt. Deshalb soll hier erneut der Versuch unternommen werden, die Relevanz des Willensinhalts bei der Fahrlässigkeit am konkreten Beispielsfall zu verdeutlichen, wobei — unter jeweils leichter Abwandlung — auf Beispiele zurückgegriffen wird, die bereits in der Literatur Verwendung gefunden haben. Anhand dieser wird zu untersuchen sein, inwieweit eine final-objektive oder eine final-subjektive Fahrlässigkeitsdoktrin dem eigenen Handlungsmodell besser gerecht wird. Als Ausgangsfall soll das erstmals 1961 von Welzel 12 verwendete Beispiel dienen, in dem es um sorgfaltswidriges Verhalten im Straßenverkehr geht: Ein Autofahrer überholt in einer unübersichtlichen Kurve einen anderen Verkehrsteilnehmer. Im Scheitelpunkt der Kurve kommt es zum Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Stellt man bei der Bewertung dieses Verhaltens auf ein subjektives Fahrlässigkeitskonzept ab, so wäre beim Sorgfaltswidrigkeitsurteil zu fragen, ob der überholende Autofahrer den drohenden Zusammenstoß erkennen konnte. 73 Ermittelt man die Sorgfalt nach objektiven Kriterien, ist zu prüfen, ob ein durchschnittlicher Fahrer die mit dem Überholvorgang verbun69 Vgl. etwa Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 847 f. Daß zur theoretischen Begründung dessen, was wir als Unrecht bezeichnen, auf den Handlungsbegriff zurückgegriffen werden muß, wird u. a. von Bockelmann I Volk, AT, S. 48; Gallas, ZStW 67 (1955), 514 f. und Roxin, ZStW 74 (1962), 548 f. bestritten. Dem steht jedoch mit den besseren Argumenten die ganz überwiegende Ansicht der Vertreter der verschiedenen Handlungslehren gegenüber. Eingehend zu dieser Kontroverse Hirsch, a. a. O. S. 844 f. 70 Struensee, JZ 1987, 53, 55. 71 Vgl. Hirsch, ZStW 93 (1981), 858; dersZStW 94 (1982), 268; Armin Kaufmann, ZfRV 1964,46; ders., Welzel-Festschrift, S. 408 f.; zu diesem Problemkreis auch Weidemann, GA 1984 S. 418 f.; Schöne, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 649 ff.; Maurach I Gössel / Zipf AT, Teilband 2, S. 96 f. 72 Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 8; vgl. auch Hirsch, ZStW 93 (1981), 858 mit weiteren Beispielen. 73 Struensees Vorgehen wäre hier im Vergleich zu der Methode der anderen Anhänger einer subjektiven Fahrlässigkeitsauffassung etwas anders, was im vorliegenden Zusammenhang aber außer Betracht bleiben kann.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

dene Gefahr abzusehen in der Lage war. Obwohl bereits an dieser Stelle deutlich werden dürfte, daß auch eine objektiv formulierte Sorgfaltsfrage den konkreten Willen des Handelnden bei der konkreten Handlung einbezieht, indem nämlich die Fehlerhaftigkeit des Überholvorgangs geprüft und damit das willentliche Überholen zum Gegenstand der Bewertung gemacht wird, tritt dieser Umstand besonders plastisch hervor, wenn man das Beispiel abwandelt.74 Wiederum kommt es im Scheitelpunkt der Kurve zum Zusammenstoß, wobei sich genau wie im Ausgangsfall das Fahrzeug des Verkehrsteilnehmers, dessen Verhalten in Rede steht, auf der linken Fahrbahnhälfte befindet. Allerdings liegen die Dinge diesmal so, daß die Gegenfahrbahn nicht zum Überholen benutzt wurde, sondern der Autofahrer unbeabsichtigt dorthin geraten ist, weil er auf eisglatter Fahrbahn infolge überhöhter Geschwindigkeit am vorausfahrenden Fahrzeug vorbeigerutscht ist. Sowohl nach subjektivem wie nach objektivem Fahrlässigkeitsverständnis würde nun die entscheidende Frage doch dahingehend formuliert, inwieweit ein Zusammenstoß beim „Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit auf eisglatter Fahrbahn" vorhersehbar war, wobei die Unterschiede genau wie im Ausgangsfall lediglich darin bestehen, in wessen Person die Erkenntnismöglichkeit gegeben sein muß. Die Sorgfaltswidrigkeit des Überholvorgangs stünde jedenfalls nicht in Rede.75 Vergleicht man die beiden Fälle miteinander, so wird deutlich, daß die Zugrundelegung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs nicht dazu führt, daß die Handlungsziele des konkreten Täters für die rechtliche Bewertung irrelevant werden. Bei äußerlich fast gleichen Sachverhalten — Begegnungszusammenstoß in einer Kurve, wobei sich ein Fahrzeug auf der linken Fahrbahnseite befindet, während es ein anderes auf der rechten Seite passiert — wird an unterschiedliche Handlungen angeknüpft, wenn es gilt, die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu überprüfen. Das wäre nicht möglich — gerade auch bei objektiven Kriterien nicht — wenn die konkreten Handlungsziele nicht mit in die Bewertung einfließen, wenn sie nicht schon bei der Formulierung der Frage nach dem Sorgfaltsverstoß Berücksichtigung finden würden. Von einer Irrelevanz des Willensinhalts bei objektivem Fahrlässigkeitsverständnis kann deshalb keine Rede sein. 76 Ist dies aber richtig, dann fehlt der Subjektivierung des Sorgfaltswidrigkeitsurteils jedenfalls insoweit die Grundlage, als vorgegeben wird, nur auf diese Weise sei eine konsequente Umsetzung der finalen Handlungslehre in den Bereich der Fahrlässigkeitsdogmatik möglich. 77 74

Hier in Anlehnung an Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 46. Zu diesem Gesichtspunkt Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 46. 7 6 So aber ausdrücklich Struensee. Dazu oben 2. Kap. II 4. 77 Spätestens an dieser Stelle dürfte deutlich werden, daß das oben (S. 2. Kap. II 1) zitierte Beispiel Jakobs', mit dessen Hilfe er genau diese These zu belegen versucht, wenig aussagekräftig ist. Jakobs läßt nämlich unberücksichtigt, daß mit dem Bergabstoßen des Steins die willentliche Handlung, die es zu bewerten gilt, bereits benannt ist. Welche weitergehenden Ziele der Täter damit verfolgt, ist in der Tat unerheblich. Diese 75

I . Sorgfaltsmaßstab und

nale

n l e h r e

73

Auch Jakobs gerät in Begründungsschwierigkeiten, wenn er „den Mangel der finalistischen Fahrlässigkeitstheorie" zwar nicht im finalen Ansatz, wohl aber in der objektiven Ausgestaltung des Sorgfaltswidrigkeitsurteils vermutet. 78 Dabei verdient sein Ansatz durchaus Zustimmung. Anhand einer Parallele zu den Vorsatzdelikten, bei denen auch ein und derselbe Erfolg durch eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen herbeigeführt werden kann, zeigt er, daß die angebliche Bedeutungslosigkeit des Handlungswillens auch beim Fahrlässigkeitsdelikt eine scheinbare ist. Zutreffend ist auch seine These, nur ein konkreter Handlungsvo//zug könne sorgfaltswidrig sein, sowie seine unter Berufung auf Welzel aufgestellte Behauptung „sorgfaltswidrige Willensakte-überhaupt" gebe es nicht, „sondern nur ein sorgfaltwidrig gelenktes oder besser: . . . sich lenkendes Geschehen."79 Die Probleme beginnen allerdings da, wo er sich um den Nachweis bemüht, ein finales Handlungsverständnis erfordere, daß der tatbestandsmäßige Erfolg als durch die Handlung bedingt für den Täter erkennbar sein muß. In diesem Zusammenhang heißt es nämlich: „Soweit eine Handlung . . . die zu vermeidende Folge bedingt, bestehen nicht nur keine spezifischen Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre bei der Fahrlässigkeit, sondern nur diese kann den Gegenstand der Sorgfaltswidrigkeit überhaupt bezeichnen: den bestimmten Handlungsentschluß, der ohne Vermeidemotiv gefaßt wird und der mit einem Vermeidemotiv nicht gefaßt würde". 80 Wenn es nach Jakobs' eigener Prämisse „sorgfaltswidrige Willensakte-überhaupt" nicht gibt und stets der Handlungsvo//zMg Gegenstand der Unrechtsbewertung sein muß, wie kann dann ein Handlungsentschluß — der doch in seinem System bestimmten Anforderungen genügen muß — Gegenstand der Sorgfaltswidrigkeit sein? Derartige Widersprüche zeigen einmal mehr, daß es nur eine vermeintlich konsequente Umsetzung der finalen Handlungslehre im Bereich der Fahrlässigkeit ist, wenn man den Sorgfaltsmaßstab zu subjektivieren trachtet. Es überzeugt deshalb kaum, wenn Jakobs behauptet, der Mangel der finalistischen Fahrlässigkeitstheorie liege nicht im finalen Ansatz, sondern in der objektiven Ausgestaltung der Sorgfalt. Festzuhalten ist abschließend, daß Jakobs dadurch, daß er den Finger in diese vermeintlich „finalistische" Wunde legt, zwar einen Ansatzpunkt für seine weitere Argumentation findet, diese aber auf einer ganz anderen Ebene — nämlich der der Normentheorie — fortsetzt. Darüber wird noch zu sprechen sein.

sind genauso irrelevant, wie es das endgültige Fahrtziel des Verkehrsteilnehmers im obigen Kurvenbeispiel ist. 78 Studien, S. 74. 79 Studien, S. 74. so Studien, S. 75. Hervorhebung vom Verfasser.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

IV. Der Sorgfaltsmaßstab des Fahrlässigkeitsdelikts im System der personalen Unrechtslehre Hat sich im vorhergehenden gezeigt, daß aus der Tatsache der Finalität der Handlung nicht der Schluß zu ziehen ist, der Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt sei an den individuellen Fähigkeiten des Täters auszurichten, so präjudiziell dies noch nicht zwangsläufig die Frage, ob der personale Unrechtsbegriff nicht eine derartige Schlußfolgerung nahelegt. Im folgenden ist deshalb gesondert zu untersuchen, ob Personalität des Unrechts bedeutet, daß die individuelle Erkenntnismöglichkeit des Täters ein Baustein des Unrechtstatbestandes des Fahrlässigkeitsdeliktes ist. 81 Untersucht man, ob die von Welzel später aufgegebene subjektive Fahrlässigkeitskonzeption im System der personalen Unrechtslehre möglich, folgerichtig oder gar zwingend ist, so stellen sich vor allem zwei Fragen, die es in diesem Zusammenhang zu beantworten gilt: 1. Beschränkt sich der Inhalt des Handlungsunwertes auf den Intentionsunwert und lassen sich daraus Folgerungen für den Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ableiten? 2. Ist es — weil die Norm nur ein Verhalten fordert, das vom Vermeidemotiv bestimmt werden kann — eine normtheoretische Notwendigkeit, daß der Fahrlässigkeitstäter die Tatbestandsverwirklichung zu erkennen in der Lage sein muß, weil er sich sonst nicht zur Erfolgsvermeidung motivieren kann? 1. Zur Beschränkung des Handlungsunwerts

auf ein Intentionsunrecht

Die erste Frage ist in jüngerer Zeit von Struensee pointiert gestellt worden. 82 Wie bereits angesprochen wurde, ist er der Auffassung, der Handlungsunwert sämtlicher Deliktsformen beschränke sich auf den sog. Intentionsunwert und leitet daraus die ebenfalls schon skizzierten Folgen für das Fahrlässigkeitsunrecht ab. Bei der Begründung seines Ausgangspunktes schließt sich Struensee weitestgehend einer primär für das Vorsatzdelikt entwickelten Lehre an, welche die Existenz objektiver Merkmale des Handlungsunwerts bezweifelt, jene vielmehr in toto dem Erfolgsunwert zurechnet. 83 Struensee argumentiert dabei wie folgt: 84

si Es wurde bereits angesprochen, daß Welzel, als er in den 30er Jahren die personale Unrechtslehre begründet hat, zumindest anfänglich selbst dieser Ansicht zuneigte; vgl. dazu oben 2. Kap. I. Welzeis grundlegende Beiträge zur personalen Unrechtslehre finden sich in ZStW 51 (1931), 703; 58 (1939), 491. Im letztgenannten Aufsatz konzipiert er auf den S. 553 ff. seinen später aufgegebenen Fahrlässigkeitsansatz, wonach schon im Unrechtstatbestand auf die individuelle Erkenntnismöglichkeit des Täters abzustellen ist. 82 JZ 1987, 54 f. 83 Rudolphi, Maurach-Festschrift, S. 51 ff.; Lenckner in: Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 13 ff., Rdn. 56 ff.

IV. Sorgfaltsmaßstab und personale Unrechtslehre

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Ein Handlungsunwert sei nicht denkbar ohne Bezugnahme auf einen Sachverhaltsunwert, zwischen beiden bestehe ein Abhängigkeitsverhältnis dergestalt, daß ein Aktunwert nur dann existent werden könne, wenn durch eine Handlung die Realisierung eines Sachverhaltunwerts erstrebt werde. Ein Handlungsunwert sei ohne jede Intention auf einen Sachverhaltsunwert undenkbar. Dieser Zusammenhang finde in der Finalität der Handlung seine Ursache und könne mit dem Terminus Intentionsunwert treffend beschrieben werden. Der Ansatz, auf dem Struensee die von ihm verfochtene Umstrukturierung des Fahrlässigkeitsdelikts aufbaut, ist eine von drei Spielarten der personalen Unrechtslehre, welche sich hinsichtlich des Verhältnisses von Erfolgs- und Verhaltensunwert unterscheiden. Das Meinungsbild stellt sich hier so dar, daß innerhalb der Gruppe der Verteter eines personalen Unrechtsverständnisses die Mehrheit den Dualismus von Handlungs- und Erfolgsunrecht befürwortet, wobei sich danach der Handlungsunwert aus objektiven und subjektiven Momenten zusammensetzen soll. 85 Davon haben sich zwei Richtungen abgespalten: Teilweise wird die Auffassung vertreten, sowohl beim Vorsatz- wie beim Fahrlässigkeitsdelikt stelle der Erfolg lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit dar, wobei im Hinblick auf das Fahrlässigkeitsunrecht darauf verwiesen wird, der Erfolg sei hier nicht mehr als eine Zufallskomponente, die der Gesetzgeber allein deshalb zur Strafbarkeitsvoraussetzung fahrlässigen Verhaltens gemacht habe, weil die folgenlose Sorgfaltsverletzung weniger faßbar sei als die erfolgreiche. 86 Die andere Richtung ist die, auf der Struensees Konzept basiert. Danach soll es zwar im Einklang mit der herrschenden Lehre bei der Unrechtsrelevanz des Verhaltens wie auch des Erfolges bleiben, allerdings mit der bereits angesprochenen Besonderheit, daß sich der Handlungsunwert in einem von allen objektiven Merkmalen befreiten Intentionsunwert erschöpfe. 87 Die erste der beiden angesprochenen Richtungen verdient keine Zustimmung: Ein Unrechtstatbestand, in dem der Erfolg ein Kümmerdasein als objektive Strafbarkeitsbedingung fristet, vermag im System der personalen Unrechtslehre nicht zu überzeugen. Dies wurde bereits angesprochen88 und bedarf an dieser Stelle insbesondere deshalb keiner weiteren Vertiefung, weil beide von der herrschenden

JZ 1987, 54 f. 85 Gallas, Bockelmann-Festschrift, S. 156 ff.; Hirsch, ZStW 94 (1982), 240 ff.; ders., Festschrift Rechtswiss. Fakultät Köln, S. 409 f.; Jescheck, AT, S. 215 ff.; Krauß, ZStW 76 (1964), 19, 58; Krümpelmann, GA 1968, 129, 135; Welzel, Strafrecht, S. 62; Wessels, AT, S. 4; Stratenwerth, Schaffstein-Festschrift, S. 178. 86 Horn, Gefährdungsdelikte, S. 78 ff.; Armin Kaufmann, Welzel-Festschrift, S. 403, 411; eingehend zu diesem Standpunkt Zielinski, Unrechtsbegriff. 87 Vgl. die in Fn. 83 angegebenen Autoren. Eine Darstellung sämtlicher Spielarten der personalen Unrechtslehre nebst einer eingehenden Kritik der beiden letzgenannten Richtungen liefert Gallas, Bockelmann-Festschrift, S. 155 ff. vgl. auch Ebert / Kühl, Jura 1981, 225 ff. 88 Vgl. oben 2. Kap. III. 84

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Meinung abweichenden Unrechtskonzepte in einem Punkt übereinstimmen: der Verhaltensunwert reduziert sich auf den sog. Intentionsunwert. Erweist sich diese Reduktion als nicht stichhaltig — was im folgenden zu zeigen versucht wird —, so legt dies nicht nur ein dualistisches Unrechtsverständnis nahe, sondern nimmt gleichzeitig dem Fahrlässigkeitskonzept Struensees die dogmatische Grundlage. Betrachtet man hierbei zunächst die wechselvollen Bemühungen, ein auf den Intentionsunwert eingeengtes Handlungsunrecht begründen zu wollen, über einen längeren Zeitraum, so ergibt sich allein schon aus den schwankenden Erklärungsansätzen ein Indiz für die mangelnde Überzeugungskraft einer derartigen Unrechtslehre. So hat beispielsweise Lenckner ursprünglich wie folgt argumentiert: Für den Handlungsunwert der Vorsatztat müsse „die Manifestation des auf die Realisierung einer Rechtsgutsverletzung gerichteten Willens genügen", weil dies beim untauglichen Versuch, den der Gesetzgeber schließlich auch unter Strafe gestellt habe, nicht anders sei. 89 Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß an einer derart zentralen Stelle der Unrechtslehre der Hinweis auf den Gesetzgeber kaum eine tragfähige Begründung abgeben dürfte. Doch selbst wenn man auf der positivistischen Ebene verbleibt und das Problem anhand der geltenden Rechtsordnung analysiert, verfängt der Einwand Lenckners nicht. Insbesondere Stratenwerth 90 und Gallas 91 haben daraufhingewiesen, daß eine solche Argumentation zur Voraussetzung hätte, den untauglichen Versuch zum „Prototyp strafrechtlichen Unrechts" zu deklarieren. Dies ginge aber an der Realität vorbei, denn die in den gesetzlichen Straftatbeständen beschriebenen Handlungen seien „negative Verhaltensmodelle" und gingen diesem Zweck entsprechend von der normalen Gestalt der Handlung aus, die dadurch charakterisiert sei, daß der Täter seinen Tatentschluß nicht nur bekundet, sondern auch realisiert. Handlungsunrecht sei damit 7afunrecht und nicht nur Manifestation eines tatbereiten Willens. 92 Frisch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Transponierung der Intentionslehre in die Fahrlässigkeitsdogmatik in der Form, wie sie von Struensee vorgenommen wird, gerade dort zu eigentümlichen Konsequenzen führen würde. Folge sei nämlich, daß der Handlungsunwert beim Fahrlässigkeitsdelikt zu so etwas wie dessen untauglichem Versuch werde, da das von Struensee kreierte Risikosyndrom insoweit nur in der Vorstellung des Täters, nicht aber wirklich vorhanden zu sein brauche. 93 Lenckner begründet die Reduzierung des Handlungunrechts auf den Intentionsunwert inzwischen anders: „Die Bedeutung eigenständiger Unrechtselemente haben Handlungs- und Erfolgs- bzw. Sachverhaltsunwert jedoch nur, wenn der 89

So bis zur 21. Aufl. der Kommentierung von Schönke / Schröder, Vorbem. §§ 13 ff., Rdn. 56a; ähnlich Rudolphi, Maurach-Festschrift, S. 53. 90 Schaffstein-Festschrift, S. 192. Bockelmann-Festschrift, S. 159; vgl. auch Ebertl Kühl, Jura 1981, 236. 92 Gallas, Bockelmann-Festschrift, S. 159. 9 3 Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 34, Fn. 140.

IV. Sorgfaltsmaßstab und personale Unrechtslehre

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erstere auf die Umstände beschränkt wird, die den Verstoß gegen ein — seinerseits wieder auf die Vermeidung eines Unwertsachverhalts bezogenes — Nicht-iwwsollen (Bestimmungsnorm) ausmachen und die darüber entscheiden, ob ein Verhalten vorsätzliches oder fahrlässiges Unrecht im Sinne eines bestimmtes Deliktstypus ist, während der letztere sich auf das Nicht-sew- sollen (Bewertungsnorm) dieses Sachverhalts selbst bezieht und dem bereits mit dem Handlungsunrecht gegebenen Unrecht nur noch solche Umstände hinzufügt, die zusätzlich dessen Höhe bestimmen." 94 Diese Argumentation ist zwar insoweit neu, als sie zur Begründung einer streng objektiven Deutung des Handlungsunrechts herangezogen wird, betrachtet man es jedoch dogmengeschichtlich, stellt das von Lenckner postulierte Verhältnis von Bestimmungs- und Bewertungsnorm ein Wiederaufgreifen eines Ansatzes dar, der vor geraumer Zeit in ganz anderem — wenn auch vergleichbaren — Zusammenhang Bedeutung hatte. So hat im den 20er Jahren Mezger mit genau der gleichen Unterscheidung eine objektivistische Unrechtslehre verfochten. 95 Er begriff Recht als objektive Lebensordnung, Unrecht als die Verletzung dieser objektiven Ordnung. Unrecht sei „Widerspruch gegen das Recht als Bewertungsnorm, Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. Herbeiführung eins rechtlich mißbilligten Zustandes."96 Es ist bereits von Welzel daraufhingewiesen worden, daß der ausschließliche Bezug der Bewertungsnorm auf den Sachverhaltsunwert den Befund verkürzt, da Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung die Handlung ist, weshalb in bezug auf die Handlung Bestimmungs- und Bewertungsnorm zusammenfallen. 97 Welzeis Beweisführung hat auch noch heute Gültigkeit, und es mutet fast schon befremdlich an, wenn eine Argumentation, die in der Auseinandersetzung mit einer streng objektivistischen Unrechtslehre entstanden ist, nunmehr einem Standpunkt entgegenzuhalten ist, der den Handlungsunwert sämtlicher objektiver Merkmale entkleiden will. Strafrechtlich relevantes Verhalten — so müßte man in Fortführung der damaligen Diskussion nunmehr formulieren — ist eben nicht nur ein Nicht-tun-sollen, sondern auch ein Nicht-sein-sollen, weil Bewertungsgegenstand einer Strafrechtsordnung nun einmal des Verhalten ist. Insgesamt kann es damit nicht überzeugen, wenn Lenckner die Intentionslehre darauf stützt, daß er die personale Komponente des Unrechts mit dem Begriffspaar Handlungsunwert / Bestimmungsnorm und sämtliche objektiven Bestandteile mit den Termini Erfolgsunrecht / Bewertungsnorm assoziiert.

94 Ab der 22. Aufl. der in Fn. 89 genannten Kommentierung, Vorbem. §§ 13 ff., Rdn. 56. 95 GS (1924), S. 239 ff. 96 GS (1924), S. 245 f. 97 ZStaatsW 97 (1937), S. 382; ebenso Hirsch, LK (9), Vor § 51, Rdn. 8; Küpper, ZStW 100 (1988), S. 779. Zu dieser Problematik auch Gallas, ZStW 67 (1955), S. 38 f.; ders.,Bockelmann-Festschrift, S. 158. Eingehend zum Verhältnis Bewertungs- und Bestimmungsnorm auch Jescheck, AT, S. 212 ff.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Die Beschränkung des Handlungsunrechts auf den Intentionsunwert erscheint aber noch in einer anderen Hinsicht fragwürdig, insoweit sie nämlich die besonderen Handlungsmodalitäten und die objektiv täterschaftlichen Merkmale ausschließlich dem Erfolgsunwert zuordnet. 98 Hier wird zum einen nicht recht deutlich, ob eine derartige Einordnung Konsequenz oder Grundlage einer subjektiven Deutung des Aktunwerts ist. Aber abgesehen davon überzeugt die Berücksichtigung der genannten Merkmale lediglich beim Erfolgsunwert auch in der Sache nicht. Deutlich macht dies allein schon folgende Überlegung: Es wird sich kaum bestreiten lassen, daß ein Begriff wie „Verwerflichkeit" Attribut einer Handlung sein kann. Sobald nun aber ein Gesetzgeber diese Einsicht umsetzt und die Verwerflichkeit (einer bestimmten Handlung) in ein objektives Tatbestandsmerkmal, in eine besondere Begehungsform kleidet, wäre es nach der Sicht der Autoren, die das Handlungsunrecht ausschließlich subjektiv deuten, ausgeschlossen, die besondere Verwerflichkeit schon in der Bewertung der Handlung zu berücksichtigen, denn alles „Objektive" wird als dem Erfolgsunrecht zugehörig betrachtet. Sie müßten also, wollten sie ihrem eigenen Ansatz treu bleiben, den Standpunkt vertreten, daß es verwerfliche Handlungen nicht gibt. Soweit ersichtlich, wird diese Konsequenz jedoch nicht gezogen. Die Zuordnung der besonderen Handlungsmodalitäten sowie der objektiv täterschaftlichen Merkmale zum Erfolgsunrecht wird denn auch überwiegend abgelehnt.99 Gallas weist zu Recht darauf hin, daß die genannten Merkmale in dem bloßen, zum Erfolg führenden Kausalablauf, den der Erfolgsunwert allein erfaßt, keinen Anknüpfungspunkt finden. 100 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich somit, daß ein Unrechtsbegriff, welcher den Handlungsunwert seiner „objektiven" Merkmale entkleidet, im System der personalen Unrechtslehre kontraproduktiv ist. Dies jedenfalls dann, wenn man es als Ziel dieser Lehre ansieht, Rechtswidrigkeit als „Mißbilligung einer auf einen bestimmten Täter bezogenen Tat" 1 0 1 zu erklären. Behandelt man die von der personalen Unrechtslehre herausgearbeitete Differenzierung von Handlungsund Erfolgsunwert in der Weise, daß man der einen Unrechtskomponente den Stempel subjektiv, der anderen denjenigen mit der Bezeichnung objektiv aufdrückt, so bedient man sich einer Unterscheidung, deren Undurchführbarkeit zu zeigen die personale Unrechtslehre doch gerade angetreten ist. 1 0 2 Als Resümee kann damit festgehalten werden, daß auf dem Boden einer personalen Unrechtslehre die Beschränkung des Handlungsunwerts auf den Inten98 So Lenckner in: Schönke / Schröder, Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 56a, ausdrücklich bis zur 21. Aufl.; wohl auch Rudolphi, Maurach-Festschrift, S. 55. 99 Vgl. etwa Gallas, Bockelmann-Festschrift, S. 165; Jescheck, AT, S. 216; Ebert / Kühl, Jura 1981, 236. 100 Bockelmann-Feschrift, S. 165. 101 Welzel, Strafrecht, S. 62. 102 Dazu Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 250; ders., Negative Tatbestandsmerkmale, S. 246 Fn. 75; vgl. auch Jakobs, Strafrecht, S. 141.

IV. Sorgfaltsmaßstab und personale Unrechtslehre

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tionsunwert nicht schlüssig begründet werden kann. Ist dies aber richtig, so ist dem Fahrlässigkeitskonzept Struensees das theoretische Fundament entzogen, da die von ihm postulierte Notwendigkeit des „anderen Erfolgsunwerts" auf der skizzierten Mißdeutung des Handlungsunrechts beruht. Gegen Struensees Modell spricht auch folgende Überlegung: Selbst wenn man unterstellt, ein auf den Intentionsunwert reduziertes Handlungsunrecht ließe sich überzeugend begründen, so sagt dies noch nichts darüber aus, welche Konsequenzen daraus für das Fahrlässigkeitsdelikt zu ziehen wären. Struensee übersieht nämlich, daß das dargestellte Unrechtskonzept terminologisch und inhaltlich mit Blickrichtung auf die Vorsatztat entwickelt worden ist. 1 0 3 Warum nun aber das Handlungsunrecht bei der Fahrlässigkeit ebenfalls und ausschließlich dadurch charakterisiert sein soll, daß ein unwertiger Sachverhalt erstrebt wird, macht Struensees Beweisführung nicht in hinreichendem Maße deutlich. Eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, daß gerade einige der Autoren, deren Unrechtslehre er übernimmt und aus der er seine Fahrlässigkeitsauffassung deduziert, keine Bedenken haben, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach objektiven Kriterien zu bemessen,104 läßt Struensees Beitrag vermissen. Die erste der eingangs gestellten Fragen ist somit in ihren beiden Bestandteilen zu verneinen. 2. Der normtheoretische Aspekt bei der Begründung einer subjektivierenden Fahrlässigkeitsdogmatik Offen bleibt damit noch — und darauf bezog sich die zweite zu Anfang gestellte Frage —, ob innerhalb einer Unrechtslehre der Form, wie sie heute ganz überwiegend vertreten wird, nicht normtheoretische Überlegungen zu einer Subjektivierung des Sorgfaltswidrigkeitsurteils führen müssen. Der Gedanke, die Norm fordere nur ein Verhalten, das vom Vermeidemotiv bestimmt wird, ist von Jakobs in die Debatte eingeführt worden. Daraus zieht er — wie bereits angesprochen — den Schluß, daß der Fahrlässigkeitstäter in der Lage sein müsse, die Tatbestandsverwirklichung zu erkennen, weil er sich sonst nicht zur Erfolgsvermeidung motivieren könne. 105 „Die Normen ergehen an einzelne Menschen und zwar nur an solche Menschen, von denen ein vernünftiger Gesetzgeber eine mindestens regelmäßige Befolgung erhoffen kann. Die Normen richten sich danach nicht an alle Menschen, sondern nur an prinzipiell taugliche Befehlsemp1(

>3 Lenckner in: Schönke / Schröder, 21. Aufl., Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 56a, weist darauf hin, daß der Terminus Intentionsunwert ein nur für die Vorsatztat passender Begriff sei, und Rudolphi (Maurach-Festschrift, S. 52) spricht in Zusammenhang mit dem Vorsatzdelikt von „einem menschlichen Verhalten, . . . das auf die Herbeiführung eines Sacherhaltsunwerts gerichtet ist". Bei der Fahrlässigkeit sieht er lediglich — wie die herrschende Meinung auch — die Verletzung von auf die Erfolgsvermeidung ausgerichteter Sorgfaltspflichten. Zur Terminologie siehe auch Jakobs, AT, S. 141 Fn. 156. KM Vgl. etwa Lenckner in: Schönke / Schröder, Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 56; ders., EngischFestschrift, S. 492 f.; Bockelmann, AT, S. 160. los Jakobs, Studien, S. 66.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Tanger. Die Normen richten sich weiters an die tauglichen Befehlsempfänger nicht immer, sondern nur dann, wenn sie sich in einer Lage befinden, welche die wenigstens regelmäßige Durchsetzung der Befehle voraussehen läßt. Denn die Norm ist wesentlich Willenskundgebung, und man kann nur wollen, was man für erreichbar hält." Auch wenn es den Anschein erweckt, gibt dieses Zitat nicht die Beweisführung Jakobs' wieder, sondern ist einer Monographie des Jahres 1903 entnommen, in welcher sich Hold v. Ferneck darum bemüht hat, dem Begriff der Rechtswidrigkeit 1 0 6 Konturen zu verleihen. Hold v. Ferneck ist als einer der Hauptvertreter einer Lehre anzusehen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts eine rege Diskussion ausgelöst hat, und die heute gemeinhin als „radikale Imperativentheorie" bezeichnet wird. Obwohl diese Richtung ursprünglich einige Anhänger fand, hat sie sich auf Dauer nicht durchsetzen können. Es wurde schon früh erkannt, daß sie mit ihrer Maßgabe, eine Norm könne sich nur an den tauglichen Normadressaten richten, zu einer „Konfundierung von Rechtswidrigkeit und Schuld" 107 führe. Angesicht der Tatsache, daß zwischen dieser Unrechtslehre und dem normtheoretischen Erklärungsansatz, den Jakobs vertritt, eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit besteht, sieht sich die Subjektivierung des Fahrlässigkeitstatbestandes, wie sie von Jakobs und Stratenwerth verfochten wird, denselben Einwänden ausgesetzt. Auch hier wird auf die Unmöglichkeit der Trennung von Unrecht und Schuld hingewiesen und die Befürchtung geäußert, subjektive Sorgfaltsmaßstäbe drohten die auf dieser Trennung beruhende moderne Verbrechenslehre in „Grund und Boden zu stampfen". 108 Stratenwerth hat in einer Replik auf die genannten Einwände reagiert. 109 In dieser sieht er die bisherige Diskussion zum Teil schwerwiegenden Mißverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt, die er sich bemüht aus dem Wege zu räumen. Dabei kommt es ihm vornehmlich auf den Nachweis an, daß auch unter Zugrundelegung eines subjektiven Sorgfaltsverständnisses die systematische Trennung zwischen Unrecht und Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt aufrechtzuerhalten sei. Verkannt werde nämlich, daß auch nach der von ihm vertretenen

106 So die Überschrift des 1. Bandes der Abhandlung, welche insgesamt den Titel „Die Rechtswidrigkeit" trägt. Die zitierte Stelle findet sich in Band 1 der genannten Schrift auf S. 198 f. 107 So von Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 25. Aufl. 1927, S. 172 f. mit einer ausführlichen Übersicht des damaligen Streitstandes sowie einer Zusammenfassung der weiteren Argumente, die gegen die Imperativentheorie vorgebracht wurden. Zur Kritik an dieser Rechtswidrigkeitslehre vgl. auch Nagler, Binding Festschrift, Band II, S. 295,311 ff., 318 ff., 335 ff., sowie Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 121 ff. Siehe daneben Maurach / Gössel / Zipf, AT, Teilband 2, S. 104. ios So Schünemann, JA 1975, S. 513; ders., Schaffstein-Festschrift S. 160. Zur Kritik vgl. auch Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 269 f.; Jescheck, AT, S. 193 Schmidhäuser, Schaffstein-Festschrift, S. 152 Fn. 70; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 104 f. 1Jescheck-Festschrift, S.

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IV. Sorgfaltsmaßstab und personale Unrechtslehre

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Auffassung innerhalb der individuellen Fähigkeiten des konkreten Täters zu differenzieren sei. Fahrlässig — und er meint damit tatbestandsmäßig-rechtswidrig und schuldhaft — handele nämlich nur derjenige, der „einerseits in der Lage ist, das unerlaubte Risiko, das er schafft, zu erkennen und zu beherrschen, also über das ,instrumenteile 4 Können verfügt, um dieses Risiko auszuschließen, und andererseits auch die »sittliche4 Anstrengung aufbringen kann, deren es dazu bedarf, also entsprechend verantwortlich und gewissenhaft zu handeln vermag." 1 1 0 Für das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts sei nun lediglich die Frage nach den instrumenteilen Fähigkeiten maßgeblich, das sittliche Können des Täters dürfe allein in der Schuld Berücksichtigung finden. Sei diese Differenzierung einmal erkannt, könne der Vorwurf, eine individualisierende Fahrlässigkeitsauffassung stelle die Trennung von Unrecht und Schuld in Frage, nicht aufrechterhalten werden. 111 Ob Stratenwerths Replik wirklich die gegen sein Konzept bestehenden Bedenken zerstreut, erscheint zweifelhaft. Um dies erkennen zu können, nähert man sich der Problematik am besten von der Schuldseite des fahrlässigen Delikts her. Einigkeit dürfte hier zunächst insoweit bestehen, daß auch bei der Fahrlässigkeit rechtswidriges Verhalten dem Handelnden immer dann vorgeworfen werden kann, wenn er das Unrecht seines Tuns erkennen und sich dieser Erkenntnis entsprechend motivieren kann. 112 Auch Stratenwerth wird dem zustimmen, denn er hält die Schuldtheorie prinzipiell für richtig113 und überträgt deren allgemeinen Grundsatz auch auf das Fahrlässigkeitsdelikt, wenn er unter Berufung auf Jakobs ausführt, „die Erkennbarkeit der Sorgfaltspflicht und die Möglichkeit, sich durch sie motivieren zu lassen", sei eine Frage der Schuld. 114 Er sagt es noch deutlicher: entscheidend sei die „Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen".115 Worin besteht nun das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts, das der Täter auch nach Stratenwerth erkennen können muß, um schuldhaft zu handeln? Nach der herrschenden Lehre würde die Antwort lauten, daß das Unrecht in einer sorgfaltswidrigen Handlung besteht.116 Stratenwerth müßte sich vergleichbar äußern, sieht er doch die Tatbestandmäßigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts in der Verletzung einer dem Täter obliegenden Sorgfaltspflicht. 117 Erkennenkönnen des Unrechts bedeutet demnach unabhängig vom dogmatischen Standpunkt Erkennbarkeit der Sorgfaltsverletzung. HO Jescheck-Festschrift, S. 287. in Jescheck-Festschrift, S. 289. 112 Dazu und zum folgenden Gedankengang Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 46. 113 AT, S. 173. 114 Jescheck-Festschrift, S. 288. Stratenwerth und Jakobs unterscheiden sich i. ü. zumindest in der Terminologie. Jakobs (AT, S. 260) wendet sich nämlich mit guten Gründen gegen den Gebrauch der Formulierung Sorgfalts#/7/c/tf, da es bei der Fahrlässigkeit keine andere Pflicht gebe als diejenige, welche sich aus der Norm ergibt. 115 Jescheck-Festschrift, ebenso Hirsch, LK, vor § 32 Rdn. 180. 116 Vgl. statt vieler Hirsch, ZStW, 94 (1982), 276. in Allg. Teil, S. 295. 6 Kaminski

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Was nun unter einer Sorgfaltsverletzung zu verstehen ist, erläutert Stratenwerth in Zusammenhang mit der Erklärung des Begriffs des instrumentellen Könnens. Es gehe hierbei, so führt er aus, um die Fähigkeit des Täters, das unerlaubte Risiko, das er schafft, zu erkennen 118 , m. a. W. um die Erkennbarkeit der möglichen Rechtsgutverletzung. An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Wenn man die vorangegangene Ableitung verfolgt, dürfte deutlich werden, daß Stratenwerth die schuldhafte Verwirklichung eines Fahrlässigkeitsdelikts von der Erkennbarkeit des Unrechts und damit letztlich von nichts anderem als der Erkennbarkeit einer drohenden Rechtsgutverletzung abhängig macht. In der Schuld ist diese Frage anhand der individuellen Fähigkeit des Täters auszurichten, darin hat Stratenwerth recht. Der Mangel seines Konzepts liegt jedoch in dem Umstand, daß er genau dieselbe Frage bereits im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts aufzuwerfen gedenkt und somit auf unterschiedlichen Stufen des Verbrechensaufbaus identische Anforderungen stellt. Im Ergebnis ist damit in der Tat der Vorwurf berechtigt, die Subjektivierung des Sorgfaltwidrigkeitsurteils führe genau wie die ältere Imperativentheorie zur UnUnterscheidbarkeit von Unrecht und Schuld. Stratenwerths Replik hat diesem Vorwurf nicht die Überzeugungskraft nehmen können. Daß die vorangegangenen Überlegungen keine Mißinterpretation der individualisierenden Fahrlässigkeitsauffassung darstellen, läßt sich am besten anhand des Beispiels des zurechnungsunfähigen Täters aufzeigen. Aufschlußreich dürfte hier sein — um von der Situation de lege lata auszugehen —, sich einen Täter vorzustellen, für den die Voraussetzungen des § 20 StGB erfüllt sind. Da es sich bei den dort beschriebenen Defekten um Störungen schwerwiegender Natur handelt, dürfte es häufig so sein, daß ein dieser Norm unterfallender Täter nicht nur das Unrecht von ihm begangener vorsätzlicher oder fahrlässiger Taten nicht einzusehen in der Lage ist, sondern auch mit seinem Handeln verbundene Rechtsgutbeeinträchtigungen anderer nicht voraussehen kann. Wenn aber einem solchen Täter — um mit Stratenwerth zu sprechen — schon das „instrumenteile" Können fehlt, so ist nicht nachvollziehbar, wie unter Zugrundelegung subjektiver Sorgfaltsmaßstäbe in typischen Situationen fehlender Schuld die Konsequenz vermieden werden könnte, schon das Unrecht der Tat zu verneinen. Schünemann ist deshalb zuzustimmen, wenn er bemerkt, das von Jakobs und Stratenwerth konzipierte Fahrlässigkeitsmodell drohe „das schlechthin fundamentale Aufbauprinzip unserer gesamten Strafrechtsdogamtik — die Trennung von Unrecht und Schuld — von Grund auf zu erschüttern." 119 Der dogmatischen Sprengkraft einer subjektivierenden Fahrlässigkeitsdoktrin wird durch Jakobs' normtheoretisches Argument — die Norm fordere ein Verhalten, das vom Vermeidemotiv bestimmt wird — nichts von ihrer Brisanz genom-

n8 Vgl. dazu das oben auf S. 114 angeführte Zitat. ii9 Schaffstein-Festschrift, S. 160.

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men. Dieses krankt nämlich daran — worauf Hirsch hingewiesen hat —, daß es den Blick einseitig auf das fahrlässige Delikt ausrichtet. 120 Einseitig ist dies deshalb, weil das Phänomen eines Täters, der sich zur Erfolgsvermeidung nicht motivieren kann, genauso beim Vorsatzdelikt existiert. Hirsch weist hier insbesondere auf die vorsätzlichen abstrakten Gefährdungsdelikte hin, bei denen die Parallele der Problematik überdeutlich wird: Auch hier können die Dinge so liegen, daß ein Täter aufgrund subjektiver Besonderheiten nicht in der Lage ist, das objektiv vorhandene Risiko seines Tuns zu erkennen und wegen des drohenden Erfolges die projektierte Handlung zu unterlassen. Obwohl auch hier der Normappell den Täter nicht erreicht, wird von niemandem der Standpunkt vertreten, in derartigen Fällen sei das Unrecht der Tat in Frage zu stellen. Wer aber gleiches beim Fahrlässigkeitsdelikt aufgrund normtheoretischer Erwägungen für unabdingbar erklärt, hat sich, der Konsequenz des eigenen Ansatzes wegen, die Frage nach dem sachlichen Grund der Ungleichbehandlung vorzulegen. Soweit ersichtlich ist dies bisher nicht geschehen. In engem Zusammenhang mit dem normtheoretischen Aspekt, den Jakobs in die Debatte eingeführt hat, steht eine Überlegung, aus der Stratenwerth die Notwendigkeit der Subjektivierung des Fahrlässigkeitsunrechts ableitet. Wie bereits ausgeführt wurde, 121 lenkt er den Blick auf die Tatbestandserfordernisse bei den Unterlassungsdelikten und bemüht sich, die dortige Situation mit der bei den Fahrlässigkeitsdelikten in Parallele zu setzen: Sowohl für den Unterlassungswie für den Fahrlässigkeitstäter habe zu gelten, daß die Fähigkeit vorhanden sein müsse, sich in der rechtlich gebotenen Weise zu verhalten, weil das Gebot nur dahin gehen könne, das Mögliche zu tun. 1 2 2 Dieser Ansatz Stratenwerths hat Kritik auf breiter Front erfahren. 123 Diese entzündete sich vor allem daran, daß er in Zusammenhang mit dem fahrlässigen Begehungsdelikt von Geboten spricht und auf dieser Grundlage Schlußfolgerungen für die Ausgestaltung des Sorgfaltswidrigkeitsurteils zieht. Wenn die Rechtsordnung der Sorgfalt widersprechendes Verhalten untersage — so ist ihm zu Recht vorgehalten worden —, spreche sie das Verbot eines Tuns und nicht etwa das Gebot aus, das jeweilige Handeln der Sorgfalt entsprechend einzurichten.

120 zStW 94 (1982), 270. 121 S. o. 2. Kap. II 2. 122 Strafrecht, Rdn. 1097. 123 Vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), 268 f.; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 106; Samson, SK, Anhang zu § 16, Rdn. 14a; Schmidhäuser, Schaffstein-Festschrift, S. 141; Schünemann, Schaffstein-Festschrift, S. 162 f.; ders., JA 1975, 514; Wolter, GA 1977, 268; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 170. Im Ausgangspunkt mit Stratenwerth übereinstimmend Maiwald, Dreher-Festschrift, S. 454, der allerdings Wert auf die Feststellung legt, aus der Unterlassungskomponente der Fahrlässigkeit sei nicht der Schluß zu ziehen, die Anforderungen seien an den höchstpersönlichen Fähigkeiten des Täters auszurichten. Partielle Zustimmung findet Stratenwerth auch bei Donatsch, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 111. 6*

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Ein Tun zu verbieten bedeutet nun aber nichts anderes, als ein Unterlassen zu verlangen, und zu unterlassen ist ein jeder in der Lage. 124 Stratenwerth will auch diesen Einwand nicht gelten lassen. In seiner Replik 125 findet dabei vor allem die These sein Mißfallen, zur Nichtvornahme fahrlässiger Handlungen als solcher sei auch der Einfältigste und Untüchtigste in der Lage. 126 Diese These — welche er im Zentrum der gegen seine Argumentation vorgebrachten Kritik vermutet — hält er nun schon allein deshalb für nicht hinreichend durchdacht, weil die Frage der „Mindesterfordernisse der Unterlassungsfähigkeit" weitgehend ungeklärt sei. 127 Da die herrschende Lehre nicht beantworten könne, ob es hierbei genüge, die Steuerung der eigenen Körperbewegung zu beherrschen, oder ob weitergehend erforderlich sei, zu wissen, was man tut, werde im Ergebnis dann doch die Parallele zum Unterlassungsdelikt gezogen. Dies geschehe durch den Hinweis, bei der Unterlassung genüge es, zur Vornahme der gebotenen Handlung physisch-real in der Lage zu sein, was seiner Ansicht nach nicht zutrifft, da „eine verbreitete Lehre heute die individuelle Handlungsfähigkeit" voraussetze, „die auch von den physischen Kräften, technischen Kenntnissen, intellektuellen Fähigkeiten usw. des Täters abhängen soll". 1 2 8 Stratenwerths Replik verwundert zunächst durch die zusammenfassende Darstellung der Kritik, die gegenüber der von ihm gezogenen Parallele geäußert worden ist. Es hat den Anschein, als würde Stratenwerth hier einem Mißverständnis erliegen. Keiner der Vertreter eines Fahrlässigkeitsmodells objektiver Prägung hat bisher behauptet, bei einer Sorgfaltsbemessung anhand genereller Leitlinien sei es notwendig zu ermitteln, wo die „Mindesterfordernisse der Unterlassungsfähigkeit" liegen, um sodann durch eine Parallelbetrachtung der Anforderungen beim Unterlassungsdelikt die dortigen Maßstäbe für anwendbar zu erklären. Argumentiert wurde vielmehr genau umgekehrt: Primär wurde festgestellt, daß es nicht ganz unproblematisch ist, auf eine Parallele zwischen fahrlässigen Begehungsdelikten mit der Unterlassungsstrafbarkeit zu verweisen, um im Anschluß daran zu betonen, daß selbst wenn man sich dieses Vergleichs bedienen wollte, daraus kein Hinweis auf die Notwendigkeit individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung folgt. 129 Abgesehen davon überzeugt aber auch Stratenwerths neuerlicher Versuch nicht, die Vergleichbarkeit der Situation beim Fahrlässigkeitsdelikt mit der bei der Unterlassung zu begründen und daraus Anhaltspunkte für die Stichhaltigkeit 124 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt neben den in Fn. 123 genannten Autoren Armin Kaufmann, ZfVR 1964, 47. 125 Jescheck-Festschrift, S. 290 ff. 126 So vor allem Schünemann, Schaffstein-Festschrift, S. 163. 127 Jescheck-Festschrift, S. 290. 128 Jescheck-Festschrift, S. 291. 129 Vgl. hierzu nur Hirsch, ZStW 94 (1982), 269 und Schünemann, SchaffsteinFestschrift, S. 162.

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seines Sorgfaltskonzeptes abzuleiten. Dies wird sehr rasch deutlich, wenn man dem Gang seiner Argumentation folgend ein Ergebnis am konkreten Beispielsfall zu formulieren versucht. Hierbei dürfte sich zunächst Einigkeit darüber erzielen lassen, daß bei in Betracht kommender Unterlassungsstrafbarkeit die Tatbestandsverwirklichung zu verneinen ist, wenn dem potentiellen Täter schon die Handlungsfähigkeit fehlt. 130 Überträgt man diesen Befund auf das fahrlässige Begehungsdelikt, in der Form, wie Stratenwerth dies vorzuschweben scheint, dann hat man dort die Tatbestandsverwirklichung zu verneinen, wenn es dem Täter an Unterlassungsfähigkeit mangelt. Anders kann der Hinweis Stratenwerths, die beim Unterlassungsdelikt auftauchende Frage der Handlungsfähigkeit bestehe beim Begehungsdelikt „prinzipiell in ganz derselben Weise" 131 , nicht verstanden werden. Nun fällt es einigermaßen schwer, sich einen Menschen vorzustellen, der zu einem Nicht-tun nicht in der Lage ist 1 3 2 , aber Stratenwerth hat ja offensichtlich die Fälle vor Augen, in deren Zusammenhang er erstmals die Parallele zum Unterlassungsdelikt erwähnt hat und die er von der herrschenden Lehre unzutreffend gelöst sieht. 133 Dies bedeutet, daß der Autofahrer, dessen Reaktionsvermögen infolge fortgeschrittener Zerebralsklerose erheblich herabgesetzt ist und der aus diesem Grund einen Unfall verursacht, deshalb nicht den Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdeliktes erfüllt, weil ihm die Unterlassungsfähigkeit fehlt. Anders formuliert: Der am genannten Defekt leidende Verkehrsteilnehmer ist nicht dazu in der Lage, die Verkehrsteilnahme zu unterlassen; er handelt infolgedessen nicht tatbestandsmäßig. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß dieses Ergebnis etwas befremdlich klingt. Bedenklicher wird es noch, wenn man sich die Auswirkungen auf den Handlungsbegriff vor Augen führt. Ob man das Verhalten eines Menschen noch als Handlung bezeichnen kann, wenn es an der Fähigkeit mangelt, dieses Verhalten zu unterlassen, ist mehr als zweifelhaft. Bezeichnenderweise setzt Stratenwerth selbst die Handlung seines Täters, der die drohende Gefahr zu erkennen nicht in der Lage ist, in Anführungszeichen. 134 Damit ist zu verzeichnen, daß Stratenwerths Replik auch insoweit die Überzeugungskraft fehlt, als er sich kritisch mit den Einwänden auseinandersetzt, die sich auf die von ihm gezogene Parallele zwischen den Unterlassungs- und den 13

0 Es bedarf in diesem Zusammenhang keiner Klärung, wie hoch die Anforderungen an die Handlungsfähigkeit beim Unterlassungsdelikt zu schrauben sind, ob es also ausreicht, daß der Verpflichtete zur Vornahme der gebotenen Handlung physisch-real in der Lage ist oder ob weitergehend die von Stratenwerth skizzierte „individuelle Handlungsfähigkeit" erforderlich ist. 131 Jescheck-Festschrift, S. 292. 132 Ein derartiges Phänomen läßt sich auch schwer in Worte kleiden. Bezeichnenderweise beschreiben die beiden von Stratenwerth benannten möglichen Untergrenzen — Jescheck-Festschrift, S. 290 — dieser Unterlassungsfähigkeit positives Tun. 133 AT, Rdn. 1097. 134 Jescheck-Festschrift, S. 292.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

fahrlässigen Begehungsdelikten bezogen. Insgesamt ist deshalb auch die zweite zu Beginn dieses Abschnitts aufgeworfene Frage in vollem Umfang zu verneinen: Es ist auch im Rahmen einer personalen Unrechtslehre keine aus normtheoretischen Überlegungen zu fordernde Voraussetzung der Tatbestandsverwirklichung, daß der Fahrlässigkeitstäter dazu in der Lage sein muß, die Tatbestandsverwirklichung zu erkennen. Dies läßt sich weder mit dem Argument begründen, die Norm fordere ein Verhalten, „das vom Vermeidemotiv bestimmt wird", noch lehrt der Blick auf die Unterlassungsdogmatik, beim Fahrlässigkeitsdelikt seien vergleichbare Anforderungen zu stellen.

V. Sonderwissen Die Problematik des sogenannten Sonderwissens spielt in den Erklärungsansätzen sämtlicher Vertreter eines individualistischen Fahrlässigkeitskonzepts eine entscheidende Rolle. 135 Dabei geht der an die herrschende Lehre gerichtete Vorwurf im Tenor meist dahin, eine Verhaltensbewertung anhand objektiver Maßstäbe habe zur Folge, daß derjenige in kaum vertretbarer Weise privilegiert werde, der über besondere Fähigkeiten verfüge. Diese These wird mit Beispielen untermauert. Exemplarische Bedeutung hat hierbei allem Anschein nach der besonders befähigte Chirurg, der unter Zugrundelegung objektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe nur diejenigen Fertigkeiten und Fähigkeiten anzuwenden brauche, die den Mindeststandard für jeden anderen Chirurgen auch bilden, der 1 3 6 — um es mit Jakobs' 137 Worten auszudrücken — auch „normal" operieren dürfe. Dieser Argumentation ist zu Recht entgegengehalten worden, daß sie an mangelnder Differenzierung leidet. 138 Es verkürzt nämlich den Befund, wenn man unter Verwendung von Beispielen, die das Attribut „lebensnah" mit Sicherheit nicht verdienen, sämtliche Fallkonstellationen erhöhter individueller Fähigkeiten über einen Kamm schert, um sodann auf vermeintlich unhaltbare Konsequenzen objektiver Sorgfaltsbemessung hinzuweisen. Bei genauem Hinsehen liegen die Dinge denn auch komplizierter. 139 Zunächst einmal hat man aus dem Konglomerat von Fallkonstellationen, die man unter dem Oberbegriff „erhöhte individuelle Fähigkeiten" zusammenfassen könnte, die Fälle zu isolieren, bei denen es nicht um ein Sonfexkönnen, sondern 135 Vgl. Jakobs, AT, S. 263; dersTeheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45; ders. y Studien, S. 55; Otto, Grundkurs, S. 151; Samson, SK, Anhang zu § 16, Rdn. 15; Stratenwerth, AT, Rdn. 1098; Struensee, JZ 1987, S. 59. 136 Stratenwerth, AT, Rdn. 1098. 137 Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45 138 So insbesondere Hirsch, ZStW 94 (1982), 272 ff. und Schünemann, JA 1975, 514 f. Kritik auch bei Lackner, StGB, § 15 Anm. III 2 a; Wolter, GA 1977, 269 und Maurach / Gössel / Zipf, AT, Teilband 2, S. 112 f. 139 Eingehend zu den folgenden Fallgruppen Hirsch, ZStW 94 (1982), 272 ff.

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um einen konkreten Wissensvorsprung in einer bestimmten Handlungssituation geht. Hier kann von einer Privilegierung desjenigen, der mehr weiß als der Durchschnitt — beispielsweise der Autofahrer, der die besondere Gefährlichkeit einer bestimmten Kurve kennt 140 — auch unter Zugrundelegung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs keine Rede sein: Ob ein Sorgfaltsverstoß vorliegt oder nicht, bestimmt sich danach, ob ein besonnener Angehöriger des maßgeblichen Verkehrskreises in der Lage des Täters den drohenden Erfolg hätte voraussehen können. „In der Lage des Täters" bedeutet aber nichts anderes, als das ein besonderer Informationsstand des Handelnden in die Beurteilung einfließt. 141 Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen sorgfaltsgemäßes Verhalten den Einsatz besonderer Fähigkeiten verlangt. Sorgfaltsverstöße sind hier in zwei Varianten denkbar: Entweder der Handelnde verfügt nicht über die besondere Befähigung, welche die Vornahme des gezeigten Verhaltens gestattet — der Arzt beherrscht die Operationsmethode, derer er sich bedient, nicht — oder die besondere Befähigung ist zwar vorhanden, wird aber, beispielsweise aus Nachlässigkeit, nicht eingesetzt. Auch hier kommt eine objektiv konzipierte Fahrlässigkeitsdoktrin nicht in Begründungsschwierigkeiten. In beiden Varianten würde nämlich der objektive Beurteiler, also der besonnene Angehörige des jeweiligen Verkehrskreises, prognostizieren, daß unwertige Erfolge drohen. 142 Auch hier scheitert die herrschende Lehre also nicht am „Problem" der Sonderfähigkeiten. An einem dritten Bereich läßt sich nun zeigen, daß der Vorwurf in umgekehrter Richtung zu erheben ist. Gerade die Ausrichtung der erforderlichen Sorgfalt am individuell Möglichen führt zu unangemessenen Ergebnissen. Betrachtet man beispielsweise die Teilnahme am Straßenverkehr, so liegen hier die Dinge so, daß ein die allgemeine Sorgfalt übersteigendes, noch sorgfältigeres Verhalten regelmäßig möglich wäre, ohne daß jedoch behauptet wird, der sich am Standard der StVO orientierende Autofahrer verhalte sich sorgfaltswidrig. Von den Vertretern subjektiver Fahrlässigkeitskonzepte wird nun allem Anschein nach übersehen, daß in sämtlichen dieser Situationen eine strukturelle Identität mit den Fallkonstellationen besteht, die zum Beleg der These dienen sollen, die herrschende Lehre führe zu einer unangebrachten Privilegierung des besonders Befähigten: Hier wie dort wäre ein Mehr an Sorgfalt möglich, wird ein vorhandenes Risikoverminderungspotential nicht ausgeschöpft; der sich „normal" im Straßenverkehr bewegende Autofahrer könnte weitergehende Sicherheitsvorkehrungen treffen, 140 Ähnliche Beispiele bei Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45 und Stratenwerth, AT, Rdn. 1103. 141 So auch Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 65 f.; Jescheck, AT, S. 522; Schünemann, Schaffstein-Festschrift, S. 166; Welzel, Strafrecht, S. 132; Wessels, AT, S. 199. Stratenwerth merkt in seiner Entgegnung an, es sei inkonsequent, wenn neben dem besonderen Wissen nicht alle individuellen Fähigkeiten bei der Sorgfaltsbewertung Berücksichtigung fänden (Jescheck-Festschrift, S. 301, Fn. 60). Daß dem nicht so ist, wird sich bei der Erörterung der dritten Fallgruppe zeigen. 142 Wie hier Hirsch, ZStW 94 (1982), 274 f.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

gleiches bliebe dem „normal" operierenden Chirurgen unbenommen. Daß der am Straßenverkehr „normal" teilnehmende Autofahrer nicht den Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt, dürfte unbestritten sein. Warum beim „normal" operierenden Chirurgen anders zu entscheiden sein soll 1 4 3 , ist nicht nachvollziehbar. Genau betrachtet greift deshalb der gegen die individualisierenden Fahrlässigkeitskonzepte erhobene Einwand, sie hätten zur Folge, den besonders Befähigten zu ständigen Höchstleistungen zu verpflichten, fast schon zu kurz. 144 Wer zum maßgeblichen Bezugspunkt der Frage, ob der Täter sich pflichtwidrig verhalten hat, dessen individuelle Handlungsmöglichkeiten erklärt und damit die Verletzung einer dem Täter obliegenden Pflicht, bestimmte Rechtsgutsverletzungen zu vermeiden, gleichsetzt 145 , der verpflichtet nicht nur den Täter, sondern jedermann zu Höchstleistungen. Diese Konsequenz wird denn auch von den meisten Vertretern der subjektiven Richtung dadurch vermieden, daß sie Tatbestandsmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit letztlich von der Überschreitung des erlaubten Risikos abhängig machen und damit ein sich an objektiven Maßstäben orientierendes Korrektiv über die Strafbarkeit entscheiden lassen.146 Die praktische Relevanz individualistischer Sorgfaltsbewertung vermindert sich damit deutlich, denn das Stichwort erlaubtes Risiko fällt regelmäßig bei der Erörterung der Bereiche, in denen geschriebene oder ungeschriebene Sorgfaltsregeln bestehen.147 Der Blick in jeden beliebigen Kommentar beweist, daß sich gerade dort die Domäne der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit befindet. In der bereits zitierten Replik Stratenwerths hat es zudem den Anschein, als sei das erlaubte Risiko nicht mehr ein Korrektiv nach einer subjektiv formulierten Sorgfaltsfrage, sondern wirke auf diese unmittelbar ein. Sowohl nach objektiver wie nach individualisierender Sichtweise sei nämlich — so führt Stratenwerth aus — die vom Sorgfaltspflichtigen zu erbringende Leistung von Art und Maß des Risikos abhängig, das für fremde Rechtsgüter geschaffen werden dürfe. „Die Reglememtierung einer Tätigkeit, wie z. B. der Teilnahme am Straßenverkehr" könne „infolgedessen auch den Sinn haben, bestimmte Risiken zuzulassen."148 143 So Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 20, Fn. 45. 144 Kritik in dieser Richtung bei LK-Schroeder, § 16 Rdn. 147; ähnlich Wolter, GA 1977, 270; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 107; Triffterer, Bockelmann-Festschrift, S. 210; vgl. auch Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 66, der bezugnehmend auf das Chirurgenbeispiel anmerkt, hier stelle schon die zum Vergleich herangezogene Maßfigur ein recht hohes Niveau dar. 145 So Otto, Grundkurs, S. 151. 146 Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 1974, S. 12 ff; Stratenwerth, AT, Rdn. 1101 ff.; Samson, SK, Anhang zu § 16 Rdn. 18. 147 So insbesondere Jakobs, Teheran-Beiheft, S. 12 ff. und Stratenwerth, AT, Rdn. 1101 ff. 148 Jescheck-Festschrift, S. 300.

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— Stratenwerth gibt an dieser Stelle, ohne es zu registrieren, den eigenen Standpunkt auf. Wenn er das Maß der erforderlichen Sorgfalt von Art und Maß des erlaubten Risikos abhängig macht, dann bewegt er sich ganz auf dem Boden der herschenden Lehre, denn Art und Maß einer Risikoerlaubnis — sein Hinweis auf die Regeln des Straßenverkehrs zeigt es — bestimmen sich nach objektiven Kriterien. 149 Kaum überzeugend wirkt auch der Versuch, Differenzen der gegenüberstehenden Fahrlässigkeitskonzepte dort zu konstruieren, wo der Handelnde konkret drohende Gefahren kennt. Stratenwerth bildet hierzu das Beispiel eines Autofahrers, der auf einer deutschen Autobahn in der Regel darauf vertrauen dürfe, nicht rechts überholt zu werden. Wer in dieser Situation zufällig bemerke, daß jemand sich anschickt, doch in dieser Weise zu überholen, dürfe natürlich nicht aus pädagogischen Gründen so tun, als habe er dies nicht gesehen, sondern müsse alle ihm verfügbaren fahrerischen Fähigkeiten einsetzen, um einen Unfall zu verhüten. 150 — Gegen das Ergebnis ist nichts einzuwenden. Es wird nur nicht recht klar, inwieweit es ein Argument gegen ein Fahrlässigkeitskonzept objektiver Prägung sein könnte. Gerade dies meint Stratenwerth jedoch und versucht es mit seinem Beispiel zu zeigen. „Die Begrenzung der gebotenen Sorgfalt auf ein normales oder auch durchschnittliches Maß muß . . . auch bei an sich standardisiertem Verhalten entfallen, wenn es um die Abwendung konkreter Gefahren geht", schreibt er nämlich unmittelbar davor einleitend. Stratenwerths These wird durch sein Beispiel nicht gestützt. Ein Autofahrer, der erkennt, daß er vorschriftswidrig überholt wird und aus „pädagogischen Gründen" nach rechts zieht, handelt, sofern nicht schon Vorsatz gegeben ist, auch nach objektiven Sorgfaltsmaßstäben fahrlässig: Für einen besonnenen Verkehrsteilnehmer in der Situation des Täters ist es erkennbar, daß ein derartiges Verhalten unwertige Erfolge herbeizuführen geeignet ist. Der Meinungsstreit spielt bei derartigen Konstellationen also überhaupt keine Rolle. Läßt man die vorangegangenen Überlegungen Revue passieren, so hat sich zum einen gezeigt, daß die unter der Überschrift „Sonderwissen" geführte Diskussion keinerlei Anhaltspunkte ergibt, aus welchen die befürchtete Privilegierung des überdurchschnittlich Befähigten bei Anwendung objektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe folgen würde. Im Gegenteil wurde deutlich, daß die subjektive Richtung zu einer Überspannung der Sorgfaltsanforderungen führen kann, wenn nicht — was zumeist geschieht — der eigene dogmatische Ansatz durch den Hinweis auf das erlaubte Risiko untergraben wird. Als Zwischenergebnis läßt sich damit festhalten, daß die gegenüberstehenden Fahrlässigkeitskonzepte aus der Perspektive des Problemkreises erhöhter individueller Fähigkeiten betrachtet zu den gleichen Ergebnissen führen, die objektive Sichtweise aber die größere dogmatische Stringenz für sich hat. 149 Eingehend zur Lehre vom erlaubten Risiko Hirsch in: LK, Vor § 32 Rdn. 30. 150 Jescheck-Festschrift, S. 302.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Im erörterten Kontext unternimmt nun Struensee einen erneuten Angriff auf das herrschende Fahrlässigkeitsverständnis, allerdings von einem ganz anderen Ausgangspunkt, als er im vorangegangenen dargestellt wurde. Zwar meint auch er, mit dem Stichwort „Sonderwissen" einen wunden Punkt der herkömmlichen Fahrlässigkeitsdogmatik entdeckt zu haben, jedoch verweist er nicht auf angeblich unhaltbare Ergebnisse, zu denen die objektive Sicht der Dinge in diesem Bereich führt. Er greift vielmehr den hier als Zwischenergebnis festgehaltenen Befund auf und hebt den Umstand hervor, daß die unterschiedlichen Auffassungen zu identischen Ergebnissen führen können. Diese auf Teilbereiche zutreffende Feststellung wird sodann verallgemeinert: Durch die Berücksichtigung des Sonderwissens werde unausweichlich das gesamte Täterwissen der Beurteilung zugrundelegt. Es bliebe sich gleich, „ob die Tatsachen, die der objektive Beobachter erkennt, durch die sonderbewußten ergänzt oder ob die täterbewußten durch die objektiv erkennbaren Umstände aufgestockt werden", denn die zu beurteilende Risikolage könne niemals hinter dem Umfang der Kenntnis des Handelnden zurückbleiben. 151 Daraus zieht er den seiner Ansicht nach zwangsläufigen Schluß, die Relevanz des Sonderwissens habe die Relevanz der Unkenntnis derjenigen Risikofaktoren zur Folge, die Gegenstand des Sonderwissens sein können. Im Ergebnis sei damit der objektive Standpunkt der herrschenden Lehre nur ein scheinbarer, auch sie berücksichtige den subjektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, allerdings theoretisch bodenlos und dogmatisch unreflektiert. 152 Zum Beleg dieser These dient ihm u. a. eine Entscheidung des BGH, die in der Literatur überwiegend Anklang gefunden hat. 153 Der BGH hatte einen Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, der — selbst drogenabhängig — Einwegspritzen besorgt hatte, um zusammen mit einem anderen Rauschgiftsüchtigen von diesem beschafftes Heroin zu konsumieren, wobei letzterer starb. Die tragenden Gesichtspunkte der Urteilsgründe stellen sich in Kürze zusammengefaßt wie folgt dar: Zunächst greift der BGH den erstmals im Polizeimeisterfall 154 ausgesprochenen Grundsatz auf, wonach das fahrlässige Veranlassen, Ermöglichen oder Fördern eigenverantwortlicher Selbstverletzung dann straflos ist, wenn das entsprechende vorsätzliche Handeln es ebenso wäre. Sodann wird — eigenverantwortliches Handeln des Opfers zunächst noch unterstellend — konstatiert, daß die Selbsttötung des Opfers keinen Tatbestand erfüllt, mithin ein darauf gerichtetes vorsätzliches Handeln des Angeklagten nicht strafbar wäre. 155 Schließlich — und damit vervollständigt sich die zum Freispruch führende Argumentation — wird ein eigenverantwortliches Handeln des Opfers in dubio pro reo angenommen, da Feststellungen zu dieser Frage nicht mehr möglich waren. 151 JZ 1987, 59. 152 JZ 1987, 59, 61. 153 BGHSt 32, 262. 154 BGHSt 24, 342. 155 BGHSt, 32, 264 f.

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Struensee meint nun aus dieser schlüssigen und wenig Raum für Spekulationen lassenden Begründung Grundsätzliches von bedeutsamer systematischer Tragweite herauslesen zu können. Maßgebliches Entscheidungskriterium sei nämlich letztlich nichts anderes als eine bestimmte Ausgestaltung der Anforderungen an die subjektive Seite des Handelnden gewesen. Nicht das Fehlen des tatbestandsmäßigen Erfolges habe der Verantwortlichkeit des Angeklagten entgegengestanden. Dieser habe vielmehr vorgelegen, denn überlegenes Sachwissen — auf das der BGH maßgeblich abstellte — könne nur dort zur Strafbarkeit führen, wo der Sachverhaltsunwert vorliege. Als entscheidend für den Umstand, daß das Verhalten des Angeklagten kein tatbestandsmäßiger Vorgang gewesen sei, habe man vielmehr das Fehlen des Handlungsunwertes anzusehen, das in der Unkenntnis objektiv risikorelevanter Faktoren begründet sei. 156 Abgesehen davon, daß nicht recht verständlich wird, wieso die theoretische Bodenlosigkeit der herrschenden Literaturmeinung aus einer Entscheidung des BGH ablesbar sein soll, überzeugt Struensees Deutung des Urteils auch in der Sache nicht. Zunächst einmal trifft seine Annahme nicht zu, der BGH bejahe das Vorliegen des tatbestandsmäßigen Erfolges. Anscheinend übersieht er, daß der Senat in seiner Entscheidung die Eigenverantwortlichkeit des Handelns des Opfers zum letztlich entscheidenden Kriterium gemacht hat. Dies bedeutet, daß mit der Feststellung eigenverantwortlichen Handelns zwingend eine Fremdtötung zu verneinen und ebenso zwingend eine tatbestands/öse Selbsttötung zu bejahen ist. Da der BGH aber zugunsten des Angeklagten von der Eigenverantwortlichkeit des Opfers ausgegangen ist 1 5 7 , kann keine Rede davon sein, daß der eingetretene Erfolg als ein tatbestandsmäßiger angesehen werden könne. Struensees weitergehende Annahme, das Verhalten des Angeklagten sei deshalb kein tatbestandsmäßiger Vorgang, weil diesem bestimmte risikorelevante Faktoren unbekannt geblieben sind, fehlt unter Berücksichtigung der vorangegangenen Überlegungen schon die Grundlage. Nur der Vollständigkeit halber sei deshalb bemerkt, daß an keiner Stelle des Urteils die „Unkenntnis objektiv vorhandener risikorelevanter Faktoren" festgestellt wird. Die Vorinstanz hatte die Vorhersehbarkeit des Geschehensablaufs durch den Angeklagten bejaht. Der Senat läßt diese Frage ausdrücklich offen, da die die Entscheidung tragenden Gesichtspunkte an anderer Stelle zu suchen waren. Struensee bildet auch eigene Beispielsfälle, aus denen sich ergeben soll, daß die herrschende Lehre durch die Berücksichtigung des Sonderwissens im Umkehrschluß die Tatbestandsmäßigkeit fahrlässigen Verhaltens an der Risikounkenntnis des konkret Handelnden scheitern lasse. 158 So erfülle die Mutter, die ahnungslos ihr Kind mit der von einem anderen vergifteten Babynahrung füttere, 156 JZ 1987, 59. 157 BGHSt. 32, 256 f. iss JZ 1987, 59.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

oder der Postbote, der ebenso ahnungslos einen Sprengstoffbrief zustelle, allein deshalb nicht den Tatbestand der betreffenden Fahrlässigkeitsdelikte, weil die Handlungen in Unkenntnis des drohenden Erfolges vorgenommen wurden. Unstreitig ist das in den Beispielsfällen geschilderte Verhalten kein tatbestandsmäßiges. Unklar bleibt jedoch, inwiefern sich aus den Beispielen ergeben soll, ein objektiv ausgerichtetes Fahrlässigkeitskonzept verneine mit dem Hinweis auf die Begrenztheit des Täterwissens die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes. Den Satz, um dessen Beweis es Struensee geht — bei Verwendung objektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe entscheidet in Wahrheit das Täterwissen über die Tatbestandsmäßigkeit — „beweist" er, indem er Beispiele bildet und im Anschluß daran die zu beweisende These wiederholt. Es bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen zur Beweiskraft eines Zirkelschlusses, um zu erkennen, daß Struensee die herrschende Lehre mißinterpretiert. Insgesamt hat sich damit gezeigt, daß der mit dem Stichwort „Sonderwissen" überschriebene Problemkreis keinen Anhaltspunkt dafür hergibt, von einer objektiven Ausgestaltung des Fahrlässigkeitsunrechts abzuweichen. Weder wird derjenige, der Besonderes zu leisten in der Lage ist, unangebracht privilegiert, noch werden in Fällen, in denen ein konkreter Informationsvorsprung des Handelnden besteht, unangemessene Ergebnisse erzielt. Schließlich ist es auch nicht so, daß der objektive Maßstab der herrschenden Lehre nur ein vermeintlicher ist, weil sie die Tatbestandsfrage stets vom Wissen des Handelnden abhängig mache.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung Wurde in den vorangegangenen Abschnitten untersucht, ob sich aus der Finalität der Handlung, der Personalität des Unrechts sowie aus der Problematik des sog. „Sonderwissens" ergibt, daß im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts subjektive Maßstäbe der Handlungsbewertung anzulegen sind, so soll unter Verschiebung der Perspektive nun — nach negativem Befund in dieser Hinsicht — der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen die Individualisierung der Sorgfaltsanforderungen hätte. Es wäre immerhin denkbar, daß trotz der schon aufgezeigten grundsätzlichen Bedenken die Tatbestandsverwirklichung gleichwohl davon abhängig gemacht werden muß, daß der jeweils Handelnde den drohenden Erfolgseintritt zu erkennen in der Lage ist, weil andere, bisher unerwähnt gebliebene Gründe eine derartige Vorgehensweise zwingend erfordern. 159 Für diesen Fall hat man sich die Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung vor Augen zu führen. 159

Zu denken ist hier insbesondere an die von Samson in: SK, Anhang zu § 16 Rdn. 13a aufgestellte Behauptung, eine Sorgfaltsbemessung anhand objektiver Kriterien sei unpraktikabel und letztlich undurchführbar.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

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Die in der bisherigen Diskussion zu diesem Problemkreis angesprochenen Gesichtspunkte lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite finden sich Fragestellungen, die unabhängig von der gegenwärtigen Rechtslage geklärt werden können, auf der anderen Seite gibt die Vereinbarkeit subjektiver Fahrlässigkeitskonzepte mit der Situation de lege lata zur Überprüfung Anlaß. Entgegen der dogmatischen Gewichtung beider Bereiche wird letzteres im folgenden zunächst erörtert, weil der erstgenannte Komplex zu weiteren Fragen Anlaß gibt, die innerhalb dieses Kapitels noch nicht abschließend geklärt werden können. 1. Maßregeln Einige der Maßregeln im Allgemeinen Teil des StGB sind dadurch gekennzeichnet, daß ihre Verhängung ein tatbestandsmäßig-rechtswidriges Verhalten voraussetzt und auf den Schuldnachweis verzichtet. 160 Verneint nun eine Fahrlässigkeitsdoktrin beim Vorliegen individueller Defekte, welche die Fähigkeit zur Voraussicht der Folgen des eigenen Handelns einschränken, bereits die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes, so liegt der Einwand auf der Hand, daß eine solche Lehre bei den Maßregelvorschriften versage, denn mit der Negierung der Tatbestandmäßigkeit eines zwar objektiv, nicht jedoch subjektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens würde eine der Voraussetzungen der Anordnung dieser Rechtsfolge fehlen. Um die Problematik anschaulich zu verdeutlichen, hat sich Schünemann des Beispiels des „völlig verkalkten Chirurgen" bedient, der infolge seiner Unfähigkeit zwar besonders gefährlich ist, gegen den jedoch, weil er im Schadensfalle schon nicht tatbestandsmäßig handelt, ein Berufsverbot gemäß § 70 StGB nicht verhängt werden dürfe. 161 Stratenwerth hält diese Argumentation schon allein deshalb nicht für stichhaltig, weil die herrschende Auffassung — so seine Vermutung — im Bereich der Maßregeln im wesentlichen zu genau denselben Ergebnissen komme. Zwar räumt er ein, daß hinsichtlich der Anordnung des Verfalls gemäß § 73 StGB die gegen sein Konzept vorgebrachten Einwände der Sache nach zutreffen, hält dies jedoch für eine „magere Ausbeute", wenn man angetreten sei, den Nachweis eines Versagens der individuellen Auffassung bei den Maßregeln zu führen. 162 Bei allen anderen Maßregeln könne nämlich auch bei objektiver Betrachtungsweise ein Rechtsfolgenausspruch nicht ergehen. Der Blick auf das von Schünemann in die Debatte gebrachte Berufsverbot zeige, daß dessen Anordnung von der 160 §§ 63, 64, 69, 70, 73 StGB. 161 JA 1975, 515. Zur Kritik der subjektiven Lehre im Hinblick auf Schwierigkeiten im Bereich des Maßregelrechts auch Hirsch, ZStW 94 (1982), 272; Jescheck, AT, S. 510; Cramer in: Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 142; Wolter, GA, 1977, 258, 265. 162 Jescheck-Festschrift, S. 298 f. Man sollte jedoch für diesen Fall darüber nachdenken — meint Stratenwerth —, ob es unter Zugrundelegung der herrschenden Lehre sinnvoll sei, einen Verfall anzuordnen, wenn der Täter die Gefährlichkeit seines Tuns nicht erkennen konnte.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Verurteilung des schuldhaft handelnden Täters oder von dessen NichtVerurteilung wegen Schuldunfähigkeit abhänge. Für den oben zitierten Beispielsfall bedeute dies, daß auch nach der herrschenden Auffassung ein Berufsverbot nicht verhängt werden könne, da die Verurteilung des berufsuntauglichen Chirurgen nicht an der fehlenden Schuldfähigkeit, sondern am NichtVorliegen eines selbständigen Schuldmerkmals, nämlich dem der Möglichkeit individueller Erfolgsvoraussicht scheitere. Es ist Stratenwerth zuzugeben, daß in der Tat Fallkonstellationen denkbar sind, in denen auch unter Zugrundelegung objektiver Sorgfaltsanforderungen im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts eine Anordnung von Maßregeln nicht in Betracht kommt. 163 Es fragt sich allerdings, ob allein aus dieser Feststellung die Stichhaltigkeit von Stratenwerths Einwänden folgt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn auch seine weitergehende These zuträfe, die Verhängung von Maßregeln käme bei Verwendung objektiver Maßstäbe auch dann nicht in Betracht, wenn Schuldunfähigkeit sowie das Fehlen der Möglichkeit individueller Erfolgsvoraussicht kumulativ vorliegen. 164 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß es das von Stratenwerth vermutete Problem der Kumulation nicht gibt, wobei es gleichgültig ist, welche Auffassung man zur Binnenstruktur der Elemente des strafrechtlichen Schuldbegriffs vertritt. Folgt man hier der überwiegenden Ansicht, die in der Schuldfähigkeit ein eigenständiges Schuldelement oder eine Schuldvoraussetzung sieht, ist nach Verneinung dieses Merkmals die weitergehende Frage, ob der Täter die Schulderfordernisse des Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt hat, also die Sorgfaltswidrigkeit seines Handelns zu erkennen in der Lage war, ohnehin obsolet. Demnach bestehen unter Zugrundelegung dieser Auffassung auch keine Bedenken, bei den Fällen, die Stratenwerth im Auge hat, lediglich die Schuldfähigkeit zu verneinen und insoweit die Voraussetzungen der Anordnung einer Maßregel als erfüllt anzusehen. 165 Nichts anderes gilt, wenn man die Existenz einer eigenen systematischen Kategorie „Schuldfähigkeit" bestreitet und lediglich ein intellektuelles und ein voluntatives Element als Bausteine des Schuldbegriffs anerkennt. 166 Hat man hier festgestellt, daß ein Täter infolge eines der in § 20 StGB beschriebenen Defekte nicht in der Lage war, das Unrecht seines Tuns einzusehen, hat man von den Sachverhalten, welche das intellektuelle Schuldelement entfallen lassen können, den umfassendsten geprüft und bejaht. Es besteht dann keine Veranlas163

Zu denken ist hier an den Fall, daß der Täter das Unrecht der Tat nicht einzusehen in der Lage ist, dabei aber die fehlende Unrechtseinsicht nicht auf einem der Gründe des § 20 StGB beruht. 164 Jescheck-Festschrift, S. 298. 165 Vgl. hierzu etwa Jescheck, AT, S. 535; Cramer in: Schönke / Schröder, § 15 Rdn. 191. 166 So etwa Hirsch in: LK, Vor § 32, Rdn. 175 ff.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

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sung mehr, nach der für das Fahrlässigkeitsdelikt bedeutsamen Möglichkeit der Unrechtseinsicht zu fragen, weil das Fehlen dieser Möglichkeit bereits geklärt ist. Auch insoweit ist also nicht zu erkennen, inwieweit Schwierigkeiten bei der Anordnung von Maßregeln entstehen sollten, wenn man im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts lediglich objektive Sorgfaltsanforderungen stellt und die individuelle Komponente bei der Schuld beläßt. Schwierigkeiten entstehen in der Tat allerdings dann, wenn mit dem Fehlen der individuellen Möglichkeit zur Erfolgsvoraussicht bereits der Tatbestand entfällt, da es dann an einer rechtswidrigen Tat mangelt, die Voraussetzung sämtlicher Maßregeln ist. Stratenwerth geht auch nicht näher darauf ein, wie diese Konsequenz zu vermeiden wäre. Nur am Rande sei bemerkt, daß der von Samson167 gewiesene Weg, bei der Verhängung von Maßregeln lediglich auf die durch die Tat indizierte Gefährlichkeit des Täters abzustellen, nicht gangbar ist. Wer so argumentiert, hat sich die Frage vorzulegen, wie die Zuweisung einer Kompetenz an den Strafrichter zu rechtfertigen ist, die dieser nach geltendem Recht nicht hat. 168 Ähnlichen Einwänden dürfte sich der Vorschlag Jakobs' ausgesetzt sehen, den Begriff der Rechtswidrigkeit im Maßregelrecht aus dem Regelungszweck dieses Bereichs herzuleiten, wobei er Objektivierungen für Vorsatz wie für Fahrlässigkeit als denkbar ansieht. 169 Abschließend läßt sich dies indessen nicht feststellen, da Jakobs nicht näher ausführt, wie man sich diese Objektivierungen vorzustellen hat. Festzuhalten ist jedoch, daß eine Objektivierung „je nach Bedarf 4 sicher nicht für die Stringenz des eigenen Ansatzes spricht. 2. § 323 a StGB Auch beim Vollrauschtatbestand ergeben sich Schwierigkeiten für die subjektive Richtung. Kann der infolge des Rausches schuldunfähige Täter aufgrund seiner Trunkenheit die schädlichen Folgen seines objektiv-sorgfaltswidrigen Handelns nicht mehr vorhersehen, dann — so sollte man meinen — müßte das zwingende Ergebnis bei Verwendung subjektiver Maßstäbe die Verneinung der Tatbestandsverwirklichung des § 323a StGB sein; die von dieser Vorschrift geforderte rechtswidrige Tat liegt bei individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbestimmung nicht vor. 1 7 0 Ganz so eindeutig liegen die Dinge aber dann doch nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man den Ausführungen Stratenwerths zu diesem 167 SK, Anhang zu § 16 Rdn. 14. 168 Kritik in diese Richtung schon bei Schünemann, JA 1975, 515 und Hirsch, ZStW 94 (1982), 272, die darauf hinweisen, der Vorschlag Samsons bewirke eine Orientierung hin auf ein polizeiliches Maßnahmerecht. 169 AT, S. 262. Zu den Bedenken gegenüber differierenden Rechts widrigkeitsbegriffen siehe auch noch unter Ziffer 3. 170 Diese naheliegende Kritik findet sich dann auch bei Hirsch, ZStW 94 (1982), 272; Jescheck, AT, S. 510; Schünemann, JA 1975, 515; ders. y Schaffstein-Festschrift, S. 165; Wolter, GA 1977, 265.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Problem folgt. 171 Stratenwerth bietet hier gleich zwei Lösungswege an, die einzuschlagen er dem Leser anheimstellt, je nachdem wo dieser die ratio legis des § 323a StGB sieht. Wer den Tatbestand auf jede durch den Rausch begründete Gefährdung erstrecken wolle, habe hier genauso zu entscheiden wie im Fall des rauschbedingten Irrtums, d. h. die Tatbestandsverwirklichung zu bejahen. Wer dagegen den Zweck der Regelung in dem Ziel sehe, dem rauschbedingten Ausschluß der Schuldfähigkeit nicht zwangsläufig strafbefreiende Wirkung beizumessen, dürfe sich mit Hilfe der Vorschrift nur über das Fehlen der Schuldfähigkeit, nicht jedoch über das NichtVorliegen anderer Strafbarkeitsvoraussetzungen hinwegsetzen.172 Die zur Auswahl gestellten Alternativen machen nach Stratenwerths Dafürhalten deutlich, daß man es letztlich nicht mit einem Problem der Fahrlässigkeitsdogmatik, sondern mit der Frage der angemessenen Interpretation des § 323a StGB zu tun habe. Ob diese Einschätzung Stratenwerths zutrifft, erscheint zweifelhaft. Bedenken bestehen vor allem im Hinblick auf die Ausführungen zur zweiten der von ihm aufgezeigten Varianten. Hier scheint das gleiche Mißverständnis vorzuliegen, das schon im Bereich des Maßregelrechts angesprochen wurde: Da sich beim Fahrlässigkeitsdelikt die Frage der Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, mit derjenigen der Möglichkeit individueller Erfolgsvoraussicht überschneidet, gibt es die von Stratenwerth vermutete Konkurrenzsituation verschiedener Schuldmerkmale nicht. Das Ergebnis lautet demnach in dieser von ihm zur Auswahl gestellten Alternative in der Tat so, daß bei Verwendung objektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe der Vorschrift des § 323a StGB ein Anwendungsbereich verbleibt, unter Zugrundelegung subjektiver Kriterien dagegen nicht, weil es insoweit schon am Vorliegen einer rechtswidrigen Tat mangelt. Letzteres gilt natürlich nur unter dem Vorbehalt, daß man nicht die erste der von Stratenwerth vorgeschlagenen Möglichkeiten für vorzugswürdig hält. Aber auch dieser Weg erweist sich als nicht gangbar, jedenfalls in einem Fahrlässigkeitssystem subjektiver Prägung nicht. Wer die Existenz des Merkmals der objektiven Sorgfaltswidrigkeit negiert und gleichzeitig auf die individuelle Erfolgsvoraussicht verzichtet, um seine dogmatische Konstruktion den Erfordernissen des Vollrauschtatbestandes anzupassen, der sieht sich, wenn ein Fahrlässigkeitsdelikt als objektive Bedingung der Strafbarkeit bei § 323a StGB in Betracht kommt, einem entleerten Tatbestand gegenüber: Festzustellen bliebe insoweit nur noch ein „tatbestandsmäßiger" Erfolg. Im Ergebnis erscheint damit auch nach Stratenwerths ergänzender Darstellung die Kritik, die Subjektivierung des Fahrlässigkeitsunrechts führe zu Problemen bei der Anwendung des Vollrauschtatbestandes, in vollem Umfang berechtigt. 171 Jescheck-Festschrift, S. 299. 172 Ähnlich wohl Jakobs, AT, S. 262. Vgl. auch Samson in: SK, Anh. zu § 16 Rdn. 14, der unter Bezugnahme auf Jakobs ausführt, bei § 323a StGB läge es nahe, nur die durch den Rausch bedingte fehlende Motivierbarkeit und nicht auch die Steuerungsfähigkeit zu erfassen.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

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3. Notwehr Das Recht, Notwehr zu üben, hat zur Voraussetzung, daß die Verteidigungshandlung der Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs dient. Wer nun das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts subjektiviert, kommt nicht umhin, sich die Frage vorzulegen, unter welchen Voraussetzungen bei fahrlässigem Handeln von der Rechtswidrigkeit eines Angriffs gesprochen werden kann. Dies ist bei den meisten Vertretern der subjektiven Richtung auch geschehen, freilich mit unterschiedlichen Ergebnissen. Stratenwerth modifiziert für den Bereich der Notwehr die eigene Ansicht, indem er hier nicht mehr auf die dem Täter mögliche Sorgfalt, sondern auf den Gesichtspunkt des erlaubten Risikos abstellt, also einen objektiven Maßstab zum entscheidenden Kriterium macht. 173 Vergleichbares vertritt wohl Otto, der mit dem subjektiven Maßstab verbundene Notwehrprobleme sieht, denen man allerdings durch eine Aufspaltung des Rechtswidrigkeitsbegriffs begegnen könne. 174 Offen bleibt hier, wie man sich diese Aufspaltung vorzustellen hat. Samson entscheidet demgegenüber konsequent, indem er seine für das Fahrlässigkeitsunrecht vertretene Auffassung überträgt und die Rechtswidrigkeit eines Angriffs bei subjektiv sorgfaltswidrigem Verhalten bejaht. 175 Dabei drängt sich natürlich die Frage auf, ob eine derartige Sichtweise noch mit der ratio des Notwehrrechts in Einklang zu bringen ist und ob hier nicht eine Aufweichung vormals vorhandener und in diesem Bereich auch erforderlicher scharfer Grenzziehungen droht. 176 Diese Bedenken gelten verstärkt für die von Jakobs verfochtene Ansicht, der weitergehend als Samson nicht nur individuelle Erfolgsvoraussicht, sondern auch schuldhaftes Handeln eines Täters verlangt, um von der Rechtswidrigkeit eines Angriffs ausgehen zu können. 177 Es liegt auf der Hand, daß die angesprochenen Thesen zur Notwehr vom Boden einer objektiven Fahrlässigkeitslehre aus betrachtet in mehrfacher Hinsicht Anlaß zur Kritik bieten. Dabei soll nun im folgenden nicht die dogmatische Überzeugungskraft der jeweiligen Notwehrkonzepte untersucht werden, weil dies den durch das gestellte Thema vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Hingewiesen werden soll lediglich auf einen Punkt: Betrachtet man die im vorangegangenen in mehrfacher Hinsicht untersuchten subjektiven Fahrlässigkeitslehren im Überblick und dabei insbesondere die Ausführungen zum Merkmal der Rechtswidrigkeit, so kann von einer einheitlichen Ausgestaltung dieses Begriffs keine Rede mehr sein. Gegenstand der Kritik ist dabei nicht, daß sich innerhalb des subjekti173 AT, Rdn. 425. Seine in diesem Zusammenhang aufgestellte These, die Frage der Ausgestaltung des Merkmals „Rechtswidrigkeit des Angriffs" bei § 323a StGB sei „eher von dogmatischer als von praktischer Bedeutung" ist nicht nachvollziehbar. 174 JuS 1974, 707 m. Fn. 43. 175 SK, § 32 Rdn. 15. 176 Zur Kritik vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), 271 m. Fn. 189; ders., Dreher-Festschrift, S. 227 m. Fn. 54. 177 AT, S. 317 f. 7 Kaminski

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

ven Lagers eine einheitliche Linie hinsichtlich der Deutung dieses Begriffs nicht feststellen läßt. Was allerdings zu denken geben sollte, ist der Umstand, daß bei den einzelnen Autoren das Merkmal Rechtswidrigkeit in Abhängigkeit vom jeweils in Rede stehenden Bereich durchaus Unterschiedliches bedeuten kann. Besonders deutlich wird dies bei der Konzeption Jakobs' : Ist die zur Notwehr berechtigende Rechtswidrigkeit eines Angriffs von subjektiv sorgfaltswidrigem und schuldhaftem Handeln abhängig 178 , so ist das gleichlautende Merkmal im Maßregelrecht aus dem Regelungszweck dieses Bereichs herzuleiten 179 und wiederum anders soll zu entscheiden sein, wenn eine Bestrafung rechtwidrigen Handelns nach § 323a StGB zu Debatte steht. 180 Daß eine derartige Aufspaltung zu eigentümlichen Konsequenzen führen kann, wird spätestens dann deutlich, wenn man die Möglichkeit der gleichzeitigen Anwendung der drei Rechtswidrigkeitsbegriffe im Hinblick auf die Bewertung einer Handlung eines Täters bedenkt. Da die anderen Befürworter subjektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe gleichfalls nicht zu einem einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriff kommen, ist es im Ergebnis berechtigt, das Notwehrargument als einen gewichtigen Einwand gegen eine individuell-täterschaftliche Sorgfaltsbemessung zu betrachten. 4. Generelle Verhaltensnormen / Generalprävention Daß die Subjektivierung der Anforderungen im Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts zu einer Auflösung allgemeiner Verhaltensnormen führt, ist ein weiterer Einwand, der gegenüber der individualistischen Lehre erhoben wird. Wer die Tatbestandsverwirklichung davon abhängig macht — so wird angemerkt —, daß der Täter den drohenden Erfolgseintritt zu erkennen in der Lage ist, dem könne es nicht gelingen, plakativ-generelle Regelungen zu formulieren, die als Standards gegenseitigen Verhaltens notwendig sind. 181 Im Ergebnis führe damit die Verwendung subjektiver Sorgfaltsmaßstäbe zu einem Leerlaufen des Präventionsmechanismus, da dem einzelnen keine praktikable Richtlinie an die Hand gegeben werde. 182 Stratenwerth hält diese Einwände insgesamt für unberechtigt. Dies werde allein schon daran ersichtlich, daß auch die herrschende Lehre an einer situationsbeding178 s. o. 2. Kap. V I 3.

179 S. o. 2. Kap. VI 2. 180 S. o. 2. Kap. VI 2. 181 Kritik in diese Richtung bei Hirsch, ZStW 94 (1982), 270 f; ders., Festschrift Rechtswiss. Fakultät Köln, S. 410; Maiwald, Dreher-Festschrift, S. 453 f.; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 107; Schünemann, Schaffstein-Festschrift, S. 164 f., 167; ders., JA 1975, 514; Trifflerer, Bockelmann-Festschrift, S. 208 ff.; Wolter, GA 1977, 265 ff.; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 170 m. Fn. 78. 182 So insbesondere Schünemann, Schaffstein-Festschrift, S. 165 und Mylonopoulos a. a. O. Die Bedeutsamkeit eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs unter dem Aspekt der Generalprävention betonen auch Sehr oeder, LK (9), § 59 Rdn. 165, 171 und Wolter, GA 1977, 257.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

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ten Differenzierung nicht vorbeikomme. Der Versuch der Objektivierung von Sorgfaltsanforderungen, für die sich ohnehin nur einige Strafrechtsdogmatiker interessierten, leiste demgegenüber gar nichts. Seine These, daß die Generalisierung von Verhaltensnormen eine vermeintliche sei, belegt er dabei anhand einer Reihe von Beispielen, die zeigen sollen, daß ein und dasselbe äußere Verhalten in Abhängigkeit von Kenntnissen und Fähigkeiten des Handelnden unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Sorgfalt unterschiedlich zu beurteilen ist. 183 Insgesamt würden damit auch Bedürfnisse der Generalprävention nicht berührt, da immer nur die Geltung der allgemeinen Verhaltensnorm, nicht jedoch die der konkreten Handlungsanweisung in einer bestimmten Situation für einen bestimmmten Adressaten bekräftigt werden könne. Der gegen die subjektive Lehre erhobene Einwand mangelhafter Präventionsleistung sei auch deshalb nicht berechtigt, weil die sich gegenüberstehenden Auffassungen unter Berücksichtigung des Schulderfordernisses zu einheitliche Ergebnissen kämen. Generalprävention sei aber Androhung und Verhängung von Strafe, nicht esoterische Mitteilung über die strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens. 184 Die Feststellung Stratenwerths, auch bei Verwendung objektiver Sorgfaltskriterien müsse situationsbedingt differenziert werden, trifft in vollem Umfang zu. Unzutreffend ist allerdings seine Annahme, damit ließe sich der gegen die subjektive Lehre erhobene Vorwurf entkräften, sie könne keine Standards gegenseitigen Verhaltens herausbilden. Stratenwerth übersieht, daß zwischen einer gruppenspezifischen Standardisierung von Verhaltensanforderungen und dem Postulat eines sich an den Fähigkeiten des Einzelnen orientierenden Sorgfaltsmaßstabs ein Unterschied besteht. Wer die Tatbestandsverwirklichung beim Fahrlässigkeitsdelikt davon abhängig macht, daß ein besonnener Angehöriger eines Verkehrskreises, beispielsweise einer Berufsgruppe, den bei einem bestimmten Handlungsprojekt drohenden Erfolg vorherzusehen in der Lage war, der generalisiert die daraus ableitbare Verhaltensanordnung für die benannte Gruppe. Wer bei genau demselben Handlungsprojekt nach der Erfolgsvoraussicht der handelnden Person fragt, der generalisiert offensichtlich nicht und kann infolgedessen auch keinen Verhaltensstandard benennen.185 Ähnliche Überlegungen gelten für den von Stratenwerth hervorgehobenen Umstand, daß ein und dasselbe Verhalten, je nachdem, wer es zeigt, unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Sorgfalt abweichend zu beurteilen ist. Auch dies trifft zu, ist jedoch gleichfalls kein taugliches Argument bei dem Versuch, bestehende Unterschiede zwischen objektiver und subjektiver Sorgfaltsbewertung zu nivellieren. Die nach Verkehrskreisen differenzierende Lehre differenziert eben, iss Jescheck-Festschrift, S. 294 ff. 184 Jescheck-Festschrift, S. 296 f. 185 Daß ein lediglich subjektiver Sorgfaltsmaßstab Bedenken im Hinblick auf den verfassungrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz aufwirft, betont Triffterer, BockelmannFestschrift, S. 209. i*

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

und deshalb sollte es nicht verwundern, daß identische Handlungsabläufe zu unterschiedlichen Wertungen führen können. Entscheidend — und dies scheint Stratenwerth zu übersehen — ist im vorliegenden Zusammenhang lediglich, auf welche Beurteilungsbasis die Divergenz zurückzuführen ist. Wird bei äußerlich gleichgelagerten Sachverhalten die Frage nach dem Sorgfaltsverstoß deshalb unterschiedlich beantwortet, weil die handelnden Personen verschiedenen Verkehrskreisen angehören, dann lassen sich die gefundenen Ergebnisse gruppenbezogen verallgemeinern und geben insoweit Verhaltensrichtlinien ab. Finden die abweichenden Resultate hingegen in den individuellen Fähigkeiten der handelnden Personen selbst und zwar in dem Sinne ihre Ursache, daß auf das Erkennenoder das Vermeidenkönnen des Einzelnen abzustellen ist, dann ist nicht ersichtlich, wie sich die Sorgfaltsfrage generalisieren ließe. In Anbetracht dessen wirkt es fast schon euphemistisch, wenn von einem subjektiven SorgidXtsmaßstab die Rede ist. Die Formulierung eines Maßstabs — als Leitbild für den Verkehrsteilnehmer — sollte doch eigentlich voraussetzen, daß man sich am Modell eines Steuerungsfähigen orientiert. Eine Lehre, welche die Verwirklichung des Tatbestandes eines Fahrlässigkeitsdelikts davon abhängig macht, daß der Sorgfaltspflichtige auch in der Lage ist, zu erkennen, daß und auf welche Weise sich mit seiner Handlung ein unerlaubtes Risiko verbindet 186 , scheint diese Voraussetzung allderdings nicht zu erfüllen. Stratenwerth weist nun in diesem Zusammenhang auf Regelungen im Bereich des Straßenverkehrs hin. Er zitiert hier insbesondere § 3 StVO. 1 8 7 Die Vorschrift reglementiert die zulässige Gechwindigkeit und enthält in Abs. 1 Satz 2 die Bestimmung, daß der Fahrzeugführer diese insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen hat. Die Vorschrift zeige — so meint Stratenwerth —, daß eigentlicher Bezugspunkt der Verhaltensnorm Art und Maß des Risikos seien, das mit der jeweiligen Tätigkeit geschaffen werde. Dies könne nun offensichtlich auch dann generell normiert werden, wenn die entsprechende Vorschrift auf die persönlichen Fähigkeiten des Einzelnen abstelle. Stratenwerths Argumentation trifft zu, wenn er betont, daß es letztlich beim Aufstellen von Maßstäben darauf ankomme, das sich nach außen verwirklichende Risiko in etwa gleich hoch zu gestalten. Diese Erkenntnis ist indessen nicht neu und Stratenwerth zitiert insoweit auch Vertreter der objektiven Richtung. 188 Wenn allerdings § 3 StVO als Beleg dafür herangezogen wird, daß es auch auf der Grundlage eines subjektiven Sorgfaltsmaßstabs möglich sein soll, generelle Ver-

186 So Stratenwerth, AT, Rdn. 1104. 187 Jescheck-Festschrift, S. 295. iss Jescheck-Festschrift, S. 296 Fn. 37 mit der Bezugnahme auf Hirsch, ZStW 94 (1982), 275.

VI. Konsequenzen individuell-täterschaftlicher Sorgfaltsbemessung

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haltensnormen zu formulieren, dann bestätigt das Beispiel die von Stratenwerth aufgestellte These nicht. Dies deshalb, weil die zitierte Vorschrift eben nicht das Kriterium enthält, von dem Stratenwerth sonst die Verwirklichung des Tatbestandes eines Fahrlässigkeitsdeliktes abhängig macht. § 3 StVO hat im Hinblick auf die Feststellung überhöhter Geschwindigkeit nicht zur Voraussetzung, daß der Fahrzeugführer die Überschreitung seiner persönlichen Fähigkeiten durch die von ihm gewählte Geschwindigkeit zu erkennen in der Lage ist. Im Ergebnis ist § 3 StVO damit gerade kein Beleg für die Behauptung, ein Fahrlässigkeitskonzept auf der Basis der Erkenntnisfähigkeit des handelnden Individuums könne wirkliche Verhaltensmaßstäbe formulieren. Die Vorschrift bestätigt vielmehr einen Gesichtspunkt, der von den Vertretern einer objektiven Fahrlässigkeitslehre niemals in Abrede gestellt worden ist: Die an sorgfältiges Verhalten zu stellenden Anforderungen können sich in Abhängigkeit von den persönlichen Fähigkeiten aus der Sicht des Handelnden durchaus unterschiedlich gestalten. Der Anfänger in einem bestimmten Tätigkeitsbereich muß mehr Mühe auf das Erreichen des allgemeinen Niveaus verwenden als der Fortgeschrittene oder der durch langjährige Erfahrung geschulte Experte. An der Geltung eines objektiven SorgfaltsStandards — innerhalb des entsprechenden Bereichs — ändert dies nichts. Dieser wird dadurch gewährleistet, daß die Handlungsbewertung anhand einer Risikoprognose aus der Sicht des durchschnittlichen Angehörigen der jeweiligen Gruppe erfolgt. Ein Fahrlässigkeits"maßstab", der insoweit auf die Prognose der handelnden Person abstellt, kann einen derartigen Standard nicht erreichen. Verfehlt wird damit auch das Ziel der Maßstabbildung: Das sich nach außen verwirklichende Risiko ist mangels Bezug zum Gruppenstandard für andere Verkehrsteilnehmer nicht berechenbar. Angesichts der aufgezeigten Unterschiede zwischen den konkurrierenden Fahrlässigkeitskonzeptionen erweist sich auch nach wie vor die Kritik als berechtigt, die Subjektivierungtheorie erbringe keine Präventionsleistung. 189 Stratenwerths 189 Dies gilt i. ü. auch für das Konzept Struensees, der zur Maßgabe für das Täterwissen die Herausarbeitung eines eigenständigen Unwertsachverhalts, den er als Risikosyndrom bezeichnet, für erforderlich hält. Auch eine solches Vorgehen ist nicht dazu geeignet, Standards gegenseitigen Sozialverhaltens herauszubilden. Im Unterschied zu den Vorschlägen Stratenwerths und Jakobs scheitert dies bei Struensee jedoch nicht daran, daß er das Täterwissen in die Tatbestandsbildung integriert. Haupteinwand gegen seinen Vorschlag ist das Fehlen verläßlicher Kriterien für die jeweils erneut vorzunehmende Konstituierung des Erfolgssachverhaltes. Zwar erklärt er in einer Fußnote (JZ 1987, 58, Fn. 65), die Prognostizierbarkeit von Erfolgen sei Auswahlgesichtspunkt bei der Feststellung, ob eine die Toleranzgrenze übersteigende Kumulation erfolgsträchtiger Faktoren — Risikosyndrom — vorliege. Dunkel bleibt jedoch die nähere Ausgestaltung dieses Merkmals sowie das Problem, ob daneben noch weitere existieren. Nur am Rande sei bemerkt, daß er bei den wirklich problematischen Fällen sein eigenes System desavouiert. Waren dem Täter dierisikorelevanten Faktoren insgesamt unbekannt, so soll dies nämlich nicht zwangsläufig zur Verneinung der Tatbestandsverwirklichung führen. Struensee bezeichnet dies als Erkenntnisfahrlässigkeit und erklärt, durch vorgängige Information zu behebende Unkenntnis verdiene nicht das Privileg des erlaubten Risikos. Unter wel-

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

Einwand, durch Prävention bekräftigen ließe sich immer nur die Geltung der allgemeinen Verhaltensnorm, nicht die der konkreten Handlungsanweisung,190 greift demgegenüber nicht durch. Übersehen wird dabei, daß sich beim Fahrlässigkeitsdelikt eine derartige Trennung nicht strikt durchführen läßt: Die allgemeine Verhaltensnorm wird erst durch das Kriterium der objektiven Vorhersehbarkeit eines drohenden Erfolges aktualisiert und ist in diesem Zeitpunkt — ante actum — von einer konkreten Handlungsanweisung nicht mehr zu unterscheiden. So führt Stratenwerth auch nicht näher aus, was man sich unter der allgemeinen Verhaltensnorm, die er generalpräventiv absichern will, vorzustellen hat. Bleibt dies aber schon offen, so ist nicht ersichtlich, wie subjektive Sorgfaltsregeln Richtschnur gegenseitigen Verhaltens sein könnten. Auch Stratenwerths Bemerkung, Prävention beinhalte mehr als „esoterische Mitteilungen über die strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens" vermag nicht die Mängel seiner Konzeption hinsichtlich ihrer generalpräventiven Wirksamkeit zu verdecken. Das Ziel, der Verhaltenssteuerung zu dienen, kann das Strafrecht nur erreichen, wenn es das zu inkriminierende Verhalten in der Form allgemeiner Richtlinien benennen kann. Wer antritt, mit Strafrecht Verhalten zu steuern, der sollte in der Lage sein, das Verhalten, das er zu inkriminieren gedenkt, in der Form allgemeiner Richtlinien zu benennen.191 Daß eine individualistische Sorgfaltskonzeption eine derartige Leistung nicht zu erbringen vermag, dürften die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben. Es fragt sich daher, wie Jakobs seine Auffassung zur Struktur des Fahrlässigkeitsdelikts mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Generalprävention in einem dogmatischen Konzept vereinigen will. „Wie sich die Menschen beim Umgang mit der Natur nur zurechtfinden, soweit sie Regelmäßigkeiten erkennen können, so ist auch bei — hier allein interessierenden sozialen Kontakten — Orientierung nur möglich, wenn nicht jederzeit mit jedem beliebigen Verhalten der anderen Menschen gerechnet werden muß. Ansonsten würde jeder Konkakt zu einem unkalkulierbaren Risiko." 1 9 2 Dem ist nichts hinzuzufügen. V I I . Praktikabilität eines objektiven Sorgfaltsmaßstabs Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß aus einer Vielzahl von Gründen Bedenken gegen die Subjektivierung der Sorgfaltsanforderungen im Tatbestand chen Voraussetzungen diese, im Widerspruch zu seinen sonstigen Thesen stehende Ausnahme Bewertungsmaßstab sein soll, wird ebenfalls nicht recht deutlich. Bezeichnend ist jedenfalls, daß in diesem Zusammenhang auf die Erkenntnisfähigkeit des besonnenen Kraftfahrzeugführers abgestellt wird (JZ1987,62). Vgl. hierzu auch die Kritik Herzbergs, JZ 1987, 537 sowie die Entgegnung Struensees, JZ 1987, 541 ff. 190 Jescheck-Festschrift, S. 296. 191 Zielinski (Unrechtsbegriff, S. 170 Fn. 78a) merkt an, daß die subjektive Lehre dem Orientierung für sein Verhalten suchenden Normadressaten keine Verhaltensmuster beschreibe. 192

AT, S. 4.

VII. Praktikabilität eines objektiven Sorgfaltsmaßstabs

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des Fahrlässigkeitsdelikts anzumelden sind. Gleichwohl besagt diese Feststellung noch nicht,, daß die von der herrschenden Lehre postulierte Sicht der Dinge in jedweder Hinsicht unproblematisch ist und infolgedessen auch keiner Fortentwicklung bedarf. Letzteres wäre nur dann der Fall, wenn sich ein objektiv ausgerichtetes Fahrlässigkeitskonzept nicht lediglich als das dogmatisch überzeugendere erweist, sondern auch hinreichend praktikabel ist. Es ist demnach die Frage zu stellen, ob und inwieweit die Konkretisierung eines objektiven Maßstabs mit Schwierigkeiten behaftet ist. Sollten diese feststellbar sein und sich gleichzeitig als unüberwindbar erweisen, so wäre zu überlegen, ob eine Modifizierung der überkommenen Fahrlässigkeitsdogmatik erforderlich ist. Die Achillesferse des Versuchs einer objektiven Ausgestaltung des Sorgfaltswidrigkeitsurteils scheint dabei in dem Umstand zu liegen, daß die herrschende Lehre ihre Entscheidung von der Prognose des „gewissenhaften und besonnenen Menschen des Verkehrskreises, dem der Handelnde angehört" 193 , abhängig macht. Die Kritik vermag darin keinen handhabbaren Maßstab zu erkennen, wirft der herrschenden Lehre Orientierungslosigkeit vor und bezeichnet den zu Vergleichszwecken herangezogenen Verkehrskreisangehörigen als „konturenlose Maßfigur". 194 Wie bereits angesprochen wurde, 195 betont insbesondere Samson, es sei ausgeschlossen, einen einigermaßen brauchbaren Maßstab für die Konstruktion des Leitbildes des einsichtigen Menschen anzugeben, und stellt die ironisch überspitzte Frage, warum nicht der Kreis der 50jährigen, kurzsichtigen, farbenblinden und besonders schreckhaften Autofahrer, die soeben ihre Fahrerlaubnis erworben haben, als für die Fahrlässigkeitsbewertung entscheidende Vergleichsgruppe herangezogen werden könne. 196 Der Kritik ist zuzugeben, daß es in der strafrechtlichen Literatur bislang keine eingehenden Stellungnahmen zu der Frage gibt, unter welchen Voraussetzungen eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern als Verkehrskreis bezeichnet werden kann. Dieser Zustand muß als mißlich bezeichnet werden, denn es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, sich Fallkonstellationen im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte vorzustellen, in denen gerade die Frage der Grenzziehung von Verkehrskreisen virulent wird. Argumentatives Rüstzeug bei der Bewältigung derartiger Probleme liefert die bisherige strafrechtliche Literatur nur begrenzt. Meist wird, nachdem das Stichwort Verkehrskreis gefallen ist, anhand von Beispielen erläutert, was man sich darunter vorzustellen habe. 197 Grundsätzliche und abstrakte Erörterungen bilden die Ausnahme und gehen auch kaum einmal in Einzelheiten. So merkt etwa Cramer an, ein Verkehrskreis sei der „enge soziale Bereich", in dem !93 In dieser Formulierung etwa Jescheck, AT, S. 522. 194 So Schünemann, JA 1975, 715; vgl. auch Wolter, GA 61 (1977), S. 260; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 171. 195 S. o. 2. Kap. II 3. 196 SK, Anhang zu § 16 Rdn. 13. 197 Vgl. statt Vieler Jescheck, AT, S. 522 f.

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2. Kap.: Objektive und subjektive Fahrlässigkeitsmaßstäbe

gehandelt werde, wobei legislatorischen und technischen Normen besondere Bedeutung zukomme 198 , und Burgstaller führt aus, Spezialisierungen seien insoweit zu berücksichtigen, als sie sich zu festen sozialen Positionen verdichtet haben, an welche von der Gesellschaft typische Rollenerwartungen geknüpft werden. 199 Es liegt auf der Hand, daß der Kritik, wie sie etwa in der von Samson aufgeworfenen Frage zum Ausdruck kommt, auf Dauer nicht mit derart knappen Hinweisen begegnet werden kann. 200 Die herrschende Lehre würde sich sonst dem Vorwurf aussetzen, problematische Aspekte des eigenen Ansatzes zu ignorieren. Erweist es sich damit als erforderlich, der Frage nach den materiellen Voraussetzungen der Benennung eines Verkehrskreises nachzugehen, so bietet sich ein Blick auf Rechtsprechung und Lehre im Zivilrecht an; denn dort — so legt es zumindest § 276 BGB mit seiner Bezugnahme auf die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nahe — wird ebenfalls auf ein objektiv ausgerichtetes Fahrlässigkeitskonzept abgestellt. Dementsprechend müßten die von den Kritikern der herrschenden Lehre im Strafrecht vermuteten Schwierigkeiten bei der Handhabung eines objektiven, nach Verkehrskreisen differenzierenden Maßstabs auf der Ebene des Zivilrechts ebenfalls feststellbar sein. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird das folgende Kapitel zeigen.

198 Schönke/Schröder, § 15 Rdn. 135. 199 Fahrlässigkeitsdelikt, S. 57. 200 Dies merkt auch Burgstaller a. a. O. an, wenn er betont, die Konkretisierung des Maßstabs der herrschenden Lehre müsse Detailuntersuchungen vorbehalten bleiben.

3. Kapitel

Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Betrachtet man lediglich den Wortlaut der Vorschrift, so wird ein objektiver, individuelle Fähigkeiten und Kenntnisse außer Betracht lassender Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht zumindest nahegelegt. Was der Verkehr erfordert, so sollte man meinen, richtet sich nicht nach der Leistungsfähigkeit des einzelnen, sondern ist notwendigerweise nach allgemeinen Kriterien zu bestimmen, damit sich die Rechtsgenossen an gewissen Standards orientieren können. Dies entspricht, soviel ist vorwegzunehmen, im Grundsatz auch der herrschenden Lehre sowie der Rechtsprechung im Zivilrecht. Es gilt aber nur im Grundsatz. Der objektive zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff war und ist umstritten, und er wird auch von denjenigen, die ihn prinzipiell vertreten, nicht ohne Ausnahmen anerkannt. Es würde das Bild also etwas verzeichnen, stellte man vorbehaltlos einen Vergleich strafrechtlicher Wertungen mit dem „objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht" an. Ausführungen zum Thema privatrechtliche Fahrlässigkeit wären lückenhaft, wollten sie vorhandene subjektive Tendenzen aussparen. Im folgenden soll deshalb skizziert werden, was unter der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zivilrechtlich verstanden wird.

I. Sorgfaltsmaßstäbe Ausgangspunkt des Streits um den Sorgfaltsmaßstab war die Vorlage des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich im Jahre 1888. Der Entwurf definierte wie folgt: „Fahrlässigkeit liegt vor, wenn nicht die Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters angewendet wird." Die Stellungnahme der 1. Kommission in den Motiven macht deutlich, daß eine objektiv konzipierte Fahrlässigkeitsauffassung Gesetz werden sollte. „Der angelegte Maßstab verlangt nichts Außerordentliches, keine Auszeichnung vor Anderen, keine besondere körperliche oder geistige Beanlagung, nicht die äußerste Kraftanstrengung, nicht übertriebene Aengstlichkeit." 1 Auch die Terminologie, die Verwendung der Maßstabsfigur des „ordentlichen Hausvaters" unterstreicht den objektiven Ansatz. Der Begriff findet seinen Vorläufer in dem diligens pater familias der nachklassischen Haftungslehre des römischen Rechts. Er ist zu dieser Zeit unter Einfluß der 1 Motive, Band I, Allgemeiner Teil, S. 279.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

griechischen Philosophie entstanden und sollte einen abstrakten Sorgfaltsmaßstab verkörpern. 2 In der Diskussion nach Vorlage des Entwurfs entzündete sich die Kritik vor allem am Begriff des „ordentlichen Hausvaters". Dieser Maßstab sei das Produkt einer dem deutschen Recht fremd gebliebenen Anschauung und darüber hinaus viel zu eng, da er für den Geschäftsverkehr keinen Anhalt bieten könne.3 Abgesehen davon erfuhr aber auch die Zugrundelegung einer objektiven Fahrlässigkeitskonzeption Widerspruch. Hier ist vor allem v. Liszt zu nennen, der vehement für einen subjektiven Maßstab eintrat und anmerkte, daß jeder Grund für die unterschiedliche Bewertung in Zivil- und Strafrecht fehle. 4 In der Publikation des zweiten Entwurfs im Jahre 1895 hatte die Kritik insoweit Früchte getragen, als die Sorgfalt des „ordentlichen Hausvaters" zunächst durch die „im Verkehr übliche" 5 , später durch die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt" ersetzt wurde. 6 Bei dem Streit um einen objektiven oder einen subjektiven Maßstab konnten die kritischen Stimmen sich jedoch nicht durchsetzen. Die Kommission beharrte auf ihrem Standpunkt, daß im Privatrecht ein objektiver Maßstab anzulegen sei. Wer mit einem anderen in rechtlichen Verkehr trete, müsse darauf vertrauen dürfen, daß dieser bei der Erfüllung seiner Obliegenheiten mit der im Leben üblichen Sorgfalt eines ordentlichen Mannes zu Werke gehe.7 Allerdings findet sich auch der nicht näher erläuterte Satz, daß der unentbehrliche objektive Maßstab die Berücksichtigung individueller Momente im Einzelfall nicht ausschließe. 8 Als das von beiden Kommissionen entwickelte Fahrlässigkeitskonzept im Jahre 1900 Gesetz wurde, war der Streit um den Sorgfaltsmaßstab in der Literatur natürlich nicht beendet. Der Darstellung der unterschiedlichen Standpunkte in dieser Debatte dienen die folgenden Ausführungen. Es wird dabei darauf verzichtet, in einem ersten Abschnitt die historische Entwicklung des Streits darzustellen und in einem zweiten den heute aktuellen Meinungsstand zu erörtern. Die Haupt2

Vgl. Käser, Römisches Privatrecht, S. 279; siehe auch Leonhard, Schuldrecht, S. 435, 441; dersFestgaben für Enneccerus, S. 28 ff. 3 So insbesondere v. Gierke, Der Entwurf, S. 38 f.; Holder, AcP 73, 1, 130; ders., Pandekten, S. 315; Laband, AcP 47, 3. Vgl. insgesamt zu kritischen Stimmen die Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band I, S. 207. 4 v. Liszt, Grenzgebiete, S. 16 f.; zu weiterer Kritik am objektiven Maßstab vgl. die in Fn. 3 zitierte Zusammenstellung. 5 Protokolle, Band I, S. 303. 6 Mit der Ersetzung des Merkmals „üblich" durch „erforderlich" sollte das Mißverständnis vermieden werden, als sei im Sorgfaltsmaßstab ein im Verkehr eingerissener Schlendrian zu berücksichtigen; vgl. Protokolle, Band II, S. 604. Siehe zu dieser Entwicklung auch Endemann, Lehrbuch, S. 485, Anm. 4. 7 Protokolle, Band I, S. 187. 8 Protokolle a. a. O.; siehe dazu Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 8 und Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 17.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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Strömungen dieser Kontroverse haben sich bereits kurz nach Inkrafttreten des BGB entwickelt und bis in die heutige Zeit in ihren Grundzügen unverändert erhalten. Betrachtet man den genannten Zeitraum also insgesamt, so ergibt sich in der Frage nach dem zivilrechtlichen Sorgfaltsmaßstab ein sehr differenziertes Bild. 1. Streng subjektive und streng objektive Auffassungen Am Rande des Spektrums findet sich auf der einen Seite eine streng subjektive, auf der anderen Seite eine nicht weniger strenge objektive Lehre. Jene subjektive Richtung 9 hat wenig Verbreitung gefunden, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß ihre Thesen kaum begründet wurden. Man begnügte sich mit der Behauptung, Fahrlässigkeit sei Verschulden und als solches stets Willensfehler. Von Fahrlässigkeit könne keine Rede sein, wenn der Täter nach seiner Individualität infolge geringer Einsicht nicht sorgsamer hat handeln können. 10 Die diametral entgegengesetzte Auffassung hat etwa im gleichen Zeitraum, also in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des BGB, weitaus mehr Anhänger gefunden. 11 Die Vertreter dieser Ansicht beriefen sich vor allem auf den bereits in den Protokollen 12 unterstrichenen Vertrauensgrundsatz, ohne den ein funktionsfähiger Rechtsverkehr nicht denkbar sei. In Zusammenhang damit wurde geltend gemacht, die Berücksichtigung individueller Verhältnisse sei unpraktikabel und dem Gesetz sowie dem Rechtsverkehr fremd. 13 „Denkfaulheit" und „Lässigkeit" könnten die zivilrechtliche Haftung nicht ausschließen, selbst wenn sie „dem Schuldner überhaupt eigen oder sogar der Gruppe seiner Arbeitsgenossen typisch sind." 14 2. Die modifiziert

subjektive Richtung

Eine gemäßigte Spielart der subjektiven Theorie hat eine große Anhängerschaft gefunden. Sie wird auch heute noch vertreten. 15 Charakteristisches Merkmal dieser Lehre ist, daß sie einen doppelten Verschuldensmaßstab verwendet. Zu9 Brütt, Rechtsanwendung, S. 154; Litten, Ersatzpflicht, S. 69 f. Kritisch dazu Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 36. 10 Brütt, Rechtsanwendung, S. 154. 11 So u. a. Planck, bis zur 3. Aufl. 1903; Dernburg, Die Schuldverhältnisse, S. 160 f.; Endemann, Lehrbuch, S. 484 ff.; Weyl, Verschuldensbegriffe, S. 111 ff., 133 f. Weyl wird von Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 29 vorbehaltlos als Vertreter der streng objektiven Auffassung zitiert. Es läßt sich bei ihm aber schon eine vorsichtige Öffnung in Richtung auf einen nach Lebensbereichen differenzierenden Maßstab erkennen; vgl. Verschuldensbegriffe, S. 114 ff. 12 Vgl. oben Fn. 7. 13 So insbesondere Dernburg, Die Schuldverhältnisse, S. 148 und Endemann, Lehrbuch, S. 487. 14 Endemann, Lehrbuch, S. 487, Anm. 8. 15 Brodmann, AcP 99,327; Cosack, Lehrbuch, S. 275; Dölle, Verh. 34. DJT, S. 113 ff.; Leonhard, Schuldrecht, S. 435 ff.; v.Liszt, Deliktsobligationen, S. 55; Planck! Siber,

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

nächst wird das Verhalten des Täters mit dem eines vernünftigen Durchschnittsmenschen verglichen und anhand dessen ermittelt, was sorgfältig ist. Die Sorgfalt bestimmt sich also nach dieser Ansicht abstrakt, nach den allgemeinen Anschauungen und nicht nach der besonderen Natur des Handelnden. Im Anschluß habe man allerdings in einem zweiten Schritt die Frage nach den geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Individuums aufzuwerfen. Erst wenn festgestellt sei, daß der Täter anders hätte handeln können, daß er die Möglichkeit hatte, dem objektiven Sorgfaltsgebot zu entsprechen, dürfe ein Fahrlässigkeitsvorwurf erhoben werden. 16 Bei der Begründung des objektiven Teils dieses doppelten Fahrlässigkeitsmaßstabs stößt man wieder auf das Wortlautargument, dessen sich schon die Vertreter der streng objektiven Richtung bedienten.17 Bisweilen wird aber auch schlicht postuliert, das Maß der erforderlichen Sorgfalt sei „selbstverständlich" nach objektivem Maßstab zu beurteilen 18, oder es wird sogar auf jede Begründung verzichtet. 19 Letzteres steht offenbar unter dem Eindruck einer sich festigenden Rechtsprechung, die schon früh einen nach Verkehrskreisen differenzierenden abstrakten Maßstab verwendet. 20 Es finden sich aber auch eingehendere Begründungsansätze. So wird z. B. die Systematik des BGB als Argument herangezogen. Das Gesetz erkläre in einigen Fällen 21 die Sorgfalt als maßgebend, die man in

§ 276 Anm. 2b; v. Tuhr, Allgemeiner Teil, S. 487 ff.; Zitelmann, Allgemeiner Teil, S. 158 ff.; U. Huber, Festschr. für E. R. Huber, S. 279 f. Einschränkend v. Caemmerer, Gesammelte Schriften, S. 239, 248. Bei Stürmer, VersR 1984, 297 wird nicht ganz deutlich, ob er im Bereich der Verschuldenshaftung nicht doch wieder einen streng subjektiven Maßstab vertritt. Vgl. die in Fn. 15 angegebenen Autoren. Ausführlich äußern sich Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 35 ff, Dölle und v. Tuhr, jeweils a. a. O. Zu dieser Lehre muß im vorliegenden Zusammenhang auch Nipperdey gerechnet werden, der ebenfalls einen „doppelten" Fahrlässigkeitsmaßstab vertritt; vgl. Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1307 ff; ders., NJW 1957,1777 ff.; ähnlich Wiethölter, Verkehrsrichtiges Verhalten, S. 15 ff.; Löwisch in: Staudinger § 276 Rdn. 6 ff.; Stathopoulos, Festschr. für Larenz, S. 631 ff.; siehe auch Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 176 ff sowie die zahlreichen w. N. bei Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 43 ff. Nach Nipperdey und den ihm folgenden Autoren, die unter starkem Einfluß der strafrechtlichen Literatur stehen, ist die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bereits als Merkmal der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen. Auf der Stufe des Verschuldens habe man lediglich zu fragen, ob der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten diese Sorgfalt habe einhalten können. In diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung des Großen Zivilsenats des BGH (24, 21) zu berücksichtigen, wonach die Einhaltung der im Eisenbahn- und Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt einen Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens darstelle. 17 Vgl. hierzu etwa Endemann, Lehrbuch, S. 484 f. und von den Anhängern der modifiziert subjektiven Richtung Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 36; Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1308. Kritisch zur Argumentation aus dem Wortlaut des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 223 ff. 18 So v. Liszt, Deliktsobligationen, S. 55. 19 So Planck! Siber, § 276 Anm. 2b. 20 Genauer dazu unten 3. Kap. I 5.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt, also einen subjektiven Maßstab. Aus dem Ausnahmecharakter dieser Vorschriften folge nun, daß grundsätzlich etwas anderes gelten müsse, nämlich ein von den individuellen Gewohnheiten des Handelnden abstrahierender Maßstab.22 Insgesamt ist festzustellen, daß die Notwendigkeit eines objektiven Ausgangspunktes innerhalb dieser Lehre nicht nur sehr unterschiedlich begründet wird, auch in der Sache weichen die Auffassungen stark voneinander ab. So wendet sich z. B. Leonhard 23 vehement gegen eine in seinen Augen unpraktikable Differenzierung in verschiedene Gruppen, während Siber 24 und Nipperdey 25 die dahingehende Rechtsprechung unterstützen. Einigkeit herrscht aber, was die Ausgestaltung und Begründung der zweiten Stufe dieses doppelten Sorgfaltsmaßstabs anbelangt. Daß die Annahme von Fahrlässigkeit letztlich von der individuellen Leistungsfähigkeit des Täters abhängig zu machen sei und daß dieses Erfordernis aus dem Schuldprinzip resultiere, wird unisono verteten. 26 Fahrlässigkeit sei genau wie Vorsatz eine Schuldart, und das gemeinsame Merkmal beider Schuldarten liege in dem Umstand begründet, daß nur der, der Vorwurf verdient, haften soll. 27 Die Zugrundelegung eines objektiven Maßstabes ließe diesen Gesichtspunkt unberücksichtigt; sie könne dazu führen, daß jede eine Verletzung hervorrufende Handlung als fahrlässig anzusehen sei. Insoweit werde eine Zufallshaftung begründet. 28 „Es fände sich mitten im Gebiete der Verschuldenshaftung eine Enklave der Verursachungshaftung, die willkürlich und prinzipienlos abgegrenzt wäre." 29 Dem naheliegenden Einwand, daß die individuelle Leistungsfähigkeit als Voraussetzung zivilrechtlicher Fahrlässigkeitshaftung unter Verkehrsschutzgesichtspunkten zu wenig überzeugenden Ergebnissen führen könne 30 , versucht man mit dem Hinweis auf das sog. Übernahmeverschulden entgegenzutreten.31 Nicht nur im vertraglichen Bereich müsse man von einer Gewährsübernahme für individuelle Fähigkeiten desjenigen ausgehen, der eine Leistung verspreche; auch außerhalb

21 §§ 690, 708, 1359, 1664, 2131 BGB. 22 Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 36. Bereits hier dürfte deutlich werden, daß dieser zivilrechtliche „subjektive Maßstab" etwas grundsätzlich anderes ist, als die im strafrechtlichen Bereich erhobene Forderung, die Tatbestandsverwirklichung vom individuellen Voraussehen- oder Vermeidenkönnen abhängig zu machen. 23 Festgaben für Enneccerus, S. 8 ff; ähnlich Brodmann, AcP 99, 327, 363 ff. 24 Planck! Siber, § 276 Anm. 2b. 25 Enneccerus! Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1308. 26 Eingehend dazu Dölle, Verh. 34. DJT, S. 115; Leonhard, Festgaben für Ennecerus, S. 42 ff. Vgl. ansonsten die in Fn. 15 angegebenen Autoren. 27 Leonhard, Schuldrecht, S. 436. 28 Leonhard, Schuldrecht, S. 437; Dölle, Verh. 34. DJT, S. 114. 29 Planck! Siber, § 276 Anm. 2b. 30 Vgl. dazu Larenz, Schuldrecht, S. 286. 31 Das Bemühen um eine Ergebniskorrektur gleicht insoweit dem der strafrechtlichen Subjektivisten; vgl. hierzur etwa Stratenwerth, AT, Rdn. 1105.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

privatautonomer Vereinbarungen werde gehaftet, wenn fahrlässig etwas unternommen werde, wozu die Kräfte des Handelnden nicht ausreichen. 32 3. Die objektive Lehre mit differenzierendem

Sorgfaltsmaßstab

Die bedenklichen Umwege, welche die subjektiven Theorien einschlagen müssen, um nicht zu Haftungsfreistellungen großen Umfangs zu kommen, haben dazu geführt, daß eine nach bestimmten Gruppen differenzierende Lehre zur herrschenden geworden ist. 33 Bei allen Autoren, die sich zu dieser Richtung bekennen, steht der Hinweis auf die Notwendigkeiten des Verkehrs im Vordergrund. Ein jeder müsse sich darauf verlassen können, daß im vertraglichen Bereich der jeweils andere die typischen Fähigkeiten seines Berufes oder seiner Gruppe besitze. Entsprechendes gelte bei den unerlaubten Handlungen. Auch hier würde der Verkehr des ihm notwendigen Schutzes beraubt, wenn ein angemessener Schadensausgleich dadurch ausgeschlossen würde, daß der Einzelne sich durch Hinweis auf individuelle Besonderheiten entlasten könne. 34 Es gehe nicht an, unter Berufung auf das Schuldprinzip einen subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab zu fordern. Im Zivilrecht stehe eben nicht die Reaktion auf sozialschädliches Verhalten im Vordergrund, es gehe nicht um Strafe, sondern um eine gerechte Schadensverteilung und um einen gerechten Interessenausgleich. Dies sei aber durch einen Fahrlässigkeitsbegriff, der dem Leistungsvermögen des einzelnen Rechnung trägt, nicht zu bewerkstelligen. 35 Daß jedoch kein Weg daran vorbeiführt, einen strikt einheitlichen Sorgfaltsmaßstab dadurch zu relativieren, daß man bestimmte gruppenspezifische Besonderheiten berücksichtigt, wurde schon früh erkannt. „Einig ist man wohl heutzutage darüber, daß man nicht einen Normalmenschen, sei es dem Typus des Durch-

32 Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 52; v. Thür, Allgemeiner Teil, S. 489. 33 Heinsheimer, AcP 95, 234, 251 ff.; Oertmann, § 276 Anm. lb; Rümelin, Verschulden, S. 44 ff.; Heck, Schuldrecht, S. 76 ff.; Kessler, Fahrlässigkeit, S. 131 ff. Aus der neueren Literatur Kötz, Deliktsrecht, S. 63 ff.; Medicus, Schuldrecht, S. 142; Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 78 ff.; Alff in: RGRK, § 276 Rdn. 19; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B; Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 75 ff.; Reimer Schmidt, MDR 1958, 193 f.; Zeuner, JZ 1966, 1, 8 f.; im Grundsatz auch Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, S. 124; Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 117 ff.; Ermanl Battes, § 276 Rdn. 22; Larenz, Schuldrecht, S. 282 ff.; Löwisch in: Staudinger, § 276 Rdn. 16 ff. Auch nach Esser I Schmidt, Schuldrecht, S. 357 ff., 368 ff., ist die Frage der Fahrlässigkeit nach dem Sorgfaltsmaßstab der h. M. zu beantworten. Allerdings soll dies kein Verschuldens-, sondern ein Rechtswidrigkeitsproblem sein. Der Unterschied zu Nipperdey (s. o. Fn. 17) besteht dann darin, daß keine selbständige Prüfung individueller Vorwerfbarkeit mehr vorgenommen wird. 34 Vgl. Esser I Schmidt, Schuldrecht, S. 368; Heck, Schuldrecht, S. 78; Oertmann, § 276 Anm. 1 b; Medicus, Schuldrecht, S. 142; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B; Rümelin, Verschulden, S. 44 f.; ähnlich Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 310, 327, 330; vgl. auch Kessler, Fahrlässigkeit, S. 131 ff. mit rechtsvergleichenden Hinweisen. 35 Reimer Schmidt, MDR 1958,193,194; Larenz, Schuldrecht, S. 286; Esser / Schmidt a. a. O., S. 276.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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schnittsphilisters oder der gerechten Kammacher, sei es dem eines in allen Sätteln gerechten Spielhagenschen Romanhelden entsprechend konstruieren und alles daran messen darf. Vielmehr muß in irgendwelcher Weise nicht nur den Verschiedenheiten der Situation, sondern auch der Verschiedenheit der Menschen Rechnung getragen werden." 36 Die Typisierung des Verschuldensmaßstabs, die Rümelin im Jahre 1909 noch vorsichtig andeutete, hat sich im aktuellen zivilrechtlichen Schrifttum durchgesetzt. Die Sorgfaltsanforderungen werden danach differenziert, was innerhalb von Teilbereichen des allgemeinen Verkehrs typischerweise zu erwarten ist. Diese Teilbereiche werden zumeist als „Verkehrskreise" bezeichnet und die Feststellung von Fahrlässigkeit wird anhand eines Vergleichs des Täterverhaltens mit dem einer gedachten Maßfigur aus dieser Gruppe vorgenommen. Dabei bedient man sich des durchschnittlichen, normalen, ordentlichen, vernünftigen oder besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises. 37 4. Partiell subjektive Richtungen Eine auf Deutsch zurückgehende Lehre greift den nach bestimmten Personengruppen differenzierenden objektiven Ansatz der h. M. auf, modifiziert ihn aber in einigen Teilbereichen, die als Ausnahmefälle deklariert werden. 38 So soll u. a. das sittliche Verschulden des § 1611 Abs. 1 BGB nicht objektiv-typisiert, sondern als ein individueller Vorwurf verstanden werden. Gleiches gelte für die Entziehung des Pflichtteils nach § 2333 Nr. 5 BGB wegen schuldhafter Verfehlung des Abkömmlings sowie in den Fällen der §§ 43, 65, 66 EheG, in denen es ebenfalls um sog. sittliches Verschulden geht. 39 Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nach § 847 BGB sei, soweit diesem eine Genugtuungsfunktion zukomme, 36

Rümelin, Verschulden, S. 44. 37 Zur unterschiedlichen Terminologie vgl. Hanau in: MünchKomm , § 276 Rdn. 79; Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 250; Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 79, jeweils m. w. N. Hanau favorisiert den Begriff „durchschnittlich", um zum Ausdruck zu bringen, daß sowohl das tatsächlich Übliche, als auch das rechtlich Gebotene erheblich ist. Demgegenüber meint Wolf der „durchschnittliche, besonnene und gewissenhafte" Angehörige der jeweiligen Gruppe bringe das normative Anliegen des Sorgfaltsmaßstabs am ehesten zum Ausdruck. Münzberg wiederum hält das Leitbild des „Vernünftigen" für vorzugswürdig. Letztlich dürfte der Streit wenig fruchtbar sein, da im Ergebnis die genannten Autoren die gleiche Maßfigur vor Augen haben. Wenn sichergestellt ist, daß diese Maßfigur nicht am Rande des jeweiligen Verkehrskreises angesiedelt ist und darüber hinaus das „neminem laede" internalisiert hat, fällt es kaum ins Gewicht, ob man sie mit einem der o. g. Begriffe oder mit einer Kombination derselben bezeichnet. Ähnliche Überlegungen bei Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 57, Fn. 62. 38 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 299 ff.; dersHaftungsrecht, S. 281 f.; ders., Unerlaubte Handlungen, S. 67; Erman / Battes, § 276 Rdn. 22; Larenz, Festschrift für Wilburg, S. 119, 123 ff.; dersSchuldrecht, S. 287 f.; Löwisch in: Staudinger, §276 Rdn. 16; Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, S. 124; in diese Richtung auch Esser I Schmidt, Schuldrecht, S. 111. 39 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 299 ff.; Larenz, Festschrift für Wilburg, S. 125; Blomeyer a. a. O.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

die personale Komponente zu berücksichtigen. Hier stände das auf die Person bezogenene Vermeiden-Können, also Vorwerfbarkeit, im Vordergrund. 40 Schließlich sei bei der Abwägung des Mitverschuldens, d. h. bei der Bewertung der beiderseitigen Verschuldensanteile in Rahmen des § 254 BGB, die individuelle Leistungsfähigkeit des Geschädigten zu berücksichtigen. 41 In den genannten Fällen gelte abweichend von dem sonst das Zivilrecht beherrschenden objektiven Verschuldensmaßstab der Satz „ultra posse nemo obligatur." 42 Hervorzuheben ist, daß Deutsch die einzelnen Ausnahmefälle jeweils gesondert begründet und ein einheitliches, hinter allen diesen Abweichungen stehendes Prinzip nicht zu erkennen vermag. 43 Demgegenüber meint Larenz, Verbindungslinien feststellen zu können. Charakteristisch sei jeweils, daß entweder wegen des strafähnlichen Charakters der Rechtsfolgen ein persönlicher Vorwurf erforderlich sei oder der für den objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab grundlegende Gedanke einer gerechten Risikoverteilung sowie der Vertrauensgrundsatz nicht zum Tragen komme. 44 5. Rechtsprechung Die Rechtsprechung des RG vertritt schon in des ersten Entscheidungen nach Inkrafttreten des BGB einen Fahrlässigkeitsbegriff, wie er oben als Standpunkt der h. L. skizziert wurde. Der Sorgfaltsmaßstab sei grundsätzlich objektiv, „individuelle Anlagen und Gewohnheiten" dürften nicht berücksichtigt werden. 45 Diese Rechtsprechung wird im wesentlichen fortgesetzt. Entscheidungen mit subjektivem Einschlag bleiben die seltene Ausnahme.46 Neben dem objektiven Ansatz findet sich aber genau wie in der Lehre die Konkretisierung dahingehend, daß die Verschiedenheit gewisser Gruppen von Menschen bei der Feststellung der jeweilig anzuwendenden Sorgfalt zu berücksichtigen sei. 47 Schon 1902 führt das RG aus: „Es ist daher im Einzelfall zu prüfen, welche Sorgfalt derjenige Verkehr, welcher bei dem Verhältnis, um das es sich handelt, in Betracht kommt, erfordert." 48 Was mit dieser etwas umständlichen Formulierung gemeint ist, wird in einer Entscheidung des Jahres 1909 schon etwas präziser ausgedrückt. Das RG führt aus, die Verallgemeinerung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 299 ff., Kritisch zur sog. Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes Hirsch, Festschrift für Engisch, S. 304. 41 Siehe dazu Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 365; ders., Haftungsrecht, S. 318 ff.; Larenz, Schuldrecht, S. 287. 42 Deutsch, Unerlaubte Handlungen, S. 67. 43 Fahrlässigkeit, S. 385. 44 Festschrift für Wilburg, S. 125. 45 RG Gruchot 48, 784, 788; 50, 931, 936; RGZ 68, 422, 423; 119, 397, 400 f.; 152, 129, 140. 46 RG Warneyer 1910 (Ergänzungsband) Nr. 6; dazu Oertmann, LZ 1924, S. 241; RG JW 1914, 72 Nr. 3. 47 RGZ 68, 422, 423. 48 RG Beilagen JW 1902, Nr. 186.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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dürfe nicht so weit gehen, daß dabei die Gliederung der Menschen in verschiedene „Berufsklassen und Verkehrskreise" unberücksichtigt bleibe. 49 In der Folgezeit findet sich der Begriff des „Verkehrskreises" noch häufiger. 50 Auch die Berücksichtigung beruflicher Standards entwickelt sich zur ständigen Rechtsprechung, wobei dann meist, ohne daß der Terminus Berufsgruppe oder -klasse fällt, die Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns, Arztes, Chirurgen oder Notars als Vergleichsmaßstab herangezogen wird. 5 1 Die Nachkriegsjudikatur setzt die Rechtsprechung des RG fort. Neben der grundsätzlichen Aussage, daß individuelle Momente im objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab des § 276 BGB kein Entscheidungskriterium sein können 52 , wird die Konkretisierung dieses Maßstabs weiter vorangetrieben. Auch der BGH und die Instanzgerichte bedienen sich dabei der „speziellen Verkehrskreise", wobei deren „gewissenhafte und durchschnittlich erfahrene" Angehörige als Orientierungspunkt für das zu bewertende Verhalten herangezogen werden. 53 Es finden sich auch andere, in der Sache aber gleichbedeutende Formulierungen. So ist von „Personenklassen" oder „Personenkreisen" die Rede 54 , es wird auf die „typische Verschiedenheit ganzer Gruppen von Menschen" hingewiesen55 oder ausgeführt, der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt sei genügt, wenn der Sicherheitsgrad erreicht sei, den die im „entsprechenden Bereich" herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. 56 Auch die vom RG vorgenommene Differenzierung nach Berufssparten wird fortgeführt. Ein möglicherweise fahrlässiges Verhalten wird damit verglichen, was ein „verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger dieser Berufsgruppe" getan hätte. 57 Betrachtet man die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die Nachkriegsjudikatur im Überblick, so scheinen nennenswerte Probleme in der Handhabung des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs nicht zu existieren. Dieser Maßstab wird über den Terminus „Verkehrskreis" konkretisiert, wobei eine weit verzweigte, im wesentlichen widerspruchsfreie Judikatur entstanden ist. Neben der geschildertem Konkretisierung des grundsätzlich objektiven Fahrlässigkeitsbegriffs finden sich in der Rechtsprechung aber auch Bereiche mit 49 RG Warneyer 1909 (Ergänzungsband), Nr. 281. 50 Vgl. etwa RGZ 102, 45, 49; 119, 397, 400; 126, 329, 331; 152, 129, 140. 51 So z. B. RG Warneyer 1912 (Ergänzungsband), Nr. 246; RGZ 78, 241, 245; 97, 4, 5; 118, 41, 42; 131, 12, 14 ff. 52 BGHZ 24, 21, 27; BGH VersR 1958, 268; BGHZ 39, 281, 286; BGH VersR 1976, 775, 776. 53 Vgl. etwa BGH VersR 1953, 150, 151; BGH NJW 1961, 600; BGH VersR 1968, 395; BGH NJW 1972, 150, 151; OLG Celle VersR 1983, 877. 54 BGHZ 5, 318. 55 BGH LM § 828 Nr. 1; BGH DB 1957, 796. 56 BGH VersR 1972, 559, 560. 57 BGH VersR 1975, 812; vgl. auch BGH VersR 1956, 618; BGHZ 39, 281, 283; BGH VersR 1967, 801; BGH NJW 1982, 2555. 8 Kaminski

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

subjektiven Tendenzen. Abgesehen von der in § 277 BGB erwähnten diligentia quam in suis, einer den persönlichen Eigenschaften des Handelnden Rechnung tragenden Sorgfaltsumschreibung 58, ist hier vor allem die Judikatur zur groben Fahrlässigkeit zu nennen. Diese wird zunächt als ein Verhalten beschrieben, bei dem die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige nicht beachtet wurde, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen.59 Darüber hinaus wird jedoch betont, daß die Schwere der objektiven Sorgfaltsverletzung alleine nicht ausreicht, hinzukommen müsse ein auch in subjektiver Hinsicht gegenüber der einfachen Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden. 60 Eine Begründung für diese Abweichung von der sonst im Zivilrecht geltenden Fahrlässigkeitskonzeption findet sich regelmäßig nicht. 61 Stattdessen wird üblicherweise auf die grundlegende Entscheidung BGHZ 10, 14 hingewiesen, in der sich allerdings auch keine Begründung, sondern lediglich die Bezugnahme auf ein Urteil des RG findet. 62 Dort wird festgestellt, daß zwar die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach objektiven Kriterien zu bestimmen sei, dies aber keinesfalls die Berücksichtigung subjektiver Momente ausschließe, wenn es um die Feststellung grober Fahrlässigkeit gehe. Warum dies so sei, beantwortet das RG mit einem vagen Hinweis auf Begriffsbestimmungen in den Motiven und den Protokollen; die dortigen Formulierungen sind allerdings bekanntlicherweise weder Gesetz geworden, noch existiert eine abschließende Stellungnahme der Kommissionen, was das RG auch selbst bemerkt. 63 Erstaunlicherweise läßt sich damit konstatieren, daß die ständige Rechtsprechung zur Berücksichtigung subjektiver Gesichtspunkte bei der groben Fahrlässigkeit im Grundsatz nie begründet worden ist. 58 Vgl. dazu jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 23 ff; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 3a. Kritisch zu diesem Haftungsmaßstab Deutsch, JuS 1967, 496 ff.; Esser / Schmidt, Schuldrecht, S. 385. 59 Ständige Rspr. seit RGZ 141, 129, 131; vgl. etwa RGZ 163, 104, 106; 166, 98, 101; BGHZ 10, 14, 16; 89, 153, 161. Die Literatur schließt sich dieser Formulierung an, vgl. statt vieler Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 122; Heinrichs in: Palandt, § 277 Anm. 2a. 60 So z. B. BGH VersR 1967, 909, 910; BGH NJW 1980, 887, 888; BGH BB 1985, 697; BGH NJW-RR 1986, 705, 706; NJW-RR 1989, 399, 340. Aus der Literatur z. B. Hanau in: MünchKomm, § 277 Rdn. 10; Heinrichs in: Palandt, § 277 Anm. 2a; Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 125. Daß die Voraussetzung persönlicher Vorwerfbarkeit bei der groben Fahrlässigkeit keineswegs selbstverständlich ist, betont Röhl, JZ 1974, 521, 527. 61 Vgl. die in Fn. 61 zitierten Entscheidungen. Auch im Schrifttum wird die subjektive Komponente der groben Fahrlässigkeit schlicht postuliert. Erklärungsansätze finden sich bei Sanden VersR 1967, 1013 ff. und Lohe, VersR 1968, 323 ff., die die Nähe zum Vorsatz betonen und allein aus diesem Grund personale Gesichtspunkte für erforderlich halten. Kritisch dazu sowie zur Berücksichtigung subjektiver Umstände bei der groben Fahrlässigkeit überhaupt Müller, VersR 1985, 1101. 62 BGHZ 10, 14, 16 verweist auf RG JW 1924, 1978 und stellt abgesehen davon lediglich fest, daß die subjektive Deutung der groben Fahrlässigkeit aus deren Wesensbegriff folge. 63 JW 1924, S. 1978 f.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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Erst in jüngerer Zeit finden sich ansatzweise Erläuterungen zu Teilbereichen. In einer Entscheidung des Jahres 1988 hatte sich der BGH mit dem Verhalten eines Unternehmers zu beschäftigen, das für den Fall seiner Bewertung als grob fahrlässig Regreßansprüche des Sozialversicherungsträgers nach § 640 RVO ausgelöst hätte. Das Gericht führt aus, die grundsätzliche Haftungsfreistellung finde ihre Ursache in den von dem Unternehmer gezahlten Beiträgen. Die Inanspruchnahme der in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Versichertengemeinschaft sei aber dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn eine besonders krasse und auch subjektiv unentschuldbare Pflichtverletzung zu einem Arbeitsunfall geführt habe. 64 Subjektive Kriterien werden von der Rechtsprechung auch im Fall fahrlässigen Mitverschuldens berücksichtigt. Zwar gelte auch hier grundsätzlich, d. h. bei der Frage, ob überhaupt ein Mitverschulden vorliegt, der oben skizzierte objektive, nach Verkehrskreisen differenzierende Sorgfaltsmaßstab. 65 Allerdings sollen sich bei der Abwägung, also der anteiligen Berechnung des beiderseitigen Verschuldens, persönliche Unzulänglichkeiten des Geschädigten mildernd auswirken, was wohl auf die Weite des § 254 Abs. 1 BGB (Berücksichtigung aller Umstände) zurückzuführen ist. 66 Dem folgt überwiegend auch die Literatur. 67

6. Zivilrechtliches Spezifikum: Besondere Maßstäbe für Jugendliche, alte Menschen, Behinderte Da die vorliegende Darstellung privatrechtlicher Fahrlässigkeitsmaßstäbe ausschließlich dem Zweck dient, Hinweise zur Praktikabilität eines objektiv ausgerichteten strafrechtlichen Fahrlässigkeitstatbestands zu erhalten, ist bereits an dieser Stelle das in der Überschrift genannte Problemfeld als zivilrechtliche Besonderheit aus der weiteren Untersuchung zu eliminieren. Die nachfolgende kurze Skizzierung dieses Bereichs soll deshalb lediglich verdeutlichen, warum die für die genannten Personengruppen existierenden zivilrechtlichen Entscheidungskriterien nicht auf das Strafrecht zu übertragen sind. a) Die zivilrechtliche Fahrlässigkeitshaftung richtet sich bei den Jugendlichen nicht ausschließlich danach, inwieweit altersgruppenmäßig abgestufte Sorgfalts64 BGH NJW 1988, 1266; in diese Richtung auch schon BGH VersR 1972, 144. 65 RG DJZ 1911, 1217; BGHZ 33, 293, 301; BGH VersR 1965, 877, 878; KG VersR 1975, 770, 771. 66 RG DJZ 1911, 1217; RGZ 68, 422, 423; OlG Oldenburg VersR 1955, 603; OLG München VersR 1958, 460, 461; OLG Bamberg VersR 1965, 989, 990. 67 Vgl. die in Fn. 39 genannten und außerdem Hermann Lange, Schadensersatz, S. 347, 387; Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 89; Medicus in: Staudinger, § 254 Rdn. 70,94. Einen ausschließlich subjektiven Maßstab vertritt Erman / Battes, § 276 Rdn. 20, einen ausschließlich objektiven Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B, beide jedoch ohne nähere Begründung. 8*

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

anforderungen verletzt worden sind. Es wäre deshalb oberflächlich, wollte man im Hinblick auf die Übertragbarkeit privatrechtlicher Maßstäbe diesen Punkt isoliert betrachten. Ob ein Jugendlicher wegen fahrlässigen Verhaltens zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, richtet sich nach drei, unabhängig voneinander zu beantwortenden Fragen. Zunächst ist bei einem Jugendlichen von 7 bis 18 Jahren nach § 828 Abs. 2 BGB zu klären, ob eine Haftung nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil er „bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht" hatte; Kinder bis zum vollendeten 7. Lebensjahr haften nach Abs. 1 dieser Vorschrift ohnehin nicht. Die „erforderliche Einsicht" wird hier individuell bestimmt und ist dann zu bejahen, wenn die intellektuelle Fähigkeit vorhanden ist, das Gefährliche des Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für etwaige Folgen bewußt zu werden. 68 Dabei wird nicht verlangt, daß die besonderen Gefahren der konkreten Handlung erkannt werden, ausreichen soll vielmehr ein minderes Verständnis dafür, daß die Handlung als solche gefährlich ist und in irgendeiner Form eine Haftung begründen kann. 69 Eine weitergehende Prüfung, ob der Jugendliche fähig ist, nach dieser Einsicht zu handeln, findet nicht statt. Die Steuerungsfähigkeit wird erst auf der nächsten Prüfungsebene, beim objektiv-typisierten Fahrlässigkeitsmaßstab relevant. Hier wird gefragt, ob ein Jugendlicher dieser Altersgruppe die Gefahr erkennen konnte und darüber hinaus die erforderliche Willenskraft gehabt hätte, von dem gefährlichen Tun Abstand zu nehmen.70 Ist eine der beiden Fragen zu verneinen, führt dies nicht automatisch zur Haftungsfreistellung. Nach § 829 BGB ist im deliktsrechtlichen Bereich unter bestimmten, Billigkeitserwägungen Rechnung tragenden Voraussetzungen eine Ersatzverpflichtung möglich. Dabei erklärt man die Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut nicht nur dann für anwendbar, wenn die Verantwortlichkeit des Jugendlichen nach § 828 BGB ausgeschlossen ist, sondern auch dann, wenn er wegen Einhaltung der alterstypischen Sorgfalt nicht haftet. 71 Die skizzierte haftungsrechtliche Systematik zeigt, daß man den im Hinblick auf Jugendliche nach Altersgruppen differenzierenden zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsmaßstab nicht isoliert betrachten kann. Es mag als reine Spekulation dahinstehen, ob ein für Jugendliche gruppenmäßig abgemilderter Sorgfaltsmaßstab im Zivilrecht auch dann vertreten würde, wenn es den „Ausweg" des § 829

68 BGH FamRZ 1957, 254, 255; BGH VersR 1960, 633; 1965, 385; 1967, 158; BGH LM § 828 Nr. 4; BGH NJW 1984, 1958; Larenz, Schuldrecht, S. 294; Schäfer in: Staudinger, § 828 Rdn. 11; Thomas in: Palandt, § 828 Anm. 2a; Zeuner in: Soergel, § 828 Rdn. 4 69 Vgl. dazu etwa BGH NJW 1984, 1958 sowie Zeuner in: Soergel a. a. O. 70 Daß die Steuerungsfähigkeit bei § 828 BGB keine Berücksichtigung findet, wird im wesentlichen mit dem Gesetzeswortlaut begründet. Ausführlich dazu BGH LM § 828 Nr. 4; vgl. auch BGH NJW 1984, 1959 sowie die in Fn. 69 angegebene Literatur. 7 1 BGHZ 39,281; OLG Braunschweig VersR 1954,460; dazu Deutsch, Haftungsrecht, S. 314.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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BGB nicht gäbe.72 Da es jedoch auf der strafrechtlichen Tatbestandsebene derartige „Auswege" nicht gibt und selbstverständlich auch nicht geben kann, ist die zivilrechtliche Sicht der Dinge schon allein deshalb nicht übertragbar. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Judikatur betrachtet, in der die Frage der Steuerungsfähigkeit eine Rolle spielt. Hier wird fahrlässiges Verschulden regelmäßig dann verneint, wenn bei einer bestimmten Altersgruppe die „Motorik des Spieltriebes" typischerweise derart dominiert, daß alle weiteren Überlegungen zur Gefährlichkeit des Handelns vergessen oder verdrängt werden. 73 Würde auf einer derartigen Grundlage entschieden, ob der Tatbestand eines strafrechtlichen Fahrlässigkeitsdelikts verwirklicht ist, so wären die Ergebnisse wohl kaum vertretbar. Der Jugendliche, der — von der Motorik seines altersgruppentypischen Spieltriebs überwältigt — einen erheblichen Personenschaden herbeizuführen droht, würde nicht tatbestandsmäßig handeln. Die Folge wäre dann u. a. die, daß Notwehr gegen ein solches Handeln nicht möglich wäre. Darüber hinaus sind Zweifel daran angebracht, ob die Differenzierung von Sorgfaltsmaßstäben nach Altersgruppen überhaupt noch als die Konkretisierung eines objektiven Fahrlässigkeitsbegriffs verstanden werden kann. Namhafte Zivilrechtler haben Bedenken in dieser Richtung angemeldet.74 Siber hält die Anerkennung unterschiedlicher Gruppen Jugendlicher in Anlehnung an die parallele Differenzierung von Berufsgruppen für eine Verwechslung. „Wenn mehrere Schwimmer unmittelbar nacheinander vom Sprungbrett ins Wasser springen, so ist die Gefahr und folglich auch die zu ihrer Verhütung objektiv erforderliche Sorgfalt durchaus die gleiche, mögen die Schwimmer Erwachsene oder Kinder sein; nur kann die Außerachtlassung dieser Sorgfalt Erwachsenen vermöge ihrer geistigen Beschaffenheit eher zum Vorwurf gemacht werden als Kindern; der Gegensatz betrifft also nicht die objektiv erforderliche Sorgfalt, sondern das subjektive Verschulden bei ihrer Außerachtlassung." 75 Aus strafrechtlicher Sicht kann man sich dieser Argumentation vorbehaltlos anschließen. Bei den Jugendlichen steht das individuelle Moment viel zu sehr im Vordergrund, als das man hier die Anerkennung gruppenweise abstufender Sorgfaltsmaßstäbe noch als von einem objektiven Fahrlässigkeitsverständnis umfaßt ansehen könnte. 76 Die Diffe72 Ein ganz neues Bild entstünde auch, wenn im Rahmen des § 828 BGB die Steuerungsfähigkeit Entscheidungskriterium wäre. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensrechtlicher Vorschriften aus dem Jahr 1967 hatte dies vorgesehen; siehe dazu BGH LM § 828 Nr. 4; Mertens in: MünchKomm, § 828 Rdn. 14. 73 So etwa BGH NJW 1984, 1958, 1959; ständige Rechtsprechung. 74 Planck I Siber, § 276 Anm. 2b; Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1310 f; ders., NJW 1957, 1777, 1782. 75 Planck! Siber, § 276 Anm. 2b. 76 Es ist bezeichnend, daß gerade Deutsch, der jugendliches Alter sonst als gruppenbildendes Merkmal innerhalb eines objektiv-typisierten Sorgfaltsmaßstabs begreift (vgl. Fahrlässigkeit, S. 130 f.; Haftungsrecht, S. 282 ff.) in einer jüngeren Publikation (Unerlaubte Handlungen, S. 66) diesbezüglich von „Ausnahmen von der objektiv erforderlichen Sorgfalt" spricht.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

renzierung von Verkehrskreisen dient der Konkretisierung von Verhaltensmaßstäben. Verhaltensmaßstäbe dienen der Ermittlung des rechtlichen Sollens. Die Unterscheidung verschiedener Gruppen Jugendlicher basiert aber letztlich auf deren individuellem Können. Ein derartiger Gesichtspunkt kann und darf aber erst bei der Schuldfrage Berücksichtigung finden. 77 b) Auch für alte Menschen wird in der zivilrechtlichen Literatur ein gruppenspezifisch milderer Maßstab gefordert. 78 Grundlegender Gedanke hierbei ist, daß dieser Personenkreis bei Heranziehung eines allgemeingültigen Sorgfaltsmaßstabs ständig überfordert würde 79 , wobei man allem Anschein nach allerdings weniger das Alter an sich, als vielmehr altersbedingte Behinderungen im Auge hat. Genau wie für die Jugendlichen gilt jedoch auch hier, daß nicht der Gesichtspunkt des gruppentypischen Verhaltens, sondern individuelle Besonderheiten im Vordergrund stehen. Deutlich wird dies, wenn man die Frage aufwirft, anhand welcher Kriterien in diesem Bereich besondere Sorgfaltsmaßstäbe gebildet werden könnten. Naheliegend wäre eine Differenzierung anhand bestimmter, starr festgelegter Altersgruppen. Dies hätte den Vorteil einer verläßlichen Grenzziehung, ließe sich aber mit dem Vorhaben der Konkretisierung von Sorgfaltsmaßstäben nicht erklären; es sei denn, es gelänge der Nachweis eines typischen Verhaltens des Kreises etwa der 75 bis 80jährigen Menschen. Ist dieser Weg also nicht gangbar, so wäre alternativ zu überlegen, ob nicht für die Gruppe der „alten Menschen mit bestimmten Defekten" wie etwa Schwerhörigkeit oder Gehbehinderungen insoweit modifizierte Sorgfaltsanforderungen gelten sollten. Auch dies führt jedoch nicht weiter. Zwar käme bei einer solchen Abstufung der Gedanke der „Überforderung" bestimmter Personen im Rechtsverkehr zum Tragen, allerdings ginge die erforderliche Randschärfe verloren, da zwar der jeweils benannte Defekt, nicht aber der Begriff „alter Mensch" subsumtionsfähig ist. Als verbleibende Möglichkeit käme dann nur noch in Betracht, das Merkmal der Gebrechlichkeit innerhalb fester Altersgrenzen als gruppenbildend anzusehen. Allerdings führt auch dieser Weg in die Irre. Die Konstituierung besonderer Maßstäbe für die 75 bis 80jährigen, gehbehinderten Menschen wäre funktionslos, weil der genannte Defekt auch außerhalb dieser Altersgruppe auftritt und kaum zu erklären sein dürfte, daß für den 85jährigen mit eben diesem Defekt ein anderer Sorgfaltsmaßstab gelten soll. Die aufgezeigten Schwierigkeiten beweisen zweierlei: Zum einen dürfte es ausgeschlossen sein, das Merkmal des „hohen Alters" als sorgfaltsmodifizieren-

77 Vgl. dazu Hirsch, ZStW 94 (1982), 239, 267. 78 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 130 f.; ders., Haftungsrecht, S. 285; Esser / Schmidt, Schuldrecht, S. 383 f.; Hanau in: MünchKomm, §276 Rdn. 84; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4b; Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 78, 82. 79 So etwa Wolf in Soergel, § 276 Rdn. 78. Die Rechtsprechung ist offensichtlich nicht dieser Auffassung. Soweit ersichtlich, ist die einzige Entscheidung, die hohes Alter berücksichtigt, ein Urteil des OLG Dresden (SeuffArch 64, 185) aus dem Jahr 1908.

I. Sorgfaltsmaßstäbe

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des Kriterium nutzbar zu machen, wenn man Sorgfaltsmaßstäbe unter Zugrundelegung eines objektiv-typisierten Fahrlässigkeitsbegriffs konkretisieren will. Bezeichnenderweise äußert sich auch keiner der Autoren, die derartiges fordern, zu der Frage, wie man dabei in praxi vorzugehen habe. 80 Zum zweiten zeigt allein schon der Versuch der Differenzierung, daß man hier ohne den Rückgriff auf zusätzliche Gesichtspunkte neben dem Alter nicht auskommt. Wenn aber der Aspekt der „Überforderung im Rechtsverkehr" überhaupt der Anlaß dafür ist, abgemilderte Sorgfaltsanforderungen für alte Menschen zu postulieren, dann kommt als zusätzlicher Gesichtspunkt nur die Existenz bestimmter Defekte in Betracht. Körperliche oder seelische Gebrechen sind aber nun einmal kein Merkmal der Gruppe, sondern ein solches des einzelnen und können deshalb aus den oben angestellten Erwägungen nicht zur Bildung von Maßstäben strafrechtlich relevanten Sollens herangezogen werden. c) Daß für Behinderte nichts anderes gelten kann, liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Zusätzlich ist hier hervorzuheben, daß Bedenken gegen die Anerkennung spezieller Sorgfaltsmaßstäbe für diese Gruppe gerade aus den Reihen derjenigen erhoben werden, die alte und junge Menschen gesondert berücksichtigt wissen wollen. Dabei wird auf die Gefahr einer zu weit gehenden Subjektivierung hingewiesen. „Die Inkongruenz dieses Kreises (der Behinderten) würde zu weiteren Unterscheidungen nach Art der Versehrtheit zwingen. Die so gewonnenen Gruppen würden weitgehend im Widerspruch zu den Grundsätzen der schematischen Betrachtung und der möglichsten Erkennbarkeit der Gruppenzugehörigkeit stehen."81 Dem ist nichts hinzuzufügen. Insgesamt hat sich damit gezeigt, daß gruppenspezifische Sorgfaltsanforderungen nicht mit dem Hinweis auf die Besonderheiten jugendlichen oder hohen Alters begründet werden können und auch Behinderungen an sonst geltenden Fahrlässigkeitsmaßstäben nichts ändern. Dies gilt jedenfalls insoweit, wie es um die Ermittlung fahrlässigen Verhaltens auf der Ebene strafrechtlichen Unrechts geht. Was die zivilrechtliche Situation anbelangt, so hat es den Anschein, als sei die Aufstellung besonderer Sorgfaltsmaßstäbe für Jugendliche nicht nur ein Produkt dogmatischer Überzeugung, sondern auch durch die deliktsrechtliche Systematik des BGB bestimmt. Zumindest im Hinblick auf die Gruppe der alten Menschen und der Behinderten sollte jedoch überlegt werden, ob hier die Forderung nach Differenzierung praktikabel ist. so Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 79. Es findet sich allerdings stets der Hinweis, daß der Gesichtpunkt des Übernahmeverschuldens eine Rolle spiele. Darüber hinausgehend meint Hanau, im Verkehr mit Kraftfahrzeugen seien an die Angehörigen aller Altersgruppen die gleichen Maßstäbe anzulegen. Einen sehr eleganten Ausweg weist Deutsch: „Auftretensgruppen mit besonders starker sozialer Bedeutung überlagern regelmäßig die Merkmalsgruppen". Dies bedeutet, daß der kraftfahrende Greis nur am Sorgfaltsstandard des durchschnittlichen Autofahrers gemessen wird und nicht etwaige Privilegien seiner Altersgruppe genießt. Angesichts solcher Ausnahmen stellt sich natürlich die Frage, was von einem abgemilderten Sorgfaltsmaßstab für alte Leute übrigbleibt. 8i Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 141.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

7. Zusammenfassung Der Überblick über das zivilrechtliche Fahrlässigkeitsverständnis hat ergeben, daß nicht pauschal von einem dort herrschenden objektiven Sorgfaltsmaßstab gesprochen werden kann. So gibt es Stellungnahmen in der Literatur, welche die Rechtsfolgen fahrlässigen Verhaltens letztlich von der individuellen Leistungsfähigkeit des Handelnden abhängig machen wollen. Andere gehen grundsätzlich von objektiven Verschuldensmaßstäben aus, lassen aber in einigen Bereichen Ausnahmen zu. Auch die Rechtsprechung verfolgt nicht einheitlich eine objektive Linie. Zwar soll die im Verkehr erforderliche Sorgfalt des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB nach Maßstäben, die die Person des Handelnden weitgehend unberücksichtigt lassen, bemessen werden, insbesondere bei der groben Fahrlässigkeit und beim Mitverschulden sei jedoch daneben eine subjektive Komponente zu beachten. Schließlich werden im Bereich der Fahrlässigkeitshaftung Jugendlicher, alter Menschen und Behinderter ansatzweise Tendenzen deutlich, die einer objektiven Fahrlässigkeitskonzeption widersprechen. Der Überblick hat aber auch gezeigt, daß in den wesentlichen Grundzügen im Zivilrecht eine Fahrlässigkeitsauffassung dominiert, die das zu bewertende Verhalten an einem objektiven Maßstab mißt. Seine Handhabung durch die Judikatur stößt auf keine nennenswerten Probleme. Der objektive, nach Verkehrskreisen differenzierende Maßstab wird dementsprechend auch in der Literatur ganz überwiegend vertreten. Die Sorgfaltswidrigkeit ist danach anhand eines Vergleichs festzustellen. Vergleichsperson ist der durchschnittliche und gewissenhafte Angehörige des jeweiligen Verkehrskreises. In dieser Ausprägung stimmt der Sorgfaltsmaßstab des Zivilrechts mit dem strafrechtlichen überein, soweit letzterer der Ermittlung tatbestandsmäßig- rechtswidrigen Verhaltens dient. Ein derartiger Befund gibt zu Feststellungen in zweierlei Hinsicht Anlaß. So ist zum einen anzumerken, daß die von Teilen der strafrechtlichen Literatur geforderte Subjektivierung des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdeliktes auf der Ebene des Zivilrechts kein Vorbild findet. Es hat sich gezeigt, daß die in Teilbereichen zu verzeichnenden Ansätze, wonach die Leistungsfähigkeit des handelnden Individuums im Fahrlässigkeitsmaßstab zu berücksiclitigen ist, lediglich der Haftungsbeschränkung dienen. Demgegenüber können die von den Subjektivisten im Strafrecht vorgeschlagenen Kriterien durchaus zu einer Erweiterung des Bereichs strafrechtlich relevanten Verhaltens führen. Darauf wurde bereits hingewiesen. 8 2 Der zweite Aspekt, den es hervorzuheben gilt, ist die Tatsache, daß sich für eine vermeintliche Inpraktikabilität eines objektiven, nach Verkehrskreisen differenzierenden Sorgfaltsmaßstabs keinerlei Anhaltspunkte ergeben haben. Wenn sich die Handhabung eines solchen Maßstabs als derart unproblematisch erweist,

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s.

o. 2. Kap. V.

II. Das Problem der Verkehrskreise

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daß er sich in der zivilrechtlichen Rechtsprechung sowie Literatur hat durchsetzen können, so spricht zumindest prima facie einiges dafür, daß eine für den strafrechtlichen Bereich gegenteilige Vermutungen äußernde Kritik ins Leere geht. Es wäre nun freilich etwas oberflächlich, wollte man allein mit dieser Feststellung dem Vorwurf der Inpraktikabilität begegnen. Oberflächlich wäre dies deshalb, weil sich die Kritik ja nicht am objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab im allgemeinen, sondern an dessen Konkretisierung über die Erscheinung des Verkehrskreises entzündet. Im folgenden wird deshalb etwas genauer der Frage nachzugehen sein, ob die Ergebnisse der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur in der Lösung von Fahrlässigkeitsproblemen auch dann noch überzeugend wirken, wenn man sie daraufhin untersucht, wie sorgfaltswidriges Verhalten unter Verwendung des Begriffs des Verkehrskreises festgestellt wird.

I I . Das Problem der Verkehrskreise Der Gedanke, in den verschiedenen Lebensbereichen auch unterschiedliche Sorgfaltsmaßstäbe anzulegen, ist schon lange bekannt. Bereits Bartolus formulierte: „culpa est deviatio incircumspecta ab ea diligentia, quam communito habent homines, qui sunt ejusdem professionis et condicionis." 83 Durchsetzen konnte sich diese Vorstellung aber erst mit Beginn dieses Jahrhunderts, einerseits durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts, andererseits im Verlauf des oben skizzierten literarischen Streits. Von Seiten der Gegner eines nach Lebensbereichen oder Verkehrskreisen differenzierenden objektiven Sorgfaltsmaßstabs wurde dabei von Anfang an vorgebracht, die Gruppenbildung sei willkürlich, unscharf und nicht zu begrenzen. 84 Leonhard bemerkt, die Berücksichtigung aller irgendwie erheblichen Merkmale von Menschen bei der Bestimmung von Verkehrskreisen würde den objektiven Ansatz von Lehre und Rechtsprechung konterkarieren. „Wenn wir dies tun, so gewinnen wir Klassen nicht nur von Ärzten, von Baumeistern, sondern auch von Kurzsichtigen, von Leuten, denen der Daumen an der rechten Hand fehlt usw. Denn auf Grund jeder Eigenschaft, die mehreren Menschen gemeinsam ist, läßt sich eine Klasse bilden, und als unerheblich kann man diese Eigenschaften auch nicht bezeichnen. Mit einem Wort: Wir gelangen gerade zum Gegenteil des objektiven Maßstabes, zu der Beachtung aller individueller Eigenschaften!" 85 Kritisch wird auch auf die recht unterschiedlichen Ergebnisse hingewiesen, zu denen die Vertreter der herrschenden Meinung kommen, wenn es um die Anerkennung bestimmter Gruppen geht. Brodmann bezeichnet deshalb

83

Vgl. Engelmann, Schuldlehre, S. 192; dazu auch Leonhard, Festgaben für Enneccerus, S. 8. 84 Die eingehendste Kritik findet sich bei Leonhard a. a. O. S. 8 ff. und Brodmann, AcP 99, 327, 362 ff. 85 Leonhard a. a. O., S. 9.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

die Kriterien, die der Klassifizierung dienen, als historisch zufällig und logisch willkürlich. 86 Trotz dieser recht harschen Kritik, die bei der entsprechenden strafrechtlichen Problematik auch heute noch in ähnlicher Form vorgebracht wird 8 7 , hat sich, wie gezeigt, der objektiv typisierende Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der Lehre durchgesetzt. Man sollte deshalb meinen, daß die Hinweise auf einen angeblich wunden Punkt der objektiven Fahrlässigkeitsauffassung dazu geführt haben, die Merkmale, welche der Unterscheidung verschiedener Verkehrskreise dienen, genauer herauszuarbeiten. Es ist deshalb zu überprüfen, ob die Kritik fruchtbar gemacht wurde und ob sie dazu geführt hat, daß eine Klassifizierung von Sorgfaltsmaßstäben nach unterschiedlichen Lebensbereichen praktikabel geworden ist. 1. Literatur Von Leonhard nicht zur Kenntnis genommen, hatte bereits vor dessen Beitrag Rümelin versucht, gruppenbildende Kriterien aufzuzeigen. 88 Das Erfordernis einer Differenzierung stellt sich nach Rümelin immer dann, wenn typische Situationen nach der Verkehrsanschauung ein typisches Verhalten erfordern. Am klarsten würde dies bei den verschiedenen Berufstätigkeiten zu Tage treten, hier sei folglich auf die Normalfigur des tüchtigen Arztes, Beamten u. s. w. abzustellen. Typizität des Verhaltens sei aber auch bei bestimmten gefährdenden Tätigkeiten wie Reiten, Radfahren, Jagen und Halten von Tieren festzustellen. 89 Aber auch außerhalb standardisierten Verhaltens müsse man differenzieren. Hier könnten nach Merkmalen der Person Gruppen gebildet werden, den Unterschieden in Alter und Geschlecht sei Rechnung zu tragen. 90 Oertmann, der schon unter dem Einfluß der oben geschilderten Kritik steht, greift den Gesichtspunkt der Typizität auf. 91 Ähnlich wie Rümelin weist er darauf hin, daß man sich bei der Frage, inwiefern eine Gruppenbildung erforderlich sei,

86 Brodmann, AcP 99, 327, 364; vgl. auch Leonhard a. a. O., S. 10. 87 Der zitierte Satz Leonhards erinnert stark an das von Samson geraume Zeit später gelieferte Beispiel, mit dem dieser die Inpraktikabilität eines objektiven, nach Verkehrskreisen differenzierenden Maßstabs zu verdeutlichen versucht; siehe dazu oben 2. Kap. II 4. 88 Verschulden, S. 44 ff. 89 Rümelin, Verschulden, S. 45. 90 Rümelin, Verschulden, S. 48. Wenn hier und im folgenden erneut daraufhingewiesen wird, daß im Zivilrecht altersgruppentypische Sorgfaltsmaßstäbe vertreten werden, so dient dies nicht dem Zweck, die bereits oben erörterte Problematik erneut aufzurollen. Es würde aber die jeweiligen Konzepte der einzelnen Autoren im Hinblick auf das, was sie unter dem Begriff des Verkehrskreises verstehen, verzeichnen, bliebe dieser Gesichtspunkt unerwähnt. 91 LZ 1924, 241, 147; ders., § 276 Anm. Ib.

I

Das Problem der Verkehrskreise

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des Instrumentes der Verkehrsanschauung bedienen könne. Anhand dieser könne mit erstaunlicher Präzision festgestellt werden, wie weit die Anerkennung oder Ablehnung besonderer Verkehrskreise gehen dürfe. Dies werde daran deutlich, daß im Verkehr für besondere Gruppen stets besondere Bezeichnungen geprägt werden. Für „Leute ohne rechten Daumen" treffe dies indes nicht zu. 92 Eike Schmidt spricht von der Sorgfalt innerhalb spezieller Verkehrskreise, die den Einheitsmaßstab des diligens pater familias ersetzen sollen. 93 Er unterscheidet hierbei dreierlei. Als ersten Anknüpfungspunkt für die Standardisierung von Verhaltenspflichten nennt er das Kriterium der „speziellen Auftretensmerkmale", wobei die Verwendung des Plurals nicht ganz klar wird, da er als Beispiel nur das jeweilige „Berufsfeld" nennt. 94 Daneben gebe es „nicht gruppenspezifische Sorgfaltsgebote", worunter er etwa die Vorschriften der StVO oder Sport- und Spielregeln Versteht. Auch hier ist die Terminologie etwas verwirrend, denn obwohl das Adjektiv „gruppenspezifisch" verneint wird, möchte er das Handeln in den genannten Betätigungsfeldern in speziellen Verkehrskreisen zusammenfassen. Der dritte Bereich, in dem der Fahrlässigkeitsmaßstab typisiert werden müsse, sei die zwar nicht tat-, sondern täterbezogene Merkmalsgruppe des jugendlichen oder hohen Alters. 95 In vergleichbarer Weise differenziert Wolf. 96 Ausgehend von dem Befund, daß die Sorgfaltsanforderungen nicht nach einem einheitlichen Durchschnittsmaß festgelegt werden können, unterscheidet er in dreierlei Hinsicht. Ein „bereichsspezifischer" Sorgfaltsmaßstab habe dort zu gelten, wo die Notwendigkeit bestehe, sich den verschiedenen Gefahren der verschiedenen Bereiche anzupassen, beispielsweise im Sport. Daneben existierten aus ähnlichen Erwägungen „berufsspezifische" Fahrlässigkeitsvoraussetzungen. Schließlich sei ein „gruppenspezifisch" abgemilderter Sorgfaltsmaßstab dort zu berücksichtigen, wo strikt generelle Anforderungen bestimmte Bevölkerungsgruppen — wie etwa Kinder, alte Menschen und Behinderte — überfordern würden. Ausführlicher befaßt sich Deutsch mit der Problematik. 97 In einem ersten Schritt unterscheidet er den allgemeinen von den besonderen Verkehrskreisen. Der allgemeine Verkehrskreis erfasse alle diejenigen Verhaltensweisen, die nicht durch besonderes Auftreten und auch nicht durch besondere typisierte persönliche Merkmale gekennzeichnet seien. Als Beispiele nennt er den Barkauf des täglichen Lebens auf Käuferseite oder das Gehen eines Erwachsenen auf der Straße. Im Ergebnis — und damit dürfte das, was Deutsch mit der Figur des allgemeinen

92 Oertmann, LZ 1924, 242, 247. 93 Esser ! Schmidt, Schuldrecht, S. 381. 94 Esser! Schmidt, Schuldrecht, S. 382. 95 Esser! Schmidt, Schuldrecht, S. 383. 96 Wolf in: Soergel, § 276 Rdn. 78 ff. 97 Fahrlässigkeit, S. 128 ff.

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3. Kap

Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

Verkehrskreises meint, am ehesten zu verdeutlichen sein — ist der Sorgfaltsmaßstab immmer diesem zu entnehmen, sofern nicht ein Verhalten einem der besonderen Verkehrskreise unterfällt. Letztere stehen in Deutschs Analyse auch im Vordergrund. Bei den besonderen Verkehrskreisen seien zwei Arten gruppenbildender Merkmale zu unterscheiden. Auf der einen Seite müßten Spezifika der Person, die alle Menschen beträfen, berücksichtigt werden. Andererseits gäbe es Kriterien, die den Handelnden zeitweilig oder dauerhaft zum Mitglied einer Gruppe machten. Demzufolge habe man Merkmals- von Auftretensgruppen zu trennen. 98 Bei der Klasse der Merkmalsgruppen schließt sich Deutsch der Rechtsprechung an. Hier dürfe jugendliches sowie hohes Alter als Gesichtspunkt zur Bildung von Verkehrskreisen herangezogen werden. 99 Seine Berücksichtigung finde dies letztlich im Vertrauensgrundsatz. Man dürfe bis zum Vorliegen besonderer Umstände mit sorgfältigem Verhalten der Verkehrsteilnehmer rechnen. Als besondere Umstände seien gerade auch die Kriterien anzusehen, die zur Differenzierung der genannten Gruppen benutzt würden. Kinder, Jugendliche und alte Menschen verhielten sich nun einmal typischerweise anders als der durchschnittliche Erwachsene. Wenn aber jeder mit derartigem zu rechnen habe, sei nicht einzusehen, warum solche Verhaltensstandards nicht über die Konstituierung von Verkehrskreisen die zu fordernde Sorgfalt beeinflussen könnten. 100 Das Spektrum, das Deutsch in der Kategorie der Auftretensgruppen erfaßt, ist weiter. Verkehrskreise könnten hier durch die Vornahme bestimmter Rechtsgeschäfte, durch Beruf, Amt oder Gewerbe, durch die Lebensstellung sowie durch die Inanspruchnahme des Etikettes „Fachmann" unterschieden werden. Der hinter der Konstituierung dieser Gruppen stehende Grundsatz sei der der „objektiven Übernahme". Wer in den genannten Verkehrskreisen auftrete, garantiere, zur Erfüllung des betreffenden Sorgfaltsstandards in der Lage zu sein, und diese Garantie werde vom Verkehr als objektive akzeptiert. 101 Bei der Katalogisierung der sog. Auftretensgruppen kann Deutsch sich im wesentlichen auf die Rechtsprechung stützen. Dies gilt insbesondere für die nach Amt, Beruf oder Gewerbe gebildeten Kreise, zu denen eine vielfältige Judikatur existiert. Ergänzend fügt Deutsch hinzu, daß die Zugehörigkeit zu einer dieser

98 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 130. 99 In eingeschränkter Form sei auch das Geschlecht zu berücksichtigen. Dies sei zwar infolge der Gleichstellung von Mann und Frau in den Hintergrund getreten, könne jedoch bei Tätigkeiten, die den Einsatz nicht unerheblicher Körperkraft erfordern, eine Rolle spielen. 100 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 130 f. 101 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 131 ff, 137 f. Eine Ausnahme möchte dieser dann machen, wenn der Handelnde zum Auftreten im jeweiligen Verkehrskreis genötigt wurde. Der Gesichtspunkt der objektiven Übernahme entfalte dann keine Garantiewirkung, das Verhalten sei an allgemeinen Maßstäben zu messen.

II. Das Problem der Verkehrskreise

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Gruppen nicht durch eine Prüfung, Ausbildung oder Approbation beeinflußt wird, entscheidend sei lediglich das Auftreten. Berücksichtigt werden müsse auch, daß nur die eigentlichen Berufshandlungen dem speziellen Sorgfaltsmaßstab unterfallen, die Fahrt zur Arbeitsstätte sei nach allgemeinen Kriterien zu bewerten. 102 In enger Verwandschaft zu der durch die einzelnen Berufe geprägten Auftretensgruppen sieht Deutsch den „Verkehrskreis der Lebensstellung", wobei jedoch nicht recht deutlich wird, was sich dahinter verbirgt und wo sich dessen Grenzen befinden. „Gebildet wird dieser Kreis aus sehr generalisierenden Merkmalen des Berufs und Gewerbes unter Berücksichtigung der Aufgaben, welche die Verwaltung des Vermögens auferlegt und der Umgebung, in der sich das Leben abspielt." 1 0 3 Deutsch zitiert in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des RG, in der vom „Kreise kleiner oder mittlerer Besitzer und Gewerbetreibender auf dem platten Lande" gesprochen wird. 1 0 4 Schärfer konturiert wirken die Verkehrskreise, die in der Vornahme bestimmter Rechtsgeschäfte ihr konstituierendes Merkmal finden sollen. Als gruppenbildendes Kriterium dürften hier nur solche Rechtsgeschäfte angesehen werden, die im allgemeinen Verkehr nicht notwendig vorauszusetzende Fähigkeiten erfordern. Wer derartige Verträge abschließe, unterwerfe sich einem Standard, der für die gesamten rechtlichen Beziehungen aus diesem Geschäft gelte. 105 Im Grundsatz plausibel erscheint es auch, wenn Deutsch von den Verkehrskreisen der Fachleute spricht. Charakteristikum dieser Auftretensgruppe sei die Nutzbarmachung einer gefährlichen Einrichtung bzw. ein gefährliches Handeln, das nicht allgemein zugelassen, sondern nur Personen mit besonderen Fähigkeiten zur Gefahrsteuerung vorbehalten sei. Als Beispiele nennt Deutsch hier Radfahren, Reiten oder das Halten von gefährlichen Tieren. 106 Die übrigen Vertreter eines nach Gruppenstandards abgestuften objektiven Sorgfaltsmaßstabs halten sich bei der Frage, was man unter einem Verkehrskreis zu verstehen habe, weitgehend zurück. Meist findet sich neben der Feststellung, der zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff sei gruppenbezogen und typisiert, lediglich der Hinweis auf die von der Rechtsprechung vorgegebenen Differenzierungen. 1 0 7 Bisweilen wird hervorgehoben, auch der Gesetzgeber kenne so etwas wie Verkehrskreise, wenn er z. B. in den §§ 347, 384, 408 HGB von der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns oder in § 429 HGB von der Sorgfalt des ordentlichen Frachtführers spreche. 108 Darüber hinausgehende Erläuterungen sind selten. 102 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 132 ff. 103 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 135. 104 RGZ 95, 16, 18. 105 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 131 f. 106 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 136 f. 107 Vgl. etwa Fikentscher, Schuldrecht, S. 325; Larenz, Schuldrecht, S. 142; Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 82 ff; Alff in: RGRK, § 276 Rdn. 19. los So bspw. Blomeyer, Schuldrecht, S. 123; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

Wenn erklärt wird, die Sorgfaltsmaßstäbe seien in bezug auf Befähigung, Bildungsgrad, Kenntnisse und Erfahrungen zu unterscheiden, außerdem habe man Geschäfts- und Handlungstypen zu berücksichtigen 109, oder sich der Hinweis findet, es komme auf die Fähigkeiten und Einsichten an, die den Beteiligten typischerweise gestellt werden 110 , hat man es schon mit ausführlicheren Stellungnahmen zu tun. 2. Rechtsprechung Es wurde bereits dargestellt, daß es in der Rechtsprechung zu Fahrlässigkeitsfragen im Grundsätzlichen eine bis heute einheitliche Linie gibt. Der BGH vertritt genau wie das RG einen objektiven, gruppenspezifische Besonderheiten berücksichtigenden Sorgfaltsmaßstab. Bei einer im wesentlichen gleichbleibenden Spruchpraxis über einen derart langen Zeitraum verwundert es nicht, daß eine umfangreiche Judikatur zu der Frage existiert, in welchen Lebensbereichen welche Sorgfaltsmaßstäbe als maßgeblich zu gelten haben. Die Rechtsprechung ist dabei mit Hilfe des Begriffs des Verkehrskreises oder ähnlichen, in der Sache aber gleichbedeutenden Bezeichnungen zu einer recht weitgehenden Differenzierung gelangt. Einen Schwerpunkt bildet die Katalogisierung von Sorgfaltsstandards durch die Unterscheidung von Berufsgruppen. Die Gerichte hatten sich damit zu befassen, welches Maß an Sorgfalt Schiffern 111 , Kaufleuten 112 , Lastwagenfahrern 113, Schornsteinfegern 114, Fahrlehrern 115 oder Rechtsanwälten116 abzuverlangen ist. Dabei werden innerhalb bestimmter Berufe auch Untergruppierungen anerkannt. Dies gilt insbesondere im medizinischen Bereich. Die Rechtsprechung stellt unterschiedliche Anforderungen an praktische Ärzte 117 , Chirurgen 118 , Lungenfach- 119 und Zahnärzte 120. Auch außerhalb beruflicher Tätigkeiten werden Verkehrskreise differenziert. Recht häufig findet sich eine Typisierung von Sorgfaltsmaßstäben, wenn es um die Ausübung gefahrträchtiger Handlungen geht. So gibt es beispielsweise Ausführungen darüber, wie sich die Angehörigen einzelner, am Straßenverkehr betei109 Erman / Battes , § 276 Rdn. 26. no Löwisch in: Staudinger, § 276 Rdn. 17. m RGZ 126, 329, 330. 112 RGZ 131, 12, 14. 113 BGH VersR 1968, 395. 114 OLG Frankfurt VersR 1975, 244. us BGH NJW 1969, 2197. 116 BGH VersR 1983, 34. 117 BGH VersR 1962, 250. us RGZ 97, 4, 5. 119 BGH NJW 1961, 600. 120 BGHZ 8, 138, 139.

II. Das Problem der Verkehrskreise

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ligter Gruppen zu verhalten haben 121 , oder es werden die Fahrlässigkeitmaßstäbe im Hinblick auf verschiedene Sportarten konkretisiert. 122 Ähnlich wie die Literatur sieht die Rechtsprechung auch Kinder und Jugendliche als soziale Kategorie an, bei der nach Altersgruppen abgestufte Sorgfaltskriterien maßgeblich sein sollen. 123 Daß die Gerichte bei alten Menschen und Behinderten nach gleichen Grundsätzen entscheiden, letztlich also einen gruppenspezifisch milderen Maßstab anerkennen, läßt sich allerdings nicht behaupten; wenngleich in der Kommentarliteratur teilweise der gegenteilige Eindruck erweckt wird. 1 2 4 Körperliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen werden in der Judikatur bei der Frage der Sorgfaltswidrigkeit regelmäßig nicht als entlastend angesehen, der Gesichtspunkt des Übernahmeverschuldens spielt häufig eine Rolle. 125 Auch das Verhalten alter Menschen wird in der Rechtsprechung nicht anhand eines Maßstabs bewertet, der einem speziell gebildeten Verkehrskreis entnommen wird. 1 2 6 Einzige Ausnahme ist insoweit eine Entscheidung des OLG Dresden aus dem Jahr 1908. 127 Dort wurde zunächst im Einklang mit der h. M. ausgeführt, die typische Verschiedenheit ganzer Gruppen von Menschen dürfe im zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriff berücksichtigt werden. Deshalb könne aber auch hohes Alter und die „damit verbundene größere Schwerfälligkeit des Körpers und des Geistes" im Urteil über die Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens als Entscheidungskriterium herangezogen werden. 128 Abstrakte Ausführungen darüber, wie bei der Ein- und Abgrenzung unterschiedlicher Verkehrskreise vorzugehen ist, finden sich in der Rechtsprechung nicht. Wohl aber gibt es vereinzelt fallbezogene Stellungnahmen. Das RG hatte anläßlich der Havarie eines Segelschiffs zu entscheiden, ob der Unfall auf fahrlässiges Verhalten des Kapitäns zurückzuführen war. 1 2 9 Die Vorinstanz hatte sich 121

Die Rechtsprechung zu fahrlässigem Verhalten im Straßenverkehr ist kaum noch zu überschauen. Vgl. etwa die Zusammenstellung bei Thomas in: Palandt, § 276 Anm. 8B. 122 BGHZ 63, 140 (Fußball); 58, 40 (Skilauf); BGH NJW 1976, 2161 (Basketball). 123 BGHZ 39, 281, 283; BGH VersR 1962, 255, 256; OLG Köln VersR 1963, 51; OLG Celle 1964, 174; st. Rspr. Das RG stand demgegenüber zu Anfang auf dem Standpunkt, jugendliches Alter sei ein Gesichtspunkt der Individualität, der bei der Prüfung des objektiven Verschuldensmaßstabs des § 276 BGB keine Berücksichtigung finden könne; vgl. RGZ 68, 422, 423; RG DJZ 1911, 1217. BGHZ 39, 281, 283 zitiert das RG insoweit unzutreffend. M Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 84 f.; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B; Wölf in: Soergel, § 276 Rdn. 82. Wolf zitiert in diesem Zusammenhang die Entscheidung BGHZ 39, 281, 286, dort ist allerdings nur von Jugendlichen die Rede. 125 Vgl. etwa BGH JZ 1968,103; RG VRS 10, 304, OLG Hamburg VersR 1964,1273. 12 6 Dies gilt auch für die von Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 84 zitierte Entscheidung BGH VersR 1977, 337, 338. ™ OLG Dresden SeuffArch 64, 185. 128 OLG Dresden SeuffArch 64, S. 186 f. Soweit ersichtlich ist diese Entscheidung die einzige, die einen auch nach dem Geschlecht differenzierenden Sorgfaltsmaßstab befürwortet.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

auf den Standpunkt gestellt, innerhalb des Kreises der Segelschiffkapitäne sei weiter zu differenzieren. So gebe es unterschiedliche Gruppen, die nach dem Grad der seemännischen Erfahrung zu unterscheiden seien. Der Kommandant des verunglückten Schiffes wurde dabei der Gruppe der nautisch weniger beschlagenen Seeleute zugeordnet, und diesem Sorgfaltsstandard habe er genügt. Demgegenüber meinte das RG, zwar dürften die Anschauungen gewisser engerer Verkehrskreise nicht außer acht gelassen werden, es ginge jedoch zu weit, wollte man innerhalb des Kreises der Segelschiffkapitäne weiter nach deren beruflichem Erfahrungsstand unterteilen. Dies liefe letzlich auf die Berücksichtigung persönlicher Umstände hinaus, die im objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab des § 276 BGB jedoch nicht angezeigt sei. 130 In einer weiteren, ausführlich begründeten Entscheidung des RG wurden ebenfalls Grenzen im Hinblick auf die Anerkennung unterschiedlicher Sorgfaltsanforderungen gesetzt.131 In einer kleineren Dorfgemeinde war es zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden der Einwohner gekommen, weil die örtliche Wasserleitung mangelhaft überwacht und infolgedessen bleihaltiges Trinkwasser geliefert wurde. Das Instanzgericht hatte ein Verschulden der Gemeinde mit dem Argument verneint, an die Überwachungspflichten kleiner ländlicher Gemeinden seien geringere Anforderungen zu stellen, als dies bei größeren Stadtgemeinden der Fall sei. Das RG vertrat die gegenteilige Ansicht. Zwar sei es richtig, daß die Objektivität des Fahrlässigkeitsmaßstabs „die Berücksichtigung der Anschauungen und Gepflogenheiten eines gewissen engeren Verkehrskreises wie auch die Berücksichtigung örtlicher Unterschiede" nicht ausschließe. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, daß die Unerfahrenheit des Handelnden zu seinen Gunsten berücksichtigt werde. 132 Insoweit seien auch im Hinblick auf die Trinkwasserkontrolle an kleine und große Gemeinden gleiche Anforderungen zu stellen. Die geringere finanzielle und personelle Ausstattung im ländlichen Bereich sei in diesem Zusammenhang kein tragfähiges Argument, da die erforderlichen Untersuchungen ohnehin nicht durch die Gemeindevertreter selbst, sondern durch fachlich kompetente, übergeordnete Stellen durchgeführt würden. 133 Wie bereits ausgeführt wurde, gibt es eine Vielzahl veröffentlichter Entscheidungen, in denen die jeweiligen Sorgfaltskriterien einem bestimmten Verkehrskreis entnommen wurden. Erläuterungen zu der Frage, was unter dem „entsprechenden Bereich" 134 zu verstehen ist, dessen Verkehrsanschauungen maßgeblich sein sollen, oder gar Stellungnahmen zu dem Problem, inwieweit hier Grenzen zu ziehen sind, gibt es jedoch regelmäßig nicht. Meist wird schlicht ein Verkehrs129 RGZ 119, 397. 130 RGZ 119, 400 f. 131 RGZ 152, 129. 132 RGZ 152, 140 f. 133 RGZ 152, 133 ff. 134 So die Formulierung BGH VersR 1972, 559, 560.

II. Das Problem der Verkehrskreise

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kreis benannt, um sodann zu überprüfen, wie sorgfältiges Verhalten innerhalb desselben auszusehen habe. 135 Die neben den beiden skizzierten RG-Entscheidungen existierende, Grenzen setzende Rechtsprechung ist rasch aufgezählt. So sollen die Sorgfaltsanforderungen an Rechtsbeistände und Rechtsanwälte unterschiedlich sein. 136 Dagegen habe man bei Rechtspflegern und Richtern von gleichen Fahrlässigkeitsvoraussetzungen auszugehen.137 Auch bei Dentisten und Zahnärzten sei im Hinblick auf die Sorgfaltsmaßstäbe nicht zu differenzieren. 138 Im Hinblick auf die im vorliegenden Zusammenhang interessierende Frage, anhand welcher Voraussetzungen unterschiedliche Verkehrskreise anzuerkennen sind, bieten die genannten Urteile wenig Aufschlußreiches. 3. Zusammenfassung und kritische

Würdigung

Der Überblick über die Literaturstimmen sowie die Rechtsprechung zum Problem der Verkehrskreise hat in den wesentlichen Grundzügen ein einheitliches und, betrachtet man die Ergebnisse, auch überzeugendes Bild ergeben. Sowohl die Rechtsprechung als auch die Literatur bedienen sich zur Konkretisierung der Fahrlässigkeitsanforderungen eines gruppenmäßig abgestuften Sorgfaltsmaßstabs, der über den Begriff des Verkehrskreises ermittelt wird. In der zivilrechtlichen Judikatur ist dabei eine bis in feinste Verästelungen differenzierende Kasuistik entstanden, deren Ergebnisse — was bei so weitreichender Differenzierung nicht selbstverständlich ist — im wesentlichen überzeugen. Betrachtet man dieses Resultat und dabei insbesondere die anscheinend unproblematische Verwendung von Gruppenstandards, so ist es insoweit nicht nachvollziehbar, daß den Vertretern eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs im Strafrecht vorgehalten wird, generalisierende Kriterien würden an mangelnder Praktikabilität scheitern. Angesichts eines derartigen Befundes stellt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt einer kritischen Auseinandersetzung mit den zivilrechtlichen Stellungnahmen bedarf, die sich um eine Benennung grundsätzlicher Kriterien der Feststellung des Phänomens Verkehrskreis bemühen. Es sind zwei Überlegungen, die zeigen, daß die Frage zu bejahen ist. Zunächst vermag der bloße Hinweis auf den Umstand, daß der für den konkreten Fahrlässigkeitsfall maßgebliche Gruppenstandard weitgehend ohne nennenswerte Probleme zu ermitteln ist, die von der Kritik geäußerten Bedenken nicht umfassend auszuräumen. Auch wenn das festgestellte Ergebnis die aufgezeigte Problematik wesentlich entschärft, so stellt es keinen in jeder Hinsicht tauglichen Einwand gegenüber Stimmen dar, welche die Ungeklärtheit des für die Gruppen135

Vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise in den Fn. 49 ff. und 55 ff. 136 BGH VersR 1971, 866. 137 So RG JW 1934, 1343 ohne nähere Begründung. 138 BGHZ 8, 138, 139; vgl. auch BGH NJW 1985, 1402. 9 Kaminski

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

bildung zentralen Begriffs monieren. Selbst wenn es in den meisten Fällen auf der Hand liegt, welcher Kreis von Verkehrsteilnehmern zur Konkretisierung des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs heranzuziehen ist, so ist damit weder ein im Hinblick auf künftige Fälle verallgemeinerungsfähiges Kriterium ermittelt noch die Frage beantwortet, unter welchen Voraussetzungen eine potentielle Vergleichsgruppe nicht mehr als Verkehrskreis in Betracht kommt. Scheinbare oder tatsächliche Evidenz kann hier kein definitorisches Problem lösen. Auch wenn es leicht nachvollziehbar ist, daß die Feststellung fahrlässigen Verhaltens eines Zahnarztes mit Blick auf den Sorgfaltsstandard innerhalb seiner Berufsgruppe zu treffen ist, so ergibt sich daraus — zumindest auf Anhieb — kein Hinweis zur Beantwortung der Frage, warum der Kreis der 50jährigen, farbenblinden und kurzsichtigen Autofahrer, die soeben ihre Fahrerlaubnis erworben haben, nicht auch als maßstabgebend in Betracht kommt. Insoweit bedarf es also in der Tat der theoretischen Erfassung dessen, was als Verkehrskreis bezeichnet wird, und es bedarf gleichfalls einer Auseinandersetzung mit Bemühungen, die in diese Richtung gehen. Der letztgenannte Punkt wird noch deutlicher, wenn man die beiden oben zitierten Urteile des Reichsgerichts ins Blickfeld rückt. An beiden Entscheidungen läßt sich ablesen, daß die Rechtsprechung durchaus mit Sachverhalten konfrontiert werden kann, in denen es um die Anerkennung „neuer" Verkehrskreise geht, in denen die Fahrlässigkeitsfrage also davon abhängig ist, wie weit oder wie eng die Grenzen desjenigen Bereichs gezogen werden, dem der entscheidungserhebliche Sorgfaltsmaßstab zu entnehmen ist. Daß diese Grenzziehung nicht unproblematisch ist, wenn nicht auf einschlägige Rechtsprechung zur Bestimmung der maßstabgebenden Gruppe zurückgegriffen werden kann, wird ebenfalls durch die dargestellten Entscheidungen offenbar. In beiden Fällen war die Vorinstanz von einer weitergehenden Differenzierung der Sorgfaltsanforderungen ausgegangen, was sich auch jeweils auf das Ergebnis ausgewirkt hatte. Betrachtet man auf diesem Hintergrund die insoweit notwendige Auseinandersetzung der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur mit der Frage, was die grundsätzlichen Kriterien der Benennung einer zur Feststellung fahrlässigen Verhaltens maßstabgebenden Vergleichsgruppe sind, so trübt sich das eingangs gezeichnete Bild der Einheitlichkeit und auch der Überzeugungskraft der jeweiligen Ansätze ein wenig. Soweit sich die Rechtsprechung dem Problem stellt, Grenzen objektiver Sorgfaltsbewertung über den Begrifff des Verkehrskreises auszuloten, bleiben derartige Bemühungen vereinzelt und fallbezogen. Grundsätzliche und abstrakte Äußerungen finden sich dabei nicht. Selbst eine zusammenfassende Betrachtung der sich um Grenzziehung bemühenden Entscheidungen ermöglicht es nicht, eine klare Position der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Anerkennung eines Verkehrskreises festzustellen. Liegt — wie in den meisten Fällen — die Benennung der maßgeblichen Gruppe von Verkehrsteilnehmern auf der Hand,

IL Das Problem der Verkehrskreise

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findet sich in den Urteilen lediglich der stereotype Hinweis, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt bestimme sich nach den Anschauungen und Gepflogenheiten des jeweiligen Verkehrskreises, um sich dann sofort mit den Sorgfaltsanforderungen in dieser konkreten Gruppe auseinanderzusetzen. Die Antwort auf die Frage, was ein Verkehrskreis ist, läßt sich demnach aus einer Zusammenschau der zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsjudikatur allenfalls ableiten, originär beantwortet ist die Frage von Seiten der Rechtsprechung nicht. Sofern das zivilrechtliche Schrifttum den Begriff des Verkehrskreises für erörterungswürdig hält, finden sich — wie gezeigt — zum Teil recht eingehende Untersuchungen, in denen die Methode vorherrscht, bis dato anerkannte Verkehrskreise in Rubriken zusammenzufassen. Dabei wird nach übergeordneten Gesichtspunkten gesucht, so daß letztlich das Stichwort „Typisierung" nicht nur beim einzelnen Verkehrskreis, sondern auch bei dessen gruppenmäßiger Erfassung eine Rolle spielt. Bei einem derartigen Vorgehen fallen zunächst einige Vorteile auf. Faßt man Verkehrskreise nach übergeordneten Gesichtspunkten in Gruppen zusammen, so wird man an der vorschnellen Konstituierung von Bereichen mit gruppenspezifischem Sorgfaltsmaßstab gehindert. Bevor man derartiges unternimmt, hat man ja stets das gruppenbildende Merkmal genau zu benennen. Darüber hinaus wäre eine überzeugende Rubrizierung ein Beitrag zu Rechtssicherheit. Sie könnte ein begrenztes Potential an Einteilungskriterien liefern; von einem Verkehrskreis dürfte immer nur dann gesprochen werden, wenn einer der anerkannten konstituierenden Gesichtspunkte wie beispielsweise Beruf, Amt, Gewerbe oder gefährliche Tätigkeit festgestellt werden könnte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Nachteile eines derartigen Vorgehens überwiegen. Dies wird sehr rasch deutlich, wenn man versucht, konkrete Beispielsfälle einer der in der Literatur anerkannten Gruppen von Verkehrskreisen zuzuordnen. Anläßlich eines Unfalles im Straßenverkehr hatte der BGH als Vergleichsmaßstab die Fähigkeiten eines gewissenhaften und durchschnittlich erfahrenen Lastzugführers 139 herangezogen. Der somit eingegrenzte Bereich „Lastzugführer" würde vom Schrifttum wahrscheinlich den Verkehrskreisen zugerechnet, die unter der Überschrift „spezielles Auftretensmerkmal 'Berufsfeld'" oder ähnlich lautenden Bezeichnungen zusammengefaßt werden. Sicher ist dies allerdings nicht. In Betracht kämen auch andere Kategorien, bei denen das Kriterium der Gefahrschaffung im Vordergrund stände. Eike Schmidt würde möglicherweise von „nicht gruppenspezifischen Sorgfaltsgeboten" sprechen, bei ^ / / k ö n n te der Begriff des „bereichsspezifischen" Maßstabs fallen und bei Deutsch wäre auch die Gruppe der „Verkehrskreise der Fachleute" einschlägig. 140 Noch komplizierter wird es, wenn der verunglückte Lastwagenfahrer zum Zweck der Erfüllung eines Vertrages unterwegs war, denn auch bestimmte vertragliche Konstellationen

139 BGH VersR 1968, 395. 140 Siehe zum Ganzen oben 3. Kap. II 1. 9*

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

werden teils als übergeordnete Gesichtspunkte der Einteilung angesehen.141 Deutsch versucht dem Dilemma zu entfliehen, indem er beim Zusammentreffen von Auftretensgruppen den Grundsatz der Kumulation ins Felde führt und als Beispiel den Berufskraftfahrer nennt, der zwei gruppenbildende Merkmale in sich vereinige. 142 Sicherlich dürfte es möglich sein, über die Kumulation von Sorgfaltspflichten zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen, wobei sich dann allerdings die Frage stellt, ob die Überschneidungen selbst wieder als eigenständige Gruppen anzusehen sind. Deutsch verneint dies im Hinblick auf den Berufskraftfahrer; in der Rechtsprechung findet man allerdings den gegenteiligen Standpunkt. 1 4 3 Insgesamt kommt in der Summe dieser Einordnungsschwierigkeiten der wesentliche Mangel der Vorgehensweise der Literatur zum Ausdruck. Der Blick auf die eigentliche Problematik wird verstellt. Es werden Begriffe zu Oberbegriffen zusammengefaßt und in Kategorien eingeteilt, bevor überhaupt Struktur und Inhalt des grundlegenden Bausteins dieser Systematisierung aufgedeckt ist. Der zweite Einwand gegen die dargestellte Methode ergibt sich, wenn man die von den einzelnen Autoren als maßgeblich erachteten Rubriken miteinander vergleicht. Dabei soll nicht Gegenstand der Kritik sein, daß die Terminologie unterschiedlich ist und auch nicht, daß in der Sache voneinander abgewichen wird. 1 4 4 Was allerdings zu denken geben sollte, ist das Ergebnis der Gegenüberstellung der jeweiligen Gliederungsstrukturen. Teils begnügt man sich hier mit der Auflistung einiger weniger Merkmale, die als gruppenbildend anerkannt werden, andernorts stößt man auf weitaus verzweigtere, viel mehr in Details gehende Systeme.145 Auch dieser Umstand macht den grundlegenden Mangel einer schlichten Rubrizierung deutlich. Das Problem, das es zu lösen gilt, wird lediglich auf eine höhere Ebene verschoben. Wenn schon nicht geklärt ist, wie weit bei der Differenzierung einzelner Verkehrskreise gegangen werden kann, um nicht einem subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab zu verfallen, wie will man dann die Frage beantworten, bis zu welchem Punkt die Katalogisierung gruppenbildender Merkmale in Einzelheiten gehen darf, damit man nicht letzlich den einzelnen Verkehrskreis zum Gegenstand der Beschreibung macht.

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Dazu Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 131 f. 142 Fahrlässigkeit, S. 142. W3 OLG Celle VersR 1983, 877. Das Gericht stellt auf die Sorgfalt des besonnenen und gewissenhaften Kraftfahrers ab, zieht aber einen Trennstrich zu den Anforderungen, die an die Gruppe der Berufskraftfahrer zu stellen sind. 144 Wolf in: Soergel, § 276, Rdn. 82 möchte Behinderte einem „gruppenspezifisch milderen Maßstab" ausgesetzt wissen; i. E. auch Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 85; Heinrichs in: Palandt, § 276 Anm. 4B. Dagegen erfassen Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 130 f., 141 und Esser / Schmidt, Schuldrecht, S. 383 nur jugendliches und hohes Alter in der entsprechenden Rubrik. 145 Vgl. die obige Darstellung 3. Kap. II 1.

II. Das Problem der Verkehrskreise

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Schließlich ist ein letzter Punkt zu berücksichtigen. Selbst wenn es gelänge, sämtliche Kriterien, die bisher zur Konstituierung von Verkehrskreisen herangezogen worden sind, in überzeugender Weise in Gruppen zusammenzufassen, wären die in der Praxis auftauchenden Schwierigkeiten nicht gelöst. Sobald man „neuartige" Verhaltensweisen zu bewerten hat, die sich unter keine der mühsam begründeten Systemkategorien subsumieren lassen, ist man bei dem Problem der Konkretisierung des Verhaltensmaßstabs ohne jeglichen Anhaltspunkt. 146 Eine ähnliche Situation entsteht, wenn es um Differenzierungsfragen innerhalb von Verkehrskreisen geht, deren gruppenbildendes Merkmal zweifelsfrei einer der anerkannten Rubriken zuzuordnen ist. Ob der Kreis der Segelschiffkapitäne an einem einheitlichen Maßstab zu messen ist oder ob nicht vielmehr diese Berufsgruppe nach dem Grad ihrer nautischen Erfahrung weiter unterteilt werden muß, läßt sich nicht mit dem Hinweis darauf beantworten, es handele sich hier um einen Verkehrskreis, der in die Sparte Beruf, Amt oder Gewerbe fällt. Letztlich ist damit zusammenfassend festzustellen, daß die in der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur unter Verwendung des Begriffs des Verkehrskreises praktizierte Konkretisierung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs ein durchaus ambivalentes Bild ergeben hat. Auf der einen Seite — und dies gilt, betrachtet man die Rechtsprechung, für das Gros der Entscheidungen — hat sich die Handhabung dieses Maßstabs als unproblematisch und zu überzeugenden Ergebnissen führend erwiesen. Von einer Inpraktikabilität einer Sorgfaltsbewertung nach objektiven Kriterien kann insoweit keine Rede sein. Auf der anderen Seite hat sich aber auch gezeigt, daß die zitierten kritischen Stimmen der strafund zivilrechtlichen Literatur, die dem objektiv-typisierenden Fahrlässigkeitsmaßstab der herrschenden Lehre mangelnde Bestimmtheit vorwerfen, in letzter Konsequenz nicht als widerlegt angesehen werden können. Die sich mit dem Begriff des Verkehrskreises auseinandersetzenden theoretischen Konzepte des Zivilrechts haben es nicht erreicht, die grundlegenden Kriterien dieses Systembausteins der Fahrlässigkeitsdogmatik zu benennen. „Was ist unter einer Klasse oder Gruppe von Menschen zu verstehen? Sollen wir dabei alle irgendwie erheblichen Merkmale der Menschen verwerten? Wo soll man die Grenze ziehen, wenn man nur gewisse Eigenschaften gelten läßt?" 147 Die in diesen Fragen zum Ausdruck kommende Kritik ist bereits früh von Leonhard geäußert worden. Dabei fällt auf, daß sich die Zeitgenossen Leonhards der geschilderten Problematik in sehr viel grundsätzlicherer Weise gestellt haben, als dies heute üblich ist. Wie dargestellt, hatte Rümelin davon gesprochen, daß eine Differenzierung immer dann angezeigt sei, wenn typische Situationen nach der Verkehrsanschauung typisches Verhalten erfordern, und Oertmann hatte das 146 Es hat den Anschein, als haben derartige Schwierigkeiten Pate gestanden, als Deutsch den „Verkehrskreis der Lebensstellung" (dazu oben 3. Kap. II 1) aus der Taufe gehoben hat, der in seiner Konturenlosigkeit sehr häufig der passende sein dürfte. 147 Festgaben für Ennecerus, S. 9 f.

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3. Kap.: Der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab im Zivilrecht

Augenmerk darauf gelenkt, daß im Verkehr für besondere Gruppen stets besondere Bezeichnungen geprägt werden. 148 Es ist sicher zuzugeben, daß der isolierte Hinweis auf derartige Gesichtspunkte kaum eine zweifelsfreie Differenzierung von Verkehrskreisen ermöglichen wird; allerdings scheint die Methode in die richtige Richtung zu weisen. Es geht darum, abstrakte Merkmale zu benennen, die unabhängig von den Besonderheiten einzelner Lebensbereiche Geltung beanspruchen. Anhand dieser muß festgestellt werden können, ob überhaupt ein Sorgfaltsmaßstab einem bestimmten, engeren Verkehrskreis zu entnehmen ist und wenn ja, wo sich dessen Grenzen befinden. Dem Versuch, erste Schritte in diese Richtung zu gehen, dienen die Ausführungen im folgenden Kapitel.

148 s. o. 3. Kap. II 1.

4. Kapitel

Der Standard der Verkehrskreise Bevor man sich darum bemüht, Merkmale aufzuzeigen, die ein Verkehrskreis aufweisen muß, um seiner Aufgabe im jeweiligen Fahrlässigkeitstatbestand gerecht zu werden, ist ein Blick auf die Funktion dieser Merkmale und damit auf das anzustrebende Ergebnis zu werfen. In ihrer Summe müssen sie in der Lage sein, dreierlei zu bewerkstelligen: Wichtigstes — und damit an erster Stelle zu nennendes — Ziel muß es sein, der Gefahr einer Subjektivierung vorzubeugen. Verkehrskreise dürfen nicht so weit differenziert und zergliedert werden, daß die Frage der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens letztlich doch von individuellen Umständen abhängig ist. Auf der anderen Seite müssen die Gefahren einer zu extensiven Generalisierung gesehen werden. Ein Verkehrskreis, der infolge seines Umfanges das Verhalten eines jeden in sich aufnimmt, ist funktionslos und lädt dazu ein, Sorgfaltsmaßstäbe willkürlich zu konstruieren. Schließlich ist darauf zu achten, daß die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nur dann anhand des Maßstabs eines bestimmten Lebensbereichs ermittelt werden darf, wenn dieser einigermaßen klare Konturen aufweist. Wenn die Grenzen eines Verkehrskreises diffus sind, dürfte sich dessen durchschnittlicher und gewissenhafter Angehöriger kaum feststellen und zu Vergleichszwecken heranziehen lassen.

I. Typizität des Verhaltens Gegenüber einem objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab, der Sorgfaltsanforderungen nach Verkehrskreisen differenziert, erhebt sich ein naheliegender Einwand: Die Berücksichtigung von Besonderheiten bestimmter Gruppen beinhaltet eine Tendenz ins Subjektive. Je weiter bei der Bildung von Maßstäben differenziert wird, desto größer wird der Grad der Annäherung an einen Standpunkt, der die Tatbestandsverwirklichung von der potentiellen Erfolgsvoraussicht des einzelnen abhängig macht. Es verwundert daher nicht, wenn dieser Gesichtspunkt von Kritikern der herrschenden Lehre hervorgehoben wird. 1 Der Gefahr, bei der Konkretisierung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs über den Begriff des Verkehrskreises subjektiven Tendenzen Vorschub zu leisten, kann allerdings wirksam begegnet werden, wenn man sich vor Augen führt, daß i Vgl. etwa Otto , JuS 1977,707; in diese Richtung auch Gössel, AT, Teilband 2, S. 114.

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4. Kap.: Der Standard der Verkehrskreise

ein Verkehrskreis eine Gruppenbezeichnung ist und eine für den Fahrlässigkeitstatbestand relevante Gruppe sich über ihr Verhalten definieren muß. Läßt sich ein diese Feststellung berücksichtigendes gruppenbildendes Kriterium benennen, dann dürfte zu verhindern sein, daß ein objektiver Fahrlässigkeitsmaßstab über zu weitgehend differenzierende Verkehrskreise ausgehöhlt wird. 2 Daß derartiges leicht geschehen kann, zeigt das Beispiel aus der Praxis: So meint das OLG Kiel 3 , innerhalb des ohnehin schon eng gefaßten Kreises der Segelschiffkapitäne seien nach dem Grad der jeweils vorhandenen nautischen Erfahrungen weitere Gruppen zu unterscheiden. Auch in der Literatur findet sich bisweilen eine zu weitreichende Gliederung: Oertmann führt als Beispiele die seiner Ansicht nach erforderliche Differenzierung zwischen „Gasthöfen ersten, zweiten und dritten Ranges" oder die zwischen „DorfSchneider", „städtischem Schneider" und „Bekleidungskünstler in der Großstadt" an. 4 Daß derartige Abstufungen zu weit gehen, bedarf keiner näheren Begründung. Wohl aber ist näher darauf einzugehen, warum dies so ist und ob sich Anhaltspunkte herausarbeiten lassen, anhand derer eine einigermaßen präzise Grenzziehung vorgenommen werden kann. Ein Gesichtspunkt, der bei einem derartigen Vorhaben zu beachten wäre und der in den zitierten Beispielen nicht genügend Beachtung gefunden hat, ist ein Umstand, den man als den Aspekt der Typizität des Verhaltens innerhalb eines Verkehrskreises bezeichnen könnte. Die Tätigkeit, für die der Besucher eines Gasthofes seine Zeche bezahlt, bleibt stets die gleiche, unabhängig davon, ob es sich um einen solchen „ersten, zweiten oder dritten Ranges" handelt. Es geht jeweils um die Zubereitung, den Verkauf und das Servieren von Speisen und Getränken. Auch die typischen Verrichtungen eines Segelschiffkapitäns ändern 2 Daß zunächst überhaupt ein gruppenbildendes Merkmal zu benennen ist, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, bleibt bisweilen aber unberücksichtigt. In einer Entscheidung des Jahres 1971 (NJW 1972, 150) führt der BGH aus, es sei „grundsätzlich auf die Verhältnisse des in Betracht kommenden Verkehrskreises Rücksicht zu nehmen, mithin auf das Maß von Umsicht und Sorgfalt, das nach dem Urteil besonnener und gewissenhafter Angehöriger dieses Kreises von den in seinem Rahmen Handelnden zu fordern ist." So zutreffend diese Feststellung auch ist, in den Gründen des Urteils — in dem es im Kern darum ging, ob der Betreiber eines Parkhauses Sorgfaltspflichten verletzt hatte — wird an keiner Stelle konkret ausgeführt, welche Gruppe den maßgeblichen Verkehrskreis darstellt und für die Entscheidung letztlich relevant ist. Derartige Begründungen erwecken den Eindruck, daß hinter der Fassade eines nur verbal-objektiven Maßstabs letztlich die Umstände des Einzelfalles und damit i. E. subjektive Kriterien Anwendung finden. 3 Das Gericht war Berufungsinstanz in dem Rechtsstreit, der zu der bereits erörterten (3. Kap. II 2) Entscheidung des RG (RGZ 119, 397) geführt hat. Hier und im folgenden wird versucht, Funktion und Erforderlichkeit des jeweils erörterten Merkmals anhand von Beispielen deutlich zu machen, bei denen die Rechtsprechung zu fragwürdigen Ergebnissen gekommen ist. Wenn dabei teils auf ältere und aus heutiger Perspektive eigentümlich anmutende Fallkonstellationen zurückgegriffen wird, so findet dies seine Ursache nicht in der Freude an Skurrilem, sondern in dem bereits mehrfach angesprochenen Umstand, daß die Handhabung des Begriffs des Verkehrskreises in der Judikatur weitestgehend überzeugt. 4 § 276 Anm. Ib.

I. Typizität des Verhaltens

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sich nicht mit dem Grad seiner nautischen Erfahrungen. Bei überzogenen Differenzierungen wie etwa der zwischen dem „Dorfschneider" und dem „städtischen Schneider" handelt es sich nicht um die pointierte Feststellung gruppentypischer Unterschiede des Verhaltens, dahinter verbirgt sich vielmehr eine verklausulierte Skala der Wertschätzung der jeweiligen Fähigkeiten. Die Bewertung und Berücksichtigung unterschiedlicher Fähigkeiten innerhalb einer Berufsgruppe ist aber gerade ein Umstand, der bei einem objektiven Fahrlässigkeitsverständnis keine Berücksichtigung finden soll. 5 Das Gegenbeispiel verdeutlicht diesen Punkt vielleicht noch etwas. Internisten und Dermatologen gehören der Berufsgruppe der Ärzte an. Gleichwohl ist hier eine Differenzierung geboten, weil der typische Aufgabenbereich ein anderer ist; nicht aber deshalb, weil Internisten und Dermatologen „bessere Allgemeinmediziner" sind. Verwendet man das Kriterium der Verhaltenstypizität als Indiz bei der Beantwortung der Frage, unter welchen Umständen die Existenz eines Verkehrskreises anzuerkennen ist, stellt sich im Anschluß natürlich das definitorische Problem, welche die Bedingungen dafür sind, daß von typisiertem Verhalten gesprochen werden kann. Ein konkreter Anhaltspunkt dafür findet sich jedoch in der Rechtsprechung und Literatur zum Begriff der Verkehrssitte. Darunter versteht die ganz überwiegende Auffassung eine den Verkehr tatsächlich beherrschende Übung. 6 Dabei wird erläuternd hervorgehoben, daß eine solche Übung zum einen erfordert, daß in einer Vielzahl von Fällen gleichartig verfahren wird 7 , und zum anderen, daß diese gleichartigen Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum zu beobachten sind.8 Überträgt man diese Grundätze auf das vorliegende Problem, so ist zu prüfen, ob die ins Auge gefaßte Personengruppe sich gerade dadurch hervorhebt, daß vergleichbare Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum feststellbar sind. Läßt sich die Frage bejahen, darf der Gesichtpunkt der Verhaltenstypizität als Merkmal der Gruppe angesehen werden. Damit liegt ein Indiz zur Anerkennung eines Verkehrskreises vor. 9

5 Vgl. dazu die Beispiele und Rechtsprechungsnachweise bei Hanau in: MünchKomm, § 276 Rdn. 81. 6 RGZ 49, 157, 162; 55, 375, 377; 135, 339, 345; BGH LM § 157 (B) Nr. 1; BGH NJW 1952, 257; BGH WM 1973, 677; Hefermehl in: Erman, § 157 Rdn. 6; MayerMaly in: MünchKomm, § 157 Rdn. 15; Heinrichs in: Palandt, § 133 Anm. 5d; Wolf in: Soergel, § 157 Rdn. 63; Schmidt in: Staudinger, § 242 Rdn. 99. i Vgl. etwa RG JW 1909, 720. s BGH NJW 1952, 257; BGH WM 1973, 677; Wolf in: Soergel, § 157 Rdn. 63; Schmidt in: Staudinger, § 242 Rdn. 101. 9 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei betont, daß die Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Verhaltenstypizität nicht dazu führt, daß im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts die verkehrsübliche statt der Verkehrs erforderlichen Sorgfalt relevant wird. Die Typizität bestimmter Verhaltensweisen dient lediglich dazu, die zu Vergleichszwekken heranzuziehende Gruppe bestimmen zu können; die letztlich maßgebliche Verhaltensbewertung erfolgt über das Urteil des durchschnittlichen und gewissenhaften Angehörigen dieser Gruppe.

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4. Kap.: Der Standard der Verkehrskreise

Man mag die Schlüssigkeit des geschilderten Vorgehens an folgendem Gedankengang überprüfen: In Rechtsprechung und Literatur wird betont, daß das Bestehen einer Verkehrssitte nicht nur dann anzunehmen ist, wenn sie allgemein in der Bevölkerung Verbreitung gefunden hat. Vielmehr genüge es, daß sich in bestimmten Gruppen entsprechende Übungen gebildet haben.10 Wenn dies richtig ist, wenn es also gruppenspezifische Verkehrssitten gibt, so lassen sich aus einem derartigen Tatbestand aber auch umgekehrt Schlüsse ziehen. Existieren rechtserhebliche tatsächliche Übungen bestimmter Gruppen, dann darf man daraus folgern, daß es gerade auch die tatsächliche Übung, daß es das standardisierte Verhalten ist, was als ein Kriterium (unter mehreren) dafür angesehen werden muß, überhaupt von einer rechtlich relevanten Gruppe, von einem Verkehrskreis sprechen zu können. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Ausübung bestimmter Sportarten hat — unter den Anhängern eines objektiv-typisierenden Fahrlässigkeitsmaßstabs unstreitig — zur Folge, daß im Fall von Verletzungen die Sorgfaltsanforderungen am Standard der jeweiligen Sportart ausgerichtet werden. Ein so definierter Verkehrskreis findet seine Grenzen aber doch ganz offensichtlich und recht präzise anhand des Umstandes, inwieweit das für den entsprechenden Sport typische, standardisierte Verhalten zu beobachten ist. 11 Insgesamt kommt damit dem Gesichtspunkt der Typizität des Verhaltens einerseits eine verbindende, andererseits aber auch eine abgrenzende Funktion zu. Verbindend wirkt er insoweit, als man daran gehindert wird, gleichartige Tätigkeiten ganzer Gruppen willkürlich zu differenzieren; abgrenzend auf der anderen Seite dort, wo Verhaltensformen so stark voneinander abweichen, daß die Bemessung an einem einheitlichen Sorgfaltsmaßstab als nicht mehr sachgerecht erschiene. Was den erstgenannten Aspekt anbelangt, so liegt es auf der Hand, daß das erörterte Kriterium den eingangs angesprochenen Bedenken von Seiten der Kritik die Grundlage entzieht. Ist die positive Feststellung des Merkmals „Typizität des Verhaltens" Voraussetzung für die Konstituierung eines Verkehrskreises, dann ist der dem objektiven Maßstab innewohnenden „Tendenz ins Subjektive" Einhalt geboten.

10 RGZ 114, 9, 12; 135, 339, 345; BGH LM § 157 (B) Nr. 1; Wolf in: Soergel, § 157 Rdn. 63; Schmidt in: Staudinger, § 242 Rdn. 102. Die Entscheidung RGZ 135, 339 ist im Vergleich zu den oben erörterten, als zu weitgehend empfundenen Differenzierungsvorschlägen interessant. Der Kläger dieses Rechtsstreits hatte sich auf einen „Handelsbrauch erstrangiger Kunsthandlungen" berufen. Das RG meinte demgegenüber (RGZ 135, 346), die Abgrenzung eines „gewissen qualitativ bestimmten Teils eines Geschäftszweiges" sei ein „vergebliches Unternehmen". 11 Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß insoweit schon die betreffenden Regeln den Verkehrskreis konstituieren. Dies zeigt sich allein schon an dem häufig zu beobachtenden Phänomen, daß die Schaffung komplexer Regelungswerke der Entwicklung neuer Sportarten zumeist in geraumem zeitlichem Abstand nachfolgt.

II. Erweiterung des Tätigkeitsbereiches

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Das Abstellen auf das Kriterium des gruppentypischen Verhaltens deckt sich im übrigen auch mit den grundlegenden Argumenten, die gegen individualisierende Fahrlässigkeitskonzepte vorgebracht werden. Hervorgehoben wird dabei regelmäßig der Gedanke des Vertrauensschutzes. 12 Im Rechtsverkehr müsse auf die Einhaltung bestimmter Maßstäbe vertraut werden können, diese Maßstäbe werden dem jeweiligen Verkehrskreis entnommen. Eine derartige Argumentation ginge jedoch ins Leere, wenn die Benennung der maßstabgebenden Einheiten nicht die Feststellung typisierten Verhaltens zur Voraussetzung hätte. Für diesen Fall könnte nämlich nicht angegeben werden, was der Gegenstand des Vertrauens ist, dessen Schutz über die Fahrlässigkeitstatbestände erreicht werden soll.

I I . Erweiterung des Tätigkeitsbereiches Das zweite Merkmal, das erfüllt sein muß, um einen Sorgfaltsmaßstab einem bestimmten Lebensbereich entnehmen zu können, kommt bisweilen in der Terminologie von Rechtsprechung und Literatur beiläufig zum Ausdruck. Es ist mitunter von „gewissen engeren" oder „speziellen" Verkehrskreisen die Rede.13 Recht präzise formuliert Deutsch. Er unterscheidet den allgemeinen von den besonderen Verkehrskreisen und versteht unter der erstgenannten Kategorie Verrichtungen des täglichen Lebens.14 Demgegenüber verbirgt sich hinter Attributen wie „eng", „speziell" oder „besonders" stets der Umstand, daß es nicht um Bereiche geht, in denen sich jeder Mensch mehr oder weniger ständig bewegt. Vielmehr steht hier jeweils eine Erweiterung des Tätigkeitsbereichs über derart ubiquitäres Verhalten hinaus im Vordergrund, und dies muß auch als wesentliches Merkmal eines Verkehrskreises angesehen werden. Der Begriff wäre vom Standpunkt der herrschenden Fahrlässigkeitsdoktrin aus betrachtet funktionslos, wenn nicht mit seiner Hilfe gruppenspezifische Besonderheiten erfaßt und insoweit anhand eines den jeweiligen Umständen angemessenen Sorgfaltsmaßstabes bewertet werden könnten. Daß dieser Gesichtspunkt nicht immer berücksichtigt wird, soll auch hier ein Beispiel aus der Rechtsprechung verdeutlichen. Der BGH hatte anläßlich eines Unfalles in der Neujahrsnacht die Frage zu klären, inwieweit beim Abbrennen von Silvesterfeuerwerk die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen wurde. 15 Bei der Beantwortung dieser Frage würdigte der BGH nicht nur das Verhalten des Schädigers, sondern stellte

12 Vgl. etwa Esser I Schmidt, Schuldrecht, S. 368; Heck, Schuldrecht, S. 78; Oertmann, § 276 Anm. lb; Medicus, Schuldrecht, S. 142. 13 So RGZ 102, 45, 49; 119, 397, 400; 126, 329, 331; 152, 129, 140; BGH NJW 1961,600; Battes in: Erman, § 276 Rdn. 26; Esser / Schmidt, Schuldrecht, S. 381; Larenz, Schuldrecht, S. 283. 14 Fahrlässigkeit, S. 129; vgl. dazu auch oben 3. Kap. II 1. 15 BGH NJW 1986, 52.

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4. Kap.: Der Standard der Verkehrskreise

auch darauf ab, daß die Verkehrssicherungspflicht in der Silvesternacht herabgesetzt sei. Das Gericht formulierte dabei wie folgt: „Maßstab für die Verkehrssicherungspflicht ist zwar das zum Schutz von Gefährdeten Erforderliche; jedoch richtet sich das auch danach, welche Maßnahmen diese zu ihrem Schutz vernünftigerweise erwarten können und welche Vorsorge ihnen selbst zum eigenen Schutz möglich und zumutbar ist. Der Verkehrssicherungspflichtige hat daher nur die Sicherungsvorkehrungen zu treffen, die ein vernünftiger Angehöriger eines bestimmten Verkehrskreises erwarten darf." 16 Aufschlußreich ist diese Entscheidung nicht deshalb, weil hier der Begriff des Verkehrskreises anders als sonst auf der Seite des Geschädigten eine Rolle spielt; dies entspricht im Zusammenhang mit dem Umfang von Verkehrssicherungspflichten einer gefestigten Rechtsprechung. 17 Bemerkenswert ist vielmehr, was der BGH hier unter einem bestimmten Verkehrskreis versteht. Im unmittelbaren Anschluß an die oben zitierte Formulierung wird ausgeführt, es sei „in allen Städten und Gemeinden üblich", in der Silvesternacht Feuerwerkskörper zu zünden, und darauf richte sich der Verkehr ein. Was daran befremdet, ist nicht die Bezugnahme auf das, was in allen Städten und Gemeinden üblich ist, dies mochte für die Bewertung der in Rede stehenden Verkehrssicherungspflicht durchaus beachtlich sein. Bedenklich erscheint es aber, hier zur „Konkretisierung" auf den vernünftigen Angehörigen eines bestimmten Verkehrskreises abzustellen, diesen Verkehrskreis aber mit dem zu umschreiben, was in allen Städten und Gemeinden — also für jedermann — üblich ist. Die Verwendung des Begriffs in einem derartigen Zusammenhang ist überflüssig und, versteht man den Terminus als Systembaustein der Fahrlässigkeitsdogmatik, sogar schädlich. Die Vokabel „Verkehrskreis" dient dazu, den Anwendungsbereich eines gruppenspezifischen, besonderen Sorgfaltsmaßstabes plastisch auszudrücken und hat bei den Verkehrssicherungspflichten den Zweck, gruppentypische, besondere Verhaltenserwartungen zu erfassen. Wo es jedoch darum geht, wie sich jedermann verhält oder was jedermann zu erwarten hat, ist ihr Gebrauch funktionslos. Der BGH kommt an dieser Erkenntnis auch gar nicht vorbei; im Verlauf der Entscheidungsgründe wird darauf abgestellt, worauf „jeder vernünftige Mensch" sich einzurichten habe.18 Gleiche Bedenken richten sich gegen den von Deutsch in die Debatte gebrachten Begriff des „allgemeinen Verkehrskreises", in dem sich die Sorgfaltsanforderungen am Fähigkeitsniveau des verkehrstüchtigen Menschen orientieren sollen. 19 Wenngleich die Wertung im Ergebnis richtig ist, das Abstellen auf den Terminus „Verkehrskreis" bedeutet in diesem Zusammenhang die Benutzung einer Leerfor-

16 BGH NJW 1986, 52 f. 17 Vgl. BGH VersR 1967, 1196, 1197; 1972, 559, 560; 1981, 482. 18 BGH NJW 1986, 52, 53. 19 Fahrlässigkeit, S. 129.

III. Bestimmtheit und Eignung

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mel, die den eigentlichen Sorgfaltsmaßstab verschleiert. Bei derartigem Verhalten kommt es für die Fahrlässigkeitsfrage schlicht darauf an, ob der durchschnittliche Mensch in der jeweiligen Situation den Eintritt eines drohenden Erfolges voraussehen konnte. Einen präziseren Maßstab gibt es in diesen Fällen nicht. 20 Von einem Verkehrskreis darf demgegenüber nur dann gesprochen werden, wenn eine Erweiterung des Tätigkeitsbereichs über ubiquitäre Verhaltensweisen hinaus feststellbar ist.

I I I . Bestimmtheit und Eignung Es ist sicher nachvollziehbar, daß man sich unter den Stichworten „Bestimmtheit" und Eignung den auf den ersten Blick schwierigsten Problemen bei dem Bemühen ausgesetzt sieht, grundlegende Kriterien der Konkretisierung des Begriffs des Verkehrskreises zu ermitteln. Im Hinblick auf die „Bestimmtheit" ist dies evident. Gerade in dieser Hinsicht dürfen die Anforderungen nicht zu niedrig angesetzt werden: Wenn der durchschnittliche und gewissenhafte Vertreter einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern als Maßstab herangezogen werden soll, muß der entsprechende Lebensbereich ein gehöriges Maß an Randschärfe aufweisen, weil sich sonst ein Durchschnitt nicht ermitteln läßt. Hinsichtlich der „Eignung" der jeweiligen Gruppenbezeichnung gelten ganz ähnliche Überlegungen, wie sich im folgenden noch zeigen wird. Die Schwierigkeiten bei dem Bemühen, ein methodisches Prinzip zu entwikkeln, mit dessen Hilfe sich Randschärfe in der erforderlichen Qualität bei der Fixierung von Verkehrskreisen erzielen läßt und das es erlaubt, die zur Verhaltensbewertung geeignete Gruppe zu benennen, sind zu überwinden. Es ist hierzu lediglich der Blick auf einen Bereich zu richten, der im bisherigen Verlauf der Untersuchung bereits Gegenstand der Erörterung war. Ausformulierten gesetzlichen oder quasi-gesetzlichen Sorgfaltsregeln wird von der Rechtsprechung unter Billigung der Literatur eine Indiz Wirkung bei der Feststellung der Sorgfalts Widrigkeit eines Verhaltens beigemessen.21 Da derartige Verhaltensregeln zum einen meist dort zu finden sind, wo fahrlässiges Handeln sehr häufig vorkommt, zum zweiten sich regelmäßig an in diesen gefahrträchtigen Bereichen agierende Gruppen — beispielsweise Autofahrer — wenden und zum dritten in der konkreten Anwendung durch den Richter, der seine Entscheidung auf das Beweisanzeichen des Regelverstoßes stützt, nichts anderes darstellen als eine Stellungnahme zu

20 Dies muß nicht als Nachteil zu empfunden werden. Der Blick in jeden beliebigen Kommentar beweist, daß die Praxis sich fast aussschließlich mit Fahrlässigkeitsfragen zu beschäftigen hat, bei denen das zu bewertende Verhalten in einem der besonderen Verkehrskreise angesiedelt ist. Vergleichbare Überlegungen i. Ü. bei Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 51. 21 Vgl. dazu oben 1. Kap. IV 2.

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4. Kap.: Der Standard der Verkehrskreise

den Sorgfaltsanforderungen innerhalb eines ganz konkreten Verkehrskreises, liegt es nahe, das gesuchte methodische Prinzip genau dort zu vermuten. Anders formuliert: Der unter Verwendung des Terminus „Verkehrskreis" fahrlässiges Verhalten bewertende Richter handelt aus der Blickrichtung ex post nicht anders als eine normsetzende Institution, die aus der Perspektive ex ante Gruppenstandards formuliert. Die Anforderungen an die Gruppenbildung dürften damit vergleichbar sein. Ist dies einmal erkannt, so lassen sich daraus Kriterien ableiten, die einen als Vergleichsmaßstab zum konkret zu bewertenden Verhalten ins Auge gefaßten Verkehrskreis als hinreichend bestimmt und geeignet ausweisen. Das Ergebnis dieser Ableitung — die im folgenden näher ausgeführt wird — lautet in einem Satz zusammengefaßt wie folgt: Eine zur Ermittlung tatbestandsmäßigfahrlässigen Verhaltens herangezogene Vergleichsgruppe ist dann als hinreichend bestimmt und geeignet und damit als Verkehrskreis anzusehen, wenn 1. die betreffende Gruppe Normadressat sein könnte, wobei 2. diese hypothetische Norm eine das Verhalten regelnde sein muß und 3. zwischen der ins Auge gefaßten Gruppe bzw. Gruppenbezeichnung und dem Verhalten, das es zu bewerten gilt, ein funktionaler Zusammenhang besteht, der sie zum geeigneten Adressaten von Verhaltensregeln macht. 1. Der Verkehrskreis

als potentieller Normadressat

Die begrenzende Funktion des in der Überschrift genannten Aspekts läßt sich am Negativ-Beispiel aus der Rechtsprechung verdeutlichen. Dem RG lag ein Fall zur Entscheidung vor, in dem die Frage der Gutgläubigkeit eines Eigentumserwerbs von Wertpapieren zu entscheiden war. 22 Ein Bierbrauer hatte als Anzahlung aus einem Grundstücksverkauf Aktien erhalten, die dem Käufer jedoch nicht gehörten. Für den Fachmann hätte insoweit ein Indiz im Hinblick auf den Mangel der Eigentümerposition vorgelegen, als lediglich die Aktienmäntel übergeben wurden. Im Besitz der Dividendenbögen und Talons war der Veräußerer nicht. Das RG verneinte grobe Fahrlässigkeit des Erwerbers und bejahte damit im Ergebnis einen gutgläubigen Erwerb der Wertpapiere. Bezüglich des Fahrlässigkeitsmaßstabs führte das Gericht ganz im Sinne der im Zivilrecht herrschenden Meinung aus, daß dieser zwar grundsätzlich ein objektiver sei 23 , daß aber auf „typische Verhältnisse der Beteiligten, auf die Anschauungen der Gruppen oder Kreise von Menschen, zu denen jene gehören, Rücksicht genommen werden muß". Für den zu entscheidenden Fall wurde daraus der Schluß gezogen, daß bei der Bemessung der erforderlichen Aufmerksamkeit zu berücksichtigen war, daß der Erwerber „dem Kreise kleiner oder mittlerer Besitzer und Gewerbetreibender auf dem platten Lande" angehörte. 24 22 RGZ 95, 16. 23 Die oben skizzierte subjektive Komponente bei der groben Fahrlässigkeit wurde von der Rechtsprechung erst später entwickelt; vgl. dazu oben 3. Kap. I 5.

III. Bestimmtheit und Eignung

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Es liegt auf der Hand, daß eine derartige „Konkretisierung" des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs kaum dazu geeignet ist, für Rechtssicherheit zu sorgen. Daß ein Verkehrskreis, der durch eine Anhäufung unscharfer, nicht subsumtionsfähiger Begriffe konstituiert wird, nicht zu der Beantwortung der Frage beiträgt, ob ein Verhalten als fahrlässig zu bewerten ist, braucht nicht weiter erörtert zu werden. Offen bleibt jedoch die Frage, ob sich ein Kriterium benennen läßt, anhand dessen ermittelt werden kann, wie konkret die Grenzen eines Verkehrskreises gefaßt werden müssen. Man kommt der Lösung des Problems ein Stück näher, wenn man den Kreis der „kleinen oder mittleren Gewerbetreibenden auf dem platten Lande" mit den Gruppen von Verkehrsteilnehmern vergleicht, die bisher in Rechtsprechung und Literatur unstreitig als maßstabgebend anerkannt worden sind. Was Ärzte und Rechtsanwälte, die Ausübenden bestimmter Sportarten oder Kraftfahrer von der eigentümlichen Kategorie des RG unterscheidet, ist die Tatsache, daß die erstgenannten Gruppen gerade in ihrer Eigenschaft als Gruppe Adressat von Normen sein könnten und dies größtenteils auch sind. Durch Berufe geprägte Verkehrskreise werden in Ausbildungsordnungen oder Standesrichtlinien angesprochen, für die allermeisten Sportarten existieren umfangreiche Regelungswerke, und der Kraftfahrer wird den Vorschriften der StVO unterworfen. Kein Gesetzgeber würde indessen der Idee verfallen, den Kreis der kleinen oder mittleren Besitzer und Gewerbetreibenden auf dem platten Lande mit einer gruppenspezifischen Norm erfassen zu wollen. Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Es ist im Hinblick auf die Anerkennung eines Verkehrskreises nicht erforderlich, daß die entsprechende Gruppe bereits Adressat von Vorschriften ist. Da es hier nur um ein Kriterium geht, das ausdrückt, in welchem Grade konkret ein Kreis von Menschen erfaßbar sein muß, genügt es, daß er Normsubjekt sein könnte. Aufgrund der gleichen Erwägung ist es ebenso nicht vonnöten, daß der Begriff Norm hier im Sinne eines formellen Gesetzes verstanden werden muß. Dies zeigte bereits der Hinweis auf Sport- und Spielregeln. Zusammenfassend läßt sich damit feststellen, daß von einem Verkehrskreis dann nicht gesprochen werden kann, wenn die Gruppe, die man mit diesem Begriff zusammenfassen will, als Normadressat nicht in Betracht kommt. 2. Inhaltliche Voraussetzung der potentiellen Norm: Verhaltensregel Bei den vorhergehenden Überlegungen ist ein Gesichtspunkt außer Betracht geblieben. Läßt man die theoretische Möglichkeit der legislatorischen Erfassung einer Gruppe als Indiz dafür gelten, daß es sich bei ihr um einen Verkehrskreis handelt, so bleibt die Frage nach dem materiellen Gehalt derartiger Normen. Anders ausgedrückt: Muß eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern immer dann als hinreichend bestimmt gelten, wenn sie Adressat einer Vorschrift beliebigen 24 RGZ 95, 16, 17.

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4. Kap.: Der Standard der Verkehrskreise

Inhalts sein könnte, oder ist zu verlangen, daß die hypothetische Norm bestimmte inhaltliche Voraussetzungen aufweisen muß? Daß die Frage ohne jeden Zweifel im letztgenannten Sinn zu beantworten ist, läßt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen. § 32a EStG macht die Höhe der Einkommenssteuer vom Umfang des zu versteuernden Einkommens abhängig. Präziser läßt sich wohl kaum differenzieren. Gleichwohl kommt niemand auf den Gedanken, die nach der Einkommenshöhe gestaffelten Gruppen der Steuerpflichtigen als Verkehrskreise zu bezeichnen. Warum dies so ist, liegt auf der Hand. Die Größe der Einkommenssteuerbelastung ist ein für den Verkehr unwesentliches Kriterium, jedenfalls für den Verkehr im hier zu erörternden Sinne. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Tatsache, daß es bei Fahrlässigkeitstatbeständen stets um die Bewertung von Verhalten geht. Stellt man zu diesem Zweck Gruppenstandards auf, dann muß jede Methode, die sich der Konkretisierung der maßstabgebenden Gruppen widmet, diesen Gesichtspunkt berücksichtigen. Wenn also die Anerkennung eines Verkehrskreises davon abhängt, daß dieser Adressat einer Norm sein könnte, dann muß diese Regelung eine Verhaltensnorm sein.

3. Funktionaler Zusammenhang Weitergehend sind aber auch an hypothetische Verhaltensvorschriften bestimmte Anforderungen zu stellen, sollen sie den geschilderten Zweck erfüllen. Wenn die Tatsache, daß eine Gruppe Normadressat sein könnte, darüber Auskunft geben soll, daß diese Gruppe als maßgeblicher Verkehrskreis in Betracht kommt, dann muß das zu bewertende Verhalten auf der einen und die ins Auge gefaßte Gruppe bzw. Gruppenbezeichnung auf der anderen Seite in funktionalem Zusammenhang stehen. Auch diese Voraussetzung läßt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen: Anläßlich eines dringenden Patientenbesuchs hat ein Arzt sein Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit gesteuert, wodurch es zu einem Verkehrsunfall mit Personenschaden gekommen ist. In dem sich anschließenden Strafverfahren wird die Verurteilung damit begründet, für den besonnenen und gewissenhaften Mediziner stelle — abgesehen von Notfällen — eine derartige Fahrweise auch dann ein sorgfaltswidriges Verhalten dar, wenn es sich um eine wichtige Patientenvisite handele. Der durchschnittliche Arzt sei schließlich in der Lage vorauszusehen, daß das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit Unfälle mit Personenschäden zur Folge habe könne. Auch wenn derartige Formulierungen geläufig klingen, liegt es gleichwohl auf der Hand, daß die genannte Begründung ihr Ergebnis nicht trägt. Dabei ist zunächst gegen einen Verkehrskreis der Ärzte gerade auch unter Verwendung der vorgeschlagenen Kriterien nichts einzuwenden: Die so benannte Gruppe zeichnet sich durch typisiertes Verhalten im oben erörterten Sinne aus. Die gruppenkonstituierende Tätigkeit ist mehr als eine ubiquitäre Handlungsweise.

III. Bestimmtheit und Eignung

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Schließlich sind auch keine Bedenken gegen die Feststellung ersichtlich, daß der so bezeichnete Personenkreis Adressat verhaltensregelnder Normen sein könnte. Gleichwohl kann der genannte Verkehrskreis nicht die maßstabgebende Gruppe zur Bewertung des im Beispielsfall geschilderten Verhaltens sein. Dies findet seine Ursache darin, daß ein funktionaler Zusammenhang zwischen dem zu bewertenden Verhalten — Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit — und der gewählten Gruppe bzw. Gruppenbezeichnung nicht herzustellen ist. Die in Rede stehende Handlungsweise kann mit der Berufsbezeichnung Arzt nicht in Beziehung gesetzt werden. Hier ist auf die eingangs angestellte Überlegung zurückzukommen: Wenn es zutrifft, daß der Akt richterlicher Bewertung in Fahrlässigkeitsfällen und die Verhaltensbeschreibung normsetzender Institutionen sich nur durch den Blickwinkel unterscheiden, ansonsten aber strukturell identisch sind, dann muß der sich eines Gruppenstandards bedienende Richterspruch denselben Anforderungen genügen wie eine Verhaltensregel, die diese Gruppe zum Normadressaten macht. Geht eine hypothetische Verhaltensnorm ins Leere, weil sie zwar gruppenbezogene Richtlinien aufstellt, das insoweit umschriebene Verhalten aber kein Spezifikum der Gruppe ist, sondern genauso regelmäßig außerhalb dieser vorkommt 25 , dann gilt dies für die verkehrskreisbezogene Verhaltensrichtlinie des Richters entsprechend. Ein funktionaler Zusammenhang zwischen dem zu bewertenden Verhalten und der ins Auge gefaßten Gruppenbezeichnung besteht demnach nur dann, wenn das zu bewertende Verhalten einen Ausschnitt aus dem Kreis der Handlungsformen darstellt, deren Existenz in typisierter Form zuvor als verkehrskreiskonstituierend bezeichnet wurde. Auf den Beipielsfall bezogen: Die konkrete Handlung, die es zu bewerten gilt — Autofahren —, ist kein Aspekt der Verhaltensweisen, die im ersten Prüfungsschritt als konstituierend für den Verkehrskreis der Ärzte festgestellt wurden. Eine hypothetische Verhaltensnorm, die besagen würde, wie sorgfältiges Verhalten von Ärzten im Straßenverkehr auszusehen hat, wäre funktionslos. Ein entsprechender gruppenbezogener Verhaltensmaßstab des Richters, der der Feststellung fahrlässigen Verhaltens dient, wäre es genauso.

25 Der hier zugrundegelegte Gedanke durchzieht die gesamte Rechtsordnung. So findet er sich etwa in der Rechtsprechung des B VerfG, wenn dieses Gesetze am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mißt. Dabei ist die erste Frage stets die, ob die zu überprüfende Norm zur Erreichung des gesetzgeberischen Zieles geeignet ist. Wird die Frage verneint, ist die entsprechende Regelung verfassungswidrig. Vgl. BVerfGE 16, 147, 181; 17, 306, 317; 19,119,127; 19,330,338. Im vorliegenden Zusammenhang interessant ist besonders die zitierte Entscheidung im 17. Band. Dort wurde mit ähnlichen Erwägungen, wie sie hier angestellt wurden, eine gesetzliche Regelung als ungeeignet und damit als verfassungswidrig angesehen. Auch das BVerwG sieht im Erfordernis der Eignung des Mittels eine allgemeine rechtstaatliche Voraussetzung jedes Eingriffs in private Rechte; vgl. BVerwGE 26, 131. Zu entsprechenden Überlegungen im Polizei- und Orndungsrecht vgl. Drews / Wacke / Vogel / Martens, Gefahrenabwehr, S. 420 ff. 10 Kaminski

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I V . Zusammenfassung Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, daß es möglich ist, abstrakte Merkmale aufzustellen, anhand derer ermittelt werden kann, ob ein Sorgfaltsmaßstab einem bestimmten engeren Verkehrskreis zu entnehmen ist oder nicht. Fehlt einer zu Vergleichszwecken herangezogenen Gruppe nur eine der in diesem Kapitel näher ausgeführten Eigenschaften, läßt sich also der Gesichtspunkt der Verhaltenstypizität nicht feststellen, beschreibt das potentiell gruppenbildende Merkmal lediglich eine ubiquitäre Verhaltensweise oder wäre es aus den oben angesprochenen Gründen ausgeschlossen, daß die in Betracht kommende Gruppe Adressat einer Verhaltensnorm sein könnte, dann handelt es sich bei ihr nicht um einen Verkehrskreis. Der von den Kritikern der herrschenden Lehre geäußerten Befürchtung, es sei ausgeschlossen, über den Begriff des Verkehrskreises handhabbare Leitbilder der Bewertung fahrlässigen Verhaltens zu ermitteln, dürfte mit den erörterten Kriterien die Grundlage entzogen sein: Lassen sich bei einer als Vergleichsmaßstab ins Auge gefaßten Gruppe sämtliche der genannten Merkmale feststellen, ist zum einen gewährleistet, daß nicht hinter einer nur verbal- objektiven Fassade letztlich doch die individuellen Fähigkeiten der konkret handelnden Person die Entscheidung tragen. Zum zweiten wird sich auf die geschilderte Weise verhindern lassen, daß der Begriff des Verkehrskreises einer extensiven Generalisierung Vorschub leistet und so das mit seinem Gebrauch verbundene Ziel — die Konkretisierung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs — verfehlt. Schließlich ist drittens dafür Sorge getragen, daß eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern nur dann als maßstabgebendes Leitbild herangezogen und damit als Verkehrskreis benannt wird, wenn die so bezeichnete Gruppe einigermaßen klare Konturen aufweist und darüber hinaus zur Bewertung gerade des in Rede stehenden Verhaltens geeignet ist. Da sich im 3. Kapitel gezeigt hat, daß der Rechtsprechung in Zivilsachen die praktische Umsetzung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs über den Begriff des Verkehrskreises ohne nennenswerte Probleme gelingt und infolgedessen nicht tatsächlich vorhandene, sondern von seiten der Kritiker der herrschenden Lehre lediglich vermutete Schwierigkeiten der Praxis Anlaß für Überlegungen zu den Begriffsmerkmalen des Terminus Verkehrskreis waren, liegt nichts näher, als die Leistungsfähigkeit der aufgestellten Kriterien an einem der Beispiele zu überprüfen, mit welchen die Kritik die Inpraktikabilität objektiver Fahrlässigkeitsbewertung zu belegen versucht. Wie bereits mehrfach angesprochen wurde, hält es insbesondere Samson für unmöglich, über den Begriff des Verkehrskreises „eine mittlere Linie zwischen höchster Abstraktion und rein täterbezogener Konkretisierung der Sorgfalt zu finden" und wirft den Vertretern eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs vor, sie seien nicht in der Lage zu begründen, warum nicht der „Verkehrskreis aller 50jährigen, kurzsichtigen, farbenblinden und be-

IV. Zusammenfassung

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sonders schreckhaften Autofahrer, die ihre Fahrerlaubnis soeben erworben haben" als maßstabgebendes Leitbild in Betracht kommt. Warum die von Samson benannte Gruppe nicht als Verkehrskreis anzusehen ist, läßt sich unter Berücksichtigung der in diesem Kapitel erörterten Kriterien wie folgt beantworten: Dem „Kreis" der 50jährigen, kurzsichtigen, farbenblinden und besonders schreckhaften Autofahrer, die ihre Fahrerlaubnis soeben erworben haben, fehlt es bereits am ersten, für einen Verkehrskreis wesentlichen Merkmal. Der Gesichtspunkt der Verhaltenstypizität ist nicht feststellbar. Zwar gibt es typisches Verhalten des Verkehrskreises der Autofahrer, nämlich dasjenige, das dieser Gruppe ihren Namen gibt; durch das Verhalten geprägte Gemeinsamkeiten innerhalb des von Samson benannten Personenkreises werden sich jedoch kaum ermitteln lassen. Darüber hinaus würde eine Gruppenbildung, wie sie Samson zu Argumentationszwecken vorschwebt, an den unter dem Stichwort Bestimmtheit erörterten Voraussetzungen scheitern. Samsons Gruppe könnte nicht Adressat einer verhaltensregelnden Norm im Straßenverkehr sein. Dies würde zum einen an der Unschärfe ihrer konstituierenden Merkmale wie „besondere Schreckhaftigkeit" scheitern; zum anderen ginge eine solche Norm ins Leere, da das Verhalten, zu dessen Regelung sie aufgestellt würde, genauso außerhalb dieses durch eine Vielzahl von Defekten geprägten Kreises von Verkehrsteilnehmern vorkommt. Damit läßt sich festhalten, daß es entgegen Samsons Vermutung sehr wohl möglich ist, Kriterien zu benennen, anhand derer die für eine Konkretisierung objektiver Fahrlässigkeitsmaßstäbe notwendige Gruppenbildung praktikabel durchzuführen ist. Kann die von ihm genannte Beispielsgruppe, mit deren Hilfe er den Standpunkt der herrschenden Lehre ad absurdum zu führen gedenkt, unter Verwendung der erörterten Merkmale als zur Feststellung objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts untauglicher Vergleichsmaßstab ausgefiltert werden, so ist nicht ersichtlich, warum die skizzierten Kriterien bei „ernsthaften" Beispielen versagen sollten. Insgesamt ist deshalb folgendes Resümee zu ziehen: Es hat sich im zweiten Kapitel der Untersuchung gezeigt, daß für eine Subjektivierung des Tatbestands des Fahrlässigkeitsdelikts wenig spricht. Die Forderung, die Tatbestandsverwirklichung davon abhängig zu machen, daß die konkret handelnde Person den Erfolgseintritt oder einen als Risikosyndrom bezeichneten Erfolgssachverhalt zu erkennen in der Lage ist, läßt sich weder als konsequente Umsetzung der finalen Handlungslehre in den Bereich der Fahrlässigkeitsdogmatik erklären, noch ist eine derartige Vorgehensweise durch die Erkenntnis der Personalität des Unrechts vorgezeichnet. Auch das mit dem Schlagwort „Sonderwissen" bezeichnete Problemfeld liefert keine zwingenden Argumente, die für eine Abkehr von objektiv ausgestalteten Sorgfaltsanforderungen sprechen. Umgekehrt sind jedoch eine ganze Reihe von Aspekten zu verzeichnen, welche die geschilderten Subjektivierungstendenzen als fragwürdig erscheinen lassen. Ein individualistisch ausgestalteter Fahrlässigkeitstatbestand sorgt für Schwierigkeiten im Bereich des Maßre10*

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gelrechts. Daneben entstehen Friktionen bei der Anwendung des § 323a StGB. Problematisch ist es schließlich auch, daß die subjektive Lehre zu einer Modifizierung des Rechtswidrigkeitsbegriffs gezwungen ist, um bei der Notwehr zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Offene Fragen im Hinblick auf die Praktikabilität des objektiven Maßstabs der herrschenden Lehre bestehen — der Blick auf die Parallelproblematik im Zivilrecht hat es verdeutlicht — nur bei vordergründiger Betrachtungsweise. Soweit sich die im wesentlichen zu verzeichnende Überzeugungskraft der Ergebnisse der privatrechtlichen Judikatur nicht in der theoretischen Erfassung des Begriffs, auf dem diese Resultate fußen, widerspiegelt, lassen sich diese Schwierigkeiten überwinden. Insgesamt ist damit kein Grund ersichtlich, vom objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab der herrschenden Lehre abzurücken.

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