Objekt-Subjekt: F. W. J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung [1. Aufl.] 9783839425862

The first and most important step towards resolution between estranged relations of production is the awareness of the u

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German Pages 386 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorrede
Einleitung
1. Gegenstand
2. Begriff und Geschichte
3. Forschungsübersicht
4. Methode
1. Verdinglichung
1.1 Ihre Bedeutung bei Georg Lukács
1.2 Lukács und Schelling
2. Schelling in der Rezeption von Ernst Bloch
2.1 Kritik an Lukács
2.2 Rezeption und Apologie Schellings
2.2.1 Die frühen Publikationen
2.2.2 „Konkrete Utopie“
2.2.3 Bloch und der Existentialismus
2.2.4 „Spuren“
2.2.5 Blochs Prosa
2.2.6 „Thomas Münzer“
2.2.7 Was heißt „qualitative Materie“?
2.2.8 Schelling im „Materialismus“-Buch
2.2.9 Bleibend Unterscheidendes im „Prinzip Hoffnung“
2.2.10 „Subjekt-Objekt“
2.2.11 Die „Leipziger Vorlesungen“
2.2.12 „Experimentum Mundi“
3. Schellings Naturphilosophie
3.1 Die Suche nach dem Absoluten
3.2 Kant und das Selbstbewußtsein
3.3 Vom transzendentalen Ich zur Natur
3.4 Warum Natur?
3.5 Naturphilosophische Entwürfe und Schriften
3.5.1 „Ideen zu einer Philosophie der Natur“
3.5.2 „Von der Weltseele“
3.5.3 „Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen“
3.5.4 „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“
3.5.5 „Einleitung“ (zu „Erster Entwurf…“)
3.5.6 „System des transscendentalen Idealismus“
3.5.7 Zur Wirkungsgeschichte des „Systems“
3.5.8 „Darstellung meines Systems der Philosophie“
3.5.9 Zur Wirkungsgeschichte der „Darstellung“
3.5.10 Das Würzburger „System“
Schlußfolgerungen
Siglen
Bibliographie
A. Quellen: Schelling
B. Quellen: Bloch
C. Quellen: Lukács
D. Literatur
E. Lexika und wissenschaftliche Hilfsmittel
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Objekt-Subjekt: F. W. J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung [1. Aufl.]
 9783839425862

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Matthias Mayer Objekt-Subjekt

Edition Moderne Postmoderne

Matthias Mayer (Dr. Dr. habil.) ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen.

Matthias Mayer

Objekt-Subjekt F. W. J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2586-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorrede | 7 Einleitung | 9

1. Gegenstand | 9 2. Begriff und Geschichte | 13 3. Forschungsübersicht | 26 4. Methode | 50 1. Verdinglichung | 57

1.1 Ihre Bedeutung bei Georg Lukács | 57 1.2 Lukács und Schelling | 89 2. Schelling in der Rezeption von Ernst Bloch | 97

2.1 Kritik an Lukács | 97 2.2 Rezeption und Apologie Schellings | 105 2.2.1 Die frühen Publikationen | 107 2.2.2 „Konkrete Utopie“ | 114 2.2.3 Bloch und der Existentialismus | 118 2.2.4 „Spuren“ | 120 2.2.5 Blochs Prosa | 121 2.2.6 „Thomas Münzer“ | 132 2.2.7 Was heißt „qualitative Materie“? | 134 2.2.8 Schelling im „Materialismus“-Buch | 147 2.2.9 Bleibend Unterscheidendes im „Prinzip Hoffnung“ | 153 2.2.10 „Subjekt-Objekt“ | 155 2.2.11 Die „Leipziger Vorlesungen“ | 159 2.2.12 „Experimentum Mundi“ | 181 3. Schellings Naturphilosophie | 189

3.1 Die Suche nach dem Absoluten | 189 3.2 Kant und das Selbstbewußtsein | 200 3.3 Vom transzendentalen Ich zur Natur | 212 3.4 Warum Natur? | 217 3.5 Naturphilosophische Entwürfe und Schriften | 232 3.5.1 „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ | 232 3.5.2 „Von der Weltseele“ | 251 3.5.3 „Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen“ | 266

3.5.4 „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ | 276 3.5.5 „Einleitung“ (zu „Erster Entwurf…“) | 290 3.5.6 „System des transscendentalen Idealismus“ | 296 3.5.7 Zur Wirkungsgeschichte des „Systems“ | 317 3.5.8 „Darstellung meines Systems der Philosophie“ | 320 3.5.9 Zur Wirkungsgeschichte der „Darstellung“ | 330 3.5.10 Das Würzburger „System“ | 332 Schlußfolgerungen | 361 Siglen | 367 Bibliographie | 369

A. Quellen: Schelling | 369 B. Quellen: Bloch | 370 C. Quellen: Lukács | 371 D. Literatur | 371 E. Lexika und wissenschaftliche Hilfsmittel | 383

Vorrede

Unter identischem Titel, mit nahezu unverändertem Inhalt wurde dieses Buch im Sommersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Vollzug des Verfahrens danke ich dem Vorsitzenden und Dekan, Herrn Prof. Dr. Jürgen Leonhardt, den Mitgliedern des ständigen und erweiterten Habilitationsausschusses sowie dem für Habilitationsverfahren zuständigen Fakultätsreferenten, Herrn Dr. Stefan Zauner. Mein tiefgefühlter Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Manfred Frank, „Vater“ und Betreuer dieser Schrift, welche nicht zuletzt durch das Hören seiner berühmten Tübinger Vorlesungen über Schelling angestoßen wurde. Neben seinem wurden noch vier weitere Gutachten verfaßt. Ihren Autoren bin ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet: Frau Prof. Dr. Lore Hühn, Frau Prof. Dr. Friedrike Schick, Herrn Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel und Herrn Prof. Dr. Michael Heidelberger. Für das geduldige und wiederholte Lesen der Druckfahnen danke ich Herrn Ulrich Berger. Ihm sowie dem Max Wilhelm Annuity Trust (Somerville N.J./USA) sei außerdem sehr herzlich für die finanzielle Unterstützung gedankt. Tübingen, Sommer 2013

Einleitung „Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur sein Denker, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdes geändert. Das Gescheite hat sich daran neu und selber als Neues zu bewähren.“1

1. G EGENSTAND Ziel dieser Abhandlung ist es, dem Begriff und Problem der Verdinglichung wieder Geltung zu bereiten, sie neu ins Licht der Reflexion zu stellen. Desgleichen geschehe mit Schellings Naturphilosophie. Ihre wirkungsgeschichtliche Relevanz soll hier zurückgewonnen werden. Beiden ist eine Aktualität nicht abzusprechen. In ihrer Suffizienz unabgegolten, fordern sie unsere Aufmerksamkeit. Doch worin besteht ihr Zusammenhang? Ernst Bloch erklärt ihn in seinen Leipziger Vorlesungen. Schellings besonderer Verdienst sei dessen Hinweis, „über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen“. Marx habe die Arbeit aus der Vergessenheit im Produkt herausgehoben, indem er sie auf den subjektiven Faktor zurückführte, um Entfremdung und Schicksal aufzuheben. „Aber der Blick, der nicht von den Dingen auf das Erkennen geht, nicht von der Mystik der Dinge in die Metaphysik des Wissens, wie in der Erkenntnistheorie, sondern von dem festgefrorenen Produkt auf das Produzierende, der Blick gegen die Verdinglichung, gegen die Fetischisierung, der beginnt also in der Schellingschen Naturphilosophie. Seitdem hat jedes tief-

1

E. Bloch: Das Materialismusproblem, GA 7, p. 479.

10 | O BJEKT -S UBJEKT greifende Philosophieren mit sich per definitionem den Bruder Schelling, den Vater Hegel, das Diesseits Marx“ (LV 4, p. 204).

Mit dieser Einschätzung rettet Bloch die Rezeptivität des frühen Schelling in unsere Zeit. Innerhalb der marxistischen Philosophie zog er deshalb sich Kritik, gar Feindschaft zu, da er mit Hilfe des als reaktionär und bürgerlich verrufenen Schelling etwas zu lösen versucht, was in die Zuständigkeit des dialektischen Materialismus fällt: einen Ausweg aus Entfremdung und Verdinglichung zu finden. Bloch geht hinter Marx zurück, bedient sich des Deutschen Idealismus, steigt hinab in die ,mystischen Tiefen‘ der romantischen Naturphilosophie und überrascht mit dem Vorschlag, ein akutes Problem mit historischen Mitteln beheben zu wollen. Er wagt es, die Differenz, welche erst das kapitalistische Wirtschaften hervorgebracht hat, nämlich die zwischen dem Subjekt und seiner Arbeit, zwischen Individuum und Gesellschaft, mit Hilfe eines Denkers zu bewältigen, dessen Philosophie in vorkapitalistischer Zeit entstanden war. Erschöpft, das heißt durch umfassenden Einbezug der einzelnen Schriften Schellings, hat er seine Thesen nicht. Der angestoßene Gedanke wurde nie zu Ende geführt. Vermutlich aus Mangel an Zeit – mußte er doch mit seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie fortfahren und daher im Stoffe sich beschränken – blieb es beim Verweis. Eine Rekonstruktion dieses Versuches und der Nachweis seines Gelingens sind Desiderate der vorliegenden Studie. Es soll durch dieses Experiment der Reanimation ein methodisches Instrumentarium gewonnen werden, um das Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zur Geschichte naturphilosophisch zu vermitteln, ohne dabei auf kritische Positionen zu verzichten oder in metaphysische Anschauungen zu regredieren. Das Problem der Verdinglichung ist eines von Subjekt und Objekt, und darum ein spätes Erbe der klassischen deutschen Philosophie. Es geht um die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, welche im Verhältnis von Bewußtsein und Sein, Gedanke und Ausdehnung, Idealität und Realität, in der Beziehung des Ichs zu seinem Gegenüber sich ausdrückt. Vom gültigen Bestehen dieser ,dualen Relation‫ ދ‬gehen wir aus. „An der Zweiheit von Subjekt und Objekt ist kritisch festzuhalten, wider den Totalitätsanspruch, der dem Gedanken inhäriert.“2 Daraus ergeben sich mehrere Schwierigkeiten. Offen bleibt nicht nur die Frage, was genau unter Verdinglichung zu verstehen ist, sondern auch, wer wen oder was verdinglicht: das Ich sich selbst oder das Objekt das Subjekt? Und wer ist in diesem Falle Objekt, wer Subjekt? Es gilt zu klären, ob das Objekt, sei es Natur als Natur oder Natur als Gesellschaft, nicht ebenfalls Subjektivität, zumindest ,Subjektcharakter‘, besitzt. Weiter interessiert, ob Subjekt und Objekt in unbedingter Polarität verharren oder – wie 2

T. W. Adorno: Negative Dialektik, p. 175.

E INLEITUNG | 11

bei Schelling – ein Bodensatz von Identität sich finden läßt, eine Identität, welche der Trennung durch das Bewußtsein vorausgeht. Existiert die Differenz allein im Gedanken – wie bei Hegel – oder entspringt sie einer antagonistischen Verfassung der Wirklichkeit? Wenn Letzteres gilt, ist durch Denken allein sie nicht aufzuheben, sondern prätendiert praktische Umsetzung. Auch die subjektiv-idealistische Bestimmung der Wirklichkeit erweist sich nicht als Garant dafür, Identität leichter herstellen zu können. „Zwar ist die Trennung, die das Objekt zum Fremden, zu Beherrschenden macht und es aneignet, subjektiv, Resultat ordnender Zurüstung. Nur bringt die Kritik des subjektiven Ursprungs der Trennung das Getrennte nicht wieder zusammen, nachdem es einmal real sich entzweite. Das Bewußtsein rühmt sich der Vereinigung dessen, was es erst mit Willkür in Elemente aufspaltete; daher der ideologische Oberton aller Rede von Synthese. Sie ist Deckbild der sich selbst verhüllten und zunehmend tabuierten Analysis. Die Antipathie des vulgär edlen Bewußtseins gegen diese hat zum Grund, daß die Zerstückelung, die verübt zu haben der bürgerliche Geist seinen Kritikern vorwirft, sein eigenes unbewußtes Werk ist. Ihr Modell sind die rationalen Arbeitsprozesse.“3

Unbeschadet dieser Vorbehalte treten die Aufhebungswünsche durch ihre Beständigkeit hervor. Getrenntes soll (wieder) vereint werden – sowohl im realen wie auch im idealen Sein. Ungebrochen ist das Verlangen nach Einheit und Harmonie. Nicht ohne Grund suchen Bloch und Schelling gleichermaßen nach der Identität dessen, welches sie verweigert – der eine im Künftigen, der andere in der Natur. Wir setzen voraus, daß bei Verdinglichung es sich um ein gesellschaftliches Phänomen, also einen wirklichen, nicht-imaginierten Gegenstand handelt, welcher außerhalb unseres Geistes existiert und den wir mittels Erfahrung und Verstand wahrnehmen und begreifen können. Verdinglichung stellt ein Theorie-Praxis-Problem dar. Sie fällt daher in die Verantwortlichkeit sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie. Deshalb soll sie zwar eine systematische, nicht jedoch in erster Linie analytische Bearbeitung erfahren. Es würde nicht genügen, den Begriff nur „in Weisen des Verhaltens und Gestimmt-Seins aufzulösen“4. Er kann nicht allein als Objekt der „formalen Logik“ oder der „empirischen Beschreibung“ fungieren.5 Vielmehr soll er aus dem historischen Kontext, in dem er entstanden ist, 3

T. W. Adorno: Negative Dialektik, p. 175.

4

H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch, p. 216.

5

Auf diese Weise würde die Methode selbst zu einem Beitrag der Verdinglichung; Herbert Marcuse pointiert das Problem in: Der eindimensionale Mensch, p. 198: „Die neopositivistische Kritik richtet ihre Hauptanstrengung noch immer gegen metaphysische Begriffe

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sowie aus der Bedeutung, welche bestimmte Autoren der Vergangenheit ihm gaben, erschlossen werden. Erst durch seine Genealogie gelingt uns seine Übersetzung. Weiter gehen wir davon aus, daß Verdinglichung einen Zustand darstellt, welchen es zu kritisieren gilt. Dies ist ein Unwerturteil. Wir betrachten es als keiner weiteren Apologie bedürftig. Verdinglichung sehen wir als eine Erscheinung, die allgemein ,unerwünschte Gefühle‫ ދ‬auslöst und welche deshalb als ,nicht richtig‘ oder ,unangebracht‘ zu bezeichnen gerechtfertigt ist. Die Natur des Menschen selbst (im Sinne Schellings) sowie sein Bedürfnis nach „Heimat“ (im Sinne Blochs) sind die Bemessungsgrundlage dieser Kritik. Dennoch darf es nicht das einzige Bestreben der vorliegenden Hochschulschrift sein, in einen moralischen Appell oder eine ,Soll-Aussage‫ ދ‬zu münden. Freilich interessiert es, wie der Weg zu einer Entdinglichung aussieht, ob er gangbar ist oder warum es einen solchen kaum geben kann. Dies jedoch ist keine Sache ethischer Überzeugungskraft oder moralischer Begründungsarbeit, an deren Ende, gleichsam unter Garantie, die Änderung der Verhältnisse steht. Unsere Studie begreift aus diesem Grunde – unbeschadet ihrer auch praktischen Intention – sich nicht als eine spezifisch moralphilosophische Abhandlung. Vielmehr bekennt sie sich als ein Stück Geschichte der Philosophie, welches auf neue und eigene Weise die Zusammenschau von Deutschem Idealismus und kritischer Theorie zu ermöglichen sucht.

und ist durch einen Begriff von Exaktheit motiviert, der entweder der der formalen Logik oder der empirischer Beschreibung ist. Ob nun die Exaktheit in der analytischen Reinheit von Logik und Mathematik oder im Einklang mit der Alltagssprache gesucht wird – an beiden Polen der Gegenwartsphilosophie findet sich dieselbe Ablehnung oder Abwertung derjenigen Denk- und Sprachelemente, die das akzeptierte System gültiger Normen transzendieren. Diese Feindschaft ist höchst durchgreifend, wo sie die Form der Duldung annimmt, das heißt, wo den transzendenten Begriffen in einer abgetrennten Sinn- und Bedeutungsdimension (dichterische Wahrheit, metaphysische Wahrheit) ein gewisser Wahrheitswert zugebilligt wird. Denn gerade das Abspalten eines Sonderbereichs, in dem Denken und Sprache legitimerweise unexakt, vage und sogar widerspruchsvoll sein dürfen, ist die wirksamste Art, das normale Universum der Sprache davor zu bewahren, von unpassenden Ideen ernsthaft gestört zu werden.“

E INLEITUNG | 13

2. B EGRIFF UND G ESCHICHTE Verdinglichung (frz. réification6, engl. reification) bedeutet neomarxistisch das unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen Zur-Ware-Werden von Menschen und Gegenständen.7 Verdinglichung heißt, daß die Beziehungen der Menschen untereinander dinghafte Gestalt annehmen, als solche sich verselbständigen. Der Begriff degoutiert zunächst, weckt negative Assoziationen, erinnert an Erstarrtes. Zurecht: sogar die Denkform Ware gerinnt in dieser Definition zur unabhängigen Entität. Der Begriff selbst wird zum Ding, wenn ökonomische Interessen seinen Inhalt bestimmen. Körper und Geist des Menschen werden auf eine Weise versachlicht, welche seine subjektive Eigenständigkeit existentiell gefährden. Errungene Ich-Autonomie 6

Eine subtile, jedoch m. E. nicht unbedingt sinnvolle terminologische Unterscheidung nimmt Joseph Gabel in seiner Dissertation vor: „Certains traduisent Verdinglichung par ,chosification‫ދ‬, d’autres par ,réification‫ދ‬. Nous avons introduit une innovation, qui prouve au moins combien nous sommes éloignés de tout ,dogmatisme lukâcsien‫ދ‬, en conservant les deux : par chosification nous entendons l’expérience de la réalité humaine, d’autrui ou de soi-même en tant que chose ; par réification, un ensemble, comportant, en dehors de la chosification proprement dite, le phénomène de l’écrasement de l’homme par les produits ,objectivés‫ ދ‬de sa subjectivité avec spatialisation de la durée, déchéance de l’historicité de l’existence et détérioration de la qualité dialectique du vécu“ (J. Gabel: La réification, p. [I] sq.). Auch Gabel erklärt die nahe Verwandtschaft der Verdinglichung zum Begriff der Entfremdung (aliénation). Beide wiederum seien nicht vom Problem des dialektischen Denkens zu trennen. Verdinglicht bzw. entfremdet zu sein, bedeute für das Individuum eine nicht-dialektische Existenz zu führen: „[L]e problème de la pensée dialectique est inséparable de celui de l’aliénation [...]. En tant qu’expression d’une forme d’existence non dialectique le concept de réification est, de son côté, consubstantiel des processus d’aliénation. Lukács a critiqué l’importance qu’il avait accordée à ce concept dans Histoire et Conscience de Classe : nous n’avons nulle raison de le suivre sur ce terrain“ (l. c., p. 18 sq.). Als Ursache führt Gabel ein gespaltenes Bewußtsein an, welches er mit „falschem Bewußtsein“ (fausse conscience) oder „Ideologie“ (idélogie) gleichsetzt: „Nous proposons – sans nul souci d’orthodoxie – les définitions suivantes pour les concepts en question. Fausse conscience et idélogie sont deux formes de saisie non dialectique (réifiée) de réalités dialectiques, autrement dit, deux aspects (ou mieux : deux degrés) du refus de la dialectique. Anticipant sur la démonstration ultérieure de la structure anti-dialectique de la schizoprénie, nous pouvons dire que ce sont là deux phénomènes de caractère schizophrénique“ (l. c., p. 19).

7

Diese Bestimmung ist einer Formulierung Blochs entlehnt, cf. Das Prinzip Hoffnung, GA 5,1, p. 329, vermutlich hat er diese jedoch von Lukács.

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geht verloren – oder entsteht gar nicht erst. Ver- oder be-dingt sein = nicht frei sein. Nicht frei sein = nicht Ursache und Wirkung seiner selbst und somit nicht mit sich identisch sein. Das Individuum scheint in sich gespalten. Es fragt dann nach dem geschichtlichen Woher seines entzweiten Zustandes und nach dem gesellschaftlichen Wie seiner möglichen Aufhebung. Verdinglichung weist auf Nicht-Identität hin, auf Vergangenes, das noch unbewältigt und auf Zukünftiges, das noch uneingelöst ist. In dieser Form erhält der Terminus 1923 seine wegweisende Prägung durch Georg Lukács. Obwohl lange vorher existierend und – in anderer Weise – verwendet, so bei Hegel und Schelling, auch bei Marx, gilt der ungarisch-jüdische Intellektuelle als dessen terminologischer Mäeutiker und Definiteur schlechthin. Kontext seiner Entstehung ist die politisch prekäre Situation der Weimarer Republik. Ebensowenig wie Bloch mit Geist der Utopie (1918 und 1923) bleibt Lukács jener krisenbesetzten Zeit eine Antwort schuldig. In der als Monographie publizierten Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik8 trägt er den Problemen seiner Epoche Rechnung. Mit dem ausgesuchten Titel Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats exponiert er darin seine zentralen revolutionären Anschauungen. Der Abhandlung ist anzumerken, welch tiefen Eindruck Simmel und Weber bei dem jungen Verfasser hinterlassen haben.9 8

Zuerst erschienen im Malik-Verlag, Berlin.

9

Gut erklärt Rüdiger Dannemann die Entstehung von Lukács‫ ތ‬Verdinglichungsbegriff aus dessen Analyse der „Krisis der Kultur“ und dem Einfluß Simmels: „Bereits sein [= Lukács‫ ]ތ‬Buch über die Entwickungsgeschichte des modernen Dramas (1910/11) formuliert eine radikale Kulturkritik; Leitbild ist dabei Georg Simmels Theorie der Tragödie der Kultur. Lukács stellt seine kritische Lektüre der aktuellen Dramatiker (Ibsen, die Naturalisten und ihre Überwinder) in den anspruchsvollen Rahmen einer Phänomenologie der Moderne. Die Probleme der neuen Kunst, zumal des neuen Dramas, entsprechen den Problemfigurationen einer Gesellschaft, die Lukács – eine Vorausdeutung auf das Paradigma der Verdinglichung – als ,Versachlichung des Lebens‫ ދ‬kennzeichnet. In eindringlichen Detailschilderungen entwickelt er das Bild einer bürgerlichen Gesellschaft, in der ,die Gebundenheit sich den Abstracta gegenüber ebenso sehr verstärkt und vermehrt, als sie sich den einzelnen gegenüber geschwächt und gelockert hat‫ދ‬. Der bürgerliche Individualismus substituiert konkrete Bindungen von Menschen durch die Abhängigkeit von ,Abstracta‫ދ‬, d. h. Vergesellschaftungsmechanismen, deren Prinzip Entsubjektivierung ist. Unschwer finden wir in dieser Phänomenologie die wichtigsten Elemente der Philosophie des Geldes wieder, die Georg Simmel vorgelegt hat: Zunahme der persönlichen Unabhängigkeit und Freiheit auf der einen Seite, Negation des Individuellen (des ,Vornehmen‫ދ‬, wie es bei Simmel heißt), abstrakte Rationalität in Produktion und Wissenschaft, Trennung von Person und Sache, Reduktion von Qualität auf Quantität auf der anderen

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Unerwartet weitläufig und fruchtbar gerät die Rezeption seiner Thesen. Die Geburtsstunde des westlichen Marxismus fällt mit ihr in eins. Lenin scheint dies zu ahnen: er verurteilt Lukács’ Theorie, fordert Distanzierung. Der Autor gehorcht, revoziert, schriftlich sogar: Die Bedeutung von „Materialismus und Empiriokritizismus“ für die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien. Selbstkritik zu „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1934) – eine Art Gegenleistung für das ihm in Moskau gewährte Asyl. Ungeachtet der Affinität zu den Begriffen Verkehrung, Vergegenständlichung (Objektivation), Versachlichung, Entfremdung (Alienation) und auch Fetischisierung gibt der Terminus Verdinglichung dennoch nicht als deren Synonym sich aus.10 Zugegeben handelt es sich um Nuancen, welche ihn von der aufgeführten Verwandtschaft scheiden; gerade diese aber rechtfertigen sein So-Sein und Nichtanders-Lauten. Es ist in erster Linie das Wort Ding, welches ihm inhäriert, ihn unersetzlich macht. Dessen semantischer Ursprung läßt bis zu den Germanen sich verfolgen, von wo es zu uns heraufgekommen ist. Dort bezeichnete Thing die Gerichtsversammlung ,freier Männer‘. Eine zu verhandelnde, ungeklärte, nicht durchsichtige ,Sache‘ wurde an der hierzu bestimmten Thingstätte entschieden und ausgetraSeite. Gleichwohl gibt es nicht unwichtige Nuancierungen: Es ist bemerkenswert, daß Lukács Simmels Erklärungen der abstrakten Rationalität als notwendiger Entsprechung einer überkomplex gewordenen Spätkultur nicht aufnimmt. Die Stilisierung der Entindividualisierungstendenzen der Geldwirtschaft zu Sachzwängen, die wir bei Simmel finden, rezipiert Lukács nicht. Das hätte dem Theoretker der Revolte, ja Revolution auch schlecht angestanden“ (R. Dannemann: Georg Lukács, p. 24 sq.). 10 Warum ein Ding keine Sache ist und mehr als nur ein Gegenstand oder Objekt, weshalb die Begriffe Versachlichung und Vergegenständlichung sich sprachlich wie semantisch als der Verdinglichung unterlegen erweisen, wird sich im Laufe der hier behandelten Begriffsgeschichte verdeutlichen. Der Ausdruck Entfremdung, in erster Linie von Marx und Engels gebraucht, scheint mir deshalb ein ungünstiger, weil er der üblichen Grammatik widerspricht. Das Präfix Ent- bewirkt am Stamm normalerweise eine Negation. Die Bedeutung, welche das Wort Entfremdung von Marx erhält, soll jedoch eine Affirmation des Gefühls der Fremdheit ausdrücken. Dies wird gewöhnlicherweise mit der nur im Deutschen existierenden Vorsilbe Ver- bewirkt, so wie es auch beim Begriff Verdinglichung geschieht. Verfremdung wäre, wenn überhaupt, der ,logischere‫ ދ‬Terminus. Entfremdung würde, so gesehen, die Aufhebung eines Gefühls oder einer Situation der Fremdheit bedeuten. Weiter scheint mir der Ausdruck Fetischisierung aus dem Grunde unglücklich, weil er nur schlecht auf Subjekte anwendbar ist und auch bei Marx selbst auf Objekte bezogen bleibt, welche vom Menschen wie Fetische betrachtet und behandelt werden. Verdinglichung hingegen kann sich sowohl auf Subjekte als auch auf Objekte beziehen.

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gen. Das Englische hat den Begriff aus dem gleichen historischen Kontext als thing übernommen. Seine Bedeutung als Instanz der Rechtssprechung blieb bis ins Mittelalter bestehen. Der dafür festgelegte Termin, als Thing-Tag bezeichnet, und seine germanische Gottheit sind uns im Dienstag bewahrt. Die forensische Vergangenheit findet sich noch in den Ausdrücken verteidi(n)gen oder jemanden dingfest machen. Aber auch die Bedingung, das Sich-Verdingen oder Abdingen, woraus unabdingbar sich herleitet, erklären jeweils ihre Abhängigkeit vom übergeordneten, allmächtigen Thing. Ding steht also allgemein für eine ,Sache‘ von hoher, aber undurchschauter Verbindlichkeit.11 Weiter begegnet der Begriff uns in Kants ,Ding an sich‘. Dieses birgt zwei Dimensionen. Zum einen ist das ,Ding an sich‘ etwas Materielles, Objekthaftes. Zum anderen ist die Erkenntnis in bezug auf es beschränkt. Das transzendentale Bewußtsein erfährt an ihm seine Grenzen. Hinter dem formalen Erkennen sowohl des Partikularen als auch des Totalen liegt etwas Letztes, Irrationales, welches dem Verstande und seinen Kategorien sich entzieht. Dies schlägt im mythisch-mysteriösen Charakter, welcher dem Verdinglichungsbegriff ebenfalls anhaftet, sich nieder. Hegel, ganz im Gegensatz zu Kant, will von Unerkennbarem nichts wissen. Es existiert ihm nicht. Er vindiziert restlose Einsicht und Gewißheit. In der Unfähigkeit der Kantischen Kategorien sieht er den Grund, die Dinge, wie sie an sich sind, nicht erkennen zu können. Jenen insinuiert er, im „Endlichen und Unwahren“ stehen zu bleiben, in einem Erkennen, „das nur subjectiv [ist], eine Äußerlichkeit und ein Ding-an-sich zu seiner Bedingung hat, welches die Abstraction des Formlosen, ein leeres Jenseits ist“12. Kants Verstandesbegriffe sind nach Hegel ,Vorstellungsbestimmungen‘ des Seins und können nicht auf die ,unendliche Vernunftidee‘ oder die ,Dinge an sich‘ angewendet werden. „[D]er Begriff, wozu auch das von ihm ausgehende Urtheil gehört, ist das wahrhafte Ding-an-sich oder das Vernünftige, jene Bestimmungen aber gehören dem Seyn oder Wesen an, und sind noch nicht zu der Art und Weise fortgebildete Formen, wie sie in ihrer Wahrheit, im Begriffe sind.“13 Ein Ding erhält eine Bestimmtheit, welche es zu diesem Ding macht. Die Bestimmtheit liegt in allen seinen Eigenschaften. Diese sind „seine bestimmten Beziehungen auf anderes; die Eigenschaft ist nur vorhanden als eine Weise des Verhaltens zueinander; sie ist daher die äusserliche Reflexion und die Seite des Gesetztseyns des

11 Cf. ad vocem Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, vol. 2, coll. 11521169; Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, p. 202. 12 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), GW 13, § 33, p. 33. 13 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik II (1816), GW 12, p. 67.

E INLEITUNG | 17

Dings“14. Nur in der Beziehung auf „anderes“ erhält das Ding sich im Sein, ist ,an sich‘. Seine reine Äußerlichkeit als existierendes Etwas läßt das Ding zum An-sichSeienden werden. In und durch seine Eigenschaften wird es zugleich Ursache, entfaltet Wirkung, erfährt solche, tritt in Wechselbeziehung, prozessiert. Das ,Ding an sich‘ verhält und äußert sich entsprechend seinen Bestimmungen, „es ist nicht eine jenseits seiner äusserlichen Existenz befindliche bestimmungslose Grundlage; sondern ist in seinen Eigenschaften als Grund vorhanden, das heißt, die Identität mit sich in seinem Gesetztseyn“15. Hegel sucht die subjektive Zerteilung der Dinge, welche er Kant zum Vorwurf macht, zu überwinden, indem er deren An-sich-Sein grundsätzlich für aus der bloßen Existenz deduzierbar erklärt. Idee heißt dabei nicht mehr nur die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern die Erkenntnis selbst als bedingungslose, prozeßhaft sich offenbarende: absoluter Idealismus. Wesentlich, geradezu konstituierend für Hegels Philosophie ist das Verhältnis von Ding und Bewußtsein. Das Ding ist der existierende Gegenstand, an welchem das Subjekt im Aufstieg von der sinnlichen Gewißheit und Wahrnehmung zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein, das heißt zur Wahrheit der Gewißheit seiner selbst, daß es an und für sich ist, gelangt. Hegel unterscheidet zweierlei Subjekte, welche um gegenseitige Anerkennung ringen und deren beider entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins aufeinandertreffen: „[D]ie eine das selbständige, welchem das Fürsichseyn, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Seyn für ein anderes, das Wesen ist; jenes ist der Herr, diß der Knecht“ (PG, p. 112). Das Selbstbewußtsein der Kontrahenten, dazu bestimmt, „im Kampf auf Leben und Tod“ sich zu bewähren, wird von Hegel in die völlige Abhängigkeit von dessen Verhältnis zum Ding geführt. Die enge Bindung an die Dingheit nötigt es zum existentiellen Urteil über sich selbst: „Das Ding ist Ich“ (PG, p. 423). Selbstbewußtsein gedeiht allein in der Korrespondenz von Ding und Ich. Fichtes Idee von allem Gegenständlichen als Nicht-Ich dringt deutlich hervor. „Der Herr bezieht sich auf diese beyden Momente, auf ein Ding, als solches, den Gegenstand der Begierde, und auf das Bewußtseyn, dem die Dingheit das wesentliche ist“ (PG, p. 113). Die Beziehung des Herrn zum Ding ist vermittelt durch den Knecht, welcher die Arbeit an ihm verrichtet. Der Knecht, im Unterschied zum Herrn, ist unselbständig, da er sein Sein sowohl dem Herrn als auch dem Ding ausliefert. Hegel findet für das Ding die gleichen Zuschreibungen wie für die unparitätisch ringenden ,Iche‘: selbständig und unselbständig – was die Rückbezogenheit Objekt-Subjekt, Ding-Ich affirmiert. Das Ding ist für den Herrn, weil vom Knecht bearbeitet, Genuß, daher unselbständig. Ein unselbständiges Ding läßt seinen Verbraucher oder Beschauer entsprechend un14 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik I (1812/13), GW 11, p. 330. 15 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik I (1812/13), GW 11, p. 330.

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berührt, also selbständig. Dem Knecht ist das Ding, da es von ihm unvermittelt negiert werden muß, Arbeit und selbständig. Durch die Mühsal der umformenden Tätigkeit beherrscht das Ding seinen servilen Bearbeiter. Der aber bleibt deshalb unselbständig. Auf das Ganze des Anerkennungs- und Bewußtseinsprozesses bezogen, erweist die Position des Knechtes sich jedoch als die ,glücklichere‘. Die Begierde des Herrn nämlich, welche im Genusse allein sich ergeht, droht zu verschwinden, im Nichts sich aufzulösen; mangelt es ihr doch an der Möglichkeit, ihre Bewegungen zu fixieren, an Widersprüchlichem zu messen und zu bewähren. „[E]s fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen“ (PG, p. 115). So geschieht es, daß ,Erstarrtes‘, ,Verdinglichtes‘, wie auch die Arbeit selbst, welche solches hervorbringt, positiv konnotiert sind. Verdinglichung – würde Hegel diesen Begriff auf seine Vorgänge anwenden – hieße hier die semantische Umkehrung Lukács‫ތ‬. Die Arbeit am Ding wird zu etwas Positivem, obgleich es um ein Negieren sich handelt. Damit das Subjekt (= Knecht) als Bleibendes wie Selbstbewußtes sich erhält und erlebt, ist es notwendig, den Gegenstand arbeitend zu ,vernichten‘. Das Ich hindert sich am eigenen ,Verschwinden‘ und ,Flüssigwerden‘ durch die veräußerte Gestaltung seiner inneren Bewegungen. Erst das ,Sich-müde-Arbeiten‘ bringt die gewünschte Selbstheit und das In-sich-Stehen als ,Belohnung‘ hervor. (Nichts könnte Hegels pietistische Herkunft schöner kenntlich machen als dies Resümee). Arbeit ist „gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formirende Thun ist zugleich die Einzelnheit oder das reine Fürsichseyn des Bewußtseyns, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also hiedurch zur Anschauung des selbständigen Seyns, als seiner selbst“ (PG, p. 115).

Im Geistigen sieht Hegel die höchste Entfaltung menschlicher Tätigkeit. Die Arbeit steht als Mittelnde zwischen Mensch und Natur. Mag ihr physischer Einsatz noch so aufwendig und ausdrücklich sein, für Hegel ist sie am Ende ein spirituelles Verrichten, ein Akt von „Vernünftigkeit“. Seine Idee des Selbstbewußtseins, resultierend aus dem dialektischen Prozeß des Sich-Entäußerns und der Zurücknahme (= Aufhebung) des selbigen, kennt keine im negativen Sinne entfremdete Arbeit. Erst Marx ist diese Entdeckung geschuldet. Dennoch weiß Hegel um die Tücken des Industriezeitalters. Mittels Werkzeug sucht sein Benutzer von der Unmittelbarkeit des Naturgeschehens sich fernzuhalten. Durch die Trägheit der Hilfsmittel aber, welche dem Menschen die Arbeit erleichtern und vermitteln, macht er sich selbst zum Ding. Von einer vollständigen Vermittlung, wie die Maschine sie leistet, hält Hegel wenig. Die Arbeit, durch ihre geistige Mittlerschaft ihm ein heiliges Gut, stünde in der

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Gefahr, der Maschine willfährig geopfert zu werden. Die geistige Entwicklung und das Selbstbewußtsein des Subjekts – eigentliches Ziel der Arbeit – würde von der zunehmenden Selbständigkeit des Dings als Maschine aufgehalten oder verunmöglicht. Die Unselbständigkeit des Bediensteten als ,Maschinen-Knecht‘ würde in einer Weise befördert, daß demselben ein Bewußtsein, welches ,an und für sich‘ ist, nicht mehr zur Anschauung käme. Der durch die Maschine hervorgebrachte Betrug des Menschen an der Natur rächt sich am Betrügenden selbst, indem dieser um seine ,geistige Mitte‘, die Arbeit, sich bringt. Wie der Mensch „die Natur durch mancherley Maschinen bearbeiten läßt, so hebt er die Nothwendigkeit seines Arbeitens nicht auf, sondern schiebt es nur hinaus, entfernt es von der Natur; und richtet sich nicht lebendig auf sie als eine lebendige, sondern es entflieht diese negative Lebendigkeit, und das Arbeiten, das ihm übrig bleibt, wird selbst maschinenmässiger; er vermindert sie nur fürs Ganze, aber nicht für den einzelnen, sondern vergrössert sie vielmehr, denn je maschinenmässiger die Arbeit wird, desto weniger Werth hat [sie], und desto mehr muß er auf diese Weise arbeiten.“16

Diesen Ausführungen Hegels folgen Marxs Überlegungen zur Entfremdung und Vergegenständlichung der Arbeit. Der Ausdruck Verdinglichung findet dort wie im gesamten Œuvre sich seltener als vielleicht erwartet. Er hat noch nicht die systematisierende Funktion, welche ihm in Geschichte und Klassenbewußtsein zukommt. Stimmig und nicht ohne Konsideration, dennoch eher zufällig, gebraucht Marx das Wort beispielsweise im Kapital: „Es ist ferner schon in der Ware eingeschlossen, und noch mehr in der Ware als Produkt des Kapitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen und die Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion, welche die ganze kapitalistische Produktionsweise charakterisiert“ (MEW 25, p. 887).

Interessant nur, daß Verdinglichung und Versubjektivierung hier in einem Zuge genannt und einander gegenübergestellt werden. Wir wollen später, bei der Interpretation von Geschichte und Klassenbewußtsein, auf diesen Antagonismus zurückkommen. Mit am deutlichsten entspricht dem später von Lukács entworfenen Verdinglichungsbegriff Marxs theoretische Auseinandersetzung mit der „entfremdeten Arbeit“ in seinen Ökonomisch-philosophische[n] Manuskripte[n] von 1844. Die Spuren ihres prominenten Vordenkers – insbesondere das ,Herr-Knecht-Kapitel‘ aus 16 G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe I (1803/04), GW 6, p. 321.

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der Phänomenologie – sind vielen Stellen leicht abzulesen. Daß jener die Aufhebung der subjektiven Veräußerung am Ding rein idealistisch, nicht aber real-historisch verstanden wissen wollte, macht Marx ihm zum Vorwurf. Das Ding und die es bedingenden wie schaffenden Verhältnisse sind keine spekulativen Setzungen, sondern zu kritisieren und zu verändern. Ihr Daß-Sein ist noch vor ihrem WasSein zu hinterfragen. Selbstbewußtsein ist nicht länger Resultat einer geistigen, sondern praktischen Aufhebung. Desgleichen trifft die Philosophie. Nicht mehr ist diese zu verstehen als affirmative Theorie des Bestehenden, als Ontotheologie (Hegel) oder Metaphysik. Vielmehr hat sie in den Dienst humanisierender Praxis sich zu stellen. Der Aufhebung exploitierender Umstände geht die der Philosophie (als Metaphysik) einher. Für Marx ist sie kritische Theorie von Gesellschaft. „Aufhebung der Philosophie ist Aufhebung der Metaphysik, negativ die Entontologisierung und Enttheologisierung, positiv die Historisierung und Humanisierung der Philosophie. An die Stelle der ontotheologischen Verfassung der Philosophie tritt der praktischhistorisch begründete Humanismus in der Philosophie.“17 Der versachlichten Verhältnisse und Beschränkung der Ich-Perspektive sich bewußtgeworden, hat das Proletariat nach Marx sich als Subjekt gesellschaftlicher Umformungsprozesse zu begreifen. Dessen vornehmste Tat sieht er in der Befreiung des Menschen von entfremdeter Arbeit und Existenz. Ursache aller Entfremdung (und somit auch der Verdinglichung) ist die Verkehrung oder: das Ding als Ware. „Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert. Dies Faktum drückt weiter nichts aus als: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“18 Lange vor der ersten Fassung des Kapital[s] ist Marx in diesem frühen Fragment von 1844 über die ,Dinghaftigkeit‘ der Ware sich im klaren. Um ihren zweischneidigen Charakter und um ihr quasi-religiöses Potential wissend, sucht er die Gründe ihrer Suggestionskraft nicht nur durch exakte ökonomische Analysen, sondern auch und gerade in ihrer Irrationalität zu finden. Dies wagt er ungeachtet seiner geringen Kenntnisse der Psychologie, die, zugegeben, als anerkannte Wissenschaft erst viel später in der Lage sein wird, derlei Beziehungen zu entschlüsseln. Ausgestattet aber mit einem guten Gespür für die Schwächen des Menschen und dessen Neigung zur Ich-Losigkeit, gelingt ihm der ,unbefugte Zutritt‘ in die Welt des Kapitals, Überbau und Hüter der verdrängten ,Wahrheit des Ganzen‘. 17 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 271. 18 K. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEW EB I, pp. [465]-588; p. 511.

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Das im Kapital beschriebene Phänomen des Fetischcharakters der Ware, Quelle für Lukács’ Theorie der Verdinglichung, hat seinen Ursprung in der religiösen Metaphorik der Ökonomisch-philosophische[n] Manuskripte, wo die ,Anleihen‘ des Ichs beim Objekt als Illusionen entlarvt werden: „Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört er nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand“ (MEW EB I, p. 512).

Dies entspricht der ersten der vier Formen entfremdeter Arbeit, welche Marx unterscheidet: das Verhältnis des Arbeiters zum Produkt seiner praktischen Tätigkeit wird von diesem als fremd erlebt, da der produzierte Gegenstand mächtiger als er selbst ihm entgegentritt. Zweitens wird die Arbeit selbst als nicht-identisch wahrgenommen. Die Art der Entäußerung läßt den Arbeitenden zu seinem inneren Wesen nicht zurückkehren. Der Akt der Produktion zerteilt den Produzierenden. Das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als einer fremden, „ihm nicht angehörigen, [...] als Leiden, die Kraft als Ohnmacht, die Zeugung als Entmannung“, nennt Marx Selbstentfremdung (MEW EB I, p. 515). Da der Mensch von der Natur lebt und diese „sein Leib“ ist, verhält er sich zu seinem eigenen Wesen als Gattungswesen, wenn er in der Bearbeitung seiner natürlichen Umwelt und im Gebrauch ihrer Ressourcen sich „bewährt“. Nach Marx gilt es den Menschen als bewußtes Gattungswesen wiederherzustellen, da er einer dritten Form von entfremdeter Arbeit unterliegt. Diese macht „das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen“ (MEW EB I, p. 517). Die letzte und vierte Konsequenz entfremdeter Arbeit sieht Marx in der beschädigten Beziehung des Menschen zum Menschen, in der Entfremdung des Menschen vom Menschen. „Was von dem Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zum Produkt seiner Arbeit und zu sich selbst, das gilt von dem Verhältnis des Menschen zum andren Menschen, wie zu der Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit des andren Menschen“ (l. c., p. 518). Wir sehen: Die (industrielle) Aneignung der Natur durch die Entäußerung des Arbeiters führt zu seiner und des Produktes Entfremdung. Entfremdung nennt Marx deshalb „wahre Einbürgerung“. Der Versuch der Wiederaneignung der produzierten Gegenstände wie der Arbeit selbst bringt jedoch ihr Gegenteil hervor: die Enteignung des Arbeiters durch den Eigentümer sowohl der Produktionsmittel als auch der Produkte. Nach der Ware decouvriert Marx das Privateigentum als Grund unbotmäßiger Zustände, später das

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Kapital wie seine Repräsentanten und Förderer. Das Übrige ist bekannt. Auf diesen Erkenntnissen wird Lukács nach deren gründlichem Studium seine Konzeption der Verdinglichung errichten. Dem Ding-Begriff und seiner Deutung widmete sich auch Martin Heidegger. Dies besonders in seiner Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/36 an der Freiburger Universität mit dem Titel Grundfragen der Metaphysik. Für die Publikation im Max Niemeyer Verlag zu Tübingen im Jahre 1962 änderte Heidegger den Titel in Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen um. Ausführliche Betrachtung erfährt der Gegenstand außerdem in seinem 1950 gehaltenen Vortrag mit dem Titel Das Ding. An Kant knüpfend verweist der Autor ebenfalls auf die Beschränkung subjektiver Erkenntnis, auf die kognitive QuasiImpermeabilität, für welche der Ding-Begriff ausdrucksstark und symbolisch gleichermaßen zu stehen pflegt. Sobald das menschliche Erkennen ein Erklären verlange, „übersteigt es nicht das Wesen von Welt, sondern es fällt unter das Wesen von Welt herab. Das menschliche Erklärenwollen langt überhaupt nicht in das Einfache der Einfalt des Weltens hin“19. Entsprechend sucht er eine ,Wesensschau‘ der ,einfachen‘ Dinge zu unternehmen: „Allein, das Entscheidende ist nun keineswegs die [...] Bedeutungsgeschichte der Wörter res, Ding, causa, cosa und chose, thing, sondern etwas ganz anderes und bisher überhaupt noch nicht Bedachtes. Das römische Wort res nennt das, was den Menschen in irgendeiner Weise angeht. Das Angehende ist das Reale der res. Die realitas der res wird römisch erfahren als der Angang. Aber: die Römer haben ihr so Erfahrenes niemals eigens in seinem Wesen gedacht.“20

Der Angang sei als Wesen des Anwesenden verschüttet geblieben. Ebenso sei es dem germanischen Synonym von res, dinc, ergangen. Dinc hieße jegliches, was irgendwie sei. „Weil das Wort Ding im Sprachgebrauch der abendländischen Metaphysik das nennt, was überhaupt und irgendwie etwas ist, deshalb ändert sich die Bedeutung des Namens ,Ding‘ entsprechend der Auslegung dessen, was ist, d. h. des Seienden. Kant spricht in der gleichen Weise wie der Meister Eckhart von den Dingen und meint mit diesem Namen etwas, das ist. Aber für Kant wird das, was ist, zum Gegenstand des Vorstellens, das im Selbstbewußtsein des menschlichen Ich abläuft.“21 19 M. Heidegger: „Das Ding“, p. 181. 20 M. Heidegger: „Das Ding“, p. 177. 21 M. Heidegger: „Das Ding“, p. 178.

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Zur Verdeutlichung dieser seiner Überlegungen führt Heidegger das Beispiel vom Krug an: „Der Krug ist ein Ding weder im Sinne der römisch gemeinten res, noch im Sinne des mittelalterlich vorgestellten ens, noch gar im Sinne des neuzeitlich vorgestellten Gegenstandes. Der Krug ist Ding, insofern er dingt. Aus dem Dingen des Dinges ereignet sich und bestimmt sich auch erst das Anwesen des Anwesenden von der Art des Kruges.“22

Verdinglichung würde nach der durch Heidegger erweiterten Interpretation bedeuten: etwas oder jemanden in einen Zustand zu versetzen, in dem es oder er real ist, das heißt ,anwest‘. Es oder er wird von seinem ursprünglichen in einen anderen Stand, d. i. Zu-Stand, gesetzt, gleichsam verwandelt. Ein Ding ist etwas, das als bereits Verwandeltes noch benannt werden muß, eine ,Angelegenheit‘, die da, aber noch unbestimmt und daher ungelegen ist. Daß sie ist, das heißt im Raum steht, wird nicht bezweifelt; was sie jedoch ist, muß ihr noch zugewiesen werden. Es ist eine ,Sache‘ ohne Bestimmung, welche ihrer früheren Wesenheit ,beraubt‘ wurde. Das Ding ,geht etwas an‘, weil es von einer ,anzugehenden Angelegenheit‘ kündet. Es ist etwas, dessen Nähe und wahre Anwesenheit noch gefunden werden muß. Dann erst „dingt das Ding“. In enger Lehnung an Kant und Freud – auch Heidegger – genießt der DingBegriff bei Jacques Lacan zentrale Funktion und Verwendung. Psychoanalytisch wie strukturalistisch erweitert, hilft er uns, die Vorteile seiner Andersartigkeit wie seines Andersklingens zu schätzen. Wie bei einer Vielzahl ausländischer Autoren, wird der Ausdruck Ding unübersetzt gelassen, da im eigenen Idiom es an Alternativen mangelt. Die von Adorno (und Heidegger) gerühmte Wahlverwandtschaft zwischen Philosophie und deutscher Sprache wird hier augenscheinlich. Sache wäre im Französischen la chose, was Ding jedoch nicht entspräche. Bei Lacan ist la chose ein „Produkt der Betriebsamkeit oder des menschlichen Handelns als eines durch Sprache regierten. So implizit sie auch sein mögen in der Genese dieses Handelns, die Sachen sind stets an der Oberfläche, stets verfügbar, um explizit gemacht zu werden.“23 Das Bewußtsein, welches in der Sprache sich ausdrückt, bezieht sich auf la chose. „Sache und Wort sind also fest aneinander gebunden, bilden ein Paar. Das Ding hat seinen Ort anderswo.“24 Es ist der Bezugspunkt des Unbewußten, die ,zweite Natur‘ der Sache wie des Menschen. Es ist ,Neben-Sache‘ und ,NebenMensch‘. Neben- ist nicht zu verstehen als weniger wichtig oder unwichtig, sondern 22 M. Heidegger: „Das Ding“, p. 179. 23 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, p. 59. 24 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, p. 59.

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in dem Sinne, daß es anderswo zu suchen ist als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Das Ding ist nicht nur Objekt des Verkennens, sondern sogar die Verkennung (la méconnaissance) selbst. Es steht für das, was wir unbewußt begehren, aber nicht als solches wahrnehmen (wollen). Das Hindernis – oder vielmehr: der Widerstand – liegt irgendwo auf dem Weg zwischen Unbewußtem und Bewußtsein. Das Ding ist „das Geheimnis des Realitätsprinzips“25, die Differenz zwischen Ich und Objekt, zwischen innerem Erleben und Realität. Da wir meist eins für das andere halten, kommt es zum permanenten erkenntnispraktischen Mißverständnis, eben zur méconnaissance. Das Ding ist Teil einer unbewußt erzeugten Vermeidungsstrategie: das selbstauferlegte Verbot, Begehrtes zu erreichen, gehegte Wünsche durch Verwirklichung zu erfüllen. „Das Ding als Fremdes, gelegentlich sogar Feindliches, jedenfalls als das erste Außen, ist das, woran sich der ganze Weg des Subjekts orientiert. Es ist ohne Zweifel ein Weg der Kontrolle, der Referenz, im Verhältnis wozu? – zur Welt seiner Begehren. So verschafft es sich den Beweis, daß überhaupt etwas da ist, das ihm in einem bestimmten Grad dienlich sein kann. Dienlich zu was? – zu nichts anderem als zu einer Bezugnahme auf jene Welt von Wünschen und Erwartung, orientiert auf das, was bei Gelegenheit dazu dienen wird, an das Ding zu gelangen.“26

Es symbolisiert die Sehnsucht, etwas zu finden, das verloren, aber dazu verurteilt ist, nicht wiedergefunden zu werden. Es verharrt im Zustand ewiger Erwartung. „Gesucht wird das Objekt, in bezug auf welches das Lustprinzip funktioniert.“27 Dies ist für Lacan zugleich die Grundlage des menschlichen Sublimationsvermögens. Sublimation entsteht aus affektiver Substitution. Ihre Besonderheit: nicht das, was da ist oder sein könnte, sondern, das, was nicht da ist, nicht erreicht werden kann oder will, weckt das Verlangen. Unverkennbar zeigt hier sich des Verfassers Nähe zu dem, was Marx den Fetischcharakter der Ware nennt. Letztere wird zum Stellvertreter unbewußter, nicht gelebter Wünsche, welche in Wahrheit ein ganz anderes Objekt zum Ziel haben. Das Ding bezeichnet nicht nur die ,zweite Natur‘ des anwesenden Gegenstandes, sondern repräsentiert auch und vor allem dessen Abwesenheit, das, anstelle dessen es da ist, ,Platzhalter‘ sein will. Die Absence erst läßt den Mangel zum Vorschein kommen. Das Ding steht für das, was wir nur vermittelt ertragen, weil alles Unvermittelte eine Konfrontation wäre, die dem Subjekt eine Zumutung bedeutet. Das physische Bedürfnis des Hungers – und vor allem 25 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, p. 59. 26 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, p. 67. 27 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, p. 67.

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seine Sättigung als Kompensationsleistung – vermag andere Mängel (nach Zuneigung beispielsweise) auszudrücken. Essen = Ding = Abwesenheit. Aus der klinischen Praxis wissen wir, daß die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung auch destruktiv, etwa als Anorexie oder Bulimie, ausagiert und ,befriedigt‘ wird. Leiden wird dann als Lust erlebt. Lust = Unlust. Was De Sade nur ahnte, wurde der Psychologie zur Gewißheit. Das Gegenüber und die an ihm vorzunehmende Befriedigung sind gleichermaßen ambivalent. Subjekt und Objekt, durch Begehren identisch, stehen im Wissen um sich weit auseinander. Ein Ding ist nach Lacan das zu nennen, welches das Ich um seine Wahrheit betrügt. Differenz nämlich besteht auch zwischen dem präreflexiven Ich (je) und seinem reflektierten Selbst (moi). Sogar die Reflexion des je im moi, auf welche die Psychoanalyse immer angewiesen sein wird, ist geradewegs dazu verurteilt, den Kern des Ichs, das sujet véritable, zu verfehlen; denn die Sprache ist wieder Vermittlung, ein aus Symbolen bestehender Aufschub auf dem Weg zur Subjektivität. „Auf diesen fundamentalen Entzug von Welt und Selbst reagiert das, was Lacan ,le désir‘ nennt. ,Le désir‘, das Hegelsche ,Begehren‘, der Freudsche ,Wunsch‘, ist die Antwort des Menschen auf die Einführung in die Ordnung der bloßen Symbole und Repräsentanten voller Realitäten; die Reaktion auf sein ständiges Unbefriedigtsein und seine unendliche Sehnsucht. Dem Begehren ist also ein Gefühl des Nichthabens, eines Mangels eingewebt; und dieser Mangel scheint ein wesentlicher Charakter der symbolischen oder der intersubjektiven Ordnung des Sprechens zu sein.“28

Dennoch hält Lacan an der Existenz und Bedeutung des Subjekts fest und läßt es nicht in der symbolischen Ordnung sich gänzlich auflösen oder untergehen. Frank teilt diese Auffassung: „[E]s wäre nicht übertrieben zu sagen, daß das Problem der Wahrheit des Subjekts den Kern seiner [Lacans] Überlegungen ausmacht.“29 Was wir von Lacan und dem hier von ihm Mitgeteilten lernen können, ist die Tatsache der ungeahnten Fragilität der Subjekt-Substanz. Sie gründet in der Abhängigkeit des Ichs von der symbolischen Ordnung der Sprache. Da nach Marx das Sein das Bewußtsein figuriert, finden die jeweiligen Produktionsverhältnisse ihren Niederschlag auch in der Sprache. Einmal vom Prozeß der Verdinglichung erfaßt, ist die bereits unter ,normalen‘ lingualen Strukturbedingungen schwer zu leistende Adäquation zwischen je und moi – Voraussetzung einer gelingenden Subjektwerdung – zusätzlich behindert, wenn nicht unmöglich geworden. Mit Lacan wird sowohl die kryptische Dimension expliziert, welche einer gewöhnlichen Sache die ,Würde‘ ei28 M. Frank: Was ist Neostrukturalismus?, p. 385. 29 M. Frank: Was ist Neostrukturalismus?, p. 392 sq.

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nes Dings verleiht, als auch der Zusammenhang von Verdinglichung und Sprache offenbart. Die genaue Bestimmung des Begriffs Verdinglichung ist letztlich aus seiner Geschichte zu deduzieren, weniger als deren Summe denn als deren Totalisierung. Lukács’ Studie elaboriert ein Paradigma der Moderne. Darin liegt ihre Aktualität. Solange wir uns – dem Prinzip nach – in den gleichen oder ähnlichen Produktionsverhältnissen wiederfinden wie in der Zeit ihrer Entstehung, und solange bonne mine à mauvais jeu statt kritischer Auswertung dominiert, verlieren Analyse und Konzept der Verdinglichung nicht an Validität. „Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel der Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschine sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen.“30

Mit Hegel ist zu bedenken, daß die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Abenddämmerung beginnt. Unsere Epoche, vorrangig geprägt durch kapitalistische Wirtschaftsweise, fern aller Identität, ist noch nicht an ihr Ende gelangt, als Gestalt des Lebens alt geworden. Von einem Paradigmenwechsel kann keine Rede sein. Aus diesem Grunde ist die Verdinglichung, ungeachtet aller Momente ihres Abklingens, nie vollständig aus dem Fokus philosophischer Bemühungen herausgetreten.

3. F ORSCHUNGSÜBERSICHT Die Leistungen früherer Autoren, welche mit Lukács’ Verdinglichung und Schellings Naturphilosophie sich beschäftigten, sollen nicht übergangen werden. Von ihrer Arbeit hängt unser Fortkommen ab. Eine wissenschaftliche Literaturumschau mit dem Anspruch auf Vollständigkeit würde jedoch eine eigene Studie beanspruchen. Es soll uns deshalb genügen, sie umrißhaft zu skizzieren. Schellings Philosophie wurde bislang und seit Bloch nicht mehr auf ihr Vermögen hin, das Verdinglichungsproblem überwinden zu können, ausgeleuchtet. Wir betreten ein weitgehend unbearbeitetes Feld. Die für unsere Studie nötigen Vor30 T. W. Adorno: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie, p. 157.

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kenntnisse ruhen in erster Linie auf der gründlichen Schelling-Forschung von Dieter Henrich und Manfred Frank. Die Kontinuität der Bloch-Forschung ist vor allem durch den jährlich erscheinenden Bloch-Almanach, Periodikum des Ernst-BlochArchivs der Stadt Ludwigshafen am Rhein, durch das Bloch-Jahrbuch, herausgegeben von der Ernst-Bloch-Gesellschaft, durch VorSchein, dem Blatt der Ernst-BlochAssoziation sowie durch die Münchener Reihe Aktuelle Bloch-Studien, ediert von Rainer E. Zimmermann, gewährleistet. Alle vier vereinen eine breite Beitragsfülle auf hohem Niveau. Habent sua fata libelli. Die Wirkungsgeschichte von Lukács’ Aufsatz ist von Konjunktur und Verschüttung gleichermaßen skandiert. Nach der frühen Verurteilung unter Lenin31 war dem orthodoxen Marxismus der Stalin- und ChrustschowÄra es nicht möglich, Geschichte und Klassenbewußtsein positiv zu erwähnen. Erst recht nicht nach der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 (Lukács war Minister für Volksbildung in der Reformregierung von Imre Nagy. In Folge der Zerschlagung des Aufstandes wurde er nach Rumänien deportiert, von wo er 1957 zurückkehren durfte32). Sein latenter Einfluß aber war auch im Osten nicht aufzuhalten.33 Die westliche Rezeption verlief ebenso periodisch wie akademisch. Die französische Existenzphilosophie, als sie begann, mit marxistischer Philosophie sich zu vermengen, ermöglichte die Aufnahme und Fortführung der Reifikationstheorie. Genannt seien vor allem Maurice Merleau-Ponty (Les aventures de la dialectique, 1955), Lucien Goldmann (Recherches dialectiques, 1959) und Jean-Paul Sartre (Critique de la raison dialectique, 1960). Der Nachweis einer Bearbeitung der Thematik durch die ,Frankfurter Schule‘ erübrigt sich. Adorno verwendet den Ausdruck Verdinglichung nur selten. Seine philosophischen Schriften (v. a. Dialektik der Aufklärung, 1944 und Negative Dialektik, 1966) jedoch besetzen und entfalten dessen Inhalte im vom Urheber gewünschten Sinne. „Ohne ,Geschichte und Klassenbewußtsein‘ wäre die Kritische Theorie undenkbar.“34 Weiter gilt es Jürgen Habermas und seine Theorie des kommunikativen Handelns (1981) zu erwähnen. Die Lösung der Sphäre gemeinschaftlicher Arbeit aus dem Kontext „kommunikativen Handelns“ – so daß sie in gesellschaftliche Arbeit 31 Cf. Geschichte und Klassenbewußtsein heute, cap. II: „Stellungnahmen des Kommunismus“, pp. 63-162. 32 Cf. R. Dannemann: Georg Lukács, p. 163. 33 So kam es in der Sowjetunion beispielsweise zu einer wohlwollenden Auseinandersetzung mit Kantischer Moralphilosophie; cf. cap. „Ethik/Neukantianer“ in: I. Fetscher: Der Marxismus, pp. 235-265, et M. Mayer: „Aktualität und Kritik marxistischer Ethik“. 34 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 173.

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sich verwandelt – erkennt er als gefährlichste Folge der Industrialisierung. Die zunehmende Scheidung von kommunikativ strukturierter Lebenswelt und formal organisierter Handlungssysteme bildet den Grundgedanken seiner Kritik. Die Systemintegration des Menschen führe zur vollständigen Versachlichung der Verhältnisse. Die Mechanismen und Formalien des Systemischen „gerinnen“, so Habermas, „zur zweiten Natur normfreier Sozialität, die als etwas in der objektiven Welt, als ein versachlichter Lebenszusammenhang begegnen kann. Die Entkopplung von System und Lebenswelt spiegelt sich innerhalb moderner Lebenswelten zunächst als Versachlichung: das Gesellschaftssystem sprengt definitiv den lebensweltlichen Horizont, entzieht sich dem Vorverständnis der kommunikativen Alltagspraxis und ist nur noch dem kontraintuitiven Wissen der seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Sozialwissenschaften zugänglich.“35

Unschwer geben diese Ausführungen – ungeachtet der politischen und sozialen Veränderungen – das Verdinglichungstheorem in seiner Definition von 1923 als Vorwissen und Grundlage zu erkennen. Habermas sucht dies auch nicht zu verbergen. Das vierte Kapitel (vol. 1), „Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung“, widmet er der – wenn auch nicht kritiklosen – Rezeption von Geschichte und Klassenbewußtsein. Sein Lamento über den Verlust von Normen und Werten, welcher durch das „entsprachlichte Medium des Tauschwertes“, das Geld, befördert würde, mündet im offenen Bekenntnis zur Valenz Lukácsscher Thesen: „Wir werden sehen, daß auch für die Systemtheorie Geld als dasjenige Modell dienen wird, an dem sie den Begriff des Steuerungsmediums entwickelt. Die Medientheorie wird auf undramatische Weise den von Lukács herausgearbeiteten Doppelaspekt von Verdinglichung und Rationalisierung in ihre Begriffe aufnehmen. Auch hier wird die Umstellung der Handlungsorientierung von der sprachlichen Kommunikation auf das Geldmedium einen ,Wechsel im Charakter der Freiheit‘ bedeuten: in einem drastisch erweiterten Horizont von Wahlmöglichkeiten entsteht eine von Konsensbildungsprozessen unabhängige Automatik der wechselseitigen Konditionierung durch Offerten.“36

Lukács selbst gelang es in den sechziger Jahren, einen Kreis von Adepten, welche die Fortführung seines Œuvres ihm in Aussicht stellten, zu versammeln. Neben György Márkus, Mihály Vajda und Ferenc Fehér tritt besonders Agnes Heller hervor. Vom späten Autor inspiriert, sieht sie den einzelnen Proletarier nicht mehr nur als Repräsentanten seiner Produktivkraft am Arbeitsplatz, sondern in dessen erweiter35 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, vol. 2, p. 258. 36 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, vol. 1, p. 480.

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tem Praxisumfeld: dem Alltagsleben. Die Gesellschaft als Ganzes könne nur dann durch den Einzelnen „reproduziert“ werden, wenn der Einzelne sich selbst als solcher zu „reproduzieren“ vermag. „Jedoch kommt die Reproduktion der Gesellschaft nicht spontan durch die Selbstreproduktion des Einzelnen zustande. Der Mensch vermag sich nur zu reproduzieren, indem er seine gesellschaftliche Funktion erfüllt: die Selbstreproduktion wird zu einem Moment der gesellschaftlichen Reproduktion. Das Alltagsleben der Menschen vermittelt daher auf der Ebene des Einzelnen ein Bild von der Reproduktion der jeweiligen Gesellschaft – der Schichten dieser Gesellschaft im allgemeinen; es vermittelt ein Bild einerseits von Vergesellschaftung der Natur, andererseits von dem Grad und der Weise ihrer Humanisierung.“37

Immer geht es um die Herausbildung von Bewußtsein und Subjektivität unter entfremdeten Verhältnissen. Deren polarisierendes Vermögen will Heller aufgebrochen wissen durch eine veränderte analytische Perspektive. Einseitige Sichtweisen erfahren dimensionale Erweiterungen. Nicht mehr – wie in Geschichte und Klassenbewußtsein es geschieht – stellt sie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse einander gegenüber, sondern dringt tiefer in deren komplexe Sphären und Vernetzungen ein. Praxis vollzieht nicht allein sich am Arbeitsplatz – als reine Produktion von Waren, deren Bestimmung im Tausch und in der Rückverdinglichung ihrer Erzeuger liegt –, sondern auch in der gesamten Breite alltäglicher Verrichtungen und ihrer ,Reproduktionsmöglichkeiten‘. Praxis bezieht nicht mehr sich nur auf die revolutionäre Tathandlung. In der Differenziertheit des Alltäglichen soll nun die Herausforderung marxistischer Analytik bestehen. Diese Erkenntnis ist weder neu noch stammt sie von Heller. Sie entspringt einer bestimmten Destination der französischen Soziologie und Philosophie, kulminierend in den Arbeiten von Lefebvre (Critique de la vie quotidienne) und Sartre (Critique de la raison dialectique). Nach einem Begriff aus Lukács’ reiferem Schaffen bezeichnet seine Schülerin die ,Abdrükke‘, welche Handlungen in Alltagsstrukturen hinterlassen, als Objektivationen. Die Trägheit derselben schütze den Einzelnen vor Entfremdung ebenso wie sie ihn mitforme und beschweren könne. Sie gelten als individualisierend sowie sinn- und identitätsstiftend. Hellers Theorie ist eine „Kritik des Alltagslebens und zugleich eine Polemik gegen die Vorstellung von der notwendigen Entfremdung des Alltagslebens. [...] [I]m ,ontologischen‘ Sinn ist [sie] ,eine Kritik des Alltagslebens der Klassengesellschaften, des Privateigentums, der Arbeitsteilung‘, gerade weil sie sich weigert, prinzipielle Strukturen der Alltäglichkeit als abschaffbar zu deklarieren. 37 A. Heller: Das Alltagsleben, p. 25.

30 | O BJEKT -S UBJEKT Wichtiger noch ist, daß aus dem Charakter der Theorie des Alltagslebens folgt, daß keine absolute Entfremdung existiert. Die Unaufhebbarkeit der Identitätsbildung gewährleistet, daß Verdinglichung und Unterdrückung von Subjektivität nur umformende Kräfte sind, die aber nicht zu einem hermetischen Kontinuum von Repression totalisiert werden dürfen. Gerade dies war einer der wesentlichen Fehler der politischen und geschichtsphilosophischen Konstruktion von Geschichte und Klassenbewußtsein.“38

Bei Heller münden diese Einsichten in den Versuch, das Problem von Entfremdung und Verdinglichung moralphilosophisch zu betrachten. Es ist die konsequente Ausarbeitung der von Lukács angestoßenen Idee einer ,Substanz- oder Gattungsethik‘. Die Verdinglichung allein kann nach Heller nicht mehr Auslöser und Motor für die Bildung eines Klassenbewußtseins sein. Nur aus individueller Alltagserfahrung heraus seien Bewußtseinsentstehungen wie –wandlungen möglich. Um das vollkommene ,Gattungswesen‘ Mensch zu verwirklichen, bedürfe es der Ausrichtung aller an einer ,Gattungsethik‘. Allein auf diesem Wege seien die Klassenunterschiede langfristig zu überwinden. Das Konzept der Verdinglichung findet in der ,Budapester Schule‘, welche die Spätphilosophie ihres Lehrers, insbesondere dessen ,Gesellschaftsontologie‘, fortzuführen sich verpflichtet sah, durchaus Nachfolge und Verwendung. Es erfährt jedoch gegenüber seinem ursprünglichen Anliegen eine kaum übersehbare Defirmation. Von Modifizierung kann keine Rede sein. Bis zur Unkenntlichkeit reformiert, seiner provozierenden Kräfte beraubt, führt bei Lukács’ ,Erben‘ es ein Dasein ohne Bedeutung für die „Front des Weltprozesses“ (Bloch). Auch Rüdiger Dannemann zeigt 1987 in seiner Dissertation Das Prinzip Verdinglichung sich bemüht, Lukács’ Theorie durch Subtraktion ,geschichtlich belasteter‘ Überhänge zu retten: „Erst die [...] Abkehr vom Etikett des Hegelmarxismus ermöglich[t] die Chance für eine Diskussion der Aktualisierbarkeit“39, welche der Verfasser im Anschluß an die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas zu sehen meint. Diese zeige, „daß die immer wieder beschworene Evolution des westlichen Marxismus (der kritischen Gesellschaftstheorie) zur kommunikationstheoretischen Wende kein pures Kapitel aus der Geschichte des Fortschritts darstellt. Der Weg von Lukács zu Habermas muß vielleicht doch einmal über Habermas hinaus zu Lukács führen, freilich unter Bezugnahme auch auf dessen Spätwerk, das m. E. kein ,Fiasko‘ (A. Heller) darstellt. Lukács verkörpert eine zum Teil durchaus fortsetzbare Anverwandlung eines Erbes, das bei Habermas und seiner Schule nicht

38 H. Joas: „Einleitung“ zu A. Heller: Das Alltagsleben, pp. 7-[23]; p. 14. 39 R. Dannemann: Das Prinzip Verdinglichung, p. 24.

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mehr präsent zu sein scheint: ich meine das klassisch-romantische Erbe, das in Schillers ästhetischen Schriften, in Goethes Persönlichkeitsideal [...] ausgemacht werden kann.“40

Dannemanns Verdienst geht dahin, das Werk des Ungarn als kohärentes Ganzes zu betrachten, von den üblichen Rubrizierungen abzusehen und die verschiedenen Perioden seines Schaffens logisch zu verknüpfen, statt sie voneinander zu trennen und den Autor damit von früher Verfaßtem innerlich abzuschneiden. Den Begriff der Verdinglichung entdeckt er dabei als ,roten Faden‘ und durchhaltendes Prinzip. Eberhard Braun, von 1971 bis 1974 Assistent bei Ernst Bloch in Tübingen, erörtert Lukács’ Verdinglichungskonzeption in einem Kapitel seiner Habilitationsschrift „Aufhebung der Philosophie“. Karl Marx und die Folgen (1979, publ. 1992). Durch gründliche Betrachtung gelingt es ihm, Besonderheiten und Schwachstellen zu destillieren. Lukács’ Konstruktion des identischen Subjekt-Objekts trage „idealistische Züge“ – so sein Hauptvorwurf. Jener fasse die Geschichte als „einheitlichen Prozeß“ auf, welcher im Proletariat als dessen Subjekt-Objekt sich offenbare. „Das Subjekt, das den Prozeß erzeugt, steht unter der Herrschaft der Identität. Das identische Subjekt-Objekt, die Tathandlung des Proletariats, hat das metaphysische Subjekt-Objekt zum Vorbild, Hegel nennt es den Weltgeist. Geschichte ist für Lukács Universalgeschichte, die im Proletariat bewußt wird. Marx dagegen behauptet: ,Weltgeschichte existierte nicht immer; die Geschichte als Weltgeschichte ist Resultat‘. Marx geht aus vom realen Zusammenhang unter den Menschen, nicht nur vom a priori konstruierten. Der Zusammenhang im Weltmaßstab aber ist ein Produkt der kapitalistischen Produktion: der Weltmarkt als universeller Verkehr kapitalistischer Warenproduzenten. Ihm kann das Proletariat nur auf universelle Weise begegnen, mit der Revolution im Weltmaßstab. Ihr Resultat, die weltweite klassenlose Gesellschaft, wäre dann die bewußte Praxis der weltgeschichtlich produzierten Weltgemeinschaft.“41

Der Identitätsgedanke, auf den Braun aufmerksam macht, ist insofern wesentlich, als dieser auch in Schellings Naturphilosophie eine konstituierende Rolle spielt. Wir werden später, bei der Untersuchung der Schellingschen Schriften, uns darum bemühen, zu prüfen, ob über den ,idealistischen Ansatz‘, welcher die Subjekt-Objekt-Identität zum Ausgang nimmt, nicht doch etwas gegen das Verdinglichungsproblem zu gewinnen ist. Braun decouvriert nicht nur die streng Hegelsche Provenienz von Lukács’ Denken, sondern auch den neukantianischen Charakter, welcher hinter dessen unbedingtem Willen zur Moral sich verbirgt. Seine Auffassung von Totalität 40 R. Dannemann: Das Prinzip Verdinglichung, p. 24 sq. 41 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 178.

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sei wie ein allgemeines Gesetz, in das er eine „voluntaristisch-revolutionäre Ethik“ hineinkonstruiere. Das „Bewegungsgesetz“ von Geschichte und Kapital bildet den Rahmen, in welchem der ,kategorische Imperativ‘ sich entfalten könne: Hegel und Marx als theoretische Garanten Kantischer Deontologie. Reinhard Brunner, u. a. Schüler von Eberhard Braun, sieht 1994 in seiner Promotionsschrift Die Fragmentierung der Vernunft die Fortsetzung der Lukácsschen Verdinglichungstheorie in der Rationalitätskritik des 20. Jahrhunderts. Als solche manifestiere sie sich sowohl bei Adorno und Sohn-Rethel als auch bei Sprachanalytikern wie Derrida und Castoriadis. Beginn dieser ,Tradition‘ wie gemeinsamer Ausgangspunkt sei Marxs Kritik der „Herrschaft gesellschaftlicher Abstraktionen“. Diese begründe die Erhebung der ,verdinglichten Rationalität‘ und der ,rationalisierten Verdinglichung‘ zum Gegenstand ihrer philosophischen Bemühungen. „Die Kritik der Verdinglichungen des gesellschaftlichen Lebens ist zugleich Kritik der in ihr sedimentierten Rationalität, und umgekehrt ist die Kritik einer bestimmten Form des Denkens, das den sozialen Beziehungen der Menschen nicht angemessen ist, zugleich Kritik einer institutionellen Praxis.“42 Der Autor mag recht haben, wenn das Ziel der Verdinglichungskritik bei den von ihm untersuchten Theoretikern eine gewisse Verschiebung in Richtung Systemrationalität erfährt. Geschichtliche Praxis und Klassenbewußtsein, bei Lukács eine gleichursprüngliche Verbindung, werden getrennt und scheinen aus dem Blick der Analyse geraten zu sein. Dies ändert sich jedoch wieder mit den philosophischen Untersuchungen der jüngsten Vergangenheit. So bei Peter Sloterdijk, welcher durch seine kulturphilosophischen Betrachtungen ebenfalls als Connaisseur der Thematik sich zu erkennen gibt. Sein dreibändiges Werk Sphären (1998-2004) sucht das Phänomen zu erschließen, daß der Mensch seine Beziehung zum Anderen sphärenhaft gestaltet und ausagiert. Was bedeutet das? Es geht um die Frage, warum wir unsere Lebens- und Arbeitswelt, welche längst dem gleichen System angehören, freiwillig unter die ,Obhut‘ von Begriff und Praxis der Globalisierung stellen. Um dies zu beantworten, spürt er dem ,Unterirdischen‘ der zwischenmenschlichen Verhältnisse nach. Dazu bedient er sich eines Psychologismus eigener Art, ohne die Methoden der Psychologie oder der Psychoanalyse zu verwenden – ein zweifellos paradoxales, doch nicht fruchtloses Unterfangen. Sein Versuch fällt kritisch, nicht jedoch marxistisch aus. Wenn überhaupt eine schulische Nähe auffällig wird, dann jene zum Frankfurter Institut für Sozialforschung. Wie Lefebvre und Heller das Alltagsleben oder Sartre die fusionierende Gruppe als kleinere Einheiten von Klassen entdecken und auf deren genauere Untersuchung sich konzentrieren, hält Sloterdijk – im übrigen wie Bloch – 42 R. Brunner: Die Fragmentierung der Vernunft, p. 12.

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den Begriff der Sphären für angemessen, um Konflikt- wie Harmoniesucht im menschlichen Miteinander begreifen zu können. Er versteht Gesellschaft als ,Formgeschäft‘ und ,Gestaltungsereignis‘, als „morphologischen“ Prozeß unter „amorphen“ Bedingungen, für welche er die Postmoderne zur Verantwortung zieht. Was ist gemeint? Weniger Subjekt und Objekt je für sich, in ihren verschiedenen Eigenschaften interessieren Sloterdijk, sondern der Zwischenraum, welcher sie trennt und identifiziert. Dessen Analyse verspricht dem Verfasser Rückbezüge auf das wahre Verhältnis beider zu ermöglichen. Die ,Zone‘ zwischen Subjekt und Objekt nennt er eine „beseelte Sphäre“. Jede Sphärenbildung sei eine „Innenraumschöpfung“. Sie beginne beispielhaft wie entscheidend mit der Mutter-Kind-Dyade. Von ihr aus induziert Sloterdijk allerlei geschichtlich und kulturell sich entwickelnde Nähebeziehungen bis hin zu politischen Einheiten als Nationalstaaten, welche er als „ethnosphärische Erregungsbehälter“ demaskiert. Der Ausformung jedes Innenraums inhäriert eine „Übertragungsliebe zum Ganzen“, welche in der archaischen Gestalt von Kugel (griech. ıijĮ૙ʌĮ, lat. globus) und Kreis ihre Holizität, das heißt ihren durch Geometrie symbolisch eingeholten Vollkommenheitsanspruch, ausdrückt. Hinter der öffentlichen Sehnsucht nach formaler Perfektion verberge sich der intime Wunsch nach seelischer Geborgenheit. Die Bildung des Globus zum Globus erhält so ihre konsequente Bezeichnung als Globalisierung. Sie ist die bis zu diesem Moment größtmögliche ,geometrische Einheit‘ des Industriezeitalters, der „Weltinnenraum des Kapitals“. Sloterdijks ,Phänomenologie der Sphären‘ als ,Formgeschichten menschlicher Näheverhältnisse‘ erkennt es als bleibendes Problem, daß das ,Mitsein‘ im Innenraum nicht unbedingt solidarische Anhänglichkeit bedeutet. Im Gegenteil: je ,dichter‫ ދ‬der Globus, desto häufiger das Ausbleiben von ,Raumsolidarität‘. Dies nennt er „Sphären-Pathologie“43. „Für die sphärenschwachen Privatpersonen wird ihre Lebensspanne zu einem selbstgestalteten Vollzug von Einzelhaft; ausdehnungslose, aktionsblasse, an Teilhaben arme Iche starren durchs Medienfenster in bewegte Bildlandschaften hinaus. Für die akuten Massenkulturen ist es typisch, daß die bewegten Bilder um vieles lebendiger geworden sind als die meisten unter ihren Betrachtern: Wiederholung des Animismus auf der Höhe der Modernität.“44

Die „Neutralisierung der Abstände“ vergifte die intersubjektiven Beziehungen, welche der natürlichen Distanz als Schutzschild im ,Warenaustauschcontainer‘ der ,Weltgemeinschaft‘ bedürften. Der Autor beklagt, daß der Raum nach dem Ende der

43 P. Sloterdijk: Sphären I, p. 74. 44 P. Sloterdijk: Sphären I, p. 74.

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Entdeckungsreisen zum Zwecke geographischer Vermessung und wirtschaftlicher Ausbeutung zu einer ignorierbaren Größe geworden sei. „Als Distanz und Barriere war er in der Praxis besiegt, in der Theorie als Herrendimension verpönt, als Träger von Verkehr und Kommunikation zum stummen Hintergrund geworden, in ideologiekritischer Sicht war er als Sitz der Verdinglichung übel beleumdet. Aus der Perspektive derer, die Nachfrage nach Schnelligkeit anmeldeten, war nur ein toter Raum ein guter Raum; seine erste Tugend bestand in dem Vermögen, sich unfühlbar zu machen.“45

Für ihr ,gutes Gelingen‘ prämittieren Verdinglichungsprozesse auch nach Sloterdijk Ich-schwache ,Nichtpersönlichkeiten‘ als Gegenüber. Deren Labilität und Hang zur „Identifikation mit dem Angreifer“ (Adorno) lassen sie zu willfährigen Mitläufern werden. Je passiver der ,Akteur‘, desto aktiver das System. Wie Bloch Schelling, konsultiert Sloterdijk Fichte, um zu erfassen, was zu verstehen auch der Deutsche Idealismus nicht vermochte: „warum so viele Menschen ohne erkennbare Not unter ihren Möglichkeiten bleiben und wie es zugeht, daß Unzählige es nicht zu einer inneren Zündung bringen. Fichte wies nach, daß auf dem Grund jedes unentschiedenen und trivialen Daseins ein elementarer Denkfehler begangen wird, ein Fehler, zäh und unbelehrbar wie das entfremdete Leben, entsprungen aus jener unwiderlegbaren Neigung der Subjekte, ihre ursprüngliche Selbsttätigkeit und Produktivität zu vergessen und sich als Dinge unter Dingen, folglich als Opfer äußerer Mächte aufzufassen. Nicht bekannt genug ist Fichtes Wort, die meisten Menschen würden eher dahin zu bringen sein, sich selbst ,für ein Stück Lava vom Monde als für ein Ich zu halten‘ – ein Satz, der den Operationsmodus des vulgärontologischen Denkens namhaft macht: Er beschreibt die unheilige Allianz von Selbstverdinglichung und Selbsterniedrigung, die vom Naturalismus besiegelt und von der Eitelkeit verschönert wird.“46

Des Autors Vorschläge allerdings, wie denn das Individuum aus seinem globalen Nähe-Dilemma zu befreien sein könnte, fallen nüchtern aus. Die Seelen der Individuen sollen „mit den Weltformen wachsen“47. Mit der tugendethischen Empfehlung zu Aristotelischer ,Seelengröße‘, welche proportional zu der des ausdehnten Raumes sich zu steigern habe, schließt Sloterdijk seine „philosophische Theorie der Globalisierung“. Darin drückt die entscheidende Differenz zu Lukács sich aus: Verdinglichung ist nicht mehr mittels Selbstbewußtsein zu bewältigen, von revolutionä45 P. Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, p. 394. 46 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, p. 65 sq. 47 P. Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, p. 414 sq.

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rer Praxis ganz zu schweigen, sondern durch die psychische Potenz zur ,Raumbewältigung‘. Axel Honneths Bemühungen ist es zu danken, daß die Verdinglichung durch seinen gleichnamigen Buchtitel (2005) wieder jüngste Beachtung erlangt. Desgleichen gilt für den internationalen Stand der Diskussion, welcher durch die Übersetzung des Werkes (La Réifikation, 2007; Reification, 2008) im französischen und angelsächsischen Sprachraum nach Jahren des Schweigens Stoff und Anregung erhält.48 Wie ein „philosophisch unverarbeiteter Brocken“ kehre die Kategorie der ,Verdinglichung‘ „aus den Untiefen der Weimarer Republik“ wieder und betrete erneut die Bühne des intellektuellen Diskurses – so die Ankündigung Honneths. Die Aktualität des Themas begründet er mit bestimmten Tendenzen, welche in den Natur- und Geisteswissenschaften sowie auf dem Gebiet der Literatur sich abzeichneten. Die Ökonomisierung unseres Alltagslebens erfahre erstens eine ästhetische Verarbeitung: als Thema einer Vielzahl von Romanen und Erzählungen (Raymond Carver, Harold Brodkey, Michel Houllebecq et al.). Zweitens weist er auf Untersuchungen der Kultursoziologie und Sozialpsychologie hin, deren Ergebnisse die zunehmende Neigung des Subjekts konstatieren, Wünsche oder Gefühle aus Opportunitätsgründen so lange vorzuspielen, bis sie als Bestandteil der eigenen Persönlichkeit erlebt werden – „eine Form der emotionalen Selbstmanipulation also“49. Drittens werde das Problem der Verdinglichung zum Inhalt moralphilosophischer Überlegungen (Martha Nussbaum und Elizabeth Anderson) und viertens nennt er das Feld der Hirnforschung als deutlich in der Gefahr stehend, einen Beitrag zu leisten, indem es das Fühlen und Handeln des Menschen durch bloße Analyse neuronaler Verschaltungen im Gehirn zu erklären suche, von dessen lebensweltlichem Wissen abstrahiere und denselben wie einen „erfahrungslose[n] Automat[en]“50 behandle. Allgemein erkennt er die historische Leistung Lukács’ an und akzeptiert dessen Definition von Verdinglichung; im Besonderen jedoch übt er eine Kritik, welche vom ursprünglich Gemeinten weit weg führt. Verdinglichung will Honneth als Anerkennungsvergessenheit verstanden wissen: „Gegenüber anderen Menschen meint Verdinglichung, deren vorgängige Anerkennung aus dem Blick zu verlieren, gegenüber der objektiven Welt bedeutet Verdinglichung hingegen, die Vielfalt ihrer Bedeutsamkeiten für jene vorgängig anerkannten Anderen aus dem Blick zu verlie-

48 Seit den Studien von J. Gabel (1962), M. Löwy (1976), A. Arato/P. Breines (1979), A. Feenberg (1981) und T. Bewes (2002); cf. G. Lohmann: „Authentisches und verdinglichtes Leben“. 49 A. Honneth: Verdinglichung, p. 14. 50 A. Honneth: Verdinglichung, p. 15.

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ren.“51 Er wirft Lukács einen „totalisierenden Zug“ vor, wenn dieser von einem grundsätzlichen ,Übergriff‘ der marktwirtschaftlichen Verdinglichung auf private Interaktionen ausgehe. Bereits von einer Gleichsetzung von Warentausch und Verdinglichung könne nicht ohne weiteres ausgegangen werden, da „im ökonomischen Austausch der Interaktionspartner normalerweise zumindest als rechtliche Person gegenwärtig bleibt“52. Auch in einer durch Geldverkehr ,entpersönlichten‘ Beziehung müsse der Andere doch als Träger allgemeiner Personeneigenschaften präsent bleiben, um überhaupt als verantwortungsfähiger Tauschpartner gelten zu können. Mit diesem Zweifel löst der Verfasser sich vom Grundgerüst der Lukácsschen Verdinglichungstheorie, verkehrt diese geradezu in ihr Gegenteil. Der Blick auf Honneths übrige Publikationen legt den Schluß nahe, daß er Lukács’ Begriff seinen annerkennungstheoretischen Studien nachträglich zur Seite stellt; das heißt, daß die Theorie der „Anerkennungsvergessenheit“ keine Konsequenz und Entdeckung ist, welche aus dem Studium des Textes von 1923 hervorgeht. An Lukács’ Thesen scheint er letztlich nur deshalb interessiert, um durch sie seine Leser geschickt zum eigenen Themenfeld der Anerkennung zu führen. Am Ende steht die berechtigte Frage, wie viel bei Honneth vom ursprünglich Gedachten in Geschichte und Klassenbewußtsein noch übrig bleibt. Sein Versuch geht dahin, anerkennungstheoretisch zu reformulieren, was reifikationstheoretisch gemeint war. Ein in sich widersprüchliches Unterfangen. Entsprechend das Ergebnis: moralischer Appell (,wider dem Vergessen‘) statt revolutionärer Praxis.53 51 A. Honneth: Verdinglichung, p. 78. 52 A. Honneth: Verdinglichung, p. 94. 53 Diese Ansicht teilt mit uns Johan Frederik Hartle. Seine Kritik geht in der Hauptsache dahin, daß Honneth einen Marxismus ohne Marxismus rekonstruiere, er aus der Marxschen Tradition eine ethische mache und kritische Gesellschaftstheorie so in eine normative Theorie des Selbst transformiere. „Der besondere kritische Gehalt der marxistischen Verdinglichungskonzeption geht Honneth [...] in dem Augenblick verloren, in dem allgemein (und nun eben mit Heidegger und Dewey) eine ,objektivierende Einstellung‘ als Verdinglichung beklagt wird. Denn mit Lukács (und Marx) ist Verdinglichung nicht nur und nicht so sehr die kulturkritische Klage über eine Entfremdung vom Gegenstand, sondern vielmehr das demokratische und gesellschaftstheoretische Problem einer Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx hatte davon gesprochen, daß ,das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen‘ erscheint. Für Lukács war dieser Gedanke einer Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse zentral. Praxisvergessenheit (also Verdinglichung) hieß hier, daß die in der gesellschaftlichen Arbeit enthaltene soziale Kooperation als ein normativer Grund der gesellschaftlichen Selbstschöpfung un-

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Hendrik Wallat erfüllt ein Desiderat Eberhard Brauns54, wenn er Marxs Begriff der Verkehrung als „Schlüsselbegriff“ seiner Theorie erinnert. In seinem Beitrag Der Begriff der Verkehrung im Denken von Marx (2008)55 systematisiert er die sich nahestehenden Termini Entfremdung, Verdinglichung, Fetischismus und Ideologie, indem er sie aus dem „Zentralbegriff“ der Verkehrung hervorgehen läßt, sie zu dessen „Dimensionen“ erklärt: „Der das ganze Marxsche Werk von der frühen Religions-, Politik- und Philosophiekritik bis zur reifen Ökonomiekritik inhaltlich und expressis verbis konstituierende Oberbegriff der Verkehrung umfaßt […] drei bzw. vier miteinander verbundene Dimensionen: Entfremdung, Verdinglichung, Fetischismus und Ideologie, die als jeweilige Spezifikationen der Dimensionen der Verkehrung als solcher zu entschlüsseln sind.“56

Wie ist das genau zu verstehen? Den Ausdruck Entfremdung leite Marx zunächst von einer „anthropo-ontologischen“ Bestimmung des Menschen ab. Was er darüber hinaus anvisiere und auch das Thema der reifen Kritik der politischen Ökonomie darstelle, sei: „(a) die Erkenntnis und Kritik der Herrschaft des Abstrakt-Allgemeinen, die herrschaftsförmige Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse gegenüber ihren Produzenten, welche (b) im Geld dingliche Gestalt annimmt und die (c) in der philosophischen Spekulation des absoluten Idealismus zum unbewußten Ausdruck kommt.“57 Konstitutiv sei, betont Wallat, daß Marx mit dem Begriff der Entfremdung primär nicht auf wie auch immer geartete psycho-soziale Phänomene, sichtbar wird, sich Gesellschaft gegen ihre Veränderbarkeit versteinert. Gerade in der Idee einer unsichtbar gewordenen gesellschaftlichen Gesamtarbeit verbarg sich nun aber der demokratische Kern und – wenn man so will – ,normative Gehalt‘ der kommunistischen Tradition, den Honneth nicht weiter berücksichtigt. Honneth [...] sucht, anstatt nach konkreten Formen sozialer Kooperation, die im marxistischen Arbeitsbegriff angelegt waren, nach ethischen Grundformen im Selbst- und Weltverhältnis, die er im Konzept der Anerkennung findet. Gesellschaftspolitik wird auf diese Weise, paradigmatisch für die jüngste Frankfurter Schule, in Honneths Buch, zu Ethik“ (J. F. Hartle: „Streitbarkeit der guten Gesellschaft“, p. 49 sq.). 54 Cf. E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 187. 55 In seiner Dissertation, Das Bewußtsein der Krise (2009), gibt Wallat wesentliche Inhalte dieses Artikels noch einmal, allerdings stark verkürzt und unter der Überschrift „Verdinglichung und Fetischismus“ (cap. 3.1.3.3: pp. 337-351), wieder. Für sachdienliche Hinweise danke ich diesbezüglich Herrn Christian Palmizi. 56 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 93. 57 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 73.

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sondern auf die Kritik eines sachlich vermittelten Herrschaftsverhältnisses ziele. (Diese Unterscheidung ist besonderes im Hinblick auf Lukács, Bloch und Adorno relevant.) Die Herrschaft des Menschen über den Menschen sei im Privateigentum vermittelt als Verfügungsgewalt über Sachen, deren Eigendynamik im Geld sich vollende. Das Geld als universeller Vermittler im (zwischen-) menschlichen Verkehr würde zum gottgleichen „Selbstzweck“ (MEW EB I, p. 446). „[I]m Geld – das existierende Abstrakt-Allgemeine – vollendet sich für Marx die Entfremdung und nimmt dingliche Gestalt an: sie wird handgreiflich.“58 Wie das Geld das (Un)Wesen der Dinge darstelle, das dem „abstrakte[n] Verhältnis des Privateigentums zum Privateigenthum“ (MEW EB I, p. 447) in „seiner Abstraktion und Allgemeinheit“ einen „sinnfällige[n] Ausdruck“ (MEW EB I, p. 447) verleihe und so die „verkehrte Welt“ (MEW EB I, p. 566) als reale Abstraktion zur Erscheinung bringe, zitiert und deutet Wallat Marx, so seien auch das spekulative Denken wie die dialektische Logik nichts als der „abstrakt sich erfassende entfremdete Geist der Welt“ (MEW EB I, p. 571). Der absolute Idealismus sei das geistige Korrelat der gesellschaftlichen Abstraktion, die Marx mit dem Begriff der Entfremdung umschreibe. Marx setze die gesellschaftliche Abstraktion, die im Geld dingliche Gestalt annehme, in expliziten Bezug zum „reinen spekulativen Gedanken“ (MEW EB I, p. 571) der Hegelschen Logik: „Die Logik – das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwert des Menschen und der Natur – ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit vollständig gleichgültig gewordenes und darum unwirkliches Wesen – das entäußerte, daher von der Natur und dem wirklichen Menschen abstrahierende Denken; das abstrakte Denken.“59 Damit ist in der Tat das Wesen dessen beschrieben, was Marx in erster Linie unter Entfremdung versteht: abstrakte Herrschaft, herrschende Abstraktion. Ihre Vermittlung ist das Geld, ihr Resultat der verdinglichte Gedanke, das versachlichte Subjekt. Gut arbeitet Wallat heraus, daß die Bewegung des reinen Geistes bei Hegel der spekulative Ausdruck für die real-gesellschaftliche Bewegung der Verkehrung und Abstraktion sei.60 Gerade die „Verkehrtheit“ der idealistischen Spekulation mache ihre Wahrheit aus, da sie die ,wahre‘ Erscheinung einer an sich ,unwahren‘ Welt sei. „Die Strukturisomorphie zwischen der im Geld dingliche Gestalt annehmenden gesellschaftlichen Abstraktion und dem spekulativen Denken ist die fundamentale Figur einer Subjekt-Objekt-Verkehrung, deren Gestalt darin besteht, daß das Geld wie das spekulative Denken das reale Subjekt unterwerfen und zum Objekt degradieren.“61 Entfremdung bedeutet die Verwandlung der Abstraktion 58 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 74. 59 MEW EB I, p. 571 sq; cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 75. 60 Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 76. 61 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 76.

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selbst zu einer autonomen Entität, welche den eigenen Erzeuger subordiniert, indem sie als neues Subjekt ihm gegenübertritt, ihn zum Objekt macht. Entfremdung bedeutet Täuschung und Tausch der Machtverhältnisse. Wallat bezeichnet sie als „erste Dimension“ von Verkehrung: „Es ist [...] die Verkehrung der menschlichen Freiheit(sfähigkeit) in Herrschaft(sverhältnisse): Freiheit von Naturzwang generiert zugleich soziale Herrschaft als zweite Natur; Autonomie in Form der Heteronomie.“62 Verdinglichung entspricht nach Wallat der „Formspezifik“ der Verkehrung und damit ihrer „zweite[n] Dimension“. Die Verdinglichung selbst gliedert der Autor ebenfalls in zwei Dimensionen (was die Darstellung des Stoffes äußerst kompliziert macht): „Die erste Dimension der Verdinglichung bezeichnet […] den Sachverhalt der realen Objektivation eines sozialen Verhältnisses in einem Ding. Es ist dies das Phänomen, daß das principium synthesis kapitalistischer Vergesellschaftung spezifisch soziale Gegenständlichkeit annehmen muß: der Wert als sozialer Nexus erscheint in Geld und Ware in dinghafter Gestalt.“63 Diese Form der Vergesellschaftung sei die (Selbst-)Vermittlung des Wertes und seiner Erscheinungsform, des Geldes, welches selbst Ausdruck eines spezifisch sozialen Verhältnisses sei, dem „es auf der Stirn geschrieben steht“, zitiert der Autor Marx, daß der „Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert“ (MEW 23, p. 95) habe. In der Warenform und in dem sie konstituierenden Doppelcharakter der Arbeit in kapitalistischen Produktionsverhältnissen zeige sich ein „Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch“ (MEW 32, p. 553) gegenständlich vermittle. Soziale Beziehungen nähmen real die Bewegung von Sachen an, welche als „sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge“ (MEW 23, p. 86) die abstrakte und indirekte Form der Vergesellschaftung, ein „unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis“ (MEW 13, p. 21), konstituierten.64 Die „zweite Dimension“ der Verdinglichung ist für den Autor die „Verselbständigung“ dessen, was ihre „erste Dimension“ konstituiert: die „Real-Verdinglichung des Sozialen“65. Verdinglichung sei ein Prozeß der vermeintlich autologischen Verselbständigung der Produktion über die „vereinzelten Einzelnen“ (MEW 13, p. 21). „Dies ist die fundamentale ,Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt‫ދ‬66, die der reife Marx nicht mehr als Entfremdung von einem ontologischen 62 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 78. 63 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 80. 64 Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 82. 65 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 83. 66 Karl Marx: Ökonomische Manuskripte. In: MEGA2 II/4.1. S. 64/65 [Anm. von Wallat].

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Wesen des Menschen begreife, sondern als Heteronomie der Menschen durch selbstgeschaffene, aber naturwüchsig sich gestaltende soziale Verhältnisse dechiffriert.“67 Den Bezug der „zwei Dimensionen“ der Verdinglichung (als „zweite Dimension“ der Verkehrung) zum Begriff der Verkehrung stellt der Autor wie folgt her: „Die erste Dimension der Verdinglichung ist einerseits […] (a) die ,materielle Basis‘ der historisch und sozialformationsspezifischen Verkehrung des Bewußtseins der Individuen in kapitalistischen Gesellschaften, andererseits (b) Ausdruck einer Verkehrung im Vergleich zu anderen Formen menschlicher Vergesellschaftung, die durch andere, nicht-abstrakt-gegenständliche Formen sozialer Vermittlung strukturiert werden. Verkehrung ist auf dieser Stufe der Argumentation also (a) ein relationaler Begriff, der (b) keine (normativ willkürliche) Wertung impliziert, sondern eine spezifische Differenz bezeichnet, um (c) die historische Spezifik sozialer Vermittlung kapitalistischer Provenienz zu charakterisieren.“68

Anders als mit dem Begriff der Entfremdung ziele Marx mit dem Begriff der Verdinglichung (Dimension 1) nicht auf die Kontrastierung kapitalistischer Vergesellschaftung gegenüber einer fiktiven, unentfremdeten und ursprünglichen humanen Essenz, sondern thematisiere und problematisiere die „soziale Synthesis“ und die ihr inhärierende Dynamik kapitalistischer Vergesellschaftung. „Was Marx mit dem Begriff der Verdinglichung (Dimension 2) fokussiert, ist daher die fortwaltende Irrationalität kapitalistischer Rationalität, die zwar einen von Marx, anders als von seinen Epigonen, zu keinem Zeitpunkt gering geschätzten Formenwandel von Herrschaft, nicht aber deren Überwindung indiziert.“69 Diese Dimension der Verdinglichung(skritik) sei untrennbar mit dem Begriff der Verkehrung in seiner substanziellen Gestalt liiert, betont der Autor. Die Marxschen Termini wie Verselbständigung, Versubjektivierung etc. zielten alle auf den Sachverhalt der fundamentalen Verkehrung der Freiheit unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise: „[G]esellschaftlicher Reichtum und Produktivität verkehren sich in die dingliche Gestalt annehmende Herrschaft des Abstrakt-Allgemeinen. Die Form sozialer Vermittlung verkehrt sich zum selbstbezüglichen Inhalt.“70 Dem folgt bei Wallat das terminologische Absondern wie Einkreisen des Fetischismus. Er expliziert ihn als die „dritte Dimension“ von Verkehrung und spricht mit einem Marx-Zitat zum Leser: „[M]an verwechselt die ökonomische Formbe67 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 83 sq. 68 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 84. 69 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 85. 70 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 86.

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stimmtheit […] mit einer dinglichen Eigenschaft; als ob Dinge, die an sich überhaupt nicht Kapital sind, sondern es nur in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen werden, an sich und von Natur schon Kapital […] sein könnten“ (MEW 24, p. 162). Der Fetischcharakter der kapitalistischen Produktionsweise sei ihr realer Schein, d. h. die notwendige Verkehrung des ,Wesens‘ in der Erscheinung. Das Geld würde zwar als das wahrgenommen, was es erscheinend sei, – (dingliche) Erscheinungsform sachlicher Vermittlung indirekt gesellschaftlicher (Produktions-) Verhältnisse – verkannt würde dabei aber der dem Geld zu Grunde liegende gesellschaftliche Vermittlungsprozeß als dessen Konstituens.71 „Die Funktionsweise des Fetischcharakters ist, daß die sozio-ökonomischen Formen der kapitalistischen Produktionsweise nicht als Ausdruck dieses historisch-spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisses begriffen werden, sondern als Natureigenschaften von Gegenständen und ihrer vermeintlich natürlichen Beziehungen erscheinen.“72 Fetischismus bezeichne das Phänomen der „Selbstmystifikation“ sozialer Verhältnisse und ihrer Praxis durch den systematisch generierten Schein sozio-ökonomischer Gegenständlichkeit als Eigenschaft der Dinge an sich, deren Vermittlung sich invisibilisiert und die gleichsam ein autodynamisches Eigenleben annähmen.73 Abschließend bestimmt Wallat das enge Verhältnis des Fetischismus zur Ideologie. Mit dem Begriff der Ideologie bezeichne Marx „allgemein ein verkehrtes Bewußtsein, welches sich über seine eigene historische und soziale Genesis täuscht und sich als autonome Macht mißversteht. Ideologie ist folglich ein Begriff, der Bewußtseinsformen (werkgeschichtlich bei Marx: Religion, Politizismus, idealistische Philosophie, ökonomischer Fetischismus) thematisiert und kritisiert, die nicht allein Erscheinung kapitalistischer Vergesellschaftung sind.“74 Der Marxsche Ideologiebegriff behandle die epistemologische Grundfrage nach dem Verhältnis des Bewußtseins zum gesellschaftlichen Sein. Als Ideologiekritik ziele der Terminus somit auf Hypostasierungen philosophischer Abstraktionen und idealistischer Weltbilder, auf religiöses Bewußtsein und politische Herrschaftslegenden, indem deren gesellschaftliche und geschichtliche Bedingtheit beleuchtet würde. Mit dem Entfremdungsbegriff habe der Ideologiebegriff gemeinsam, „daß mit diesem nicht allein Phänomene kapitalistischer Vergesellschaftung thematisiert werden. Im Unterschied zum frühen Entfremdungsbegriff, mit dem das soziale Sein und die Praxis der Menschen charakterisiert werden, zielt der Ideologiebegriff auf die verkehrten Bewußtseinsformen der entfremdeten Welt. Beide Begriffe sind in Marx‫ ތ‬Theorie71 Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 89. 72 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 89. 73 Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 91. 74 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 91 sq.

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gebäude miteinander verkettet.“75 Fetischismus wiederum, erklärt der Autor, sei die „Basis-Ideologie“ kapitalistischer Vergesellschaftung und müsse als ökonomischer Fetischismus von anderen (scilicet vorkapitalistischen, religiösen oder psychologischen) Erscheinungsformen unterschieden werden. Der Fetischismus sei eine spezifische Form der Ideologie, mit einem spezifischen Funktionsmodus und einer inhaltlich spezifischen Wirkung. Anders als andere Formen der Ideologie entspringe der Fetischismus spontan und notwendig der sich in sozio-ökonomischer Gegenständlichkeit verdinglichenden sozialen Verhältnisse und deren Praxis.76 Mit diesen hier nur kurz wiedergegebenen, gründlichen Differenzierungen liefert Wallat ein wichtiges terminologisches Fundament, auf dem auch unsere Studie aufzubauen vermag. Der Nachteil einer streng an Marx orientierten Exegese des Begriffs der Verdinglichung – wie der Autor sie unternimmt – liegt in seiner geringen Kompatibilität mit den aktuellen Erkenntnissen aus Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaft. Wir gehen mit Braun und Wallat überein, wenn es darum geht, die Verkehrung als Schlüsselbegriff der Marxschen Theorie anzuerkennen. Lukács jedoch bereichert die Debatte, indem er die Konzentration eben auf die Verdinglichung lenkt und, in Abgrenzung zu Marx, deren Interpretation als Abspaltungsvorgang (als Teilung des Subjekts selbst) ermöglicht.77 Dies erst macht den Terminus psychoanalytisch anschlußfähig. Horkheimer und Adorno scheinen das erkannt und seine Einholung in diesem Sinne geleistet zu haben. Das Erscheinungsgebiet der Verdinglichung soll am Ende unseres Überblicks noch um zwei wesentliche Aspekte, welche bei Lukács keine Berücksichtigung finden, erweitert werden. Es handelt sich zum einen um die Einbeziehung des menschlichen Triebschicksals sowie zum anderen um die tiefenpsychologische Deutung der subjektiven Bereitschaft zur Unterwerfung. Beide verdienen, in unsere Erörterung aufgenommen zu werden. Der 2006 emeritierte Leiter des Frankfurter Institutes für Sexualwissenschaft, Volkmar Sigusch, verbindet den Wandel, welchen er in der sexuellen Kultur vornehmlich westlicher Industriegesellschaften konstatiert, mit der Totalität unserer Lebens- wie Wirtschaftsweise. Im Zuge ihrer Zweischneidigkeit eröffnen sich Mög75 H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 92. 76 Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung“, p. 92. 77 Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, daß das Marxistisch-Leninistische Wörterbuch der Philosophie (1972) Lemmata zu den Begriffen Entfremdung, Ideologie und Fetischismus aufweist, nicht jedoch zu jenen der Verdinglichung und der Verkehrung. Zur Verdinglichung findet sich dagegen ein ausführlicher Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, was als ein Nachweis mehr gedeutet werden könnte, daß der Terminus seit Lukács allein vom Neomarxismus westlicher Provenienz rezipiert wird.

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lichkeiten wie Unmöglichkeiten gleichermaßen. Einen Vorteil erkennt Sigusch in der zunehmenden Liberalisierung privater Vorlieben und Ausgefallenheit: „Weil für den Gang der kapitalistischen Gesellschaft belanglos ist, was die Individuen sexuell tun, können sich Orientierungen, Verhaltensweisen und Lebenswelten pluralisieren.“78 Die romantische Idee der individuellen Geschlechtsliebe setze jedoch ökonomisch gesättigte Verhältnisse voraus. Die Liebe als freie Übereinkunft autonomer Subjekte, als Gewissensbeziehung statt Zweckgemeinschaft, sei erst möglich geworden „mit dem Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse“. Der Autor resümiert: „Kapitalismus und Liebe gehören zusammen.“79 Leider war diesem Modell, eine veritable Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, nur kurzzeitige Etablierung vergönnt. Glück und Unglück hatten den gleichen Urheber. Das Kapital nahm, was es gewährte. In ihm war alles identisch. Die „individuelle Drangliebe“ sei, so der Autor, „durch gegenläufige Dispositionen wie jene der Lohnarbeit, die sich in den Seelen niederschlugen und sozial manifestierten, in der Latenz gehalten oder abgewürgt worden“80. Das Zusammenwirken von singulärem und gesellschaftlichem Triebschicksal, von gehemmter Libido und Produktionsverhältnissen, artikuliert Sigusch nicht explizit mit Hilfe des Begriffes Verdinglichung. Sprachgebrauch und Wortwahl aber bleiben dessen Wirklichkeit treu, wenn er schreibt: „Unterm Kreuz des Warenfetischs, unterm Diktat des Tauschprinzips [...] sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen wie Beziehungen von Ding zu Ding, von Sache zu Sache. In einer solchen Gesellschaft sind die mitmenschlichen Beziehungen nicht einfach solidarisch, anständig, harmonisch, menschlich. Was als menschlich geglückt deklariert wird, als human oder humanitär, entspringt der Ideologie seiner Verhinderung.“81

Weniger um die philosophische Tradition wissend als seiner Intuition folgend, gebraucht der Autor die Ausdrücke Vergegenständlichung und Verstofflichung. Letzterer findet sich sogar im Glossar seines Buches Neosexualitäten. Die Affinität zu Lukács zeigt sich in folgender Definition: „Menschliches macht sich dinghaft, Dinghaftes scheint menschlich zu sein; Lebendiges stellt sich tot, Totes wird erweckt. [...] Menschen sind bemüht, sich zu vergegenständlichen, weil das Unbelebte so erfolgreich ist. Sie wollen die toten Dinge anthropoisieren, wenn es schon 78 V. Sigusch: Neosexualitäten, p. 186. 79 V. Sigusch: Neosexualitäten, p. 13. 80 V. Sigusch: Neosexualitäten, p. 14. 81 V. Sigusch: Neosexualitäten, p. 14.

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Erstarrte Dynamik und Mechanisierung des Organischen sind der Preis, den der Tauschwert der Ware verlangt, die ,zielgehemmten‘ Triebe das Mittel, ihn zu erreichen. Wolfgang Fritz Haug sucht 2005 ebenfalls den Einfluß der Ökonomie auf das menschliche Liebesleben zu explizieren. Die permanente Nachfrage des Marktes evoziert die dauerhafte Bereitschaft, diese statt der eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. „Die Triebökonomie wird unter diesem Vorzeichen sportiv überformt. Wie ein reales Gleichnis dafür wirkt das Fitness Center, in dem eine multikulturelle Elite sich in Form bringt, um die übrige Menschheit abzuhängen. Odysseus mag den Sirenengesängen nachgeben, sofern er rechtzeitig wieder am Bildschirm und in Hochform ist. Wo die Leistung über die Lust herrscht, ist das Subjekt in Ordnung. Wo die Lust über die Leistung herrscht, fällt es in eine Unordnung, die es für Herrschaft disqualifiziert. Sich der Lust zu unterwerfen, repräsentiert Unterklasse und Ungesundheit [...], gilt dann für die Adepten der Neosexualität nicht weniger als für die der früheren Sexualitätsformen, die noch vom Regime der säkularen ,Sexualfeindschaft‘ geprägt waren.“83

Anders: ,Neosexualität‘ wird gemanaged, nicht gelebt. Ihre warengleiche Verfügbarkeit laviert die Heteronomie ihres Wesens. Bis hierher haben wir uns die äußeren Bedingungen der Verdinglichung sowie die verschiedenen Lebensbereiche, in welche sie hineinwirkt, vergegenwärtigt. Die inneren Beweggründe zur Bereitschaft des Einzelnen – oder Vieler –, sich überhaupt verdinglichen zu lassen, sind jedoch in dieser Einleitung weitgehend verschlossen geblieben. Die befremdende Disposition zur subjektiven Herabsetzung ist nur unter Einbezug weiterer, nicht-philosophischer Erkenntnisverfahren zu erklären. Die Psychoanalyse, welche seit je um Antworten auf die Frage nach dem menschlichen Verhalten – nicht nur des pathologischen – sich bemüht, darf deshalb nicht unbeachtet bleiben. Erkenntnistheoretisch erfährt das Begriffspaar Subjekt82 V. Sigusch: Neosexualitäten, p. 206. 83 W. F. Haug: „Sexualverändernde Funktionsfolgen des High-Tech-Kapitalismus“, p. 210; cf. etiam idem: High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, 2005.

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Objekt in ihr eine ebensolche Beachtung wie in der Transzendentalphilosophie. An vielen Stellen seines Werkes sucht Sigmund Freud das Subjekt-Objekt-Verhältnis – als Kind-Mutter-, Mann-Frau- oder Mensch-Ding-Dyade – zu erhellen. Darin enthalten ist zugleich die Problematik der Teilung des Ichs in Es und Über-Ich, also in bewußte und unbewußte Komponenten.84 Für unsere Zwecke besonders eindrücklich, schildert Freud den Gegenstand in Massenpsychologie und Ich-Analyse. Hinsichtlich der Organisation der Masse, welche er in diesem Traktat untersucht, war ihm nicht nur deren bisweilen starker Zusammenhalt, sondern auch die labile IchKonstitution der einzelnen Subjekte aufgefallen, aus denen sie sich zusammensetzt. Aus der Wechselbeziehung von Ich und Objekt versprach er sich Einblick in die innere Verfaßtheit von Gruppe und Kollektiv. Treu der psychoanalytischen Lehre, nach welcher der libidinösen Konstruktion des Menschen ätiologische Bedeutung zukommt, geht Freud davon aus, daß die Masse sich so verhält wie das Individuum im Zustande von Verliebtheit oder Hypnose. Das Subjekt sucht, durch die Sexualtriebe bewegt und zum Zwecke ihrer Befriedigung, das begehrte Objekt zu ,besetzen‘. Ist dies nicht unvermittelt möglich, kommt es zur ,Zielhemmung‘ der Triebe. Die verhinderte ,Besetzung‘ wird durch Identifizierung kompensiert: Ödipuskomplex. Aus ihm erwächst der sonderliche, jedoch allgemein bekannte Zustand der Idealisierung des geliebten Objekts. Freud deduziert, „daß das Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also in der Verliebtheit ein größeres Maß an narzißtischer Libido auf das Objekt überfließt. Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte.“85

Ein solches Objekt, wie der Verfasser es hier beschreibt, ist der Hypnotiseur. Ihm begegnet das Subjekt mit der gleichen Haltung aus Unterwerfung und Gefügigkeit. Alle Eigeninitiative wird vom Anderen absorbiert. Dies läßt ebenso auf das Verhältnis Masse-Führer sich übertragen. Das Rätsel des suggestiven Einflusses, welchen die Einstellung der ,Massenseele‘ auf den Einzelnen hat, mit dem angeborenem Herdeninstinkt zu erklären, empfindet Freud als ungenügend. Es sei dadurch nämlich noch nicht das Rätsel des Führers gelöst. In der Erklärung des Herdeninstinkts finde sich kein Hinweis auf ein Gottesbedürfnis – was für ihn gleichbedeutend ist: 84 Cf. S. Freud: „Das Ich und das Es“ (1923), in: GeW 13, pp. [235]-289. 85 S. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), in: GeW 13, pp. [71]-161; p. 124.

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„es fehlt der Hirt zur Herde“. Eine andere, eigene Deutung scheint dem Autor näherliegend: Kraft der von ihm entwickelten Theorie und Methode weiß er die „libidinöse Organisation der Masse“ aus den frühkindlichen Vorgängen des Individuums herzuleiten. Das Massengefühl bilde zuerst sich „in der mehrzähligen Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt. Das ältere Kind möchte gewiß das nachkommende eifersüchtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und es aller Anrechte berauben, aber angesichts der Tatsache, daß auch dieses Kind – wie alle späteren – in gleicher Weise von den Eltern geliebt wird, und infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstellung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen, und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen- oder Gemeinschaftsgefühl, welches dann in der Schule seine weitere Entwicklung erfährt.“86

Das infantile Verlangen nach Anerkennung durch die Eltern werde dann im Erwachsenenalter auf eine Führerfigur übertragen. An dieser Stelle ist der Blick auf die Zusammenhänge mit dem Problem der Verdinglichung möglich geworden. Es ist nun leichter einsichtig, warum der Einzelne einem System, sei es politisch, ökonomisch oder religiös, an welchem die Anderen (als ,Geschwister‘) partizipieren, sich nur schwer zu entziehen vermag und welch hohes Maß an Originalität, Mut und psychischer Energie dazu von Nöten sind. Es ist außerdem anzufügen, daß im Verhältnis Subjekt-Objekt das Objekt sowohl ein Mensch als auch ein Gegenstand (= Fetisch) sein kann. Das bedeutet, daß es möglich ist, die Liebe als Ersatzleistung auf einen beliebigen Gegenstand zu übertragen. Von diesem wird gehofft, den seelischen Mangel ausgleichen zu können. Durch die ,Zielgehemmtheit‘ seiner Triebe wählt das Subjekt sich ein Objekt, welches wir oben bereits als Ding kennengelernt haben.87 Sein Eifer, es besitzen zu wollen, wird durch die Tatsache gesteigert, daß auch alle Anderen es besitzen oder erstreben. Der ,Herden-‘ oder besser ,Hordentrieb‘ – Freud plädiert für eine Derivation des esprit de corps von der Urhorde – in kapitalistischen Produktionsverhältnissen ,funktioniert‘, indem das Subjekt den Anderen sich insofern anpaßt, als es sowohl mit deren Verhalten als auch mit deren Dingen sich identifiziert: doppelte Objekt-Identifikation. Dies geschieht, um den ursprünglichen Neid zu unterdrücken und die ersehnte Anerkennung zu erheischen. Freud betont an vielen Stellen seines Werkes, daß das Grundproblem und die Illusion darin bestehe, das Ich als ein gan86 S. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), in: GeW 13, pp. [71]-161; p. 132 sq. 87 Cf. J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse.

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zes, einheitliches und immerzu selbstbewußtes zu denken. Vielmehr gelte es, dessen Neigung wie Möglichkeit zur Polytomie in Betracht zu ziehen und zu berücksichtigen. Die Ichspaltung im Abwehrvorgang, eine Notiz, welche 1938 entstand und Fragment geblieben ist, enthält das nüchterne Resultat, daß frühe Traumatisierungen immer dann zu einer Ichspaltung führen, wenn die erlebte Angst (z. B. vor ,Kastration‘) durch das Ausweichen in eine Ersatzhandlung (= Neurose) oder durch die Wahl eines Ersatzobjektes (= Fetisch) verdrängt wird. Für Freud sind solche Vorgänge Abwehrstrategien des in der Kindheit verletzten Ichs. Die Abwehr, betont er, habe auf Dauer allerdings ihren Preis. Ihr Erfolg sei nur ein scheinbarer, „erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrössern wird. Die beiden entgegengesetzten Reaktionen auf den Konflikt [Angst und Verdrängung] bleiben als Kern der Ichspaltung bestehen. Der ganze Vorgang erscheint uns so sonderbar, weil wir die Synthese der Ichvorgänge für etwas Selbstverständliches halten. Aber wir haben offenbar darin Unrecht. Die so ausserordentlich wichtige synthetische Funktion des Ichs hat ihre besonderen Bedingungen und unterliegt einer ganzen Reihe von Störungen.“88

Wissend um die Erkenntnisse Freuds, führt der deutsch-amerikanische Psychiater Arno Gruen uns zu einem klinischen, der Verdinglichung jedoch analogen Begriff: die Abspaltung. Doch wie kommt es zu dieser Affinität? Gruen geht mit den Prinzipien der Psychoanalyse überein, daß der Beginn aller Entfremdung in der Kindheit liegt. „Das wird nirgendwo deutlicher als in dem Satz, den Hitler 1934 bei einer Rede vor der NSFrauenschaft formulierte: ,Jedes Kind ist eine Schlacht.‘ Damit drückte er in erschreckend klarer Weise aus, was in westlichen Kulturen auch heute noch oft als unumstößliche Wahrheit angesehen wird: daß es eine natürliche Feindschaft zwischen Eltern und Säugling gibt. Im Kampf der sogenannten Sozialisation muß das Kind dazu gebracht werden, sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen, und daran gehindert werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen.“89

Integration und Anerkennung des Kindes werden so früh in die Abhängigkeit seiner Außenwelt, zu der Personen und Dinge gehören, geführt. Das innere Erleben korrespondiert nicht mehr mit den äußeren Widerfahrnissen; es wird von diesen abgetrennt, da es die perfekte Anpassung an die externe Welt der Anerkennung behindert. Die dauerhafte Zurückstellung des eigenen Empfindens erfordert nach Gruen 88 S. Freud: „Die Ichspaltung im Abwehrvorgang“ (1938), in: GeW 17, pp. [57]-62; p. 60. 89 A. Gruen: Der Fremde in uns, p. 20 sq.

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eine Abstraktionsleistung, welche die manifeste Spaltung des Ichs zur Folge hat. Sie leistet einer Depersonalisation Vorschub, welche in der Abwehr der eigenen, oft als peinlich empfundenen Gefühle sich niederschlägt: „Je mehr unser Denken von Abstraktionen erfüllt ist, desto weniger Zugang haben wir zur Realität unseres Gefühlslebens und zu seinen destruktiven Ausläufern. Zum Beispiel können wir uns dem ,Fortschritt‘ widmen, ohne merken zu müssen, daß wir dadurch die Umwelt oder andere Menschen zerstören können. Die Logik der Abstraktion erlaubt uns, unser persönliches Involviertsein von den jeweiligen Resultaten abzutrennen. Es ist ja alles für den ,Fortschritt‫ ދ‬oder für die ,Sicherung‫ ދ‬des Friedens etc. […] Und indem die Gesellschaft solch einen Vorgang (wie den Fortschritt) als erstrebenswert erklärt und dadurch auch jeden, der diesbezüglich Fragen hat, suspekt macht – zum Verräter am Fortschritt –, verbirgt die dahinter stehende Ideologie unser Gespalten-Sein.“90

In Umkehrung der Frage „Warum bin ich Ich?“91 will der Verfasser wissen: Warum bin ich nicht Ich? Woher stammt der Wunsch des Ichs nach Unterwerfung? Warum fällt es vielen Menschen überhaupt so schwer, Ich zu sagen? Woher kommt das Gefühl der Gespaltenheit des Ichs und seiner Nicht-Autonomie? Alles beginnt nach Gruen mit dem verbreiteten Phänomen der Ablehnung des Kleinkindes durch die Mutter. Eingeschüchtert und in seinem emotionalen Haushalt verunsichert, sucht das Kind die Situation zu bewältigen, indem es mit der als übermächtig erlebten Mutter bzw. mit den Eltern sich identifiziert. Es schließt einen (unbewußten) Pakt: „Ich bin so hilflos und abhängig wie du mich haben möchtest. Deshalb mußt du mich führen und mich korrigieren, ich habe ja keinen eigenen Willen.“92 Daraus resultiert nach Gruen, daß das Kind alles zu hassen beginnt, was es in Konflikt mit den Erwartungen der Eltern bringen könnte. Unterwerfung und Selbstverachtung bedingen auf diese Weise sich wechselseitig. „Mit dieser Unterwerfung, die weitgehend unausgesprochen und oft völlig unbewußt ist, nimmt man zugleich Rache. Man besteht auf der Fürsorge und auf der Abhängigkeit sowie darauf, daß sich nichts ändert. Und noch etwas Entscheidendes kommt hinzu: Dies ist die Methode, nie sich selbst verpflichtet sein zu müssen, denn man folgt nur Befehlen.“93 Unter Autonomie hingegen versteht der Autor jenen Zustand der Selbstbestimmung, in welchem Ich und Selbst kongruieren, das heißt über einen Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen verfügen sowie diese zu artikulieren vermögen. Damit 90 A. Gruen: Der Verrat am Selbst, p. 49. 91 M. Frank: Warum bin ich Ich? 92 A. Gruen: Der Wahnsinn der Normalität, p. 34. 93 A. Gruen: Der Wahnsinn der Normalität, p. 34.

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seien jedoch nicht jene Gefühle und Bedürfnisse gemeint, wie sie von der Konsumgesellschaft künstlich erzeugt würden, erklärt er, „sondern solche, die aus der Freude erwachsen, die die Liebe einer Mutter zur Lebendigkeit ihres Kindes hervorruft, oder aus dem Leid, wenn sie fehlt. Allein die unverfälschten Reaktionen des Kindes auf seine wahre Situation sind die Quelle seiner autonomen Entwicklung. Nur wenn es weder Wahrnehmungen noch Gefühle verleugnen muß, bleibt es in Verbindung mit den inneren und äußeren Erfahrungen, die sein Wachstum stimulieren, und kann beide miteinander verknüpfen. Nur so behält es den Kontakt mit den Wurzeln seines Gefühls, lebendig zu sein. Und dann wird es auch die Verantwortung dafür übernehmen können, wohin sich seine Lebendigkeit entwickeln wird.“94

Würde diese Verbindung jedoch gestört, begänne das Kind, ausschließlich nach jener Realität sich zu richten, die von außen ihm aufgezwungen wird. Identität kommt nach Gruen eine doppelte Bedeutung zu: eine echte sowie eine unechte. Einheit ist nicht gleich Einheit. Das synthetische Verschmelzen mit der objektiven Außenwelt, das heißt den Eltern oder anderen Autoritäten, verleitet zu einem mißverstandenen, unechten Identitätsbegriff (ihm entspräche Heideggers Verfallenheit an das Man). Als echt hingegen bezeichnet Gruen eine Identität, welche das Ich aus seinen Affekten (selbstverständlich unter Beimischung von Bewußtsein) heraus sowie in stetiger Korrespondenz mit diesen und seiner Mitwelt sich bilden läßt. Einmal konform geworden, sucht das Ich den Verrat, welchen sich selbst gegenüber es begangen hat, indem es sich unterwarf, zu verdrängen. Leiden und Selbsthaß – jedoch auch die Möglichkeit zur Heilung – wären die Folge seiner Bewußtwerdung. Der Zustand der Differenz affirmiert Aggression und Gewalt. Alle „Aggression ist eine Reaktion auf die Verminderung der eigenen Autonomie“95. Das Erinnert-werden an die eigene Unfreiheit und das eigene Nicht-Lebendige wird als massive Bedrohung erlebt. „Wenn wir uns selbst nur dann lieben, wenn wir gehorsam sind, fühlen wir uns als rechtschaffene Menschen, wenn wir in anderen den Ungehorsam töten, der einst unser eigener war. Wir brauchen Feinde, nicht nur um uns selbst vor unserem alten inneren Feind zu schützen, sondern auch um die wachsende angestaute Wut abzureagieren.“96 Das nicht-identische Sein macht das Subjekt sich selbst fremd. Der Andere, welcher es an seine eigenen ungelebten und ,unberührbaren‘ Anteile erinnert, wird als ebenso fremd wahrgenommen, et vice versa: gerade durch sein Fremd-Sein weckt der Fremde die fremden, unheimlichen Teile 94 A. Gruen: Der Wahnsinn der Normalität, p. 37. 95 A. Gruen: Der Verrat am Selbst, p. 60. 96 A. Gruen: Der Wahnsinn der Normalität, p. 82.

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im eigenen Selbst aus dem Schlaf ihrer Verdrängung. Ihn trifft der Haß, welcher sich selbst als Objekt vermeidet. Abspaltung und Selbstverdinglichung sind die Strategien des Unbewußten, frühkindliche Zurückweisung in unechte Anerkennung aus der Gegenwart zu verkehren.97

4. M ETHODE Der hier zu entwickelnde Gegenstand sei der methodischen Überschaubarkeit wegen wie folgt gegliedert: die Arbeit zerfällt in drei Kapitel. Dem ersten ist der Versuch gewidmet, die ursprüngliche Bestimmung der Verdinglichungskonzeption bei Georg Lukács anhand von Geschichte und Klassenbewußtsein zu rekonstruieren. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, da Bloch keine eigene Version des Terminus offeriert, sondern denselben in der Bedeutung, welche sein ungarischer Urheber ihm gibt, übernimmt. Es wird uns dadurch außerdem möglich, den Verdinglichungsbegriff von diversen Reformulierungen und Entstellungen, welche im Laufe der Zeit ihm widerfahren sind, zu befreien. Dabei werden wir auch Lukács’ Haltung gegenüber Schelling kennenlernen, welche bezeichnend ist für die Rezeption im östlichen Marxismus. Im Anschluß interessiert uns die kritische Reaktion Blochs in dessen Aufsatz Aktualität und Utopie. Zu Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) (GA 10, pp. 598-621). Er demonstriert nicht nur den eigenwilligen Beitrag seiner Philosophie zur Lösung des Problems der Verdinglichung, sondern spiegelt auch das Verhältnis der beiden Gefährten – die Freundschaft begann im Heidelberger Umfeld von Max Weber zu Beginn des Ersten Weltkrieges – sowie die entscheidende Differenz ihrer Marx-Interpretation. Während Lukács’ Lösung vornehmlich darin besteht, allein das Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte und Garanten der Revolution zu bestimmen, profiliert Bloch sich mit ,vormarxistischen‘ Materiestudien. Durch sie stößt er auf Schellings Naturphilosophie. Dieser, in der Rezeption Blochs, das bedeutet vorwiegend in seinem Hegel- und Materialismus-Buch sowie in seinen Leipziger Vorlesungen, ist das zweite Kapitel unserer Studie zugeordnet. Bloch verläßt – im Unterschied zu Adorno – den ,allein kritischen Weg‘ insofern, als er der Beobachtung des Positiven, der Materie, ihrer Prozeßhaftigkeit und deren Verhältnis zum menschlichen Bewußtsein sich zuwendet. „Positive Philosophie“ – ein Terminus Schellings – ist deshalb ein Stichwort, welches seine Wirkung auf jenen nicht verfehlt. In ihm ahnt er nahe Verwandt97 Teile dieser Darstellung der Gruenschen Thesen entstammen meiner Rezension über dessen Buch: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie der menschlichen Destruktivität (200916).

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schaft zum „Prinzip Hoffnung“. Es veranlaßt ihn, Schelling gegen Hegel zu denken, den Blick „nach vorwärts“ zu wenden; denn eines hat jener „gegenüber Hegel sicher voraus: Für ihn faßt sich die Geschichte nicht in der Gegenwart zusammen, sein Geschichtsbegriff ist offen auf Zukunft hin.“98 Schon 1797 bestreitet Schelling die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte, da dies deren ,Berechenbarkeit‘ und damit deren ,Geschlossenheit‘ bedeuten würde. Allein dort, wo es unmöglich sei, die Richtungen einer freien Tätigkeit a priori zu bestimmen, könne Geschichte im einzigen und wahrsten Sinne stattfinden. „Dem Menschen [...] ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen; denn das eben ist der Charakter des Menschen, daß seine Geschichte, obgleich sie in praktischer Hinsicht planmäßig seyn soll, doch (eben deswegen) in theoretischer Rücksicht es nicht seyn kann“ (AS 1, p. 301 [SW I/1, p. 470]). Schellings Philosophie entspricht einem ,closed-open-Modell‘, es ist streng systemisch und – im Vergleich zu Hegel – dennoch offen: „Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine Geschichte möglich, und umgekehrt, nur was keine Theorie a priori hat, hat Geschichte“ (AS, 1, p. 302 [SW I/1, p. 471]). Freilich läßt der frühe Schelling nicht unvermittelt auf unsere Zeit sich anwenden. Um wirkungsgeschichtlich bis in die Gegenwart zu reichen, bedarf es der modifizierenden Unterstützung der Blochschen Interpretation. Ihrer mittelnden Tätigkeit ist es zu danken, daß die geistige Verbindung mit dem Deutschen Idealismus fruchtbar erhalten bleibt. Gleichzeitig führt eben diese Mittlerschaft über Bloch hinaus. Wir müßten nicht hinter ihn zurück, würde uns dessen Materialismus-Konzeption als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung genügen. Wozu nämlich Schelling, wenn in Bloch ,alles‘ vorliegt? Trägt die ,Ontologie des Noch-nichtSeins‘ etwa ungenügend zur Lösung der Verdinglichungsproblematik bei? Es scheint so. Nicht ohne Grund suchen wir bei Schelling etwas, das Bloch uns nicht geben kann oder will. Für Letzteren ist die Wirklichkeit gänzlich durch die Materie bestimmt, für deren „Heraufkommen“ zwar auch menschliches Bewußtsein notwendig ist, als „Transmissionskategorie“, dies jedoch, so hat man bei der Lektüre das Gefühl, nur als kleinster Teil im Getriebe jenes „stofflich“ bestimmten Weltgeschehens, das vom Ganzen, nicht vom Einzelnen her gesteuert und beherrscht wird. Schelling dagegen ringt um eine ausgleichende Positionsbestimmung zwischen Idealismus und Realismus. Oft tauscht und vermengt er die Prioritäten. Es ist sein „Schwanken, dem Endlichen ein unabhängiges Leben zuzugestehen oder nicht“99. Der Vorteil dieses theoretischen Ringens liegt jedoch darin, beide Ansätze gründlich erforscht und auf ihre ,Fusionsfähigkeit‘ hin überprüft zu haben. So hat Schel98 W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte, p. 20. 99 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 207.

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ling die konstruktivistischen Elemente der Transzendentalphilosophie zu keinem Zeitpunkt zugunsten eines reinen Materialismus aufgegeben.100 Die Korrespondenz zwischen Ding und Ich kann auf diese Weise in den lebensgeschichtlichen wie entwerfenden Hintergrund des Individuums erhellende Aufnahme finden. Der idealistische Anteil, das heißt die Ich-Bestimmtheit der Wirklichkeit, geht bei Bloch oftmals zugunsten der objektiven Seite verloren – zeigt er doch mehr an allgemeinen Entwicklungen sich interessiert, wie „objektiver Phantasie“, „objektiver Tendenz“ etc. Die Aufgabe des Subjekts besteht bei ihm vorzugsweise darin, die „heraufkommende Materie“ zu begreifen und nicht das bereits heraufgekommene und um sein eigenes Verständnis sowie seine Selbstzuschreibung ringende Ich. Die Bezeichnung Naturphilosophie darf bei aller Parteinahme für die Sphäre des Nicht-Ichs nicht über ihr idealistisches Zentrum hinwegtäuschen. Sie bedeutet nicht die Aufhebung, sondern lediglich die Hintergehbarkeit des Ichs, welches, da reflexionsabhängig, nicht letztes und damit ,höchstes Prinzip‘ der Philosophie sein kann. Dieses stellt für Schelling Natur dar. Das Ich behält seine ,setzende Potenz‘ bei gleichzeitiger Mäßigung seiner Kräfte. „Schellings ,Realismus‘ besteht darin, daß er dem Nicht-Ich seine Autonomie zurückgibt, daß er die ,Natur‘ nicht zur Setzung, sondern zur Voraussetzung des Ich erhebt. Mit unseren Worten: Fichtes Ich geht im Entwurf auf, Schellings Ich entwirft als entworfenes. Das Ich als höchste Potenz ist geworden und findet sich als gewordenes vor. Diese Befindlichkeit des Ich konstituiert sich im allgemeinen Modus des Vorfindens von Seiende[m], das nicht Ichselbst ist, weiter in den ausgezeichneten Modis des Vorfindens von anderen Menschen und des Vorfindens des eigenen Selbst.“101

Daß Natur und Geschichte von Schelling dennoch als Mitsetzungen des Ichs betrachtet werden, jedoch als zunächst präreflexive, bewußtlose, öffnet den Raum für eine Auseinandersetzung mit jener „Region des Bewußtseyns“, welche er die „transscendentale Vergangenheit“ des Ichs nennt. Indem „das Ich zum individuellen wird – was eben durch das Ich bin sich ankündigt – angekommen also bei dem Ich bin, womit sein individuelles Leben beginnt, erinnert es sich nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat, denn da das Ende dieses Wegs eben erst das Be100 Schelling verwendet die Begriffe Materialismus und Realismus alternierend, häufiger jedoch letzteren. Selbstverständlich haben sie bei ihm noch nicht exakt jene Bedeutung, welche ihnen durch die Philosophie des 20. Jahrhunderts zugekommen ist. Der Name Naturphilosophie ist als Oberbegriff zu verstehen, welcher sowohl die idealistischen als auch die materialistischen Anteile seines Denkens umfaßt. 101 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 160.

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wußtseyn ist, so hat es (das jetzt individuelle) den Weg zum Bewußtseyn selbst bewußtlos und ohne es zu wissen zurücklegt“ (SW I/10, p. 94). Und als hätte er ihn für Bloch selbst geschrieben, für den jener Weg allein von Interesse ist, welcher die allgemeine ,Tendenz‘ auf Zukunft, auf ,konkrete Utopie‘ hin anzeigt, ergeht Schellings Hinweis: „Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst“ (SW I/10, p. 94 sq.). Deshalb bliebe mit Durchsicht und Klarheit allein die Rekonstruktion der Vergangenheit des Ichs, aus der Warte des Sich-seiner-selbst-bewußtgewordenseins, erreichbar. „Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat: ein Ergebnis, das mit bekannten Platonischen Ansichten [...] übereinstimmt[]“ (SW I/10, p. 95). Eben dieses (platonische) Erinnern kritisiert Bloch im Prinzip Hoffnung, fürchtet er doch, daß eine zu intensive Beschäftigung mit dem Vergangenen das Aufspüren des Noch-nicht-Bewußten aus der Gegenwart heraus behindern könnte. Bleibt das Warum und Woher der Erwartung des Utopischen jedoch unaufgeklärt, muß die Hoffnung weitere Male enttäuscht werden – was sicher nicht in seinem Sinne wäre. Es entsteht die berechtigte Frage, warum das Ich dieses Ding und nicht ein anderes ,gewählt‘ hat, um an ihm seiner selbst sich bewußt zu werden. Eine solche Rück- oder Wesensschau findet bei Bloch nicht statt. Das Ich ,hat‘ sich nicht erst, indem es wird, wie Bloch betont, sondern indem es weiß, was es war und wie es zu dem wurde, was es ist. Schelling erklärt und betont die Rückbezogenheit des Produktes auf den Produzierenden (oder das Produzierende). Daß bei allem, was zwischen Individuen sich ereignet, ein subjektives, autorisiertes Wollen, dessen Abdruck erst am Resultat der Handlung (= Produkt) lesbar ist, mitwirkt, nimmt das Individuum in die volle Verantwortung. Da nach Schelling alle ,Tathandlungen‘ sich zunächst bewußtlos vollziehen, sei es Aufgabe der Philosophie, diese zur vollständigen Vereinigung mit dem bewußten Ich zu führen. Seine Konzeption des Verhältnisses von Subjekt und Objekt ist nicht zuletzt aus diesem Grunde existenzphilosophisch wie psychoanalytisch aufschlußreicher. Die Systeme von Bloch und Schelling komplementieren einander. Überwindung von Verdinglichung heißt Überwindung von ,Erstarrung‘ und ,Abspaltung‘, heißt Überwindung der Annahme, die Dinge seien in ihrer ,Trägheitsstruktur‘ Ich-unabhängig zementiert und für alle Zeiten festgelegt. Erst wenn es gelingt, den identifizierenden Zusammenhang von Idealem und Realem, von Produzierendem und Produkt bewußt zu machen und als Einheit von Geist und Materie wieder herzustellen, wie die Natur als Organismus es demonstriert, ist ein Ausbruch aus dem Kreis der Entfremdung möglich. Diesen Weg gilt es mit Schelling im dritten Kapitel zu rekonstruieren. Ausgewählte naturphilosophische Schriften aus den Jahren 1797 bis 1806 stehen dort im Zentrum unseres Interesses. Es sind dies die Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), Von der Weltseele (1798),

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Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), System des transscendentalen Idealismus (1800), Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) und Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur (1806). Eine exakte Unterscheidung zwischen transzendental-, identitäts- und naturphilosophischen Schriften innerhalb der Frühphilosophie Schellings, wie einige Autoren sie vornehmen102, können wir bis jetzt nur aus pragmatischen Gründen mitvollziehen, da bei genauerem Hinsehen die vielfachen Überschneidungen und Verschränkungen der Gedanken in jener Phase außerordentlicher Produktivität u. E. zu dicht aufeinander folgen, um sie exakt trennen zu können.103 Die Tatsache außerdem, daß Schelling Einleitungen und Entwürfe verfaßt, welchen dann keine Hauptstücke und Ausführungen folgen, oder, daß er vermeintliche Hauptwerke ohne Einleitung und Schluß hinterläßt, wie überhaupt vieles Fragment, noch dazu Manuskript bleibt, daß er Begriffe von einer Schrift zur anderen hinübernimmt, ihre Bedeutung jedoch verändert, gar verkehrt, macht das Geschäft mit ihm nicht leichter.104 Ob Bloch am Ende recht behält und wir im frühen Schelling einen veritablen 102 Cf. J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte; K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre; N. Hartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus. 103 „Auch die Naturphilosophie Schellings gibt es bekanntlich nicht“, bemerkt Wolfgang Wieland, „[w]as vorliegt, ist eine Reihe von Schriften, deren Aussagen zumindest in ihrem Wortsinn nicht immer miteinander harmonieren, und deren vorläufigen Charakter schon ihre Titel erkennen lassen. [...] Oft spricht Schelling eine Vermutung aus, stellt eine Begründung in Aussicht und schlägt dann zunächst ganz andere Wege ein. So kommt es dazu, daß Schelling gelegentlich mehrere in entgegengesetzte Richtungen zielende vorläufige Versuche zur selben Zeit nicht nur anstellt, sondern sie im Bewußtsein ihrer Vorläufigkeit der Öffentlichkeit mitteilt. Wer daher Schellings Denken in seinem Zusammenhang verstehen will, darf es nicht als erwiesen ansehen, daß dieser Zusammenhang am ehesten noch dann sichtbar gemacht werden kann, wenn man sich als Leitfaden die Entstehungszeit seiner Schriften wählt. Umgekehrt berechtigt natürlich auch der Mißerfolg, den alle bisherigen Versuche, Schellings Denken genetisch verständlich zu machen, erlitten haben, noch nicht zu der Annahme, daß ein Zusammenhang in Schellings Denken nicht aufzuweisen sei“ (W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur“, p. 239 sq.). 104 Karl Jaspers schreibt dazu treffend: „Während ihm [Schelling] in der Jugend das schnelle geniale Hinwerfen gelingt, oder er in breiten Entwicklungen unreife Scheinsysteme baut, ist sein späteres Werk sorgfältiger und bewußt mit besonnener Formung gearbeitet. In der Jugend publizierte er die unfertigen Gedankenbildungen, später nicht

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Beitrag zur Lösung des Problems der Verdinglichung finden werden, kann nur hoffnungsvoll vermutet, jedoch an dieser Stelle nicht voreilig und letztgültig behauptet werden. Allein die gründliche Analyse des Materials vermag uns die gewünschte Sicherheit zu geben.

mehr. Daher ist der Nachlaß, umfangreicher als die von ihm selbst veröffentlichen Schriften, für das Verständnis seiner Philosophie ebenso wichtig wie diese. Bei Schelling entwickelt sich kein System, in dem (wie bei Hegel) alle Arbeiten an ihren Platz gehören. Er scheint immer wieder von vorn anzufangen, planend, entwerfend, versuchend. Auch Durchführungen, die im Schema gelingen, gelten nur für den Augenblick. Nie hat er ein fertiges System, so sehr auch eine einzelne Schrift so aussehen und mit solchem Anspruch auftreten mag. Daher gibt es bei ihm auch kein durchgeführtes, bis ins Einzelne und im Ganzen stoßkräftiges Buch“ (K. Jaspers: Schelling. Größe und Verhängnis, p. 48 sq.).

1. Verdinglichung

1.1 I HRE B EDEUTUNG

BEI

G EORG L UKÁCS

Wir sind nun, seit Kant, in eine Zeit gekommen, in welcher die Frage nach Subjekt und Objekt für uns neu dasteht. Nicht mehr die Auslassung Gottes und die Setzung des aufgeklärten Reiches der Vernunft an seine Stelle, also die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Perspektivwechsels, treiben dazu an, sondern die omnipotent gewordene Objektstruktur, das heißt die vom Menschen errichtete Warenwelt. Gegenstand des Anstoßes der Überlegung ist der Gegenstand selbst. Es gilt den Versuch zu wagen, von einer quasimetaphysischen Ordnungswirklichkeit sich zu befreien, um die Dinge an sich und – was kein Widerspruch ist – aus der Befindlichkeit des Subjekts heraus perzipieren und verändern zu können. Zwei Stränge marxistischer Tradition begegnen uns beim Aufbrechen der übermächtigen Objektstruktur: der eine führt von Hegel zu Lukács, der andere von Schelling zu Bloch. Beide Interpretationslinien, so unterschiedlich sie auch sein mögen, arbeiten mit einem identitätsphilosophischen Ansatz. Sie sollen je für sich in diesem und im nächsten Kapitel zur Darstellung gelangen. Im Folgenden wollen wir das Eigentliche an Lukács’ Verdinglichungstheorem extrahieren, um es dadurch von den wirkungsgeschichtlichen Übermalungen zu lösen, welche ihm – auch vom Verfasser selbst – widerfuhren. Aus der Kenntnis des Gesamtwerks heraus scheint der Distanzierung des späten Autors von seiner Frühschrift etwas Artifizielles, gar Unglaubwürdiges anzuhaften – kehrt er doch stets, auch und gerade in der Ontologie des gesellschaftlichen Seins, zu den Grundzügen von Geschichte und Klassenbewußtsein zurück. Besonders ist dies Eberhard Braun aufgefallen: „Zwar ist Lukács’ Selbstkritik Rechnung zu tragen, dennoch verdienen einige Positionen und Thesen aus Geschichte und Klassenbewußtsein gegen den späteren Lukács selbst verteidigt zu werden. Einspruch ist zu erheben gegen die Einschätzung der eigenen theoretischen Herkunft. Obgleich Lukács selber sich in die Hegelianische Tradition einreiht, verrät Geschichte und

58 | O BJEKT -S UBJEKT Klassenbewußtsein Spuren zeitgenössischer akademischer Philosophie, insbesondere neukantianistische.“1

Zum Text selbst: Die dreigliedrige Aufteilung des Stoffes folgt dem sorgfältig gewählten Titel der Arbeit, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, welcher durch diese Benennung die leitende Frage nach dem Verhältnis von Objekt und subjektivem Bewußtsein ahnen läßt. Im ersten Teil analysiert der Verfasser „Das Phänomen Verdinglichung“. Im zweiten expliziert er dasselbe als erkenntnistheoretisches Problem, welches die „Antinomien des bürgerlichen Denkens“ entschlüsselt. Abschließend erörtert er den „Standpunkt des Proletariats“, wobei der vorangegangene Teil als systematische Rechtfertigung der historischen Unausweichlichkeit revolutionären Handelns, für das er im dritten plädiert, sich erklärt. Marxens Kapital folgend, beginnt auch Lukács seine Studie mit der Analyse der Ware. Deren Struktur beruhe darauf, „daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ,gespenstige Gegenständlichkeit‘ erhält“ (GK, p. 257). Von Beginn an legt der Autor den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf die intersubjektiven Beziehungen. Von dort aus deduziert er den Begriff der Verdinglichung. Zwar komme dieser bei Marx vor, sei dort aber, im Vergleich zu Lukács, keineswegs ein „Schlüsselbegriff“ – kritisiert Braun. Marx spreche in Bezug auf die zu analysierende Ware von Verdopplung und Verkehrung – diesen Ausdrücken komme ,Schlüsselcharakter‘ zu.2 „Marxens Ziel war nicht, Dingbeziehungen auf menschliche Beziehungen zurückzuführen, es kam ihm vielmehr auf den Nachweis an, welche gesellschaftliche Form die Mensch-Ding-Beziehung unter bestimmten historischen Bedingungen annimmt. Lukács hingegen will zeigen, wie der zwischenmenschliche Prozeß zum einzelnen isolierten, toten Sein, zur Tatsache stillgestellt, abgetötet wird. Die Verdinglichung verwandelt den identischen Prozeß von Subjekt und Objekt auf subjektive und objektive Weise in Dinge.“3

Erst die Verdopplung der Gegenständlichkeit (als Gebrauchs- und Tauschwert), als Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit, erst die Verkehrung der unmittelbaren Seinsbestimmtheit der Ware kennzeichnet nach Braun ihren Fetischcharakter. Es ist jedoch gerade das Verdienst Lukács’, vom gedoppelten Produkt auf dessen Ursprung, das produzierende Subjekt, zu verweisen. Das Problem beginnt für ihn beim 1

E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 174.

2

Cf. H. Wallat: „Der Begriff der Verkehrung im Denken von Marx“, et idem: Das Bewußtsein der Krise, cap. 3.1.3.3: „Verdinglichung und Fetischismus“, pp. 337-351.

3

E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 188.

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Erzeuger. Dessen Anlage und Verhältnis gegenüber dem Erzeugnis gilt es zu analysieren, um das Fetischphänomen zu erfassen. Lukács‫ ތ‬Theorie der Verdinglichung ist eine Theorie der Verdoppelung der Gegenständlichkeit, welche die Verdoppelung des Subjekts ebenso zur Folge wie zur Voraussetzung hat. Die Ursache dieser Duplizität entdeckt er – wie unten näher mitgeteilt – in einer bestimmten philosophiegeschichtlichen Entwicklung sowie in einem erkenntnistheoretischen Irrtum, welchen jene beinahe notwendig hervorbrachte. Von dieser Warte aus scheint Brauns Kritik ebenso exemplarisch wie unverständlich. Lukács’ Studie wäre kaum so erfolgreich gewesen, hätte sie allein die Marxsche Warenanalyse behandelt statt die Frage nach der Insuffizienz des Subjekts zu stellen. Darin gründet ihr innovativer Einfluß auf den westlichen Marxismus. Indem er Marx mit Hegel und Kant sowohl konfrontierte als auch synthetisierte, hat ihr Verfasser den Diskurs wieder auf ein philosophisches Fundament gestellt. Die tiefe Ernsthaftigkeit und das akademische Niveau seiner Überlegungen waren der Garant ihrer Rezeption. Von jeher wurde auch das Denken selbst nach den Umständen des Warenverkehrs konformiert. Eine gewisse Fixierung des Subjekts auf den Gegenstand, welche nicht anders denn Fetischisierung zu nennen ist, hat immer bestanden. Erst dem modernen Kapitalismus jedoch gelang es, durch seine spezifische Art von Herstellung wie Tausch der Ware deren rasche und vermittelte Bewegung (zwischen Produzent und Konsument) zur „herrschenden Form des Stoffwechsels“ der gesamten Gesellschaft werden zu lassen. Lukács erkennt, daß die Komplizierung der Vermittlung und ihrer Wege die Ökonomie zu einer autonomen Macht heranwachsen ließ, welcher alle übrigen Lebensräume peu à peu subordiniert wurden. Indem alles Produzieren und Wirtschafen Strukturcharakter annimmt, verliert es als „dingliche Hülle“ seine Durchsichtigkeit. Das „Geheimnisvolle“ der Warenform besteht nach Marx darin, „daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo [= Verwechslung] werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.“4

Im Zuge der Rationalisierung sämtlicher Arbeitsprozesse, ob in Fabrik oder Büro, erlebt der Mensch durch seine eigene Tätigkeit sich als abgeteilt vom Gesamtvorgang, als gesondert von dem, was die Griechen Einheit nannten und durch den 4

K. Marx: Das Kapital, MEW 23, p. 86.

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Deutschen Idealismus Renaissance erfuhr. Marx weist darauf hin, daß das Gefühl der Entfremdung nicht nur im Verhältnis des Menschen zur Warenwelt, sondern auch gegenüber seiner eigenen Arbeit und damit zu sich selbst entsteht. Das Getrenntsein wird vom Individuum also zweifach erfahren: in objektiver wie subjektiver Hinsicht. „Objektiv, indem eine Welt von fertigen Dingen und Dingbeziehungen entsteht. [...] Subjektiv, indem – bei vollendeter Warenwirtschaft – die Tätigkeit des Menschen sich ihm selbst gegenüber objektiviert, zur Ware wird“ (GK, p. 261). Das Ergebnis von Trennung und Abhängigkeit heißt Lohnarbeit; ebenfalls ein Produkt des neuen gesellschaftlichen Seins. Das von Lukács hier Ausgeführte leitet vom Marxschen Diktum sich ab: „Was also die kapitalistische Epoche charakterisiert, ist, daß die Arbeitskraft für den Arbeiter selbst die Form einer ihm gehörigen Ware [...] erhält.“5 Sowohl der Bruch mit der qualitativ bedingten Einheit des Produktes als auch die Spaltung der Gesamtpersönlichkeit des schaffenden Individuums wird – im wahrsten Sinne des Wortes – in Kauf genommen. „[D]ieses Zerreißen des Objektes der Produktion [bedeutet] notwendig zugleich das Zerreißen seines Subjektes“ (GK, p. 263). Aus der Analyse der Universalität der Warenkategorie folgert Lukács: „Das Schicksal des Arbeiters wird zum allgemeinen Schicksal der ganzen Gesellschaft. [...] An seinem Schicksal ist für den Aufbau der ganzen Gesellschaft typisch, daß diese Selbstobjektivierung, dieses Zur-Ware-Werden einer Funktion des Menschen, den entmenschten und entmenschlichenden Charakter der Warenbeziehung in der größten Prägnanz offenbaren“ (l. c., p. 265; p. 267). Im einzelnen Proletarier sieht der Autor den ,Weltgeist‘ seiner eigenen Gegenwart zu sich kommen.6 Weiter konstatiert und beklagt er die Zerteilung der Objektstruktur selbst (Staat und Gesellschaft) in unübersichtliche Segmente, welche den Einzelnen um so ohnmächtiger erscheinen lassen. Die allgemeine Neigung zur Kalkulation habe weitgehend sämtliche Lebensbereiche erfaßt, was eine zunehmende Verrechtli5

K. Marx: Das Kapital, MEW 23, p. 184, Anm. 41.

6

„Die für uns heute vermutlich eher erstaunliche Betonung der historischen Sonderstellung des Proletariats hängt zum einen damit zusammen, daß die Proletarier am stärksten unter den Rationalisierungsschüben der Moderne zu leiden haben, zum anderen mit ihrer Produzentenrolle: Die Arbeiter sind es ja, die den gesellschaftlichen Reichtum durch ihre (entfremdete) Arbeit hervorbringen. Allerdings unterliegen die Arbeiter auch in besonderem Maße den Verdinglichungseffekten der Warenwirtschaft. Ihr Bewußtsein ist deshalb in der Regel zunächst wenig revolutionär; bildlich ausgedrückt: Der deutsche Arbeiter richtet sich lieber eine eigene kleine Insel der Seligen ein (man besichtige nur einmal die inzwischen museal gewordenen Arbeitersiedlungen wie die idyllische Margarethenhöhe in Essen), als sich auf den stürmischen Ozean der Revolution zu wagen“ (R. Dannemann: Georg Lukács, p. 63).

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chung, welche den Staat in einen „Paragraphenautomaten“ verwandle, mit sich bringe. Bürokratismus zählt er zu einer wesentlichen Form von Verdinglichung und zu einer typischen Begleiterscheinung kapitalistischen Wirtschaftens. Sie verlange eine ebensolche Anpassung des Bewußtseins wie sie beim Arbeiter im Einzelbetrieb festzustellen sei. Für Lukács liegt die Gefahr darin, daß auf diese Weise auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen objektiviert und versachlicht werden, um als Waren aufzutreten und ihren Besitzer in einen Verkäufer zu verwandeln. „Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo gerade die Subjektivität selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Persönlichkeit des ,Besitzers‘ wie von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstände unabhängigen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird. Die ,Gesinnungslosigkeit‘ der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisse und Überzeugungen ist nur als Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung begreifbar“ (GK, p. 275).

Die Dispersion von Wissen und Arbeit in eine Vielzahl ausdifferenzierter Spezialgebiete behindere das Begreifen des Ganzen und das Verstehen seiner im Zusammenhang stehenden Teile. Verdinglicht ist der Verstand dann, wenn er die Totalität nicht mehr zu erfassen vermag. Glück und Unglück philosophischer Erkenntnis liegen für Lukács in Kant. Diesem ist einerseits der uneingeholte Verdienst jener „kopernikanischen Wende“ anzurechnen, der zufolge die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis zu richten haben. Gleichzeitig aber schuf derselbe ein transzendentales Reich, welches um den Preis der Auslassung des Qualitativen die mathematische Exaktheit der Quantität zum allgemeinen und absoluten Gesetz erhob. In Kant kulminiert jener rationalistische Weg, welcher von Descartes, Spinoza, Malebranche, Leibniz, Wolff etc. bereitet wurde. Seine Methode, der Geometrie entlehnt, ist die der Konstruktion, das heißt der Erzeugung des Objekts aus den formellen Prämissen des GegenstandSeins in Raum und Zeit. „Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt“ (KrV, B 40). Nutzen und Notwendigkeit der Rationalität an sich, als Formsystem, welches die erfaß- und berechenbare Seite der Welt der Erscheinungen intendiert, stellt Lukács nicht in Abrede. Anlaß zur Kritik geben allein ihm bestimmte Tendenzen des „modernen Rationalismus“, nämlich, daß dieser mit dem Anspruch aufträte, „das Prinzip des Zusammenhanges sämtlicher Phänomene, die sich dem Leben des Menschen in Natur und Gesellschaft gegenüberstellen, entdeckt zu haben. Dagegen war jeder frühere Rationalismus stets nur ein Teilsystem“ (GK, p. 290). Eben dieser Anspruch aber, die allgemeingültige Methode zur Erkenntnis des gesamten Seins gefunden zu haben, überfordere den zeitgenössischen Rationalismus und entlarve ihn gerade darin als bürgerlich. Den Unterschied, ob eine Form als Universalkategorie oder allein

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zur Organisation isolierter Teilsysteme Verwendung findet, nennt Lukács einen qualitativen. Paradigmatisch wird dieser moderne ,Universalienstreit‘ am Kantischen ,Ding an sich‘. An ihm entzündet sich die unabgeschlossene Diskussion um die Grenze des formellen wie abstrakten menschlichen Erkenntnisvermögens. Unser Autor konzentriert die Debatte darum auf wesentlich zwei Dimensionen, an denen er das Dilemma zu seinen Gunsten demonstriert und entscheidet: „erstens auf das Problem der Materie [...], auf die Frage nach dem Inhalt jener Formen, mit denen ,wir‘ die Welt erkennen und erkennen können, weil wir sie selbst erzeugt haben; zweitens auf das Problem des Ganzen und das der letzten Substanz der Erkenntnis, auf die Frage nach jenen ,letzten‘ Gegenständen der Erkenntnis, deren Erfassen erst die verschiedenen Teilsysteme zu einer Totalität, zum System der vollständig begriffenen Welt abrundet“ (GK, p. 291).

Mit dem Inhalt des Begriffs meint Lukács mehr als bloße Sinnlichkeit; sie allein würde ihm nicht gerecht, obschon er freilich in enger Beziehung zu ihr steht. Mit dem Ausdruck Inhalt soll zunächst einmal das Gegenteil von Form und damit von vernunftgemäßem Begreifen überhaupt ausgedrückt werden. Noch einmal: Es geht um die Schwierigkeit, das Reale als Ganzes sowie als einzelnes Existierendes erkennen zu können, d. i. die „Unerfaßbarkeit der Totalität von den Begriffsbildungen der rationalen Teilsysteme aus und die Irrationalität der einzelnen Begriffsinhalte“ (l. c., 293 sq.). Die transzendentale Dialektik verunmögliche eben dies durch die rigide Trennung, welche zwischen Phänomena und Noumena sie setzt. Dennoch fordert der Rationalismus, getrieben vom Glauben an die mathematische Systematisierung, „daß jedes einzelne Moment des Systems aus seinem Grundprinzip erzeugbar, von ihm aus genau voraussehbar, kalkulierbar sei“ (l. c., p. 294). Die Zufälligkeit alles Faktischen, von Tatsächlichkeit und Inhalt, muß den Systemgedanken jedoch weiterhin scheitern lassen. Lukács betont, daß die „Gegebenheit“, das Dasein der Dinge in der Welt der zufälligen Erscheinungen, unmöglich in das rationelle System der Verstandesbegriffe eingearbeitet werden könne. Das Irrationale würde dem Rationalen eingezwungen. (Dies wird besonders auf dem Gebiet der Moral augenscheinlich. Gerade dort aber stört Lukács es überhaupt nicht, was ihn eindeutig näher an die Ethik Kants als an die Auffassungen Hegels über die Sittlichkeit bindet.) Entweder fiele das Denken in dieser Weise auf die Stufe eines naiven Dogmatismus zurück oder „es ist gezwungen, anzuerkennen, daß die Gegebenheit, der Inhalt, die Materie in die Formgebung, in die Struktur der Formen, in die Beziehung der Formen aufeinander, also in die Struktur des Systems selbst bestimmend hineinragt, so muß das System als System aufgegeben werden“ (l. c., 295). Das aus der Naturwissenschaft sich ableitende System vermag die Dinge zu registrieren, sie in eine starre Aufstellung zu bringen. Zu Deskription und Experiment verurteilt, bleibt

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es ihr jedoch verwehrt, die Verhältnisse von Subjekt und Objekt in Bewegung zu betrachten; dies erst gelingt Hegel durch die Idee von und als Prozeß und Totalität. Die Erscheinungen sollen im bewegten Zusammenhang, nicht nur in ihrem kausalen Gestellt-Sein erkannt werden. Das allerdings setzt, wie bei Hegel und Lukács geschehen, die Gleichsetzung von Logik und Dynamik voraus. Relevanz erhalten diese Überlegungen für die Bestimmung des oben eingeführten Begriffes der Konstruktion. „Es darf nie vergessen werden, daß die ununterbrochene ,Erzeugung‘ des Inhalts für die Materie des Seins etwas ganz anderes bedeutet, wie in der vollständig auf Konstruktion beruhenden Welt der Mathematik, daß die ,Erzeugung‘ hier nur die verstandesmäßige Begreifbarkeit der Tatsachen bedeutet, während in der Mathematik Erzeugung und Begreifbarkeit vollständig zusammenfallen“ (GK, p. 297).

Alle Mißverständnisse gründen in der Dichotomie, welche im Begriff der Erzeugung sich findet. Die idealistische Reduktion der Erkenntniskraft darf nicht mit realem Zeugungsvermögen verwechselt werden. Anders: das Bewußtsein kann sich verändern, im Vollzug des Begreifens sich gleichsam neu erschaffen, ohne eine reelle Bewegung am Objekt vollzogen zu haben. Projektion und Gegenstand berühren dabei sich nur idealiter. Bewußtsein ist kein konstanter Status des Urteilsvermögens, sondern zeichnet durch seine dynamisierte Unabgeschlossenheit wie ,Offenheit nach vorne‘ sich aus. Umgekehrt ist die Veränderung, das reale Erzeugen des Objekts aufgrund von Bewußtseinsvorgängen durchaus möglich; dies jedoch nur innerhalb der Grenzen bekannter Naturgesetzte. Konstruktion kann am Ende nur an zwei (verschiedenen) Orten vollzogen werden: als Mentalkreation oder Laborerzeugung, als constructio negativa oder constructio positiva. Die Vermischung beider Topoi führt nach Lukács zu jener Paradoxie, welche er als „Antinomien bürgerlichen Denkens“ bezeichnet. Solange die bürgerliche Klasse dessen sich nicht bewußt ist, nicht erkennt, daß ihr eigenes Denken von ihrem gesellschaftlichen Sein bestimmt ist, wird sie die Wirklichkeit vergeblich nach ihren Idealen zu gestalten suchen. Vergeblich deshalb, weil die Widersprüche der Praxis idealistisch nicht aufzulösen sind. Während Denken und Sein für identisch gehalten werden, differieren sie in der Realität. Daher, so Lukács, müsse die bürgerliche Wissenschaft in der Beherrschung ihrer Teilsysteme sich verausgaben statt eine Ontologie zu wagen, welche das Ganze des Wißbaren in seiner Einheitlichkeit zu bewältigen imstande wäre. „Es ist durchaus nicht zufällig, daß gleich zu Beginn der modernen philosophischen Entwicklung die Mathematik als Erkenntnisideal auftaucht: als Versuch, ein rationelles Beziehungssystem zu schaffen, das sämtliche formelle Möglichkeiten, alle Proportionen und Relationen

64 | O BJEKT -S UBJEKT des rationalisierten Daseins umfaßt, mit dessen Hilfe alles Erscheinende [...] zum Gegenstand eines exakten Kalküls werden kann“ (GK, p. 308).

Was nicht in die Maßgabe der Konstruierbarkeit der Einzelwissenschaften fällt, wird als Unerzeugtes, als Gegebenheit in seiner Irrationalität stehen gelassen. Die Wirklichkeit als Totalität jedoch verzeiht keine Reservate des Wissens. Avec rancune fordert sie zurück, was man ihr vorenthielt. Der Verzicht, die gesellschaftliche Realität als Ganzes und als Sein zu begreifen, historisch wie strukturell, rächt nach Lukács sich bereits in seiner Gegenwart, im Mißlingen bürgerlicher Ökonomie, welche in der Illusion partikularer Exaktheit vor jedem Scheitern sich sicher wähnt. Folgende „Doppeltendenz“ in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft kristallisiere sich heraus: „daß sie Einzelheiten ihres gesellschaftlichen Daseins im steigenden Maße beherrscht, den Formen ihrer Bedürfnisse unterwirft, zugleich aber – ebenfalls im steigenden Maße – die Möglichkeit zur gedanklichen Bewältigung der Gesellschaft als Totalität und damit die Berufenheit zu ihrer Führung verliert“ (GK, p. 299). Ein weiteres Ergebnis dieser „Doppeltendenz“ ist die Duplizierung des Subjektes selbst. Wie ist das zu verstehen? Der Verfasser durchschaut, daß der Versuch, alles ,Vernunftlos‫ދ‬-Inhaltliche zu desavouieren, nicht nur auf das Objekt, sondern auch auf das Subjekt selbst gerichtet ist: „Die kritische Klärung der Kontemplation bemüht sich immer energischer in der Richtung, aus ihrem eigenen Verhalten alle subjektiv-irrationellen Momente, alles Anthropomorphe restlos auszumerzen; das Subjekt der Erkenntnis immer energischer von dem ,Menschen‘ abzulösen und es in ein reines – rein formelles – Subjekt zu verwandeln“ (GK, p. 306). Der Autor gibt uns hier eine Definition von Verdinglichung, die große Affinität zu Arno Gruens Begriff der Abspaltung aufweist (ut supra scripsi). Es ist die Suche nach dem Objektiven im Subjektiven, welche das Subjekt am Ende in sich selbst auseinandertreibt. Die epistemische Purifikation, welche alle Sphären kontrolliert, verdinglicht so auch den Träger der Erkenntnis und Schöpfer der ,Erzeugung‘ selbst. Das Subjekt des Wissens negiert um den Preis scheinbarer Objektivität seine eigene Subjektivität und somit die Bedingung der Möglichkeit von Bewußtsein überhaupt. Damit sind wir zu einem Punkt vorgedrungen, an dem die konsequente wie berechtigte Frage entsteht, wie denn ein Subjekt als Erzeuger der Totalität der Inhalte gedacht werden muß. Geht es doch darum, eine Theorie zu konzipieren, bei der Subjekt und Objekt schließlich identisch werden, ihre Zweiheit in der Empirie überwinden und eine Einheit bilden ohne der vorgestellten Dichotomie zu verfallen. „Diese Einheit ist [...] Tätigkeit“ (l. c., p. 301), genauer: „Tathandlung“. Der Autor weiß, daß schon Fichte in der Wissenschaftslehre den Kantischen hiatus irrationalis von Denken und Sein, Wissen und ,Erzeugen‘, von theoretischer und praktischer Vernunft zu überwinden suchte. Von jenem erhofft er sich begriffliche Unterstüt-

1. V ERDINGLICHUNG | 65

zung. Nachdem Lukács in der kontemplativen Verwaltung der Ding-an-sich-Frage das alle Erstarrung verantwortende und alle Einheit verhindernde Übel entdeckt hat, meint er, im Prinzip der Praxis das identitätsstiftende Pendant gefunden zu haben. Von ihr wünscht er sich die Aufhebung der „Gleichgültigkeit der Form dem Inhalt gegenüber“. Das Prinzip des Praktischen ist ihm das „Prinzip des Veränderns der Wirklichkeit“. Erhellt wird außerdem, daß experimentelles Handeln, wie die Naturwissenschaft es pflegt, als constructio positiva, mit Praxis, wie er sie versteht, nichts gemein hat. „Gerade das Experiment ist die am reinsten kontemplative Verhaltensweise. Der Experimentator schafft ein künstliches, abstraktes Milieu, um das ungestörte Sichauswirken der zu beobachtenden Gesetzte ungehindert, alle hemmend irrationalen Elemente sowohl von der Seite des Subjekts wie von der des Objekts ausschaltend, beobachten zu können. Er ist bestrebt, das materielle Substrat seiner Beobachtung – soweit wie nur möglich – auf das rein vernunftgemäß ,Erzeugte‘, auf die ,intelligible Materie‘ der Mathematik zu reduzieren“ (GK, p. 312).

Da das Ganze unverändert bleibe, habe alle Tätigkeit in seinem ,Inneren‘ die Qualität reinen Zusehens. Anstelle eines dogmatistischen Übergriffs durch ein ,Universalkalkül‘, welches die Union von Sein und Denken zu leisten glaubt, plädiert Lukács für den ,kritischen Weg‘, das heißt für das Einsehen der Tatsache einer letzten Unmöglichkeit der Verknüpfung von Form und Inhalt. Die Anerkennung der Existenz einer ,nicht-intelligiblen Materie‘ führt unmittelbar in jenes ungelöste Ringen um Freiheit und Notwendigkeit, um Voluntarismus und Fatalismus. „Die ,ewige, eherne‘ Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens und die rein innerliche Freiheit der individuellen, sittlichen Praxis erscheinen am Schluß der Kritik der praktischen Vernunft als unvereinbar getrennte, aber zugleich in ihrer Getrenntheit unaufhebbar gegebene Grundlagen des menschlichen Daseins. Es ist die philosophische Größe Kants, daß er in beiden Fällen, statt die Unlösbarkeit des Problems durch eine dogmatische Entscheidung [...] zu verdecken, die Unlösbarkeit schroff und ungemildert herausgearbeitet hat“ (GK, p. 314).

Ungeachtet kritischer Äußerungen, erweist mit diesem Bekenntnis Lukács sich einmal mehr als Adept Kantischer Philosophie. Er macht darauf aufmerksam, daß die festgestellte Antinomie bis dato ebensowenig im Marxismus – er bezieht sich auf Plechanow – gelöst werden konnte, sondern nur auf anderer, nämlich gesellschaftlicher Ebene diskutiert würde, dort jedoch als im Kern dieselbe sich wiederfände: „[E]inerseits erscheint der Mensch als Produkt des sozialen Milieus, andererseits wird ,das soziale Milieu durch die ,öffentliche Meinung‫ ދ‬erzeugt, das heißt durch den Menschen‫( “ދ‬l.c, p. 314). Das ,Erzeugte‘ übersteigt das subjektive Erkenntniswie Handlungsvermögen dann, wenn der Einzelne dem von Vielen ,Erzeugten‘ ge-

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genübersteht. Und dennoch: wenn auch die letzte Möglichkeit einer vollständigen Einheit von ihm ausgeschlossen wird – entgegen den Affirmationen Engels’ und des orthodoxen Marxismus – beschränkt er sich auf eine vorletzte, approximative, um das ,Erzeugen‘ der irrationalen Totalität wenigstens teilweise, unter bestimmten, nicht-kontemplativen Bedingungen zu gewährleisten. Welche sind das? Tathandlungen, welche Kunst hervorbringen. Im „Prinzip der Kunst“ erblickt Lukács die romantische Sehnsucht wie Möglichkeit des Menschen, wieder „Natur“, das heißt ganz zu werden – aus dem Zustand gesellschaftlicher Beschädigung heraus. Das Problem wurzelt in einem zweifachen Naturverständnis. Für das aufstrebende kapitalistische Bürgertum galt Natur als ein „Inbegriff der Gesetzmäßigkeiten“, also auch und gerade der gesellschaftlichen. Daneben etablierte sich die von Rousseau angestoßene Bedeutung, welche Natur als eine Art besseren ,Urzustand‘ betrachtet, ein ,ontologisches Paradies‘, aus dem der Mensch durch die sozialen Bedingungen sich vertrieben sieht. Das ,naturgemäße‘ „Prinzip der Kunst“ ist „das Schaffen einer konkreten Totalität infolge einer Konzeption der Form, die gerade auf die konkrete Inhaltlichkeit ihres materiellen Substrates gerichtet ist, die deshalb in der Lage ist, die zufällige Beziehung der Elemente zum Ganzen aufzulösen, Zufall und Notwendigkeit als bloß scheinbare Gegensätze aufzuheben“ (GK, p. 317 sq.).7 Mag sein,

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Mit der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik beschäftigte Lukács sich bereits 1917. In einem Aufsatz für die von Richard Kroner herausgegebene Zeitschrift Logos schreibt er: „[I]m eigentlichen Sinne gibt es nur im Aesthetischen eine wirkliche Subjekt-ObjektBeziehung, denn nur hier ist das Erwachsen [sic] zur vollendeten Selbstheit und das ungehemmte Sich-Ausleben von beiden Gliedern des Einandergegenüberstehens die Erfüllung der sphärenbestimmenden Norm“ (G. Lukács: „Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Aesthetik“, p. 2). Zugleich zeichnet hier sich Lukács’ Enthusiasmus für Schillers Rezeptionsästhetik ab. Der ästhetische Akt ist für Lukács ein moralischer. Die „reine Logik“ betrachtet er als Gegenpol zur Ästhetik, da sie Subjekt und Objekt nicht vereine, sondern trenne. So stellt er Logik und Ethik (als Kunst) einander gegenüber. Jene repräsentiere die Objektseite, diese die Subjektseite der Wirklichkeit. „In der ganz reinen Logik gibt es strenggenommen kein Subjekt. Der ,Träger‘ der wirklich realisierten theoretischen Kontemplation, das urteilende (oder urteilsjenseitige) Bewußtsein überhaupt kann im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr Subjekt genannt werden; sein Wesen, das Wesen der theoretischen ,Objektivität‘ ist ja die vollendete Befreiung [...] von jeder Subjektivität, von allen Spuren und Trübungen, die infolge einer, wie immer gereinigten, logisch gewordenen, subjektiven Einmischung in der reinen Sphäre des Theoretischen, im an sich Gelten der wahren Sätze [...] entstehen. Es wird also eine Objektswelt gefordert, deren Charakter durch das Aufgehobensein aller Subjektivität bestimmt werden kann. [...]

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daß im Artefakt Produzierender und Produkt identisch sind oder – wie Schopenhauer weiß – Wille und Vorstellung kongruieren. Das Subjekt, der Künstler, gilt als ausgemacht. Auch steht der Identitätscharakter, welcher der Tathandlung inhäriert, fest. Die Methode des Begreifens aber bleibt hier von Lukács unbesprochen. Was der Künstler als ,Erzeuger‘ ausdrücken, erzeugen will, ist auf diesem Wege nicht erklärt, allein daß man ihn als Subjekt gefunden hat. Das Was, der Inhalt der Materie, bleibt nach wie vor verschlossen. Beim nicht-geometrisch ,Erzeugten‘, Gegebenen, ist es möglich, deutend, nicht wissend, zu verstehen, was bei seiner Entstehung gemeint gewesen sein könnte. Es ist der Versuch, nachträglich zu begreifen.8 Und Im Gegensatz zu dieser Prävalenz des Subjekts bzw. Objekts in Ethik und Logik statuiert die Aesthetik ein ruhendes Gleichgewicht zwischen beiden“ (l. c., p. 2; p. 4). 8

Was Lukács der Kunst noch in Geschichte und Klassenbewußtsein nicht zutraut, nämlich die Identität über das Individuum hinaus als gesellschaftliche Totalität herzustellen, überantwortet er ihr in seiner zweibändigen Ästhetik (1962). Nachdem er in seinem Spätwerk seit langem von der Idee sich verabschiedet hatte, daß das Proletariat zum Subjekt-Objekt der Geschichte werde, rückt die Kunst als Ausdruck im Alltag gelebter Dialektik sowie als ,Identitätsstifter‘ wieder in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Er vertraut mit einem Male jener ,Kraft der Deutung‘, welche er früher als zu gering beurteilt hat, und spricht von der „defetischisierende[n] Mission der Kunst“. Die nachträgliche Analyse wird ihm jetzt zum Faktor praktischer Möglichkeit. Sie kulminiert in seiner Theorie der „doppelten ästhetischen Widerspiegelung“: Das Spezifische an der Kunst, insbesondere der Literatur sei, daß dabei eine nachträgliche Begründung, eine Motivierung des Anfangs durch den Schluß sichtbar werde. Dies erzeuge ein „platonisches Staunen“, ein „Erschüttertsein“, über den „unendlichen Reichtum der Welt, [...] wo das Ende dem Wesen nach im Anfang bereits enthalten war, sich jedoch zum Schluß als etwas ungeahnt Neues offenbart. Die Ganzheit der geschichtlichen Welt kann im Leben, bei großen Wendungen, beim Abschluß schicksalsreicher Perioden ähnliche, gedoppelte Ausblicke darbieten. Das Staunen ist aber dann nur ein Ausgangspunkt, ein Ansatz zur Analyse, um Erkenntnis und Praxis zu fördern. In der ästhetischen Widerspiegelung erscheint diese Verdoppelung als etwas, das – dem Prinzip nach – jedem Lebensphänomen innewohnen könnte; sie wird aber aus einer abstrakteren Möglichkeit zur konkreten Wirklichkeit nur durch die ästhetische Widerspiegelung dieses selben Lebens erhoben. Hier ist die unterschiedliche Rolle, die die Kategorie der Substantialität in der wissenschaftlichen und in der ästhetischen Widerspiegelung spielt, deutlich sichtbar. In jener ist sie der Ausgangspunkt für bestimmte Untersuchungen, in dieser die Einheit von intonierendem Anfang und krönendem Abschluß. (In den bildenden Künsten bilden diese beiden Momente eine unmittelbare Einheit, in der nur die nachträgliche Analyse – subjektiv – diese beiden Momente auseinanderlegen kann.)“ (G. Lukács: Ästhetik I,1., W 11, p. 777).

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umgekehrt ist, wie Bloch weiß, die künftige Wirklichkeit den Wünschen der Gegenwart bereits ,abzulesen‘. Das entspräche dem, was jener das „Begreifen der heraufkommenden Materie“ an der „Front des Weltprozesses“ nennt. Mit Front meint Bloch den gesuchten Berührungspunkt, die Schnittmenge zwischen Vernunft und Materie, zwischen ,Erzeuger‘ und ,Erzeugtem‘, Produzierendem und Produkt. Ihm jedoch wenden wir weiter unten uns gründlicher zu. Beide Wege zur empirischen Identität erfordern die Hermeneutik als Methode. Für Lukács entscheidend bleibt die von Fichte geleistete Erkenntnis, daß jeder gesellschaftliche oder ästhetische Inhalt immer erzeugt und nie zufällig gegeben und daß alles gesellschaftlich-ästhetisch Wahrgenommene ein Nicht-Ich bzw. ein Nicht-Wir ist, das heißt einen ,Erzeuger‘ haben muß. Befriedigend ist für ihn daher das allgemeine Wissen der Neuzeit, daß politische Verhältnisse nicht Geschick, sondern Produkt sind. Dennoch: Schillers Theorie des Spieltriebes (als Gegensatz zu Form- und Stofftrieb) – der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – läßt Lukács wissen, daß auch ästhetische Theorien nicht zu einer realen Lösung des Verdinglichungsproblems beitragen. Warum? „Wenn der Mensch nur ,wo er spielt‘ ganz Mensch ist, so können zwar von hier aus sämtliche Inhalte des Lebens erfaßt und in dieser – in der ästhetischen Form, so weit sie auch gefaßt werden mag – der ertötenden Wirkung des verdinglichenden Mechanismus entrissen werden. Sie werden aber doch nur, insofern sie ästhetisch werden, dieser Ertötung entrissen“ (GK, p. 320).

Dies bedeute jedoch, die Welt zu ästhetisieren, was einem Ausweichen vor dem eigentlichen Problem gleichkäme. Das Subjekt würde wieder in ein rein kontemplatives verwandelt und die Tathandlung „zunichte gemacht“. Der rezeptionsästhetischen Methode werden schwerlich veritable Veränderungen zugetraut. Das Unvermögen der Kunst liegt nach Lukács generell darin, Probleme lediglich abbilden, sie jedoch nicht lösen zu können; obgleich in der Partikularität ihrer Darstellung sie durchaus in der Lage ist, Totalität zu spiegeln (wie Sartre in Der Idiot der Familie es gelungen ist). Es bleibt also die Schwierigkeit bestehen, aus dem multiplen ,Kunstwerk‘ Gesellschaft dessen ,Erzeuger‘ zu eruieren. Die „praktizierende Vielheit“ (multiplicité pratique, Sartre) oder: die ,Gesellschaft als identifizierende Tathandlung‘ ist nach ihrem Subjekt zu durchsuchen. „[E]s kommt darauf an, die – nicht gegebene – Einheit dieser in Verschiedenheit zerfallenden Erzeugungsform dennoch als Produkt eines erzeugenden Subjekts abzuleiten. Letzten Endes also: das Subjekt des ,Erzeugers‫ ދ‬zu erzeugen“ (GK, p. 322). Dieser Aufgabe entspricht die Wiederherstellung der Union des zerrissenen Subjekts. Hierzu gehört die Einsicht, daß auch das zunächst Undurchschaubare, Nicht-Wißbare des Objekts einen Schöpfer haben muß.

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Dies kann ein Ich, jedoch auch ein Wir sein. Über Schiller und Fichte eilt Lukács – methodisch um Beistand ringend – zu Hegel, dem die Totalität allein als „Wiederherstellung aus der höchsten Trennung“ möglich ist: „Die Genesis, die Erzeugung des Erzeugers der Erkenntnis, die Auflösung der Ding-an-sichIrrationalität, die Erweckung des begrabenen Menschen konzentriert sich also nunmehr konkret auf die Frage der dialektischen Methode. In ihr erhält die Forderung des intuitiven Verstandes (der methodischen Überwindung des rationalistischen Erkenntnisprinzips) eine klare, objektive wissenschaftliche Gestalt“ (GK, p. 323).

Mit Hegel demonstriert der Autor, daß bei der Subjekt-Objekt-Relation es um eine Beziehung notwendiger Gegensätzlichkeit sich handelt und nicht allein um eine Bedingung der Möglichkeit des Nicht-Erkennens. An dieser Stelle offenbaren sich seine eigenen Ängste vor der Irrationalität an sich, indem er ihr Hegels Logik der Totalität gegenüberstellt. Er preist dieselbe als Garant für das ,Fließendwerden‘ des erstarrten Subjekt-Objekt-Verhältnisses sowie für die Herstellung seiner Identität; denn „wenn das Subjekt (das Bewußtsein, das Denken) zugleich Erzeuger und Produkt des dialektischen Prozesses ist; wenn es sich demzufolge zugleich in einer selbstgeschaffenen Welt, deren bewußte Gestalt es ist, bewegt und diese Welt ihm doch zugleich in völliger Objektivität entgegengilt, kann das Problem der Dialektik und mit ihr die Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, von Freiheit und Notwendigkeit usw. als gelöst betrachtet werden“ (GK, p. 324).

Durch Widersprechen mache das Subjekt auf sich aufmerksam und ,erzeuge‘ so sich selbst und das Ganze mit. Widerspruch = ,Erzeugung‘. Das „Wahre“ dürfe nämlich nicht nur als Substanz, sondern auch und vor allem als Subjekt gefaßt werden; obschon, wendet Lukács ein, auch Spinoza Hegels Idee der Identität recht nahe gekommen sei. Die Systembildung des frühen Schelling, über den er später sich negativ äußern wird, findet hier noch wohlwollende Erwähnung in stimmigem Kontext. Substanz sei philosophisch die zugrunde liegende „Ordnung und Verknüpfung der Dinge“ zu nennen. Nach den Versuchen von Spinoza und Schelling ist es jedoch Hegel, der für Lukács das entscheidende und wahre Prinzip festlegt: die Geschichte. In ihr fallen subjektives und objektives Selbstbewußtsein in eins. Geschichte ereignet sich immer da, wo Selbstbewußtsein erscheint. Wer Selbstbewußtsein hervorbringt, ,erzeugt‘ Geschichte. Gleichzeitig eröffnet diese – im Gegensatz zur Kunst – den Weg der Tathandlung und der Veränderung. Im dialektischen System des objektiven Idealismus wird nicht nur das Subjekt der ,Erzeugung‘ ,erzeugt‘, sondern die Erkenntnis ,erzeugt‘ auch sich selbst, da das ,Erzeugen‘ der Er-

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kenntnis ebenfalls ein ,Erzeugen‘ ist. Da die Erkenntnis jedoch irrelativ ist, kann sie von niemandem ,erzeugt‘ werden außer von sich selbst. „Die geometrische Konstruktion als Prinzip der Erzeugung kann nur darum die Wirklichkeit erzeugen, weil sie das Moment des Selbstbewußtseins der objektiven Wirklichkeit vorstellt“ (l. c., p. 324). Die durch das ästhetische Prinzip erreichte Identität (wie in Schillers ,Spieltheorie‘) scheint Lukács noch zu vorläufig und ungenügend, um Bewegungen im Einzelnen und am Ganzen zu gewährleisten. „Erst das geschichtliche Werden hebt die – vorgefundene – Selbständigkeit und die dadurch verursachte Starrheit der Dinge und Dingbegriffe wirklich auf“ (GK, p. 326). Damit versucht der Verfasser das Problem der „Ding-an-sich-Irrationalität“, vor welcher er im Grunde sich ebenso fürchtet wie die bürgerliche Philosophie, mit dialektischer Rationalität zu bewältigen – was seiner Theorie zum Verhängnis wird. Zugunsten des ,ersten Prinzips‘ Geschichte wird dieser die gesamte Wirklichkeit gleichgesetzt, das heißt: alle Wirklichkeit ist Geschichte. Natur als Natur wird von Lukács ignoriert. Eberhard Braun gibt jedoch zu bedenken, daß menschliches Sein und Bewußtsein je „gedoppelt“ sind: „natürlich und gesellschaftlich zugleich. Bei Lukács verschwindet das natürliche Moment im gesellschaftlichen. Die Arbeit als gesellschaftliche Naturbasis schwindet bei ihm aus dem Blick und deshalb auch das konkrete Subjekt-Objekt-Verhältnis der Arbeit als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur. Auch in der klassenlosen Gesellschaft bilden die Menschen, die ihre Produktion gemeinschaftlich organisieren, kein identisches Subjekt-Objekt: die Priorität der äußeren Natur, die Naturgebundenheit, wird sich auch dann noch erhalten. Nur die Form wird sich wandeln.“9

Zunächst aber geht Lukács es zurecht darum, das Subjekt zu finden, welches ihm die ersehnte gesellschaftliche Veränderung nicht nur legitimieren, sondern auch durchführen soll. Er hütet sich – im Vergleich zu Schelling oder Bloch –, der Natur Subjektqualität zu unterstellen. Es ist ihm aus Sicht des arbeitenden Menschen Herausforderung genug, mit ihr im Produktionsprozeß dialektisch (subjektiv-objektiv) sich auseinandersetzen zu müssen. Die Vorstellung einer ,Natur-Dialektik‘ verwirft er. „Geschichte ist nach Lukács werdende Tathandlung, Natur dagegen Widerstand gegen die Tathandlung, Inbegriff des Gegebenen. Tathandlung ist Subjekt-Objekt, Prozeß. Er wird zum Gegebenen verdinglicht. Wenn Dialektik die Theorie des Subjekt-Objekts ist, der Tathand-

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E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 177 sq.

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lung, die den Prozeß der Humanisierung konstituiert, so versteht sich von selbst, daß die Natur vom geschichtlichen Prozeß, von der Dialektik ausgeschlossen ist.“10

Es geht um das, wofür der Mensch als Subjekt verantwortlich gemacht werden kann. Natur muß deshalb der gesellschaftlichen Dimension (zunächst) subordiniert werden. „[U]nd wenn wir die ganze Wirklichkeit als Geschichte (also als unsere Geschichte, denn eine andere gibt es nicht) zu betrachten imstande sind, so haben wir uns tatsächlich zu dem Standpunkt erhoben, wo die Wirklichkeit als unsere ,Tathandlung‫ ދ‬aufgefaßt werden kann“ (GK, p. 327). Darauf folgt wieder eine Einsicht zugunsten Schellings: daß nämlich Geschichte umso leichter als Wirklichkeit aufgefaßt werden kann, wenn sowohl bewußte als auch unbewußte Handlungen ,miteingerechnet‘ würden: „Das Dilemma des Materialismus hat seinen Sinn verloren, denn es enthüllt sich als rationalistische Beschränktheit, als Dogmatismus des formalen Verstandes, nur in unseren bewußten Handlungen unsere Taten zu erkennen und die von uns selbst geschaffene Umwelt der Geschichte, das Produkt des Geschichtsprozesses als uns fremdgesetzlich beeinflussende Wirklichkeit aufzufassen“ (GK, p. 327).

Alle Taten sind demnach Tathandlungen, alle ,Sachen‘ sind Tatsachen und besitzen je einen Urheber, sind also historisch. Das Subjekt der Geschichte stellt für Lukács sich nicht singulär, sondern kollektiv dar, nicht als Ich, sondern als Wir. Im Hegelschen Weltgeist jedoch sieht er dasselbe noch nicht vollständig sich verwirklichen – obwohl jener in den einzelnen ,Volksgeistern‘ durchaus „konkrete Gestalt“ annähme. „Daraus folgt vor allem, daß der Volksgeist nur scheinbar das Subjekt der Geschichte, der Täter seiner Taten ist: es ist vielmehr der Weltgeist, der jene ,natürliche Bestimmtheit‘ eines Volkes, die den aktuellen Forderungen, der Idee des Weltgeistes entspricht, benutzend durch es, über es hinweg, seine Taten vollführt“ (l. c., p. 328). Er kritisiert damit – ganz im Sinne von Marx – Hegels mangelnden Willen zur Entontologisierung und Humanisierung. Ein philosophisch legitimierter Determinismus, welcher jeden Eingriff in den Lauf der Geschichte für sinnlos deklariert, wäre die bekannte Folge, das Resultat Mythologie: Erklärung statt Veränderung. Denn indem es Hegels Philosophie „unmöglich geworden ist, das identische Subjekt-Objekt in der Geschichte selbst aufzufinden und aufzuzeigen, ist sie gezwungen, über die Geschichte hinauszugehen und jenseits der Geschichte jenes Reich der sich selbst erreichten Vernunft zu errichten, von dem aus dann die 10 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 199.

72 | O BJEKT -S UBJEKT Geschichte als Stufe, der Weg als ,List der Vernunft‘ begriffen werden kann. Die Geschichte ist nicht imstande, den lebendigen Körper der Totalität des Systems zu bilden: sie wird ein Teil, ein Moment des Gesamtsystems, das im ,absoluten Geist‘, in Kunst, Religion und Philosophie gipfelt“ (GK, p. 329).

Daß Denken und Sein auf diese Weise identisch werden, kann dem Autor nicht genügen. Er spricht ausdrücklich und bezeichnend vom „lebendigen Körper“, welchen die Totalität zu bilden habe. Wann, wo und wie nämlich die „Selbstreproduktionen der Vernunft als Philosophie“ (Hegel) auftreten, das heißt wann, wo und wie in der linearen historischen Entwicklung und durch dieselbe sie mit sich identisch wird, ist ungewiß und damit „zufällig“. Bis dahin bleibt das Individuum der unentschlüsselten Faktizität ausgeliefert. „Das Wirkliche ist vernünftig“. Bis jedoch der Kreis von Vernunft und Gegebenheit sich schließt, ist der Gang der Geschichte ,willkürlich‘. Auf derlei Spekulation läßt Lukács sich nicht ein. Mit dieser Zufälligkeit falle die Geschichte in ihre erst überwundene Irrationalität zurück. Er teilt seine Ängste vor allem ,Unvernünftigen‘ mit jenem bürgerlichen Rationalismus, welchen er eben dafür kritisiert. Dieser paradoxen wie trügerischen Positionierung scheint er sich nicht bewußt. Wo Lukács über der Furcht vor dem Irrationalen sich erhaben glaubt, verfällt er ihr tiefer noch als seine Gegner. Die Hegelsche Logik ist für ihn an einen Punkt gelangt, an dem sie aufgrund der ,Unlogik‘ ihrer ,zufälligen‘ Anteile, ihrer ,Unvollkommenheit‘ also, ihm unerträglich geworden ist. Wieder sieht er im reinen Denken die Wurzel des Übels. Umsomehr weiß er durch dessen wiederholtes ,Versagen‘ sich genötigt, ganz auf die Praxis, die Tathandlung sich zu verlassen. Logik wird von nun an durch Praxis miterzeugt, auch ihr ein Subjekt zugewiesen. Bei Hegel enthält und ist sie unserem Autor noch zuviel ,Ding an sich‘. Die mangelnde Fähigkeit zur Prognose – vor allem der revolutionären – ist das ,Ding an sich‘, an dem er sich stört, da er wissen will, wann Zeit und Stunde gekommen, „alle Verhältnisse umzustürzen“ (Marx). Wie sehr er auf die Linearität dialektischer Geschichtsentwicklung vertraut, tritt auch an anderer Stelle in Geschichte und Klassenbewußtsein hervor: im Aufsatz Was ist orthodoxer Marxismus? Dort betont er, daß das Zusammendenken der Teile zu einem Ganzen nur als Prozeß geschehen könne, bereits der Prozeß selbst sei. Das Zusammendenken ist Initiation und Resultat gleichermaßen. Nur von der Einsicht in das Ganze aus sei alles Konkrete zu begreifen, ohne einer ,Abstraktion der Partikularität‘ anheim zu fallen. Die „Hauptaufgabe des Denkens“ besteht für Lukács deshalb darin, von der Einheit des Ganzen aus die isolierten Erscheinungen und Momente der Geschichte „nicht abstrakt betrachten zu müssen“. Darauf folgt die konsequente Definition dessen, was er unter Totalität, Dialektik und orthodoxem Marxismus versteht: „Eine derart bedingungslose Vorherrschaft der Totalität, der Einheit des Ganzen über die abstrakte Isolierung der Teile, ist das Wesentliche

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der Gesellschaftsauffassung von Marx, ist die dialektische Methode. Ihr zu folgen (und nicht einzelne Worte wiederzukäuen) ist orthodoxer Marxismus“ (GK, p. 67). Diese ,Klarstellung‘ richtet sich gegen die ,Vulgär-Marxisten‘, welche „ihr Handeln von den ,Tatsachen‘ diktieren ließen, statt durch ihr Handeln auf die Wirklichkeit selbst umgestaltend einzuwirken. [...] Der Wirklichkeitsbegriff von Marx deckt sich nicht mit dem wirklich gegebenen, von Zufall und Eventualität erfüllten allgemeinen Begriff der Wirklichkeit“ (l. c., p. 67). Ähnlich wie Hegel spaltet der Verfasser die Wirklichkeit begrifflich in eine ,wahre‘, d. i. ideale, das heißt eine aus dem einheitlichen und totalen Prozeß der Geschichte notwendig gegebene, und eine ,weniger wahre‘, d. i. materiale, „von Zufall und Eventualität erfüllten“, welche in den konkreten Ereignissen sich niederschlägt. Die ,primäre‘, historisch-prozeßhafte Form kann innerhalb der ,sekundären‘ Form von Wirklichkeit nur an den ,Tatsachen‘, welche sie hervorbringt, deutend erkannt werden. Diese Unterscheidung gilt es zu rezipieren, um die stringente wie unbeirrbare Argumentation nachzuvollziehen, mit der Lukács in nahezu eschatologischer Weise auf einen revolutionären Ausgang seiner Zeit vertraut. Es fehlen ihm Geduld und Sorgfalt, die ,historischen Tatsachen‘ zu prüfen und zu deuten; schon gar nicht überläßt er dies anderen: „Eine Situation, in der die ,Tatsachen‘ unzweifelhaft und unmißverständlich auf die Revolution hinweisen werden, wird niemals eintreten. Vergebens prüfen sie [die Vulgär-Marxisten] alle ,Angaben‘ ,gewissenhaft‘. Ein Teil der Angaben wird immer Angst erzeugen, und wer könnte feststellen, wann es sozusagen risikolos ,gewissenhaften‫ ދ‬Menschen erlaubt sei, eine Revolution vom Zaune zu brechen? Aber die Wirklichkeit, die Marxsche Wirklichkeit, die Einheit des geschichtlichen Prozesses spricht eine klare Sprache. Sie sagt: die Revolution ist da“ (GK, p. 69).

Der Autor opfert die ,Tatsachen‘ seiner Idee von historischer Einheit und Totalität. Er allein scheint zu wissen, wann Geschichte sich ereignet. Seine Angst vor allem Irrationalen, welche in der genannten ,Zufälligkeit‘ sich ausdrückt, kommt in diesem früheren Text bereits deutlich zur Geltung. Der Zwang zur Kalkulation holt hier Lukács selbst ein, für den alle Berechnung und alles Errechnete doch als monopolgleiches Signet kapitalistischer Produktionsverhältnisse gelten. Seine Ungeduld gegenüber der ,Beweglichkeit‘ des Ganzen, welche bei Hegel in Denken und Geschichte spekulativ bleibt, läßt ihn weiter an ein Subjekt glauben, welches ihm geeigneter scheint, die erhoffte Entdinglichung zu leisten. Allein die Dialektik als Methode enthält ihm ,Modifikationspotential‘ genug, um die Antinomien von bürgerlicher Gesellschaft und klassischer Philosophie zu überschreiten. Und sie ist es schließlich, die ihn das gesuchte Subjekt-Objekt, welches die Identität des Ganzen herzustellen vermag, finden läßt: „[D]ie dialektische Methode als Methode der Geschichte ist jener Klasse vorbehalten geblieben, die das identische Subjekt-Objekt,

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das Subjekt der Tathandlung, das ,Wir‘ der Genesis von ihrem Lebensgrund aus in sich selbst zu entdecken befähigt war: dem Proletariate“ (GK, p. 331). Kunst, Geschichte, Proletariat, so lautet die prüfende Folge seiner Suche nach dem Wir als identischem Subjekt-Objekt von Historie und Sozietät. Nachdem die Ästhetisierung der Gesellschaft in einer Zeit, da die industrielle Produktion über alle Grenzen der politischen Systeme hinaus zu ihrem Muster geworden ist, nicht möglich und die durch den Weltgeist dirigierte Geschichte zu abstrakt erscheint, weiß das Proletariat sowohl den Mangel an sozialer Effizienz wie konkreter Geschichtlichkeit zu kompensieren, indem es als schwächstes Glied innerhalb der Klassenordnung – gemäß jener Herr-Knecht-Dialektik in der Phänomenologie – das Recht auf identifizierende Selbsttätigkeit auf sich vereinigt und in Anspruch nimmt: „Die Selbsterkenntnis des Proletariats ist also zugleich die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft“ (GK, p. 331). So gewagt diese These auch klingen mag, für Lukács kann allein aus der Knecht-Perspektive die Wahrheit des Ganzen gewonnen werden. In seiner Studie über Lenin aus dem Jahre 1924 schreibt er: „Der historische Materialismus ist die Theorie der proletarischen Revolution. Er ist es, weil sein Wesen die gedankliche Zusammenfassung jenes gesellschaftlichen Seins ist, das das Proletariat produziert, das das ganze Sein des Proletariats bestimmt; er ist es, weil in ihm das um Befreiung ringende Proletariat sein klares Selbstbewußtsein findet“ (GK, p. 522). Den Grund sieht er in der Aufrichtigkeit des proletarischen Anliegens, aus einer empfundenen Erniedrigung heraus, die gesellschaftliche Umgestaltung zu fordern. Selbstbewußtsein geht mit Sensation einher, ist ein empirisches Phänomen. Selbstbewußtsein ist für Lukács nicht nur die bedeutendste philosophische Errungenschaft der Neuzeit, sondern auch eine konstante Matrix zur Beurteilung sozialer Asymmetrien. Dennoch besteht eine nicht unwesentliche Differenz zu Hegel. In der Phänomenologie gelangt der Knecht durch Arbeit und Mühe zur Erkenntnis seiner selbst. Anders: Fleiß wird belohnt, Selbstbewußtsein als Verdienst betrachtet. Hegel geht von einem positiven, das heißt nicht-entfremdeten Arbeitsbegriff aus. Bei Marx und Lukács wird der Moment der Selbstgewißheit auch unter negativen, verdinglichenden Arbeits- und Daseinsbedingungen möglich. Arbeit bietet in der Form industriekapitalistischer Produktion (Lohnabhängigkeit) keinen Raum des ,Zu-sichselbst-Kommens‘. Arbeit-Belohnungs-Konditionen pietistischer Provenienz sind aufgehoben. Selbstbewußtsein ist eine Kategorie, welche nunmehr allen Erniedrigten gleichermaßen zugänglich ist. Bei Hegel existiert das Selbstbewußtsein „nur als ein Anerkanntes“. Erst als solches ist es „an und für sich“, also identisch. Die Wahrheit des Herrn offenbart sich am Knecht. Die Wahrheit des Knechtes, welche in dessen Selbstbewußtsein sich exprimiert, schließt die Wahrheit seines Herrn mit ein. „Das Selbstbewußtseyn erreicht seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewußtseyn“ (PG, p. 108). Die Gewißheit seiner selbst erfährt der Knecht durch „Aufheben dieses Andern“. Die Eigenschaft der Wahrheit ist ihre Abhängigkeit von

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der Totalität, ist ihr Sein nur als Ganzes. Die Wahrheit des Herrn besitzt keine Selbständigkeit oder Autonomie gegenüber dem Knecht. Beansprucht er dennoch eine solche, handelt er wider die Dialektik und es kommt zu Antinomien wie zu Verzerrungen in der Wirklichkeitswahrnehmung. Im ersten Band des Kapital[s] exemplifiziert Marx diese Form von fausse conscience: „Die von der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen existieren nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachsen, sondern aus ihrer kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert usw., erklärt der bürgerliche Ökonom einfach, das Ansichbetrachten der Maschinerie beweise haarscharf, daß alle jene handgreiflichen Widersprüche bloßer Schein der gemeinen Wirklichkeit, aber an sich, also auch in der Theorie gar nicht vorhanden sind“ (MEW 23, p. 465).

Auch in dieser Betrachtung will die Wahrheit als universale an der Praxis gemessen und gefunden werden. Die Widersprüche werden dann aufgelöst, wenn das Subjekt ihrer Erzeugung ausgemacht ist. Erst die Anwendung der Kategorie der Totalität ermöglicht die Einsicht in die konkreten Verhältnisse. Identisch kann jedoch nur eine der im Streit um die Wahrheit der Totalität liegenden Parteien sein: nach Marx und Lukács das Proletariat. Die Bourgeoisie dagegen, genötigt, auf den Schein des Einzelphänomens zu bestehen, meidet die Erkenntnis des Ganzen, da es sie selbst mitumfaßt. „Ihre Selbsttäuschung liegt darin, daß sie sich zu der Bedingtheit ihres eigenen Standpunktes (und besonders zu dessen Bedingtheit durch das ihm zugrunde liegende gesellschaftliche Sein) unkritisch verhält“ (GK, p. 333). Identität ohne Aufhebung der eigenen Position als Klasse wäre ihr unmöglich. Die Gewißheit ihrer selbst könnte sie nur über und durch das Proletariat gewinnen, praktisch jedoch hätte sie dann ihre Selbständigkeit verloren. Schon Marx konstatiert, daß Bourgeoisie und Proletariat gleichermaßen in entfremdeten Verhältnissen leben. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß die besitzende Klasse in dieser Selbstentfremdung zu überleben vermag, während die besitzlose durch dieselbe vernichtet zu werden droht. Da beide von denselben verdinglichten Produktionsverhältnissen konditioniert werden, kann das Wesen des Ganzen, welches sie teilen, nur unter Einschluß des Seins und der Praxis des jeweils Anderen erkannt werden. Ein Weiteres fügt Lukács hinzu: das Phänomen der Verdinglichung, welches alle Klassen betrifft und sämtliche Lebensbereiche erfaßt, kommt allein im Proletariat in solcher Anschaulichkeit und Prägnanz zur Geltung. Die Wahrheit einer Gesellschaft er-

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weist sich an den Daseinsbedingungen ihrer schwächsten Glieder. Sie werden zum Repräsentanten par excellence der vorherrschenden Produktionsverhältnisse. Noch einmal: „Die Selbsterkenntnis des Proletariats ist […] die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft“ (GK, p. 331). Daher kommt nach Lukács allein der Arbeiter-Klasse das geschichtliche Recht zu, seine materialisierte und sensualisierte Erniedrigung, das heißt seine durch den modernen Warentausch verursachte NichtIdentität, in praktische Identität zu verwandeln. Praxis ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit einer Einheit von Subjekt und Objekt, sondern auch notwendige Voraussetzung, um unbewußte, verborgene Motive äußerlich, also sichtbar werden zu lassen. Der idealistisch-bürgerliche Hang zur Camouflage soll dialektisch-materiell wie prozessierend überwunden werden. Der ,Offenbarungsgehalt‘, welcher dem Prozeßhaften inhäriert, bleibt Hegels unbestrittener Verdienst. Für Marx sind Materie und Bewußtsein in Prozeß Garant für die Enthüllung jener ,Wesenhaftigkeit‘, welche bisher, im Zustand des erstarrten Gegenüber von Subjekt und Objekt, von Phänomena und Noumena, verborgen bleiben mußte. In den Ökonomisch-philosophische[n] Manuskripte[n] schreibt er über die psychologische Freilegung des menschlichen Wesens durch dessen Vergegenständlichung in der Arbeit: „Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie, das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußeren Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil man – innerhalb der Entfremdung sich bewegend – nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc., [...] als Wirklichkeit der menschlichen Wesenkräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte. In der gewöhnlichen, materiellen Industrie [...] haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns“ (MEW EB I, p. 542 sq.).

Durch das ,Auf-die-Füße-Stellen‘ der idealistischen Dialektik ist Lukács bemüht, bewußt materialistisch, das heißt mit dem Leben selbst zu argumentieren: das Ganze ist das, was als solches durch Tathandlung ,erzeugt‘ wird; das Ganze ist das, was als solches empfunden wird. Das Problem, welches dabei in Erscheinung tritt, wurde oben im Zusammenhang mit dem Kunstwerk erörtert: was durch eine Tathandlung ,erzeugt‘ wird, mag Identität wie Einheit zwischen Subjekt und Objekt stiften, zur Erkenntnis jener Totalität, welche über die einzelne Ich-Gegenstand-Totalität hinausgeht und beispielsweise das Ganze eines geschichtlichen Zeitabschnittes umfaßt, trägt sie jedoch nicht notwendigerweise bei. Handeln heißt nicht unbedingt begreifen. Lukács hätte innerhalb seiner Argumentationssequenz zwischen trans-

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zendentalen und spekulativen Begriffen deutlicher trennen müssen. Die Schwierigkeiten wachsen ihm aus deren Vermischung. Er kann sich nicht zwischen Kantischer und Hegelscher Erkenntnistheorie entscheiden, da er Begriff und Wirklichkeit, das heißt die ,geometrisch‘ ,erzeugbare‘ und ,nicht-erzeugbare‘ Wirklichkeit, gleichermaßen zu vereinen sucht. Die Kantische Schranke des Wissens gegenüber der Totalität jedoch vermag er durch Praxis allein nicht aufzuheben. Anders: wie groß oder klein muß Lukács’ Subjekt-Wir gedacht werden, um das Ganze ,erzeugen‘ bzw. begreifen zu können? Welche Dimensionen darf das Ganze annehmen, um noch von einem Wir erschaffen und umgestaltet werden zu können? Freilich, die einzelne Tathandlung kann als solche bewußt vollzogen und deshalb – in der Regel – verstanden werden. Es ist eine Konstruktion aus Form und Inhalt, eine Synthese von Theorie und Praxis, begrifflich-anschaulich bestimmbar. Das bedeutet, veränderungszieliges und von Denken begleitetes Handeln ist möglich, solange eine gewisse, zugegeben, schwer bemeßbare, ,perzeptive Übersichtlichkeit‘ gewährleistet wird. Was jedoch darüber hinausreicht, darf nicht zur Einheit genötigt werden. Totalität und totalitär gehen nicht grundlos aus demselben Wortstamm hervor. Was Lukács Hegel idealistisch verdankt, kann er ihm praktisch nicht zollen. Die idealistische Logik läßt in keine materialistische sich wenden ohne ihre Potenz zur Identität zu verlieren. Wir gehen mit Braun d’accord, wenn es darum geht, mit der Totalität Lukács’ methodologischen Grundbegriff zu benennen. Das Erkenntnisinteresse von Brauns Studie ist nicht das unsere, jedoch es existieren Übereinstimmungen in der Kritik. Jener forscht nach den Entwicklungsstufen des Praktisch-Kritisch-Werdens der Philosophie, nach deren ,Aufhebung‘ (als Metaphysik) durch Marx und den „revolutionären Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts“ (Löwith). Uns interessiert die Form der Praxis als ,Erzeugung‘ von Identität als Totalität und somit als Beitrag zu einem Prozeß der Entdinglichung. Identität ist für den Hegelianer Lukács keine der Totalität koexistierende Eigenschaft, sondern das Ergebnis eines Reflexionsprozesses. Sie verhält bei ihm sich wie das Selbst und das Bewußtsein, welche zum Selbstbewußtsein erst stufenweise, das heißt reflexiv, nicht instantan, sich synthetisieren. Totalität bedeutet bei Lukács sowohl das „Begriffsystem der Vermittlungen“ als auch das „Ganze der Empirie“. Braun vermutet, jener habe diese Bestimmung vom Rickert-Schüler Emil Lask übernommen – womit dessen Nähe zu den Neukantianern einmal mehr sich erwiesen hätte. Das Ganze als absolute Synthesis von Anschauung und Begriff ist reine Definition, bleibt transzendentales Ideal. Seine logische Struktur besteht bei Kant aus der Klassifikation der empirischen Begriffe nach Gattung und Art. „Die Idee des durchgängig bestimmten Begriffs (conceptus omnimode determinatus) kann aktuell nie gegeben sein, sie ist nach Kant nur aufgegeben; [...] läßt sich nur in unendlicher

78 | O BJEKT -S UBJEKT Approximation lösen [...]. Das absolute System [...] unterstellt jedoch, die unbedingte Totalität, die omnimoda determinatio sei verwirklicht. Dies ist aber nur möglich, wenn in der Sphäre philosophischer Begriffe das Verhältnis der Subsumtion von Gattung und Art nicht gilt.“11

Braun identifiziert den logischen Widerspruch, in welchen Lukács sich durch seine Vermittlungsversuche verstrickt. Totalität läßt nach Hegel nicht empirisch sich durchbuchstabieren; der Geist vermag in einem einzelnen Begriff, der als Teil das Ganze abbildet, zu sich selbst zu kommen. „Das Ganze ist die sich bewegende Durchdringung der Individualität und des Allgemeinen“ (PG, p. 226). Was daraus folgt, ist hinreichend bekannt: die Einheit einer historischen Epoche läßt auf diese Weise in totalisierenden Begriffen wie Napoleon, Freiheit, Dampfmaschine, Revolution, Atom etc. sich ausdrücken. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“ (PG, p. 19). In der Totalität begegnet die Vernunft sich selbst. Totalität ist die Selbsterfassung der Vernunft. Sie kann deshalb nicht – im Unterschied zu Kant – Gegenstand der Erkenntnis, deren Voraussetzung, gar ihr Ergebnis sein. Auch wenn gesagt wird: „Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist“ (PG, p. 19), heißt dies nicht, daß Totalität das Resultat gleichsam einer Kette von Vernunftanstrengungen ist, die auf ein bestimmtes Objekt gerichtet sind. Wenn Hegel „Resultat“ meint, trägt er eines im Sinn, welches keine Bedingungen kennt oder benötigt, um eines zu werden, da es absolut ist. Totalität als Resultat ist sich selbst Resultat. Ohne Anfang und Ende, voraussetzungsund ergebnislos zugleich, unterliegt es allein dem Kreis seiner eigenen, immanenten Bestimmtheit. Braun bemerkt richtig: „Der Umfang philosophischer Begriffe ist reine Allgemeinheit [...]. Spekulative Begriffe können sich nicht ihrem Umfang, sondern nur dem Inhalt, der Bestimmtheit nach unterscheiden. Die Bestimmtheit legt die Folge fest: der erste Begriff ist der unbestimmteste, unmittelbare und der letzte der durchgängig bestimmte, vermittelte. Die Vollständigkeit der Bestimmtheit der Begriffe ist gewährleistet, wenn der Gang philosophischen Beweisens Kreisform hat, das Ende in seinen Anfang zurückkehrt, der spekulative Begriff im absoluten System durchgängig bestimmbar ist. [...] Beiden, Lask und Lukács, ist gemeinsam, daß sie die eigentlich spekulative Dimension und deren wirkliche logische Struktur nicht treffen.“12

Dies sei der Tribut, den Geschichte und Klassenbewußtsein an die zeitgenössische akademische Philosophie zu entrichten habe, bedauert Braun, obgleich es innerhalb 11 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 179 sq. 12 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 180.

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der marxistischen Tradition gerade Lukács gewesen sei, der die Beziehung von Marx zum spekulativen Idealismus wieder in den Blick gerückt hätte. Die konkrete Totalität wird zur neuen Wirklichkeitskategorie. Unser Autor glaubt, die Dimension der Notwendigkeit in Hegels Ontologie unterlaufen zu können, indem er das Subjekt-Wir in Gestalt des Proletariats auffordert, den Weltlauf ,in die eigene Hand‘ zu nehmen, ihn zu erzeugen. Er schafft damit ein Tathandeln, dessen vornehmste Aufgabe es ist, Zufälle auszuschließen – und das man deshalb ein absolutes nennen könnte. Die Absolutheit seiner Konzeption der Tathandlung wirkt dann sich ebenso determinierend aus wie Hegels Weltgeist – haben doch alle historischen Tatsachen, subordiniert wie das Individuum, in ihr restlos aufzugehen. Um so tiefer stürzt Lukács sich ins Gefüge der Notwendigkeit, je mehr er durch Praxis ihr zu entkommen vermeint. Braun nennt diesen Standpunkt deshalb einen „panlogischen“ oder – im Anschluß an Michael Theunissen – eine „Utopie der totalen Zufallsverhütung“13. Er bemerkt jedoch nur indirekt, was bereits oben uns augenfällig wurde: Lukács’ Angst vor der Irrationalität. Die Bekämpfung des ,modernen Rationalismus‘ treibt ihn nicht etwa in dessen Gegenteil. Herauskommt ein ,Rationalismus der Revolution‘. Dies wahrzunehmen scheint nicht unbedeutend, läßt so doch seine spätere Aversion gegen Schelling sich erklären.14 Sehr gut hingegen profiliert Braun eine moralphilosophische Schwachstelle der Konstruktion: „Lukács drängt die Bestimmung der Totalität als omnimoda determinatio in den Hintergrund; es rücken nun andere Momente ins Zentrum: die Tathandlung und die Intention auf Umwälzung des Bestehenden im Ganzen, um ein neues Ganzes zu errichten. [...] Dies gelingt Lukács 13 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 181. 14 Aus Angst vor dem Unvorhersehbaren und Zufälligen in Schellings Philosophie verteidigte schon Friedrich Engels das Hegelsche System gegen dieselbe. Deutlich präferierte er die abgeschlossene Geschichtsauffassung Hegels, in welcher alle Möglichkeitform sich in der Vernunft aufgehoben findet. „Denn wer im Denken nicht aufs Resultat sehen will, wessen Philosophie sich ihres Zweckes nicht bewußt ist, der gleicht einem Maler, der drauflosmalte, mochte herauskommen, was da wollte“ (F. Engels: „Anti-Schelling“, in: MEW EB II, pp. [161]-245; p. 186). „Hier ist der Gegensatz gegen Hegel bereits in seiner ganzen Schärfe ausgesprochen. Hegel, in jenem naiven Glauben an die Idee, über den Schelling so erhaben ist, behauptet, was vernünftig sei, das sei auch wirklich; Schelling sagt aber, was vernünftig ist, das ist möglich und stellt sich dadurch sicher, denn dieser Satz ist bei der bekannten Weitschichtigkeit der Möglichkeit unumstößlich. Zugleich aber beweist er schon hierdurch [...] seine Unklarheit in Beziehung auf alle rein logischen Kategorien“ (F. Engels: „Anti-Schelling“, in: MEW EB II, pp. [161]-245; p. 182).

80 | O BJEKT -S UBJEKT aber nur, weil er das Logische und das Historische unvermittelt identifiziert. Er muß die spekulative Konstruktion des Geschichtsprozesses als Realisierung des identischen SubjektObjekts und unmittelbare Empirie gleichsetzen. Dies ist der geheime Grund, weshalb Lukács Klassenbewußtsein vermittlungslos spekulativ konstruiert und dann einfach der Empirie als abstraktes Sollen zuordnet: an das existierende Proletariat ergeht die Forderung, dem idealen konstruierten Klassenbewußtsein zu entsprechen.“15

Dies bedeutet: die dialektische Spannung zwischen einzelnem und allgemeinem Gewissen, verstanden als volonté générale, hat stets zugunsten des Kollektivs und auf Kosten des Individuums gelöst zu werden. Dies fordert Lukács explizit in seiner 1919 verfaßten Schrift Taktik und Ethik, welche unter dem Eindruck und Vorbild der Lektüre von Lenins Was tun? entstand: „Die Ethik wendet sich an den einzelnen, und als notwendige Konsequenz dieser Einstellung stellt sie vor das individuelle Gewissen und Verantwortungsbewußtsein jenes Postulat, daß er so handeln müsse, als ob von seinem Handeln oder von seiner Untätigkeit die Wendung des Schicksals der Welt abhinge, dessen Heraufkunft die aktuelle Taktik begünstigen oder verhindern muß“ (GK, p. 50).

Die „aktuelle Taktik“ wird durch das revolutionäre Kollektiv repräsentiert, welches allein sich seines historischen Auftrags bewußt ist: „Und auf Grund der geschichtsphilosophischen Orientierung der sozialistischen Taktik muß sich in jenem individuellen Willen nach dessen Summierung ein kollektives Handeln ergeben und das regelnde geschichtsphilosophische Bewußtsein zum Ausdruck kommen – zumal ohne dies das notwendige Zurückweisen des aktuellen Vorteils im Interesse des Endzwecks unmöglich wäre“ (GK, p. 49 sq.).

Anders: gut ist, was das Klassenbewußtsein befördert und weltgeschichtliche Tathandlungen initiiert. Für uns wird durch den hier vorexerzierten ,kategorischen Imperativ der Revolution‘ noch einmal deutlich, daß Lukács die Vermittlung von Bewußtsein und Materie auch durch Praxis nicht gelingt. Erst Jahre später, als er 1967 das Vorwort für die Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein bei Luchterhand schreibt, ist er bereit, verschiedene Revisionen vorzunehmen. Dort gesteht er unter anderem ein, was 1923 er ebensowenig erklären konnte wie Lenin selbst: wann nämlich etwas zu Bewußtsein kommt, wann bewußt wird, daß der ,Umschlagsmoment‫ ދ‬da ist. Wenn er dessen gratuité, das heißt seine Absolutheit an15 E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 184.

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nimmt, kann der ,Umschlagsmoment‫ ދ‬eigentlich nur spontan, aus Selbsttätigkeit, also letztlich metaphysisch erklärt werden. Der Autor selbst bekennt: „Ich konnte aber doch nur zur Formulierung eines ,zugerechneten‘ Klassenbewußtseins gelangen. Gemeint habe ich das, was Lenin in ,Was tun?‘ so bezeichnet, daß im Gegensatz zum spontan entstehenden trade-unionistischen Bewußtsein, das sozialistische Klassenbewußtsein an die Arbeiter ,von außen‘, ,d. h. außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern‘ [Lenin] herangetragen wird. Was also bei mir der subjektiven Intention nach, bei Lenin als Ergebnis der echt marxistischen Analyse einer praktischen Bewegung innerhalb der Totalität der Gesellschaft war, wurde in meiner Darstellung ein rein geistiges Resultat und damit etwas wesentlich Kontemplatives. Das Umschlagen des ,zugerechneten‘ Bewußtseins in revolutionäre Praxis erscheint hier – objektiv betrachtet – als das reine Wunder“ (GK, p. 20 sq.).

Das Sollen ist in Lukács’ Konzeption der Verdinglichung ein Postulat, welches – wie das Bewußtsein – ,von außen‘ seine Theorie betritt. Dies ist gegen die Vorbehalte der Kritiker insofern zu rechtfertigen, als bestimmte Situationen Moral erfordern, dieselbe von den Umständen unmittelbar abverlangt wird, ohne jedoch sich deren aufwendige metaphysische Deduktion ,erlauben‘ zu können. Adorno gibt uns dafür ein Beispiel: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.“16

Das von Adorno so bezeichnete „materialistische Motiv“ ist nach Lukács’ Theorie durch die Geschichte gegeben; in ihr findet es seine Rechtfertigung. Das „Hinzutretende“ ist jene ethische Forderung, welche – gleichsam ,von außen‘ kommend – jeder Letztbegründung entbehrt und damit einer vollständigen Vermittlung von Sein und Sollen sich entzieht. ,Von außen‘ bedeutet nicht: abgeschnitten vom inneren Erleben der handelnden Subjekte – im Gegenteil. Von außen heißt imgrunde: von innen, nämlich aus der Substanz heraus. Allerdings ist diese Art von Innerlichkeit 16 T. W. Adorno: Negative Dialektik, p. 356

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ein psychischer und sensitiver Vorgang, der in Vernunft-Kategorien einer universalen, kognitivistischen Moral sich nicht vermitteln läßt, jedoch seine Berechtigung aus der Qualität der Materie erfährt. Sein als Dasein ,ereignet‘ je immer sich „in Situation“ (Sartre), es wird empfunden und erlebt. Das Sein der unterdrückten Klasse wird zum Sollen der Geschichte. Im letzten Teil seiner Studie widmet der Verfasser sich dem Heraufkommen von Bewußtsein als Klassenbewußtsein. Nachdem er die exakte Frage nach dem Wann nicht zu beantworten vermochte, richtet seine ganze Aufmerksamkeit er kompensatorisch auf das Wie des Bewußtseinsaktes. Bewußtsein entsteht für ihn nicht ad hoc, sondern stufenweise vermittelt. Das Unvermögen des einzelnen Werktätigen, Bewußtsein auszubilden, findet seinen Grund in der Abstandslosigkeit der Eindrücke, die in seiner Lebens- und Arbeitswelt auf ihn wirken. Bedrängt von der Unmittelbarkeit der Verhältnisse kann es ihm nicht gelingen, sich selbst mit jenen zu vermitteln. Lukács macht auf den ,Nähe-Faktor‘ als Verdinglichungsdimension aufmerksam: gelingende Vermittlung setzt nicht nur Distanz voraus, sondern ist notwendige Distanz. Erst von ihr aus wird die Marxsche Entzauberung des Systems als Metamorphose, der Ware als Fetisch sowie die analytische Dechiffrierung ihres Doppelcharakters möglich. Die Raffinesse der den Arbeiter umschließenden Struktur, welche einem magischen Apparat gleicht, besteht darin, daß ihre Unvermitteltheit nur die Folge ihrer verschlungenen und vielschichtigen Vermittlungen ist. Es gehört zum klassischen Signet der Verdinglichung, daß Umstände für vermittelt gehalten werden, während in Wahrheit das Gegenteil der Fall ist – was wir oben am Beispiel der Arbeitszeit haben beobachten können. Vermittlung aber erhält ihre Stimmigkeit erst, wenn sie zwischen Subjekt und Objekt Identität stiftet. Die Zweideutigkeit, das heißt die ,mythologische Natur‘ der Vermittlung, wird als Unmittelbarkeit erlebt. Um aufrichtige Mittelbarkeit betrogen, ist die Wahrheit des Ganzen mit Worten allein, die sie anrufen, nicht mitteilbar. Ihr Praktisch-Werden ist für Lukács ebenso logisch wie zwingend. Eine Vermittlung, die vorgibt, Vermittlung zu sein, jedoch keine ist, bliebe in ihrem eigenen Begriff gefangen, fände nicht den Weg in die gewünschte Wirklichkeit. Indem sich die „Unmittelbarkeit als Folge von mannigfaltigen Vermittlungen erweist, indem es klar zu werden beginnt, was alles diese Unmittelbarkeit voraussetzt, beginnen die fetischistischen Formen der Warenstruktur zu verfallen: der Arbeiter erkennt sich selbst und seine eigenen Beziehungen zum Kapital in der Ware. Soweit er noch praktisch unfähig ist, sich über diese Objektsrolle zu erheben, ist sein Bewußtsein: das Selbstbewußtsein der Ware; oder anders ausgedrückt: die Selbsterkenntnis, die Selbstenthüllung der auf Warenproduktion, auf Warenverkehr fundierten kapitalistischen Gesellschaft“ (GK, p. 352).

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Lukács scheidet das Selbstbewußtsein in ein kontemplatives, welches über die reine Betrachtung, also das Erkennen der eigenen Umstände nicht hinausreicht und ein praktisches, welchem er das Vermögen zutraut, sich selbst und seine Situation tätig zu überschreiten. Das „Hinzutreten des Selbstbewußtseins zur Warenstruktur bedeutet aber etwas prinzipiell und qualitativ anderes, als was man sonst Bewußtsein ,über‘ einen Gegenstand zu nennen pflegt“ (l. c., p. 352 sq.). Die Intentionalität des Bewußtseins reicht als deren Eigenschaft nicht aus, um die passive Konstitution des Arbeiters als Ware aufzubrechen. Durch Lohnabhängigkeit selbst zur Ware geworden, repräsentiert er die Ware an sich, welche, sich totalisierend, die Totalität selbst bildet und abbildet. Die Ware umfaßt als Warenfülle – qualitativ wie quantitativ – die Maßgabe der Totalität, indem sie zur strukturellen Vorherrschaft gekommen ist. Unbeschadet der Entfremdung, welchen der allgemeine Warentausch auch verursacht haben mag, eröffnet für Lukács diese Fügung der Geschichte dem Proletarier dennoch die ein- wie erstmalige Möglichkeit, zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen, indem er als Ware die gesellschaftliche Dialektik als Ganze spiegelt. Durch die Spaltung seiner Subjektivität ist der Werktätige das personifizierte Selbstbewußtsein der Ware. In früheren Epochen hingegen war das arbeitende Subjekt noch vordialektisch und darum eins mit sich und der gesellschaftlichen Realität. In dieser Prämisse, dem Zur-Ware-Werden des Arbeiters, seiner Zerteilung, erblickt Lukács den wesentlichen Unterschied wie ,Vorteil‘, welcher das Zeitalter des Industriekapitalismus von antiker Sklavenhaltergesellschaft und mittelalterlichem Feudalismus trennt. „Auch wenn etwa ein antiker Sklave, ein instrumentum vocale, zur Erkenntnis seines Selbst als Sklaven gelangt, bedeutet dies keine Selbsterkenntnis in diesem Sinne: er kann damit auch bloß zur Erkenntnis eines Gegenstandes gelangen, der ,zufällig‘ er selbst ist. Zwischen einem ,denkenden‘ und einem ,unbewußten‘ Sklaven ist objektiv-gesellschaftlich kein entscheidender Unterschied, ebensowenig wie zwischen der Möglichkeit eines Sklaven, über seine eigene gesellschaftliche Lage bewußt zu werden und zwischen der Erkenntnismöglichkeit eines ,Freien‘ über Sklaverei. Die starre erkenntnistheoretische Verdoppelung von Subjekt und Objekt und damit die struktive Unberührtheit des adäquat erkannten Objekts vom erkennenden Subjekt bleibt dabei unverändert“ (GK, p. 353).

Der Begriff der Unberührtheit wird für den Autor zum Kriterium schlechthin, welches er für seine ,Stufenleiter der Selbstgewißheit‘ einfordert. Er bindet sein Konzept von Selbstbewußtsein an jenes der verändernden Tathandlung. Erst die Praxis demonstriert die Authentizität der erreichten Bewußtseinsstufe. „Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber bereits als Erkenntnis: praktisch. D. h. diese Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Er-

84 | O BJEKT -S UBJEKT kenntnis. Der objektive Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ihr ,Gebrauchswert‘ [...], der wie jeder Gebrauchswert in den quantitativen Tauschkategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht, erwacht in diesem Bewußtsein, durch dieses Bewußtsein zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (GK, p. 353).

Unter der „quantifizierenden Kruste“ der verdinglichten Beziehungen existiere nach wie vor ein „qualitativer, lebendiger Kern“. Von Tauschwerten verhüllt, gelte es, diesen freizulegen. Die Annahme einer ursprünglichen, nicht-korrumpierten Natur des Menschen läßt auch Lukács’ Marxismus zur moralischen Bemessungsgrundlage werden. Offenbar geht er davon aus, daß der Großgruppenintegration eine ebensolche ätiologische Bedeutung zukommt, denn der Sinn des Klasseseins bestehe für das Proletariat in der „Aufhebung der Vereinzelung, in dem Bewußtwerden des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, in der Tendenz, die abstrakte Allgemeinheit der Erscheinungsform des gesellschaftlichen Prinzips immer mehr zu konkretisieren und zu überwinden“ (GK, p. 356). Die klassenspezifische Arbeitsteilung, das heißt die Distinktion von ,geistiger‘ und ,schaffender‘ Tätigkeit, in welcher die altgriechische Unterscheidung von ʌȡ઼ȟȚȢ und ʌȠ઀ȘıȚȢ zum Leben erweckt wird, trägt in besonderer Weise dazu bei, dem Proletariat gegenüber der Bourgeoisie einen ,Bewußtseinsvorteil‘ zu bereiten; denn seine Arbeit besitzt schon „in ihrem unmittelbaren Gegebensein die nackte und abstrakte Form der Ware, während in den anderen Formen diese Struktur hinter einer Fassade der ,geistigen Arbeit‘, der ,Verantwortung‘ usw. (manchmal hinter den Formen des ,Patriarchalismus‘) versteckt ist; und je tiefer die Verdinglichung in die ,Seele‘ des seine Leistung als Ware Verkaufenden reicht, desto täuschender wird dieser Schein (Journalismus)“ (GK, p. 356).

Ohne diese Vorbedingungen und Tendenzen der Geschichte sei den Werktätigen es unmöglich, zur und als Klasse sich zu entwickeln. Dem proletarischen Wir allein obliegen Tatherrschaft wie Bewußtseinshoheit. „Das Individuum kann niemals zum Maß der Dinge werden, denn das Individuum steht der objektiven Wirklichkeit notwendig als einem Komplex von starren Dingen gegenüber, die es fertig und unverändert vorfindet, denen gegenüber es nur zum subjektiven Urteil der Anerkennung oder Ablehnung gelangen kann. Nur die Klasse (nicht die ,Gattung‘, die nur ein kontemplativ-stilisiertes, mythologisiertes Individuum ist) vermag sich praktisch umwälzend auf die Totalität der Wirklichkeit zu beziehen“ (GK, p. 380).

Die Dinghaftigkeit als Symbol für ein ,unbewegliches Gegenüber‘ und ein ebensolches erkennen-wollendes Subjekt erhebt Lukács zum Synonym für einen Determinismus, den aufzuheben dem Einzelnen unmöglich erscheint. Dialektisches Werden

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kann seiner Auffassung nach allein durch intersubjektiv-solidarisches Agieren geschehen. Wenn ein Ich mit anderen sich zusammenschließt und ein Subjekt-Wir bildet, ,materialisiert‫ ދ‬und dynamisiert das individuelle Bewußtsein sich soweit, daß ein kollektives Bewußtsein, welches als solches erst effektiv ,tathandeln‘ läßt, daraus wachsen kann. Nur als individuelles Allgemeines vermag das Selbst seiner sich bewußt zu werden. Bewußtseinsbewußtsein entsteht. Sartre, der diesbezüglich eine ähnliche Auffassung vertritt, spricht in Critique de la raison dialectique vom „vermittelnden Dritten“ (tiers médiateur, p. 398), dessen zwei Personen bedürfen, um überhaupt zu einem einheitlichen Sein als Gruppe fusionieren zu können. Da zwei sich als zu wenig herausstellen, um von sich als einer Zweiheit Selbstgewißheit zu erlangen, bedürfe es ,eines Dritten‘, welcher sie als solche zu ,wesen‘ vermag. Das ,Mittlerpotential‘ muß also bei zweien um mindestens eine weitere Person erhöht werden, um ein ,kollektives‘ Selbstbewußtsein zu erreichen. Als weiteres Motiv muß es zu einer ,dialektischen Situation‘ der Entfremdung (aliénation) kommen, in welcher der historische Widerspruch so offen zutage tritt, daß zwei getrennte Subjekte durch die Anwesenheit ,des Dritten‘ in ihrer Beziehung zu ihm und zu sich, das heißt zur Einheit mit den Anderen ,affiziert‘ werden. Allein ,der Dritte‘ ist in der Lage, die ,Serialität‘ der ,Einzelnen, die zu zweit sind‘, zu durchbrechen: „Or le danger commun, en constituant la Chose ouvrée comme totalité totalisante, ne supprime d’abord la sérialité ni au niveau de l’individu isolé ni à celui de la réciprocité : il arrache chacun à son Être-Autre en tant qu’il est un tiers par rapport à une certaine constellation de réciprocités; en un mot, il libère la relation ternaire comme libre réalité interindividuelle, comme rapport humain immédiat. Par le tiers, en effet, l’unité pratique, comme négation d’une praxis organisée qui menace, se découvre à travers la constellation de réciprocités. Le tiers, structurellement, est la méditation humaine par laquelle directement la multiplicité des épicentres et des fins (identiques et séparées) se fait organiser comme déterminée par un objectif synthétique.“17

Das Problem besteht zweifellos darin, daß keine einheitliche Großgruppe existiert, welche man Klasse heißen könnte. Sie bleibt bei Lukács Ideal, da er ihre – wie Sartre sagen würde – „ontologische Intelligibilität“ nicht durchschaut hat. Sartre selbst wird diesen verbreiteten marxistischen Irrtum korrigieren, wenn er in der Critique statt dessen von „praktischen Vielheiten“ (mulitiplicités pratiques) und „verschmelzenden Gruppen“ (groupes en fusion) spricht und außerdem die Begriffe Gruppe und Kollektiv unterschieden wissen will. Die Gruppe definiere sich durch ihr Un-

17 J.-P. Sartre: Critique de la raison dialectique, p. 398.

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ternehmen, ihre Aktivität, das Kollektiv durch sein Sein, durch die Passivität ihrer Einheit: „le groupe se définit par son entreprise et par ce mouvement constant d’intégration qui vise à en faire une praxis pure en tentant de supprimer en lui toutes les formes de l’inertie; le collectif se définit par son être, c’est-à-dire en tant que toute praxis se constitue par lui comme simple exis; c’est un objet matériel et inorganique du champ pratico-inerte en tant qu’une multiplicité discrète d’individus agissants se produit en lui sous le signe de l’Autre comme unité réelle dans l’Être, c’est-à-dire comme synthèse passive et en tant que l’objet constitué se pose comme essentiel et que son inertie pénètre chaque praxis individuelle comme sa détermination fondamentale par l’unité passive, c’est-à-dire par l’interpénétration préalable et donné de tous en tant qu’Autres.“18

Bar jeden ,praktischen Bewußtseins‘ benötigt das Kollektiv die Dynamik und das Handeln der Gruppe, um die eigene ,Trägheit‘ überschreiten zu können. Da dieses so entstandene ,Selbstbewußtsein‘ jedoch nicht das Ergebnis ,echter Innerlichkeit‘ sein kann, bleibt dem Kollektiv es verwehrt, das Subjekt-Objekt der Geschichte hervorzubringen. Der Kategorienfehler, welchem Lukács erliegt, besteht darin, daß er die Eigenschaften einer archaischen Kleingruppe – Freud würde sie als Urhorde bezeichnen – ohne Rücksicht auf deren innere psychische Dynamik auf eine Großgruppe überträgt. Er verwechselt die ,Kleingruppenutopie‘ mit der ,Großgruppentheorie‘. Es erweist überhaupt sich als Defizit, keine psychologischen, geschweige denn psychoanalytischen Kenntnisse in seine Theorie integriert zu haben. Erst vom Marxismus westlicher, genauer, ,Frankfurter‘ Provenienz, wurde eingesehen, daß die Komplexität des Ganzen nicht ohne die Hilfe weiterer Wissenschaften zu durchdringen ist. „Darum hat man es angesichts des Faschismus für notwendig erachtet, die Theorie der Gesellschaft durch Psychologie, zumal analytisch orientierte Sozialpsychologie zu ergänzen. Das Zusammenspiel der Erkenntnis gesellschaftlicher Determinanten und der in den Massen vorherrschenden Triebstrukturen versprach volle Einsicht in den Zusammenhalt der Totalität.“19 Die Angst vor der realen wie begrifflichen Größe einer Gruppe dürfe jedoch nicht zu einem Ausweichen in Existentialphilosophie oder Psychoanalyse führen. „Während die willfährige Wissenschaft des Ostblocks die analytische Psychologie, die einzige, die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht, als 18 J.-P. Sartre: Critique de la raison dialectique, p. 307 sq. 19 T. W. Adorno: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie, p. 7.

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Teufelswerk exorzierte und, wie Lukács es über sich brachte, Freud samt Spengler und Nietzsche dem Faschismus zurechnete, verschob man diesseits des Vorhangs nicht ohne einiges Behagen den Akzent aufs Seelische und den Menschen und seine sogenannten Existentialien, und entzog sich damit einer verbindlichen Theorie der Gesellschaft. Am Ende wird jene, wie freilich schon in der Freudschen Spätschrift über das Unbehagen in der Kultur, skeptisch auf untriftige, bloß subjektive Motivationen nivelliert.“20

Auch Sloterdijk stört sich an Lukács’ mangelnder Einfühlung in die komplexe Psychologie einer Großgruppe, wie die Arbeiterschaft sie bildet. Er assoziiert das Bild vom „Großmenschen“ und macht auf den Begriff der „Organisation“ aufmerksam, um den Entwurf des proletarischen Subjekt-Wir kritisch zu deuten: „Die ihrer selbst bewußt gewordene Klasse der Produzenten wäre demnach ein Großmensch – der Idealstadt Platons vergleichbar – , in dem Vernunft, Gefühl und Wille zu einer monologischen, dynamisch-personalen Einheit zusammengeschlossen sind. Die Widersinnigkeit dieser Suggestion wurde von den Vordenkern der Arbeiterbewegung zugleich bemerkt und überspielt, indem sie betonten, das Klassenbewußtsein sei in hohem Maße an das ,Problem der Organisation‘ geknüpft. Das Zauberwort Organisation beschwor den Sprung von der Ebene der ,vielen tätigen Einzelwillen‘ (Engels) zu der des homogen gemachten Klassenwillens. Die Unrealisierbarkeit einer effektiven Homogenisierung von Millionen spontaner Einzelwillen ist jedoch schon in der vordergründigen Anschauung so manifest, um von den prinzipiellen Gründen zu schweigen, daß der Schein der Herstellbarkeit von Klasseneinheit nur durch Ersatzkonstruktionen gewahrt werden konnte. Deren folgenreichste trat in Form des Leninschen Parteibegriffs auf die historische Bühne. Es ist unmittelbar einsichtig, in welcher Weise die Konzepte von Partei und Klassenbewußtsein sich gegenseitig stützten: Da das realisierte Klassenbewußtsein als Einsicht des Proletariats in seine Stellung innerhalb der sozialen Totalität von vorneherein als ein Ding der Unmöglichkeit erkennbar war, durfte und mußte die Partei sich als Stellvertreterin des empirisch noch unreifen Kollektivs präsentieren. Folgerichtig vertrat die Partei den Anspruch auf ,Führung der Geschichte‘.“21

Nicht ohne Grund gerierte Lukács besonders in jungen Jahren sich als treuer Adept Leninscher Marxinterpretation. Auch im Maoismus wird später das Thema der ,Bewußtseinsproprietät‘ zu diskursiven Auseinandersetzungen führen und seine Anhängerschaft entzweien. Der Verwechslung von Klein- und Großgruppe (in nationalstaatlicher Ausführung) erlag auch Martin Heidegger. Lucien Goldmann machte bereits 1959 in sei20 T. W. Adorno: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie, p. 7 sq. 21 P. Sloterdijk: Zorn und Zeit, p. 203 sq.

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nen Recherches dialectiques auf Analogien zwischen Lukács und Heidegger aufmerksam. Er vermutete in Sein und Zeit sogar eine verschwiegene Replik auf Geschichte und Klassenbewußtsein.22 Die Existenz von Parallelen – wozu in besonderer Weise die Erfahrung der Entfremdung gehört – erwähnt und gesteht Lukács selber in seinem Vorwort zur Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein 1968. Agnes Heller hebt sowohl das ,metaphysische‘ Identitätsverlangen als auch die Totalitätswünsche beider Denker als deren entscheidende Gemeinsamkeiten wie Irrtümer hervor: „Als junge Radikale hatten Lukács und Heidegger einiges gemeinsam. Beide versuchten, die intersubjektive Konstitution der Welt darzustellen; beide lehnten ihre eigene Zeit als kleinlich und banausisch ab, als eine Welt, der es an Größe und Heroismus, Tragödie und Schicksal mangelte. In ihren sehr ähnlichen Vorstellungswelten und theoretischen Interessen erschien die Idee einer kollektiven existentiellen Entscheidung daher fast wie von selbst. Ihnen erschien das Politische als die Identität von Wesen und Existenz der Gemeinschaft. Wenn sich ein Kollektivwesen erst einmal selbst – und damit auch sein Schicksal – wählt, dann ist die politische Handlung par excellence schon vollbracht. Bei Lukács ist es das empirische Proletariat, diese rein ökonomisch definierte Klasse, die bestimmt ist, sich selbst und damit ihr Schicksal zu wählen. Der Zeitpunkt der proletarischen Revolution ist der Augenblick, in dem das Politische konstituiert wird. Bei Heidegger ist es die Nation, die empirische, deutsche Nation, die dazu bestimmt ist, durch die Geste der Selbstwahl durch und durch politisch zu werden. Dies geschieht in der ,Deutschen Revolution‘, der politischen Geste par excellence. Rein theoretisch betrachtet, schließt die Philosophie der existentiellen Entscheidung die anderen nicht aus. Lukács formuliert aufs neue das Marxsche Diktum, daß das Proletariat sich nicht befreien kann ohne die ganze Menschheit zu befreien, in der Vision einer Letzterlösung. Und Heidegger dachte, daß Deutschland gerade ein allgemeingültiges Beispiel gegeben hatte. Denn alle Nationen der Welt können sich selbst existentiell wählen und, wenn sie es einmal getan haben, in ewigem Frieden miteinander leben.“23

Beide, Heidegger und Lukács, fliehen – wie Hegel – vor den Imponderabilien des Seienden, Individuellen und Partikularen auf ein ,höheres‫ދ‬, universales Niveau, welches sie Weltgeist, Sein oder Sozialismus nennen.

22 Cf. etiam L. Goldmann: Lukács und Heidegger. 23 A. Heller: Ist die Moderne lebensfähig?, p. 130.

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1.2 L UKÁCS

UND

S CHELLING

Für Lukács stellt Hegels System sich nicht abstrakt dar – dies sucht er immer wieder, weit über Geschichte und Klassenbewußtsein hinaus, zu explizieren –, zu sehr hinge das Werden des Geistes vom Gegenständlichen ab. Der Mangel bestehe allein darin, daß jener den „Stoffwechsel“ des Subjekts mit dem Objekt als Natur nicht ausreichend mitreflektiere. Alles Objekthafte denke Hegel als Gegenstehendes und somit als dem Menschen Fremdes. Die Natur bliebe innerhalb des dialektischen Ganges der Geschichte ein bleibender Fremdkörper, der nicht aufzuheben sei. In seinem Spätwerk Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins spricht Lukács von „zwei Ontologien“, Natur und Gesellschaft (Geist), welche bei Hegel koexistierten und sich gegenseitig bedingten wie aufhielten. Das dritte Kapitel überschreibt der Verfasser nicht grundlos mit dem Titel: „Hegels falsche und echte Ontologie“. Mit „falsch“ meint er dessen nicht genügend durchdachte ,Naturontologie‘. Sie empfindet er als wesentlich (zu) idealistisch entworfen. Zugleich habe sie jedoch nichts mit den modernen Erfüllungen der Bellarminschen Forderungen zu tun, wie die auf den Gegensatz von ,Ding an sich‘ und Erscheinung aufgebaute Naturphilosophie Kants. Für Hegel habe die Natur dieselbe, nicht-anthropomorphe Objektivität wie in der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts. Jener entwerfe eine Ontologie, in welcher die Natur eine stumme, nichts beabsichtigende Basis und Vorgeschichte für die Gesellschaft ergebe.24 Er bemüht sich, diese Haltung Hegels einerseits gegen Schellings Naturphilosophie zu verteidigen, andererseits dahin zu korrigieren, daß sowohl eine perichoretische Durchdringung von Subjekt und Materie als auch ein Verständnis vom Subjekt als Materie opportun sei.25 Hinsichtlich seiner Naturauffassung sei Hegel „weitaus nüchterner und realistischer als Schelling. Während für diesen die Differenz zwischen Natur und Menschenwelt darin bestand, daß das identische Subjekt-Objekt in jener unbewußter, in dieser bewußter Träger der Gegenständlichkeit, ihrer Beziehungen, ihrer Bewegungen etc. ist, existiert für Hegel 24 Cf. G. Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, p. 12 sqq. 25 Mit dieser Position hat er von Marx (oder Bloch?) selbst sich belehren lassen, welchem er, zumindest was das Verhältnis zur Natur betrifft, im Spätwerk näher steht als in Geschichte und Klassenbewußtsein: „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur“ (K. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEW EB I, pp. [465]-588; p. 516).

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in der Natur keinerlei wirksames subjektives Prinzip“26. Für Hegel bliebe die Natur dem Menschen gegenüber gleichgültig und entfremdet, es gäbe allenfalls ein ,Sichnach-ihr-richten‘, jedoch keinen Zugang, welcher echte Identität stiften könnte. Lukács versteht Ontologie als ,Aufklärung für die gesellschaftsverändernde Praxis‘. Der Widerspruch bildet ihm dabei das „letzthinnige“ Prinzip, Prämisse aller geschichtlichen Genese. Dieser Vorteil und Fortschritt im Denken seit Hegel müsse gegenüber dem ,mechanischen‘ Materialismus und der ,starren‘ Naturontologie des achtzehnten Jahrhunderts Berücksichtigung finden. Und obgleich er in seinem Spätwerk – gegenüber Hegel und Geschichte und Klassenbewußtsein – um eine ,theoretische Integration‘ der ,Natur an sich‘ bemüht ist, entwickelt er keine ,Logik der Natur‘, um daraus etwa eine dialektisch-materialistische ,Prädestinationslehre‘ zu deduzieren. Dies käme ihm einer Zuschreibung von Subjektivität gleich – vor nichts jedoch fürchtete er sich mehr. Seine Skepsis gegenüber der Materie an sich bleibt bestehen. Den Materialismus will er – wie Marx – als historischen, das heißt als Lehre von der Gesellschaft und ihren Bedingungen verstanden wissen.27 Natur als 26 G. Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, p. 36 sq. 27 Dennoch erweist Marxens Auffassung vom Verhältnis Gesellschaft-Natur sich als weitaus ,integrativer‘: „Die Geschichtschreibung [sic] selbst nimmt auf die Naturwissenschaft nur beiläufig Rücksicht, als Moment der Aufklärung, Nützlichkeit, einzelner großer Entdeckungen. Aber desto praktischer hat die Naturwissenschaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und es umgestaltet und die menschliche Emanzipation vorbereitet, sosehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollständigen mußte. Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon – obgleich in entfremdeter Gestalt – zur Basis des wirklich menschlichen Lebens geworden ist, und eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge. Die Sinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß die Basis aller Wissenschaft sein. Nur, wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt sowohl des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses, ausgeht – also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht –, ist sie wirkliche Wissenschaft. Damit der ,Mensch‘ zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis des ,Menschen als Menschen‘ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschich-

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Um- und Mitwelt menschlichen Seins betrachtet er als Ökoreservoir im Sinne eines Garanten für Produktionsleistung und Prosperität. Im Begriff Bodenschatz – zum Synonym für Natur geworden – verbirgt sich noch jenes Denken aus der Frühzeit der Industrialisierung, welches dem Kapital sich verschrieben hat. Lukács ist sich nicht bewußt, wie nahe er durch sein quantifizierendes Verhältnis zur Natur den Vorstellungen des bürgerlichen Positivismus kommt. Er sucht ,Natur- und Sozialdialektik‘ zu korrelieren ohne Ersterer allzu viel Autonomie zu gewähren. Dies ist dann der Fall, wenn der Austausch beider epistemisch und somit kontrollierbar bleibt. Jene Kalkül-Tendenzen, welche wir im Verdinglichungsaufsatz kennenlernten, kehren auch im späten Denken wieder: „Natürlich kann die Erkenntnis der Naturprozesse ebenfalls zu realen Aufhebungen von Komplexen führen; von der Wissenschaft der Struktur des Atoms bis zum Züchten von Lebewesen läuft eine solche Reihe von realen Aufhebungen. Indem die Erkenntnis ein aktives Eingreifen in ihre Dialektik veranlaßt, spielt sich der Prozeß auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Seins, als Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, ab, wobei freilich das richtige Erfassen der Naturdialektik die unumgängliche Voraussetzung bildet.“28

Die Angst, die gewünschte Subjekt-Objekt-Identität an unkontrollierbare ,Naturmächte‘ zu verlieren, hat auch den älteren Lukács nicht verlassen.29 Ungeachtet seiner guten Absichten, verwandelt das Verhältnis des Menschen zur Natur er in eine Nützlichkeitsbeziehung. Daß seine früh erworbene theoretische Festlegung auch später sich nicht wesentlich von Geschichte und Klassenbewußtsein gelöst hat, zeigt

te die Vorbereitungs- Entwicklungsgeschichte [„Entwicklungs-“ steht in der Handschrift über „Vorbereitungsgeschichte“ – Anm. der Hrsg.]“ (K. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEW EB I, pp. [465]-588; p. 543 sq.). 28 G. Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, p. 127. 29 Im Gegensatz zu Marx, welcher weit weniger Berührungsängste mit einer nicht vollständig domestizierten Natur hat. Zwar enthüllen diesem erst Gesellschaft und Geschichte die wahre Natur des Menschen, gerade diese jedoch, ganz von Sinnlichkeit und Bedürfnis beherrscht, indiziert ihn als Gattungswesen: „Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein“ (K. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEW EB I, pp. [465]-588; p. 544). Cf. etiam I. Schmidt: „Der Naturbegriff in den Pariser Manuskripten“.

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außerdem sich im Vorwort zu dessen Neuauflage 1968 sowie in Die Zerstörung der Vernunft 1952.30 „Hegel hat mit Recht, gerade in der ,Phänomenologie des Geistes‘, die mystisch-irrationalistische Verwirklichung des identischen Subjekt-Objekts, die ,intellektuelle Anschauung‘ Schellings abgelehnt und eine philosophisch rationale Lösung des Problems gefordert. Sein gesunder Realitätssinn ließ diese Forderung Forderung bleiben; seine allgemeinste Weltkonstruktion kulminiert zwar in der Perspektive ihrer Verwirklichung, er zeigt aber innerhalb seines Systems nie konkret, wie diese Forderung zur Erfüllung gelangen könne“ (GK, p. 25).

30 Die augenscheinlichste Veränderung gegenüber seiner früheren philosophischen Arbeit ist in Lukács’ Differenzierung von Klasse und Gattung zu finden. Nachdem er einsehen mußte, daß die Klasse nicht in der Lage ist, ihr Selbstbewußtsein zu totalisieren und das Subjekt-Objekt der Geschichte zu stellen, entwarf er eine Ontologie der Gattung, von welcher er hoffte, statt jener das Problem zu bewältigen. Von der Konzeption und Verwendung ontologischer Grundbegriffe versprach er sich ethische Universalisierbarkeit. Seine Theorie der Ästhetik sollte die notwendigen Voraussetzungen für eine totalisierende wie totalisierte ,Gattung‘ schaffen. „Lukács ist von der Literaturgeschichte über Literaturtheorie und Ästhetik zur ontologischen Grundlegung vorangeschritten. Sein Fortschritt war zugleich ,Rückgang in den Grund‘[Hegel]. Aufgrund seiner konzeptionellen Anlage mußte das Lebenswerk notwendig Fragment bleiben. Die Universalisierung, die Ausbildung einer einzigen allumfassenden Methode halte ich für das ausschlaggebende Motiv, das Lukács zur Wiederherstellung ontologischer Grundbegriffe veranlaßt hat. Im Resumée seiner Autobiographie kommt denn auch die Verdinglichungsthese nicht mehr vor, da arbeitet er durchweg mit überkommenen Begriffen: ,Darum: Konvergenz: Gattungsmöglichkeit des Menschen als Lösung des großen Zeitproblems.‘ [G. Lukács: Gelebtes Denken, p. 276]. [...] Die totalisierende Funktion des antimodernen klassizistischen Kunstwerks ist für Lukács, wie das Pathos der totalisierenden Methode belegt, zum Modell für das nicht entfremdete gesellschaftliche Sein insgesamt geworden, daß er seine ästhetische Konzeption, trotz des behaupteten Primats der Ethik, zum Vorbild der Methode überhaupt nahm. So erscheint seine, auf den ersten Blick ganz unbegreifliche Rückkehr zu ontologischen Dimensionen als Fortschritt der Universalisierung, worin ,Kunst als Selbstbewußtsein oder Menschheitsentwicklung‘ das Modell realisierter Totalität liefert. Alle bedeutende Philosophie läßt sich auf einen Kerngedanken bringen. Ernst Bloch hat den Kerngedanken seines Jugendfreunds Gyorgy Lukács getroffen: Er war ,ein Lokalpatriot der Kultur‘ [E. Bloch: Spuren, GA 1, p. 190]“ (E. Braun: Grundrisse einer besseren Welt, p. 237).

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Er verwehrt sich gegen eine rein materialistische Deutung oder Modifikation seiner Theorie, womit er sich vom klassischen Marxismus distanziert. Einer eindeutigen Bestimmung, wie seine Theorie sich denn statt dessen definiere, weicht er jedoch aus: „Das Proletariat als identisches Subjekt-Objekt der wirklichen Menschheitsgeschichte ist also keine materialistische Verwirklichung, die die idealistischen Gedankenkonstruktionen überwindet, sondern weit eher ein Überhegeln Hegels, eine Konstruktion, die an kühner gedanklicher Erhebung über jede Wirklichkeit objektiv den Meister selbst zu übertreffen beabsichtigt“ (GK, p. 25). Nicht nur Lukács’ Verhältnis zu Schelling bleibt ein antithetisches, auch das der Lebensphilosophie gegenüber – was in dichtem Zusammenhang steht. Leben hat mit Erlebnis, mit Kontingenz zu tun; es evoziert bei ihm Unbehagen wie Verdacht gleichermaßen, erinnert es doch an Unvorhersehbares, welches die dialektische Logik des geschichtlichen Werdens aufhalten könnte. Die Lebensphilosophie löst seinem Verständnis nach nur scheinbar jene Probleme, welche sie erkenntnistheoretisch auf anderem Wege nicht zu bewältigen in der Lage ist. Das Resultat sei unter dem Begriff Weltanschauung zusammenzufassen, dessen Wurzeln jedoch im modernen Agnostizismus lägen; es sei die Undenkbarkeit einer vom Bewußtsein unabhängigen, objektiven Wirklichkeit. Das Ziel bestünde in einer „Kritik des Verstandes“ (das heißt der „auf Verstandesmäßigkeit reduzierte[n] Vernunft“) ohne die Grundlagen des subjektiven Idealismus in Frage zu stellen: „Im Begriff ,Leben‘, besonders wenn dieser, wie stets in der Lebensphilosophie, mit dem ,Erlebnis‘ identifiziert wird, konnte der Schlüssel zu allen diesen Schwierigkeiten gefunden werden. Das Erlebnis, sein Organon, die Intuition, das Irrationale als sein ,natürliches Objekt‘ konnten alle notwendigen Elemente der ,Weltanschauung‘ hervorzaubern, ohne de facto, nicht deklarativ, auf den Agnostizismus der subjektiv-idealistischen Philosophie, ohne auf das Leugnen der vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit, das zur Abwehr des Materialismus unentbehrlich geworden ist, verzichten zu müssen.“31

Da Wissen durch Intuition nur wenigen Menschen zugänglich sei, wirft Lukács der Lebensphilosophie erkenntnistheoretischen „Aristokratismus“ vor. „Eine Lebensphilosophie kann nur intuitiv sein – und die Fähigkeit zur Intuition besitzen angeblich nur die Auserwählten, die Mitglieder einer neuen Aristokratie. Es wird in späteren Zeiten, wenn die sozialen Gegensätze noch schärfer hervortreten, offen ausgesprochen, daß

31 G. Lukács: Von Nietzsche zu Hitler, p. 109.

94 | O BJEKT -S UBJEKT Verstand- und Vernunftkategorien die der demokratischen Pöbelhaftigkeit sind, während die wirklich vornehmen Menschen nur auf der Grundlage der Intuition sich die Welt aneignen.“32

Denselben ,elitären Zug‘ will er auch beim „Restaurationsideologen“ Schelling finden: „Die ,intellektuelle Anschauung‘ involviert einen Aristokratismus in der Erkenntnistheorie. Schelling führte wiederholt aus, daß die wirkliche philosophische Wahrheit, die Erkenntnis des Absoluten nur für wenige Auserwählte, nur für die Genies erreichbar sei. Es gäbe einen Teil der Philosophie, und zwar gerade den wichtigsten, der nicht gelernt werden könne.“33 Und obgleich Lukács selbst immer wieder Versuche unternimmt, die Ästhetik als gültigen Weg zur Identität zu entdecken, lehnt er die Theorien Schellings, für den die Kunst die ,Objektivität der intellektuellen Anschauung‘ ist, strikt ab: „Es ist klar, daß diese Verknüpfung, ja Identifizierung von ästhetischer und intellektueller Anschauung die [...] Tendenzen Schellings zum Aristokratismus in der Erkenntnistheorie noch verstärken muß. In der Philosophie Schopenhauers wird dieser Aristokratismus noch ausgeprägter, noch offener reaktionär als beim jungen Schelling.“34 Der Irrationalismus des neunzehnten Jahrhunderts, zu welchem er neben Schelling und Schopenhauer auch Kierkegaard und Nietzsche als wichtigste Vertreter rechnet, ist aufgrund seiner ,Metaphysik des Willens‘ und der ,Willkür‘ nach Lukács der geistige Wegbereiter des Faschismus. Diese Kausalität scheint ihm evident und sein strenges Anathema ausreichend begründet. Die Abwehr der Unvernunft wie die Kontingenz des Erlebens treiben ihn schließlich in den moralischen Aszetismus: „Oder man nehme die Stellung des Menschen zu seinen eigenen Instinkten. Seit wir literarische Dokumente besitzen, sehen wir, schon bei Homer, daß das Menschsein der Menschen wesentlich auf Instinkt-Beherrschung beruht. Diese Lehre war so lebenswichtig für die Menschheit, daß man immer wieder, auch noch bei Kant, sogar mit einem transzendenten Regulator vorlieb nahm, nur um diese Herrschaft philosophisch zu sichern. [...] Was Nietzsche für die Befreiung der Instinkte von der Tyrannei der Vernunft anzuführen hat, ist – Dionysos versus Sokrates mitinbegriffen – ein geistreichelnd reaktionäres Feuilleton.“35

Hier enthüllt der Autor implizit die wahren Motive seiner Aversion gegen Schelling und Nietzsche: es ist die Angst vor der Auflösung aller normativen Ethik durch die Übermacht der ,Triebnatur‘. Eine Moral, die allenfalls das Individuum kennt, nicht 32 G. Lukács: Von Nietzsche zu Hitler, p. 112. 33 G. Lukács: Der junge Hegel, W 8, p. 531. 34 G. Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, W 9, p. 136. 35 G. Lukács: Von Nietzsche zu Hitler, p. 9.

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mehr jedoch dem Prozeß des Weltgeistes gehorcht, scheint ihm für die Umgestaltung des Ganzen zum Guten unbrauchbar. Dies erklärt, weshalb Lukács nicht nur vor der ,Irrationalität‘ und ,Mystik‘ Schellings, sondern auch vor dessen Identitätslehre sich fürchtet – läßt sie doch, besonders in der Freiheitsschrift, sogar gut und böse, richtig und falsch in eins fallen. Da diese Wertungen dem gleichen Grunde entspringen, existieren nach Schelling die Unterschiede allein in der Quantität ihrer Erscheinungen. In seinem Hegel-Buch, welches Schelling und der genannten Problematik ein ganzes Kapitel widmet, äußert Lukács sich über diese moralische „Gleichgültigkeit“ kritisch und wirft ihm (gemeinsam mit Hegel) „Mangel an Dialektik“ vor: „Diese Beschränkung der Unterschiede im Absoluten ist eine der Ursachen des Formalismus der Schellingschen Philosophie. Er kann den ganzen Reichtum des Lebens, der objektiven Wirklichkeit auf diese Weise unmöglich in seinen Begriff des Absoluten aufnehmen. Er ist zu leeren Konstruktionen gezwungen, z. B. daß die Natur das Überwiegen des reellen Momentes über das ideelle sei usw. [...].“36 – Am Ende begegnen wir also wieder den Grundzügen von Lukács’ ,neukantianistischer Ethik‘, welche – fragmenthaft zwar, aber dennoch konsistent – durch sein gesamtes Œuvre sich verfolgen läßt. Im Vorwort zu den aus dem Nachlaß herausgegebenen Entwürfen, in welchen er unterschiedlichste moralphilosophische Probleme zu ordnen suchte, schreibt György Iván Mezei: „Obwohl Lukács’ Lebenswerk seit jeher sehr umstritten ist, sind die Lukács-Forscher, Vertreter der verschiedensten Weltanschauungen, darin einig, daß dieses Schaffen durch ethische Motive zutiefst beeinflußt war. Man könnte sogar behaupten, daß sein ganzes Lebenswerk eine ,Ethik inkognito‫ ދ‬ist.“37 Nochmals fragen wir: Welche Meriten erwirbt Lukács sich mit Geschichte und Klassenbewußtsein? Was bleibt uns als Erbe? Erstens die Einführung des Begriffes der Verdinglichung überhaupt – zur Veranschaulichung der dinghaft zur Ware gewordenen menschlichen Beziehungen, deren Reduktion auf Quantität sowie der aus dieser Abstraktion resultierenden Aufspaltung ihrer Subjekte. Lukács inauguriert Verdinglichung als einen anderen Namen für den Versuch, Geschichte und Natur im Subjekt zu rationalisieren. Zweitens, daß es sich dabei um ein erkenntnistheoretisches Grundproblem der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt sowie des Subjekts mit sich selbst handelt. Und drittens seine Darstellung der methodologischen Disjunktionen zwischen Kant, Hegel und Marx, die zu synthetisieren er versucht. Er macht die scheinbar selbständigen und deshalb trennenden Systeme der Gesellschaft als Momente eines einheitlichen Ganzen kenntlich. Anders: Lukács erklärt 36 G. Lukács: Der junge Hegel, W 8, p. 536. 37 G. Lukács: Versuche zu einer Ethik, p. 7.

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Entfremdung und Marxismus, Symptom und Therapie, aus der Entwicklungsgeschichte der klassischen deutschen Philosophie. Dies gelingt ihm – zumindest theoretisch – durch die ,panlogisch-metaphysische‘ Stringenz seiner Argumentation, auch wenn er gerade dadurch eine praktische Entdinglichung nicht zu realisieren vermag. Die Reifikationsthematik hat sich als unerledigtes Theorie-Praxis-Problem des Deutschen Idealismus erwiesen. Lukács hat uns in Geschichte und Klassenbewußtsein zu den Ursprüngen geführt. Erst wenn die Verhältnisse von dort her verstanden und gedeutet werden, ist ein philosophisches Weiterkommen in der Gegenwart möglich. Wir resümieren, daß Lukács die Schwierigkeiten des Phänomens der Verdinglichung nur rudimentär bewältigt, da seine Theorie alles, was nicht seinem dialektisch-holistischen Logizismus sich fügt, eskamotiert.

2. Schelling in der Rezeption von Ernst Bloch

Der hier zu vermittelnde Begriff der Verdinglichung steht in engem Zusammenhang nicht nur mit dem Namen Lukács, sondern auch – wie wir im folgenden sehen werden – mit jenen von Bloch und Schelling. Genauer gilt es nun zu zeigen – es wurde bereits darauf hingewiesen –, wie die Koalition Bloch-Schelling sich bilden konnte und weshalb sie sich konträr zum orthodox-marxistischen Philosophieren und besonders zu dessen Interpretationslinie Hegel-Lukács verhält. Wenn wir Lukács’ antithetische Beziehung zu Schelling betrachten, erscheint es um so staunlicher, daß Bloch diese Negation umzukehren vermochte, ohne auf marxistische Methodik zu verzichten.

2.1 K RITIK

AN

L UKÁCS 1

Daß Bloch mit Subjekt-Objekt (1949) sich Hegel monographisch widmete, Schelling jedoch nur fragmentarisch, lenkt von der Möglichkeit ab, daß er Letzterem philosophisch näher stand als die editorischen Formen es vermuten lassen. Der Blick sei deshalb allein auf das Inhaltliche gerichtet. Dies unternahm lange vor uns bereits Jürgen Habermas, der sich 1954 mit einer Dissertation über Schelling promoviert hatte.2 In seinem 1960 verfaßten Epitheton zu Bloch bezeichnet er diesen als „marxistischen Schelling“3. Dies war in erster Linie kritisch gemeint:

1

Teile dieses Kapitels sind bereits erschienen, cf. M. Mayer: „Zur Bedeutung der Schel-

2

J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings

ling-Rezeption bei Ernst Bloch“. Denken; cf. etiam M. Frank: „Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie“, der im Habermas-Handbuch 2009 jene Doktorarbeit einer eingehenden Neuinterpretation unterzieht. 3

J. Habermas: „Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling“, p. 147.

98 | O BJEKT -S UBJEKT „Blochs Materialismus bleibt spekulativ, seine Dialektik der Aufklärung schreitet über Dialektik hinaus zur Potenzenlehre fort. Metaphorisch gesprochen – und an Utopie bleibt ein Rest von Metaphorik immer –, orientiert Bloch sein Denken eher an der Entwicklung einer generell vermuteten Trächtigkeit der Welt als an der Lösung vom gesellschaftlichen Bann existierender Widersprüche. Die Philosophie der Natur wird zur Natur seiner Philosophie.“4

Bemerkenswert an diesem Urteil ist, daß Bloch vom westlichen Marxismus dieselben Vorwürfe trafen, wie vom orthodoxen sowjetischer Provenienz. Unsere These geht deshalb dahin, daß am Verhältnis zu Schelling auch die Außenseiterrolle, welche als marxistischer Philosoph er inne hatte, sich am anschaulichsten erklären läßt. Blochs Beziehung zu jenem ist nicht isoliert zu betrachten, sondern wird nur verständlich im historischen Kontext seiner philosophischen Reifungszeit; dorthin gilt es zurückzugehen. „In den zwanziger Jahren erhält der Torso utopischen Denkens und ontologischer Ansätze – wie fragmentarisch auch immer in ,Geist der Utopie‘ enthalten – eine Weiterentwicklung: die utopische Seite der Entwicklung der Wirklichkeit erhält größeres Gewicht und überhaupt die Vermittlung zwischen Utopie und Wirklichkeit. Das neue Gewicht von Geschichte und Natur bestimmen den Charakter dieser Wendung.“5

Die geistige Nähe zu Schelling spiegelt beim jungen Bloch sich in dessen Ringen um die endgültige Ausrichtung seiner Philosophie, die ihre Wurzeln – was häufig übersehen wird – nicht nur in Marx hatte. Das frühe Suchen kreiste vornehmlich um das Problem von „Wirklichkeit und Verwirklichung“ (Boella) sowie um die Schwierigkeit des Konkretwerdens der Utopie. Dies verband ihn mit Georg Lukács, dessen Geschichte und Klassenbewußtsein im gleichen Jahr erschien wie die zweite Fassung von Geist der Utopie, 1923.6 Methodisch verschieden, teleologisch einig, legten durch diese Schriften beide ihr künftiges Schaffen in antizipierender Verdichtung vor. „Bloch hat nach ,Geist der Utopie‘ Natur und Geschichte ganz anders eingeschätzt. Das kommt daher, daß er nach 1923 sich auf neue Weise mit dem Marxismus zu beschäftigen begann. Diese neue Beschäftigung vollzog sich im weiteren Rahmen einer neuen und angstvoll-angestrengten Suche nach einer Theorie der revolutionären Bewegung.“7 Allein im Konflikt mit Lukács konnte für Bloch 4

J. Habermas: „Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling“, p. 167.

5

L. Boella: „Wirklichkeit und Verwirklichung“, p. 308.

6

Eine Überarbeitung der ersten Auflage, München, Leipzig: Duncker & Humblot, 1918.

7

L. Boella: „Wirklichkeit und Verwirklichung“, p. 309.

Als Faksimile neu erschienen bei Suhrkamp 1971, GA 16.

2. S CHELLING

IN DER

R EZEPTION

VON

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die Priorität der Materie, welche er mit Bewußtsein und ,Tendenz‘ zur Veränderung potenziert wissen wollte, in solcher Klarheit sich destillieren. Anders: erst aus der Negation des Anti-Irrationalismus und abstrakten Logizismus in Lukács’ Ansatz wächst ihm das Positive des ,konkret Utopischen‘. Die Versäumnisse jener Theorie lassen seine eigene Gegenwartsanalyse sowie die Konstruktion des Utopischen – als Vermögen zur Umgestaltung gegenwärtiger Wirklichkeit – gründlicher und konkreter werden. „Entscheidend für die Selbstveränderung Blochs war ,Geschichte und Klassenbewußtsein‘ (1923).“8 Wie wir im vorangegangenen Kapitel feststellen konnten, zeigte auch bei Lukács sich von vorn an eine gewisse – allerdings negative – Fixierung auf den Namen Schelling. Was Spinoza, der allem einen identifizierenden Grund zudachte, für die Substanz, bedeutet Schelling für die Unvordenklichkeit der Materie. An ihm scheiden seitdem sich die Geister, insbesondere die marxistischen. Es ist deshalb möglich, von zwei parallel verlaufenden Entwicklungslinien innerhalb der neomarxistischen Tradition zu sprechen: die eine führt von Hegel zu Lukács, die andere von Schelling zu Bloch. Der Konflikt, um den es im Marxismus geht, ist ein erkenntnistheoretischer, welcher sich von Kant über Hegel zu Marx erstreckt und bei Lukács in der Antinomie dialektischer Logizismus – naturhafter Irrationalismus kulminiert;9 dies jedoch bedeutet, daß es sich eigentlich um den klassischen Gegensatz von Idealismus und Materialismus handelt. Wir sahen: Lukács scheidet Natur, welche er allein als gesellschaftlich vermit8

L. Boella: „Wirklichkeit und Verwirklichung“, p. 309.

9

Nicolas Tertulian fragt sich zurecht, ob Lukács’ „Rationalismus“, welchen ich mit Bezug auf Geschichte und Klassenbewußtsein lieber als dialektisch-holistischen Logizismus bezeichne, durch die Vehemenz seiner Abwehr gegenüber dem sogenannten Irrationalismus nicht zuweilen dogmatische Züge annimmt: „Die Frage muß erlaubt sein. N. Hartmann entging dieser Gefahr durch seinen kritischen Begriff des Irrationalen. Die eigentümliche Gefahr eines idealistischen Rationalismus, dem Lukács manchmal zu erliegen droht, liegt darin, daß der Abstand zwischen unseren Erkenntnismöglichkeiten und der unendlichen Vielschichtigkeit des Wirklichen tendenziell auf Null reduziert wird; das geschieht immer dann, wenn – vor Beginn der konkreten Erkenntnisarbeit – a priori statuiert wird, daß es für alles Seiende auf jeden Fall eine Abbildungsmöglichkeit und ein Erkenntnismodell in unserem Geist gebe, mit dem es sich ,fassen‘ ließe. Der Wissenschaftstheoretiker Feyerabend hat die – einem solchen idealistischen Rationalismus gegenüber – fruchtbare Forderung aufgestellt, daß eine Vielzahl von Methoden erforderlich und zulässig sein müßten, um sich der Wirklichkeit nach Möglichkeit anzunähern. (Die fragwürdigen Seiten des erkenntnistheoretischen Anarchismus Feyerabends können wir hier nicht behandeln.)“ (N. Tertulian: „,Die Zerstörung der Vernunft‘ – Ein Rückblick nach 30 Jahren“, p. 101 sq.).

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telte verstanden wissen will, in eine rationale, das heißt begreif- und erzeugbare sowie in eine irrationale, das heißt unbeherrsch- und unvorhersehbare. Der Terminus des Irrationalismus drückt seine Angst vor der ,Unlogik‘ der Natur aus. Lukács flieht vor der Gefahr ,natürlicher‘ Determination in die Scheinfreiheit Hegelscher Logik, indem er die Materie idealisiert, um ihrer Abläufe sich zu versichern. Diese jedoch bleiben, gerade aus dialektischer, nicht-mechanischer Perspektive, unbestimmt, durch Kalkulation und Quantifizierung allein nicht zu erfassen: „Der Groschen fällt oder er fällt nicht“ (Bloch). Was Geschichte und Klassenbewußtsein betrifft, erhält sein Verfasser von Bloch in dessen Aufsatz Aktualität und Utopie die kritische Antwort – eine Art ,innermarxistische Gegenaufklärung‘. Welches Gewicht Lukács’ Thesen für jenen gehabt haben müssen, erweist sich am Faktum der Seltenheit, mit welcher Bloch überhaupt Rezensionen verfaßte. Nur wenige Schriften erachtete er deren für bedeutungsvoll genug. Der Titel gibt treffend den Kern der Schwierigkeiten wieder: Aktualität und Utopie. Er impliziert die Frage nach der Spannung zwischen Sein und Sollen, Sein und ,Noch-Nicht-Sein‘. Was die erkenntnistheoretische Deduktion und Darstellung der Verdinglichungsproblematik aus dem Verlauf der Philosophiegeschichte seit der Aufklärung betrifft, findet Lukács umgehend Blochs Zustimmung: „Bei Kant herrschte die Neigung, auch auf der Subjektseite alles Inhaltliche auszuschalten, lediglich Bewußtsein überhaupt und nicht einmal soviel aus lauter formalistischer Reinheit, Beziehungslosigkeit übrig zu lassen“ (GA 10, p. 615). Bei Hegel sei trotz der starken Tendenz, das Subjekt in Substanz zu verwandeln, das reale Wir der Genesis doch nicht angetroffen worden. Die „Sprengung“ von abstraktem Formalismus (Kant) und anders abstrakter Mythologie (Hegel) sei erst durch die konkret-reale Selbstbeziehung des gesellschaftlichen Subjekts im Klassenbewußtsein des Proletariats erfolgt. Wesentlich ist für Bloch der richtige Blick auf das Verhältnis von Erzeugen und Begreifen, Denken und Sein. „Nicht also soweit ihn der Gedanke erzeugt hat, ist ein Gegenstand erkennbar, sondern soweit sein Gedachtwerden zugleich die Erkenntnis des Gegenstandes selbst bedeutet. Denken und Sein sind auf dieser Stufe insofern identisch, als das Denken hier endlich nicht mehr die bloßen Tatsachen der Empirie, der falschen, verdinglichten, untotalen, sondern die höhere Wirklichkeit der Entwicklungstendenzen antrifft und sich als das Bewußtwerden, Aktuellwerden, als wichtigstes konstitutives Element im Prozeß der Offenbarwerdung der Wirklichkeit begreift“ (GA 10, p. 615 sq.).

Der Autor geht mit Lukács d’accord, daß der Begriff Erzeugen mehr beinhaltet als einen Gegenstand oder Sachverhalt nach streng logischen Kriterien verifizieren zu können. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist kein starres, sondern ein ,geöffnetes‘, insofern es nicht dem ,Einfangen eines Vogels mit der Leimrute‘ entspricht

2. S CHELLING

IN DER

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VON

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(Cf. PG, p. 53); vielmehr enthält jede Handlung – wozu auch die kontemplative als Erkenntnisakt gehört – ein woher und wohin, welches über den formalen Gang hinausführt und in ,Prozeßhaftes‘ involviert ist. Solche Wahrheit entfaltet sich linear und strukturell, historisch wie geographisch. Anders: Erst in telisch-totalisierender Bewegung vermag ,Wahrheit‘ sich als Entwicklung ,ereignen‘ zu können. Bloch aber spricht sich gegen eine ,Nötigung‘ historischer Prozesse – im Sinne eines falschen Prognostizierens – aus. Momente „geschichtsphilosophischer Unmöglichkeit“ dürften nicht durch reines Sollen übergangen werden; der Gesamtheit der sich umwälzenden Wirklichkeit würde so nicht Rechnung getragen; es bliebe in Lukács’ Konzeption bei „abstrakt-revolutionären Mythologismen“. Mit Marx weist er darauf hin, daß das Proletariat keine Ideale zu verwirklichen, sondern lediglich eine neue Gesellschaft in Freiheit zu setzen habe. „Die Erscheinungskomplexe der Kunst und erst recht der völlig dunklen, unidentischen Natur haben gewiß ihre Subjekt-Objekt-Beziehung noch keineswegs gefunden; aber jeder Versuch, hier das Utopische als seiend zu gestalten, wirkt nur formzerstörend, nicht wirklichkeitsschaffend. Im Umkreis der materialistischen, materialbezogenen Dialektik erst ist der Boden der Wirklichkeit jeweils zu gewinnen und immer neu zu gewinnen; gemäß eines eigentümlichen Agnostizismus also, der sich um Transzendentes nur insoweit kümmert, als die konkret dialektische Vermittlung reif dazu ist, dieses konkret zu manifestieren“ (GA 10, p. 616).

Bloch unterscheidet einen „verantworteten Agnostizismus“, den er als Respekt vor dem „unenthüllten Wirgeheimnis, welches das Weltgeheimnis ist“, versteht und einen „unverantworteten“, dem er das bewußte Ignorieren anderer Erkenntnismöglichkeiten sowie die „Erschwerung der Transzendenz“ unterstellt; hierzu rechnet er den Verfasser von Geschichte und Klassenbewußtsein: „Calvin schob die Hinterwelt mittels der Prädestinationslehre aus dem Bewußtsein; Lukács als Theoretiker der Konstitutionspraxis erreicht das Gleiche mittels einer ganz einzigartigen Verbindung von innerweltlicher Askese und Hegelscher purer Konkretionsdialektik“ (GA 10, p. 616). Der Autor erkennt, daß der tiefere Sinn dieses „dialektischen Agnostizismus“ „ohne Zweifel Scheu vor dem Verborgenen, verantwortliche Haltung vor dem Geheimnis, strenges Bedürfnis nach seiner Abgrenzung, nach seiner unabgelenkten Statuierung gegenüber aller scheinbaren Konkretion oder voreilig abstrakten Konstruktion“ ist (GA 10, p. 616 sq.). Die ,objektive Tendenz‘ zur Veränderung hat den materiellen Bedingungen zu entsprechen. Nur wenn sie dies leistet, ist sie überhaupt erst objektiv. Die ,Tendenz zum Glück‘ kann nach Bloch sich dennoch erfüllen: in zunächst auch kleineren, singulären Einheiten und Schritten. Individuelle Qualitäten können dann quantifiziert zum objektiven Umschlagen der ,Qualität des Ganzen‘ führen. Dies findet er in Lukács’ Theorie nicht ausreichend berücksichtigt. Er gibt zu bedenken, daß Geschichte ein polyrhythmisches Gebilde

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sei, kein homogenes „und nicht nur die soziale Gewinnung des noch verdeckten gesellschaftlichen Menschen, sondern auch die künstlerische, religiöse, metaphysische Gewinnung des geheimen transzendentalen Menschen ist ein Denken des Seins, einer neuen Tiefenbeziehung des Seins“ (GA 10, p. 618). Mit einem einzigen Begriff, dem der Tiefenbeziehung, stellt der Verfasser sowohl die Affinität zu Schelling als auch die Differenz zu Lukács her. Materie zeichnet Multidimensionalität und Polyrhythmie aus. Dies bedeutet nicht, daß sie jeder Art von Logik sich verweigert. Sie ist im Gegenteil überhaupt nur logisch vermittelbar; dem Unvordenklichen als Natur und Leben jedoch fällt die Priorität des Subjektiven und Faktischen zu. „Aber mit der Beschränkung oder Homogenisierung auf die rein soziale Materie hin (die bei Lukács regiert, trotz alles Willens zur Totalität) wird man weder Leben noch Natur noch eben die fast allemal exzentrischen Inhalte des dianoetisch bezogenen Verständigungsprozesses adäquat erfassen“ (GA 10, p. 618). Wie Freud ist auch Bloch sich darüber im klaren, daß den Menschen seine Neigung und Anlage zur Aggression nach Aufhebung allein sozialer Mißstände (ungerechte Eigentumsverhältnisse) nicht verlassen wird. Aktualität und Utopie sind für ihn keine Gegensätze, denn „das Jetzt ist ja schließlich das einzige Thema der Utopie, wann immer man diese als das beständige Verlangen nach Abwerfung der Masken, Ideologien, Mythologien des Unterwegs, als Ahnung der im Jetzt sowohl treibenden Tendenz wie verborgenen Eigentlichkeit, Adäquation des Prozesses begreift“ (GA 10, p. 621). Utopie ist der Moment zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht, der Augenblick zwischen Verlassen und Aufbruch. Es ist die nicht-idealisierte und nicht-vorgezeichnete Zukunft, die jedoch nach Gestaltung verlangt, nachdem ihr Subjekt in Freiheit gesetzt wurde: „incipit vita nova“ (GA 3, p. 13). Schon früh, in Spuren, zeichnet die expressive Andersartigkeit und Besonderheit des Blochschen Naturverständnisses sich ab. Wir finden dort es eng an Fragestellungen der Existenzphilosophie gebunden; geht es doch um die Dimension des Nichts, welches die Natur ebenfalls repräsentiert und das die ,Sinnlosigkeit des Daseins‘ überhaupt verantwortet. Bisweilen vermag die Natur nach Bloch eher den Todestrieb zu befördern, statt als grande consolatrice zu wirken. Der Titel einer Parabel macht auf jenes Nihil aufmerksam: „Niemandsland“. Unvermittelt kann dieses auch als ,Nichts-Ort‘ oder ,negative Heimat‘ falsche Beachtung wie Verklärung finden, denn jede „Spur von Erdentagen ist von riesiger Nacht eingerahmt, rückwärts wie vorwärts, individuell wie vor allem kosmisch. Ein Achtzehnjähriger hat kurz vor seinem Selbstmord einen Brief ans Weltall geschrieben – den kann man gut verstehen; die Gegensätze zwischen dem zwergenhaften Leben und der riesenstarken Ruhe, in der fast alles ist, außer den paar Pflanzen, Tieren und Menschen. [...] Aber gerade die ganzen Naturfreunde ziehen auch ganz ins Tote“ (GA 1, p. 189), warnt Bloch eindringlich. Die Menschen hätten gegen dieses „Ungeheure“ alles getan, damit es sie nicht „verschluckt“; sie „haben ihm heidnisch geschmeichelt und

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christlich ein Kind darüber gesetzt. Dennoch betäubt die große Zahl, auch wenn man sie durchschaut: die Inflation der Lichtjahre, die in Gold noch kein Stück Brot kaufen lassen; das Nichts, das mit der dünnen Bergluft schon anfängt und eigentlich erst unendlich ist, nämlich immer wieder nichts“ (GA 1, p. 190). Wir sehen: Natur ist mehr als ein durch ,Werktätigkeit‘ vermittelter gesellschaftlicher Zustand. Weiter erinnert die Parabel an Schellings Idee von Gegensätzlichkeit (der Begriff Dialektik findet in seiner Naturphilosophie noch keine Verwendung), welche nicht zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern zwischen Endlichem und Unendlichem sich bildet. Das Bedrohliche der Natur ist nicht im konventionellen Sinne zu verstehen, als das Gegenständliche, welches dem Menschen Hegelsche Arbeit abverlangt, entfremdete gar, wie bei Marx. Die Gefahren, von denen hier die Rede ist, gehen vom Unbewußten, rein Qualitativen aus; sie sind genau das, was in Geschichte und Klassenbewußtsein mit irrational umschrieben wird.10 Der Mensch selbst ist Natur, seine Psyche besteht aus ihr; darum begreift er sich nicht, hat jedoch die Möglichkeit dazu: nur Gleiches vermag Gleiches zu erkennen. Und interessanterweise schließt die zitierte Parabel mit einem fiktiven Zwiegespräch, dessen Zweck in der Depotenzierung des Denkens besteht und hinter dessen Teilnehmern sich Bloch und Lukács selbst verbergen:11 „Als einer zu seinem weisen Freund sagte: unsere Gespräche mögen fein und tief sein, aber wie stumm sind die Steine und wie unbewegt bleiben sie von uns; wie groß ist das Weltall und wie armselig steht die ,Höhe‘ unserer Peterskirche davor; was müßte erst die Erde selber zu sagen haben, wenn sie einen Mund von Lissabon bis Moskau öffnete und nur wenige Urworte donnerten, orphisch; – da erwiderte der weise Freund, als Lokalpatriot der Kultur: eine 10 Rainer E. Zimmermann entkräftet das Vorurteil, welches Schellings und Blochs spekulative Beschäftigung mit der Natur grundsätzlich als Mythologie oder Mystizismus betrachtet: „Wie schon Schelling gehört auch Bloch zu jenen Philosophen, die über einen weiten naturwissenschaftlichen Horizont verfügten und die Darstellung der welthaften Konsequenzen vor allem ihres Naturbegriffs als eines ganzheitlich die Theorie überspannenden auf den Erkenntnisstand ihrer Zeit basierten. Bei beiden übrigens führte die Entwicklung einer ganzheitlichen Systematik zu einer ausdrücklichen Depotenzierung menschlichen Denkens vor dem Hintergrund einer Potenzierung der aktiv wirkenden Naturproduktivität. Bloch fußt in diesem Sinne seinen Ansatz auf die innovativen Theorien der Physik, wie sie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wesentlich durch die Einsteinsche Relativitätstheorie und die Plancksche Quantentheorie geprägt wurden“ (R. E. Zimmermann: „Blochsche Dimensionen des heutigen Naturbegriffs“, p. 36). 11 Diese Information stammt aus einem persönlichen Gespräch mit Jan Robert Bloch (Berlin, 27. März 2009).

104 | O BJEKT -S UBJEKT Ohrfeige ist kein Argument und die Erde? sie würde vermutlich lauter Unsinn reden, denn sie hat weder Kant noch Platon gelesen“ (GA 1, p. 190).

Alle Deutung erübrigt sich. Ungeachtet der Blochschen Prosa entgeht uns nicht, mit welcher Schärfe der Konflikt ausgetragen wird, daß um eine substantielle Differenz es sich handeln muß, welche zwischen beiden steht. In einem autobiographischen Aperçu beschreibt Bloch seine Beziehung zu Lukács wie folgt: „1911 in Heidelberg Beginn der Freundschaft und zehn Jahre währenden geistigen Symbiose mit Lukács. Das im Zeichen Hegels, eines totalen Systemwillens, freilich eines stets dialektisch-paradox unterbrochenen, und – bei mir vor allem – futurisch, ja ,eschatologisch‘ offenen. Selber marxistisch, verwandt den Gedanken in Lukács’ Buch von 1923 ,Geschichte und Klassenbewußtsein‘: erst die spätere Orthodoxie bei Lukács machte dieser Freundschaft vorübergehend ein rein sachliches Ende.“12

Jan Robert Bloch bezeichnet das Verhältnis zwischen seinem Vater und Lukács als insgesamt „höflich aber beziehungslos“13. In einem Brief vom 25. Juni 1954 bedankt Bloch sich bei Lukács für die Überreichung der Zerstörung der Vernunft. Seine besondere Aufmerksamkeit trifft die Bearbeitung Schellings, die er wie folgt kommentiert: „Auffallend ist es auch, wie Du nicht ergangene Invektiven Hegels gegen Schelling postnumerando und recht übertrieben nachholen willst. Von der ,intellektuellen Anschauung‘ geht ein gerader Weg zu Hitler? Three cheers for the little difference [ein dreifaches Hoch auf den kleinen Unterschied]. Und kommt damit nicht ein höchst ungemäßes Glänzen an die Fahne, besser in das Aborthaus Hitler?“14

Auch später wird es den beiden nicht gelingen, die Verstimmung auszuräumen. Dies schlägt sich noch in den Gratulationsschreiben zum achtzigsten Geburtstag nieder. Aus Tübingen sendet Bloch am 9. April 1965 an Lukács die Zeilen: „Drükke Dir über alle Unterschiede hinweg die Hand, bei anders dimensionierter Ratio wohl einig in dem Satz Isaak Babels15: Die Banalität ist die Gegenrevolution.“16 12 E. Bloch: „Ernst Bloch“, p. [1] sq. 13 Dies teilte mir Jan Robert Bloch ebenfalls persönlich mit (Berlin, 27. März 2009). 14 E. Bloch: Briefe 1903-1975, vol. 1, p. 201 sq. 15 Isaak Babel (geboren 1894 in Odessa), russischer Schriftsteller jüdischer Abstammung, der durch seinen Erzählungszyklus Budjonnys Reiterarmee (erschienen ab 1923) international berühmt wurde. Babel war Anhänger der Bolschewiki, nahm am Bürgerkrieg teil

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Lukács bedankt sich bei Bloch am 30. April 1965 und fügt hinzu: „Ich teile ganz Deine Ansicht von der Homogenität unserer Chronologie. Die Begegnung um 1910 hatte etwas so Vehementes, daß sie mit keiner von anderen Altersgenossen auch nur vergleichbar ist. Wie bald und wie entscheidend die Trennung der Wege eintrat, ändert nichts an diesem Faktum.“17 Und am 2. Juli 1965 schreibt er aus Budapest in seiner Glückwunschadresse zu Blochs Geburtstag: „Wann immer unsere Divergenzen sich zu ganz getrennten Wegen entfalteten – die Tendenz dazu war schon in Heidelberg stärker als wir damals glaubten –, sie können die Erinnerung an den alten Impuls nicht auslöschen.“18 Diese späten Konfessionen sollen unsere Vermutung bestätigen, daß die philosophischen Entwürfe der beiden von Anbeginn grundlegend auseinandertraten. In ihrer jeweiligen Haltung gegenüber Schelling verdichtet und verbildlicht sich diese Differenz.

2.2 R EZEPTION

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APOLOGIE S CHELLINGS

An vornehmlich drei Stellen der Gesamtausgabe äußert Bloch sich ausführlicher zu Schelling: im Materialismusproblem, in Subjekt-Objekt sowie in den Leipziger Vorlesungen. Jedoch soll hier auf einige der im übrigen Werk reich vorhandenen Passagen, in denen Schelling ebenfalls – wenn auch weniger umfangreich – zitiert wird oder in einem nicht unbedeutenden Kontext Erwähnung findet, eingegangen werden. Wir wollen dabei diachronisch verfahren und beginnen mit Blochs Würzburger Dissertation, welche er 1908 unter der Betreuung von Prof. Dr. Oswald Külpe19 verund war politischer Kommissar in der legendären Reiterarmee des Marschalls Budjonny. Seit Ende der zwanziger Jahre wurden Babels Werke zunehmend kritisiert und schließlich abgelehnt. Nach 1935 konnte er nichts mehr veröffentlichen; 1939 wurde er verhaftet und starb 1941 in einem der zahlreichen stalinistischen Lager. 1954 wurde er rehabilitiert, und seit 1957 werden wieder Werke von Babel in der UdSSR veröffentlicht [Anm. der Hrsg.]. 16 E. Bloch: Briefe 1903-1975, vol. 1, p. 205. 17 E. Bloch: Briefe 1903-1975, vol. 1, p. 206. 18 E. Bloch: Briefe 1903-1975, vol. 1, p. 207. 19 „Külpe, Oswald, Psychologe, Philosoph, * 3.8.1862 Kandau bei Tukkum (Kurland), † 30.12.1915 München. K[ülpe], Sohn eines Notars, studierte Geschichte, Philologie, experimentelle Psychologie und Philosophie in Leipzig, Berlin und Göttingen und wurde 1887 promoviert (Zur Theorie der sinnlichen Gefühle). 1888 habilitierte er sich in Leipzig (Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie) und war 1887-94 Assistent Wilhelm Wundts am dortigen Institut für experimentelle Psychologie. 1894 übernahm er den

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faßt hatte: Kritische Erörterungen über Rickert. Darin bereits setzt er sich mit erkenntnistheoretischen Problemen auseinander. Früh sucht er einen anderen Zugang zum Verhältnis von Denken und Sein – als Neukantianismus und Hartmannscher Voluntarismus ihm boten – zu finden. Dennoch bemüht er sich, diese beiden Strömungen eher zu vermitteln als sie zu verwerfen, denn „die Kategorien sind das logische Fachwerk, in das die ihrer Daßheit nach unbegreiflichen Dinge eingebaut sind“20. Ausgangs- wie Zielpunkt ist und bleibt für ihn der Mensch als Subjekt. Dessen Unhintergehbarkeit ist ihm evident und bildet den nucleus seiner Metaphysik. Gerade in der subjektiven Unselbstgenügsamkeit sieht er den Antrieb der Geschichte. Der kausale Zusammenhang scheint ihm nicht ausreichend zu einem umfassenden Verstehen der Wirklichkeit; er fordert in seiner Doktorarbeit deshalb die „qualitative Mitwissenschaft“ zur „inneren Erschließung der Dinge“. Denn wenn „es Schopenhauer und Schelling unternommen hatten, statt des Skizzierens der äußeren Fassaden einen unterirdischen Gang in uns selbst zu suchen, der wie durch Verrat auf das innerste Wesen der Welt hinführen sollte, so war diese Umdeutung der Dinge noch in einem mehr ästhetischen Reiz und in Bildern von einer außerordentlichen logischen Kühnheit ausgeführt worden. Es konnte hier scheinen, als ob ein geheimnisvoller Zug durch die Welt seine Odyssee unternehme, um vielfach getäuscht in den Fahrten unserer eigenen Seele erkannt zu werden.“21

Die ,Entdeckungen‘ der genannten ,Vorgänger‘ werden lobend erwähnt, doch stört er sich am Nicht-Konkreten, am Unwillen, das Decouvrierte ,umzusetzen‘, es zur Neugestaltung des defizitären historischen Miteinanders zu verwenden. Blochs BeWürzburger Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik und gründete 1896 ein Institut für experimentelle Psychologie, das mit Untersuchungen zur Denkpsychologie internationale Anerkennung fand (,Würzburger Schule‫)ދ‬. 1909 wurde er Prof. an der Univ. Bonn, 1914 in München; an beiden Universitäten gründete er Institute nach dem Würzburger Vorbild. K[ülpe], der sich seit 1898 von positivistischen, an Ernst Mach orientierten Auffassungen abwandte und sich zum kritischen Realisten wandelte, untersuchte die aktuelle Intentionalität durch die unmittelbare Deskription von Denkprozessen und Denkerleben. Er veröffentlichte u. a. Grundriß der Psychologie, auf experimenteller Grundlage dargestellt (1893), Einleitung in die Philosophie (1895, 121928), Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland (1902, 61914), Immanuel Kant (1907, 31912) und Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften (Bd. 1, 1912; Bd. 2-3, aus dem Nachlaß hrsg. von August Messer, 1920-23)“ (DBE 6, p. 127 sq). 20 E. Bloch: [Dissertation], GA EB, p. 105. 21 E. Bloch: [Dissertation], GA EB, p. 103.

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ziehung zu Schopenhauer bleibt ambivalent und wird im Laufe des Werkes – im Gegensatz zu Schelling – nicht mehr sonderlich vertieft; in den Leipziger Vorlesungen wird jener nochmals abgehandelt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß auch Schopenhauers Denken bei Bloch einen bleibenden Eindruck hinterließ. Es ist „die Bestimmung der Materie als Sichtbarkeit und Material des Willens, die es Bloch angetan hat. Durch sie rückt die Materie bisweilen mit dem Ding an sich zusammen, wird mit ihm identisch. Schopenhauers Philosophie erscheint so als unmittelbare Vorläuferin der Blochschen, in der Materie und Ding an sich in der Tat Synonyme sind. Es ist gleichwohl zu beachten, daß jenes Zusammenrücken bei Schopenhauer mit dem idealistischen Grundzug seiner Philosophie nicht vereinbart werden kann. Somit dürfte er für Bloch wohl kaum ein Wegweiser zum Materialismus gewesen sein, wohl aber ein bemerkenswerter Zeuge für die Stärke eines Materiebegriffs, der sich von mechanistischen Verengungen freihält.“22

2.2.1 Die frühen Publikationen Geist der Utopie, 1915/16 geschrieben, 1918 zum ersten, 1923 zum zweiten – überarbeitet und erweitert jedoch –, 1964 – mit Ausstreichungen und Korrekturen versehen – zum letzten Male erschienen23, ist für uns insofern interessant, als es nicht nur im gleichen Zeitraum wie Geschichte und Klassenbewußtsein entstanden ist, 22 H.-E. Schiller: „Hoffnungsphilosophie und Willensmetaphysik“, p. 72. 23 Eine ebenso nützliche wie gründliche Synopse dieser drei Ausgaben hat Ivan Boldyrev geleistet. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, „daß die Überarbeitung des Textes fast ohne Folgen blieb für die frühe ,mystische‫ ދ‬Gesinnung des Buches. Man darf gar nicht behaupten, Bloch wollte sich von seinen früheren Ansichten lossagen und marxistisch seinen Text überarbeiten. Religiosität, Bezüge auf Kabbala und Alchemie sowie ein prophetischmystischer Ton bleiben in der 2. Fassung und in der 3. Fassung unberührt. Obwohl einige Korrekturen wohl von einer neuen, hegelianischen Richtung zeugen, hat Bloch z. B. auf seine frühe Verehrung Kants ebenfalls nicht verzichtet. Bloch korrigierte Geist der Utopie, indem er die Anfänge stilistisch überarbeitete und die Teile der ersten Fassung mit den neuen Textteilen montierte. […] Man kann also gar nicht sagen, daß die drei Fassungen entscheidend voneinander abweichen. Bloch wollte keinen neuen Text schreiben, ihm war die Wirkung wichtig, deshalb bestand seine Überarbeitung meistens aus stilistischer Korrektur und Ergänzungen der Bezüge oder Kontexte. Man kann natürlich sagen, daß die Akzente in manchen Texten sich verschoben haben, allerdings nicht so weit, daß der Text wirklich zu einem anderen geworden wäre“ (I. Boldyrev: „Geist der Utopie, der sich erst bildet“, p. 54).

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nämlich während und aus der Erfahrung des Weltkrieges, sondern sich auch mit dem gleichen Inhalt auseinandersetzte, dies allerdings – wir sagten es bereits – methodisch gänzlich verschieden: „ein versuchtes erstes Hauptwerk“, wie Bloch selbst es 1963 in der Nachbemerkung zur zweiten Fassung (GA 3, p. [347]) beschreibt, „expressiv, barock, fromm, mit zentralem Gegenstand. Musik im Schacht der Seele webend, wie Hegel sagt, doch geladen, ein ,Sprengpulver‘ in der Subjekt-ObjektBeziehung“. Das „Jugendwerk“ enthalte „revolutionäre Romantik“ ebenso wie „revolutionäre Gnosis“ – auch in dieser Charakterisierung steht es den ungarischen Verdinglichungsthesen sehr nahe. Der Verfasser widmet sich genau jenen ,Tatsachen‘, von denen Lukács behauptet, daß es ,um so schlimmer‘ für diese sei, wenn sie nicht jene ,Zeichen der Zeit‘ offenbarten, welche den revolutionären Umbruch markieren (cf. GK, p. 69). Während Lukács auf deren eingehendere Deutung verzichtet, um sich statt dessen ganz auf die exakte Interzession des dialektisch agierenden Weltgeistes zu verlassen, sucht Bloch mittels filigraner Hermeneutik den aktuellen Materie-Bewegungen ihre ,Umschlagsmomente‘ „als Realtendenz abzulauschen“24. In der Sphäre menschlichen Schaffens hält er allgemein jene der Ästhetik für besonders geeignet, als Seismograph geschichtlicher Würfe und Veränderungen gute Dienste zu leisten. Er kontinuiert dort, wo Lukács unterbricht: bei der Kunst. Der Autor von Geschichte und Klassenbewußtsein erachtete diese für insuffizient, proletarische Subjekt-Objekt-Identität herstellen zu können. Bloch weiß, daß das Kunstwerk nur der ,halbe Ausdruck‘ dessen ist, was sein Erzeuger mitzuteilen und wohin er als Zeitgenosse zu gelangen beabsichtigt, welche wahren Wünsche und Träume in seinem Tun verborgen sind. Im Auskundschaften der musikalischen Entwicklungen meint er diesbezüglich fündig zu werden. Daher ,lohnt‫ ދ‬sich für ihn die Beschäftigung mit der Kunst. Er traut ihr deutlich mehr zu als Lukács. Und so unternimmt er in Geist der Utopie den ersten größeren Versuch einer Philosophie der Musik (welcher dann im Prinzip Hoffnung seine ausführliche Fortsetzung finden wird). Nietzsches Geburt der Tragödie verwandt, verschafft der ,Wille‘ sich auf musikalischem Wege Ausdruck wie Gehör und verbindet das Subjekt wieder mit dem „Ur-Einen“. Die Geschichte der Musik ist Bloch ein zum ,Wesentlichen-Gelangen‘, eine „zunehmende Subjektivierung“ und „Adäquation des Suchens [...] des Geistes der Neuzeit an sich selbst, zu sich selbst“ (GA 3, p. 62).25 Das imprévu je24 B. Schmidt: Ernst Bloch, p. 38. 25 „Nirgends manifestiert sich für Bloch dieser utopische Geniewille in der Sphäre der Ästhetik stärker als im Bereich der Musik, jenem tiefsten, vielleicht am wenigsten rein rational ergründbaren ,Spiegel der Selbstbegegnung‫ދ‬, jenem Medium, das Bloch zufolge das im Weltprozeß gärende, aber noch nicht genügend herausgebrachte Utopische auf ästhetischer Ebene am reinsten, am unmittelbartsen und am unverfälschtesten zum Aus-

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nes Willenhaften als Weltgeschehen und Musikgeschichte bringe jenen ,Gedanken‘ hervor, der „immer wieder das trouver über das construer siegen läßt“. Das Novum wird gefunden, nicht konstruiert; unkonstruierbar findet es sich. ,Metaphysik‘ und Hegel – ganz wie bei Lukács, allerdings unter Beimischung Nietzsches – offenbaren sich hier als Blochs philosophische Quelle. Er (re)konstruiert eine Geschichtsphilosophie der Musik, eine Genealogie der Ästhetik. Der Anbruch einer ,neuen Zeit‘ kündigt je im ,neuen Ton‘ sich an und wenn „der neue Ton also an sich schon der bessere ist, so ist er es gewiß nicht wegen seines glatten Gesichts oder wegen seiner nur die Abwechslungsbedürftigen reizenden Überraschung, sondern weil die Zeit, die sich entwickelnde Neuzeit, Adventszeit als Begriff gefaßt, den Musiker braucht und liebt“ (GA 3, p. 63). Für unseren Autor ist der Künstler Subjekt – und er ist es nicht. Es verhält sich hier genau wie bei Nietzsche, daß nämlich der ästhetisch Ausführende „von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden [ist], durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert“26. In Geist der Utopie sowie im übrigen Werk läßt sich ebenfalls eine doppelte Subjektstruktur nachweisen. Es gibt bei Bloch sowohl ein an der Oberfläche der Geschichte agierendes Ich als auch eine zweite „im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der [...] Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht“27. Die künstlerische Subjektivität ist eine künstliche, welche als ,Traum-‘ oder ,Schein-Ich’ eines ,tieferen‘ und ,wesenhafteren‘ Ichs fungiert, solange sie nicht durch eine Art ,intellektuelle Anschauung‘ mit jenem ,Urdruck bringt. In der Tat nimmt die Musik in keinem anderen Werk eines Philosophen des 20. Jahrhunderts (mit Ausnahme von Adorno) einen so großen und im Werkzusammenhang bedeutsamen Platz ein wie bei Bloch. So sind nicht nur 150 Seiten des Geists der Utopie der Theorie und der Geschichte der Musik gewidmet, sondern auch im Hauptwerk, im Prinzip Hoffnung, wird die Musik an zwei Stellen Gegenstand einer ausführlichen analytischen Darstellung, und zwar: a) im 40. Abschnitt des IV. Teils (,Grundrisse einer besseren Welt‫)ދ‬, der sich u. a. auch mit der Oper und dem Oratorium beschäftigt, und b) im 51. Abschnitt des V. Hauptteils (,Wunschbilder des erfüllten Augenblicks‫)ދ‬, der die Funktion der Musik innerhalb von Blochs ,Ästhetik des Vorscheins‫ ދ‬unter dem Motto ,Überschreitung und intensitätsreichste Menschwelt in der Musik‫( ދ‬P. H., Bd. III, S. 1243-1296) abhandelt. Darüber hinaus wird das Thema ,Musik‫ ދ‬auch in den zum Spätwerk gehörenden Literarischen Aufsätzen (dort v. a. im Zusammenhang einer näheren Auseinandersetzung mit Wagner) wieder aufgenommen. (Cf. GA, Bd. 9, S. 294-332)“ (A. Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, p. 147 sq.). 26 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 47. 27 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 45.

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Ich‘ der Welt identisch wird. Denn nur soweit „der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; [...] Jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.“28 Für Bloch allerdings stehen die SubjektMaterie als allgemeine Materie und der Subjekt-Mensch als individuelle Materie gleichwertig und gleichursprünglich nebeneinander; das Einzel-Ich wird dem ,UrIch‘ nicht subordiniert, löst nicht im ,Traum-‘ oder ,Rauschhaften‘ sich auf. Natur und Individuum bedingen einander und werden im Akt des Bewußtseins vermittelt. Das Volkslied gilt Nietzsche – wie Bloch – als „musikalischer Weltspiegel“ und darüber hinaus als „Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen“29. Der bleibende Unterschied zur Blochschen Philosophie ist in Nietzsches ausdrücklichem Hinweis enthalten, daß die „ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird“, sondern daß „nur als aesthetisches Phänomen“ das Dasein und die Welt „gerechtfertigt“ seien.30 Die Lehre der ,ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ wirft hier ihre Schatten voraus. Für Bloch kann Ästhetik nicht um ihrer selbst willen aufgefaßt werden, sondern allein als Wegmarke eines sich entwickelnden Weltprozesses, welcher aristotelisch auf ein summum bonum zielt. Sie kann ihm nicht Bild eines Kreises oder Kreisens sein, sondern nur Symbol für ein telisches Vorwärts, welches tendenzhaft auf ,konkrete Utopie‘ verweist.31 Statt von Totalität spricht Bloch von einem Syllogismus, welcher die ästhetischen Erscheinungen mit den Ausführenden auf kryptische Weise historisch in Beziehung setzt. Sie sind Teile einer Entwicklungslinie, welche erst ,am Ende‘ ihren verborgenen Sinn freilegt. Bloch unterscheidet drei Stufen, in denen der musikali28 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 47 sq. 29 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 48. 30 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 47. 31 „In Blochs ästhetischem Denken markiert die Offenbarungsfunktion der Kunst einen prominenten Ort, sie ist das leitende Motiv von Blochs Ablehnung der Neuen Sachlichkeit, von Realismus und Dadaismus. In diesem Aspekt trifft sich seine Kunstauffassung nicht nur mit dem Expressionismus, sondern auch mit der zeitgenössischen Avantgarde, dem Surrealismus. Das, was offenbart werden soll, so schreibt es Bloch in den Expressionismus-Aufsätzen immer wieder, sind die Geheimnisse der Humanität, das verborgene Wesen des Menschen. […] Gerade innerhalb der marxistischen Ästhetik, z. B. bei Adorno oder beim jungen Lukács, gibt es die Vorstellung, daß es so etwas wie das Authentische, das unverdinglicht Menschliche gebe und daß die Kunst dazu berufen sei, dieses auszudrücken bzw. aufzubewahren“ (C. Ujma: Ernst Blochs Konstruktion der Moderne, p. 230).

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sche ,Weltgeist‘ sich selbst erfaßt: die erste ist das einfache „vor sich Hinsingen“, wozu er auch die Kammermusik rechnet, eine Art ,vorbewußter‘ Zustand, in welchem der Sänger sich befindet; die zweite – etwas anspruchsvoller – stellt das „geschlossene Lied, Mozart oder die Spieloper“ dar, aber auch die Passionen von Bach und „zuoberst die Fuge“, die aufgrund des unendlichen Charakters ihrer Melodie „in die Ereignisform übergeht“. Darauf kommt es dem Autor an: das Ereignis des Umschlagens und seine Ankündigung durch die Musik. Geschichtlich Umwälzendes wirft seine Schatten ästhetisch voraus. Das Subjekt vermag diese ,Trächtigkeit des Ganzen‘ in sich selbst zu verspüren. Die zweite Stufe hat im Gegensatz zur ersten ihren Gegenstand in einer „tiefer gelegenen Region des Ich“. Sie bildet das Vorspiel, indem sie „in den Aufruhr der schweren, chaotischen, dynamisch symbolischen Symphonie hineinleuchten soll“. Die dritte und letzte Stufe schließlich ist die „Ereignisform“ selbst, das „offene Lied, die Handlungsoper, Wagner“ sowie „Beethoven-Bruckner oder die Symphonie“. Diesem dreifachen ,syllogistischen‘ Aufbau entsprechen in anderen Künsten „das Stilleben, das Porträt und die große Landschaft“ oder: „die Novelle, die Lyrik und darüber die große Epik und Dramatik“ (GA 3, p. 65 sq.). Die stufenförmige Entwicklung spiegelt sich – wie bei Hegel – in den verschiedenen Kunstepochen (= „Teppiche“) der Geschichte wieder: Antike, Mittelalter und Neuzeit. Sie repräsentiert sich im Individuum als Genie (Mozart) ebenso wie in der historischen Totalität oder im ,Kollektiv-Geschmack‘. „[V]om behaglich schönen Spiel, als Stufe des Gemüts, zur vollen, in sich wandelnden Individualität, als Stufe der Wärme und der Seele, bis zur leuchtenden Härte des Systems als die Stufe der Macht, der Tiefe und des Geistes“ (GA 3, p. 66). Die innere Beziehung zwischen dem einzelnen Subjekt als ,erzeugendem‘ Künstler und seinem zeitgenössischen ,Kollektivsubjekt‘ soll idealerweise mit steigender Stufenfolge sich annähern und schließlich vereinheitlichen: die Symphonie als Ausdruck eines neuen ,Wirsubjekts‘. Jedoch: nicht allein Töne, die zu hören sind, auch die Stille – so das ,Schweigen‘ der Arbeiter in ,Perioden der Trägheit‘ und ,Bewußtlosigkeit‘, wie schon Marx sie bekannt waren – sind Bloch ein ernsthafter und zu analysierender Ausdruck der ,tendenzhaft‘ sich entwickelnden Materie. Die – nicht wie bei Lukács, ausschließlich proletarische – „Wirbegegnung“ ist einer der Grundbegriffe, nicht nur in Geist der Utopie, sondern in Blochs gesamter Philosophie. „Wirbegegnung“ als Selbstbewegung bedeutet ,apokalyptisch‘ die „letzthinnige[] Enthüllung des Wirproblems“. Das ,Wahre‘ des Wir, welches er sucht, dürfe man „weder als einfach induktive Tatsachenlogik noch auch als griechisch definitive Umfangslogik eines Allgemeinsten und darum Realsten bestehen lassen“ (GA 3, p. 190), sondern es gäbe „noch eine andere Wahrheit als diejenige dessen, was gerade existiert“, betont der Verfasser,

112 | O BJEKT -S UBJEKT „eine, die nur auf uns geht, auf den Umkreis der von uns gefärbt erlebten, beschleunigend aufgefaßten und religiös vollendeten Welt, auf eine durchaus ,subjektive‘ und doch höchst substantielle Welt – jenseits des bloß empirisch-komparativen Status des gegenwärtigen Zustands und seiner einfach erreichten Seinslogik –, gerichtet nicht auf Dingklärung und nicht auf Menschenklärung, sondern auf eine erste Adäquation der Sehnsucht an sich selbst, auf das Innere und unbekannte sich Vernehmen hinter der Welt“ (GA 3, p. 190 sq.).

Immer wieder – auch und gerade im Anschluß an die Explikation seiner Theorie der Musik – rechtfertigt und prüft Bloch seine nicht neue, jedoch nach wie vor ungewöhnliche Methode, geschichtlich ,Unbegreifliches‘ ,begreiflich‘ zu machen. Kunst allgemein ist ihm ein Bild für jenes Ding an sich, an dem auch Lukács sich versuchte, das ihm jedoch nicht ausreichend schien, um gesellschaftliche Totalität abbilden und in Praxis verwandeln zu können. Für Bloch hingegen ist die Kunst hinreichend als Gegenstand der Erkenntnis des Ganzen: in omnibus partibus relucet totum – kommt es doch allein auf die richtige Auslegung der Phänomene an. Im ,Ding an sich‘ glaubt er zu finden, „was in der nächsten Ferne, im actualiter Blauen der Objekte treibt und träumt; es ist dieses, was noch nicht ist, das Verlorene, Geahnte, unsere im Dunkel, in der Latenz jedes gelebten Augenblicks verborgene Selbstbegegnung, Wirbegegnung, unsere durch Güte, Musik, Metaphysik sich zurufende, jedoch irdisch nicht realisierbare Utopie“ (GA 3, p. 201). Nicht ein abstraktes geschichtliches Telos hat Bloch im Sinn, wenn bei ihm von Selbstbegegnung (weniger häufig spricht er übrigens von Selbstbewußtsein – womöglich in dezidierter Abgrenzung zu Lukács) die Rede ist, sondern stets das konkrete Ich- und Wir-Subjekt: das Individuum, das arbeitet, träumt, hofft und im Wir erst ganz sich selbst erfaßt. Erschien also das ,Ding an sich‘ zunächst und allgemein als eines, welches noch nicht ist, das im ,gelebten Augenblicksdunkel‘ „hinter allem Gedanken als Gehalt des tiefsten Hoffens und Staunens treibt und träumt, so definiert sich nun – gemäß der letzten Einheit von Intensität und Licht als deren Selbstenthüllung – das Ding an sich genauer als Wille zu unserem Gesicht und schließlich als das Gesicht unseres Willens“ (GA 3, p. 345). Am Objekt veräußert und materialisiert sich der Wille des Subjekts sowie der Wille als Subjekt. „Intensität und Licht“ erinnern unmittelbar an Schellings Analogie von ,Schwere und Licht‘, wie sie vor allem im Würzburger System beschrieben wird. Nicht nur korrespondieren „Intensität und Licht“ miteinander, sondern stellen als Korrespondenz ihre Identität dar. Die Idee vom Willen als ,Ding an sich‘ rührt von Schopenhauer her. Der entscheidende Unterschied zu jenem besteht jedoch darin, daß der Wille bei Bloch kein ,blind wütender‘, zielloser ist, sondern logisch vermittelt und telisch auf die permanente Meliorisierung der Verhältnisse durch die ,steigende Subjektwerdung‘ des Subjekts selbst – als Ich und Wir – hin angelegt ist.

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Da Bloch der Schlüsselbegriff der Verdinglichung beim Abfassen von Geist der Utopie wenig vertraut war, machte er von dessen ,Schwester‘, der Entfremdung, häufigeren Gebrauch. Aufgrund dieses ,terminologischen Nachteils‘ bleibt er bisweilen ungenau: „Keines unserer Gebilde darf mehr selbständig werden, der Mensch darf sich nicht weiter von den Mitteln und falschen Versachlichungen seiner selbst aufsaugen lassen“ (GA 3, p. 345). Wie aufgeführt, findet auch die Versachlichung häufige Verwendung; dennoch sperrt der Autor sich ihrer Definition; Ursprung und Wesen des Begriffs scheinen nicht deduzibel. Wo er Lukács vorhält, zu rasch und unüberlegt die Praxis zu fordern, bleibt er selbst allzu ungefähr in Theorie und Spekulation: „Wie die Maschine und der Staat unten zu halten sind, im Zustand bloßer Entlastung, so dürfen auch die geistigen Werke lediglich noch als Aufsparmittel oder logische Inventionsmittel von Seele unter dem Druck möglicher Zurückverwandelbarkeit oder Hinüberverwandelbarkeit in diese errichtet werden. Alles menschlich Entfremdete ist wertlos“ (GA 3, p. 345). Zentrales Thema ist hier nicht die Ver- und Ent-dinglichung; erst im Materialismusproblem findet sich diesbezüglich geeigneter Stoff. Nirgendwo gibt es bei Bloch einen konkret-revolutionären Imperativ, einen Aufruf zur Insurgenz – wie in Geschichte und Klassenbewußtsein. Sein ganzes theoretisches Ringen wendet er dahin auf, ,tiefere‘ Schichten und allgemeinere geschichtliche Bewegungen zu erforschen. Weiter ist auffällig, daß der Begriff des Bewußtseins im Frühwerk eine untergeordnete Rolle spielt und selten in Erscheinung tritt. Auch dies ändert sich erst im Materialismus-Buch. Begrifflich bleibt Bloch deshalb in Geist der Utopie hinter Lukács zurück; dies betrifft allerdings nur den Vergleich mit der kritischen Analyse der gesellschaftlichen Situation von 1918 bis 1923, welche den ersten Teil des Verdinglichungsaufsatzes bildet und auf den die ,kritische Theorie‘ der ,Frankfurter Schule‘ sich später berief – insofern behält Habermas mit seiner eingangs zitierten Kritik recht. Wie für Lukács, so ist auch für Bloch das Verdinglichungsproblem zunächst ein erkenntnistheoretisches, der Zweifel am ,bürgerlichen Rationalismus‘: „,Wisse‘, sagt dieses Sinns ein altes Manuskript der Sohar, ,wisse, daß es einen doppelten Blick für alle Welten gibt. Der eine zeigt ihr Äußeres, nämlich die allgemeinen Gesetze der Welten nach ihrer äußeren Form. Der andere zeigt das innere Wesen der Welten, nämlich den Inbegriff der Menschenseelen [...]‘“ (GA 3, p. 345). Um dieses „innere Wesen“ zu erfassen, müsse der Marxismus eine „Funktionsbeziehung“ mit der Religion eingehen: „die Seele, der Messias, die Apokalypse, als welche den Akt des Erwachens in Totalität darstellt, geben die letzten Tat- und Erkenntnisimpulse, bilden das Apriori aller Politik und Kultur“ (GA 3, p. 346). Was von Bloch hier zu sehen ist, nennt Hans-Martin Lohmann die „spiritualistische“ Seite seiner Philosophie. Diese erklärt mehrere Auffälligkeiten auf einmal: die Verwandtschaft zu Schelling, die Besonderheit seiner Prosa sowie seine Gegnerschaft innerhalb des Marxismus – in Ost und West.

114 | O BJEKT -S UBJEKT „Auch in Blochs ,marxistischer‫ ދ‬Periode, die von etwa 1930 bis zu seinem Tod reicht, dominiert jener expressionistisch-pathetische Denk- und Sprachgestus, wie er für einen einflußreichen Teil der europäischen Intelligenz, zumal der russischen, vor 1914 typisch war und der, obschon in modifizierter und politisch zugespitzter Form, auch das Denken und Handeln der bolschewistischen Intelligenz prägen sollte. Die tiefe und auch nach späten Versöhnungsversuchen nie wirklich überbrückte Kluft zwischen den geistigen Protagonisten der Frankfurter Schule, allen voran Adorno, und dem Leipziger und Tübinger Philosophieprofessor Bloch rührt ja eben daher, daß erstere, in vorsichtiger Distanzierung sogar von Benjamin, dessen theologische Exegese des Historischen Materialismus ihnen ein gewisses Unbehagen bereitete, sich cum grano salis für eine aufgeklärt-profane Lesart der marxistischen Tradition entschieden, während Bloch für ein Denken stand, welches im Historischen Materialismus nicht primär die Erbschaft der Französischen Revolution erkannte, vielmehr das Versprechen der Metaphysik eines neuen Menschen [...].“32

2.2.2 „Konkrete Utopie“ Theologisch, zumindest religiös, mutet auch die im Titel verwendete Begrifflichkeit von Geist der Utopie an. Sein Verfasser spricht nicht vom Weltgeist, sondern vom Geist der Utopie. Utopie, nicht Revolution. Geist der Utopie ist das frühere Analogon zum Prinzip Hoffnung, der Spiritus sein beseelender Antrieb.33 Doch was meint Utopie und vor allem ,konkrete Utopie‘? Dies erschließt zunächst sich aus dem, was es nicht bedeutet, nämlich: die Zukunft detailliert ,auszupinseln‘, sich ,ein Meer aus Limonade‘ herbeizusehen – was eher Jules Verne entspräche – oder, wie im Märchen, die gute Fee erwartend, ,drei Wünsche frei zu haben‘. Konkret heißt vielmehr: den Menschen als Ganzen, in der Gesamtheit seiner „schlecht vorhandenen“ Wirklichkeit zu ergründen, ihn so zu erfassen, wie er wirklich ist; von da aus ist er dann zu sich selbst zu befreien, kann ein künftiges Zu-sich-Freiwerden geschehen, beund gelehrte Hoffnung, spes docta, sich erfüllen. 32 H.-M. Lohmann: „Bloch, Nietzsche und die ,russische Seele‫“ދ‬, p. 179 sq. 33 „,Geist der Utopie‫ދ‬, heute bekannt als furioser Auftakt der Blochschen Philosophie und bedeutendstes Werk des philosophischen Expressionismus, war keineswegs geplant. Die Briefe Blochs an seinen Freund Georg Lukács geben Auskunft über ein ganz anderes Vorhaben. Bloch plante eine mehrbändige ,Summe der axiomatischen Philosophie‫ ދ‬mit dem Titel: ,Der Name Gottes‫ދ‬. ,Geist der Utopie‫ ދ‬entstand eher als Ablenkung von dem als drückend empfundenen grandiosen System des Messianismus“ (H. Gekle: Die Tränen des Apoll, p. 17). Francesca Vidal macht darauf aufmerksam, daß bereits der Titel Geist der Utopie „demonstrativ“ sei, „denn Geist war ein programmatischer Begriff des Expressionismus“ (F. Vidal: „Bloch“, p. [135]).

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„So geht das zu sich Freiwerden [...] nicht dahin, leichter einzuschlafen oder die genußhafte Bequemlichkeit der jeweiligen oberen Klassen allgemein zu machen; es wird nicht erstrebt, bestenfalls noch Dickens oder die Kaminwärme des viktorianischen Englands zu erwerben, sondern das ist das Ziel, das eminent praktische Ziel, das Grundmotiv sozialistischer Ideologie: jedem Menschen außer der Arbeit Zeit, seine eigene Not, Langeweile, Armseligkeit, Bedürftigkeit und Finsternis, sein verschüttetes, rufendes Licht, ein Leben im Dostojewskischen Sinne zu schenken, damit er vorab mit sich, mit seiner moralischen Parteiangehörigkeit im reinen sei, wenn die Mauern des Körpers, des Weltkörpers fallen, der uns vor den Dämonen schützte, wenn also die Befestigungen des irdisch eingerichteten Reichs abgebrochen werden“ (GA 3, p. 333).

Es geht dem Autor nicht allein um die ökonomische Totalität, sondern auch und in erster Linie um das Subjekt-Objekt-Werden als psychisches Erleben des Einzelnen. Nicht versucht er, Illusionen zu erzeugen, etwas ,auszumalen‘, was nicht zu realisieren ist. Dennoch spricht er – was den Utopie-Begriff belangt – konkret, bar jeder Abstraktion, freilich voll eschatologischen Gehaltes. Aber auch diesen finden beim alten Bloch wir wieder, vorwiegend in Atheismus und Christentum. Nicht zuletzt deshalb hatte er besonders in seiner Tübinger Phase großen Einfluß sowohl auf die protestantische wie auch auf die katholische Theologie. Dadurch angestoßen, verfaßten Jürgen Moltmann die Theologie der Hoffnung, Alfred Jäger das Reich ohne Gott und Max Seckler seine Hoffnungsversuche – um nur die wichtigsten Vertreter zu nennen.34 „Wie Nietzsches Zarathustra war Bloch seit seinen philosophischen Anfängen ein Prophet, und der Wunsch nach dem neuen, dem endlich erlösten Menschen war von Beginn an der Vater des Gedankens, daß ein wirkendes Prinzip Hoffnung in der Welt sei, dessen geheime Entelechien es überall aufzuspüren gelte.“35 ,Fertige‘ Identitätsphilosophien wie der transzendentale Idealismus Schellings, der die Ur-Identität an den Anfang setzt, widersprechen dem Marxismus in dessen telischer Bestimmung, Identität erst herstellen zu wollen. Bloch bemüht sich um einen Weg, mittels einer ,originalen Identität‘ oder ,Ur-Einheit‘, die aktuelle, ,falsche‘ als solche zu kompromittieren und aufzuheben. „Die Welt ist nicht wahr, aber sie will durch den Menschen und die Wahrheit zur Heimkehr gelangen“ (GA 3, p. 347). Wenn Marx von Entfremdung spricht, muß er bereits eine Matrix besitzen, von der aus er überhaupt beurteilen kann, was entfremdet bedeutet und was 34 V. ad vocem etiam E. Kruttschnitt: Ernst Bloch und das Christentum. Der geschichtliche Prozeß und der philosophische Begriff der „Religion des Exodus und des Reiches“; M. Seckler: „Reich Gottes als Thema des Denkens. Ein philosophisches und ein theologisches Modell (E. Bloch und J. S. Drey)“. 35 H.-M. Lohmann: „Bloch, Nietzsche und die ,russische Seele‫“ދ‬, p. 183.

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nicht. Er geht von einem fiktiven, positiven Urzustand aus; das ist der moralisierende wie idealisierende Gehalt jedes Marxismus.36 Bloch ahnt, daß es diesen Zustand, welchen er Heimat nennt, nie wirklich gab. Er weiß jedoch, daß alle Verschmelzungswünsche des Menschen nach vorwärts und rückwärts gleichermaßen gerichtet sind. Dahinter mag dessen dunkle Ahnung stehen, daß die Kindheit ihm etwas schuldig geblieben ist. So treibt es ihn an den Ort des unabgegoltenen Geschehens. Die Richtung gibt der Uterus vor. Seine Anziehung ist die Sehnsucht des getrennten Subjekts. Nirgends steht Bloch der Psychoanalyse so nahe, wie im finale furioso des Prinzips Hoffnung: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (GA 5,2, p. 1628).

Diese ist dem Verfasser die „Heimat der Identität“. Jürgen Moltmann wendet ein, daß, so theologisch dieser Heimatbegriff auch klingen mag, er sich dennoch und insofern von einer christlichen Eschatologie unterscheide, als erst „wo der Tod ,verschlungen ist in den Sieg‘, […] die letzte und eigentliche Nichtidentität des Menschen überwunden“37 sei. Er gibt zu bedenken – und darin bestünde der ,Vorteil‘ ei36 Die Ursache dieser Haltung findet für Joachim Israel sich bei Marx selbst. Dieser habe einen Arbeitsbegriff entworfen, welcher vom Hegelschen sich herleite. Marxens Sicht auf die Arbeit habe dadurch eine Idealisierung wie Romantisierung erfahren. Er sei sowohl von einem „idealen Menschen“ als auch von einer „idealen Arbeit“ ausgegangen. „Diese beiden Begriffe bilden die Grundlage seiner Entfremdungstheorie: Er bringt faktische Arbeit, die durch historische Bedingungen determiniert ist, mit seiner Vorstellung von idealer Arbeit in Beziehung und stellt eine Diskrepanz fest: also ist Arbeit entfremdete Arbeit – entfremdet von dem Ideal der Arbeit“ (J. Israel: Der Begriff Entfremdung, p. 317). Außerdem enthalte das Marxsche Arbeitsideal Vorstellungen von individueller Selbstverwirklichung, welche ebenfalls durch die in der vorindustriellen und vorkapitalistischen Gesellschaft existierenden Bedingungen beeinflußt worden seien. „Sie stellen einen Teil der romantischen Kritik an der industrialisierten Gesellschaft dar. Unter anderem enthielt diese Kritik schwärmerische, wahrscheinlich wenig realistische Anschauungen hinsichtlich der Arbeitssituation des Handwerkers, die auf die Idealvorstellungen von MARX einen starken Einfluß ausübten“ (J. Israel: Der Begriff Entfremdung, p. 318). 37 J. Moltmann: Theologie der Hoffnung, p. 324.

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ner theologischen Identitätslehre –, daß auch bei Eintreten und Erfüllung der gesellschaftlichen Utopie die letzten Sinnfragen des Menschen immer noch ungelöst seien und Gültigkeit besäßen. In einer solch „geschichtslosen und in ihrer Situationslosigkeit der Langeweile preisgegebenen Gesellschaft“ habe die christliche Eschatologie „die Frage und die Zukunft offen zu halten“, „damit man dort nicht ,in den Tag hinein‘, sondern ,über den Tag hinaus‘ lebe“38. Der Mensch scheitert demnach an seiner psychischen Konstitution, unabhängig vom Grad seiner ,konkret-utopischen‘ Totalisierung. In diesem Zusammenhang entdeckt auch Moltmann Blochs Nähe zu Schelling. Der Identitätsbegriff, welchen Bloch verwende, sei erwiesenermaßen kein christlicher, dafür einer, dessen dialektischer Gehalt, weil durch die Umgehung der Todesthematik auf das Diesseits bezogen, nie ganz aufzuheben sei. Moltmann unterstellt Blochs Konstruktion eine Art ,Restdialektik‘, welche das Dasein zu einem irredentistischen macht. Eben darin entspräche er Schellings Identitätskonzept. „Blochs ,Heimat der Identität‘ nimmt, wie auch schon die Formeln von der ,Wesenheit‘ von Mensch und Natur bei Marx, die Denkform der ,dialektischen Identität‘ auf, wie sie bei Schelling und Goethe vorliegt. Während bei Feuerbach die undialektische Ansicht einer unmittelbaren Identität aller Gegensätze im Menschen naheliegt, findet sich bei Goethe, bei Schelling und Marx die Denkform einer in sich bewegten, dialektischen Identität. Es ist die dialektische Identität von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, von Trieb und Bedürfnis, von Äußerung und Aneignung, von Aktivität und Rezeptivität, von Einatmen und Ausatmen. Wenn Bloch von ,Heimat der Identität‘, von Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen spricht, so meint er offenbar eine solche Schellingsche Identität der gegenseitigen Durchdringung in der lebendigen Einheit von Nehmen und Geben.“39

Diese Vorstellung von Identität vermöge jedoch nicht vom absoluten Widerspruch, welcher der Tod sei, zu erlösen. Damit stünde der Blochsche Hoffnungsbegriff hinter dem christlichen zurück. – Dem muß entgegengehalten werden, daß Bloch gemeinsam mit Adorno in einer Rundfunksendung von 1964 die Ansicht vertritt, daß Utopie am Ende immer die Abschaffung des Todes bedeutet.40 Das heißt, daß Bloch 38 J. Moltmann: Theologie der Hoffnung, p. 324. 39 J. Moltmann: Theologie der Hoffnung, p. 325. 40 Wörtlich drückt Theodor W. Adorno in jenem Gespräch mit Bloch (unter der Moderation von Horst Krüger) es so aus: „Ich glaube allerdings, daß ohne die Vorstellung eines, ja, fessellosen, vom Tode befreiten Lebens der Gedanke an die Utopie, der Gedanke der Utopie überhaupt gar nicht gedacht werden kann. Andererseits liegt aber in dem, was du nun – ich würde sagen – mit großem Recht gesagt hast über den Tod, ein Hinweis. Es

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diesen Aspekt in seiner ,Ontologie des Noch-nicht-Seins‘ sehr wohl mitbedenkt, er ihn keinesfalls unterschlägt. Das Problem dabei ist bloß dieses: das ,simple‘ Argument der historischen Auferstehung Jesu fehlt ihm, bzw. er arbeitet freiwillig ohne es, wodurch seine Konzeption freilich schwieriger, aber zugleich anspruchsvoller wird. – Wie auch immer: Mit der Definition des ,letzten Inhalts‘ von Utopie als Abschaffung des Todes schließt sich der ,Kreis der Apokalypse‘. Religion und Marxismus reichen sich die Hand. Les extrêmes se touchent – authentische Dialektik. 2.2.3 Bloch und der Existentialismus Die zentralen Begriffe Sinn und Hoffnung bilden sowohl die Verbindung der Blochschen Philosophie zum Existentialismus als auch ihre schärfste Trennung. Die bekannte Inauguration der Tübinger Einleitung in die Philosophie, in welcher des Autors gesamtes Denken sich konzentriert, lautet: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“ (GA 13, p. 13). Weit früher als Heidegger, also noch vor 1927, brachte Bloch das Existenz- bzw. Sinnproblem zur Geltung.41 Wie nach ihm der späte Sartre42, sucht Bloch es im Marxismus zu implantierten und aufzulösen. Auch dies gehört zum Programm seiner ,Gegenaufklärung‘. „Noch vor Heidegger gewinnt er derart in einem Existential aus der alltäglichen Befindlichkeit des Menschen den Schlüssel zum Seins-Sinn.“43 Schmidt vermutet, daß der Einfluß Schopenhauers dies verantworte, denn Tendenz ist „das Zubereiten des Lösens von dem, was das Augenblick-Dunkel als Aufgabe gegen sich selber stellt. Lukács wollte im gibt in der ganzen Utopie etwas tief Widerspruchsvolles, nämlich daß sie auf der einen Seite ohne die Abschaffung des Todes gar nicht konzipiert werden kann, daß aber auf der anderen Seite diesem Gedanken selber – ich möchte sagen – die Schwere des Todes und alles, was damit zusammenhängt, innewohnt. Wo dies nicht drin ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es eigentlich auch keine Utopie. Und das – will mir scheinen – hat für die, ja, wenn ich das so grauslich ausdrücken darf, Erkenntnistheorie der Utopie eine sehr schwere Konsequenz, daß man nämlich die Utopie nicht positiv auspinseln darf. Jeder Versuch, die Utopie nun einfach zu beschreiben, auszumalen: so und so wird das sein, wäre ein Versuch, über diese Antinomie des Todes hinwegzugehen und so zu reden von der Abschaffung des Todes, als ob der Tod nicht wäre. Das ist vielleicht der tiefste Grund, der metaphysische Grund, dafür, daß man von Utopie eigentlich nur negativ reden kann, wie es die große Philosophie schon bei Hegel und dann, viel nachdrücklicher noch, bei Marx ja bestimmt hat“ („Etwas fehlt …“, p. 68). 41 Cf. E. Bloch: „Ernst Bloch“, p. 9. 42 Cf. M. Mayer: Ohnmächtige Ethik. 43 B. Schmidt: Ernst Bloch, p. 39.

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Kurs des Marxismus auf das Letzte keine Überlegung verschwendet wissen“44. Damit hat Schmidt den entscheidenden Punkt genannt, welcher Bloch von Lukács und den übrigen Marxisten separiert: seine Affinität zur Existenz-Philosophie. Es ist hervorzuheben, daß das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ zu keinem Zeitpunkt das instantane (reflexionsunabhängige) Selbstbewußtsein des Subjekts außer Kraft setzt – auch das hat er mit Sartre gemein. Was von Bloch dennoch und supplementär gesucht wird, ist die subjektive (reflexionsabhängige) Erfüllung, das heißt die vollendete Selbstbeschreibung in Theorie und Praxis. Seine Distanz gegenüber dem Existentialismus rührt daher, daß er ihn als Signet bürgerlicher Depression und Dekadenz empfand. Er hingegen suchte Sinnkrise wie ,Stillstand‘ mit dem treibenden Prinzip Hoffnung zu bekämpfen. Vielleicht störte ihn aber auch das Übergewicht, welches das Individuum durch Sartre erhält und so den allgemeinen Strömungen und Bewegungsrhythmen der Materie ,im Wege steht‘. Um die Erforschung der Zusammenhänge von Marxismus und Existentialismus bemühte in besonderer Weise sich Helmut Fahrenbach. Ihm fiel zuerst auf, daß Lukács schon früh (um 1910) mit Kierkegaard sich befaßt und anhand desselben eine „lebensphilosophische Uminterpretation der Existenzdialektik“ versucht hatte. Die Anregung, mit Kierkegaard sich zu beschäftigen, habe Bloch dann durch Lukács erhalten, während dieser durch jenen zu Hegel geführt worden sei; in dieser Angelegenheit sei einer des anderen Lehrmeister gewesen. Während jedoch für Blochs Denken „die Bedeutung Kierkegaards nicht nur stärker war [...], sondern wesentliche Motive [...] auch weiter wirksam geblieben sind, hat Lukács mit seiner Wendung zum Hegelianismus und Marxismus solche Motive zunehmend zum Verschwinden gebracht, bzw. sie als zum idealistischen Lager gehörend fast nur noch zum Gegenstand der Kritik gemacht“45. Daß die Existenzerfahrung wie der DaßAnstoß bei Bloch zum Ursprung und Ausgangspunkt seiner Philosophie wurden, macht die geistige Korrespondenz mit Sartre ohne weiteres möglich (zu welcher in der Realität es zwischen den beiden leider nie gekommen ist). „In diesem Sinn geht auch für Bloch (ähnlich wie für Schelling und Sartre) existenzphilosophisch die ,Existenz der Essenz voraus‘ und zwar so, daß damit zugleich (wie bei Sartre) von der Negativität (dem Mangel) der Ausgangssituation aus eine Richtungsbestimmung der Existenzbewegung sichtbar wird: zur Welt und ,nach vorn‫ ދ‬auf Zukunft, Möglichkeit, Überschreiten hin.“46 Differenzen ergäben sich dadurch, daß er bestimmte ,anthropologische Strukturen‘ deutlicher heraushebe. Er gewichte und bevorzuge den ,Vorrang der Zukunft‘ und der Möglichkeitsdimensionen strukturell 44 B. Schmidt: Ernst Bloch, p. 39. 45 H. Fahrenbach: „Marxismus und Existentialismus“, p. 327. 46 H. Fahrenbach: „Marxismus und Existentialismus“, p. 338.

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wie inhaltlich konsequent: „besonders im Hinblick auf die Bewußtseinstheorie (antizipierendes Bewußtsein als grundlegende Bewußtseinsform zeitlicher Existenz) und die utopische Funktion von Phantasie und Hoffnung als kognitiv-praktisches Vermögen des Entwurfs neuer Existenzmöglichkeiten […]“47. Diese müßten jedoch unter Einschluß der realen gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen mit ,konkreter Utopie‘ vermittelt werden. Richtig erkennt Fahrenbach, daß die existenzphilosophischen Inhalte in Blochs Philosophie eine notwendige „Verschränkung von Welt und Existenzrätsel“ darstellen und daß sie aus diesem Grunde auch den „humanen Sinnhorizont marxistischer Philosophie mit[zu]bestimmen“ haben; „wie andererseits die Existenzphilosophie, die die Verflechtung der Existenzproblematik und ihre Erhellung mit gesellschaftlichen und historischen Bedingungen und ihrer Veränderung nicht sieht, (und sie nur als Probleme des ,innerlichen‘ Selbstverhältnisses versteht) analytisch und (ohne die praktische Zuversicht der Hoffnung im Sinne einer ,docta spes‘) auch praktisch orientierungslos bleibt.“48 2.2.4 „Spuren“ Für Schellings früh einsetzendes „Schwanken“ (Habermas) zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen Absolutem und Geschichte, zeigt Bloch stets Verständnis, gilt doch der Akt subjektiven Bewußtseins ihm ebensoviel wie das selbsttätige Schaffen der Materie. Denken und Sein verhalten erkenntnistheoretisch sich komplementär. Er bemüht sich, das ,Schwanken‘ in Stehen und Einheit zu verwandeln. In Der Rücken der Dinge, einer Parabel aus Spuren, 1915-17 in Garmisch „vorbereitet“, 1930 erschienen, wird das Verhältnis wie folgt zur Darstellung gebracht: „Sagt man, ein Tuch ist rauh, so bleibt das gleichsam unter uns. Denn nur an der Haut ist das Tuch rauh, ,für sich‘ mag es anders sein, etwa grob gewebt. Aber sehen wir eine Rose als rot, so steht die Farbe gleichsam an Ort und Stelle, wo wir sie sehen, die Empfindung scheint dann eine Eigenschaft geworden“ (GA 1, p. 172). Bloch gibt sich empathisch, was die Ichbestimmheit alles Wirklichen betrifft, will jedoch weiter wissen: „Ob es die Rose weiß, daß sie eine Rose ist [...]?“ Und: „[W]as ,treiben‘ die Dinge ohne uns? Wie sieht das Zimmer aus, das man verläßt?“ (GA 1, p. 172). Nicht ereignen die ,Dinge‘ sich allein als mental state. ,Natürlich‘ sei dennoch die Skepsis gegenüber der Selbständigkeit der ,Dinge‘. (Interessant hierbei, wie häufig Bloch die Begriffe Ding oder dinglich verwendet, um die ,Unheimlichkeit‘ wie Unbestimmtheit des Gegenständlichen sprachlich einzuholen.)

47 H. Fahrenbach: „Marxismus und Existentialismus“, p. 339 sq. 48 H. Fahrenbach: „Marxismus und Existentialismus“, p. 340 sq.

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Die Forderung nach Entdinglichung geht einher mit jener nach Totalisierung der defizitären Erkenntnis: „Vorn ist es hell oder hell gemacht, aber kein Mensch weiß noch, woraus der Rücken der Dinge besteht, den wir allein sehen, gar ihre Unterseite, und worin das Ganze schwimmt. Man kennt nur die Vorderseite oder Oberseite ihrer technischen Dienstwilligkeit, freundlichen Eingemeindung; niemand weiß auch, ob ihre (oft erhaltene) Idylle, Lockung, Naturschönheit das ist, was sie verspricht oder zu halten vorgibt“ (GA 1, p. 174 sq.).

Wir sehen: die Probleme – auch jenes der Existenz von Qualität in der Natur – werden vom jungen Bloch erkannt, mit Schärfe sogar, jedoch (noch) nicht systematisch aus- und zu Ende geführt. Es bleibt bei parabelhafter Andeutung. 2.2.5 Blochs Prosa49 Zu den verschiedenen literarisch-philosophischen Gattungen, welche in Blochs Texten hervortreten, sei folgendes bemerkt: Spuren bleibt innerhalb des Œuvres das einzige Erzählwerk. Das Münzer-Buch ist für Blochsche Verhältnisse ungewöhnlich ,wissenschaftlich‘ verfaßt. Der systematische Gehalt des Prinzips Hoffnung steht weit höher als in Geist der Utopie, dennoch ist es für den Leser mühsam, ihn zu extrahieren. Zu den ,verständlichsten‘ Schriften des Autors zählen die Leipziger Vorlesungen, welche ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen waren. Noch bei der Berufung auf den Leipziger Lehrstuhl war die mangelnde ,wissenschaftliche‘ Form wie die besondere Prosa Blochs für konservative Vorkriegsordinarien ein diskutierenswertes Hindernis – welches jedoch ausgeräumt werden konnte. Die Leipziger Professoren Johannes Kühn50 und Alfred Menzel51, Mitglieder der Kom49 Teile dieses Kapitels sind bereits erschienen, cf. M. Mayer: „Logos und Wahrheit. Zur Funktion der Prosa bei Ernst Bloch“. 50 „Kühn, Johannes, Historiker, * 24.1.1887 Bogschütz (Schlesien), † 24.2.1973 Heidelberg. Der Pfarrerssohn schloß das Geschichtsstudium an den Universitäten Breslau, München und Leipzig 1912 mit der Promotion zum Dr. phil ab […], wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und habilitierte sich 1923 an der Univ. Leipzig […]. Seit 1927 a. o. Prof. in Leipzig und seit 1928 o. Prof. der Neueren Geschichte an der TH Dresden, kehrte K[ühn] 1947 an die Univ. Leipzig zurück und folgte 1949 einem Ruf an die Univ. Heidelberg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1956 lehrte. Seit 1943 gehörte er der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und seit 1946 der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. K[ühn] bearbeitete die Deutschen Reichstagsak-

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mission zur Wiederbesetzung der vakant gewordenen philosophischen Lehrstühle von Hans-Georg Gadamer, der nach Frankfurt am Main ging, und Theodor Litt52, der einem Ruf nach Bonn folgte, bemängelten in ihren Gutachten vor allem ten unter Karl V. […] und veröffentliche u. a. Die Geschichte des Speyrer Reichstags 1529 (1929), Über den Sinn des gegenwärtigen Kriegs (1941) und Die Wahrheit der Geschichte und die Gestalt der wahren Geschichte“ (DBE 6, p. 122). 51 „Menzel, Alfred (August Friedrich), Pädagoge, Philosoph, * 21.1.1883 Eckernförde, † 14.8.1959 Leipzig. M[enzel], Sohn eines Schlossers und späteren Lokomotivführers, besuchte 1900-03 das Lehrerseminar in Eckernförde, studierte seit 1904 in Kiel, Genf und Berlin Philosophie, Altphilologie, Germanistik, Romanistik, Orientalistik sowie Mathematik und Naturwissenschaften und wurde 1909 mit Die Grundlagen der Fichteschen Wissenschaftslehre in ihrem Verhältnis zum Kantischen Kritizismus bei Paul Deussen promoviert. 1911 habilitierte er sich an der Univ. Kiel mit der Schrift Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie und wurde 1917 Titularprofessor, 1919 a. o. Prof. für Philosophie. Seit 1919 Mitglied der SPD und des Monistenbundes, setzte sich M[enzel] für die Volksbildung ein und legte 1922 sein Lehramt nieder. Im selben Jahr folgte er Hermann Heller nach Leipzig und wurde Lehrer an der Höheren Israelitischen Schule. Nach Schließung der von Ephraim Carlebach geleiteten Schule war M[enzel] 1939-44 als Privatlehrer tätig, 1944/45 war er inhaftiert. Nach dem Krieg schloß er sich dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands an und wurde zum Honorarprofessor, 1947 zum o. Prof. an der Univ. Leipzig ernannt. M[enzel] veröffentlichte u. a. Die Grundgedanken der monistischen Weltanschauung (1922) und Kants Kritik der reinen Vernunft (1922)“ (DBE 7, p. 8). 52 „Litt, Theodor, Philosoph, Pädagoge, * 27.12.1880 Düsseldorf, † 16.7.1962 Bonn. L[itt], Sohn eines Gymnasialprofessors, studierte seit 1899 Klassische Philologie, Geschichte und Philosophie in Bonn und Berlin und wurde 1904 aufgrund einer altphilologischen Dissertation promoviert. Bis 1918 Gymnasiallehrer in Bonn, Kreuznach und Köln, wurde er 1918 a. o. Prof. an der Univ. Bonn und 1920 als Nachfolger Eduard Sprangers o. Prof. der Philosophie und Pädagogik in Leipzig, wo er 1931/32 das Rektorat innehatte. […] 1937 gab er seine Ämter aus konservativ-oppositioneller Haltung gegen den Nationalsozialismus auf […], übernahm seinen Lehrstuhl 1945 wieder und wechselte nach Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht 1947 an die Univ. Bonn, wo er das Institut für Erziehungswissenschaften gründete. 1952 wurde L[itt] in den Orden Pour le mérite gewählt. L[itt] veröffentlichte zahlreiche wissenschaftstheoretische Arbeiten, besonders zu den Methodenproblemen der Geisteswissenschaften. […][Litt entwickelte außerdem] eine umfassende Kulturphilosophie […] und philosophische Anthropologie. […] Zu L[itt]s Werken zählen Geschichte und Leben (1918), 31930), Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems (1927,

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1967), Prote-

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„Blochs ,betont destruktive Haltung und negativ gerichtete Kritik‘, die ihn ungeeignet erscheinen lasse, die Philosophie in Leipzig ,im Sinne des Humanismus und Idealismus, wie sie Professor Litt mit so großem Erfolg dargestellt hat‘53, weiterzuführen. Originalität des Denkens wurde Bloch durchaus zugestanden, nicht jedoch die Beherrschung exakter Forschungsmethoden. Alfred Menzel anerkannte nur eine wirkliche philosophische Leistung Blochs: die Analyse des theologisch-dogmatischen Hintergrunds von Luther und dessen Gegenspielern im Buch über Thomas Münzer. Kritikwürdig fand Menzel das für Blochs Publikationen typische ,unerträgliche Pathos, das jeden Widerspruch niederschlagen soll, und endlich ein Verdampfenlassen klarer und bekannter Erkenntnisse im mystischen Dunst und Nebel [...]. Der Stil ist jedenfalls unterschieden von dem eines innerlich abgeklärten Gelehrten.‘54 Menzel und auch Johannes Kühn bezweifelten, stärker als Bernhard Schweitzer55, die generelle Eignung Blochs als akademischer Lehrer. Der ,ganz formlose, messianische, idealistisch-mystische Utopismus‘ Blochs schien Johannes Kühn ,nicht Kern einer philosophischen Lehrtätigkeit sein zu können‘56.“57

stantisches Geschichtsbewußtsein (1939), Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis (1941, 21959, Neudr. 1980), Denken und Sein (1948) […]. L[itt] war 1926-42 und 1945-62 Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften“ (DBE 6, p. 491 sq). 53 [Universitätsarchiv der Karl-Marx-Universität, Philosophische Fakultät, Institut für Philosophie, B2/22, Personalarchiv, Nr. 322:] Alfred Menzel, Gutachten undatiert [Anm. von H.-U. Feige]. 54 [Universitätsarchiv der Karl-Marx-Universität, Philosophische Fakultät, Institut für Philosophie, B2/22, Personalarchiv, Nr. 322:] Ebenda [Anm. von H.-U. Feige]. 55 „Schweitzer, (Heinrich Eduard Stephan) Bernhard (Robert), Archäologe, * 3.10.1892 Wesel, † 16.7.1966 Hermannsburg (Kr. Celle). S[chweitzer], Sohn eines Offiziers, studierte seit 1911 an den Universitäten Heidelberg und Berlin, wurde 1917 promoviert […], habilitierte sich 1921 in Heidelberg […] und wurde 1925 o. ö. Prof. an der Univ. Königsberg. 1932 folgte er einem Ruf an die Univ. Leipzig, deren Rektor er 1945/46 war, und übernahm 1948 den Lehrstuhl für Klassische Archäologie an der Univ. Tübingen. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Das Menschenbild der griechischen Plastik (1944), […][sowie] Platon und die bildende Kunst der Griechen (1953) […]. S[chweitzer] war ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ (DBE 9, p. 341). 56 [Universitätsarchiv der Karl-Marx-Universität, Philosophische Fakultät, Institut für Philosophie, B2/22, Personalarchiv, Nr. 322:] Johannes Kühn, Gutachten vom 9.5.1948 [Anm. von H.-U. Feige]. 57 H.-U. Feige: „Willkommen und Abschied“, p. 167 sq.

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Auffällig ist, welches Gespür Blochs Kritiker von jeher für die Zusammengehörigkeit und Verwiesenheit von äußerer wie innerer Gestalt der Wahrheit seines Denkens aufbrachten. Es scheint überhaupt, seit Spuren, die Form zu sein, welche noch vor dem Inhalt eine Provokation bedeutet. Auch die SED störte interessanterweise sich sowohl am Inhalt als auch an der Form Blochscher Philosophie. In einem internen Papier, mit welchem sie bereits 1950 Blochs Persönlichkeit und Lehre einschätzen ließ, heißt es, daß dieser „,als dialektischer Materialist auf[tritt], aber der Inhalt seiner Vorlesungen [...] alles andere als marxistisch-leninistisch [ist]. Er drückt alles zu sehr ,poetisch‘, also verworren aus [...]‫ދ‬58.“59 Weiter lautete der Vorwurf, Bloch lehre einen „abstrakt-,menschlichen‘ Sozialismus“, welcher im Gegensatz zum wissenschaftlichen Sozialismus stünde, der sich dadurch auszeichne, daß er auf der Lehre vom Klassenkampf beruhe und deshalb der eigentlich menschliche sei.60 Jener glaube an eine „Subjekt-Objekt-Weltdialektik“, welche nichts anderes als „ein faules Erbe aus dem Idealismus der klassischen deutschen Philosophie“ sei. Diese Kritik traf Bloch aufgrund der ausführlichen Erörterung Schellings innerhalb seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, galt in der offiziellen DDRDoktrin doch jener nicht nur als ,bürgerlicher Idealist‘, sondern auch als ,reaktionärer Untertan‘ Wilhelms IV. von Preußen. Bemerkenswert dabei ist, daß gerade die Erforschung des sogenannten Irrationalismus Bloch den Vorwurf des „Dogmatismus“ einbrachte – ein ,rhetorischer Trick‘ seines ,Rivalen‘ Rugard Otto Gropp61,

58 Aktennotiz, Abteilung Kultur und Erziehung der SED Leipzig, 24.7.1950. Bebel-Liebknecht-Haus, Archiv, IV 4.14/10 [Anm. von H.-U. Feige]. 59 H.-U. Feige: „Willkommen und Abschied“, p. 172 sq. 60 Notiert von Prof. Dr. Rugard Otto Gropp, der von der SED lancierte ,Hauptgegner‘ Blochs an der Universität Leipzig, in: „Idealistische Verirrungen unter ,antidogmatischem‘ Vorzeichen“, in: Neues Deutschland 19.12.1956; zitiert nach: H.-U. Feige: „Willkommen und Abschied“, p. 176. 61 „Gropp, Rugard Otto, Philosoph, * 22.3.1907 Magdeburg, † 4.7.1976 Berlin. G[ropp], Sohn eines Stadtinspektors, war 1926-29 Werkstudent der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Leipzig, München und Halle. 1929 wurde er Mitglied der KPD und arbeitete als Stenotypist. 1941 wurde G[ropp] verhaftet, wegen ,Verdacht auf Hochverrat‘ verurteilt und im KZ Sachsenhausen interniert. 1944 zu einem Strafbataillon versetzt, floh er zur Roten Armee. 1945 nahm er das Studium an der Univ. Halle wieder auf und wurde 1948 zum Dr. rer. pol. promoviert. […] 1952 habilitierte er sich […] und wurde o. Prof. für dialektischen und historischen Materialismus an der Univ. Leipzig; seit 1960 wirkte er an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ausgehend von einer materialistischen Hegel-Deutung, veröffentlichte G[ropp] zahlreiche Schriften zum dialektischen Materia-

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der sich fragte, „ob nicht [...] ein philosophisches System wie das von Ernst Bloch [...] dogmatischen Charakter habe, wenn es ein der Psychologie zugehörendes untergeordnetes Moment wie die Hoffnung zu einem Weltprinzip macht und einem solchen angeblichen ,Prinzip‘ die ganze vielgestaltige Entwicklungsgesetzlichkeit zu unterwerfen trachtet“62. Gropp galt als SED-treuer ,Scharfmacher‘ und war bereits maßgeblich an der Auseinandersetzung um Leo Kofler63 beteiligt gewesen. Der Verdacht, Bloch betreibe „Psychologismus“, gar „Voluntarismus“, schien verbreitet. Jedwedes Denken abseits ,rationaler‘ Schulphilosophie, wie sie vor dem Kriege in Deutschland gelehrt wurde, sei es neukantianischer, neuhegelianischer, phänomenologischer oder logischer Provenienz, stieß auf völliges Unverständnis. Auch der Dekan der philosophischen Fakultät in Leipzig, Professor Dr. Walter Baetke64, der in einem Schreiben vom 25. Mai 1948 das Ministerium über den

lismus, von denen vor allem Der dialektische Materialismus. Kurzer Abriß (1957, 10

1961) weite Verbreitung fand“ (DBE 4, p. 172).

62 H.-U. Feige: „Willkommen und Abschied“, p. 177. 63 „Kofler, Leo, Pseud. Stanislaw WaryĔski, Jules Dévérité, Philosoph, Soziologe, * 26.4.1907 Groß Tuchen (heute Chocimierz, Polen), † 29.7.1995 Köln. Nach dem Besuch der Wiener Handelsakademie arbeitete K[ofler], als Sohn eines assimilierten jüdischen Grundbesitzers in Ostgalizien geboren, 1930-34 in der dortigen Sozialdemokratischen Bildungszentrale und hörte Vorlesungen bei Max Adler an der Universität. Nach dem ,Anschluß‫ ދ‬Österreichs an das Deutsche Reich 1938 emigrierte er in die Schweiz, war dort als Straßenarbeiter tätig und ging 1947 in die Sowjetische Besatzungszone. […] [In Halle, wo er sich promoviert und habilitiert hatte, war er] Prof. für Mittlere und Neuere Geschichte. Nach öffentlicher Kritik der Politik der SED Anfang 1950 beurlaubt, trat K[ofler] […] aus der SED aus und ging […] nach Köln. Seit 1951 als wissenschaftlicher Autor und Volkshochschuldozent sowie in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig, war er seit 1968 Dozent an der Kunstakademie in Köln und lehrte 1972-91 an der Univ. Bochum. […] Zu seinen Hauptwerken zählen Geschichte und Dialektik (1955, 31973), eine theoretische Kritik des bürokratisch-mechanistischen Marxismusverständnisses“ (DBE 5, p. 819 sq.). 64 „Baetke, Walter (Hugo Hermann), Germanist, Nordist, Religionshistoriker, * 28.3.1884 Sternberg (Neumark), † 15.2.1978 Leipzig. B[aetke], Sohn eines Polizeiangestellten und einer Lehrerin, wurde 1906 zum Dr. phil. promoviert […] und 1910 Studienrat in Stettin, 1913 Studiendirektor in Bergen/Rügen; 1934 erhielt er einen Lehrauftrag in Leipzig. Im folgenden Jahr wurde er o. Prof. der Religionsgeschichte an d[er] Univ. Leipzig; seit 1945 nahm er den Lehrstuhl für nordische Philologie wahr. B[aetke] arbeitete vor allem über die literarischen Traditionen der Saga sowie über Religion und Christianisierung der

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Stand der Berufung Blochs informierte, sah sich vor der Schwierigkeit einer Kategorisierung von dessen Ansatz: „Man stand nach der Lektüre der hier greifbaren Schriften Blochs stark unter dem Eindruck, daß er ein geistreicher Schriftsteller sei, dessen Hauptanliegen die Zeitkritik sei, daß dabei aber seine Analyse weit eher eine soziologische und psychologische als eigentlich philosophische sei. In der Tat führt die Forschungsrichtung von Ernst Bloch – auch wenn man ihm eine im Kern philosophische Fragestellung nicht absprechen will [–] die gesamte gesellschaftliche Problematik der Ideologiebetrachtung mit sich. Seine Schriften bezeugen eine durchgehende Kenntnis der zeitgenössischen soziologischen und kulturgeschichtlichen Richtungen.“65

Blochs Versuch, existentielle Fragestellungen in der Philosophie zu etablieren sowie subjektive Empfindungen in ihr zu thematisieren und angemessen zu berücksichtigen, führte allgemein zum Vorurteil des ,Psychologismus‘. Gegen diese Art wiederkehrender Kritik verteidigt Hans Mayer die Individualität des Blochschen Ausdrucks. Erkennt er doch, daß jener für sein spezifisches Fragen und Erzählen erst eine eigene Form schaffen mußte: „Das hat er getan. Darin vor allem sollte man, in der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts, das wichtigste Merkmal von Ernst Blochs poetischer Sendung erblicken.“66 Insbesondere die narrative Form seiner Prosa, wie in Spuren sie augenfällig wird, würdigt Mayer ausdrücklich als philosophische: „[S]oll man von ,philosophischen Erzählungen‘ sprechen, die in der französischen Tradition, man denke an Voltaire, als feststehende Gattung anerkannt zu werden pflegen, während die deutschen Schriftsteller – was nun wieder mit der philosophischen Entwicklung seit Kant zusammenhängt – die Trennungslinie zwischen Philosophie und Literatur stets ängstlich respektieren?“67 Mayer weist darauf hin, daß die Gattung der conte philosophique, welche in der französischen Aufklärung ebenso beliebt war wie in der englischen Romantik, den Versuch darstellte, eine hohe Form der Didaktik und Paradigmatik zu gewährleisten. Blochs ,Geschichten‘ hingegen „sind selbst die Philosophie, statt sie paradigmatisch zu demonstrieren. Die Erzählform ist bereits der Inhalt. Mehr als ein Stutzen und Überdenken ist jeweils der Geschichte nicht abzugewinnen. Eben dies

Germanen (u. a. Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, 1937)“ (DBE 1, p. 330). 65 Universitätsarchiv Leipzig, Institut für Philosophie, B2/2244, zitiert in: „Hoffnung kann enttäuscht werden“. Ernst Bloch in Leipzig, p. 78 sq. 66 H. Mayer: „Ernst Blochs poetische Sendung“, p. 188 sq. 67 H. Mayer: „Ernst Blochs poetische Sendung“, p. 190.

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aber ist die Philosophie davon.“68 Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß Bloch nur in Spuren als Conteur auftritt. Der pädagogische Hang zu Metaphorik und Expression aber bleibt auch in den übrigen Schriften erhalten. Tieferes Denken wird dem Leser dennoch abverlangt: in der Auflösung jener sprachlichen Ver-dichtung nämlich, hinter der seine Wahrheit er zu verschleiern und zu verschlüsseln pflegt. Blochs Hang zum stilistischen Verbergen des Inhalts, zu seiner syntaktischen Chiffrierung, nennt Max Bense ein „wirkliches Sprachspiel“ im Sinne der Wittgensteinschen Untersuchungen. „Ernst Bloch schreibt eine Prosa, deren Anziehungskraft auf den Beschädigungen beruht, die sie durch Gedanken erfuhr, zu deren Darstellung sie aufgewendet wurde. Zwischen dem, was zwischen den Zeilen jenseits des Textes bestehen möchte und dem, was unbedingt klar und offen ausgesprochen werden muß, vollendet sich hier ein Sprachspiel, das in keinem Augenblick sich selbst genügt; die Differenz zwischen der informativen und kommunikativen Bedeutung eines Satzes bezeichnet hier sehr genau das Literarische in artistischer, aber auch in politischer Hinsicht.“69

Seine Prosa sei „ein Verstecken des Inhalts in den Zeichen und gleichzeitig ein Hervorlocken des Inhalts aus den Zeichen“70. Er räumt ein, daß diese Methode auch zu „Verwirrungen“ führen könne, Mißverständnisse bezüglich der Interpretation zur Folge hätten; indessen, und das sei nichts für Logiker, betont er, gehöre auch die Verwirrung zu jenen Dispersionen der Form, welche den ästhetischen Reiz ausmachten. Weiter sieht Bense eine direkte Affinität zwischen der Sprache Blochs und jener Hegels. Deren besondere Ästhetik repräsentiere die ,Sprache gewordene Dialektik‘. Der Gedanke winde dialektisch sich im Schreibakt selbst, als Ringen um die Wahrheit und deren begriffliches Erfassen. Es werde schnell offenbar, daß Bloch „zu den wenigen marxistischen Autoren gehört, die aus dem dialektischen Materialismus, genauer aus der nicht deformierten Hegelsprache des Dialektischen Materialismus eine neue sublime Kunstprosa entwickelt haben. Noch in den feinsten, gleichzeitig rational und emotional aufgeladenen Gedankengängen wird die Dialektik mitgeführt, wie ein springendes Gewässer dringt sie in die Inhalte und dirigiert die Thesen, im ganzen eine Art mikromarxisti-

68 H. Mayer: „Ernst Blochs poetische Sendung“, p. 190. 69 M. Bense: „Ernst Blochs Prosa und die neue Seinsthematik“, p. 71. 70 M. Bense: „Ernst Blochs Prosa und die neue Seinsthematik“, p. 77.

128 | O BJEKT -S UBJEKT scher Ideenwelt, die ästhetischen Glanz gewonnen hat; Hegels philosophische Denkprosa erweist ihre Möglichkeit als dialektische Prosa.“71

Theodor W. Adorno betrachtet Blochs Art zu formulieren als den Versuch, durch bewußte sprachliche Mittel der Verdinglichung, welche auch vor Philosophie und anderen Wissenschaften nicht Halt mache, sich entgegenzustellen. Der Stil selbst werde so zum notwendigen Ausdruck der Unangepaßtheit und des Widerspruchs. Bloch schaffe eine expressive verbale Ästhetik, welche von der dialektischen Komposition der Worte und Sätze herrühre. „Unter den Denunziationen, die man gegen Bloch gerichtet hat, als er noch in Leipzig lehrte, hat eine ganz besondere Rolle das Argument gespielt, er schreibe einen feuilletonistischen Stil. Damit war nichts anderes gemeint, als daß sein Denken die Dynamik des Gedankens in seiner Darstellung auszudrücken sucht, anstatt in jener Mischung von festgelegten Termini und sprachlicher Undifferenziertheit sich zu bewegen, die für das verdinglichte Bewußtsein überhaupt charakteristisch ist.“72

Hanna Gekle verteidigt Blochs Prosa mit dem Hinweis auf die didaktische Konzeption Hegels. Das Einfangen des subjektiv Unmittelbaren sowie der Alltäglichkeit ist für sie ein Erweis für die soziale Zugänglichkeit der Blochschen Philosophie: „Entgegen der Gepflogenheit der meisten [...] Philosophen, die ihre Werke mit [...der] Präzisierung ihrer Prinzipien und Kategorien beginnen, setzt das ,Prinzip Hoffnung‘ mit einem ,Bericht‘ von kleinen Tagträumen ein, die merkwürdig kurios und privat scheinen. Ihre Unmittelbarkeit und Alltäglichkeit läßt sich nicht übersehen: [...] Was zunächst als Faux pas ins Feuilletonistische erscheinen mag, [...] erweist sich bei genauerem Zusehen als pädagogischmethodische [...] Absicht. Wie Hegel dem Bewußtsein eine Leiter reichen will, damit es, diese erkletternd, sich zum philosophischen Bewußtsein erheben kann, so setzt Bloch bei den ganz alltäglichen Akten des Transzendierens in der Gestalt des üblichen, jedermann bekannten Tagträumens an.“73

Das Prinzip Hoffnung sei das Buch der „Entdeckungsreisen ins Land Utopia“, das auch vor der Banalität und deren Wünschen nicht zurückschrecke, sondern gerade hier den Ansatzpunkt – wenn auch nicht eben den Endpunkt – sähe. Zwar fielen die Anfangsgründe des individuellen Lebens sowenig mit denen der Sache zusammen 71 M. Bense: „Ernst Blochs Prosa und die neue Seinsthematik“, p. 76 sq. 72 T. W. Adorno: „Zum Charakter von Blochs Terminologie“, p. 71. 73 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 90 sq.

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wie die Erkenntnisgründe mit den Realgründen, doch könnten und dürften sie nicht übersprungen werden. Sie bildeten zunächst die – unphilosophische – Grundlage von allen höheren und umfassenderen Formen des Transzendierens, weil Wunschträume und Utopien dem Alltag entsprängen; „vor allem aber wäre die ureigenste Absicht dieser Philosophie, die nicht nur auf Erkenntnis, sondern auch auf Veränderung zielt, von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht zumindest versuchte, bei den empirisch auffindbaren Wünschen der sogenannten ,kleinen Leute‘ anzusetzen und zu zeigen, daß deren Intention ernst zu nehmen ist. Diese Vermittlung muß gelingen, wenn einer solchen Philosophie nicht von Anfang an das mögliche verwirklichende Subjekt abhanden kommen soll. Hierin zeigt sich der demokratische Charakter der Blochschen Philosophie, den diese mit der gesamten neuzeitlichen Tradition teilt, in Abhebung gegen den elitären Zug, den die Schulphilosophie dieses Jahrhunderts in der Nachfolge Heideggers nicht verhehlen kann.“74

An anderer Stelle, im Kapitel „I.2. Philosophie als Weltmelodie der Erschaffung“ ihres Buches Die Tränen des Apoll, erläutert Hanna Gekle die Verschränkung von Philosophie, Kunst und Sprache in Geist der Utopie. Dort sei Bloch Nietzsche gefolgt auf dem Wege einer „Ästhetisierung der Philosophie“. Das heißt, die Selbstbegegnung des Menschen gelingt und verwirklicht sich vorwiegend durch die Schaffung wie Betrachtung von Ornament und Musik. „Ästhetisierung der Philosophie meint aber noch ein Zweites. Bloch handelt nicht nur von Gegenständen der Ästhetik: der Inhalt geht selber in die Form ein, und zwar in Gestalt seiner expressionistischen Sprache. Es ist eine Sprache, die sich offenkundig an literarischen Mustern orientiert, nicht am trockenen Stil der Kathederphilosophie, für die Bloch ein Leben lang gediegene Verachtung zeigte. Eine Flut sich überstürzender Bilder, kühn zusammengebogene Assoziationen, starke Verkürzungen und Auslassungen, ebenso gewaltige wie gewaltsame, leidenschaftliche Eruptionen: das alles hat nicht nur die Musik zum Gegenstand, es scheint selber Musik zu sein. Eine Musik, die den noch nicht erschienenen Gegenstand dadurch überhaupt erst in Gegenwart und Wirklichkeit bringt, ihn zum Erscheinen zwingt, indem sie ihn beschwört. Bloch wußte um die dabei notwendig entstehenden begrifflichen Unschärfen und Hohlräume. Er nahm sie in Kauf. Einzig eine Sprache, die selber Ränder hat, nicht klar und geschlossen wie ein Kristall ist, der die ein für allemal gefundene Wahrheit wie ein Kleinod in sich einschließt, sondern im Gegenteil selber die Unabgeschlossenheit der Bewegung und des immer wieder erneuerten Aufbruchs aus festgeronnenen Denkformen zeigt, also selber eine Gestalt des Exodus ist – einzig eine solche Sprache kann die adäquate Form 74 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 91.

130 | O BJEKT -S UBJEKT der ,Abbildung‫ ދ‬einer Wirklichkeit sein, die noch unfertig und im Werden begriffen ist. In dieser literarischen philosophischen Sprache jedoch verschiebt sich notwendig das Gewicht von der Mitteilung auf den Ausdruck, ja, der Ausdruck selber scheint den Gegenstand überhaupt erst zu produzieren. Dann aber befinden wir uns im Medium der Kunst, nicht mehr der Wissenschaft.“75

Karlheinz Weigand weist darauf hin, daß Philosophie keine Dichtung sei und außergewöhnliche Prosa noch keine philosophische Qualität bedeute. Andererseits könne auch der Fall eintreten, „daß eine in sich selbst kreisende Begrifflichkeit die großen Probleme verdeckt. Bei Bloch hat jedoch der Stil eine Funktion. Zwar orientiert er sich an den klassischen Vorbildern; wenn Bloch von Hegel sagt: ,Es ist Blut und Mark in Hegels Sprache, ein Korpus aus süddeutschem Erbgut, und das knorrige Wesen blüht, oft gotischer Zaubergarten, oft Weltfigur, in einem einzigen winkligen Detail‘76, dann benennt er damit durchaus auch die eigene Schreibweise. Sein eigenwilliges Deutsch ist jedoch darüber hinaus durch vielerlei Stilelemente der Mündlichkeit und vor allem der Offenheit geprägt; als Ausfluß des offenen Denksystems, und dies wiederum in Spiegelung des offenen Weltprozesses, der sich nicht zwischen zwei Buchdeckel pressen läßt. So entsteht ein Gelehrtenidiom von hochgradig persönlicher Färbung, wie es die Worte eines Freundes charakterisieren; das ,einzigartig geheizte Klima‘ des Blochschen Œuvres, ,aus einer wunderbaren Mischung von Nachmittagsdämmer, Lampenlicht am Schreibtisch, Außenweltschnee (geblaut) und Morgenglanz der Ewigkeit‘77.“78

Sprache und Stil Blochs werden von Weigand als Akt der Natur selbst interpretiert, als Ausdruck materialistischen Philosophierens schlechthin gerechtfertigt. Mit der Überschrift seines kurzen Beitrages zur Sprech- und Schreibkunst seines Vaters erhellt Jan Robert Bloch uns einen weiteren wichtigen Aspekt: „Das Sagen des Unsagbaren: Ernst Blochs Sprache als sachgebotene Methode“ – gegen die Verdinglichung! – ist hier im Geiste zuzufügen. Dennoch habe Bloch sich schwer getan, das Subjektive und seine Qualia in Sprache als Medium überhaupt auszudrücken. Die Malerei des Impressionismus etwa eines Claude Monet, meint sein Sohn, hätte es da leichter, denn häufig gerinne das gedruckte Wort, weil in ihm das 75 H. Gekle: Die Tränen des Apoll, p. 19 sq. 76 Ernst Bloch an Adolph Lowe 27.6.1944. In: Bloch, Briefe 1903-1975, a.a.O. [Frankfurt a.M., 1985], S. 737 f. [Anm. von Weigand]. 77 Joachim Schumacher an Ernst Bloch 16.1.1935. In: Bloch, Briefe 1903-1975, a.a.O., S. 484 [Anm. von Weigand]. 78 K. Weigand, „Had been writing ten hours a day“, p. 111 sq.

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Gemeinte „zum Eindeutigen verdinglicht“ würde, die „Gewordenheit das Gebiet der Möglichkeit“ besetze.79 Anders: Lettern verhindern per se den Fluß der Gedanken, engen sie ein. Bloch Junior nennt die nachteilige Darstellungsweise „zweidimensional“. Das Ensemble von Sätzen bilde „einen zweidimensionalen Rahmen inmitten einer Lebens- und Denksphäre, die realiter dreidimensional ist. Im typographischen Flachland des Textgewebes rufen viele Topoi nach der Vertikalen, die die Malerei, die Musik, die Bildhauerkunst, die Architektur so mühelos hergeben. Angesichts dessen bereicherte Ernst Bloch, bei aller Anerkennung der Schärfe des Begriffs, das Satzgebiet mit Sprachbildern und Symbolfiguren, die in die Phantasie griffen. Durch diesen Sprung in den dreidimensionalen Bedeutungsraum wurden die Vertikalen besetzt und die Unbeweglichkeit des Satzes aufgehoben. Diese räumliche Sprache hält den Menschen offen […].“80

Die Werksätze Blochs wollten schweben und dennoch treffen, buchstäblich einschlägig werden.81 „Solchermaßen benutzt er zwei Bilder, die das Dilemma zwischen Genauigkeit und Eschaton, zwischen senkrecht und waagrecht, zwischen Punkt und Richtung bezeichnen: Radiernadel und Kompaß. In seiner philosophischen Werkstatt galt es, den Nagel auf den Kopf zu treffen und zugleich den utopisch prinzipiellen Begriff zu finden […].“82

Nicht jedoch darf das Thema Prosa und Ausdruck davon ablenken, daß bei Ernst Bloch am Ende es um Materie geht, um historischen wie dialektischen Materialismus. Nie würde bei ihm jene Marxsche Wirklichkeit vergessen, die zum Gedanken drängt (cf. MEW 1, p. 386). Dies weiß auch sein Sohn und wendet ein: „Die Sprache schmiegt sich der schwierigen Materie an, die Poesie macht dem Begriff Platz (Brot statt Kuchen), gleichwohl begründen die Begriffe ihrerseits im Logischen eine Poesie anderer Ordnung. Blochs ontologische Theorie der Möglichkeit, in Sprache gefaßt, ist somit eine Gegenstandstheorie, weil die Kategorie Möglichkeit erst dadurch Gegenstand wird, indem sie in der ihr gemäßen Sprache aufgenommen wird.“83

79 J. R. Bloch: „Das Sagen des Unsagbaren“, p. 112. 80 J. R. Bloch: „Das Sagen des Unsagbaren“, p. 112. 81 Cf. J. R. Bloch: „Das Sagen des Unsagbaren“, p. 113. 82 J. R. Bloch: „Das Sagen des Unsagbaren“, p. 113. 83 J. R. Bloch: „Das Sagen des Unsagbaren“, p. 120.

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Das noch Unausgemachte des Möglichen im Wirklichen gärt im Organischen, das heißt im Menschen selbst und dort im „psychischen Material“ (Freud). Die Arbeit des Seelischen wiederum geschieht in Bildern. Blochs Sprache zeigt daher sich allegorisch. Unentwegt vermittelt sie zwischen subjektiver und objektiver Phantasie, um so oszillierend jenes Novum zu erreichen, das uns wahrhaft angeht. Der expressionistische wie dialektische Gehalt der Blochschen Prosa wird kenntlich, indem ihr Autor das individuelle Wünschen zum Ausgangspunkt seines Denkens erhebt, ihm philosophische Dignität verleiht; ein Wünschen, welches gegen das Bestehende, ,schlecht Vorhandene‘ sich wendet, sich auszudrücken vermag („Das Kind will Schaffner werden oder Zuckerbäcker. Sucht lange Fahrt, weit weg, jeden Tag Kuchen“ [GA 5,1, p. 21]).84 Der Kunst am Kleinen sich ,groß zu träumen‘, dem gelebten Augenblick will Bloch Kontur verleihen, um das Totum zu begreifen, die Tendenz des ,Weltstoffes‘. Noch aus dem Einfachsten wird so die Möglichkeit des Ganzen herausgedreht. Aus einzelnem Bedürfen wird allgemeine Phantasie. Wunsch und Wirklichkeit, Assoziation und Wahrheit, Bild und Sprache heißen die Begriffspaare jener aufsteigenden Bewegung, die Besseres verspricht. Mit der Anhörung und Anwesenheit des lebendigen Subjekts selbst wirkt Bloch dessen Ausstreichung, wie sie um des Ideales ,wissenschaftlicher Objektivität‘ willen betrieben wird, entgegen. 2.2.6 „Thomas Münzer“ Daß Bloch auch vom doktrinär gewordenen Marxismus der DDR sich nicht hat beeinflussen lassen, sondern sich selbst und seiner wissenschaftlichen Einsicht treu blieb, wird an der Konsistenz seiner Schelling-Rezeption ersichtlich. Deren frühe Abgeschlossenheit erweist sich einmal mehr anhand seines „im München der immer finstereren Reaktion“85 geschriebenen und 1921 publizierten Werkes Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Hervorzuheben ist, daß er dort, im Rahmen der Wirkungsgeschichte Münzers, den späten Schelling heranzieht und ihm – ungeachtet aller Kritik – positive Seiten abgewinnt. Dessen christliche Affirmationen nimmt er großzügig in Kauf, wenn es um das dortige Aufscheinen ,revolutionärer‘ wie ,utopischer Qualitäten‘ geht. In diesem Sinne lobt er die Philosophie der Offenbarung ausdrücklich als „hochbedeutsame[s] Werk“.

84 Über das unentschiedene akademische Ringen, ob und inwieweit der expressionistischkabbalistische Stil des frühen Bloch auch noch in dessen Spätwerk sich durchhält und zu finden ist, cf. C. Ujma: Ernst Blochs Konstruktion der Moderne, p. 234 sq. 85 E. Bloch: „Ernst Bloch“, p. 2.

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„Schelling war nach Berlin berufen worden in begründeter, von ihm auch erfüllter Erwartung, daß er, gegen die bloß ,negative‘ Philosophie Hegels und ihre Linke auftreten werde. Zweifellos aber kam statt dessen auch viel Tieferes dabei heraus, darunter zum erstenmal wieder seit Lessing eine Reprise Joachims, mithin der täuferischen Apokalyptik. Gemäß dem bevorstehenden ,dritten Testament‘ nach dem Alten wie dem Neuen, auch nach Petrus wie Paulus“ (GA 2, p. 222).

Beeindruckt von Schellings Interpretation biblischer ,Zeitverhältnisse‘ als Repräsentationen geschichtlicher Entwicklungsstadien der Menschheit, will der Verfasser darin nicht bloße Vertröstung auf ,jenseitige‘ Erfüllungen sehen, sondern eine ,Offenheit auf Zukunft hin‘, welche ganz auf ,diesseitige‘ Weltereignisse sich bezieht. Schelling führt Bloch zufolge jene mystische Tradition fort, welche in Joachim von Fiore, Jakob Böhme und Thomas Münzer grundgelegt war. Den Text, welchen diesbezüglich er aus der Berliner Vorlesung von 1841/42 heranzieht, wird ohne genaue Quellenangabe zitiert. Der Inhalt jedoch läßt auf den letzten Abschnitt der Philosophie der Offenbarung (Paulus-Nachschrift) schließen: „Die Linie der Sukzession stellt sich daher jetzt so: Petrus, Paulus, Johannes. Es ist ganz dem geschichtlichen Gang der Offenbarung, wie er auch anderwärts sich erkennen läßt, gemäß, diese drei Namen als Repräsentanten von drei Zeiten der christlichen Kirche zu denken. Ganz in demselben Verhältnis werden für die Zeit vor Christo gedacht Moses, Elias und der Täufer Johannes. Moses legt den Grund. Mit Elias erhebt sich das Prophetentum (der Gegensatz des Gesetzes), das gegen die Zukunft hintreibende, vermittelnde Prinzip. Johannes d. T. ist Nachfolger des Elias“ (GA 2, p. 223).86

Nach dem Vorbild der göttlichen Trinität seien auch die Einheit wie Verschiedenheit der drei genannten Apostel zu verstehen: Petrus stünde in der Sendung und Nachfolge des Vaters, Paulus in der des Sohnes und Johannes, auf dessen besondere Funktion Schelling hinauswolle, in der des Geistes. Bloch bemerkt, daß bei all dem aus der Philosophie der Offenbarung Angeführten das „Pathos des Noch-Nicht“ „unüberhörbar“ sei, der „aufrichtige Jugendgedanke“ Schellings: „über dem Pro86 Die zitierte Stelle findet ihre Entsprechung in der von Manfred Frank herausgegebenen Ausgabe der Philosophie der Offenbarung (Paulus-Nachschrift): „Petrus, Paulus und Johannes! In dieser Sukzession sind sie Repräsentanten der drei Zeiten der christlichen Entwicklung, wie Moses, Elias und Johannes der Täufer für das A. T. Moses repräsentiert das Prinzip des Bleibenden, Substantiellen, Elias, dem Feuer vergleichbar, belebt, nach der Zukunft drängend. Johannes beschloß das A. T. und die Zeiten vor Christo“ (PhO, p. 316).

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dukt das Produzierende nicht zu vergessen“, und „der in seiner späten Philosophie über dem gewordenen Geschichtsprodukt sich doch nicht beruhigte“ (l. c., p. 225). Alles Gewordene hat unmittelbar wieder in Werdendes zurückverwandelt zu sein, damit die ,Dinge‘ im Fluß bleiben. Der Glaube an den Fortgang läßt stets auf einen Mangel im Jetzt schließen. „Münzerisches“ tauche in Schelling immer wieder auf und sei „auch noch in den letzten Dingen solcher Spekulation angemeldet. Es entspannt immerhin die näheren Sorgen nicht, ja so wenig, daß ein Bedenken des Ultimum das Ungenügen am Vorhandenen so entschieden reizt wie fundiert. Das johanneisch Rote, mit seinem Reich der Freiheit, war bei Münzer der Konsequenzzwang des Roten überall und ist, auch und gerade auf die Füße gestellt, zum Bestehenden besonders irregulär“ (GA 2, p. 225).

Auch beim späten Schelling sieht der Autor in der Unabgeschlossenheit seines Geschichtsbildes das Vorrangig-Entscheidende. Allein der Gedanke der ,Künftigkeit‘ ist ihm Beweis genug für die Existenz eines Willens zur Überschreitung und Umgestaltung des Gegenwärtigen. Weltgeschichte ist für Bloch Heilsgeschehen. 2.2.7 Was heißt „qualitative Materie“?87 In der Prager Emigration der frühen dreißiger Jahre begann Bloch das Manuskript zu seinem erfolgreichen Buch Geschichte und Gehalt des Begriffs Materie, welches dann, nach seiner Vollendung im US-amerikanischen Exil und vermehrtem Erscheinen, 1972 unter dem endgültigen Titel Das Materialismusproblem. Seine Geschichte und Substanz Aufnahme in die Gesamtausgabe fand.88 Dort geht dem Verfasser es schlicht um die Frage „wie Sehen und Denken, einzeln hier, allgemein dort zueinander stimmen“ (GA 7, p. 457), wie die Kategorien Materie und Bewußtsein sowie ihr gegenseitiges Verhältnis zu begreifen sind. Von jeher sei diese nicht neue Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Interessen mitentschieden und be87 Teile dieses Kapitels sind bereits erschienen, cf. M. Mayer: „Ernst Bloch. Ein marxistischer Anselm von Canterbury“. 88 Der Aufbau-Verlag in Berlin plante ursprünglich eine Werkausgabe mit dem Titel: Ernst Bloch: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Das Materialismus-Buch sollte darin als Band 9 unter dem Titel Prozeßfront, Materie erscheinen. Als Publikationsjahr war 1960 vorgesehen. Aufgrund der sich zuspitzenden Auseinandersetzungen mit der SED-Führung und dem Aufbau-Verlag kam das Projekt nicht mehr zustande; es wurde dem Hause Suhrkamp in Frankfurt am Main überlassen, das es als Gesamtausgabe verwirklichte (cf. „Ich möchte das Meine …“, Dokument 8, p. 100).

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einflußt worden – schon dies ein Hinweis auf die materielle Abhängigkeit des Denkens. Der Band enthält eingangs die Widmung: „Dem Jugendfreund Georg Lukács“. Zusammen mit dem Inhalt Beweis genug, wie sehr Bloch die Thematik aus Geschichte und Klassenbewußtsein nachhaltig beschäftigt hatte. Das Materialismusproblem ist die eigentliche Antwort darauf, die ausführliche und zu Ende gedachte Fassung seiner Rezension von 1923. Aus diesem Grunde auch ist die persönliche Dedikation weniger als Zeichen der Verehrung denn als correctio fraterna zu verstehen. Der Substanz-Begriff im Titel testiert den Einfluß, welchen Bruno, Spinoza und Schelling auf Bloch hatten. Bereits im Vorwort gibt er den Hinweis, daß das Wort Materie von mater herstammt, also von „fruchtbarem Weltschoß und seinen durchaus experimentierten Formen, Figuren, Daseinsgestalten, Auszugsgestalten voll unabgeschlossener Tendenz, unerfüllter Latenz“ (GA 7, p. 17). Insofern ist es auch dem Begriff Natur, in welchem das Geborenwerden (aus dem Schoß der mater) enthalten ist, nicht nur verwandt, sondern gleichwertig zur Seite gestellt. „Materie“ ersetzt Bloch bisweilen auch durch den Ausdruck „Weltstoff“. Sein, Natur, Materie und Weltstoff sind ihm inhaltlich äquivalent, er verwendet sie alternierend, bevorzugt jedoch den Ausdruck Materie.89 Von diesem ist der Materialismus zu unterscheiden. Es ist damit in nuce dessen reflektierte wie ideologisierte Bestimmung gemeint. Materie (als Natur und Gesellschaft) bildet die Voraussetzung des (individuellen und kollektiven) Bewußtseins. Der daraus sich ableitende (historisch89 Es würde zu weit gehen, Bloch explizit als „Naturphilosophen“ zu bezeichnen, wie Doris Zeilinger dies in ihrer Dissertation unternimmt (cf. eadem: Wechselseitiges Ergreifen). Die Naturphilosophie (ebenso wie Schelling) bildet sicher einen wesentlichen Teil seiner Materie-Studien, jedoch nur einen Aspekt in der Vielfalt seiner Forschungsinteressen. Der Ausdruck Naturphilosophie wurde in der marxistischen Tradition aufgrund seiner Nähe zum Idealismus, gegen welchen es sich abzugrenzen galt, gemieden. Da nach Bloch dem Stofflichen allgemein eine (entelechetische) Logik inhäriert, welche individuell sich mittels Bewußtsein ,offenbaren‘ kann, wäre es ebenso wenig angebracht, ihn einen ,reinen‘ oder gar ,Vulgär-Materialisten‘ zu heißen. Aus diesem Grunde auch würde der einsame Titel Marxist ihm nicht gerecht. Auf der Suche nach einem geeigneten Attribut für Bloch böte es sich an, in positivem Sinne der Bestimmung Habermas’ zu folgen, der – wie oben erwähnt – Bloch einen „marxistischen Schelling“ nennt. Wer schreibt: „Marxistisches Wissen bedeutet: die schweren Vorgänge des Heraufkommens treten in Begriff und Praxis“ (GA 5,1, p. 17), steht in seinen Anschauungen tatsächlich näher bei Böhme und Schelling als bei Marx selbst. Anders: Bloch ist als ein kritisch-systemischer Philosoph zu identifizieren, welcher unter Anwendung vorwiegend – jedoch nicht ausschließlich – marxistischer Methodik sowohl mit Problemen des nicht-mechanischen, spekulativen Materialismus als auch der romantischen Naturphilosophie sich beschäftigt hat.

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dialektische) Materialismus entstand als Gegenbegriff zum (bürgerlichen) Idealismus; er ist, sagt Bloch im Anschluß an Engels, „Erklärung der Welt aus sich selbst“90 und deshalb spekulativ und utopisch gleichermaßen; er ist nicht nur Contra-Illumination, „vielmehr eine sichere Sperre gegen die Beschränkung des Materiebegriffs auf das Reich mechanistischer Notwendigkeit, eine unabgeschlossene Eröffnung des Materiegehalts zu einem Reich der Freiheit“ (GA 7, p. 456). Obwohl zwar Kant noch alle Spekulation als „ein Rasen mit Vernunft“ abgewertet und unter derselben nur eine Erkenntnis der Dinge aus reinen Begriffen ohne alle Empirie verstanden habe, „so hat doch Hegel das spekulative Verfahren als eine Erkenntnis gerade durch konkrete Begriffe im Gegensatz zu den bloß abstrakten der Reflexion ausgezeichnet“ (GA 7, p. 471). Philosophen wie Aristoteles, Spinoza, Leibniz, Schelling und Hegel, aber auch Freud stellen sich ihm als „Kryptomaterialisten“ dar. Aufgrund der Betonung des Subjektcharakters der Materie grenzt er sich deutlich von Lenin ab, welcher derselben als einzige Eigenschaft zuschreibt, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein zu existieren. Für jenen ist Materie „eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert“91. Da die Materie die ,einzige objektive Realität‘ außerhalb des Bewußtseins sei, gibt es für Lenin kein umfassenderes Kategorienpaar als Materie und Bewußtsein. Es sei deshalb unmöglich, „eine andere Definition der beiden letzten erkenntnistheoretischen Begriffe zu geben als die Feststellung, welcher von beiden für das Primäre genommen wird“92. Diese harte Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt sowie deren erkenntnistheoretische Reduktion genügt Bloch nicht. Gemäß der Auffassung Schellings gilt ihm das menschliche Bewußtsein vielmehr als Auge der Natur, mit welchem diese sich selbst anschaut. Dies bedeutet eine Akzentuierung der materiellen Selbsttätigkeit – 90 E. Bloch: „Warum und zu welchem Ende ...“, p. 564. In einem Seminar an der Universität Leipzig im Wintersemester 1949/50 gibt Bloch folgende Definition: „Materialismus ist der Versuch einer Erklärung der Welt von unten (im Gegensatz zum Idealismus, dem Versuch einer Erklärung der Welt von oben). Er geht aus von den Bedürfnissen des Leiblichen, die unbedingt eher da waren als Moral und Sitte. Luther: Auf einem gefüllten Bauch sitzt ein fröhlich Haupt. Das ist die einfache Erfahrung eines Idealisten. – Materialismus ist nicht zu verwechseln mit Vulgärmaterialismus, dessen Karikatur Moleschott ist. (Die Karikatur des Idealismus war der Faschismus, der behauptete, alles könne getan werden, nur der Wille sei entscheidend. Der Tod ist in der faschistischen Ideologie eine Schlamperei des Lebenswillens.)“ („Hauptfragen der Philosophie“, p. 50). 91 W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, p. 124. 92 W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, p. 141.

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auch und gerade gegenüber dem Bewußtsein. Wenn Erkenntnis ein rein rationaler Vorgang wäre, ließe sich Bewußtsein von außen infundieren; dies jedoch ist nicht möglich. Er weiß außerdem (v. a. gegen Lukács), daß Bewußtsein allein noch keine Veränderung bewirkt. Für Bloch ist der Materie-Begriff weniger eine gnoseologische denn eine ontologische Bestimmung. Denn wenn die Materie das Bewußtsein entwicklungsgeschichtlich erst hervorbringt, müssen sich die Schärfe der Gegenüberstellung und die erkenntnistheoretische Funktionalisierung der beiden als Kategorien per se auflösen. Die ontologische Bedeutung des Materie-Begriffs des dialektischen Materialismus bildet die Grundlage und Voraussetzung seiner gnoseologischen Bedeutung. Dennoch bleibt die Materie notwendig mit Prädikamenten ,ausgestattet‘. Beide sollen nach Marx und Bloch jedoch nicht gesondert behandelt werden. Denken und Empfinden sind gleichermaßen „auffassende[] Akte“. Nur in ihrem Zusammenwirken vermögen sie das Wirkliche wiederzugeben. Sie sind nicht „Hilfsmittel“ des Menschen, sondern ein Ausdruck „der Gesetzmäßigkeit sowohl der Natur als des Menschen“. Kategorien fallen deshalb unter die „Daseinsformen“ und „Existenzbestimmungen der realen Welt“ (GA 7, p. 111), das heißt unter die historischen Bedingungen einer Gesellschaft. Es gibt für Bloch keine Kategorien „einer frei schwebenden Vernunft, außer als bloße Abstraktion im Kopf“; wohl aber sind ihm Kategorien „Formen der sozialen Vergegenständlichung und ihrer jeweiligen Gegenständlichkeit“ (GA 7, p. 112). Dabei unterliegen sie einem fortlaufenden Bedeutungswandel, „gemäß dem Prozeßcharakter der Gesellschaft“. Sogar die Kategorie der Kategorie selber sieht sich einer permanenten Entwicklung ausgesetzt. Die Formen der feudalen Ständegesellschaft beispielsweise sind nach Bloch „gattungshaft“, jene der bürgerlichen Gesellschaft hingegen „funktionalistisch“ (GA 7, p. 112). Entscheidend ist, daß in jeder Kategorie die Relation von „thelisch energetischem Daß und prädiziert logischem Was“ (GA 15, p. 78) am Werk ist. „Anders und genauer: Die Kategorien sind das immer weiter sich ausprägende RelationsWie, der versuchte Bezug des Daß zum Was, also in scholastischer Terminologie der quodditas zur quidditas und umgekehrt“ (GA 15, p. 78). Wir sehen: Auch die Kategorienlehre des Verfassers steht tief im Einfluß Schellings. Er wird ihr später ein eigenes Buch widmen: Experimentum Mundi (GA 15). Zehn Jahre nach Erscheinen der zweiten Fassung von Geist der Utopie ist Bloch inhaltlich wie begrifflich ausreichend gefestigt, um sich und Lukács von neuem mit der noch ungelösten Verdinglichungsproblematik zu konfrontieren; er verlangt sogar nach terminologischer Präzisierung. Dies bezieht vorwiegend sich auf die in Geschichte und Klassenbewußtsein häufig verwendete Antinomie Einzelheit-Allgemeines. Er wirft Lukács nochmals dessen abstrakte Auffassung der Subjekt-ObjektBeziehung vor. Es blieben in der Geschichte immer noch genug „Inkohärenzen“ und „Unterbrechungen“, welche einen uneinholbaren Rest darstellen. Lukács betone mit Recht, daß die Schärfung des Einzelheit-Allgemeinheit-Problems aus der

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Tendenz entstehe, das „Dasein und Sosein ins rationelle System bloßer Verstandesbegriffe restlos einzuarbeiten“, als auch „aus der Unfähigkeit, den Begriffsinhalt (das Ding an sich, näher die Spezifikationen der Natur, noch näher die sogenannten irrelevanten Einzelfälle) mittels der quantitativ-allgemeinen Konstruktion zu bewältigen“ (GA 7, p. 113 sq.). Was der Autor bei Lukács nach wie vor vermißt, ist dessen klares Bekenntnis zur Materie und ihren qualitativen Eigenschaften. Er plädiert daher für die Modifikation des Lukácsschen Gegensatzpaares: „Kant hatte die Unbeweisbarkeit der existierenden Außenwelt als Skandal der Philosophie bezeichnet, Schelling die Undefinierbarkeit der Materie; der Marxismus, dem diese beiden Arten des ,Skandalon‘ (Falle) fremd sind, will für sich Skandal und Crux zugleich aufheben. Die unübersichtliche Crux: Einzelheit-Allgemeinheit wird gleichsam umgedreht und erscheint dann als das weit einfachere Skandalon: Kalkül – qualitative Materie“ (GA 7, p. 114).

Qualitative Materie heißt für Bloch „sich im Besonderen und in ihrer aufeinander folgenden Schichtung qualifizierende Materie“. Nur so wird es möglich, daß „die Crux wachsend aufhebbar wird durch Vermittlungsvorgänge zwischen sinnlicher Empfindung und logischen Figuren, indem beide nicht mehr hart und unvermittelt getrennt und die Tatsachen vor allem nicht mehr als verdinglichte Prozeßmomente begriffen werden“ (GA 7, p. 459). Sinnliche Empfindung und Subjektivität lauten die zentralen Begriffe der Blochschen Erkenntnistheorie.93 Beide kommen im Individuum zur Geltung. Subjektivität

93 Zur Erkenntnistheorie hat Bloch vorwiegend in seiner Dissertation sich geäußert. Systematisches zu diesem Thema schrieb er danach nicht mehr. „Bloch zeigt nirgends detailliert, wie die Subjektivität erkenntniskritisch geschärft werden könnte; er ist im Gegenteil mit Hegel auf alle Erkenntnistheorie schlecht zu sprechen, da sie – wie Hegel höhnt – ein Erkennen vor dem eigentlichen Erkennen versucht, als ob man durch die Kenntnis der Anatomie besser verdauen lernen könnte [cf. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik]. Dennoch wird Bloch nicht müde zu betonen, daß alles darauf ankomme, eine wild wuchernde Phantasie zwar nicht zu unterdrücken, aber doch so zu bezähmen, daß sie in der Lage ist, sich auf die Wirklichkeit und die darin gegebenen Möglichkeiten einzulassen und sich mit ihnen zu vermitteln, mag auch das momentan Erreichbare keineswegs dem Gewollten schon entsprechen. [...] Die Hoffnung, die zunächst als bloßer Affekt sich auf alles richten kann, soll sich zu gelehrt-belehrter Hoffnung entwickeln; sie soll sich auf die Erkenntnis dessen richten, was an Erhofftem gegenwärtig möglich ist, und eben damit zugleich auf die realen Möglichkeiten einschränken“ (H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 95 sq).

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gilt Bloch als „die eigentliche Funduserweiterung der Materie“ (GA 7, p. 472).94 Das „Vermögen zu solcher Materie nach vorwärts“ wirkt „aktiv im subjektiven Faktor, vorzüglich in der die materiellen Verhältnisse revolutionär umwälzenden Klasse und ihrer Potenz, und dem entspricht objektiv-konkret die reale Möglichkeit als Potenzialität dieser Verhältnisse und ihrer Materie zur Umwälzbarkeit selber, mithin zum nie so Gewesenen, zum Novum“ (GA 7, p. 472). Die ,objektiv-reale Möglichkeit‘ als ,allgemeine Materie‘ (insofern selber Subjekt), als Natur und Gesellschaft, kann ihre Wirkung und ihr Prozeßpotential erst im Individuum als Subjekt zur Entfaltung bringen. Hanna Gekle schreibt in ihrer (von Helmut Fahrenbach und Wolfgang Loch betreuten) Dissertation Wunsch und Wirklichkeit. Blochs Philosophie des Noch-Nicht-Bewußten und Freuds Theorie des Unbewußten (Tübingen, 1983) zu Recht von der „methodischen Vorrangigkeit des Subjekts“ in der Blochschen Philosophie (p. 90). Zu klären wäre bei Applikation dieses Terminus allerdings, worin genau ,innerhalb‘ der Subjektivität deren Priorität besteht; ihre „Vorrangigkeit“ allein besagt seit Kant, weil beinahe selbstverständlich geworden, nur wenig; die Bedeutung des Subjekts liegt für Bloch in dessen empirischer Grundlegung und Potenz, weniger in seiner kategorialen. ,Empirisch‘ jedoch ist hier nicht in positivistischem Sinne zu verstehen. Keinesfalls will der Autor den Vorzug der Er-

94 „Über die Phänomene der Subjektivität nachzudenken“, räsoniert Walter Schulz, „ist notwendig, wenn man mit sich selbst und seinem Weltbezug nicht zurecht kommt. Wer sich und diesen Bezug in Ordnung findet, philosophiert nicht. Das Leiden an der Subjektivität ist der Zugang zur Philosophie der Subjektivität. [...] Die Subjektivität ist ein unendliches Forschungsfeld“ (W. Schulz: Ich und Welt, p. 11). Schulz sieht sowohl die Chancen, als auch die Gefahren einer Philosophie, welche die Subjektivität zu ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage macht, denn weder „das Wesen der Selbstreflexion noch das Wesen der Subjektivität läßt sich definitorisch in einer Formel aussagen. Diese prekäre Situation bedingt eine terminologische Unschärfe. Neben dem Begriff Subjektivität stehen andere Bestimmungen, wie Selbstbewußtsein; gelegentlich, wenn der Kontext es angebracht erscheinen läßt, wird schlicht vom Menschen gesprochen. Der Begriff Subjektivität ist vieldeutig und umfassend. Er eignet sich zur Einführung in die Probleme der Philosophie der Subjektivität, weil er zunächst als Sammelbegriff gebraucht werden kann, im Gegensatz zur zunächst ebenso vagen Bestimmung Objektivität“ (l. c., p. 12). Ungeachtet ihrer Unschärfe macht Schulz dennoch Mut, Subjekt, Objekt und Ich als Fundamente philosophischer Überlegung zu vermitteln. Die paradoxe Struktur der Subjektivität mache es notwendig, sie von verschiedenen Gesichtspunkten her anzugehen. „Methodisch-abstrakte Analysen sind ebenso angebracht wie konkret-inhaltliche Untersuchungen und historische Abgrenzungen“ (W. Schulz: Ich und Welt, p. 13).

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fahrung allein auf naturwissenschaftliche Erkenntnisbeförderung hin verzwecken.95 Es geht ihm nicht darum, naturwissenschaftliche Aussagen allgemein verifizierbar zu machen, sondern individuell-subjektiven Empfindungen philosophisch Raum zu verschaffen und sie als historische Prozeßmomente zu totalisieren. Die Empfindung „zeigt das Daß an, wohingegen das Denken in Gestalt seiner Kategorien die jeweiligen Formen der Entfaltung des realen Prozesses beschreibt, in dem das Daß sich jeweils äußert. Der Bogen der realen Entwicklung geht laut Bloch vom treibenden Daß-Grund zum Was des noch nicht erschienenen Wesens.“96 Dabei ist zu bedenken, daß die Empfindung weder eine Vorstufe des Gedankens ist, noch das Denken sich einfach auf Empfindung zurückführen läßt. „In der Empfindung zeigt sich die Selbständigkeit und Widerständigkeit der Natur; in ihr trifft der Gedanke immer ein nicht von ihm Erzeugtes, etwas, das sich auch nicht in Gedanken auflösen läßt. Wie bei Kant das Ding an sich, so hält bei Bloch die Empfindung das Moment der Unabhängigkeit des Seins vom Bewußtsein fest.“97 Subjektives Empfinden und Denken können, müssen aber nicht begrifflich miteinander korrespondieren. Oft genug bleiben sie wort- und verbindungslos.

95 Auch Hanna Gekle erkennt in der Priorität des Empirisch-Subjektiven die Gefahr eines Positivismus, da dieser – wie Bloch – sensualistische und rationalistische Elemente in sich vereinigt. Gleichzeitig verweist sie auf das entscheidend Unterscheidende wie Kritische der Blochschen Auffassung von Erkenntnis: Jede Theorie, die von empirisch gegebenen Daten ausgeht, erklärt Gekle, kehre im Laufe ihres wissenschaftlich-methodischen Vorgehens immer wieder zu diesen zurück, „einerseits um neues Material zu bekommen und andererseits um sich dauernd an ihnen zu kontrollieren und zu erhärten. Dies ist denn auch nicht der Punkt, den Bloch kritisiert. Er wirft dem Positivismus nicht dessen Vorgehen, sondern seine naive Annahme vor, die Wissenschaft könne unabhängig vom ,beeinflussenden Subjekt‘ zu neuen Einsichten gelangen. Die Verleugnung der eigenen Tätigkeit führt je notwendig eine weitere im Schlepptau: sowenig wie seine eigene Tätigkeit, ohne die kein einziger Erkenntnisakt zustande kommen könnte, sieht der Positivismus die Tätigkeit der Materie. Selbst dort, wo er das Gegenwärtige als ein Gewordenes betrachtet, sind die Fakten als gegebene quasi ahistorisch. Über dem gegebenen Faktum vergißt er das Fieri; er löst die Gegenwart von der Geschichte ab und kennt so weder die Vergangenheit noch – vor allem – die Zukunft. Seine Beziehung zur Welt ist eine statischkontemplative; deshalb kann er nicht erkennen, daß das, was für ihn unumstößlich gegebene Tatsachen sind, in Wirklichkeit nur ,verdinglichte Prozeßmomente[]‘ [GA EB, p. 128] darstellen“ (H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 144 sq.). 96 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 142. 97 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 142 sq.

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Der ,objektiven Realität‘ ist ihre ,Tendenz‘ nur ,abzulauschen‘, indem die dahinterstehende ,objektive Phantasie‘ als ihr eigentlicher Antrieb zu eruieren versucht wird. Empfindung und Phantasie dürfen deshalb als wesentliche Erkenntnismittel nicht ausgeklammert werden. Für Gekle ist das „Reich der Phantasie und Vorstellungen“ schon deshalb erkenntnisgewinnend, weil es „entschieden weiter“ reicht als die „objektiv-realen Möglichkeiten“98. Die Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Leiden wie den Hoffnungen der Individuen könne methodisch nie einwandfrei bestimmbar sein, erklärt Gekle weiter. Die Erforschung der inneren, jedoch objektiven Phantasie durch die Analyse der ,äußeren Umstände‘ sei jedoch die einzige Möglichkeit, die psychische Realität wiederzuspiegeln. „[D]ie psychische Repräsentation von Äußerem impliziert aber in aller Regel, daß hierbei Umbildungen stattfinden und so eine Art Zwischenreich errichtet wird, eben die psychische Realität, die sich zwar erst in der Konfrontation mit der materiellen Realität als eigene konstituiert, aber keinesfalls mit ihr zusammenfällt.“99 Gekle weist sogleich auf die Risiken hin, welche eine solche Verdopplung der Wirklichkeit mit sich führt: „sie enthält negativ die Gefahr der Abkehr von der Wirklichkeit, positiv [...] den Protest dagegen.“100 Der Hunger, in Blochs Schriften vielfach und exemplarisch angeführt, ist eine „sinnliche Empfindung“, welche ihm per se als unhintergehbar, als nicht negotiierbar gilt. Der gefühlte Schmerz und das Verlangen, ihn zu negieren, bedürfen keiner Befragung oder Rechtfertigung; sie sind aus sich selbst und schlechthin Zeichen des Widerspruches. „Auch wenn es zunächst rein psychisch-individuell bleibt und keineswegs automatisch den Weg zu verändernder Praxis findet, ist dieses Moment nicht zu unterschätzen, läßt sich doch von hier ein Stück weit Blochs Hoffnung begründen, daß der Hunger letztlich nicht hintergehbar ist und sich allen betrügerischen Formen der Befriedigung wieder entwindet.“101 Noch der einfachste Schmerz hat nach Bloch ein Recht auf logische Erörterung. Die Irrationalität einer Empfindung schließt ihre rationale Bewältigung nicht aus. Einen Vorgang als irrational zu bezeichnen, bedeutet nicht, daß er überhaupt nicht oder nie rationalisierbar wäre oder daß er zu kognitiven Prozessen keinen Beitrag leisten könnte; ebensowenig bedeutet das Attribut unbewußt, daß etwas nicht doch, wenn auch nur teilweise, bewußt und der Vernunft zugänglich gemacht werden kann. Das negierende Präfix eines Begriffes ist noch kein Hinweis auf ein dahinterliegendes epistemisches Reservat, im Gegenteil. Mit der philosophischen Wiederentdeckung der ,qualitativen 98

H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 97.

99

H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 98.

100 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 98. 101 H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 98.

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Materie‘ hat Bloch, seit Schelling, die subjektive Empfindung als das eigentliche Privileg der ersten Person erkenntnistheoretisch neu legitimiert. Damit antizipierte der Verfasser des Materialismus-Buches, was erst in jüngster Zeit durch eine im Vordringen sich befindliche Destination der Analytischen Philosophie entdeckt wurde: subjektive Gefühle als objektive Handlungsmotive. Emotionen werden dort sowohl motivierende (aus ethischer Perspektive) als auch kognitive Funktionen (als Werturteile) zuerkannt. Voraussetzung ist allerdings eine Distinktion der Begriffe. So wird in der rezenten ,Philosophie der Gefühle‘ nicht nur exakt zwischen Empfindung und Gefühl unterschieden102, sondern auch zwischen emotionalen Gefühlen und nicht-emotionalen Gefühlen. Emotionen sind ,Gefühle im engeren Sinne‘. Darunter seien z. B. Furcht, Ärger, Neid, Empörung, Scham, Stolz etc. zu zählen. „Gefühle im engeren Sinne sind also Emotionen bzw. ,emotionale Gefühle‘. Gegenüber ,nichtemotionalen Gefühlen‘ zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie auf etwas in der Welt gerichtet sind und es als in bestimmter Weise seiend repräsentieren. Wer sich vor einer Kreuzotter fürchtet, die sich beim Waldspaziergang plötzlich zu seinen Füßen windet, der sieht die Schlange als furchteinflößend oder gefährlich an; wer seinen Nachbarn beneidet, der in seinem neuen Maserati vorüberfährt, dem präsentiert sich der Nachbar im Erleben der Emotion als ein beneidenswerter Mann; und wer sich seiner Untat schämt, dem scheint es, daß er wirklich etwas verbrochen hat. Damit wird typischerweise nicht geleugnet, daß Emotionen zugleich Erlebnisse einer bestimmten Qualität und Intensität sind: eben Gefühle (feelings). Aber anders als ein nichtemotionales Gefühl erschöpft sich eine Emotion nicht in einer bestimmten Erlebnisqualität – dem ,Wie-es-ist‘, sie zu empfinden –, sondern repräsentiert ihren jeweiligen Gegenstand als in bestimmter Weise seiend: die Schlange als gefährlich, den Nachbarn als beneidenswert und die Untat als beschämend für das eigene Selbst [...].“103

Hunger, wie auch der Schmerz als solcher, wäre demnach kein ,Gefühl im engeren Sinne‘, sondern lediglich eine Empfindung. Dies, weil der Hunger keinen Gegenstand repräsentiert, der „als in bestimmter Weise seiend“ gedacht werden kann. Es fehlt der Hungerempfindung die nötige Intentionalität, welche sie zu einer Emotion macht. Die bloße Phänomenalität eines Gefühls reicht noch nicht aus, dasselbe in den Rang einer Emotion zu erheben. Der repräsentationale Inhalt einer Emotion entspricht nämlich einer Bewertung des Repräsentierten.

102 Cf. etiam M. Frank: Selbstgefühl, cap. II: „Was ist denn ein Gefühl?“, p. 11 sqq. 103 S. A. Döring: „Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute“, p. 14 sq.

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„Indem sich im Erleben von Furcht z. B. eine Schlange als gefährlich darstellt, repräsentiert die Emotion ihren Gegenstand in seiner Bedeutung für das Subjekt; und auch wenn man eine andere Person als beneidenswert oder das eigene Handeln als beschämend erlebt, sind die involvierten Repräsentationen nicht neutral, sondern bewerten die andere Person bzw. das eigene Selbst im Lichte eigener Ansprüche, Ziele und Motive.“104

Auf Bloch bezogen, wäre der von ihm erwähnte Hunger auch und gerade nach dieser Theorie dennoch eine Emotion, da er als Symbol zu verstehen ist. Hunger ist für ihn ein Symbol sowohl für repressive gesellschaftliche Zustände als auch für das unstillbare Verlangen nach individueller und sozialer Identität. Insofern repräsentiert der Hunger einen Weltzusammenhang. Er ist auf etwas in der Welt gerichtet. Als Repräsentation vermag er sowohl bestimmte, verändernde Handlungen zu motivieren als auch kognitive Funktionen zu erfüllen. Er dechiffriert und bewertet die sozialen Verhältnisse, in denen das handelnde Subjekt sich bewegt. Jedoch auch ohne repräsentative Funktion läßt Bloch ein Gefühl, das heißt eines im ,weiteren Sinne‘, gelten. Jeder Schmerz, jedes ,nicht-emotionale Gefühl‘ enthält das Potential, nicht nur zweckhafte Handlungen anzustoßen. Der Anstoß überhaupt, als solcher und als Daß, auf etwas hin, ist für Bloch entscheidend, also die Motivkraft, die von ihm ausgeht, in ihm enthalten ist.105 Er berücksichtigt sowohl den ,qualitativen Erlebnisakt‘ als auch den ,evaluativ-repräsentationalen‘ Inhalt einer subjektiven Empfindung. Aus ,gefühlsphilosophischer‘ Sicht würde die von ihm angeführte Hungerempfindung also die Konditionen beider „Passensrichtungen“ erfüllen. Was genau ist damit gemeint? „Motivierenden Wünschen wird eine ,Welt-zu-Geist-Passensrichtung‘ (world-to-mind direction of fit) attribuiert, während Überzeugungen sich durch die entgegengesetzte ,Geist-zu-Welt-Passensrichtung‘ (mind-to-world direction of fit) auszeichnen sollen.“106 Damit seien zwei entgegengesetzte normative Standards für das Passen formuliert: „Sofern Welt und intentionaler Zustand nicht, wie gesollt, zueinander passen, ist im Fall der Überzeugungen der Fehler auf ihrer

104 S. A. Döring: „Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute“, p. 15. 105 Hierin zeigt sich im übrigen auch der methodische Unterschied Blochs gegenüber Adorno oder Marx selbst. Nicht ist er an genauen sozialphilosophischen Analysen interessiert, sondern an der gründlichen Erschließung jener Mechanismen, welche dem movens von Individuum und Gesellschaft zugrunde liegen, es vorbereiten: also die Bedingung der Möglichkeit von Bewegung. Blochs Fragen ist deshalb im Prinzip vor-marxistischer Natur. Und indem er wissen will, woher die Kraft zur Veränderung stammt, erweist er sich als materialistischer als Marx selber. 106 S. A. Döring: „Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute“, p. 27 sq.

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Seite und damit auf der Seite des Geistes zu suchen, während im Fall der Wünsche nicht der Geist, sondern umgekehrt die Welt zu tadeln ist.“107 So wird deutlich, „warum Wünsche motivierende, aber nonkognitive Zustände sind, wohingegen Überzeugungen umgekehrt zur Motivation untauglich, dafür aber geeignet sind, Wissen zu vermitteln. Indem Überzeugungen ihrem Begriff nach darauf zielen, mit der Welt übereinzustimmen, zielen sie begrifflich auf Wahrheit und stehen somit im Dienst von Erkenntnis und Wissen. Demgegenüber stellen Wünsche, indem sie darauf zielen, bestimmte Weltzustände herbeizuführen, begrifflich die eine Handlung definierenden Zwecke bereit und disponieren ihr Subjekt so zum entsprechenden Handeln.“108

Wir sehen, daß die gleichen Schwierigkeiten, nur in anderer, das heißt ,kontinentalphilosophischer‘ Begrifflichkeit, als Idealismus-Materialismus-Problem, bereits Bloch beschäftigt hatten. Gegen die terminologische Ausdifferenzierung des Begriffes Gefühl in der dargestellten ,Theorie der Emotionen‘ ist (mit Freud) allerdings einzuwenden, daß, aus psychoanalytischer Sicht, jeder auch noch so simpel scheinende Schmerz (= Symptom) eine Bedeutung hat. Stets ist er die Repräsentation eines im Unbewußten verborgenen und verdrängten Konfliktes. Dieser ist das „in bestimmter Weise seiende“ Objekt, das es auszumachen gilt. Die klinische Terminologie spricht in diesem Zusammenhang heute deshalb von Psychosomatik. Der einzelne Mensch zeichnet bei Bloch sich dadurch aus, daß er Empfindungen, Emotionen und Bedürfnisse hat, welche im Wir er zu finden und zu artikulieren versucht. „Dazu allerdings darf Logisches als Realattribut des Materiellen nicht weiter unterschlagen werden“ (GA 7, p. 472). Das Logische, von Lukács noch ohne (oder: mit zu geringer) Verbindung zum Gegenständlichen bedacht, wird nun selbst zur Materie und aus derselben hervorgebracht. Im Weltstoff fallen Logos und Materie in eins. Jedes ,Stillstehen‘ verhindert die ihm innewohnende Dialektik. Materie ist für Bloch “nicht etwa aus Wachs, sondern [...] selber gebärende[r] Schoß“ mit „entelechetischen Ausprägungen“ (GA 7, p. 475). Die Verortung des Bewußtseins in der Materie, als deren Produkt, ist für seine Konstruktion entscheidend, um nicht in das Dilemma von Lukács’ Abstrahierung der Geschichte zu geraten. Bewußtsein wird nicht von der Materie getrennt, sondern als eines mit ihr angenommen; gemeinsam bilden sie als zwei Manifestationen derselben Substanz, Ursache und Wirkung an sich selbst. Materie ist zugleich Garant und Sitz des irrelativen Selbstbewußtseins. Ich bin Ich, weil mein Ich materiell ist und Bewußtsein davon hat. Selbstbewußtsein kann reflexionsunabhängig sein, jedoch nicht materie-unabhän107 S. A. Döring: „Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute“, p. 28. 108 S. A. Döring: „Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute“, p. 28.

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gig. Bewußtsein ist materie-abhängiges Bewußtsein, nicht frei schwebendes – wie etwa bei Fichte. So wird aus dem Ich denke ein empirischer Satz und Individualität ein Resultat des Körpers. Keine Materiebewegung ohne Bewußtsein, kein Bewußtsein ohne Materiebewegung. Doch damit nicht genug. Lukács setzt Bewußtsein gegen Verdinglichung, Bloch hingegen Qualität und die Expression subjektiven, individuellen Empfindens. Tagträume und Wünsche sind solche Qualitäten. Wir finden sie auf der ersten Seite des Prinzips Hoffnung: „Das Kind will Schaffner werden oder Zuckerbäcker. Sucht lange Fahrt, weit weg, jeden Tag Kuchen“ (GA 5,1, p. 21) – ein nach wie vor ungewöhnlicher Beginn für das Hauptwerk eines marxistischen Philosophen. Worin besteht nun der entscheidende Unterschied zwischen Bewußtsein und Hoffnung? Allein letztere vermag nach Bloch die Wirklichkeit zu verändern, Bewußtsein allein reicht dafür nicht aus. Er erweitert das Kategorienpaar Bewußtsein-Materie um die Relation Wunsch-Wirklichkeit. Noch bevor der Tagtraum im Begriff ist, in irgendeiner Weise erfüllt zu werden, bedeutet ihm seine bloße Daßheit Dialektik und Potenz genug, um Wirklichkeit in Andersheit und zum Besseren hin zu verwandeln. Im Bewußtsein zündet die Materie sich selbst ein Licht an, erkennt und begreift sie sich; im Wünschen und Hoffen jedoch offenbart sie den Willen, ihren jeweiligen Jetztstand zu überschreiten. Dies ist der nucleus speculativus des Blochschen Materialismus schlechthin, das, worin er sich von anderen grundlegend unterscheidet. Er gibt sich damit nicht nur als „marxistischer Schelling“ (Habermas) zu erkennen, sondern auch und vielmehr als marxistischer Anselm von Canterbury. Dies insofern, als er von einem ,Begriffsrealismus‘ auf materieller Basis ausgeht. In Anselms Gottesbeweis ist das ens hypotheticum durch das ens realissimum ,konditioniert‘: wenn etwas im Denken existiert, muß es auch in der Wirklichkeit notwendig vorkommen, da dieselbe, wie im Falle der Existenz Gottes, höher potenziert ist als das nur Gedachte. Die niedrigere Potenz besitzt dann ein gegenüber der höheren relatives Sein. Bloch simuliert dieses ontologische Stufenmodell der Scholastik mutatis mutandis: wenn die Natur sich mittels ihrer Kreaturen wünschend und hoffend äußert, so muß sie auch die telische Anlage zur Veränderung in sich tragen. Die Möglichkeit der Erfüllung spiegelt und begreift sich in der Sehnsucht nach ihr. Die ,Macht des Begriffes‘ drückt sich in dessen Nähe zur Realität aus. In der ,Gewalt des Wortes‘ liegt etwas vom Moment seiner Verwirklichung.109 Anders: wo der Be-

109 Dieser Gedanke stammt von Adorno. Er äußert ihn in einem Gespräch mit Ernst Bloch über das Thema Utopie während einer Radiosendung, die von Horst Krüger moderiert und vom SWF am 6.5.1964 ausgestrahlt wurde. Teile daraus finden sich gedruckt wieder unter dem Titel: „Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht.

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griff durch subjektive Affektion einmal hervorgebracht, als ihr Abbild ,erzeugt‘ ist und ,im Raum steht‘, kann ,konkret Utopisches‘ – als ,Inkarnation des Logos‘ – nicht weit sein. Die Kreisbewegung ist folgende: Materie provoziert im menschlichen Subjekt durch entgegengesetzte Bewegung eine Empfindung. Der Wunsch nach deren Negation entsteht. Dieser jedoch ist nicht blind, sondern reflektiert, das heißt von spes docta begleitet. Beide zusammen, Wunsch und Hoffnung, rückverwandeln die Idee (vom ,konkret Utopischen‘) wieder in Materie, indem sie dieselbe ihren Bedürfnissen entsprechend umgestalten: Subjekt-Objekt-Identität. Anselms ,rationalistischer Gottesbeweis‘ wird von Bloch unter Anwendung gleicher Methodik in einen ,materialistischen Utopiebeweis‘ verkehrt: bei jenem bildet im gewünschten Begriff sich die Realexistenz Gottes ab, bei diesem im begriffenen Wünschen die Realexistenz der Utopie. Bei jenem entsteht die ontologische Notwendigkeit allein aus dem Denken, bei diesem aus der Materie. Gegenüber Anselm gestattet Bloch dem inneren (= psychischen + physischen) Erleben des Subjekts, aus welchem der Begriff sich bildet, nach außen drängt, sowohl den Zutritt ins Reich der Erkenntnis als auch die praktische Mit- und Umgestaltung desselben. Zum selbsttätigen Gehalt, welcher bei Bloch alles Stoffliche bestimmt, gehört schließlich seine kosmische Dimension. Die kosmische Ausdehnung der Materie ist – wie schon für Schelling – Ausdruck ihrer Unendlichkeit. Diese steht jedoch nicht etwa im Gegensatz zu ihrer Endlichkeit oder Bedingtheit. Vielmehr heißt dies für unseren Autor, daß dem Kosmos eine unendliche, entelechetisch treibende ,Tendenz‘ zum ,Besseren‘ innewohnt. Diese gelte es zu entdecken und zu nutzen. Er betont, daß der Kosmos als solcher nicht in „pure Transzendenz“, sondern „ins einzig Immanente“ eingehen möge. Er fordert damit ein Transzendieren ohne Transzendenz. Aus der „ganzen Astralmaterie“ soll ein „auf die Menschenstadt, die Menschenstatt reduzierter Kosmos für uns“ werden. „Nach Abzug aller tollen Phantastik, sozusagen auf vernunfthafte Füße gestellt“ bedeute dies „eine humane Zentrierung im Inhalt der wahrgewordenen Welt“, ausdrückbar „als unentfremdetes Fürsichwerden, das Substanz und Subjekt ineinanderführt. Bei alldem sollte das Ultimum hier als eines gedacht werden, zu dem sich das uns bisher so disparate Kosmikum der Natur mit dem Menschen vermittelt“ (GA 7, p. 477 sq.). Die kosmische wie finale Bestimmung der Materie aber darf nach Bloch nicht zur Annahme einer göttlichen Existenz verleiten, denn statt „transzendentem Fertigsein führt die Welt selber in ihrer objektiven Phantasie objektiv-reale Möglichkeit und darin ein ungeschlagenes Seinkönnen wie Utopie, ein Anti-Nihil im radikalen Ziel“ (GA 7, p. 478). Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger. 1964“. Ich beziehe mich vor allem auf p. 74 unten.

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2.2.8 Schelling im „Materialismus“-Buch Bevor Bloch – wie gezeigt – seine eigene Auffassung über Natur und Stoff darlegt, gibt er im gleichen Werk (Das Materialismusproblem) einen zweifach gegliederten historischen Überblick. Zum einen interessieren ihn „[d]ie Lehren vom EinzelnenAllgemeinen, den Stoff angehend“, zum anderen die diachrone Entwicklung vom Verhältnis der Philosophie überhaupt zur Materie. Innerhalb beider Traditionen erscheint ihm Schelling ebenso beteiligt wie aussagekräftig. Bloch positioniert dessen Traktierung in das zwölfte Kapitel mit der Überschrift: „Bunte und mehr ganzheitliche Vernunftformen, Reichtum und Grenze ihrer Differenzierung (Maimon, Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel)“. Mit Bedauern stellt er fest, daß Schellings „seinstrunkenem Blick“ Ängste aus „ganz andersseiender Gegend“ entgegentraten, Ängste nämlich vor jenem Einzelnen und vor der Individualität als ,Fleischlichkeit‘ (im biblischen Sinne). Bloch spielt auf Schellings pietistische Herkunft an sowie auf dessen früh sich abzeichnendes, furchtsames Interesse an der Provenienz des ,Bösen‘ in der Welt. Der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) verneine „Individuen als Zwecke, erst recht als mögliche Substanzen“. Korrekt belegt er dies mit dem entsprechenden Zitat: „Der Natur ist das Individuelle zuwider, sie verlangt nach dem Absoluten und ist kontinuierlich bestrebt es darzustellen ([Sämmtliche]Werke [I/]3, S. 43)“ (GA 7, p. 74)110. „Ausgeziert“ mit St. Martin, Baader und Böhme, sei die Freiheit-Schrift von 1809 die Vollendung des „Übergang[s] zum Teufel“, denn die Freiheit sei dort, „in ihrer Lossagung von der Notwendigkeit, das wahre Nichts und kann ebendeshalb auch nur Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit, das heißt der räumlichen und wirklichen Dinge produzieren; in diesem Urbösen soll nun allein, als Blendwerk, die Vereinzelung und ihre Einzelheit wohnen“ (GA 7, p. 74). Ungeachtet eines latent „stöhnenden Optimismus“, den der Verfasser ebenfalls vernimmt, sei Schellings Dialektik überwiegend „verdunkelt“, denn auch der erhaltene Partikularwille in den Individuen der Welt sei „rettungslos des Teufels“. Bei jenem nämlich läge auch nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung immer noch das Regellose im Grunde, als könnte es einmal wieder durchbrechen. „Dieses“, zitiert Bloch aus der Freiheit-Schrift, „ist an den Dingen die unbegreifliche [im Original: unergreifliche] Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt [SW I/7, p. 360]“ (GA 7, p. 75). Schelling habe die logisch 110 Wie bei allen im Materialismus-Buch herangezogenen Schelling-Zitaten verwendet Bloch zu deren Nachweis die Stuttgarter Cotta-Edition Sämmtliche Werke von 1856-61. Leider unterläßt er Angabe und Nummerierung der jeweiligen Abteilung; wir ergänzen dieses Versäumnis – ebenso wie die Corrigenda – in [Parenthese].

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schwierige Gestalt von Einzelheit und Vielheit mit einer „dämono-logischen, mit der Sündhaftigkeit des Engelsturzes und Apfelbisses“ verbunden. Der Hiatus zwischen Vernunft und Existenz, zwischen transzendentaler Konstruktion und Einzelinhalten würde nicht, wie bei Hegel, durch einen historisch-dialektischen Umbau dieser Vernunft zu schließen versucht, „sondern mythologisch verabsolutiert: der Hiatus ist das ,Urfactum‘ par excellence“ (GA 7, p. 76). Der Deduktionsort des Faktischen in der Welt sei bei Schelling „die philosophische Wolfsschlucht in Gott“: das „Urböse“, der „Urzufall“. Nachvollziehbar resümiert Bloch: „Dermaßen phantastisch überschlug sich das Kategorialproblem der Einzelheit-Allgemeinheit, mitten im ,System der Vernunft‘“ (GA 7, p. 76). Einzig Schopenhauer habe die Verteufelung des der Vernunft Gegebenen (ihr Zustoßenden, ihr Aufgedrängten) noch weiter getrieben, „dann aber nicht mehr am Einzelnen“ (GA 7, p. 77). Die Vielheit sei bei jenem Blendwerk; nur die Formen der Anschauung täuschten Vielheit vor, „nur die Brillen Raum und Zeit lassen facettieren“ (GA 7, p. 77). Der Stoff der Welt sei jenem das „bleibende Alleine des Teufels; im Wesen der Welt und ihrem allgemeinen Schiffbruch ist alles gleich“ (GA 7, p. 77 sq.). In Schopenhauer sieht der Autor hier (unter Vorbehalt) den ,zuendegedachten‘ und ,ausgeführten‫ދ‬ Schelling. Aus diesem Grunde behandelt er beide in dichter Folge. Das Neue und Erstaunliche an ihnen ist nach Bloch, daß Natur und Wille oder Natur als Wille und nicht der Geist das Allgemeine bilden. Bislang hätten nur die Philosophen des „Denkallgemeinen“ und Geistesprimats zum Pantheismus oder der „Alleinheitslehre“ hingedrängt. „Bei Schopenhauer aber brachte es der am meisten alogische von allen bisherigen Willensbegriffen dahin, die allgemeinste Substanz zu sein, so allgemein wie die spinozistische“ (GA 7, p. 78) – für Blochs Empfinden zu allgemein – wir sprachen oben darüber. Im zweiten Teil seines geschichtlichen Kursus, „Die Lehren von der Materie, die Bahnungen ihrer Finalität und Offenheit“, untersucht der Verfasser die Beziehung einzelner Philosophen zum „Stoffleben“. Im dreißigsten Kapitel, „Materie als Nicht-Ich und im Aufstieg Schwere-Licht-Leben“, behandelt er Fichte und Schelling, einen Abschnitt weiter Hegel. Kritisch äußert er sich zu Fichtes moralischer Deduktion des ,Dings an sich‘, welche die Materie zum versinnlichten Material der Pflicht mache. Das Stück Holz scheine so verstanden zu nichts anderem nütze, „als möglichst tugendhaft verschreinert zu werden“ (GA 7, p. 216). In scharfer Abgrenzung gegen Fichtes idealistische Konzeption von Materie wendet Bloch sich darauf lobend Schelling zu: „Wie anders aber wirkt ein Empfinden nun ein, das ganz einfühlend sich ins Draußen wandte“ (l. c., p. 216). Der „junge Freund Goethes“ habe statt des bearbeiteten Holzes als fremdem Nicht-Ich „Blumen, Bäume, Wälder, Schaffenstrieb überall, unserer eigenen Kraft verwandt“ gesehen. Natur, bis dahin erstarrt und quantifiziert, sei durch Schelling mit einem Male in einen „schöpferischen Fluß“ gesetzt worden. „Das Ich, wenn es zum Nicht-Ich griff, brauchte nicht

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erst auf sich zu reflektieren, es lebte intuitiv wie und auch als das Hervorbringende der Natur selbst“ (GA 7, p. 216). Eine äußerst synthetisierte, jedoch treffende Umschreibung der von Schelling eingeführten Idee einer bewußtlosen Naturtätigkeit, welche auch im menschlichen Subjekt am Werk ist. Der Weg zur Psychoanalyse ist hierin grundgelegt. Weiter freut Bloch sich über die Nähe zum materiebedingten und daher reflexionsunabhängigen Selbstbewußtsein. Das Ich erfährt Entlastung von der transzendentalen Überforderung, als allein-verantwortlicher ,Erzeuger‘ zu fungieren. Es wird nun als selbst zur Natur gehörig, als anerkannter Teil der Natur von dieser ,miterzeugt‘. Dem folgt gegen Fichte außerdem die von Bloch ersehnte Aufhebung der moralischen Fixierung und Verpflichtung des Ichs. Hier findet er jene „qualitative Mitwissenschaft“ als Quelle der Erkenntnis, welche er 1908 in seiner Dissertation über Rickert gesucht und gefordert hatte. Vom Autor hochgeschätzt ist deshalb eine Passage aus dem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), auf welche er auch in den Leipziger Vorlesungen eingehen wird: „Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen, ...denn philosophieren läßt sich über keinen Gegenstand, der nicht in Tätigkeit zu versetzen ist. Philosophieren über die Natur heißt, sie aus dem toten Mechanismus, worin sie befangen [er]scheint, herauszuheben, sie mit Freiheit gleichsam zu [] beleben und in eigene [eigne] freie Entwicklung versetzten [SW I/3, p. 13]“ (GA 7, p. 217). Was Bloch in seinem Enthusiasmus unterschlägt, ist die Tatsache, daß in der zitierten Stelle eine bereits fortgeschrittene und ausgearbeitete Form der Naturphilosophie vorliegt. Er suggeriert durch seine Darstellung, Schelling habe quasi aus dem Stand eine solche geschaffen. In Wahrheit jedoch bedurfte es einer Zeit der Reife und der Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen seiner Epoche, ohne die er sein eigenes Denken so gar nicht hätte entwickeln können. Bloch geht auf diese Periode, ein Raum von etwa vier bis fünf Jahren, 1794 bis 1799/1800, bedauerlicherweise nicht ein; im Resultat jedoch behält er recht. – Weiter kommentiert er, daß die transzendentale Tätigkeit, wodurch das Subjekt zum Objekt gelange, eigentlich Naturtätigkeit sei, und daß dies daher eine Umkehrung der Kantischen Methode bedeute. Statt – wie Kant – zu fragen, wie denn das Subjekt zum Objekt kommt, interessiert sich Schelling für den umgekehrten Weg, welcher vom Objekt zum Subjekt führt. An die Stelle der transzendentalen träte die „organisch-historische Konstruktion“, erklärt der Verfasser. Auf diese Weise werde „die dynamische Theorie der Materie (besonders in den Schriften von 1803 bis 1807) durch eine übermechanische, qualitative Potenzierungslehre der Materie ergänzt“ (GA 7, p. 219). Diese funktioniere so: der Geist, welcher in der Natur sich depotenzierte, kehre mittels ihrer zu sich selbst zurück. „Erste Potenz ist die Schwere, sie bindet und vereinigt die beiden Kräfte der Anziehung und Abstoßung; zweite Potenz ist das Licht, es löst jenes Band wieder auf und macht den undurchdringlichen Raum der schweren Materie wieder durchdringlich. Dritte Potenz [...] ist das Leben [...]; sein Dasein ist ständige Störung des

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Gleichgewichts, Metamorphose“ (l. c., p. 219). Bloch bezieht bei dieser zusammenfassenden wie richtigen Darstellung sich auf den Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799. Beeindruckt zeigt er sich nicht nur von Schellings Bekenntnis zur Materie als primum existens, sondern auch und vor allem, daß in derselben, wenn schon nicht der Wirklichkeit, so doch der Möglichkeit nach, alle Potenzen enthalten sind. Eigentümlich an dieser ersten Entwicklungsgeschichte der Natur allerdings sei „der Primat der organischen Materie im Verhältnis zur anorganischen. Dergestalt, daß statt allem mechanischen Materialismus gleichsam ein organischer herauskommt, samt der Sensibilität als erstem Anzeichen von Seele = Bewußtsein“ (l. c., p. 220). Diese Distinguierung beweise die Existenz einer Teleologie im Schellingschen System. „Wie die Pflanze in der Blüte sich schließt“ zitiert Bloch, „so die ganze Erde im Gehirn des Menschen, welches die höchste Blüte der ganzen organischen Metamorphose ist [SW I/4, p. 210]“ (GA 7, p. 221). Das Organische bei Schelling nennt er wortverwandt ein Organisierendes. Das aristotelische Prinzip in jenem scheint ihm hier endgültig freigelegt; mehr noch: Aristoteles habe die Pflanzen und Tiere als „nicht gelungene Menschen“ bezeichnet, Schelling habe diese Bestimmung auf die anorganisch vorliegende Materie selber angewendet. Selbst die tote Materie habe Schelling als nur schlafende Tier- und Pflanzenwelt betrachtet. Was die letzte Lösung des in verschiedenen Stufen und Potenzen zergliederten Naturrätsels anginge, „gleichsam das Ithaka ihrer Fahrt“, benenne das System des transzendentalen Idealismus „poetisch-mythologisch“ in folgenden Sätzen: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten [SW I/3, p. 628]“ (GA 7, p. 222).

Bloch findet Gefallen an Schellings Allegorien und einer „Hieroglyphendeutung“ der Natur. Er will ihn jedoch nicht allein regressiv analysiert wissen, sondern vor allem progressiv: „Die auferstehende ,Intelligenz‘ am Ende der Objektivität ist viel mehr als gärende Intelligenz des transzendentalen Anfangs“ (GA 7, p. 223). Kant, gemeinsam mit Fichte Adressat dieser Kritik, habe die Natur als dasjenige bestimmt, zu dem ein Subjekt lediglich „hinzugedacht“ werden könne. Schelling hingegen setze das Natursubjekt als Erzeugendes der Erkenntnis, Produzierendes der Natur und Auferstehendes der Geschichte zugleich. „Subjekt wie Ursprung der Materie ist die Unruhe nach dem Etwas-Sein, Objekt-Sein“ (GA 7, p. 223). Der Autor sucht nach dem „Sabbath der Natur“, das heißt nach der künftigen Ruhe der Identität von Subjekt und Objekt. Dies ist ihm die „kühnste Ausdehnung“ der „Möglichkeitsdefinition des Aristoteles“. Die Potentialität der Materie insgesamt reicht über

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die des Organischen hinaus; „der letzte ,Silberblick‘ der gärenden Weltmasse ist in ihr noch nicht erschienen“ (l. c., p. 223). Bloch überinterpretiert hier jedoch die Potenzenlehre Schellings und deutet sie für seine eigenen Zwecke, zu befangen ist er von den in ihr enthaltenen Begriffen der Möglichkeit und Tendenz. Er wiederholt an dieser Stelle sein Bedauern über Schellings ,Kehre‘ in den Schriften Philosophie und Religion (1804) und Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). In ihnen würde die Materie, nachdem sie einmal „aufgeschlossene Ideenwelt“ war, wieder zum „dunkelsten aller Dinge“, zum „Abfall der Ideen von Gott“. Jetzt, in Philosophie und Religion, bestimme Schelling: „[D]er Ursprung der Sinnenwelt ist nur ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar [SW, I/6, p. 38]“ (GA 7, p. 224). Eine solche Haltung, daß Freiheit aus dem „Abfall“ hergeleitet werde, sei bezeichnend für den Freiheits- wie Empiriebegriff der Restaurationszeit – so Blochs historisch-politische Erklärung. Er begrüßt jedoch den „Böhmesche[n] Tiefsinn“, welcher in der Betonung des Willenscharakters im Daß des Exsitierens, der nicht-rationalen Intensität im Fond des historischen Prozesses stecke. Leider lege Schelling dies Nicht-Rationale in einen „Urgott“ und nenne es „Ungrund“ (GA 7, p. 225). Nach gründlicher Untersuchung der Freiheit-Schrift wendet Bloch sich den Münchener Vorlesungen (wohl 1833/34) zu. Hier wird er, was die dialektische Unruhe zwischen Sein und Werden im Subjekt betrifft, fündig. Wir wollen die Vielzahl und Länge der Schelling-Zitate, welche unser Autor anführt und verarbeitet, wie bis jetzt auch, in der notwendigen Auswahl und Kürze, also nur insofern wiedergeben, als es zum Verständnis seiner Kommentare und Schlüsse erforderlich erscheint. Ausführlich geht er beispielsweise auf jene Stelle ein, wo Schelling die subjektive Selbstanziehung bespricht. Was ist gemeint? Jedem Subjekt ist es unvermeidlich, „sich selbst anzuziehen, denn nur dazu ist es Subjekt, daß es sich selbst Objekt werde“. Selbstanziehung bedeutet also Selbstobjektivierung als Reflexions- und Identitätsleistung. In ihr liegt für Schelling der Ursprung des „Etwasseins“ oder des objektiven, des gegenständlichen Seins überhaupt. „Aber als das, was es ist, kann sich das Subjekt nie habhaft werden, denn eben im sich Anziehen wird es ein Anderes, dies ist der Grund-Widerspruch, wir können sagen, das Unglück in allem Sein – denn entweder läßt es sich, so ist es als nichts, oder es zieht sich selbst an, so ist es ein anderes und sich selbst Ungleiches, – nicht mehr das mit dem Sein, wie zuvor, Unbefangene, sondern das sich mit dem Sein befangen hat – es selbst empfindet dieses Sein als ein zugezogenes und demnach zufälliges. [...] Diese ganze Konstruktion fängt also mit der Entstehung des ersten Zufälligen – sich selbst Ungleichen –, sie fängt mit einer Dissonanz an und muß wohl so anfangen [SW I/10, p. 101]“ (GA 7, p. 225 sq.).

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Für Bloch sans aucun doute eine der „tiefsinnigsten, auch unbekanntesten Stellen des deutschen Idealismus“, mehr noch: „Hegel stellt nichts Tieferes zur Seite“ (l. c., p. 226). Gut arbeitet er auch den wesentlichen Unterschied zu dessen Dialektik heraus: bei Schelling sei „der Stachel“ des dialektischen Prozesses, der „Grund-Widerspruch“ die erste Setzung des Seins und werde damit bereits in die Thesis, ja noch vor dieselbe gelegt und nicht nur in die Antithesis, in die Sphäre der ausgebrochenen Differenz. Für Schelling sei „das erste überhaupt Etwas-Sein“ Materie. Sie würde zur notwendigen Grundlage des in der unzureichend objektivierten Daßheit freien und nichts seienden Subjekts. Etwas enttäuscht konstatiert Bloch, daß Schelling in derselben Schrift die Materie in prima und secunda teilt: „Diese Materie, die nur das erste Etwas-Sein ist, ist allerdings nicht die Materie, die wir jetzt vor uns sehen, die geformte und mannigfach gebildete, also namentlich auch nicht die schon körperliche Materie; was wir als Anfang und erste Potenz, als das Nächste am Nichts bezeichnen, ist vielmehr selbst die Materie dieser Materie [...] [SW I/10, p. 104]“ (GA 7, p. 226). Bloch tröstet sich mit der Tatsache, daß obgleich Schellings ,Spätmaterie‘ „dedizierte Nicht-Schöpfung“ (l. c., p. 227) sei, indem sie dem ,Abfall‘ entstammt, „der Verstocktheit des In-sich-selbst-Seins und der Zusammenziehung“, sie dennoch ihre Bezüge zur ehemaligen Dynamik der Grundkräfte Repulsion und Attraktion nicht verloren habe. Auch die Kategorie des ,Abfalls‘ enthält noch jene Abstoßung als zentrifugales Motiv, auf das es Bloch in seiner eigenen Theorie ankommt. „Ein jeder [jedes] erkennt an, daß die Kraft der Zusammenziehung der eigentlich wirkende Anfang jedes Dinges ist [SW I/8, p. 344]“ – zitiert er dazu aus Die Weltalter und fügt hinzu: „Hier also bemerkt man jene helleren Lichter wieder, welche auch die körperliche Materie – obzwar sie ,das dunkelste aller Dinge‘, ,die Negation der Evidenz‘ geworden ist – in Einleuchtung zurückzuführen suchen; freilich in eine archaisch-mystische“ (GA 7, p. 228). Der Verfasser sieht Schelling die Verkehrung der Materie in einen ,Sündenfall‘ nach, solange ihr Wesen genügend Kräfte aufweist und -bringt, zum ,Anderen‘ hin, welches das ,Bessere‘ ist, sich abzustoßen. Gerade das ,Abfallhafte‘ inauguriert so Dialektik wie Hylozoistik der Natur. Versöhnliches findet Bloch auch und nochmals in der Freiheit-Schrift, wenn Schelling dort von der Vermittlung und Erlösung der Natur durch den Menschen schreibt: „Wir haben eine ältere Offenbarung als jede geschriebene, die Natur. Diese enthält Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet hat, während die der geschriebenen ihre Erfüllung und Auslegung längst erhalten haben [SW I/7, p. 415]“ (GA 7, p. 229). Dem zustimmend fügt Bloch hinzu: „nicht nur die Auslegung steht noch aus, sondern ebenso die Erfüllung“. Die Natur sei nicht nur Vorgeschichte der den Menschen bereits gewordenen Geschichte. Das materielle Universum sei nicht nur eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, nachdem man ihr Rätsel durch das Wort Mensch gelöst habe, das sei bei Hegel so gewesen, sondern die – und er zitiert

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wieder aus der Freiheit-Schrift: „ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt [SW I/7, p. 293]“. Auch die „Krisis des jüngsten Tages“ würde – dahin weise ihn diese Stelle – beim „Apokalyptiker Schelling“ die Materie „als Phlegma“ nicht völlig ausscheiden lassen. Im Gegenteil, auch in der Spätphilosophie erhalte sie ihren Status, sei nie wirklich abgegolten. Selbst das „Ende der Dinge“ denke jener nicht gänzlich losgerissen von der Natur. Dennoch bliebe diese bei jenem „eine Kruste der Idee, nicht ihr Substrat“ (GA 7, p. 229). Damit demonstriert Bloch illusionslos die verbliebene Differenz zwischen seiner eigenen und Schellings Vorstellung von Materie. Für ihn fällt die Idee mit jener vollständig in eins, gibt es nur Ineinander, kein Außerhalb. Unbeschadet dessen hofft er gezeigt zu haben, daß auch im Deutschen Idealismus „die Materie keineswegs quantité négligeable ist oder bloße Kruste, deren Wahrheit wäre, keine zu haben. Sie gilt hier als der produzierende Anstoß des Etwasseins und hat – in der bisherigen Entwicklung der Natur – ihren Lohn noch nicht dahin“ (GA 7, p. 229). 2.2.9 Bleibend Unterscheidendes im „Prinzip Hoffnung“ Im amerikanischen Exil entstanden „in unbeachteter Ruhe“ nacheinander Das Prinzip Hoffnung, Naturrecht und menschliche Würde sowie Subjekt-Objekt. Im Prinzip Hoffnung finden sich selten Einträge zu Schelling; dennoch vertiefen und veranschaulichen dort sich noch einmal die eben angedeuteten Unterschiede zwischen diesem und Bloch. Der eröffnet sein Hauptwerk mit einer Kritik an Platon sowie am Idealismus überhaupt. Es ist der Blick zurück, der ihn – im übrigen auch an der Psychoanalyse, welcher denn unversehens der zweite Teil („Grundlegung“) gewidmet ist – zu stören scheint. „Es war letzthin immer wieder die Decke der Platonischen Anamnesis über dem dialektischoffenen Eros, welche die bisherige Philosophie einschließlich Hegels vom Ernst der Front und des Novum abgehalten, kontemplativ-antiquarisch abgeschlossen hat. So brach die Perspektive ab, so entspannte Erinnerung die Hoffnung. So kam die Hoffnung gerade auch an der Erinnerung nicht auf (an der Zukunft in der Vergangenheit)“ (GA 5,1, p. 17).

Der Autor sieht die Schau nach vorn durch die zurück bedroht. So sei das Wissen bisher nur auf Vergangenes gerichtet gewesen, das Neue bliebe „außer seinem Begriff“ und deshalb eine „Verlegenheit“. Die Welt jedoch sei „voll Anlage zu etwas, Tendenz auf etwas, Latenz von etwas, und das so intendierte Etwas heißt Erfüllung des Intendierenden. Heißt eine uns adäquatere Welt, ohne unwürdige Schmer-

154 | O BJEKT -S UBJEKT zen, Angst, Selbstentfremdung, Nichts.111 Diese Tendenz aber steht im Fluß als einem, der gerade das Novum vor sich hat. Das Wohin des Wirklichen zeigt erst im Novum seine gründlichste Gegenstandsbestimmtheit, und sie ruft den Menschen, an dem das Novum seine Arme hat“ (GA 5,1, p. 17).

Was Bloch sagt, mutet seltsam an: daß Hoffnung an der Erinnerung nicht aufzukommen vermag, gar an ihr scheitern könne. Er selbst fordert im gleichen Werk eine spes docta, welche sich als (durch Erfahrung) belehrte Hoffnung von ,blinder Zuversicht‘ zu unterscheiden hat. Wie jedoch soll ,Belehrung‘ anders möglich sein, wenn nicht durch Reflexion auf die Vergangenheit? Dies bleibt bei Bloch ebenso paradox wie offen. Das einzelne (Ding-) Gewordene, Erstarrte läßt sich nicht ,verflüssigen‘, indem es in einer allgemeinen ,Prozeßmaterie‘ und ,Vorwärts-Bewegung‘ Aufhebung findet. Gewiß, gerade das ,Denken in Warenform‘ und das ,ZurWare-Werden aller Menschen und Dinge‫ ދ‬erhellt: „die Denkform Ware ist selber die gesteigerte Denkform Gewordenheit, Faktum. Über diesem Faktum wird das Fieri besonders leicht vergessen und so über dem verdinglichten Produkt das Produzierende, über dem scheinbaren Fixum im Rücken der Menschen das Offene vor ihnen“ (GA 5,1, p. 329). „Über dem Produkt das Produzierende nicht vergessen“ ist 111 Die Abschaffung des Nichts, welche Blochs Utopiegedanke fordert, ist insofern problematisch, als sie doch notwendig eine Melancholie der Erfüllung mit sich führt, da die psychische Verfaßtheit des Menschen nicht auf eine vollständige Aufhebung seiner Bedürfnisse und Wünsche hin angelegt ist. In der Melancholie der Erfüllung blockiert die Natur sich sozusagen selbst. Schon Freud bemerkte die Nähe von Eros und Thanatos, von Glücksempfindung und Todessehnsucht. „Der Einbruch des Traums in die Wirklichkeit bleibt nicht ohne Trauma. Etwas fehlt [B. Brecht] – dies gilt auch dann, wenn das Ziel die Phantasie des Wunsches übertrifft“ (H. Gekle: Wunsch und Wirklichkeit, p. 45). Daß die absolute Erfüllung „die Ruhe des Friedhofs ist“, konstatiert Gekle, „hätte er [Bloch] selber empört von sich gewiesen“, doch scheint ihr „– abgesehen von den verblüffend todesschwangeren Worten, in denen Bloch den letzten Inhalt utopischer Hoffnung umschreibt –, daß mit dem fremden Anstoß, der das Leben setzt, man zugleich das Leben selber aufhebt. Hart stoßen sich die Gegensätze im Raum der Vermittlung. In ihrer metaphysischen Konsequenz jedoch fallen sie zusammen: Im Konzept des Todestriebes hat Freud seine Hypothese vom regressiven Drang eines Triebes bis zur äußersten Konsequenz verfolgt: Bloch dagegen legt seine ganze Intention in das Aufspüren progressiver Akte, die schließlich im Wunsch nach Vollkommenheit mit der Verführungskraft des Todestriebes sprechen. Die absolute Versöhnung von Wunsch und Wirklichkeit, auf der Bloch beharrt, sucht ihre Erfüllung in der Rückkehr zur Natur; Utopie und Todestrieb werden ununterscheidbar“ (l. c., p. 49 sq.).

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ein Zitat Schellings, welches Bloch auch in seiner Leipziger Vorlesung verwendet. Er setzt es hier in einen aktualisierten Kontext, ohne jedoch den vermeintlichen Urheber zu nennen. Ob Schelling aber, wenn er es denn gesagt, auch so gemeint hat? Wir werden dies erst im nächsten Kapitel – unter Einsicht des Quellenwerkes – prüfen können. Jedenfalls kommt der berechtigte Verdacht auf, daß Bloch jenes „Fixum im Rücken“ deshalb unergründet läßt, damit die ,freie Fahrt‘ hin zur ,konkreten Utopie‘ es nicht gefährde. Die Historie selbst wird ihm bisweilen zur ,Verlegenheit‘; er vernachlässigt das ,Wissen-Vergangenheits-Verhältnis‘ zugunsten eines ,Wissen-Tendenz-Verhältnisses‘. Seine Philosophie scheint so sehr am Novum ausgerichtet und fixiert, daß er allein im ,Ablauschen‘ des Gegenwärtigen und seiner futurablen ,Latenzen‘ sich verliert. In dieser Hinsicht könnte er Schellings ,Kooperationswille‘ überschätzt haben. Bezüglich eines ,archäologischen‘, also rückwärtsgerichteten Schauens sowie der Analyse unbewußter Vorgänge steht jener sogar deutlich näher bei Freud als bei Bloch. Gerade die ,erstarrte‘ wie auch die ,heraufkommende‘ Materie erspart dem Logos in und an ihr nicht die Retrospektion auf das transzendentale Subjekt und sein Einzelschicksal als Geschichte und Erinnerung. 2.2.10 „Subjekt-Objekt“ Während Lukács in seiner Monographie Der junge Hegel sich weitläufig über Schelling ausläßt, indem er im wesentlichen Hegels Kritik an jenem wiederholt und affirmiert, trägt in Subjekt-Objekt es in umgekehrter Weise sich zu. Mit Hilfe Schellings erörtert Bloch die Mängel des Hegelschen Systems:112 „Die Dinge sollen nun112 Für diese Haltung wird Bloch in einem „Internen Gutachten“ zu Subjekt-Objekt im Kulturellen Beirat für das Verlagswesen (Mai 1950) scharf kritisiert. Lukács’ Auslegung wird dort gegen Bloch verteidigt. Die Wahrnehmung des Gutachtens ist paradigmatisch für die Schelling- bzw. Hegelrezeption der DDR. Blochs Schrift halte einen Vergleich mit „einigermaßen fortschrittlichen zeitgenössischen Hegel-Interpretationen, wie z. B. denen von Cornu und Lukács, schon nicht mehr aus. Der Hauptfehler des Buches besteht jedoch darin, daß es die großartigen Errungenschaften der wissenschaftlichen Hegelforschung in der Sowjetunion ganz und gar ignoriert, daß auf die entscheidenden Äußerungen von Lenin, Stalin und Shdanow über Hegel überhaupt nicht Bezug genommen wird. [...] Die Schrift ist nicht wissenschaftlich, denn sie gründet sich nicht auf das ,Fundament der neuesten Errungenschaften des dialektischen und historischen Materialismus‘“ („Ich möchte das Meine …“, Dokument 1, p. 87). Der Aufbau-Verlag verzögerte daraufhin Herstellung wie Auslieferung von Subjekt-Objekt um ganze zwei Jahre. Die von Bloch nach Vergriff des Buches gewünschte Neuauflage wurde durch den

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mehr dort beginnen, wo das reine Denken aufhört. [...] Aus dem stillen Logischen soll nun selber ein Zustand entspringen, wo Steine fallen, Mägen verdauen, Menschen sich umbringen. Hegel hat merkwürdigerweise die riesige Frage nach dem ,Anstoß‘ zu alledem nicht verspürt“ (GA 8, p. 203). Der Verfasser begrüßt ausdrükklich die Entdeckung des Qualitativen der Natur, dem in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte sogar der Initiator der Differenzialrechnung, Leibniz, einen Raum zugestanden habe. „Wie erst, als dieses nicht-mechanische Wesen neu anzudringen oder aufzugehen schien. Anschaulich, poetisch dazu, mit neu erwachtem Naturgefühl, mit Sinn fürs Quellende unten, für Farben oben. Von hier aus Goethes Abneigung gegen pure Zerlegung, gegen Hebel und Schrauben als Werkzeuge des Experiments, gegen die Leichenbank, welche diese Werkzeuge von der Natur übrigzulassen schienen. Von hier aus aber auch die romantische Naturphilosophie, die vom jungen Schelling entfesselte, dieser Exzeß an Qualitäten, Wertinhalten, gewiß auch an tollen Phantastereien“ (GA 8, p. 209 sq.).

Den späten Schelling weiß Bloch ebenso zu schätzen, auch wenn jener nicht mehr als Materialist sich zu erkennen gibt. Schelling und Kierkegaard, „die selber idealistischen, obzwar ,existentiell‘ sein wollenden Kritiker“ hätten mit materieller Existenz kaum etwas gemein (GA 8, p. 389). „Und der späte Schelling nahm die Wendung zum nicht-geistigen Erdenrest, indem er gleichzeitig das Mythologie-Amt einer immer vernunftfeindlicheren Reaktion bekleidete. Er lehrt das Existentielle als den unvordenklichen ,Anstoß‫ދ‬, als das ,dunkle Quod‘ der Welt, das zwar das Drängende, Tätige, Setzende in ihr ausmacht, doch als ewig Regelloses dem Verstand auch ewig undurchdringbar bleibt“ (GA 8, p. 389). Dies sei sehr wohl tiefsinnig gemeint, so Bloch, jedoch habe jener dadurch auch nicht aus der Mythologie „herausfinden“ wollen, im Gegenteil: „Auch der von Schelling beeinflußte Anti-Logismus Kiekegaards hat einen ganz anderen Gegenstand als der Anti-Idealismus Feuerbachs, trotz des gemeinsamen Nichtwollens der Hegelschen ,Abstraktion‘“ (GA 8, p. 389). Einige Abschnitte weiter bekräftigt er diese These: „Die ,Existentialphilosophie‘, die der spätere Schelling so gegen Hegel aufruft, hat mit wirklicher Existenz mithin überhaupt nichts mehr gemein; immerhin hat sie das Willensmotiv im ,Quod sit‘ oder Existieren nicht vergessen. Sie macht so ein Nicht-Nur-Logisches kenntlich, das Hegels System wohl anzeigt“ (GA 8, p. 397). Walter Schulz bestätigt Verlagsleiter Klaus Gysi ebenfalls gezielt verschleppt. Ähnlich verhielt dieser sich auch bei der Publikationsvorbereitung zum dritten Band von Prinzip Hoffnung. Das Ränkespiel endete, indem Bloch kurz vor seiner Übersiedelung in die BRD die Zusammenarbeit mit Gysi und dem Aufbau-Verlag kündigte.

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diese Einschätzung, wenn er in seiner Studie über die „Vollendung des Deutschen Idealismus“ schreibt, daß Schelling (in der Philosophie der Offenbarung) eindeutig erkläre, daß die Wissenschaft der Vernunft „von sich aus zu allem Sein gelangt und nichts mehr bloß aus der Erfahrung aufnimmt [SW II/3, p. 57]“ und derselbe außerdem sage: „Die rationale Philosophie hat ihre Wahrheit in der immanenten Nothwendigkeit ihres Fortschritts; sie ist so unabhängig von der Existenz, daß sie ...wahr seyn würde, auch wenn nichts existirte [SW II/3, p. 128]“. Der reife Schelling bleibe eben darin Idealist, daß er eine unbedingte Vernunft zum Ausgangspunkt nehme, die a priori die Wesensgehalte alles Seienden zu konstituieren vermag. „Gleichwohl räumt der späte Schelling der Erfahrung eine bestimmte Aufgabe ein. Die Erfahrung hat kontrollierende und bestätigende Funktion. Sie prüft unseren Vernunftentwurf nach, indem sie in der vorhandenen Wirklichkeit nachsieht, ob der a priori abgeleitete Wasgehalt dort begegnet.“113 Schulz konstatiert, daß die Erfahrungswirklichkeit für Schelling lediglich vorphilosophische Faktizität sei und jener dieselbe mit der Welt der Vorstellungen gleichsetze. Es zeige sich deutlich, „daß die Erfahrungswirklichkeit als solche, d. h. insofern sie je einzeln unmittelbar daßhaft begegnet, nicht Sache der Philosophie ist, und somit auch nicht Sache der positiven Philosophie, insofern sie Philosophie ist“114. Für Bloch ist relevant, daß auch in Schellings Spätphilosophie keine Parteinahme für die Priorität ,reiner Logik‘ zu erkennen ist, sondern jener dort, ebenso wie in der Frühphase, Raum läßt für ,irrationales Werden‘ und ,Nicht-nur-Logisches‘. Auf diese Weise erhalte Schelling die Freiheit als geschichtliche Offenheit ,nach vorne‘ – das genügt ihm zu dessen Verteidigung. Fruchtbar habe die Hegelkritik Schellings auch insofern sich ausgewirkt, als die „bemerkenswerte Kategorienlehre“ Eduard von Hartmanns daraus hervorgegangen sei, „denn diese entnahm eben aus Schellings dunklem Urgrund das kategoriale Entwicklungsprinzip, wodurch kein Logisches sich in Kategorien entfalten könne, wenn ihm nicht ein Alogisches (ein Intensives, Willenhaftes) den Anstoß dazu gäbe“ (GA 8, p. 398). Für unseren Autor steht fest: „Schelling und mit ihm sein Epigone Eduard von Hartmann haben, wenn auch auf höchst metaphysische, gar mythologische Weise, ihrerseits gezeigt, daß ein Weltprozeß, wie ihn Hegel lehrt, aus reiner Idee sich nicht fortbewegen, sich nicht einmal bewegen kann. ,Selbstbewegung des Begriffs‘ ist auch nach Schelling genauso unmöglich wie ein Perpetuum mobile; der Begriff als Weltwesen käme ohne Nichtbegriffliches, Nichtlogisches, das reizt und anstößt, über ein dürres A = A keinen Schritt hinaus. Er entwickelte aus sich, mit reiner Parthenogenesis, nicht einmal die allgemeinsten logischen Beziehungsformen oder abstrakten Kategorien 113 W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus, p. 323. 114 W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus, p. 324.

158 | O BJEKT -S UBJEKT (wie Etwas, Anderes, Quantum, Kausalität), die Hegel als ,Gedanken Gottes vor Erschaffung der Welt‘ in seiner Logik hinstellt. Geschweige, daß er dazu imstande wäre, gesellschaftlichmaterielle Verhältnisse und Daseinsformen, also reale Kategorien (wie Bedürfnis, Vertrag, Griechenland, Barockmalerei, Hinduismus und dergleichen mehr) aus sich zu entlassen. Das ist in der Kritik enthalten, die Schelling an Hegel anstellte: das Rationale darf nicht mit dem Realen, der logische Faktor nicht mit dem subjekthaft-intensiven verwechselt werden“ (GA 8, p. 398).115

Der spekulative Materialismus Blochs ist wie die Philosophie Schellings (des frühen wie des späten) ein „Denken aus dem Grunde“ (Wüstehube).116 In der Vorrangigkeit des Quodditativen, Subjekthaften besteht ihre Gemeinsamkeit. Ob am Anfang Materie, Wille oder Vernunft stehen, spielt eine untergeordnete Rolle. Der Zwischenraum von Daß und Was, von absolutem und relativem Sein, bleibt dennoch ein hiatus irrationalis; das Residuum des „Alogischen“ erhält sich. Auch im Werden der Geschichte bleibt etwas dunkel, nicht nur im „gelebten Augenblick“. Bloch weiß darum. Er und Schelling sind gerade dieses Wissens wegen dem ,Weltprozeß‘ gegenüber geöffneter als Hegel und Lukács. Sie fürchten sich nicht vor ei-

115 Der philosophisch-systematische Unterschied, welcher für Bloch zwischen Schelling und Hegel, dessen „Kollegen in Minerva“, besteht, die Präferenz also von Natur oder Geschichte, drückt sich auch und schließlich in der persönlichen Beziehung aus, welche er gegenüber beiden einnimmt. Der erste Satz, mit welchem er seine Vorlesungen über Hegel in Leipzig beginnt, lautet bezeichnenderweise: „Wir kommen nun zum Großmeister der deutschen klassischen Philosophie, und während wir bei Schelling bewundernd gerührt sind, gibt es hier keine Rührung, sondern nur höchste Anerkennung“ (LV 4, p. 257). 116 Eberhard Braun macht zurecht auf die ,Anschlußfähigkeit‘ des Blochschen Denkens im Hinblick auf das Erbe der ,traditionellen Philosophie‘ aufmerksam, indem er es eindeutig als Metaphysik identifiziert: „Die Philosophie der Utopie begann als religiöser Idealismus, welcher das messianische Ende noch konventionell metaphysisch als intelligible Welt verstand. Wenn Bloch den Bruch mit der bisherigen Metaphysik als Verweltlichung bestimmt, als ,die Kraft, auf die Füße zu stellen‘, so gilt diese Bewegung auch für die Entwicklung seines eigenen Denkens. Bloch hat an metaphysischen Intentionen unverwandt festgehalten. Er wollte keine Aufhebung der Metaphysik, erst recht keine Aufhebung der Philosophie mit dem Akzent der Negation. Er hatte eine innere Verwandlung der Metaphysik im Sinn, und er verzeitlicht paradox die absolute Wahrheit in Utopie, versetzt sie an das messianische Ende der Zeit“ (E. Braun: „Aufhebung der Philosophie“, p. 36).

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ner Welt zwischen Wille und Vorstellung, vor einer Materie mit Subjektcharakter – darin besteht die Differenz. 2.2.11 Die „Leipziger Vorlesungen“ 1948 erhielt Bloch einen Ruf als Ordinarius für Philosophie sowie als Direktor des Philosophischen Instituts an die Universität Leipzig. Es handelte sich um die Nachfolge von Hans Georg Gadamer, welcher einer Berufung nach Frankfurt am Main gefolgt war. Noch von Cambridge, Massachusetts, aus teilt Bloch im September 1948 der Universität Leipzig den vorläufigen Inhalt seiner auf drei Semester-Wochen-Stunden hin angelegten Vorlesung für das Wintersemester 1948/49 sowie deren genaue zeitliche Aufteilung mit. Als Thema gibt er an: „Fichte, Schelling, Hegel“, als wissenschaftliche Zielsetzung: „Darstellung der Entwicklung der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehung in der deutschen klassischen Philosophie“. Ähnlich wie im Materialismus-Buch wird Schelling zwischen Fichte und Hegel, als deren Zwischenglied und ,Vermittler‘ behandelt. Insgesamt sind für Schelling neun Stunden vorgesehen, welche er wie folgt festlegt: „Übergang von der Transzendental- zur Naturphilosophie: 1 Stunde; [...] Naturphilosophie: 3 Stunden; [...] Freiheitsproblem und Reaktion: 3 Stunden; [...] Philosophie der Mythologie und Offenbarung: 2 Stunden“. Als begleitende Literatur empfiehlt er: „Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie; Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie; Erdmann, J. E. Geschichte der Philosophie II; Ausgewählte Originale Fichtes, Schellings, Hegels.“117 Die Wahl des Stoffes allein, den er für sein Leipziger Debüt wählte, erschließt uns ohne Mühe ein weiteres Mal den Stellenwert, den nicht nur der Deutsche Idealismus, sondern auch und besonders Schelling für ihn besaßen. Blochs Ankunft in Leipzig verzögerte sich jedoch aus administrativen Gründen. Er traf dort erst am 10. Mai 1949 ein. Ungeachtet des späten Dienstantritts finden wir im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig vom Sommersemester 1949 vor dem Namen Bloch den Eintrag: „Philosophische Grundfragen, Mo [und] Fr 8-9 [Uhr]“ (p. 44). Dahinter verbirgt sich entweder das in seinem Schreiben angekündigte und vorbereitete Thema „Fichte, Schelling, Hegel“ oder er hatte sich für einen anderen Inhalt entschieden. Im Wintersemester 1949/50 heißt es zu seinen Vorlesungen: „Philosophische Hauptfragen Di 16-18 [Uhr]“, außerdem: „Hegel Fr 16-18 [Uhr]“ (p. 44). Dieselbe Veranstaltung wurde nicht nur für Hörer der philosophischen, sondern auch der juristischen Fakultät angeboten. Im Sommersemester 1950 scheint Bloch sich endgültig entschieden zu haben, einen voll117 „Hoffnung kann enttäuscht werden“. Ernst Bloch in Leipzig, Dokument 25, p. 84 sqq.

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ständigen historischen Durchgang zu unternehmen. Von 1950 bis zu seiner Zwangsemeritierung am 31. August 1957 – er hatte nicht nur seit längerem die Hochschulpolitik der SED öffentlich kritisiert, sondern auch mit dem ,Ungarnaufstand‘ sich solidarisch erklärt und gegen die Verhaftung von Georg Lukács protestiert – liest er die gesamte Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart in einem einzigen, zusammenhängenden Zyklus. Er beginnt mit der dreistündigen Vorlesung: „Geschichte der griechischen Philosophie“ (p. 44), welche er im Wintersemester 1950/51 als zweistündige „Geschichte der hellenistischen und der mittelalterlichen Philosophie“ fortsetzt. Einstündig bietet er zusätzlich „Die sozialen Utopien“ an (p. 48). Begleitend zu den Vorlesungen werden dem geschichtlichen Stoff entsprechende Kolloquien, Übungen und Seminare angeboten. Seit der Umnamung der Leipziger Universität im Jahre 1953 in Karl-Marx-Universität wurde das Curriculum in sogenannte „Studienjahre“ (mit Frühjahrs- und Herbstsemester) neu eingeteilt. Während für das Studienjahr 1954/55 zu Blochs Lehrangebot der Eintrag: „Geschichte der Philosophie bis Renaissance 4st.“ und eine Zeile darunter: „Seminar dazu 2st.“ (p. 109) sich findet, heißt es in allen folgenden Vorlesungsverzeichnissen zu demselben jeweils nur noch: „Geschichte der Philosophie 4st.“. Genauere Inhalte werden nicht bekanntgegeben. Das mag von Bloch selbst beabsichtigt sein, da er sich zu jener Zeit bereits im Konflikt mit der SEDFührung befunden hatte. Er suchte vermutlich den genaueren Inhalt der Vorlesungen zu verschleiern, um weitere Provokationen zu vermeiden und wissenschaftlich wie politisch flexibler zu sein. Wäre der Name des in der DDR als reaktionär verrufenen ,Bürgers‘ Schelling im Studien-Kommentar der Fakultät abgedruckt und angekündigt worden, hätte dies bereits im Vorfeld Komplikationen verursachen können. Die für uns relevante Lektion über Schelling hat Bloch im April 1956 gehalten.118 Er benötigte dafür mindestens neun oder höchstens zwölf Stunden. Die in der Suhrkamp-Ausgabe wiedergegebenen Inhalte der Vorlesung stimmen nicht nur vom zeitlichen Umfang her, sondern auch in ihrem Grundriß und Aufbau mit den Angaben aus Blochs Schreiben von 1948 überein. Die Vorlesungen sollten später in der dreibändigen Einheit Geschichte der Philosophie (voll. 14-16 der Gesammelten Werke) beim Aufbau-Verlag erscheinen. Das Projekt scheiterte jedoch am politischen Widerstand des Verlagsleiters Klaus Gysi119. Zu dessen Verzögerungstaktik gehörte schließlich, daß er versuchte, den 118 Cf. E. Braun: „Editorische Notiz“, in: LV 4, pp. 452-[454]; p. 453. 119 „Gysi, Klaus, Politiker, Diplomat, Verleger, [Vater von Gregor Gysi, MdB, seit 2005 Fraktionsvorsitzender der ,Linken‘] * 3.3.1912 Berlin, † 6.3.1999 Berlin. G[ysi], Sohn eines Arztes, […] trat 1931 in die KPD ein. 1931-35 studierte er Volkswirtschaft an den Universitäten Frankfurt/Main, Berlin, Innsbruck und Paris. 1939/40 in einem französi-

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Akademie-Verlag in Berlin zu einer Übernahme der Publikation zu bewegen. Dies teilte er Bloch in einem Schreiben vom 8. Januar 1960 mit.120 Auch im AkademieVerlag kam es jedoch nicht zum Erscheinen des Werkes. Für die Gesamtausgabe des Suhrkamp-Verlages entstand erst 1977, noch zu Lebzeiten des Autors, mit dem Band zwölf ein Kompendium unter dem Titel Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte. Aus Leipziger Vorlesungen. Der Ausdruck Zwischenwelten war sorgfältig gewählt. Das Buch „wollte traditionelle Gewichtungen, Wertungen, Akzentuierungen der Philosophiegeschichte durch Umwertungen unterlaufen. Die vielen Zwischenlagen zwischen den Haupttönen der philosophischen Entwicklung sollten daraufhin geprüft werden, ob sie nicht vielleicht überhörte Haupttöne wenigstens anklingen lassen. Daher der Titel mit dem wichtigen Zwischen.“121 Erst 1985 kam es bei Suhrkamp in Frankfurt am Main unter Mitarbeit von Blochs ehemaligem Tübinger Assistenten Eberhard Braun zu einer ungekürzten vierbändigen Taschenbuch-Edition. Allerdings fehlt in dieser, welche auf der Grundlage von Mitschnitten auf Tonträgern entstanden war, ein Fragment der Schelling-Vorlesung (eine Doppelstunde über die Identitätsphilosophie und ein „kurzes Stück“ der Potenzenlehre), was von den Herausgebern ausdrücklich erwähnt und bedauert wird. Blochs Sprache und Stil wirken darin verständlicher, weil sie vom gesprochenen Gedanken herrühren. Die Ausgabe enthält nahezu vollständig alle Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, welche er von 1950 bis 1956 gehalten hat. (Der Zyklus endet inhaltlich bei Marx. Die Vorlesungen, welche Bloch noch 1957 über die Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gehalten hatte, wurden aus redaktionellen Gründen weggelassen.122) Die Suhrkamp-Edition dient unserer Untersuchung als Textgrundlage. schen Lager interniert, arbeitete er danach illegal für die KPD in Deutschland. 1945 wurde er Bürgermeister in Berlin-Zehlendorf, übernahm wenig später als Chefredakteur die Leitung der kulturpolitischen Zeitschrift ,Aufbau‘ und wechselte 1948 als Sekretär in die Leitung des ,Kulturbundes für die demokratische Erneuerung Deutschlands‘, dessen Präsidium er 1957-77 angehörte. 1949-54 und 1967-90 war er Mitglied der Provisorischen Volkskammer bzw. der Volkskammer der DDR, 1952-57 Abteilungsleiter im Verlag ,Volk und Wissen‫ ދ‬und leitete 1957-66 den Aufbau-Verlag in Berlin. 1959-66 stand er dem Börsenverein der deutschen Buchhändler zu Leipzig vor. 1966-73 war G[ysi] Minister für Kultur, 1973-78 erster DDR-Botschafter in Rom und 1979 Generalsekretär des DDR-Komitees für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit. 1979-88 war er der vorletzte Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR“ (DBE 4, p. 293). 120 Cf. „Ich möchte das Meine …“, Dokument 118, p. 80. 121 „Vorwort der Herausgeber“, in: LV 4, pp. 5-8; p. 5. 122 Cf. E. Braun: „Editorische Notiz“, in: LV 4, pp. 452-[454]; p. 453.

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Innerhalb der Leipziger historischen Gesamtschau wird Schelling – wie oben angedeutet – nicht nur als geistiger Mittler zwischen Fichte und Hegel, sondern auch als Mitschöpfer jener Dialektik gewürdigt, von welcher später der historische Materialismus profitieren sollte: „Man stellt Hegels Philosophie so dar, als wäre sie aus dem Haupt der Minerva entsprungen, während, wie man fast ohne Übertreibung sagen kann, kaum ein Satz bei Hegel so wäre, wie er ist, wenn es nicht Schelling gegeben hätte. Nicht von Fichte zu Hegel geht der Weg, sondern Schelling war unbedingt notwendig, auch für die Dialektik“ (LV 4, p. 189). Bei der biographischen Umschau, welche Bloch zu Beginn unternimmt, weckt vor allem Schellings Tübinger Magisterdissertation über das dritte Kapitel des Buches Genesis, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum (SW I/1, pp. [1]-40), von 1792 seine besondere Aufmerksamkeit. Die spätere Beschäftigung mit ,Mythologie‘ und ,Offenbarung‘ sieht er zu Recht in ihr vorgezeichnet: „Sein erstes Thema ist bezeichnenderweise der Sündenfall, sein erstes Problem also das Problem der Freiheit“ (LV 4, p. 190). Ungeachtet der religiösen und reaktionären Tendenzen habe gerade die Spätphilosophie aber zu einer Wiederentdeckung „der großen Ketzereien“ nach Weise des Joachim von Fiore und anderer Apokalyptiker verholfen. Eingehend beschreibt Bloch seinem Leipziger Publikum außerdem die Anwesenheit des jungen Friedrich Engels in Schellings Berliner Vorlesungen. Bei der Explikation der philosophischen Inhalte dringt er rasch zur Identitätsphilosophie vor. Bloch rühmt den Maimonschen Gedanken von der ,bewußtlosen Erzeugung‘ des Gegebenen, welchen Schelling zunächst transzendental übernimmt, um ihn schließlich naturphilosophisch zu wenden. In der menschlichen Kultur erwache so die Natur aus ihrem Schlaf und gelange das Nicht-Ich zum Ich, das Objekt zum Subjekt. Die Verlegung des Absoluten in ein Vorher und Außerhalb des Ichs hätte Schelling – über Maimon und Fichte – die entscheidende Umkehrung der transzendentalen Erkenntnistheorie leisten lassen. Die Entdeckung der Natur und vor allem ihrer Produktivität wie Prozeßhaftigkeit fällt für Bloch mit der ,Geburt der Chemie‘ und anderer Wissenschaften zusammen. Das achtzehnte Jahrhundert habe wesentlich das Wort progrès, ,Fortschritt‘ gebraucht. Der Begriff Prozeß hingegen sei neu aufgekommen und stamme ursprünglich – vor seinem Mißbrauch durch die Justiz – aus der Chemie und Alchimie. „Eben die Weltretorte, das Gärende kam hinein, zum Unterschied von dem rein additiv, mechanisch geradlinig sich Verbessernden, das in dem Wort Progreß oder perfectio, perfectibilitas, Vervollkommnungsfähigkeit doch noch lag“ (LV 4, p. 202). Mit dem ,Gärenden‘ ist jene ,qualitative Geladenheit‘ gemeint, welche die romantische Naturphilosophie als solche überhaupt auszeichnet. Das Prozeßhafte ist jener unbewußte, raum-zeitliche ,Vorgang‘, welcher hinter dem Objekt und dem Subjekt steht, welcher sie verbindet und dem sie sich nicht entziehen können. Somit ermöglicht und relativiert zugleich der Prozeß jede Form von Erkenntnis. Der Pro-

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zeß ist das Daß der Bewegung, der Progreß ihre Richtung. Jeder Prozeß setzt ein Prozessierendes voraus, jedes Produkt ein Produzierendes. Das Schellingsche Begriffspaar Produkt-Produzierendes ist von ebensolcher Bedeutung wie der Prozeß selbst, denn es meint dessen schöpferische Eigenschaft. Die wichtige Forderung „Über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen (vgl. Schelling, 17992, II. Hb., 284) [cf. SW I/3, p. 284]“ sei dahin zu verstehen, daß die festgewordenen Produkte durch den „nachdenkenden, mitgärenden, mitlenkenden Gedanken“ wieder in Freiheit gesetzt würden. (Das Schelling-Zitat, welches wir in seinem Werk bereits des öfteren antrafen, erweist an dieser Stelle sich nicht mehr als frei entnommen, sondern als korrekte Synthese der Darstellung auf Seite 284 [SW I/3] der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799. Es findet sich hier zum ersten Mal ein Hinweis auf die Quelle. Wir verdanken dies der TyposkriptBearbeitung von Eberhard Braun. Der allerdings hat für den Nachweis den von Manfred Schröter herausgegebenen „Münchner Jubiläumsdruck“ [1927-59] verwendet.) Es gilt also mittels der Naturphilosophie die „Werdenskräfte“ der Natur wieder oder überhaupt erst zu entdecken und zu befreien. Von hier ist es für das Denken nur ein kleiner Schritt zur Verdinglichungsproblematik. Bloch nimmt das Stichwort als eine spät wiederholte, aber bewußte Replik von Geschichte und Klassenbewußtsein nochmals auf und verkehrt Lukács’ Argumentation in ihr Gegenteil: Schelling wird jetzt zum Garanten gegen die Verdinglichung, also gegen das ,ZurWare-Werden des Menschen und der Dinge‫ދ‬, statt als ihr geistiger Wegbereiter zu gelten: „Bei dem Schelling-Satz, über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen, erinnern Sie sich vielleicht einer verwandt klingenden Formulierung: Über der Ware nicht den Hersteller der Ware vergessen. Dazu gehört weiterhin Marxens scharfe Kritik an der falschen Auffassung des Schicksals, als ob es hinter unserem Rücken stünde, während wir im Gegenteil durch unser Produzieren mit undurchschauter, desto kräftiger zu durchschauender Ideologie es erst erzeugt haben“ (LV 4, p. 203).

In der Tat habe Marx seine geistige Verwandtschaft mit Schellings Gedanken über das Produzieren in einem Brief an Feuerbach vom 3. Oktober 1843, worin er ihn als dessen „aufrichtigen Jugendgedanken“ preist (cf. MEW 27, p. 420), selbst hervorgehoben. Betrachtet man die angegebene Quelle jedoch genauer, scheint Blochs Hinweis unkorrekt. Nicht geht es Marx in seinem Brief an Feuerbach darum, den Produkt- und Produktionsgedanken Schellings gegen Entfremdung und Verdinglichung zu applizieren. Jener bedauert vielmehr, daß Schelling ungeachtet seiner guten Absichten es an Mut gefehlt habe, seinen „aufrichtigen Jugendgedanken“ fortzuführen und Wirklichkeit werden zu lassen. Feuerbach solle dies nachholen und

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über Schelling und dessen ,Versäumnisse‘ einen Artikel in den „französisch-deutschen Jahrbüchern“ verfassen: „Sie [Feuerbach] würden unsrem Unternehmen, aber noch mehr der Wahrheit, daher einen großen Dienst leisten, wenn Sie gleich zu dem ersten Heft eine Charakteristik Schellings lieferten. Sie sind grade dazu der Mann, weil Sie der umgekehrte Schelling sind. Der – wir dürfen das Gute von unsrem Gegner glauben –, der aufrichtige Jugendgedanke Schellings, zu dessen Verwirklichung er indessen kein Zeug hatte als die Imagination, keine Energie als die Eitelkeit, keinen Treiber als das Opium, kein Organ als die Irritabilität eines weiblichen Rezeptionsvermögens, dieser aufrichtige Jugendgedanke Schellings, der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum geblieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst geworden. Schelling ist daher Ihr antizipiertes Zerrbild, und sobald die Wirklichkeit dem Zerrbild gegenübertritt, muß es in Dunst und Nebel zerfließen. Ich halte Sie daher für den notwendigen, natürlichen, also durch Ihre Majestäten, die Natur und die Geschichte, berufenen Gegner Schellings. Ihr Kampf mit ihm ist der Kampf der Imagination von der Philosophie mit der Philosophie selbst“ (MEW 27, 420 sq.).

Was genau Marx jedoch mit dem „aufrichtigen Jugendgedanken“ meint, kann aus dem Brief allein nicht erschlossen, nur vermutet werden. Eine andere Stelle mag weiterhelfen. Denn sinngemäß hat Marx sich schon einmal, viel früher, in seiner Dissertation von 1841, Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, geäußert. Dort bezieht sein Kommentar in einer Anmerkung sich auf den frühen Atheismus Schellings: „Es wäre dem Herrn Schelling überhaupt zu raten, seiner ersten Schriften sich wieder zu besinnen. So heißt es z. B. in der Schrift ,über das Ich als Prinzip der Philosophie‘: ,Man nehme z. B. an, daß Gott, insofern er als Objekt bestimmt ist, Realgrund unseres Wissen sei, so fällt er ja, insofern er Objekt ist, selbst in die Sphäre unseres Wissens, kann also für uns nicht der letzte Punkt sein, an dem diese ganze Sphäre hängt‘ [SW I/1, p. 165; in diesem Zitat stammen mit Ausnahme von Gott alle Hervorhebungen von Marx]“ (MEW EB I, p. 369).

Es schiene plausibel, wenn Marx in seinem Brief von 1843 – gerade im Zusammenhang mit Feuerbach und dessen Thesen – auf diese seine eigene Kritik sich bezieht. Ungeachtet dieses Mißverständnisses weist Bloch aber zurecht auf die bestehende Differenz hin zwischen der natura naturans Schellings und dem ökonomischen Arbeitsbegriff, welchen Marx verwendet.123 Bei Ersterem ist das Produzieren eines der Natur, nicht der Geschichte. „Marx spricht ja von der Entfremdung als ei123 Cf. etiam E. Braun: „Der aufrichtige Jugendgedanke Schellings“.

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ner, worin das Produkt menschlicher Arbeit ihr selber als ein fremder Gegenstand, als ein fremdes Wesen gegenübertritt, als eine von dem Produzierenden unabhängige Macht. Wonach die Arbeit des Menschen durch ihre Undurchschaubarkeit ihm sein fremdes ,Schicksal‘ macht“ (LV 4, p. 203 sq.). Dennoch ist eine parallele Betrachtung von Natur- und Geschichtsproduktion zu rechtfertigen. Auch das menschliche Verhältnis zur reinen Natur (als Naturgewalt beispielsweise) kann sich dann als ein entfremdetes darstellen, wenn die Zusammenhänge zwischen ,fertigem Produkt‘ und der Quelle der Produktivität unklar bleiben. Durch Schelling werden wir auf eine doppelte Machtstruktur aufmerksam: die Suffizienz des vorliegenden Produktes und die der hinter demselben wirkenden ,Triebkräfte‘, welche es ,erzeugt‘ haben und weiter ,erzeugen‘ werden. Die Funktionsweise einer solchen der Natur zugrundeliegenden Produktions- wie Prozeßstruktur läßt sich ohne weiteres auch auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen. In diesen ihren Prinzipien fallen Natur und Geschichte in eins. „[D]er Blick, der nicht von den Dingen auf das Erkennen geht, [...] sondern von dem festgefrorenen Produkt auf das Produzierende, der Blick gegen die Verdinglichung, gegen die Fetischisierung, der beginnt also in der Schellingschen Naturphilosophie“ (LV 4, p. 204). Nicht nur das Prinzip der ,natürlichen‘ und historischen Genesis, sondern auch das damit verbundene In-FreiheitSetzen der jeweiligen Natur- wie Gesellschaftsformen wird transmittier- und vermittelbar. Freiheit vermag erst durch Genesis und Prozeß sich selbst (begrifflich) zu erfassen – das ist der Gedankengang, auf den Bloch durch Schelling hinaus will. Weiter interessiert ihn der „Kampf um die Qualitäten“ und deren Existenz überhaupt in der Natur. Druck und Stoß, Raum und Zeit seien bei Locke sogenannte primäre Qualitäten, was bedeutet, daß es diese auch in einer vom Menschen unabhängigen Außenwelt gibt. „Dagegen Farbe, Geschmack, Geruch, Wärme, Kälte und so weiter gibt es alles bloß in uns, sie sind subjektiv-ideal. Hier ist der Ausdruck ,subjektiver Idealismus‘ vollständig berechtigt, auch für einen mechanischen Materialisten. Sämtliche Materialisten schreien unaufhörlich gegen den subjektiven Idealismus, in Ansehung der Sinnesqualitäten aber bejahen sie ihn“ (LV 4, p. 207). Sinn und Zweck dieser Explikationen ist es, das subjektive Wünschen und Hoffen, welchem schließlich ebenfalls ein qualitativer Charakter zukommt, als materieinhärente Eigenschaft zu rechtfertigen, also als einer, die unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt existiert. Diese für sein System notwendige Justifikation findet Bloch ausschließlich bei Schelling. Das Problem der Qualität ist von aktueller Relevanz: Für die Neurobiologie ist beispielsweise das subjektive Gefühl der Verliebtheit als Qualität (= mentaler Zustand) nicht verifizierbar, als quantitative ,C-Faserreizung‘ (= neuronaler Zustand) hingegen gilt es als empirisch nachweisbar und ,wissenschaftlich‘ akzeptiert. Wir sehen mit Bloch, daß Reste eines mechanischmaterialistischen Denkens bis in unsere Tage bestehen, daß sie gerade unter verdinglichten Verhältnissen dominieren und als ein spätes Resultat des achtzehnten

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Jahrhunderts betrachtet werden können. Bloch selbst erörtert das Problem am Beispiel der Perzeption von Farben. Mit Goethe verteidigt er deren objektive Vorhandenheit gegen Newtons Auffassung, es handele bei denselben sich lediglich um ein Quantum von Ätherschwingungen. Er verweist außerdem auf Aristoteles, bei dem es Schichtungen wie Bewegung, Veränderung und Verwandlung gäbe, verschiedene Entelechien, die aufeinander nicht restlos zurückführbar und deshalb je als Qualia zu definieren seien. „Jede stellt ein Quale dar, das zwar aufgesetzt ist auf andere Entelechien, aber nicht in sie aufgelöst werden kann, das sie voraussetzt, aber nicht nur aus ihnen besteht“ (l. c., p. 208 sq.). Das heißt, es sind bereits in der aristotelischen Materie-Konzeption jene nicht immer logischen Umschlagsmomente enthalten, welche ein Ding durch Quantifizierung für eine neue ,Seins-Stufe‘ qualifizieren und welche später in der Theorie des dialektischen Materialismus eine so gewichtige Rolle spielen. Bloch spricht daher an anderer Stelle von der Existenz der Tradition einer aristotelischen Linken (cf. GA 7, p. 479 sqq). Er weist außerdem darauf hin, daß die philosophische Auseinandersetzung um die Frage, ob es Qualitäten in der Natur gäbe, je immer einen gesellschaftlichen Antrieb besitzt. Parteiliches Denken, von Gruppeninteressen geleitet, findet sich auch hier. Eine qualitative Auffassung der Wirklichkeit nämlich „hat jede vorkapitalistische Gesellschaft, vom Animismus bis an die Schwelle der Neuzeit. Sie wurde in der Romantik wieder aufgegriffen. Das andere ist die bürgerliche Rechenhaftigkeit, der Kalkül, die Quantifizierung, die Aufhebung der Qualität auch im Geschäftsverkehr, im Tauschverkehr. Der Gebrauchswert der Ware verschwindet völlig, nur der Tauschwert ist noch interessant“. In der kapitalistischen Ordnung sei die Welt konsequent quantifiziert und „am Ende in eine riesige Fabrik verwandelt[]“ worden (LV 4, p. 209). Wie ist es nun möglich, der Natur ihr innewohnende Qualitäten nachzuweisen? Bloch meint, dies gelänge mit Schellings Naturphilosophie und der Vermittlung durch die Kunst, denn „was ist Kunst anderes, als eine Abbildung der Qualitäten!“ (LV 4, p. 210). Quantifizierungen seien in ihr ebenfalls zu finden, jedoch nicht in dem Sinne, daß Qualitäten auf Quanta zurückgeführt werden können. Wenn dort ein Quantum vorkomme, etwa in Form der divina proportio, welche nach italienischem Vorbild Albrecht Dürer suchte, handle es sich nicht um jene der mathematischen Wissenschaften. Anders: erst die ästhetische Fähigkeit und Veranlagung des ,Erzeugers‘ bringt den besonderen Sinn fürs Qualitative hervor. Unser Autor gibt mehrere Beispiele, darunter das vom Landschaftserlebnis; genauer ergründet er die Empfindungen des Wanderers beim Betreten der Moorlandschaft. Ergebnis: „Und wenn Sie noch so fröhlich gewesen sind, können Sie nicht umhin, zu sagen, daß das eine schwermütige Landschaft ist“ (LV 4, p. 210). Es sei in Worten nur mit Mühe zu fassen, was solcherlei Erlebnisse beim Subjekt an Empfindungen auslösen würden. So schließt er: „Wenn Sie das mathematisch-naturwissenschaftlich auflösen, haben Sie da draußen nichts als Nacht, selbst das ist noch ein qualitativer Ausdruck, Nacht

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ist doch schwarz, doch noch Farbe. Nein, nichts als Ätherwellen umsausen Sie, von denen Sie nur einen Bruchteil hören und sehen“ (LV 4, p. 211). Beim Betrachten und Begehen der Landschaft oder im Augenblick der Verliebtheit wird nach Bloch jeder Mensch zum ,Künstler‘, offenbart sich der qualitative Gehalt von Natur. Auch die subjektive Empfindung hat ihren Anteil an jenem Auge, welches die Natur aufschlägt, mit dem sie sich selbst betrachtet. Der Verfasser weiß, daß die Moorlandschaft nicht allein schwermütig, der Montblanc nicht einfach erhaben oder einsam ist; jedoch „etwas ist da draußen, was dieses in uns, unabhängig von unserer Stimmung, unserer Zeit, der Gesellschaft, in der wir leben, der Rasse, dem Geschlecht kausal hervorruft“ (LV 4, p. 212). Die Unbeschreib- wie Unkalkulierbarkeit eines Phänomens bedeutet nicht zugleich, daß es nicht existent ist; sein erkenntnistheoretischer Zugang ist eben ein anderer. Hüten solle man sich dennoch vor einem „Anthropomorphisieren“ (l. c., p. 212) der Natur, warnt Bloch, dies ende sonst da, wo menschliches Denken einst begonnen habe, im Animismus. Weder dieser, noch das merkantile Kalkül seien adäquate Erkenntniszugänge und -quellen der Wirklichkeit. „Aber daß etwas da ist, was auch qualitativ ist und nicht nur quantitativ, aber eine andere Art von Qualität, das ist doch hochgradig wahrscheinlich, und eben dafür haben Goethe und die klassische oder romantische Naturphilosophie besonders empfindlich gemacht“ (LV 4, p. 213). Interessant an dieser Stelle ist, daß der Autor sich genötigt sieht, das selbständige Vorhandensein von Qualität in der Natur nicht nur gegen bürgerliche, sondern auch gegen marxistische Vorbehalte zu verteidigen.124 Es sei nicht zureichend bedacht worden, daß gerade der dialektische Mate124 Zu den Zweiflern aus der Gruppe der Marxisten gehört auch Georg Lukács. Daran erinnert Jan Robert Bloch, der sich – als Ordinarius für Chemie – wie sein Vater mit der Frage nach der Existenz von Qualität und Dialektik in der Natur auseinandergesetzt hat. „Wie wäre die Geschichte der Natur zu verstehen, wenn in ihrer vormenschlichen Entwicklung, der ,subjektlosen‘ Epoche schlechthin, dialektische Entfaltungen nicht stattfänden; wie soll eine Natur begriffen werden, die von unbewußten zu immer bewußteren Formen fortschreitet, die zum Menschen treibt, in ihm ihr Auge aufschlägt. Und schließlich: Weshalb verbindet Hanns Eisler vergehende Schönheit und Größe der bürgerlichen Kultur mit der Metapher ,Abendröte‘? Solche interdisziplinäre Verbindung haben die logistischen Empiristen (der Anspruch auf Logik im philosophischen Sinn sei ihnen hier verwehrt) zum Scheinproblem, die ihnen nicht unverwandten Zentralkomitees zum Idealismus erklärt. Und eben Goethe, Lukács’ realistischer Heros, erkennt: ,Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, nie könnt die Sonne es erblicken‘. Hier korrespondiert, oszilliert ein Objekthaftes im Subjekt mit dem Subjekthaften im Objekt“ (J. R. Bloch: „Die Gesichter der Kristalle“, p. 284). Weiter führt er das Beispiel von Kristallen an, welche seiner Ansicht nach den Beweis erbringen, daß geometrische Formen

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rialismus die Lehre von den Umschlagsmomenten zum Inhalt habe. Beim Umschlagen etwa von Wasser in Dampf oder Eis – je nach Änderung der Temperatur – sei doch wie selbstverständlich von verschiedenen Qualitäten die Rede. Wie aber „können wir von einem Umschlag von Quantität in Qualität sprechen in einer Welt, die überhaupt nur aus Quantität besteht?“ (l. c., p. 213). Die Frage ist also, ob die jeweils erlangten Materie-Stufen lediglich subjektive Nennungen, Nomen oder davon unabhängige, objektive Zustände sind. Blochs Nähe zum ,Begriffsrealismus‘ tritt auch hier deutlich hervor. Farben beispielsweise vermögen durch Sinnesreizung Empfindungen hervorzurufen, welche den psychischen Apparat und damit den biochemischen Haushalt des Empfindenden vollständig verändern. Bei längerfristiger Einwirkung ist, wie wir aus den Neurowissenschaften wissen, sogar eine Umbildung der Hirnstruktur möglich: Das Subjektive, sich materialisierend, wird dann selbst zum Objektiven. Und wenn der Handwerker in seiner Werkstatt nicht mehr selbst mitarbeitet, sondern acht Gesellen hat, geschieht nach Bloch ein Umschlag, eine neue Stufe von Qualität: er ist dann Fabrikant und Kapitalist. „Wenn ich den Mann betrachte, ist er nichts als eine gefrorene Staubwolke von Molekülen und Atomen. Dagegen behaupten die dialektischen Materialisten und Marxisten, und auch noch die Bürgerlichen, der sei ein Fabrikant. Wenn es den Fabrikanten gibt, dann gibt es vielleicht auch blau oder grün [...]. Kein einziger Aktionär von I. G. Farben hat daran gezweifelt, daß es Farben gibt“ (LV 4, p. 213 sq). In diesem Zusammenhang erinnert der Autor an das Marxsche Diktum über die Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der Natur (cf. MEW EB I, p. 538) und er fragt listig, wie denn das mit der „Humanisierung der Natur“ vor sich gehen könne und gemeint sei, wenn dieselbe doch ein „uns entgegenstehendes riesiges Quantum ist, das sich gar nicht um uns bekümmert und am Ende zu uns überhaupt keine Beziehung hat“ (LV 4, p. 214). Dies alles zu Ende gedacht, führt dahin, daß der Hiatus zwischen Subjekt und Objekt sich unüberwindbar weitet und kein Begriff mehr Wirkliches auf sich vereinigt, weil jedes Wort schon Qualität bedeutet. Bar jeden Bezuges zur Außenwelt, bleibt es eingeschlossen in sich selbst. Auch die Geschichte ist dann „so gut wie nicht gewesen, und wenn das überlegt wird, muß selbstverständlich als Resultat Nihilismus herauskommen“ (LV 4, p. 215). keine Erfindung des Menschen, sondern der Natur sind. Ebenso verhalte es sich mit den Phänomenen Maß und Zahl. Diese seien wirklich, „denn sonst wären die Naturgestalten amorphe und somit keine. Und die kristallinen Naturgestalten berühren, betreffen uns: im gewiß vor-kapitalistischen Ägypten der Pharaonen, deren pyramidale Todeskristalle mit der Himmelgeometrie korrespondieren, wie zudem in einer anderen Art geahnter Vollkommenheit: das auch Einstein leitende Diktum ,simplex sigillum veri‘, das Einfache ist das Zeichen des Wahren“ (l. c., p. 285).

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Schellings Biographie und Persönlichkeit, konstatiert Bloch, würden in besonderer Weise sich mit dem qualitativen Charakter der Frühromantik und ihrer Aufmerksamkeit für das Ästhetische treffen. Künstlerisch nennt er denn auch Schellings Fähigkeit zu empfinden; das mache das Weibliche, das Subjektive in jenem aus. Er bezieht dabei sich ausdrücklich auf dessen Erlebnisse während der Jenaer Zeit, insbesondere seine Liebe zu Karoline Schlegel. Schellings persönliche Lebenshaltung belege erst die Authentizität seines Denkens. Die biographischen Ereignisse, gemeint sind der Fortgang aus Jena und der frühe Tod sowohl von Auguste als auch von Karoline Schlegel, sind für Bloch der Schlüssel zum Verständnis der „düster-pessimistischen“ Spätphilosophie. Denn wie schon bei Goethe, habe auch bei Schelling das Philosophieren stets eng mit dessen Lebenslage zusammengehangen. Und eben weil er stets ,tief empfunden‘ habe, sei es nachvollziehbar, wenn nach der naturphilosophischen Phase in seinem Schaffen, mitbedingt durch persönliche wie auch politische Ereignisse, seit München eine zunehmende Verdunklung in der Darstellung der Natur eingesetzt hätte. Nichtrationale Elemente träten stärker hervor als früher, den Schoß und den Brunnen habe es bei Schelling schon immer gegeben, jetzt aber würden sie anders betont. „Vorher waren sie ein fruchtbares Dunkel, ein Chaos, das einen Stern gebiert, jetzt werden sie ein trübes, ein verdächtiges, worin es unheimlich hergeht. [...] Nicht nur das frisch Aktive ist weg, sondern die helle Sache selber wird im Anstoß des Prozesses vom Ungrund angegriffen. Wie etwas ist und was etwas ist, kann gedacht werden, aber daß etwas ist, kann nach Schelling nicht gedacht werden. Das Urelement des Nicht-Ableitbaren, das Daß des sinnlich Gesetzten ist wieder da“ (LV 4, p. 219) und erhält eine irredentistische Deutung seines Ursprungs. Nicht aber nur die äußeren Umstände können der Anlaß für Schellings „gesteigerte Empfindlichkeit für das Nichtseinsollende in der Welt“ gewesen sein – dies ahnt auch Bloch –, denn die Freiheit-Schrift war noch vor Karolines Tod 1809 fertiggestellt worden. Die zunehmende Empfänglichkeit für die „Nachtseiten des Daseins“ (l. c., p. 219) finden ihre Causa sicher ebenso in einer nicht vollständig zu erhellenden inneren Stimmung Schellings, die, ähnlich wie bei Luther und Calvin, von religiösen Schuldgefühlen seiner pietistischen Herkunft begleitet wie verursacht sein mag. Daher rührt noch ein anderer Grundzug, welchen er nach Bloch mit vielen Romantikern teilt, nämlich jeder Art von Verwirklichung zu mißtrauen. Setzen und Daßheit einer Setzung fielen für jene mit Realisierung in eins. Es habe allgemein die Überzeugung geherrscht, daß die Sehnsucht und der Traum besser seien als die Wirklichkeit und daß keine Wirklichkeit den Traum je erreichen könne. Die Romantiker seien, so der Verfasser, „ungeheuer empfindlich gegen das Minus, das Manko, das durch die Verwirklichung eintritt, und dies hat zweifellos auch einen Boden für die Kritik am Sein als Gesetztsein und als Verwirklichen abgegeben“ (LV 4, p. 220). Dieses resignative Element führt übergangslos zu einem dritten Charaktermerkmal, welches Bloch zufolge

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Schellings philosophische ,Kehre‘ kennzeichnet: „die wachsende aristokratische Reaktion auf die Französische Revolution“ (LV 4, p. 221 sq.). Auch hier handelte es sich um ein Realisieren. Der ,Geist der Freiheit‘ vermochte jedoch nicht tief genug auf die Materie einzuwirken; nichts schien ihren ,miserablen‘ Fortbestand aufzuhalten, sie aus ihrer ,Verdammnis‘ zu erlösen, im Gegenteil: die Terrorherrschaft Robespierres bestätigte diesen Verdacht nur noch. „Der Mob, die Kanaille, die Sansculotten und alles, was die Reaktion an Beschimpfungen gegen die Französischen Revolutionäre parat hatte, sind alle bloß Stellvertreter von etwas ganz anderem, nämlich von dem, was immer unter allem Dasein schläft, dem Regellosen, dem Chaos, dem kaum Gebändigten“ (LV 4, p. 222). Aus der Enttäuschung darüber, daß jenes Daß im Grunde, im „Un-Grund“ wie Böhme sagt, das Ur-Zufällige nicht abgeleitet werden könne, verbinde Schelling das Jakobinertum mit dem Sündenfallmythos, „wo die Schlange ja das erste Losreißende ist, der erste partikulare Wille“ (LV 4, p. 224). Die Deutung eines Weltereignisses, welches man für gescheitert hielt, führte konsequent in die philosophische Reaktion. (Wofür Bloch vermutlich deswegen ein gewisses Maß an Verständnis aufbringt, da er sich durch den Ungarn-Aufstand 1956, zur gleichen Zeit, als er die Vorlesung über Schelling hält [!], selbst in ähnlich enttäuschter Lage befindet.) Die politische Desillusionierung wird von Vertretern der Romantik auf ihren materiellen Ursprung reduziert und mit deren substantieller Insuffizienz erklärt. Relevant und aktuell zugleich sind für Bloch dennoch die Verbindung von Geschichte und Natur, antizipiert solche Logik – ausgenommen ihrer ,desperaten Teleologie‘ – doch im wesentlichen den Inhalt des dialektisch-historischen Materialismus. Weiter unternimmt er an dieser Stelle einen Exkurs über die „gnostisch-romantische Naturphilosophie“ bei Franz von Baader. Mit ihrer Hilfe sucht er Schellings ,Wende‘ tiefer und anschaulicher erklären zu können. In der Tat hinterließ dessen Lehre bei Schelling einen nicht unbedeutenden Eindruck. Baader führte nicht nur den Organismusgedanken in die Naturphilosophie ein, sondern auch den Begriff der Weltseele. Bloch nennt ihn einen „echten Katholiken, der mit sich in Übereinstimmung lebt“ und einen „deutsche[n] apolitische[n] Schwärmer“, der gegen die Zerstreuung, welche die Jakobiner gebracht hätten, eine christliche Einigung „unter den Gutgesinnten, den homines bonae voluntatis“ zustande habe bringen wollen (LV 4, p. 225). Dieser, Böhme und St. Martin rezipierend, hätte größten Einfluß auf Schelling ausgeübt. In der Tat zitiert Schelling Baader in der Weltseele (1798) gleich mehrfach und erwähnt lobend dessen Vorleistungen hinsichtlich einer ,Philosophie der Natur‘ (cf. SW I/2, p. 499). Wieder einmal sei es darum gegangen, die Existenz des Bösen in der Welt ergründen zu wollen. Besondere Aufmerksamkeit verdiene deshalb Baaders merkwürdige Lehre von der Entstehung der Materie. Das Problem sei von jenem gelöst worden wie Don Quichottes Zweifel:

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„Als der Urzufall, der mythisch beschrieben ist im Abfall Luzifers und seiner kleinen Spiegelung im Paradies, dem Sündenfall, geschehen war, hätte das Böse an die Menschen von allen Seiten herankommen können, von vorn und hinten, unten und oben. Damit das nicht geschähe, schuf Gott aus Erbarmen mit den Menschen die Materie, die es bis dahin nicht gab, und stülpte sie auf das Böse, die Hölle“ (LV 4, p. 226).

Tartarus hieße diese Hölle; und die Erschaffung der Materie, welche das Böse zu ,absorbieren‘ habe, entspräche nach Baader dann einer „Enttartarisierung“ im Akt der „Detartarisierung“. Das Böse könne jetzt nur noch durch die Materie, durch sinnliche Lockung, Fleisch oder Mammon zu den Menschen gelangen, jedoch nicht mehr, wie es im Sirenenmythos gedacht sei, etwa durch die Musik. Bloch erläutert dies an einem Beispiel, das von ihm selbst, nicht von Baader stammt: „Wir können ganz sicher sein, daß in der Musik Palestrinas kein Höllenfeuer ist. Dagegen können wir ebenso sicher sein, daß es ein Gruß aus der Hölle ist, wenn wir in eine Hafenkneipe kommen und lockere Mädchen sich um uns bemühen“ (l. c., p. 227). Ohne den Gnadenakt der Detartarisierung wäre der Satan auch mittels Palestrina zu uns gekommen, hätte die Materie nicht ihren Platz in der Schöpfung erhalten. Unbeschadet dieser heute seltsam anmutenden Spekulationen sucht Bloch denselben Positives abzugewinnen. Wichtig ist ihm, daß die Baadersche Philosophie (wie die Böhmische) des Anfangs sich entsinnen wolle. Und obzwar derselbe dort als ,Kriminalstück‘, ,Ungrund‘ und ,Nichtseinsollendes‘ ausgewiesen werde, wäre der Weltprozeß nicht ein solcher, „wenn nicht etwas wäre, was nicht sein sollte“. Das ist, auf was es Bloch ankommt; hier findet er den Zugang und die Verbindung zu seiner ,Ontologie des Noch-Nicht-Seins‘. „Also die Welt ist eine Strafe und als Strafe zugleich eine Wiedergutmachung von etwas, was im unvordenklichen Anfang des Seins geschehen ist und immer noch in ihr umgeht“ (LV 4, p. 228). Es ist nicht auszumachen, ob der Autor sich bewußt war, mit dieser Logik auch religiöse Schuldgefühle als Motor des dialektischen Weltprozesses zu legitimieren und auf solche Weise einen neurotischen Zirkel am Leben zu erhalten. Urschuld und Urzufall bleiben das Thema der Vorlesung. Sie sind Bloch unverzichtbar für ein solides Verständnis der Freiheit-Schrift von 1809. Mit der Bearbeitung des Daßhaften, Quodditativen kehre dort die ,unendliche Produktivität‘ der frühen naturphilosophischen Phase wieder, diesmal jedoch „mit schwerem Trauerflor versehen“. Das sei nicht mehr die unendliche Schaffenslust, welche sich keine Schranken setze, die Schöpferkraft, die aus allen Dingen quille, so wie sie die Dinge aus sich herausquellen lasse. „Diese Unendlichkeit ist Mangel, das ist Hungerleiderei am Unendlichen. Und so stößt sich das in der Welt, wird in der Welt nicht satt, ist aber, indem es eben kein Grund, also nicht rational ist, dasselbe wie totale Freiheit“ (LV 4, p. 230). In Umkehrung der ursprünglichen naturphilosophischen Auslegung bedeutet alles daßhaft Thetische nun negativ Willkür und Vielheit, alles

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durch Bewußtsein Gesetzte hingegen positiv Ordnung und Einheit. Urzufall und Irratio bilden jetzt das Substrat der Freiheit. „Alles, was nicht logisch deduziert werden kann“, erklärt Bloch, „also alles, was nicht logisch begriffen werden kann, alles, dem im Gegenstand nichts Logisches entspricht, das ist Freiheit, Willkür, Urzufall, Ungrund, Abgrund in Gott selbst, Abfall“ (l. c., p. 231). Jedoch in Gott selbst schon müsse dieses Losreißende, „endlos Schweifende“, „Sich-nicht-determinierenLassende“ angelegt und enthalten sein, da es sonst weder Entwicklung noch Dialektik gäbe. Den Teufel in Gott müsse es geben, da sonst kein Widerspruch als quodditativer Anstoß und damit als Antrieb der Freiheit überhaupt existierte. Alle Setzung ist in ihrem Verhältnis zur Vernunft widersprüchlich, weil sie mit und aus derselben nicht abgeleitet werden kann. Dies ist für Bloch insofern sinnvoll, als sonst „nichts geschähe“ und „alles auf der Stelle bliebe, A = A, identisch wäre“. Der einzig freie Akt besteht in der willkürlichen Setzung des Seins, nicht des Denkens. Dieses vermag jene vorausgegangene ontologische Faktizität allenfalls zu reflektieren. „Aus Abfall, aus Freiheit ist die Welt entstanden, aus diesem Alogischen, Intensiven, Undeterminierbaren, Unvordenklichen, wie Schelling auch sagt, kommt das Sein“ (LV 4, p. 231). Unvordenklich, ein Ausdruck, dem Bloch große Beachtung wie Rezeption schenkt, bedeute, daß die Setzung in Urzeiten geschehen ist, in Zeiten, die keine Zeiten im eigentlichen Sinne sind, „deren sich aber ein tief grübelndes [Denken…] entsinnt“ (l. c., p. 231). Es gelte nämlich: „Was die Welt gemacht hat, erhält sie auch. Es ist immer drin“ (l. c., p. 231). Dennoch fragen wir: wie kann etwas unvordenklich sein, wenn schon der Begriff unvordenklich aufzeigt, daß etwas da war, das, wenn auch später, doch gedacht werden kann? Wieder eine Reminiszenz an Anselm. Bloch jedenfalls erkennt die Komplexität der Logik des Problems. Es ist im übrigen die gleiche, welcher auch die Psychoanalyse mit der Beziehung von Unbewußtem zu Bewußtsein sich zu stellen hat: wie kann etwas bewußt werden, wenn es doch unbewußt genannt wird? Antwort: durch die selbsttätige Vermittlung beider Teile, des Unbewußten wie des Bewußtseins. Noch einmal: Bloch verlegt mit Schelling die unvordenkliche Daßheit der Dinge in eine Zeit vor der Zeit. Es ist die Setzung der Dinge, deren Woher und Wozu nicht zu erklären, denkend nicht einholbar ist. Unvordenklich heißt für Bloch: „unausdenklich“, „irrational oder mindestens arational“, auf jeden Fall: unableitbar und deshalb der Vernunft nicht zugänglich. Dieselbe kann bestenfalls schlußfolgern, spekulieren, daß es etwas gibt oder geben muß, das ihr verschlossen ist. Im Spannungsfeld zwischen Daß und Was also entfaltet sich ,Weltgeschehen‘. In der von Schelling explizierten Gespaltenheit alles Erscheinenden in zwei erkenntnistheoretische Hälften, Daß und Weil, ੖IJȚ und įȚંIJȚ (wie sie zuerst Aristoteles unterschied), sieht Bloch den Möglichkeitsgrund für dialektisch-historisches Werden schlechthin. Zur Erläuterung des Daß, des sinnlich Gegebenen, Seienden bemüht er die Scholastik:

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„Sensus dat singularitatem et pluralitatem, der Sinn, die Sinnlichkeit gibt Einzelheit und Vielheit. Und das andere, was uns der Verstand vermittelt und erschließt, das ist zusammenfassend, das sind Gattungen, Gesetze, Gesetzeszusammenhänge, Bedingungszusammenhänge, das schließt ein, setzt sozusagen den vielen einzelnen Dingen jeweils den ihnen gemeinsamen kategorialen Hut auf. Daher der [andere] scholastische Satz: Intellectus dat unitatem, der Verstand gibt die Einheit“ (LV 4, p. 232).

Der Autor stellt Schellings Philosophie in ihren geschichtlichen Zusammenhang und eröffnet auf diese Weise Alter und Dauer des gnoselogischen Konflikts um den Vorrang von quod und quid. Marxens analytischer Methode treu, decouvriert er ebenso den dahinterstehenden gesellschaftlichen Auftrag. Auch im Mittelalter seien sehr wohl bestimmte Interessengruppen an jener Auseinandersetzung zwischen Dominikanern und Franziskanern, um Nominalismus und Begriffsrealismus beteiligt gewesen. „Aufsteigendes Bürgertum, aufsteigende Individualität, aufsteigender Unternehmer, aufsteigender Sinn für die Vielheit der Welt und des Diesseits, das erzeugt den Nominalismus, dem die allgemeinen Begriffe Lufterschütterungen sind und wirklich nur die einzelnen Dinge“ (l. c., p. 233). Auf der anderen Seite habe die feudalklerikale Ordnung des Seins gestanden, nach der alles ausgerichtet und für alle Zeiten vorbestimmt, unveränderlich gegeben war. Wenn alles unter ein Allgemeines gebeugt würde, verstehe man darunter extremen Begriffsrealismus. In der in diesem Zusammenhang auftauchenden Frage nach dem Primat des Willens oder des Verstandes hätten sich jedoch beide Positionen „aus sachlicher Notwendigkeit“ vermengt. „Auf Moralisches angewandt, gibt es nach der Lehre des Nominalismus nur ein bonum ex institutione, ein Gutes auf Grund der Institution, des Instituierens, der Einsetzung. Später wird dies die Ideologie des päpstlichen und danach des fürstlichen Absolutismus“ (LV 4, p. 234). Ein moralischer Wert mag historisch einwirken oder en situation (Sartre) notwendig und opportun sein, jedoch stellt er dann eine Setzung dar, ein daßhaftes Sollen, welches nicht aus der Vernunft, sondern allein aus der Geschichte als Bedürfnisgeschichte deriviert werden kann. Bei Hobbes könne auf diese Weise ein Gesetz nicht vernünftig bedacht werden, es könne darüber nicht vernünftig „etwas ausgemacht“, räsoniert werden. Bloch weist darauf hin, daß räsonieren von Raison herstammt und von ratio, was auch Grund bedeutet. In diesem Sinne hieße räsonieren, nach dem Grund von etwas fragen, darüber „maulen, sich aufgrund seines gesunden Menschenverstandes gegen etwas Gesetzhaftes empören und es in seiner Weisheit bezweifeln“ (LV 4, p. 234). Die Analogie der Setzung träfe auch auf sämtliche mechanischen Gesetze zu – wie es schon der Begriff selbst sagt. Diese seien nämlich ebenso wenig logisch und enthielten daher etwas von Freiheit und Willkür, Zufall und Urzufall. Alles, was mit Empirie, mit Sinnlichkeit vermischt sei, nähme an etwas Zufälligem teil, so daß es eigentlich auch anders sein könnte, während die Winkelsumme des Dreiecks in der euklidischen Geo-

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metrie nicht anders sein kann als zwei Rechte; wäre es anders, hätten wir kein Dreieck mehr. „Es könnte aber auch ein Stein in die Höhe steigen, statt herunterzufallen. Er hat es noch nicht getan, aber es wäre kein Widerspruch darin, wenn er es täte, während es beim Dreieck ein Widerspruch ist, daß die Winkelsumme nicht gleich zwei Rechten, auch moralisch, daß ein Heiliger ein Mörder ist. Das gibt es nicht, entweder ist er ein Mörder, dann ist er kein Heiliger, oder er ist ein Heiliger, dann ist er kein Mörder. Dies also ist das vom Nominalismus betonte Element von Ungrundhaftem in der Welt, sofern es eine Setzung darstellt“ (LV 4, p. 235).

Gut arbeit Bloch die Vermengung der beiden erkenntnistheoretischen Zugänge zur Wirklichkeit heraus: Gesetzhaft-Begriffliches scheint auf den ersten Blick vernunftgemäß, ist jedoch am Ende selber nicht logisch ableitbar, also ebenso daßhafte Setzung wie ,a priori‫ ދ‬Irrationales, Willkürliches. Anders: was rational scheint, ist meist willentlich, was zufällig, oft logisch. Was und Weil können denselben thetischen Charakter annehmen wie das reine Daß. Dieses allerdings vermag nur dem Schein nach den logischen Deduktionsmöglichkeiten von Was und Weil zu entsprechen. Täuschung wie Verwechslung sind die häufige Folge. Vernunft und Wille treten seit dem Mittelalter immer auch vermischt auf, was die Entschlüsselung gesellschaftlicher Realität so kompliziert macht. „Wir haben also [...] die sehr wichtige Verbindung von Vielheit, Daßheit, mit Wille, Willkür, die Verbindung von Setzendem, Dynamischen, Realisierendem, Intensivem eben mit Willenshaftem und die Verbindung von Gesetzhaftem mit Verstandeshaftem“ (LV 4, p. 235). Der Urzufall sei außerdem jenem Nichts vergleichbar, das am Beginn des bürgerlichen Denkens, also bei Cusanus und Campanella, stünde. „Es ist das Nichts, aus dem die Welt gemacht ist, mundus ex nihilo creatus est, ein Satz, der nicht in der Bibel steht, sondern erst bei den Kirchenvätern, aber in sie hineininterpoliert wurde“ (LV 4, p. 236). Bloch weist auf einen philologischen Fehler hin: a sei irgendwann mit ex vertauscht worden. Die Welt ist demnach nicht von einem Nichts her erschaffen, sondern aus Nichts; das heißt, Nichts ist das ,Material‘, aus dem die Welt sowohl kreiert wurde als auch nach wie vor besteht. Der Stoff, aus dem alles ist, ist Nichts. Was sind nach Bloch die Eigenschaften des ,Materials‘ Nihil? Es ist wieder jenes „Nichterfüllte“, das „sich selbst Verzehrende“, die „zehrende Sehnsucht“, die „Leere, die sich füllen will, der Hunger, der Anfang, die unendliche Gier des leeren Daß und Daß und Daß der Setzung“ (l. c., p. 236). Diese Definition läßt tief blicken – leistet sie doch einer düsteren Stoff- und Weltsicht Vorschub, die von den Kirchenvätern, über Cusanus und Campanella, bis Schelling reicht. Bei Letzterem sei der Urzufall in Ansehung des Seins, das er erst setzt, ja auch gleich Nichts, Hohlheit, Leere, Zehren, Hunger, Freiheit. Gerade die Unendlichkeit und die Freiheit, in wel-

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cher sie sich ausdrückt und spiegelt, trage jenes unerträgliche Stigma des Nichts. Wichtig ist Bloch, daß analog dazu bei Schelling „das Nichts nicht etwas ist, in das das Sein hineinhängt wie bei Heidegger am Ende der bürgerlichen Gesellschaft, sondern etwas, was am Anfang unten liegt und besiegt werden muß“ (l. c., p. 237). Nur in dieser Folge ist jene Permanenz dialektischen Ringens garantiert, welche Geschichte als solche hervorbringt. Wenn nämlich „Sein in Nichts übergeht, erhalten wir Vergehen, wenn Nichts in Sein übergeht, haben wir Werden als Synthesis von Sein und Nichts zugleich“ (l. c., p. 240). Auffällig wie eigenwillig an Blochs Auslegung der Freiheit-Schrift bleibt, daß er nicht weiter auf die moralphilosophischen Schlüsse eingeht, zu welchen Schelling gelangt und die per se eine Provokation bürgerlicher Vorstellungen sind. Das mag daran liegen, daß er an Ethik im Besonderen, das heißt als ,bereichsspezifische, angewandte Handlungswissenschaft‘, sich immer schon wenig interessiert zeigte, da er dies mit seiner Auffassung von Philosophie als Aufspüren und Erkennen der großen Zusammenhänge und Totalitäten der Geschichte nur schwer hätte vereinbaren können. Ein allgemein-sittliches Konzept hingegen, der generelle Anspruch an das Humanum, inhäriert bereits a priori seiner ,Ontologie des Noch-Nicht-Seins‘ und findet daher in derselben ihre ,natürliche Aufhebung‘. Weiter beschreibt Bloch Schellings Differenzierung von negativer und positiver Philosophie. Erstere enthalte ausschließlich das Rationale, das „Nicht-nicht-zuDenkende“ (l. c., p. 241), nicht jedoch das Faktische, erklärt er. In der Berliner Nachfolge Hegels spotte Schelling zu recht über dessen Auffassung der Kategorien als Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt. Unklar nämlich bliebe bei Hegel jener Übergang von der reinen Logik zur Naturphilosophie, vom „Ansichsein zum Außersichsein“ des Geistes. Statt Konkretion gäbe es dort nur „lauter Bilder“. Da würde der Geist sich entlassen, schlage er um. „Entlassen, das heißt, wie bei einer Audienz mit einer gönnerischen Handbewegung der Besucher entlassen wird, gibt es da einen Kabinettsakt der Entlassung, und von der höchsten Höhe der sich selbst ergreifenden reinen Idee geht es nun herunter bis zu einem Wurm, einem Käfer, [...]“ (l. c., p. 241 sq.). Das sei doch alles Natur, bemängelt Bloch und will von Hegel wissen: „Wie kommt es denn dazu?“ Der Anstoß des Seins stünde hier als Problem, und der „ist eine schwache Stelle bei Hegel“ (LV 4, p. 242). Die Verwirklichung, das Realisieren könne nicht gelingen, wenn der Wille ein Moment des Geistes und das Sein ein Moment des Logischen sei. Durch den Panlogismus Hegels seien alle „intensiven Elemente“ geschwächt oder umgetauft. Schelling hingegen sei die Darstellung einer positiven Philosophie des Faktischen gelungen, „dieses anderen Stammes in der Welt neben dem Rationalen“ (l. c., p. 242). Mit dieser hat er für Bloch den Sprung vom Absoluten ins Sein – vollzogen durch eine ,Tathandlung‘ (wenn auch der eines Gottes) – theoretisch bewältigt und verriegelt. Die Argumentation entspricht im wesentlichen jener, welche wir aus dem Hegel-Buch

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kennen. Die Brisanz liegt hier jedoch darin, daß Bloch seine nach wie vor ungemilderte Kritik an Hegel und die damit in Zusammenhang stehende Apologie Schellings vor dem Leipziger DDR-Publikum ausführt. Er weist darauf hin, daß die historischen Umstände wie Bedingungen bei Schellings Lehrantritt in Berlin 1841 eine Philosophie des Positiven begünstigt hätten. Als Hauptgründe nennt er das Vordringen der Naturwissenschaften sowie die in Deutschland verspätet eingetretene mittlere Periode der Industrialisierung. Dies alles habe den Abzug der Romantik und das Interesse für Realpolitik begünstigt. „Den Geschäftsmann, den Mann der Praxis, der mit beiden Füßen in der Wirklichkeit steht und nicht mehr mit der Stirn die Sterne berühren will, den geht das Empirische an, das Sinnliche, und der will von Schelling auch angesprochen werden mit dem Wort ,empirisch‘, ,faktisch‘, ,positiv‘“ (l. c., p. 243). Allerdings: das Gegebene, von dem Schelling kündet, ist ein geoffenbartes – was dem Kaufmann wiederum seltsam vorkommen muß. Geoffenbart bedeutet, daß die (positive) Materie einen Ursprung besitzt, welcher unvordenklich ist. Das Geoffenbarte läßt sich nicht nachdenken, es ist autorisiertes Gesetz: auctoritas facit legem, und diese ist bei Schelling Gott. Dessen aus theoretischen Gründen angenommene Existenz scheint – wie schon im Hegel-Buch – Bloch nicht zu stören, geht es ihm doch allein um den „Kampf gegen die Logik im Anfang, gegen die ausschließlich logische Beschaffenheit des Weltinhalts“ (l. c., p. 243); darin sieht er bei Schelling die Vorstufe zum Materialismus. Jedoch habe auch der Existentialismus hier seinen Anfang, war schließlich Kierkegaard ein Hörer jener Vorlesung über die Philosophie der Offenbarung. Dieser habe ebenfalls – neben Feuerbach – an der Überbewertung der Vernunft und des Logischen bei Hegel Kritik geübt. „Das Sich-Befinden, das sich selbst Rechenschaft gibt im moralischen oder religiösen Sinn, im Sinn des Wissens des Gewissens zum Unterschied vom rational-allgemeinen Denken mit bloßem sich wissendem Wissen am Ende, das hat nun in einem neuen reaktionären Auftrag gegen die Vernunft, die der untergehenden Klasse gefährlich zu werden beginnt, weil sie Marxismus ist, sich auch eine Erfrischung an dem späten Schelling geholt“ (LV 4, p. 244).

Marxismus – so tritt es hier deutlich hervor – speist sich aus mehreren Quellen, zu denen für Bloch nicht nur Hegel und Schelling, sondern auch und nach wie vor Schelling und Hegel gehören. Nur miteinander vermögen sie die Grundlage des dialektischen Materialismus zu bilden. So ist das öffentliche Interesse am späten Schelling einerseits – aufgrund seiner religiösen Tendenzen – als reaktionär, andererseits jedoch als progressiv, weil gegen das ,Zuviel‘ an Hegelscher Vernunft und auf Materie als primum existens gerichtet, aufzufassen. Der „Anti-Hegel“ des späten Schelling stellt nach Bloch eine ambivalente Versuchung für verschiedene Parteien dar: er läßt sowohl religiös als auch materialistisch sich deuten und applizie-

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ren. Noch einmal betont er in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, von einem unvordenklichen prius auszugehen und von der Materie innewohnender Subjektivität. Das Daß ist ihm das Subjektive, Intensivierende, Tätige, im Unterschied zum Logischen, nur kontemplativ Erfaßbaren. Bloch zitiert dazu Schelling – wie bereits im Materialismus-Buch – aus dessen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie: „Wenden Sie diese Bemerkungen auf das Vorliegende an, so ist das Subjekt […] in seiner reinen Wesentlichkeit als nichts – eine völlige Bloßheit aller Eigenschaften – es ist bis jetzt nur Es selbst, und so weit eine völlige Freiheit von allem Sein und gegen alles Sein; aber es ist ihm unvermeidlich, sich sich selbst anzuziehen […], denn nur dazu ist es Subjekt, daß es sich selbst Objekt werde, da vorausgesetzt wird, daß nichts außer ihm sei, das ihm Objekt werden könne; indem es aber sich selbst anzieht, ist es nicht mehr als nichts, sondern als Etwas – in dieser Selbstanziehung macht es sich zu etwas; in der Selbstanziehung also liegt der Ursprung des Etwas-Seins, oder des objektiven, des gegenständlichen Seins überhaupt. [...] [SW I/10, p. 101]“ (LV 4, p. 245).

Bereits im Materialismus-Buch maß Bloch Schellings Bild von der Selbstanziehung hohe Bedeutung bei. Die Crux, auf welche er hinaus will, besteht in der Dissonanz, eine Art ,Protodialektik‘, welche dem Urgrund in seiner und als ,Eigenschaftslosigkeit‘ inhäriert. Jede Form der Verwirklichung führt ein neues Manko mit sich, die Unselbstgenügsamkeit bleibt. Jedes ,Sich-Anziehen‘ verschiebt den Seinsmangel ohne Aufhebung in die Zukunft, indem es unaufhörlich nach neuer ,Selbstanziehung‘ verlangt. Die Suche nach der verlorenen oder nie da gewesenen Identität gönnt dem Subjekt keine Ruhe, pflanzt ihm ein unendliches Streben ein. Dies nennt Schelling den „Grundwiderspruch“ oder „das Unglück in allem Sein“; „Ich bin, aber ich habe mich nicht“ oder „S[ubjekt] ist noch nicht P[rädikat]“ heißt es bei Bloch. Der Unterschied zwischen den beiden ,Dialektikern‘ besteht darin, daß Letzterer zwar keine Erlösung verspricht, jedoch Verbesserung (durch Utopie). Beim späten Schelling hingegen läßt das ,Schlimmste‘ sich gerade einmal durch ,denkend hergestellte Ordnung‘ verhindern. Der defensiven Konstruktion fehlt das Surplus der Hoffnung. Wir halten fest: Nachdem die Welt durch die abstoßende Kraft, welche dem Daß innewohnt, in Gang gekommen ist, beginnt die Weltgeschichte. Sie stellt beim späten Schelling den Versuch dar, die Willkürfreiheit und den Partikularwillen noetisch aufzulösen und in ,geordnete Bahnen‘ zu lenken. Diese Überlegung verursacht seine politische Reaktion. Bloch nennt sie dessen „Pferdefuß“. „Weltgeschichte ist also die Überwindung des individuell Phosphoreszierenden und Abfallenden, das der Weltprozeß darstellt und wogegen er zugleich die Rettung und Heilung bietet“ (LV 4, p. 246). Ein Gedanke, der Bloch affizieren muß: Not und Heil sind glei-

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chermaßen in der Natur anwesend. Diese birgt sowohl negative als auch positive Kräfte. Darin sieht er den Möglichkeitsgrund für ,konkrete Utopie‘. Dies ist für ihn auch der Hauptinhalt der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung. Die Weltgeschichte werde dort in einer Weise dargestellt, die an den Dualismus der Manichäer, den Kampf zwischen Licht und Finsternis erinnere. Das Daßhaft-Regellose stünde dort in ewigem Ringen mit dem Washaft-Ordnungshaften. Der Autor weist insbesondere auf den „reaktionären Klang“ des Wortes Ordnung hin und vermittelt dies mit dem politisch-philosophischen Kontext: „Ruhe sei die erste Bürgerpflicht, wurde gegen die sich empörende Rotte auf der Straße behauptet, und das sieht Schelling kosmisch“ (LV 4, p. 246 sq.). Es sei in dessen Alterswerk nicht mehr die Kunst, sondern die Religion Organ der Philosophie. Und in der Tat wird dort Weltgeschichte ausschließlich als Religionsgeschichte dargestellt. Bloch schließt den Kreis, indem er zur Erklärung dieses Phänomens an die Jugendschrift Schellings Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793) erinnert, welche die Lehre vom Sündenfall behandelt: „Damals schon kochte das Thema des Abfalls, der Freiheit in ihm, und er begann mit den Studien über Mythen. Und dann erst kam die Fichtische Periode, und durch das Ausmalen und Bemalen des Nicht-Ichs, was die Naturphilosophie dann ausmachte, entstand die pantheistische Identitätsphilosophie“ (LV 4, p. 247).125 Anfang und Ende des 125 Die von Bloch hier dargestellten Inhalte – so religiös sie auch scheinen mögen – waren ausschlaggebend für Schellings Ablehnung und Verurteilung besonders von Seiten der katholischen Dogmatik. Dies allerdings ging nie so weit, daß Schellings Werke einen Eintrag im Index librorum prohibitorum erhalten hätten. Ein kurzer Blick in die wichtigsten einschlägigen Enzyklopädien (beider Konfessionen) des neunzehnten Jahrhunderts gibt einen guten Eindruck von deren unterschiedlicher Haltung gegenüber seinem religionsphilosophischen Denken. Der Hauptvorwurf von katholischer Seite bestand im Pantheismus. Die Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften von Heinrich Wetzer und Benedikt Welte (1847-1860) führt noch kein eigenes Lemma zu Schelling, sondern verweist den Leser direkt auf das Stichwort Pantheismus, wo dieser dann zusammen mit Spinoza, Fichte und Hegel eine ausführliche kritische Erörterung erfährt (vol. 8, p. 81 sqq.). Erst in der zweiten Auflage (1881-1903) wird Schelling selbständig lemmatisiert. Das Urteil über ihn bleibt jedoch im wesentlichen dasselbe: „Unbegreiflich ist, wie Schelling sich schmeicheln konnte, den Pantheismus überwunden und den wahren Theismus aufgestellt, ja sogar den ächten Kern des Christenthums erfaßt zu haben. Sein Gott ist ein werdender, der erst durch einen Prozeß zur Vollendung kommt. Die Naturentwicklung ist Gottesentwicklung, die Kosmogonie Theogonie. Blasphemisch ist der Gedanke, in Gott sei der Grund der Sünde. Die Einfachheit des absoluten Wesens ist preisgegeben. Das System ist voll der Widersprüche.

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Schellingschen Systems enthalten durchgehend das Thema des Daßhaften, Anstoßenden, Realisierenden als Möglichkeitsgrund der unvordenklichen und widersprüchlichen Wirklichkeit. „Das Dasein fängt nach Schelling mit einem Widerspruch an“, faßt Bloch zusammen, „denn indem etwas verwirklicht wird, ist es nicht mehr das, was es vorher war, es ist auch wertmäßig nicht mehr das, was es vorher war. Dieser Widerspruch ist das Unvordenkliche in allem Sein und das in allem Seienden ebenfalls im Grunde Anzutreffende“ (l. c., p. 248). Das Daß ist nicht mehr dasselbe, sobald ein Was daraus wird. Alles Werdende hat hierin sein Alpha. Zur Verdeutlichung zitiert unser Autor noch einmal Schelling aus Die Weltalter: „Wir begreifen, daß die erste Existenz der Widerspruch selber ist, und umgekehrt nur in Widerspruch die erste Wirklichkeit bestehen kann, von dem einige sagen, daß er nun und nimmer wirklich sein könne. Alles Leben muß durchs Feuer des WiderDie Ausdrücke ,Abbruch‘, ,Entgottung‘, ,überzeitliche That‘, ,Ungrund‘ und ähnliche sind keine Erklärung. Der Versuch, die christliche Offenbarung in Philosophie umzusetzen, verkennt den Charakter des Christenthums und führt zur Auflösung desselben“ (vol. 10, col. 1780). In der ersten Auflage der von Johann Jakob Herzog herausgegebenen Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (1854-1868) erhält Schelling einen eigenen Artikel, welcher durch seinen außergewöhnlichen Umfang von neunundvierzig Seiten (vol. 13, pp. 503-551) hervortritt. Der Autor (Carl Heyder) beklagt dort zwar die Umstände, daß Schellings System, „weder dem christlichen noch dem sittlichen Bewußtsein genügend, in Gott eigentlich nur das Genie feiert, das mit künstlicher Zeugungs- und Erfindungskraft sich selbst Widerstand und Hemmungen schafft“, den Vorwurf des Pantheismus jedoch erhebt er in seinem Gesamturteil nicht. Er attestiert Schelling, mit großem Ernste den Wegen Gottes in Natur und Geschichte nachzuspüren, woraus „wahrhaft erfreuende Blüthen“ wüchsen. „Deshalb müßten wir auch tief beklagen, wenn sich die Theologie zu diesem System seiner bedenklichen Seiten wegen in ein nur negatives Verhältniß setzen würde, statt die reich dargebotenen Elemente des Wahren mit Dank gegen einen Mann zu benutzen, der vom Beginn seiner tiefgreifenden Wirksamkeit an [...] wie Wenige den Sinn für den Reichthum der Wirklichkeit erschlossen und der, ehe man von Seiten der Theologie den Umfang dieser Wahrheit erkannte, das bedeutsame Wort aussprach: ,das Christenthum sey vor Allem nicht Lehre, sondern Thatsache – Geschichte‘“ (p. 551). Zum Zeitpunkt des Erscheinens der zweiten Auflage derselben Encyklopädie (1896-1913) scheint die Rezeption Schellings im Protestantismus soweit sich reduziert zu haben, daß es nicht mehr zu einer selbständigen Lemmatisierung kommt. Er wird unter dem Artikel Idealismus, deutscher (vol. 8, pp. 612-637) auf noch nicht einmal einer Seite behandelt. Seine Philosophie findet sich dort, ohne besondere Wertung zu erfahren, lediglich als „poetischhylozoistischer Realismus“ (p. 629) zusammengefaßt.

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spruchs gehen; Widerspruch ist des Lebens Triebwerk und Innerstes [...] [SW I/8, p. 321]“ (LV 4, p. 248) – eine in der Tat marxistische Äußerung Schellings, die den Leipziger Hörern hier präsentiert wird. Zur Wirkungsgeschichte Schellings bemerkt Bloch gegen Ende der Vorlesung, daß dem Zeitalter des Kapitalismus aufgrund seiner Fixiertheit auf Empirie wohl das tiefere Verständnis für Denken und Kunst verlorengegangen sei. Die geringe Nachwirkung Schellings sei in erster Linie der historischen Entwicklung geschuldet. Die Entfesselung der Produktivkräfte werde allenthalben mit der Nivellierung der Philosophie bezahlt. Vergleichbar einem Kommerzienrat, welcher es nicht gerne habe, wenn sein Sohn Lyriker werden wolle, so mißbillige der Kapitalismus, wenn Philosophie getrieben würde. Bloch bedauert ausdrücklich, daß dergleichen Phänomene auch im Sozialismus anzutreffen seien. Eine Überbetonung der Praxis und des Gegenständlichen kann hier ebenso zu einer Diskreditierung philosophischen Fragens führen (der DDR-Führung warf Bloch „Schmalspurmarxismus“ vor). Als Schellings höchste Leistung rühmt er abschließend, daß jener erstens den Sinn für Qualität in der Natur und zweitens den Begriff der Identität uns neu hat entdecken lassen. Identität heißt: „Alles stellt sich ins Eine“ (LV 4, p. [256]). Bloch mahnt zu Respekt vor dieser Formel, ist Identität doch eine „hohe, eine seltsame, eine schwierige Kategorie, eine qualitative höchsten Ranges, die nicht vorhanden ist, sondern bestenfalls gepunktet in der Welt als die Kategorie der Heimat, des Sich-mit-sich-Zusammenschließens von allen Dingen und Menschen“ (LV 4, p. [256]). Gleichzeitig ist sie Programm, Blochs Programm oder vielmehr: sein Postulat – gegen Entfremdung und Verdinglichung. Doch die ,Potenz zur Heimat‘ ruht noch im „Zeitenschoße“ (l. c., p. [256]). – In allen Phasen der Schellingschen Philosophie findet Bloch ihm Nützliches, Aufschlußreiches: Identität und Qualität im ersten und mittleren, Dialektik im späten Wirken. Es läßt sich daher nicht behaupten, daß er eine bestimmte Periode an jenem bevorzuge – wie Wüstehube ihm etwa unterstellt, nur Affinitäten zum alten Schelling zu haben. Die Gründlichkeit der Blochschen Untersuchungsmethode besteht weniger in einer ausführlichen Exegese der Schriften Schellings als in deren Verortung innerhalb der philosophiegeschichtlichen Tradition. Die Folie des historischen Materialismus, welche stets er über seine Forschungen legt, ist ihm auch und besonders für den Deutschen Idealismus Maßstab und Kriterium. Magna cum diligentia sucht er dort nach den Anfängen marxistischen Denkens und ,konkreter Utopie‘. Im Erfassen der großen Zusammenhänge sieht er seine vornehmste Pflicht. So stehen auch seine Studien über Schelling nie für sich, sondern im Dienste der übergeordneten Aufgabe, Philosophie als Tendenzwissenschaft zu betreiben. Diese hat für Bloch „in all ihren wechselnden Gestalten nie den Zug zum Ganzen und Eigentlichen“ zu verlieren. „Liest sie doch nicht so sehr die einzelnen Abschnitte als den Zusammenhang im Buch der Welt“ (GA 10, p. 399).

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„[S]ie ist im Bewußtsein dieses Ganzen der höchstversuchte Durchblick von der Erscheinung auf das Wesen, kurz auf jenes Eigentliche, und vor allem jenes, wohin überhaupt der Prozeß des Ganzen tendiert. So ist Philosophie, mit dem besten Erbe in sich, die universale materielle Tendenzwissenschaft selber, das ist, die zusammenhängende Erleuchtung des Woher, Wohin und Wozu des in der Weltmaterie gesetzhaft anhängigen Prozesses“ (GA 10, p. 399 sq.).

Im Rahmen dieser Auffassung ist auch die Darstellung Schellings in den Leipziger Vorlesungen zu verstehen, die für ihre Absicht, Gesamtschau zu sein, eine zum Teil ungewöhnlich detaillierte Interpretationsarbeit leistet. 2.2.12 „Experimentum Mundi“ 1975 erschien Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis als Band 15 der Gesamtausgabe. Es war die letzte zu Lebzeiten publizierte Monographie Blochs. Vom fast neunzigjährigen, erblindeten Autor seinem Hilfsassistenten Burghart Schmidt diktiert, widmet sie sich noch einmal, jedoch ausführlicher und ungewöhnlich systematisch, dem im Materialismus-Buch vorbesprochenen Problem der Kategorien, ihrer Bedeutung für die Praxis und ihre Herkunft aus der Praxis. Was ist gemeint? Noch vor allem Philosophieren, das heißt der Logisierung des in der Ich- und Objektwelt Erlebten und Angetroffenen, steht bei den Griechen das Staunen (șĮȣȝ੺ȗİȚȞ). Für Bloch verbirgt aller methodische Anfang sich präzisiert im Fragen und in der Skepsis. Beide dürften jedoch nicht als kontemplative Apologeten des Bestehenden, ,schlecht Vorhandenen‘, sondern als ,Weich-‘ und ,Wahrmacher‘ desselben fungieren. Aufgabe der Skepsis sei es, die „festen Begriffe ins Wanken“ zu bringen und die „Flüssigkeit aller Dinge“ zu entdecken. In keiner seiner Schriften macht er vom Begriff der Verdinglichung so häufigen Gebrauch wie in Experimentum Mundi. Alle Verdinglichungskritik habe auch Sprache zu berücksichtigen, müsse gar mit ihr als Objekt beginnen. Und nicht nur deshalb lohnt sich für uns ein Blick auf das Werk: Blochs bevorzugte Erkenntnis aus der Naturphilosophie Schellings: über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen, wird hier zum Leitmotiv des ganzes Buches. Es will darüber aufklären, daß auch die Kategorien nur dann zur Erkenntnis beitragen können, wenn sie selbst von aller Erstarrung durch Ideologisierung bewahrt bleiben. Es geht um das Flüssigwerden einer verdinglichten Kategorienlehre, um die Frage ihres Woher (Genesis) und Wozu (cui bono). Vor und hinter aller Begrifflichkeit stehen nach Schelling (cf. Ideen zu einer Philosophie der Natur) Kräfte, die als Materie entgegengesetzt wir-

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ken und die es mühsam zu bestimmen gilt.126 Die Begriffe selbst sind das Ergebnis von Prozessen. Sie sind einer permanenten dynamischen Durchdringung ausgeliefert, was ihren Stillstand verhindert und ihre Weiterentwicklung ermöglicht. Auf diesen Prinzipien der Schellingschen Naturphilosophie ruht Blochs Kategorienlehre und -kritik. Proprium seiner Überlegungen ist das Postulat der Veränderung und der Praxis: Welt als und im Experiment. Der Unterschied ist dieser: Schelling konstatiert die permanente Veränderung von Wort und Wirklichkeit, Bloch fordert sie. Geschichte wäre jedoch weder als Ganzes noch als Prozeß möglich und denkbar, würden die Kategorien der jeweiligen Epochen nicht auch miteinander zusammenhängen. Sie sind also ebenso durch Modifikation wie Konsistenz, durch Veränderung wie Bewahrung bestimmt. Sie sind aufgerufen, die historische Praxis mitzugestalten, um von dieser umgestaltet zu werden. Ein Kategoriensystem sollte deshalb offen und geschlossen zugleich konstruiert sein. Vornehmlich richtet Blochs Kritik sich auf die in der Entstehungszeit des Werkes aktuell aufgetretenen Strömungen des französischen Strukturalismus, der angelsächsischen Sprachphilosophie und der deutschen Linguistik. Allen gemeinsam wirft er vor, keine ausreichende Selbstreflexion zu betreiben, das heißt, sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen und der ideologischen Herkunft ihrer Theorie zu stellen. Er macht ihnen den Vorwurf, durch ihre positivistischen Ansätze den Interessen einer ökonomisierten Welt Vorschub zu leisten und somit aus einem Klassenbewußtsein heraus zu handeln. Sprachkritik, auch und gerade von philosophischer Seite, sei sinnvoll und wünschenswert, müsse jedoch stets die historische Genesis ihres eigenen Handwerks mitvollziehen, mitbeachten. „Das aber wurde genau von den Positivisten, wie sie heutzutage Sprachkritik überwiegend und fast allein betreiben, gründlich vermieden, tunlichst formalistisch, ganz ohne gesellschaftlichen Topos, weil ihre Kritik selber eine bürgerlich formale ist, also den Kern nicht trifft. Der ökonomische Kern steckt aber allein schon in den Possessivpronomina, dem Mein und Dein, wie sie bis hin zur besitzfordernden Eifersucht (meinen Mann oder meine Frau betreffend) ihre Sprache geben. Steckt in den Substantiven und allezeit festmachenden Substantivierungen, worin das Geschehene so leicht sich verdinglichen, der Prozeß zu starren Fakten sich entspannen läßt. Dann vor allem in der Satzkonstruktion selber, mit Haupt- und Nebensätzen, worin es der Sprachrhetorik so verblüffend gelingen kann, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen, die starke auf grammatische Nebengleise zu verschieben, so daß eine völlige Verschiebung von wirklicher Hauptsache und Beiläufigem erleichtert wird“ (GA 15, p. 34 sq.). 126 In den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) verwendet Schelling den Begriff der Dialektik nicht. Wenn Bloch ihn verwendet, rekurriert er ausdrücklich auf Hegel.

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Besonders im wissenschaftlichen Umgang mit der Sprache spiegle sich der Überbau der existierenden Klassengesellschaften. Der Autor empfiehlt deshalb: „Sprachkritik braucht also Marxismus auch zu ihrem linguistischen Verfahren, damit Linguistik Sprache nicht als unabhängige Gegebenheit hinstellen kann, sie braucht weiterhin Marxismus ebenso zu ihrem auf reale Abbildung bezogenen Maß für semantische Gültigkeit. Nach der ideologiekritischen Prüfung meldet sich dann Rettung jenes solid bleibenden Realschatzes der Sprache, der schon von der allerersten Arbeitsbeziehung herkommt, allen zuhandenen Dingen ihren Namen gebend“ (GA 15, p. 37).

Um die Sachlichkeit und Objektivität einer Kategorie zu gewährleisten, gelte es die Reihenfolge der logischen Prädizierung neu zu bestimmen. Allem Aussagen gehe bereits ein Urteil als „Drehung aus dem Unmittelbaren“ voraus. Wie ist das zu verstehen? Bloch demonstriert dies an einem Beispiel: „Sagen wir: Es regnet, so wird dieses Es noch prädiziert durch Regen, während andererseits freilich, wenn wir impersonal so beginnen: Es ist ein Schrank, dann läßt sich bereits sagen: Es ist als Schrank bestimmt. Beide Es haben nicht das mindeste miteinander gemein, doch gerade, weil sie einen noch gänzlich unbestimmten bloßen ,Ergriff‘ gleichmäßig darstellen, stehen sie gleichmäßig undifferenziert am Anfang des Urteilens selber. Ergriffe stehen logisch vor dem Urteil, sind eine Vorstufe zu dem bestimmten Subjekt, das im Prädikat begriffen wird; Ergriffe werden im Prädizieren ihrer zu Begriffen bestimmt. Das noch unbestimmte, aber zu bestimmende Es, nämlich der Ergriff, ist noch in jedem logischen Subjekt enthalten, und das Urteil ist dazu da, es prädikativ zum Begriff zu bestimmen“ (GA 15, p. [39]).

Das Es entspricht nach Bloch dem Schellingschen Daß, welches ein kontingentes Sein, ein Sich-Ereignen anzeigt. Das Es steht für die Unmittelbarkeit, die noch bestimmt werden muß und dafür, daß überhaupt etwas bestimmt werden muß. „Dieses Bestimmen ist Urteilen als Verknüpfung des zu bestimmenden Subjekts durch die Kopula mit dem bestimmenden Prädikat“ (GA 15, p. [39]). Derart setze Urteilen Ergriffe voraus, um sie so erst präzis zu Begriffen zu bilden. In der Wahl der Verknüpfung selbst verberge sich schon das Urteil. Bereits am Anfang des Urteilens melde sich logisch ein Es, das sprachlich nicht überall vorkomme, so etwa im Lateinischen, wo im pluit gar kein Es stehe, es jedoch mitgedacht werde. Ergriffe gehörten deshalb überhaupt nicht ins grammatische Gebiet, sondern seien rein logische Begriffe in statu nascendi. Jedes Urteil setze Ergriffe voraus, bilde aus ihnen erst die Begriffe. „Urteilen als durchwegs prädizierendes ist Begriffsbildung in statu nascendi“ (GA 15, p. 40). Erst urteilshaft gebildete und ausgewiesene Begriffe machten zuletzt auch Definitionen möglich. Daher müsse die Folge lauten: Ergriff, Urteil, Begriff, Schluß, statt, wie üblich: Begriff, Urteil, Schluß. Urteile setzen also

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keine Begriffe voraus, sondern umgekehrt: Begriffe setzen Urteile voraus. „Der wirkliche, nämlich ideologische Rest der Formel S ist P zeigt sich in dem hemmenden Mißverstehen der Kopula als eines logisch präformierten ausgemachten ,Seins‘ der Sache“ (GA 15, p. 40 sq.). Das ,Sein‘ der Sache sei jedoch keineswegs ausgemacht. Mit dem Ist sei zu viel vorweggenommen, das es erst zu prüfen gelte. „Indem aber das Ist der Kopula als statisches Sein mißverstanden wird, entsprechend dem zufrieden haltenden Schein einer beruhigten, sklavenhalterischen, feudalen oder kapitalistischen Gesellschaft, wird dem Subjekt durch das Kopula-, dann durch das Prädikatsein jeder Ort des Werdens versperrt“ (l. c., p. 41). Eine Urteilsform entwicklungsgeschichtlicher, synthetisch vermehrender Art, ausgedrückt durch die Formel „S ist noch nicht P“, wirke deshalb „wie von Haus aus irregulär und formal ununterbringbar“ (GA 15, p. 41); oder: Ohne Gewesen kein Ist und Werden, ohne Wir kein Ich. Denken wie Urteilen kann für Bloch daher nur heißen: Überschreiten. Jede statisch machende Urteilsform entspreche dem Schein einer bereits fertigen Ordnung: „Bleibt man bei der Urteilsform stillstehen, und faßt man diese als das Subjekt nur auswickelnd, nicht aber überschreitend, dann wären sogar in wirklich abgeschlossenen Urteilsaussagen immer nur tautologische Prädikate möglich, dergestalt, daß eine so wirklich historische Aussage wie: Caesar überschritt den Rubikon sich weder auf einen vergangenen, noch zukünftigen Caesar beziehen könnte, weder auf den, der sich einst mit kilikischen Seeräubern herumschlug, noch auf den späten, dem Brutus zuerst den Dolchstoß gab. Vielmehr bezöge sich bei statischer Kopula das Prädikat exakt ausschließlich auf den Caesar am Rubikon, so daß das Urteil nur lauten könnte: Der Rubikon überschreitende Caesar ist der den Rubikon überschreitende Caesar“ (GA 15, p. 41).

Und auf diese Weise wäre es unerklärbar, sagt der Verfasser, weshalb jedes Urteil gerade während des Bemühens um seine formale Richtigkeit, wie erst um seine sachverhaltende Wahrheit eine Schwebe nötig habe, nämlich durchgängig die Frageform halte und brauche, so lange, bis im Laufe der Untersuchung wirklich etwas kategorisch ausgesagt werden könnte. Weiter gehe es bei Urteilen nicht nur darum, zwischen wahr und falsch, richtig und unrichtig (= logische Qualität) zu unterscheiden, vielmehr gehe es darum, durch das dialektische Ringen die Möglichkeit eines tertium zu erhalten. Eine nur zweiwertige Logik, wie sie auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten enthalte, reiche nicht mehr hin, wenn der Fall eines tertium datur eintrete, wenn ,Noch-nicht-Bewußtes‘ im Begriff sei, hervorzutreten oder wenn es darum gehe, ,unabgegoltene Vergangenheit‘ miteinzubeziehen. Kurzum: Für Bloch kann kategoriale Erkenntnis, und hierin folgt er Hegel, nur prozeßhaft geschehen. Sie hat Vergangenheit und mögliche Zukunft zu integrieren. Ohne Werden als Vermehren bliebe es bei bloßen Tautologien, könne kein Blick auf das Ganze

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gelingen. Voraussetzung aber sei ein „gemeinsames Bezogensein, Orientiertsein eines Subjekts und eines Objekts des Erkennens auf die Sache selber als eines Wahren, nicht bloß Richtigen“. Nur dieser Art bestehe „kein Riß zwischen Subjekt und Objekt, sondern eine Brücke“ (GA 15, p. 54). Nur Gleiches könne Gleiches erkennen. Hierbei bezieht unser Autor sich auf Parmenides und Schelling. Bei Letzterem gäbe es soviel Gleichheit zwischen dem „Geistigen drinnen und draußen, daß er sagen kann, der Geist sei unsichtbare Natur, die Natur sichtbarer Geist; es bestehe im Wesen ein anfänglich wie letzthin Ununterschiedenes, eine Indifferenz ,von Natur und Geist, von Objekt und Subjekt‘. ,Was außer dem Bewußtsein gesetzt ist, ist dem Wesen nach dasselbe, was auch im Bewußtsein gesetzt ist‘; so ,muß das Erkennbare selbst schon das Gepräge des Erkennenden an sich tragen‘“ (GA 15, p. 58).

Mit Schelling also begründet der Verfasser seine These von der „Parteilichkeit in der Erkenntnis“. Er begrüßt in dessen Naturphilosophie die Entdeckung der subjektiven Empfindung als wesentlichen Faktor im Akt des Urteilens und Aussagens, sowie die Freilegung der Daß-Was-Relation von Wirklichkeit. Hinter jeder Kategorie steht nach Bloch eine produzierende Kraft, welche dieselbe in eine Gestaltkategorie verwandle, die wiederum, zur Veränderung anstiftend, als Transmissionskategorie von Theorie und Praxis sich erweist: „Von der treibenden Ur-Sache des Daß über Zeit und Raum als Rahmen der Bewegung auf dem Weg, den es ohne diesen Rahmen gar nicht gäbe, zu den eigentlichen Transmissionskategorien, das heißt den sich ausführenden Urkategorien der Relation zwischen Daß und Was; sie treten als Kausalität, in dieser qua Zweckursache als Finalität, letzthin als sich-suchendgesuchte Kategorie Substanz hervor. Die kategoriale Relation insgesamt faßt sich inhaltlich in der auf dem Weg befindlichen eigentlichen Fülle der dialektisch fortschreitenden Gestaltkategorien, Kategorialgestalten, wie sie ebenso jede Aussage begrifflich ordnen als auch die Experimentanordnung des Weltwegs ausmachen“ (GA 15, p. 67 sq.).

Das Fieri einer Kategorie sei deshalb wahrer als jedes ausgesagte Faktum. Die ,reine Gegenwart‘ als ,Dunkel des gelebten Augenblicks‘ bleibe das für jede Kategorie Unvordenkliche. „Entsprechend verhält es sich in allem Abstandslosen, daher gibt es in Ansehung des Unmittelbaren an sich den blinden Fleck in jedem Kategorialen selber“ (l. c., p. [69]). Jede Kategorie sei spätestens seit Schelling und E. v. Hartmann ein Spannungsverhältnis zwischen alogischer Intensität und logischem Gesetz. In jeder Kategorie sei die Relation von „thelisch energetischem Daß“ und „prädiziert logischem Was“ am Werk. Die Kategorien seien das immer weiter sich ausprägende Relations-Wie, der versuchte Bezug des Daß zum Was, also der quodditas zur quidditas und umgekehrt. Bloch macht darauf aufmerksam, daß es auch

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der durchdachtesten Kategorienlehre nicht gelingen könne, den Rest an Irrationalität einzuholen, welcher in allem Daßhaften als erlebtem ,Nähe-Dunkel‘ zu finden sei. Wir kennen diese Argumentation vor allem aus den Leipziger Vorlesungen und dem Hegel-Buch. Der Autor läßt sie auch dort schon in die Debatte um Mechanismus und Dynamik, um Zufall und Notwendigkeit münden. Statt starr konstruierter Kausalabfolge, wie sie auch die gewöhnliche Kategorienlehre dominiere, müsse dort vielmehr dynamisch gedacht und ausgesagt werden, das heißt, die Wechselwirkung der Kräfte sollte mehr Beachtung finden: „Erst die Dialektik, mit dem Grund nicht als ratio von vornherein, sondern als intensiver Daßheit, mit der Folge nicht als automatischer Unweigerlichkeit schlechthin, sondern als wendungsfähigem, wendungsreichem, wenngleich geordnetem Prozeß, macht den Kausalsatz aus einem a priori analytischen zu einem a posteriori erweiternden, synthetischen. Und sie nimmt ihn zugleich nach dem, was er entwickelt wert ist, in sich auf: als Wechselwirkung, als Kausalität der Widersprüche, als Agens-Agendum utopischer Ur-Sache“ (GA 15, p. 132).

Zur Affirmation seiner Thesen zieht Bloch Schelling aus der Freiheit-Schrift heran, wo jener sagt: „Das Irrationale und Zufällige, das in der Formation der Wesen, besonders der organischen, mit dem Notwendigen sich verbunden zeigt, beweist, daß es nicht nur eine geometrische Notwendigkeit war, die hier gewirkt hat, sondern daß Freiheit, Geist und Eigenwille mit im Spiel waren [SW I/7, p. 376]“ (GA 15, p.138). Gleich im Anschluß zitiert unser Autor noch eine zweite Stelle aus Schellings Werk, aus den Münchener Vorlesungen: „Das erste Seyende, dieses primum Existens, wie ich es genannt habe, ist also zugleich das erste Zufällige (Urzufall). Diese ganze Construktion fängt also mit der Entstehung des ersten Zufälligen – sich selbst Ungleichen – sie fängt mit einer Dissonanz an und muß wohl so anfangen [SW I/10, p. 101]“ (GA 15, p. 138). Freiheit bedürfe des Zufälligen; alles Kategorisieren solle Freiheit nicht einschränken, sondern dieselbe als Möglichkeit und Zufall befördern und vermehren. Freiheit sei innerhalb des Weltgeschehens immer die Potentialität des „Anderskommens“, des „Andersmachenkönnens“, „ja es gäbe ohne die darin gedachte fruchtbare Diskontinuität einzig nur Unterwerfung unter starren Gesetzzwang“ (GA 15, p. 139). Das dialektisch Unterbrechende, welches Individuum und Geschichte überhaupt erst ermögliche und hervorbringe, könne aus der Kategorienlehre nicht ausgeschlossen werden. Die Freiheit, welche dem einzelnen Subjekt durch Bewußtsein entsteht und es zur Meliorisierung seiner Verhältnisse bewegt und ermutigt, dürfe nicht zugunsten eines durch verdinglichte Sprache vermittelten, falschen Friedens mit der Gegenwart eingetauscht werden. Sogar Husserl, warnt Bloch, „in seinem durchaus kräftig blickenden phänomenologischen Gegenzug gegen den neukantianischen Formalismus“, sei der Verdinglichungsgefahr nicht entgangen.

2. S CHELLING

IN DER

R EZEPTION

VON

E RNST B LOCH | 187

„[S]ie trübt die bei ihm vertretenen Aktintentionen auf Inhalte durch Verdinglichung von deren Formen. Dem entspricht, daß bei ihm trotz seines ,Bewußtseins überhaupt‘ das Eingreifenkönnen des Subjekts fehlt und diese bewegungshaltig, gar dialektisch mitentwickelnde Hauptsache in seiner ,Wendung zu den Sachen‘ unauffindbar ist. Bedingt ist dergleichen durch das gänzlich passiv gemachte Aktwesen einer noch so sachhaft intendieren wollenden ,reinen Schau‘ deskriptiver Art. Sie bleibt deshalb allzuoft bei einer sich selbst genügenden und eben verdinglichten Bedeutungsanalyse stehen, bei einem Herausschälen des Gemeinten aus gegebenen Begriffen“ (GA 15, p. 161 sq.).

Blochs Wesenschau hingegen sucht seit Geist der Utopie unter Einbeziehung des Subjekts in den Archetypen der menschlichen Kultur das Novum zu entdecken, das Noch-nicht-Bewußte aus deren tendenzhaften Vorzeichen herauszubringen. Kategorien nennt er deshalb auch „Auszugsgestalten“ (GA 15, p. 161; p. 243 etc.). Der exakte Begriff ist für Bloch dabei dennoch von großer Bedeutung. Er allein vermag objektiv-reale Daseinsformen so zu beschreiben, daß sie als solche erkannt und erweitert werden können. Wahrheit und Gewißheit als Subjekt-Objekt-Identität können nur in der individuellen wie kollektiven Praxis als „Weltexperiment“ bestimmt werden. Fichtes Konzeption der Tathandlung als Evidenzkriterium dient dem Verfasser in diesem Zusammenhang als Vorbild, sei diese doch „die erste realistisch gemeinte (nicht nur methodisch-pragmatische) Erscheinung des Theorie-PraxisVerhältnisses innerhalb des Idealismus“ (l. c., p. 249). Er erinnert damit an die verifizierende Eigenschaft von Materie sowie an die thelische Bewegung als deren Verwirklichungsweise. „Item, der Nullpunkt im Daß sucht, versucht durchs Experiment der Welt sein, das ist ihr Omega, vorscheinend eben im Subjekt als Glück, in der Gesellschaft als Solidarität menschlicher Würde, im Draußen der Weltlandschaft, mit nicht mehr ausgelassenem Insichsein, als Heimat“ (GA 15, p. 261). Noch einmal: Verdinglichung kristallisiert bei der Betrachtung der beiden parallel verlaufenden theoretischen Stränge von Lukács und Bloch sich immer mehr als ein Ausdruck für jene Probleme heraus, welche durch die Dopplung der Wirklichkeit in Geschichte und Natur, Geist und Materie, Denken und Sein entstanden sind. Es ist die Teilung der Quelle der Erkenntnis, die zur Teilung des Subjekts führt. Bloch, so sahen wir, löst das Verdinglichungsproblem durch den Verweis auf den gemeinsamen Identifizierungsgrund Materie sowie den Antrieb Hoffnung, welcher, aus und von dieser selbst hervorgebracht, die Geschichte – unbeschadet ihres periodischen Scheiterns – weiter prozessieren läßt. „Marxismus insgesamt ist die Rückverwandlung der Verdinglichungen in prozeßartig sich wandelnde Beziehungen zwischen

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Menschen.“127 Und in Korrektur und Komplementierung des Schelling-Satzes „Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen“ (SW I/3, p. 13) formuliert er: „Über die Welt philosophieren heißt nicht, die Welt schaffen, doch – sofern Philosophie den materiellen Erzeuger und seine materiellen Beziehungen bloßlegt – die Welt weiterschaffen.“128 Proletarische Insurgenz oder Revolution sind für ihn nur ein Teil, ein Ausschnitt der Gesamtbewegung der Materie in Raum-Zeit. Deren ,latente Tendenz‘ im Hinblick auf ,konkrete Utopie‘ zu eruieren, gar zu vollenden bleibt eine hohe Kunst und Aufgabe, welche nicht nur in ihrem philosophischmethodologischen Anspruch an die ,intellektuelle Anschauung‘ Schellings reicht, sondern auch deren Charakter einer visio beatifica analogisiert: der Schau des Eschaton als ,vollkommene Erfüllung‘ entspricht der Blick Moses’ auf das ,gelobte Land‘, welches nur um den Preis des Sterbens betreten werden darf. Die Versuchung des Glücks ist zugleich die des Todes. Höchste Erfüllung und Thanatos korrespondieren. Wenn Verdinglichung als Spaltung des Individuums sich definiert, kann ihr Gegenteil nur Identität heißen. Die vollständige Aufhebung der Verdinglichung ist für Bloch das reale Identisch-Werden des Subjekts mit sich selbst (S = P) als ,Entelechie der Materie‘ im Wir. Es bedeutet die Adäquation der Sehnsucht an und zu sich selbst oder: die eingelöste Sehnsucht des Selbst nach Adäquation als Totalität und konkrete Erfüllung in Gesellschaft.

127 E. Bloch: Logos der Materie, p. 235. 128 E. Bloch: Logos der Materie, p. 235.

3. Schellings Naturphilosophie „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“1

Alles bis hierher gesammelte Wissen schien uns notwendig, um ein tieferes Verstehen dessen zu gewährleisten, worauf unsere Bemühungen zielen: Schellings Naturphilosophie unter materialistischem Aspekt neu zu sichten. Eine lecture à rebours seiner frühen Schriften wird dazu unverzichtbar sein. Unser Blick ist methodisch ein umgekehrter: von der Wirkungsgeschichte aus, mit welcher wir begonnen haben, nähern wir uns nun in bewußter Voreingenommenheit Schelling selbst. Vertraut mit seiner Rezeption bei Lukács und Bloch, gilt es dieselbe anhand der Quellen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und darüber hinaus zu neuen und selbständigen Einsichten zu gelangen.

3.1 D IE S UCHE

NACH DEM

ABSOLUTEN

Verdinglichung, so sahen wir bis hierher, bezeichnet die Tatsache einer Trennung. Da die Philosophie des Idealismus2, zu welcher die Systeme von Fichte, Schelling

1

F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, p. 29.

2

Bloch folgend betrachte ich Schellings Philosophie generell als zum Deutschen Idealismus gehörend; für große Teile seines Systems, wie die Naturphilosophie, ist diese Bezeichnung allerdings zu unscharf, da jener materialistische Züge nachweisbar sind. Auf die Notwendigkeit einer begrifflichen Differenzierung macht auch Manfred Frank in sei-

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und Hegel zu rechnen sind, es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Indifferenzpunkt zwischen der Vielheit des Seienden und dem Einen (ਨȞ țĮ੿ ʌ઼Ȟ) zu finden, erscheint ihr Ansatz zur Lösung der Reifikationsproblematik ebenso aktuell wie vielversprechend. Nicht soll die Verhandlung mit den Idealisten bedeuten, unser Anliegen rein systemisch (oder gar metaphysisch) zu beheben, das heißt, es innerhalb eines einzigen Grundsatzes zu installieren, von dem aus die gesamte Komplexität der Wirklichkeit deduziert werden könnte. Dies entspräche eben jener spekulativ-idealistischen Aufgehobenheit aller Teile im Ganzen. (System bezeichnet den Zusammenstand verschiedener Sätze im Hinblick auf einen einzigen. Alles ist auf bestimmte Weise einer Einheit zugeordnet). In dieser Hinsicht wird die Kooperation sicherlich Grenzen erfahren. Verdinglichung begegnete uns weiter als ein anderer Name für die Auflösung der Subjektivität in gesellschaftliche und ökonomische Strukturen. Subjektivität, obgleich ein bevorzugtes Sujet des Idealismus, ,ereignet‘ sich nicht allein als ,intellektuelle Anschauung‘ oder im ,reinen Denken‘, sondern ist auch leiblich, geschichtlich und biographisch gerechtfertigt. Es geht sowohl um ihren Erhalt als auch um ihre (praktische) Wiederherstellung. Bevor wir beginnen, Schellings Naturphilosophie auf ihren materialistischen Gehalt hin zu überprüfen, wollen wir uns kurz der Motive versichern, welche von einer Anlehnung an Fichte schrittweise zu einer gegen dessen System gerichteten ner Tübinger Vorlesung im WS 2008/09 aufmerksam: „Mit seiner Hegel-Kritik verließ der alte Schelling den diskursiven Rahmen des Idealismus; er schlug [...] die Phiole kaputt, in der der idealistische Homunculus gefangen war. Über seinen unbotmäßigen Schüler Kierkegaard wurde er zum Vorläufer, eigentlich zum Gründungsvater der schon von ihm so benannten ,Existenzphilosophie‘ und hatte – bei aller politischer Reserve – einen mächtigen Einfluß auf Karl Marx, ja selbst auf seinen Schüler, den russischen Anarchisten Michail Bakunin [...]. Sie sehen: Schelling unter dem Titel des deutschen Idealismus zu verpacken, ist ganz fragwürdig oder vielmehr: offensichtlich falsch. Gewiß, bei genauem Zusehen könnte man auch für den späten Fichte ähnliche Zweifel anmelden, und nur Hegel hat lebenslang die Fahne des Idealismus hochgestreckt – auch wenn sein absoluter Idealismus darum ,absolut‘ hieß, weil er nur ganz mittelbar die Prämisse esse est percipi des alten erkenntnistheoretischen Idealismus in sich eindringen ließ. Auch Fichte steht Berkley nahe, auch wenn der Bischof die erste Einstellung des Subjekts zur Welt in eine Passion setzt (percipi), während Fichte sie in einer ,Tathandlung‘ begründet. Ich habe darum [...] den empiristischen, passiven, wahrnehmungsbasierten Idealismus vom Produktionsidealismus à la Maimon und Fichte unterschieden, dem auch Schelling, jedenfalls bis 1800, zugehört“ (M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 1. Vorl. WS 2008/09, p. 21 sq.).

3. S CHELLINGS N ATURPHILOSOPHIE | 191

Philosophie geführt haben. Die dazu erforderliche historisch-systematische Rekonstruktion ruht vorwiegend auf den Forschungsergebnissen von Dieter Henrich und Manfred Frank, welche in dieser Hinsicht solch gründliche Vorarbeit geleistet haben, daß eine umrißhafte Erfassung und Wiedergabe ihrer Resultate hier genügen mag. „Dieter Henrich hat in seiner Heidelberger Vorlesung aus dem Wintersemester 1965/66 über die Philosophie des deutschen Idealismus folgende Übersicht vorgeschlagen. Die drei Idealisten seien gemeinsam ausgegangen von der Überzeugung, der Einheitsgrund, aus dem die Fülle fundierter Sätze abzuleiten ist, sei in der cartesianischen Evidenz unserer Selbstgewißheit gefunden. Fichte habe diese Überzeugung in dem Satz ausgesprochen: Es ist etwas Unbedingtes im Ich zu denken. Schelling habe den Fichteschen Satz wie folgt umakzentuiert: Das Unbedingte im Ich ist als solches zu denken. Hegel habe Schellings Position teils übernommen, teils überschritten in der Überzeugung, es gelte, das Unbedingte im Ich als solches zu denken, das heißt aus der Struktur der Reflexion einsichtig zu machen“ (ES, p. 24).

Mit anderen Worten: Fichte versucht das Unbedingte im Ich zu denken. Hegel versucht das Unbedingte im Ich zu denken. Und Schelling sucht das Unbedingte im Ich zu denken. – Was meint unbedingt? Der Terminus des Unbedingten führt uns wieder zum Ding, welchem wir in der Einleitung unsere Aufmerksamkeit schenkten, um zu einem tieferen Verstehen der Etymologie der Verdinglichung zu gelangen. Bedingen bezeichnet Schelling als „vortreffliches Wort, von dem man sagen kann, daß es beinahe den ganzen Schatz philosophischer Wahrheit enthalte. Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt sein kann, d. h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann“ (SW I/1, p. 166).

Der Ausdruck Verdinglichung hätte dementsprechend die Bedeutung: etwas einer Bedingung unterwerfen, es in die Abhängigkeit von etwas Anderem oder eines Anderen stellen. Schelling bemüht sich, im Ich etwas zu finden, „das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann“ (SW I/1, p. 166). Dieses Unbedingte zu bestimmen, führt ihn als einzigen der drei Idealisten zur Konzeption einer materialistisch revidierten Spekulation. „An Schelling und nur an Schelling läßt sich im

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Rahmen der klassischen deutschen Philosophie der Ausweg aus dem idealistischen Fliegenglas demonstrieren.“3 Es interessiert an ihm vor allem, „wie er im Untergeschoß des ,absoluten Ich‘ eine materielle Basis findet, über die das bewußte Ich selbst nicht verfügt – auch Gottes Selbstbewußtsein verfügt über dies ,Realprinzip‫ދ‬ nicht, so daß auch er nicht Herr seines eigenen Seins ist. Von hier öffnet sich eine Flucht von Gedanken, die in den ontologischen Realismus [...] und in den Existentialismus führt. [...] Schellings Theorie ist fruchtbar noch im Lichte zeitgenössischer Leib-Seele-Identitätstheorien.“4

Doch wie kam es überhaupt zur Idee eines unbedingten Ich? Schellings Jugend – er entstammte einem Pfarrhaus – stand unter dem Einfluß des schwäbischen Pietismus. Über allen Rekonstruktionsversuchen des philosophischen Denkweges darf seine religiöse Herkunft wie Erziehung nicht unterschlagen werden. Oetinger5, Bengel6 und Hahn7 wirkten indirekt sogar auf den Tübinger Universitätsbetrieb. „Auch 3

M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 1. Vorl. WS 2008/09, p. 8.

4

M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 1. Vorl. WS 2008/09, p. 8 sq.; cf. etiam M. Frank: Der unendliche Mangel an Sein, et idem: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, darin bes. cap. 11: „Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik“.

5

Oetinger, Friedrich Christoph, ev. Theologe, * 2.5.1702 Göppingen, † 10.2.1782 Murrhardt; 1738 Pfarrer in Hirsau, 1743 Schnaitheim, 1746 Walddorf; 1752 Dekan in Weinsberg und 1759 in Herrenberg; 1766 Prälat in Murrhardt; nach J. A. Bengel der bedeutendste Repräsentant des württembergischen Pietismus. Fußend auf Bengels heilsgeschichtlichem Biblizismus, J. Böhme, der Kabbala und dem Vitalismus, entwarf er eine aus Bibel und Natur als emblemat. Offenbarung Gottes erhobene „philosophia sacra“. Sie gründet auf der „Idee des Lebens“, die durch den „sensus communis“, das allgemeine Wahrheitsgefühl, erkannt wird und heilsgeschichtlich in der (dem chiliastischen Reich folgenden) kosmischen Allversöhnung durch Christus gipfelt, die in der „Geistleiblichkeit“ sichtbar wird. Oetinger gewann über seine unmittelbaren Schüler (v. a. Ph. M. Hahn) hinaus Einfluß auf Literatur (J. W. Goethe) und Philosophie (Deutscher Idealismus) (cf. ad vocem LThK 7, col. 982 sq.; TRE 25, pp. 103-109; BBKL 6, coll. 1156-1158; Friedrich Christoph Oetingers Leben).

6

Bengel, Johann Albrecht, ev. Theologe, * 24.6.1687 Winnenden, † 2.11.1752 Stuttgart. 1713 Präzeptor der Klosterschule Denkendorf bei Esslingen, 1741 Probst, 1749 Prälat und Konsistorialrat, Hauptvertreter des württembergischen Pietismus; veröffentlicht 1734 eine kritische Ausgabe des griechischen NT, mit der er Wegbereiter der modernen Textkritik wurde, sein Gnomon Novi Testamenti (1742) avancierte zum Klassiker pietistischer

3. S CHELLINGS N ATURPHILOSOPHIE | 193

wenn sie sich damals kaum mit diesen theosophischen Motiven befaßten, so nahmen der junge Hegel und der junge Schelling dieses mit ihrer Heimat eng verbundene Gedankengut dennoch in sich auf und war ihre Ausbildung hiervon beeinflußt.“8 Zur Philosophie: Schellings (aber auch Hegels und Hölderlins) Tübinger Studienjahre wurden von den Dialogen Platons, ihrer Wirkungsgeschichte sowie vom Erscheinen der drei Kritiken Kants begleitet und entscheidend geprägt. „Für die Orientierung der ersten Werke von Hölderlin und von Schelling und auch für ihr Werk insgesamt ist es von Bedeutung gewesen, daß sie früh Platon studierten und daß platonische Motive in vielerlei Umsetzung durch ihre Kenntnis der Dogmengeschichte der Kirche verstärkt wurden. In Schellings und in Hölderlins späterem Werk sind die Aufnahme und die Umsetzung platonischer Motive vielfach und auch von ihnen selbst ausdrücklich bezeugt. Man kann aber gute Gründe dafür geben, daß gerade der junge Schelling auch dort, wo er im Ausgang von Fichtes Wissenschaftslehre argumentierte, dem Muster einer Konzeption folgt, in das platonische Motive ebenso wie die Motive Jacobis bedeutsam eingegangen sind9.“10

Exegese. Die Bibel als Organismus auffassend, entwarf er eine universale Reich-GottesTheologie: ein sich an der Offenbarung orientierendes biblizistisch-chronologisch-heilsgeschichtliches System („oeconomia divina“) das den Beginn des Milleniums auf 1836 datiert; Bengel gewann über seine Schüler (v. a. Oetinger) hinaus Einfluß auf das schwäbische Geistesleben, den Deutschen Idealismus und die Erweckungsbewegung (cf. ad vocem LThK 2, col. 228 sq.; TRE 5, pp. 583-589; BBKL 1, coll. 497-499; BBKL 22, coll. 84-110). 7

Hahn, Philipp Matthäus, ev. Theologe, Ingenieur, Erfinder, * 25.11.1739 Scharnhausen auf den Fildern (bei Esslingen), † 2.5.1790 Echterdingen bei Stuttgart. 1764 Pfarrer in Onstmettingen, 1770 in Kornwestheim, 1781 in Echterdingen; Erbauungsschriftsteller (Betrachtungen u. Predigten, F–L 1774, Reutlingen 111989); schöpfer. Vertreter und Organisator des württ. Pietismus; entwarf als Schüler J. A. Bengels und bes. F. Ch. Oetingers ein biblizistisch-theosophisch-eschatologisch-heilsgeschichtliches System des „Königreichs Gottes“; Hahn konstruierte außerdem Uhren, astronom. Instrumente, Waagen, (Trommel-)Rechenmaschinen u. wurde ein Begründer der württ. feinmechan. Industrie (cf. ad vocem LThK 4, col. 1149; TRE 14, p. 383 sq; BBKL 2, col. 471 sq.).

8

X. Tilliette: Schelling, p. 23 sq.

9

Vgl. Michael Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen, 1996, S. 282 [Anm. von Henrich].

10 D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 1554.

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Richard Kroner setzt den aufkommenden Platonismus in der Philosophie der Frühromantik weit früher an als Henrich, indem er Kant selbst und allein für den entscheidenden Transporteur jener platonischen Ideen hält, welche zur Rezeption bei den Tübinger Idealisten geführt hat. Von Kant stamme sowohl das cartesianische als auch das platonische Gedankengut. Alle Vernunftkritik sei der engen Verbindung von Platons Ideenlehre und Kants transzendentaler Logik entsprungen: „Die Kantische Philosophie kann man, alle Beziehungen beiseite lassend, die sie mit der ihr unmittelbar vorangehenden verknüpfen, als eine Erneuerung des Platonischen Idealismus aus deutschem Geiste ansehen.“11 Jedoch dürfe man sich nicht verführen lassen, über dem Gemeinsamen das Verschiedene zu übersehen. Der deutsche Geist unterscheide von dem griechischen sich dadurch, daß er den Idealismus in die Innerlichkeit des Subjekts versenke, daß er im Gemüte, im Selbst und nicht am himmlischen Orte die Ideen wahrnehme, oder dadurch, daß er nicht die Ideen, sondern das Bewußtsein der Ideen zum letzten Prinzip alles Erkennens mache. Trotzdem sei es in einem bestimmten Sinne erlaubt, „Kant den Erneuerer der Platonischen Philosophie zu nennen, denn er ist es, der zuerst dem deutschen Denken wieder die Richtung auf das von Plato entdeckte Reich der Ideen gab, und die wunderbare Verschmelzung des deutschen und griechischen Geistes anbahnte, die sich in Hegel vollzog.“12 Was den Einfluß Kants betrifft, so gelangte dessen Gedankengut auf verschiedenen Wegen ins Tübinger Stift. Einmal über die theologischen Lehrer, vor allem Flatt13 und Abel14, die jedoch versuchten, ihn entweder zu widerlegen oder für das

11 R. Kroner: Von Kant bis Hegel, vol. I, p. 35. 12 R. Kroner: Von Kant bis Hegel, vol. I, p. 36. 13 „Flatt, Johann Friedrich, evang. Theologe, * 20.02.1759 Tübingen, † 24.11.1821 Tübingen. F[latt], Sohn eines Theologen, studierte in Tübingen Philosophie, Theologie und Mathematik, unternahm 1784/85 eine Bildungsreise nach Göttingen und kehrte 1785 als a. o. Prof. der Philosophie nach Tübingen zurück, wo er 1792 a. o., 1798 o. Prof. der Theologie wurde. F[latt] gehörte zusammen mit seinem Bruder Karl Christian F[latt] und Friedrich Gottlieb Süskind zur sogenannten ,Älteren Tübinger Schule‘ um Gottlob Christian Storr und vertrat einen biblisch begründeten rationalen Supranaturalismus. F[latt] beschäftigte sich vor allem mit der Philosophie Immanuel Kants, über den er als erster in Tübingen Vorlesungen hielt, sowie mit Ethik und biblischer Exegese. F[latt] veröffentlichte u. a. die Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie (1789) […]. 1796 begründete er das ,Magazin für christliche Dogmatik und Moralұ, das er bis 1802 herausgab“ (DBE 3, p. 372). Cf. ad vocem etiam BBKL 2, col. 50 sq.; M. Franz: „Johann Friedrich Flatts phi-

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Christentum zu vereinnahmen.15 LeBret16, der Kanzler der Tübinger Universität, hatte im Sommersemester 1790 sogar öffentlich nicht nur vor Kant, sondern auch losophisch-theologische Auseinandersetzung mit Kant“, in: „… an der Galeere der Theologie“?, pp. [187]-222. 14 „Abel, Jacob Friedrich von, Philosoph, * 9.5.1751 Vaihingen, † 7.6.1829 Schorndorf. A[bel], Sohn eines Regierungsrats und Oberamtmanns, erhielt seine Ausbildung an den Seminarien von Denkendorf und Maulbronn, dann in Tübingen (Magister 1770) und wurde 1772 Lehrer an der Karlsschule, wo er Lehrinhalte und -methoden reformierte. Zu seinen Schülern gehörte auch Schiller. Seit 1790 war A[bel] als Nachfolger von Gottfried Ploucquet Prof. der praktischen Philosophie an der Univ. Tübingen. 1811-23 leitete er die evang. Schule in Schöntal und war seit 1825 Generalsuperintendent für Urach und Reutlingen. Sein philosophisches Interesse galt zunächst der empirischen Psychologie und Anthropologie […], später standen Fragen der Moralphilosophie […] und der traditionellen Metaphysik im Mittelpunkt. A[bel], ein Gegner Kants, veröffentlichte ferner Grundsätze der Metaphysik, nebst einem Anhange über die Kritik der reinen Vernunft (1786) und Versuch über die Natur der speculativen Vernunft zur Prüfung des Kantischen Systems (1787)“ (DBE 1, p. 7 sq.). 15 Cf. M. Franz: „Johann Friedrich Flatts philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit Kant“, in: „… an der Galeere der Theologie“?, pp. [187]-222. Schelling schreibt dazu in einem aussagekräftigen Brief an Hegel am Dreikönigsfest 1795: „O der großen Kantianer, die es jetzt überall giebt! Sie sind am Buchstaben stehen geblieben und segnen sich, noch so viel vor sich zu sehen. Ich bin fest überzeugt, daß der alte Aberglaube nicht nur der positiven, sondern auch der sogenannten natürlichen Religion in den Köpfen der Meisten schon wieder mit dem Kantischen Buchstaben combiniert ist. – Es ist eine Lust anzusehen, wie sie den moralischen Beweis an der Schnur zu ziehen wissen – ehe man sich’s versieht, springt der deus ex machina hervor – das persönliche individuelle Wesen, das da oben im Himmel sitzt! – Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden“ (F. W. J. Schelling: Aus Schellings Leben in Briefen, vol. 1, p. 73). 16 LeBret, Johann Friedrich, ev. Theologe, * 19.11.1732 Untertürkheim, † 6.4.1807 Tübingen. LeBret, Sohn eines herzoglichen „Keller und Amtmann[es]“ [Kurze Biographie, p. 1], arbeitete nach dem Theologiestudium, das er 1752 in Tübingen begonnen hatte, 1757 in Venedig als Hauslehrer und unternahm von dort aus Reisen, u. a. nach Ferrara, Bologna, Florenz, Livorno, Siena, Rom und Neapel. 1762 trat er über Venedig die Rückreise in die Heimat an, wo er 1763 Gymnasial-Prof. in Stuttgart wurde. 1767 „ward er als Regierungs- und Consistorial-Bibliothekarius verordnet“ [Kurze Biographie, p. 4] und 1773 als Lehrer an der „hohen Carlsschule“. 1775 mußte er den Herzog auf einer Reise nach Italien begleiten. 1776 fuhr er in dessen Auftrag nach Paris und England, wo er das dortige

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vor Reinhold warnen lassen. Deren Schriften wurden dennoch in privaten Debattierzirkeln der Studenten besprochen, an denen auch Schelling teilnahm.17 Zum anderen vermehrte das Wissen um Kant sich durch den Repetenten Diez18, der aus Protest gegen die konservative Institution und aufgrund persönlicher (Glaubens-) Zweifel19 1792 das Stift verließ, die geistliche Laufbahn abbrach und den Arztberuf wählte. Die geistige Nähe dieses kantien enragé zu Schelling kann nicht als Zufall erachtet werden. Die freundschaftliche Verbundenheit der beiden gründet auf dem gemeinsamen Einverstehen in Kritik, Reformwillen und Freiheitsdrang – ein Akt der Solidarität unter leidendenden Theologen, die zu Philosophen wurden. Henrich weist anhand verschiedener Dokumente (zumeist Briefe) nach, daß Schelling „um Bildungswesen erkunden sollte. „1781 war LeBret an dem Lehrzuchtverfahren gegen den pietistischen Pfarrer Philipp Matthäus Hahn und sein theosophisches System beteiligt“ [Brecht, p. 110]. 1779 wurde LeBret Konsistorialrat, 1782 Kanzler der „hohen Carlsschule“ und 1783 Prälat von Herrenalb. Seit 1786 war er Prof. der Theologie, (bis 1806) Kanzler der Univ. Tübingen und herzoglicher Rat: „D. und Prof. Theol. Primarius, erster Frühprediger und Propst der St. Georgenkirche, auch Abt zu Lorch“ [Kurze Biographie, p. 6]. Neben einer Geschichte Venedigs und Italiens edierte er 1773/74 eine Sammlung der merkwürdigsten Schriften die Aufhebung des Jesuiter-Ordens betreffend (cf. ad vocem M. Brecht: „Johann Friedrich LeBrets theologische Dissertation ...“, p. 109 sq. et Kurze Biographie von Johann Friedrich le Bret). 17 Cf. D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 1565 sq. 18 Diez, Immanuel Carl, Theologe, Philosoph, Arzt, * 8.4.1766 Stuttgart, † 1.6.1796 Wien. Diez, Sohn des Arztes Carl Philipp Diez, besuchte die Lateinschule in Tübingen und war Gastschüler im Hause Schelling zu Bebenhausen, bis er 1780 in die dortige Klosterschule regulär eintreten konnte. 1783 Eintritt in das Tübinger Stift. 1785 Magisterexamen, 1788 Konsistorialexamen. 1788-89 war er Vikar in Neuenhaus, 1789-90 in Bebenhausen und 1790 Repentent am Tübinger Stift. Seit 1791 Aufsätze gegen Reinhold und die Tübinger Theologie. 1792 trat er dort aus, um in Jena Medizin zu studieren. 1793 erste medizinische Veröffentlichung Über die Methode der Arzneimittellehre. 1794 Rückkehr nach Tübingen und Promotion zum Dr. med., 1794/95 hält er Vorlesungen und ist Spitalarzt bei seinem Vater. Okt. 1795 Reise nach Wien zur Fortsetzung der ärztlichen Ausbildung am Allgemeinen Krankenhaus, wo er nach einer Typhusinfektion stirbt (cf. ad vocem D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, pp. 886-934, et Immanuel Carl Diez. Briefwechsel und Kantische Schriften, p. IC sq.). 19 Es ist unklar, ob Diez’ Apostasie „nur Apostasie von der Aufgabe, in Württemberg christliche Religion zu lehren, oder vom Christentum selbst gewesen ist und ob ein solcher Unterschied damals schon von Diez in einer für ihn bedeutsamen Weise gemacht wurde“ (D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 896).

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der Kritik der kantianisierenden Dogmatiker willen seine theologischen Studien liegenließ und die Philosophie zu seiner Hauptsache machte. Seine Motivation zur Philosophie und zu einer radikalen Kritik der Orthodoxie mit deren Mitteln ist also dieselbe wie die von Diez gewesen.“20 Anders: die Kantischen Kritiken fungierten in jener Zeit als das, was sie waren: Kritiken. Sie wurden zum Ventil einer der Repression durch die geistliche und herzogliche Obrigkeit überdrüssigen Generation.21 „So ist […] bei Diez wie bei Schelling der Zusammenhang zwischen dem Aufstand gegen die Orthodoxie der Lehrer und der Intensität des Philosophierens auch dann ganz direkt und eng, wenn die Themen der Verständigung über die Religion und der Grundlegung der philosophischen Theorie voneinander abgetrennt bleiben. Nur aus der Klarheit in der Grundlegung kann die Sicherheit hervorgehen, mit der man denen entgegentritt, welche nicht nur die Kirchenlehre des Landes beherrschen, sondern in der Institution des Stifts das gesamte eigene Leben in Anspruch nehmen und auf diese Lehre zu verpflichten suchen. So konnte gerade eine Situation, die als Bedrückung erfahren wurde, eine außerordentliche Anstrengung, Findigkeit und Originalität im Philosophieren begünstigen, und zwar gerade auch im Symphilosophieren.“22 20 D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 1558. 21 Die Frage, warum die Abwehr der Repression zu keiner Zeit sich durch eine offene Revolte der Studenten entlud, untersucht Wilhelm Jacobs in seiner Studie Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Er gelangt zu dem ernüchternden Resultat, daß „sich im Stift Jugendliche zusammenfanden, die von ihrer Herkunft her für Veränderungen im Staatswesen offen waren und die zugleich im Stift unter Bedingungen lebten, die diese Offenheit steigern mußten. Revolutionsbegeisterung im Stift ist in Briefen, Berichten und Stammbucheinträgen gut dokumentiert. Dem widerspricht nicht, daß in offiziellen Schriftstücken kaum Verfängliches mitgeteilt wird. Niemand hatte ein Interesse, zu einem anderen Ergebnis zu kommen als dem, das Stipendium sei ruhig. Die Studenten hätten bei anderen Ergebnissen mit Strafmaßnahmen rechnen müssen, ebenso die Repetenten. Der Ephorus hatte ein Interesse, seine Anstalt von jeder üblen Nachrede freizuhalten. Regierung, Landstände und Herzog lag daran, insbesondere gegenüber dem nahen Vorderösterreich, Wirtemberg als ruhig darzustellen. Vielleicht hatten die Studenten sogar diese Situation erkannt und ausgenützt. Nur wenige Dokumente geben weitere und bedauerlicherweise nicht hinreichende Aufschlüsse“ (W. G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie?, p. 30). 22 D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 1693. Da Schelling schon sehr früh darauf bedacht war, über Kant hinauszugehen, kann man ihn – im Vergleich mit Diez etwa – nicht im eigentlichen Sinne einen Kantianer heißen. „Es hat seine eigene Ironie, daß Schelling in dem Augenblick der Kantischen Manier beschuldigt wurde, wo er – angestachelt durch

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Das Verlangen nach Gewißheit muß jede philosophische Diskussion auf Descartes führen. Dieses Motiv hat auch Kant fruchtbar geleitet. Descartes Suche nach Evidenz galt dem Dilemma der Konfessionskriege. Sie war das Resultat einer Zeit, welche statt Gewißheit zu haben, von der Wahrscheinlichkeit lebte. In deren Namen bekämpften sich ihre jeweiligen Parteien. Die Cartesische Aufstellung des Ichs galt den theologischen Probabilismen, nicht aber Gott, der das Fundament des seiner selbst gewissen Ego blieb. Der frühe Idealismus kann als die Wiederaufnahme jener Bemühungen betrachtet werden. Diesmal jedoch wird auch dem Fundament selbst, Gott, Wahrscheinlichkeit unterstellt. Das gesicherte Selbstverhältnis des Ichs ist nicht mehr nur ein antiprobabilistisches, sondern ein antitheistisches – und somit ein quasi politisches.23 Gleichzeitig bietet sich angesichts des Scheiterns der Revo-

die Tübinger Kantrezeption – Kants Philosophie über sie selbst hinausgeführt zu haben dachte; in der Schrift ,Vom Ich‫ ދ‬hätten die [ihn beurteilenden] Repetenten einigen Aufschluß darüber erhalten können“ (W. G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie?, p. 55). Wahr ist jedoch, daß Schelling bereits 1792 seine (bis heute leider nicht auffindbaren) Probeschriften (specimina) zum philosophischen Magisterium über Kant verfaßt hatte: 1. Über die Möglichkeit einer Philosophie ohne Beynamen, nebst einigen Bemerkungen über die Reinholdische Elementarphilosophie. 2. Über die Uebereinstimmung der Critik der theoretischen und praktischen Vernunft, besonders in Bezug auf den Gebrauch der Categorien, und der Realisierung der Idee einer intelligiblen Welt durch ein Factum in der letzteren. Aber aus den Titeln allein lassen für Dieter Henrich sich bereits Vermutungen über „die in ihnen verhandelten Materien gewinnen. Beide Titel zeigen an, daß Schelling gegen eine Kritik an dem Kantischen und dem Reinholdischen Konzept der Philosophie deren Intentionen und Grundthesen verteidigen will: Eine Philosophie ,ohne Beynamen‘ ist möglich, obwohl die Reinholdische Elementarphilosophie diesen von ihr selbst erhobenen Anspruch noch nicht hinreichend erfüllt. Die Kantische Philosophie stimmt in ihrer Erklärung des Verhältnisses zwischen theoretischer und praktischer Vernunft mit sich selbst überein, und zwar insbesondere in Beziehung auf die Weise, in der sie die Idee einer übersinnlichen Welt durch ein Faktum in der praktischen Vernunft realisiert“ (D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, p. 1560). 23 Erinnert sei an Marxs Diktum aus der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „[...] die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. [...] Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Reli-

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lution von 1789 das Ich als willkommener Ort des Rückzugs an. Das Individuum flieht das Chaos der Polis und tritt die Flucht in die ,höhere Sphäre‘ der Ichheit an. Das Motiv der Insurgenz spielt ebenso bei Schellings frühem Enthusiasmus für Fichte eine Rolle.24 In einem Brief vom 26. September 1794 an denselben dankt Schelling „für den Unterricht“, welcher ihm durch dessen „bewunderte[] Schriften zu theil geworden“25 sei. Damit meint er die Kritik aller Offenbarung von 1792 sowie die 1793 anonym erschienenen Schriften Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas und Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution. Aus Dank und im Vertrauen auf den Autor bittet Schelling zusammen mit dem Brief seine Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt überreichen zu dürfen. Auf Fichte war er sowohl persönlich als auch durch Diez und seinen ,Debattierclub‘ aufmerksam geworden. Dem Brief gingen außerdem zwei kurze Besuche Fichtes in Tübingen voraus. Im Juni 1793 war jener auf der Durchreise nach Zürich. Tilliette geht davon aus, daß es damals bereits zu einer persönlichen Begegnung mit dem Studenten Schelling gekommen ist: „Er [Fichte] wurde begeistert empfangen, weil er der Verfasser der Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung war, eines Werks, das man zunächst Kant zugeschrieben hatte. Diesem Besuch folgte im Mai 1794 eine zweite Begegnung, diesmal legte Fichte einen Halt auf dem Weg von Zürich nach Jena ein, und wieder wurde er in Tübingen und Stuttgart sehr herzlich empfangen. Fuhrmans’ Vermutung, es habe einen persönlichen Kontakt zwischen dem jungen Studenten und dem bereits berühmten Besucher gegeben, zumindest bei seinem zweiten Aufenthalt, scheint mir naheliegend; eine persönliche Begegnung würde nämlich Schellings plötzliche Inspiration erklären. Ich weiß nicht, weshalb Reinhard Lauth [cf. idem: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie] sich weigert, dieses Ereignis anzuerkennen – womöglich, um einen Ketzer und Abtrünnigen fernzuhalten; doch daß Schelling sich Fichte nicht genähert haben soll, ist weitaus weniger plausibel als das Gegenteil.“26

gion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“ (MEW 1, p. 378 sq.). 24 Dies belegt vor allem die Art, wie Schelling sich über Fichte in seinen Briefen viele Male äußert. An Hegel schreibt er am 6. Januar 1795: „Segen sei mit dem großen Mann [Fichte]! er wird das Werk vollenden! Im Vorbeigehen gesagt – hast Du die Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas gelesen? Wo nicht, so lasse sie von Jena kommen. Dort ist sie zu haben. – Wer wollte ihren Verfasser verkennen?“ (F. W. J. Schelling: Aus Schellings Leben in Briefen, vol. 1, p. 74). 25 F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, vol. 1, p. 51. 26 X. Tilliette: Schelling, p. 27.

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Es ist jedenfalls davon auszugehen, daß, ungeachtet der institutionellen und ideologischen Geschlossenheit des Tübinger Stifts, ein korrespondierendes Netzwerk vorhanden war, welches ausreichte, um die geistigen Strömungen der Zeit, vor allem die Ideen Kants, Reinholds und Fichtes, eindringen sowie fruchtbar werden zu lassen.

3.2 K ANT

UND DAS

S ELBSTBEWUSSTSEIN

Zum Ausgangsproblem: Kant formuliert in der Kritik der reinen Vernunft, daß das Selbstbewußtsein als synthetische Einheit der Apperzeption „der höchste Punkt“ sei, „an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst“ (KrV, B 134). Die Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu ordnen und sinnvoll miteinander zu verbinden, „liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist“ (KrV, B 134 sq.).

Alle Erfahrungswirklichkeit wird durch a priori gegebene Kategorien (= reine Verstandesbegriffe) bearbeitet, welche analytische und synthetische Urteile, also die Fakultät, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren, ermöglichen und befördern. Die Kategorien verknüpfen die verschiedenen Vorstellungen der Apperzeption durch Reflexion miteinander und bilden so die fundamentalen Formen zur Synthese objektiver Erfahrungsdaten. Kant hatte dem Selbstbewußtsein deshalb den höchsten Stellenwert für die Konstitution der Objektivität eingeräumt, weil er in ihm die Gewißheit objektiver Erkenntnis glaubte gefunden zu haben. Frank formuliert dies so: „[D]ie Verbindlichkeit, die jedem Wahrheit beanspruchenden Urteil einwohnt, hat auf geheimnisvolle Weise zu tun mit der Apodiktizität und äußersten Evidenz, auf die wir stoßen, sobald wir uns unserer selbst als denkender Wesen versichern“ (ES, p. 35). Das Gefühl absoluter Identität, welches sich einstellt, sobald wir uns selbst denkend denken bzw. Bewußtseinsbewußtsein haben, bildet den erkenntnistheoretischen Idealfall, von welchem erwartet wird, daß er auch auf äußere Objekte übertragbar ist. Eine Sinneswahrnehmung allein könnte diese Sicherheit nicht erbringen. Wahrheit ist immer die Folge eines Urteils. Urteilen wiederum fällt bei Kant mit Denken in eins. Eine nur auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende Vor-

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stellung könnte nie als wahr oder falsch bewertet werden ohne das Vermögen und die Gültigkeit eines Urteils. Die „Gültigkeit des Urteils [...] hängt ihrerseits ab von der Apodiktizität und cartesianischen Evidenz jener unmittelbaren Erfahrung, als die uns das reine Bewußtsein unserer selbst gegeben ist“ (l. c., p. 35). Es kann kein Bewußtsein von der objektiven Wirklichkeit geben, ohne die gleichzeitig funktionierende und kontrollierende Instanz des Selbstbewußtseins. Dieses ist immer analytisch und synthetisch zugleich, das heißt, es ordnet und erläutert sowohl sich selbst als auch die Dinge außerhalb. Die Vorstellung „Ich denke“, sagt Kant, müsse deshalb alle anderen Vorstellungen „begleiten können“ (§ 16 B, KrV). Im Selbstbewußtsein werden auf wundersame Weise alle Eindrücke des inneren und äußeren Erlebens versammelt. Sie kristallisieren dort sich an und zu einem einzigen Punkt. Da das Bewußtsein an sich selbst ohne Inhalt ist, verlangt dies eine von ihm unabhängige Wirklichkeit. „Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV, B 75).27 27 Dieses ,Zugeständnis‘ bildet die materialistische Seite Kantischer Philosophie, welche von der marxistischen Tradition ausdrücklich hervorgehoben und anerkannt wird. Lenin selbst gab für diese allgemeine Grundhaltung des Marxismus den Ausschlag, indem er in Materialismus und Empiriokritizismus schreibt: „Der Grundzug der Kantschen Philosophie ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiß zwischen beiden, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System. Wenn Kant zugibt, daß unseren Vorstellungen etwas außer uns, irgendein Ding an sich, entspreche, so ist er hierin Materialist. Wenn er dieses Ding an sich für unerkennbar, transzendent, jenseitig erklärt, tritt er als Idealist auf. Indem Kant die Erfahrung, die Empfindungen als die alleinige Quelle unserer Kenntnisse anerkennt, gibt er seiner Philosophie die Richtung zum Sensualismus und unter bestimmten Bedingungen auch zum Materialismus. Indem Kant sich für die Apriorität von Raum, Zeit, Kausalität usw. ausspricht, lenkt er seine Philosophie auf die Seite des Idealismus. Wegen dieser Halbheit Kants führten sowohl die konsequenten Materialisten als auch die konsequenten Idealisten (und ebenso die ,reinen‘ Agnostiker, die Humeisten) einen schonungslosen Kampf gegen ihn. Die Materialisten machten Kant seinen Idealismus zum Vorwurf, sie widerlegten die idealistischen Züge seines Systems, sie wiesen nach, daß das Ding an sich erkennbar, diesseitig ist, daß kein prinzipieller Unterschied zwischen ihm und der Erscheinung besteht und daß die Kausalität usw. nicht aus apriorischen Denkgesetzen, sondern aus der objektiven Wirklichkeit abzuleiten ist. Die Agnostiker und Idealisten machten Kant seine Annahme des Dinges an sich als Zugeständnis an den Materialismus, den ,Realismus‘ oder ,naiven Realismus‘ zum Vorwurf, wobei die Agnostiker außer dem Ding an sich auch den Apriorismus verwarfen, während die Idealisten die konsequente Ableitung nicht nur der apriorischen Anschauungsformen, sondern der

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Gegenüber Kant bestand der apodiktische Grund des Wissens bei seinem Schüler Fichte im absoluten Ich. Für Schelling war die Selbstgewißheit das Ergebnis einer Stufenfolge der Natur und für Hegel der Geschichte. Doch wie kommt es zu diesen Positionen? Von Kant auszugehen und bei ihm anzusetzen ist deshalb gerechtfertigt wie von Bedeutung, da am Selbstbewußtsein als dem „höchsten Punkt“ der Philosophie auch Schelling anknüpft und von da aus sein eigenes System zur Entfaltung bringt. Dies geschieht jedoch – wie so oft – weniger in Übereinstimmung denn in Abgrenzung gegenüber dem „Alleszermalmer der Metaphysik“ (Mendelssohn). In seiner Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt von 1794 rühmt der neunzehnjährige Schelling zwar die von Kant eingeführte Unterscheidung eines analytischen und synthetischen Urteils, doch bedauert er, daß diese ein „schwebender Umriß“ geblieben sei. Der „Stifter der kritischen Philosophie“ habe diese Urform aller Philosophie „bloß als vorhanden aufgestellt“, nicht jedoch an ein „oberstes Princip angeknüpft, und selbst der Zusammenhang dieser Form (die er doch als Form alles möglichen Denkens aufgestellt hatte) mit den einzelnen Formen des Denkens, die er zuerst in einer erschöpfenden Vollständigkeit aufstellte, war noch nirgends von ihm so bestimmt angegeben, wie es wohl nöthig seyn möchte“ (SW I/1, p. 103). Ebenfalls kritisch äußert Schelling sich in einem Brief an Hegel vom 6. Januar 1795: „Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?“28 Und auch noch über dreißig Jahre später, in seinen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie (1827), kommentiert er jenes Kantische Versäumnis: „Er [Kant] schickt keine allgemeine Untersuchung über die Natur des Erkennens voraus, sondern geht gleich über zu der Aufzählung der einzelnen Quellen der Erkenntniß oder der einzelnen erkennenden Facultäten, die er aber nicht etwa wissenschaftlich ableitet, die er vielmehr aus der bloßen Erfahrung aufnimmt, ohne ein Princip, das ihn der Vollständigkeit und der Richtigkeit seiner Aufzählung versicherte. Insofern kann seine Kritik der reinen Vernunft selbst nicht als eine wissenschaftliche Ausmessung des menschlichen Erkenntnißvermögens gelten“ (SW I/10, p. 79).

ganzen Welt überhaupt aus dem reinen Denken verlangten (indem sie das menschliche Denken zu einem abstrakten Ich oder zu einer ,absoluten Idee‘ oder zu einem universalen Willen usw. usf. ausdehnten)“ (W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, p. 195). 28 Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, p. 119.

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Schelling fragt sich zurecht, ob das Bewußtsein, das wir von uns selbst haben, wirklich der letzte, unbezweifelbare Grund der Philosophie sein kann. Kant bestritt, dieses Prinzip auf ein ursprünglicheres hin überschreiten zu können. Gerade darin jedoch scheint für Schelling die geistige Herausforderung bestanden zu haben. Einstiegshilfe wie Anregung erfuhr er vom älteren Fichte, dessen Anliegen es war, die Dichotomie von Kants theoretischer und praktischer Vernunft im Ich aufzuheben. Das Auffinden eines einheitlichen Prinzips zur Überwindung des Kantischen Dualismus war auch Schellings erklärtes Ziel. In dieser Hinsicht wird er sich nie wirklich von Fichte entfernen. Die Achse, um welche Schellings Denken bis zur Philosophie der Offenbarung kreisen wird, ist die Suche nach dem Einheitsgrund von Subjekt und Objekt. Von Beginn an sind alle seine Entwürfe und Ausführungen Identitätssysteme. Auf dem Weg dorthin orientiert er sich nicht nur an Kant, Fichte und antiken Vorbildern, sondern auch an Leibniz und Spinoza. Des Letzteren Substanz-Lehre wird er vor allem in seiner Naturphilosophie gerecht. Weite Teile von Form- und Ich-Schrift aber konnotieren noch eine Metaphysik des Ichs, weil die transzendentale Reduktion selbst darin überschritten wird.29 Dies belegt allein

29 Cf. H. Zeltner: Schelling, p. 77; W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte, p. 46. Der Neukantianer Wilhelm Windelband bezeichnet in seinem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie die gesamte Philosophie Schellings als „Metaphysik des Irrationalen“ (p. 530). Heinz Heimsoeth spricht in Metaphysik der Neuzeit bezüglich des Deutschen Idealismus allgemein von einem „Spiritualismus der Vernunft“ (p. 110) und in Bezug auf Schellings Naturphilosophie von „Naturmetaphysik“ (p. 130). Er vermutet den Grund für die metaphysische Tendenz der drei Idealisten im Residuum der christlichen Religion. Dieses sei sowohl im Entwicklungsgedanken als auch im (platonischen) Begriff der Idee besonders präsent. „Und wie ihr neuer Idealismus, alle Realität von Dingen an sich abstoßend, zum Spiritualismus der Vernunft durchstieß, so erhebt er nun auch, unter Ausschaltung jedes realen Gegenprinzips zur ewigen Idee diese Idee zur einzigen und absoluten Macht, die nicht nur alle Gegensätze und Widerstände des Realen fraglos überwindet, sondern in ihnen selber lebt, als in den selbstgesetzten Durchgangspunkten ihrer Selbstverwirklichung. Alles Wirkliche [...] ist vernünftig; unter aller äußeren Zufälligkeit und Willkür im Naturgeschehen und Menschengetriebe waltet die ,heilige Notwendigkeit‘ des absoluten Telos. Der christlich-religiöse Vorsehungsglaube, auf das geistig-geschichtliche Werden der Menschheit philosophisch zugespitzt (von Lessing und Kant her) und wiederum von da auf den gesamten Weltzusammenhang und Weltprozeß ausgeweitet, wird im spekulativen Denken der Idealisten begrifflich vertieft zu einem neuen metaphysischen Optimismus von nicht geringerer Kühnheit und Tragweite als dem der Leibnizischen Theodizee“ (H. Heimsoeth: Metaphysik der Neuzeit, p. 110).

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schon die Verwendung der Begriffe absolut und unendlich. Im achten der Philosophischen Briefe über Kritizismus und Dogmatismus (1795) heißt es zu Beginn: „Uns allen wohnt nämlich ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben“ (SW I/1, p. 318).

Nicht geht es nur um ein erkenntnistheoretisches Überschreiten der Erfahrungswirklichkeit (= Transzendentalphilosophie), sondern darüber hinaus um die Berührung des Unvollendenten mit dem Vollendeten. Es ist ein Hinausgehen über das Seiende als Bedingtes. „Der metaphysische Grundakt, das Transzendieren, bedeutet eben: sich aus der Zeit zurückziehen, um den Ursprung im Absoluten wiederzugewinnen.“30 Fichtes Wissenschaftlehre (1794) verdankt Schelling unter anderem folgende Einsicht: Da Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, bedarf es eines Subjekts, welches dem schwebenden Bewußtsein als Fundament und Ausgangspunkt dient. Anders: kein Sehen ohne Auge, kein Bewußtsein ohne Sein. Im Akt des Sich-Gewahrens ist das Sein sowohl Subjekt als auch Objekt, es ist Ich und Selbst. „Da jedes Erscheinen des transzendentalen Ich sein Sein voraussetzt, könnte man hinsichtlich seiner sagen, daß im Selbstbewußtsein die Existenz der Essenz (das Daß dem Was und dem Wie) vorausgeht“ (ES, p. 39). Nach Kant jedoch hat das transzendentale Ich ohne Prädikation keinen Zugang zu seinem eigenen Sein. Das vorprädikative, vor-kategoriale Sein liegt jenseits aller Erkenntnis. Erst durch Anschauung und Begriff besteht die Möglichkeit seines Erfassens. „Und dennoch muß ich von diesem Sein irgend ein Bewußtsein besitzen, sonst droht der ,höchste Punkt‘ der Philosophie seine Einsichtigkeit einzubüßen und sich zu verdunkeln“ (ES, p. 39). Auch Kant weiß um diese Problematik, wenn für ihn der Satz: „Ich denke“ ein empirischer ist, welcher das „Ich existiere“ gleichsam miteinschließt (cf. KrV, B 422). Das heißt, es gibt für ihn einen Moment der „reinen Apperzeption“, welcher sich von einer Anschauung, die sich auf das sinnliche Material bezieht, unterscheidet. Diese unbestimmte „innere Wahrnehmung“ entspricht jener Selbstwahrnehmung, welche dem „Ich denke“ einher- und doch vorausgeht. „In Kants Augen steht also fest, daß die reine Apperzeption das unmittelbare Bewußtsein ihrer Existenz einschließt und daß dies Bewußtsein, obwohl vor-anschauungshaft, gleichwohl die Wahrnehmung eines Existierenden ist, da Existenz nicht bloß ge30 P. Sloterdijk: Philosophische Temperamente, p. 100.

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dacht werden kann: sie wird gegeben sein, sowie Bewußtsein von ihr besteht (im Denken aber wird nichts gegeben)“ (ES, p. 41). Der Widerspruch besteht darin, daß in Kants Konstruktion die Anschauung empirisch und intellektuell gleichermaßen scheint. Es muß ein instantanes (Sartre) Selbstbewußtsein existieren, das dem Denken je ,einen Schritt voraus‘ ist.31 Frank schließt aus diesen Überlegungen, daß Kant doch nicht umhin gekommen sei, „die von ihm eben noch brüsk abgewiesene Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung ins Spiel zu bringen“ (ES, p. 41). Um eine Anschauung handle es sich deshalb, weil nur sie als „Rezeptivität“, im Unterschied zur „Spontaneität“ der Intelligenz, Existenz bezeugen könne. Die Anschauung sei gleichwohl intellektuell zu nennen, da sie auf der reinen Spontaneität des Verstandes beruhe und die Idee einer vollkommenen ,Bestimmtheit‘ mit sich führe. „Das ,transzendentale Ich‘ existiert also, und es besteht hinsichtlich seiner eine unmittelbare und präreflexive Kenntnis“ (ES, p. 42). Die Gewißheit der Erkenntnis stammt bei Kant immer aus der Überprüfbarkeit durch empirische Daten. Auch „der höchste Punkt“ der Philosophie ist nicht vollkommen ab-gelöst (= ab-solut) von der empirischen Wirklichkeit. Er bleibt ein ,Schnitt-Punkt‘, an welchem die transzendentale und die reale Welt einander berühren. Diese Berührung findet jedoch noch vor aller Einholbarkeit durch Begriffe statt, sie ist ein präverbales Ereignis. Jede Termi31 Das entspräche der Position, wie auch ich sie in Übereinstimmung mit Manfred Frank vertrete. Dieser unterscheidet im Anschluß an Sartre Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis: „Unter ,Selbstbewußtsein‘ verstehe ich die unmittelbare (nicht-gegenständliche, nicht-begriffliche und nicht-propositionale) Bekanntschaft von Subjekten mit sich. Als ,Selbsterkenntnis‘ bezeichne ich die Reflexionsform von Selbstbewußtsein: also das explizite, begriffliche und in vergegenständlichender Perspektive unternommene Thematisieren des Bezugsgegenstandes von ,ich‘ oder der Befunde des psychischen Lebens. Die These ist, daß Selbsterkenntnis kein ursprüngliches Phänomen ist, sondern Selbstbewußtsein voraussetzt. Jean-Paul Sartre hatte sie in dieser Terminologie (conscience de soi et connaissance de soi) zuerst vertreten. Ich halte die These für richtig und verstehe ihre Anerkennung durch avancierte Positionen der Philosophy of Mind als (ver)späte(te) Huldigung an den letzten großen Bewußtseins-Theoretiker der französischen Welt“ (M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, p. 7 sq.). Es wundert, daß Schelling mit Selbstbewußtsein par tout einen reflexiven Akt konnotiert statt den Terminus einfach neu zu definieren, wie Sartre es tat, das heißt ihn so zu bestimmen wie Frank und ich ihn heute verwenden. Statt dessen glaubte er gemeinsam mit Fichte im Ausdruck Ich ein adäquates Surrogat gefunden zu haben – was sich als Irrtum erwies. Vermutlich empfand Schelling den Begriff des Selbstbewußtseins durch die Bedeutung, welche Kant ihm gegeben hatte, als so sehr vereinnahmt, daß er beschloß, ganz auf ihn zu verzichten und einen anderen zu wählen, welcher dem Publikum noch ,unverbraucht‘ erscheinen mußte.

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nologie versagt angesichts des ,speziellen Falles‘ von Anschauung, welcher mit der „reinen Apperzeption“ vorliegt. Anders: es bedarf eines bestimmten Modus von Bewußtsein, durch den ich in der Lage bin, eine existentielle Wahrnehmung zu haben und der ,einsetzt‘, noch bevor die ,Apparatur‘ der Kategorien in Gang kommt. Das Bewußtsein muß ,mehrdimensional‘ bzw. ,multifunktional‘ ausgestattet sein, wenn es mit sich selbst, dem Ich und der objektiven Sinnenwelt gleichzeitig zu korrespondieren vermag. Frank zeigt detailliert, daß Schelling zu den gleichen Schlüssen gelangt ist. Dieser plädierte schon 1795 in Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen gegen Kant für die Existenz einer ,intellektuellen [= intellektualen] Anschauung‘: „Das Ich kann durch keinen bloßen Begriff gegeben seyn. Denn Begriffe sind nur in der Sphäre des Bedingten, nur von Objekten möglich. Wäre das Ich ein Begriff, so müßt’ es etwas Höheres geben, in dem er seine Einheit – etwas Niedereres, in dem er seine Vielheit erhalten hätte, kurz: das Ich wäre durchgängig bedingt. Mithin kann das Ich nur in einer Anschauung bestimmt seyn“ (SW I/1, p. 181).

Um der Aporie, in welche Kant geriet, zu entgehen, unterscheidet Schelling zwei Formen der Anschauung: der sinnlichen liegt jeweils ein Objekt zugrunde, der intellektuellen keines. Das Ich sei nur dadurch Ich, „daß es niemals Objekt werden kann, mithin kann es in keiner sinnlichen Anschauung, also nur in einer solchen, die gar kein Objekt werden kann, gar nicht sinnlich ist, d. h. in einer intellektualen Anschauung bestimmbar seyn“ (SW I/1, p. 181). Darauf definiert der Autor: „Wo Objekt ist, da ist sinnliche Anschauung, und umgekehrt. Wo also kein Objekt ist, d. i. im absoluten Ich, da ist keine sinnliche Anschauung, also entweder gar keine, oder intellektuale Anschauung. Das Ich also ist für sich selbst als bloßes Ich in intellektualer Anschauung bestimmt“ (SW I/1, p. 181). Es ist sich selbst Subjekt und Objekt: „Ich bin Ich, oder: Ich bin!“ (SW I/1, p. 179). „Im absoluten Ich fallen der bewußte Akt und das, wovon der Akt Bewußtsein hat, zusammen und enthüllen sich als zwei Seiten eines und desselben“ (ES, p. 44). Schelling erkennt, daß allem Begrifflichen, Gedachten bereits etwas Objekthaftes und somit Trennendes innewohnt. Denken hindert das Bewußtsein an der Absolutheit als seiner ,ersten Eigenschaft‘. Das Ich kann nicht erst durch Reflexion zustande kommen. Es muß schon vorher existieren und auch wahrgenommen werden. „Nun ertrüge ein Prinzip, und schon gar ,der höchste Punkt‘ der Philosophie, schwerlich die Zuschreibung einer nicht-fundierten Voraussetzung und noch weniger eine Beschreibung von der Art eines circulus vitiosus. Doch hat die Beschreibung, die Kant selbst von seinem Prinzip gibt, unleugbar die Struktur eines solchen circulus in probando. Sie greift, und das vielleicht gegen die ursprüngliche Absicht ihres Autors, zurück auf das unhaltbare Reflexions-

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modell des Selbstbewußtseins, das immer schon voraussetzt, was es beweisen soll, und im Zentrum der frühidealistischen Kantkritik steht“ (ES, p. 45).

Das Selbstbewußtsein kommt für Schelling deshalb nicht als ,höchstes Prinzip‘ in Frage, weil er es als bedingt betrachtet. Es ist ihm ein durch ein anderes (,höchstes‘) Prinzip der Philosophie, das absolute Ich, bedingtes. Selbstbewußtsein sei grundsätzlich das Ergebnis einer Reflexion, kein „freier Akt des Unwandelbaren, sondern ein abgedrungenes Streben des wandelbaren Ichs, das, durch Nicht-Ich bedingt, seine Identität zu retten und im fortreißenden Strom des Wechsels sich selbst wieder zu ergreifen strebt“ (SW I/1, p. 180). Mit Hilfe der ,intellektuellen Anschauung‘ sucht er über diese Bedingtheit des Selbstbewußtseins hinauszukommen, indem er die Absolutheit in das Ich verlegt, welches er zu diesem Zweck in ein wandelbares und ein unwandelbares zerteilt. Das wandelbare entspricht dem vom Nicht-Ich bedingten, das unwandelbare dagegen dem absoluten Ich. Letzteres unterliegt nicht den Schwankungen irdischer Kontingenz. Es zeichnet sich vorwiegend durch eine ,fugenlose Identität‘ aus, also eine, welche keinerlei Trennung in Subjekt und Objekt mehr kennt. Diese enthält schließlich „ein Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorhergeht“ (SW I/1, p. 167). So wird nach dem Ich auch dem Seyn die Eigenschaft der Unbedingtheit zugeschrieben; weil alles, „von dem man sagen kann, daß es ist, bedingter Natur ist, so kann nur das Seyn selbst das Unbedingte seyn“ (SW I/3, p. 283). Übersetzt: „[D]asjenige, was im Ich Anspruch aufs Sein zu erheben berechtigt ist, ist radikal verschieden von jener Selbstvergegenständlichung, die wir das Subjekt oder unser Selbstbewußtsein (oder auch die Vernunft) nennen und deren Struktur sich als eine Zweiheit von Bezugsgliedern artikuliert und nicht als eine irreflexive und irrelationale Identität“ (ES, p. 51). Sein = Einheit = Absolutheit. Die Anregung, die zugrundeliegende Einheit des Urteils „Ich bin Ich“ Seyn zu nennen, erhielt Schelling von Hölderlin, welcher die ersten Jenaer Vorlesungen Fichtes persönlich gehört hatte und seinen Tübinger Gefährten davon berichtete. Die Bedeutung der Gedankenskizze Urtheil und Seyn, welche Hölderlin wahrscheinlich im Frühjahr 1795 verfaßt hatte, ist nicht zu unterschätzen, demonstriert sie doch, wie weit er schon zu jenem Zeitpunkt über Fichte hinausgedacht hatte: „Seyn – drükt die Verbindung des Subjects und Objects aus. Wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kan [sic], ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn, wie es bei der intellectualen Anschauung der Fall ist.“32 32 F. Hölderlin: „Urtheil und Seyn“, p. 216.

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Seyn bedeutet Hölderlin mehr als nur ,gewöhnliche‘ Identität, überschreitet dieselbe. Absolutes Sein und Identität dürften keinesfalls verwechselt werden, da letztere keine Vereinigung sei, welche schlechthin stattfindet; denn „[w]enn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subject (Ich) und das Object (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne, das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen.“33 Identität ist – wie das Selbstbewußtsein – nach Hölderlin ein Akt der Reflexion. Noch einmal: Nachdem Schelling und Fichte vom Kantischen Begriff des Selbstbewußtseins Abstand genommen hatten, weil ihnen dieser als zu reflexionsabhängig und somit als „Resultat ohne Prämissen“ erschienen war, verlagerten sie den „höchsten Punkt“ der Philosophie ins Ich. Jedoch auch hier sollte gelten: Das Ich kann nicht erst durch Reflexion zustande kommen. Es muß vorher dasein. Um die Aporie, in welche Kant mit dem Selbstbewußtsein geraten war, zu vermeiden, unterschieden Fichte und Schelling im Ich zweierlei Bezugsgrößen. Es existierte ihnen sowohl ein Ich, das vom Nicht-Ich bedingt wird, als auch ein dagegen streng abgehobenes Ich, welches absolut ist, also unbedingt. Das absolute galt als das eigentliche Ich. Bis hierher ging Schelling mit Fichte d’accord. In Hinsicht auf die Vorstellung einer ,intellektuellen Anschauung‘ war ihm dessen Ansatz jedoch nicht radikal genug, insistierte diese doch eine Trennung des absoluten Ich in Subjekt und Objekt. Nach Schelling aber war alle Dualität inakzeptabel. Das Subjekt dürfe auch und gerade im Akt des Selbsterkennens sich nie zum Objekt werden. Jede erkenntniszielige Teilung des absoluten Ich führe sonst unwiderruflich in die Reflexion. Das im Vollzug der ,intellektualen Anschauung‘ sich selbst erfassende Ich sei frei von jeder Relativität. Reflexion hingegen bedeutet für Schelling „Rückkehr zu sich selbst“. „Rückkehr“ = Bewußtsein. Bewußtsein entsteht durch den Widerstand, welchem das Ich begegnet. „Das Ich, indem es einen Widerstand findet, ist genöthigt, sich ihm entgegenzusetzen, d. h. in sich selbst zurück zu kehren. Aber, wo sinnliche Anschauung aufhört, wo alles Objektive verschwindet, findet nichts als unendliche Ausdehnung statt, ohne Rückkehr in sich selbst. Würde ich die intellektuale Anschauung fortsetzen, so würde ich aufhören zu leben. Ich ginge ,aus der Zeit in die Ewigkeit!‘“ (SW I/1, p. 325).

,Intellektuale Anschauung‘ kann nach Schelling nur ,unendliche Anschauung‘ bedeuten.34 Diese überschreitet sogar den Akt jenes Bewußtseins, das am Widerstand 33 F. Hölderlin: „Urtheil und Seyn“, p. 216 sq. 34 Hermann Zeltner bezeichnet die ,intellektuale Anschauung‘ Schellings nicht zu unrecht als „metaphysische Erfahrung“ und „absoluten Zustand“. Diese Vorstellung stamme von

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des Objekts sich bildet. Das Sein des Selbst kann Schelling zufolge niemals aus Beziehungen der Reflexion verständlich gemacht werden. Jede Abhängigkeit von Relata käme seiner ,Verdinglichung‘ gleich, jede Selbstvergegenständlichung verriete seine Substanz. Aus diesem Grunde kann das absolute Ich nicht Gegenstand eines Begriffes werden. Dem Ziel seiner Selbstergreifung bleibt als einzig mögliche Form die Anschauung. Frank summiert: „Im Einklang mit Fichte unterscheidet Schelling das absolute Ich von der Reflexion, ,darin man sich zum Objekt wird‘. Im Unterschied jedoch zu Fichte geht er so weit, dem Ich, um auch noch die letzte Spur von Reflexivität und Gegensatz zu tilgen, das Objektsein für ein Bewußtsein überhaupt abzusprechen. Die intellektuale Anschauung ist für Schelling, anders als für Fichte, ganz und gar nicht identisch mit dem Selbstbewußtsein: sie verbürgt eine absolute Identität über allem Bewußtsein und ist, so betrachtet, irreflexiv in einem entschieden radikaleren, freilich auch problematischeren Sinne, als das bei Fichte der Fall war“ (ES, p. 60).

Spinoza. „Beide, Schelling wie Spinoza, streben nach Vereinigung des Ich und des Absoluten, um sich so über die Sphäre des unphilosophischen, alltäglichen Denkens zu erheben, sich von aller scheinbaren Objektivität zu befreien, und beiden geht es also eigentlich nicht um ein bloßes Denken, sondern um das Philosophieren als absoluten Zustand (I, 321)“ (H. Zeltner: Schelling, p. 77). Der Begriff Anschauung hat eine lange Tradition. Sie führt über Kant, Spinoza und die Scholastik zurück zu den Griechen. Für Platon war die Schau die höchste Tätigkeit der Vernunft. „In der Schau tritt die menschliche Vernunft unmittelbar mit den Ideen in Kontakt. Deshalb ist die Schau auch der beste Beweis für die Realität der Ideen. Platon ist erkenntnistheoretischer Realist: das Sein geht dem menschlichen Erkennen voraus, ist nicht ein Produkt des Erkennens. Er bleibt dabei allerdings metaphysischer Idealist, weil die intelligible Ideenwelt für ihn der Grund allen empirischen Seins ist, das sein Sein nur durch Teilnahme an den Ideen hat. [...] Die philosophische Schau ist höchste Leistung der menschlichen Kraft überhaupt. Sie bedeutet ,Verähnlichung mit Gott‘. Denn Gott ist bei Platon nichts anderes als die letzte Bedingung der Formen, das überideenhafte Eine, die Götter sind die aus dem Einen hervorströmenden Ideen und Formen. Dadurch, daß der Mensch durch fortgesetzte Anstrengung die Einheit der Seele, die in ihm schlummert, durch bewußte Erkenntnistätigkeit realisiert, dadurch, daß er sich zum Sein einer wahren Idee erhebt: – wird er Gott ähnlich. Er wird nicht Gott selber, weil die höchste Anstrengung, die er macht, nie zur vollkommenen Einheit führt, da ihm das niedere Menschsein hemmend anhaftet“ (M. Reding: Thomas von Aquin und Karl Marx, p. 17 sq.).

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Die Differenz und Unabhängigkeit diesem gegenüber war bei Schelling nicht zuletzt durch den Einfluß Hölderlins schon früh angelegt.35 Spätestens im Jahre 1801 mußte diese Tendenz zum Bruch zwischen beiden führen. 35 Cf. W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur“, p. 245. D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, cap. XVI., begründet die Eigenständigkeit Schellings vor allem mit dessen gründlicher Diagnose von und Kritik an Reinholds Elementarphilosophie, in welcher er mit Diez übereinstimmte und sogar zu identischen Ergebnissen gelangte. Von da aus konnte Schelling seine eigenen Gedanken zu einer Grundlegung der Philosophie aus einem einzigen Prinzip heraus entwickeln. Frank verweist diesbezüglich auf den Zuspruch, den Hölderlin dem „verzagten Freunde“ kurz nach Ostern 1795 auf dem gemeinsamen Heimweg nach Nürtingen spendete: „Schelling ,klagte damals, wie weit er noch in der Philosophie zurück sei‘, und konnte von Hölderlin authentisch getröstet werden: ,Sei du nur ruhig, du bist grad’ so weit als Fichte, ich habe ihn ja gehört‘ (Bericht von Schellings Sohn, in: Plitt, I, 71)“ (ES, p. 67 sq.). Frank hält dies zu Recht für einen „etwas zwiespältigen Trost“, denn: „Hölderlin glaubte sich [...] um die Zeit im Besitz eines Arguments, das ihn selbst ein ordentliches Stück Wegs über Fichtes Ansatz hinausführte. Man muß die These von einem philosophischen Vorsprung Hölderlins im übrigen nicht für ein Urteil der Bescheidenheit halten (vgl. Plitt I, 52 ff.). Schelling war nicht bescheiden. Es ist bekannt, daß er die Lektüre des dritten Teils der Wissenschaftslehre erst im Frühjahr 1796 in Angriff nahm (Brief an Niethammer, Stuttgart, 22. Januar 1796); ebenso, daß er seine überwiegend theologischen Studien mit philosophischen erst im Spätjahr 1794 vertauscht hat“ (ES, p. 68). Noch fundamentaler sieht Zeltner die Eigenständigkeit Schellings gegenüber Fichte begründet: „Genau besehen ist seine Philosophie des Ich aber schon im ersten Ansatz grundverschieden von der Fichtes, wenn sie dieser auch entscheidende Anregungen verdankt. War für Fichte die Überwindung des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft, die praktische Begründung auch der theoretischen Philosophie das eigentliche Problem, so interessiert sich der junge Schelling dafür nur am Rande. Die Deduktion der Weltbeziehungen des Ich aus dessen ursprünglicher Selbstgewißheit, auf die Fichte so unendliche Mühe verwendet, übernimmt er, insofern sie ihm überhaupt wichtig ist, ganz von Fichte. Sein eigentliches Problem aber ist das Verhältnis des empirischen zum absoluten Ich, oder wie er dafür auch sagen kann: von Ich und Absolutem. Und es ist kein Zweifel, daß sein Philosophieren dabei von einer echten metaphysischen Erfahrung gespeist wird“ (H. Zeltner: Schelling, p. 76 sq.). Für Kroner besteht Schellings Eigenständigkeit wie Leistung vor allem darin, daß er von Fichte sich durch einen nicht-ethischen Ansatz abgrenzt: „Schelling, kann man sagen, glaubt die Tat des Loslösens [= ,Intellektuelle Anschauung‘] so radikal durchführen zu können, daß nicht mehr sie, sondern eine allem Loslösen vorausgehende Tat, – also eine Tat nicht des Philosophierens, sondern eine von allem Philosophieren

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Als ein weiterer Grundgedanke der Frühschriften Schellings fällt die Freiheit ins Auge. Sie ist Voraussetzung und Resultat der Selbstergreifung des Ichs und deshalb das „erste Postulat aller Philosophie“ oder: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ (SW I/1, p. 177). Das absolute Ich wird durch nichts getragen außer durch sich selbst. Selbstgewißheit wird als Akt der Freiheit und Unabhängigkeit verstanden. „Das Wesen des Ichs ist Freiheit, d. h. es ist nicht anders denkbar, denn nur insofern es aus absoluter Selbstmacht sich, nicht als irgend Etwas, sondern als bloßes Ich setzt“ (SW I/1, p. 179). Zwar gilt der junge Schelling als Anhänger der französischen Revolution, von einem politischen Bekenntnis kann hier dennoch nur indirekt die Rede sein, zu abstrakt sind seine Ausführungen. Es ist zu bedenken, daß sein Freiheitsbegriff nicht empirisch gemeint ist, sondern idealistisch, als Ausdruck der Unbedingtheit und Unendlichkeit des Ichs. Die Freiheit des empirischen Ichs wiederum ist nach Schelling, wenn überhaupt, nur durch ihre Identität mit der absoluten begreiflich (cf. SW I/1, p. 237). Gesucht wird hier die Freiheit nicht innerhalb der Materie, sondern von ihr. Es ist jene des Metaphysikers, des Mystikers, welcher dem irredentistischen Zustand der Welt zu entkommen sucht. Der Begriff der Freiheit verführt jedoch, da er eine Konnotation eben jener französischen Revolution darstellt und von dort her seine Attraktivität entlehnt. Bei Schelling transportiert er allerdings nur die Form, nicht deren Inhalte. Auf diese Weise findet der ursprünglich politische Terminus eine rein idealistische Applikation. Jacobs verteidigt diese Widersprüchlichkeit durch den Hinweis, Schellings Sache sei Aufklärung, nicht Praxis gewesen: „Die Revolution des Bewußtseins schien ihm wichtiger als die der politischen Realität. Es ist leicht, ihm die Blindheit des Intellektuellen für reale Machtverhältnisse vorzuwerfen.“36 losgelöste Tat, die erste des Philosophierens zu werden hat. Es ist klar, daß sich der Sinn dieser Tat damit ändert. Wenn für Fichte in dem Akte der Abstraktion noch immer der, allerdings ganz in einen spekulativen, in einen denkerischen verwandelte, sittliche Wille eine entscheidende Rolle spielt, – jener Wille, der sich von dem Antriebe der Neigung lossagt und dadurch freimacht; wenn die Tat des Abstrahierens selbst als ein solches Sich-lossagen und Sich-freimachen von allen empirischen Antrieben des Wollens und Vorstellens aufgefaßt wird, und dadurch das Denken der W.L., sobald es beginnt, also schon im Aufstellen des ersten Grundsatzes, eine ethische Tönung erhält, bedeutet der erste Schritt Schellings vielmehr ein Sich-lossagen von diesem Sich-lossagen, ein Sichfreimachen von diesem Sich-freimachen, – er bedeutet eine Absage an den ethischen Idealismus, eine Befreiuung von dem kategorischen Imperative des Denkens, der die W.L. beherrscht und ihr das Gepräge gibt“ (R. Kroner: Von Kant bis Hegel, vol. 1, p. 545). 36 W. G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie?, p. 56.

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3.3 V OM

TRANSZENDENTALEN I CH ZUR

N ATUR

Wir haben bis hierher den desultorischen Schritt vom reflexionsabhängigen Selbstbewußtsein zum transzendentalen Ich rekonstruiert. Es gilt nun in gedrängter Darstellung den Weg vom absoluten Ich zum Nicht-Ich, das heißt zur Natur zu erläutern, um, dort angelangt, hinsichtlich unseres eigentlichen Erkenntniszieles, dem Verdinglichungsphänomen, fündig zu werden. Bis es zur endgültigen Abnabelung von Fichte kommen konnte, verarbeitete und entwickelte Schelling einen wesentlichen Gedanken der Wissenschaftslehre: Jeder positiven Setzung (daß Ich ist) geht eine Negation einher (was Ich nicht ist). Ich gibt es nur durch das, was es nicht ist. Der Ausschluß bedingt die Bestimmung. Dies jedoch widerspricht der Annahme, das Ich sei unbedingt. „Um Begriff zu sein (und sich zu wissen), muß sich auch das Ich negativ gegen etwas anderes abheben, das selbst kein Ich ist“ (ES, p. 71) (und von Fichte Nicht-Ich genannt wird). Diese Logik läßt Schelling einsehen, daß es für das Ich kein Entrinnen vor seiner Bedingtheit geben kann. Es kommt deshalb – wie schon das Selbstbewußtsein – für ihn nicht mehr als Instanz des Absoluten in Frage. Weiter verdankt er Fichte die Einsicht, daß das Bewußtsein eines Subjekts bedarf und das Subjekt die Quelle sowohl der sinnlichen als auch der intellektuellen (= nicht-dualistischen) Erkenntnis schlechthin ist. Seine Subtraktion würde auch dem Objekt jede Möglichkeit seiner Bewußtwerdung nehmen. Die objektive Wirklichkeit ist erkenntnistheoretisch vom menschlichen Subjekt abhängig, nicht jedoch existentiell. Das heißt, Fichte und Schelling anerkennen die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt der Objekte. Woher jedoch stammt die Gewißheit in der Erkenntnis einer von uns unabhängigen Wirklichkeit? Schelling beantwortet dies im System des transscendentalen Idealismus folgendermaßen: „Wie Vorstellung und Gegenstand übereinstimmen können, ist schlechthin unerklärbar, wenn nicht im Wissen selbst ein Punkt ist, wo beide ursprünglich Eins – oder wo die vollkommenste Identität des Seyns und des Vorstellens ist“ (SW I/3, p. 364). Hier wird zur Begründung das platonische Argument, daß Identität Ursprünglichkeit bedeutet, angeführt. So wie das Ich nur mit sich vertraut sein kann aufgrund einer präreflexiven Erinnerung an seine Ur-Einheit, so muß es auch um die Außenwelt des Ichs bestellt sein: die ursprüngliche Identität von Wissen und Sein ermöglicht Erkenntnis in der Gegenwart; oder: Erkenntnis ist Anamnese. Der Ureinheit des Ichs mit sich selbst analogisiert die Ureinheit mit der Außenwelt. Beide bedürfen jedoch des Gegensatzes zu ihrer Bestimmung. Erst die Aufspaltung der ursprünglichen Einheit ermöglicht ihre erneute Zusammenführung durch das Bewußtsein. Alles Weltbewußtsein ist durch Selbstbewußtsein konditioniert. Mit Franks Worten:

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„[D]er Begriff des Nicht-Ich (einer vom Ich unterschiedenen Welt) entsteht in vollkommener Gleichursprünglichkeit mit dem des Ich, ihm dienend als Oppositionsterm, gegen welchen der erste – der des Ich – sich negativ profilieren und Bestimmtheit erwerben kann. Oder auch: Um der Aufforderung zu entsprechen, mich als mich zu denken, bedurfte ich des Begriffs ,Ich‘. Über diesen Begriff mußte ich also schon verfügen“ (ES, p. 77).

An Stelle von Bestimmung benutzt Fichte auch den anschaulicheren Terminus der Einschränkung. Das Ich ist unendliche Tätigkeit, Bewußtsein die Privation desselben. Wo Etwas ist, ist nicht mehr Nichts. Wo Dies ist, kann nicht Jenes sein. Der Ausschluß des jeweils Anderen führt zur Definition des je Einen und umgekehrt. „,Ich‘ sagen schließt also – ob man will oder nicht – ein: ,Nicht-Ich‘ sagen“ (ES, p. 78). Das Ich kann die Setzung seiner selbst nur als Entgegensetzung realisieren: wer Subjekt sagt, sagt auch Objekt – et vice versa. Jedoch: Die Beschränkung kann nicht das Werk des Ichs sein. Sie kommt von außen auf es zu. Um Bewußtsein von etwas haben zu können, muß das Etwas schon da sein, das heißt dem Bewußtsein vorausgehen. Die Außenwelt nämlich ist für mich nur da, „inwiefern ich zugleich selbst da und mir bewußt bin [...], aber daß auch umgekehrt, sowie ich für mich selbst da, ich mir bewußt bin, daß, mit dem ausgesprochenen Ich bin, ich auch die Welt als bereits – da – seyend finde, also daß auf keinen Fall das schon bewußte Ich die Welt produciren kann“ (SW I/10, p. 93). Schelling geht deshalb von der Existenz einer „Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseins“ aus sowie von einer „Thätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtseyn kommt“. Diese Tätigkeit könne nun keine andere sein, als eben die Arbeit des Zu-sich-selbst-Kommens, des sich Bewußtwerdens selbst. Und das Resultat, „in welchem sie [die Tätigkeit] dem Bewußtseyn stehen bleibt, ist dann eben die Außenwelt, der sich eben darum das Ich nicht als einer von ihm selbst producirten, sondern nur als einer zugleich mit ihm da seyenden bewußt seyn kann“ (l. c., p. 93). Der Autor sucht den „unzerreißbaren Zusammenhang“ des Ichs mit der von ihm notwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtsein vorausgehende „transscendentale Vergangenheit“ dieses Ichs zu erklären. „Denn das Ich bin ist eben nur der Ausdruck des zu-sich-Kommens selber – also dieses zusich-Kommen, das im Ich bin sich ausspricht, setzt ein außer- und von-sich-Gewesenseyn voraus. Denn nur das kann zu sich kommen, was zuvor außer sich war. Der erste Zustand des Ichs ist also ein außer-sich-Seyn. Hiebei ist nur noch zu bemerken [...], daß das Ich, inwiefern es jenseits des Bewußtseyns gedacht wird, eben darum noch nicht das individuelle ist, denn zum individuellen bestimmt es sich eben erst im zu-sich-Kommen, also das jenseits des Bewußtseyns oder des ausgesprochenen Ich bin gedachte Ich ist für alle menschlichen Indivi-

214 | O BJEKT -S UBJEKT duen das gleiche und selbe, es wird in jedem erst sein Ich, sein individuelles Ich, indem es eben in ihm zu sich kommt“ (SW I/10, p. 94).

Aus der Identität des vorindividuellen, vorbewußten Zustandes der Welt sei auch deren Existenz ableitbar. Alle Individuen partizipieren an einem universalen ,Urbild‘ von Welt. „Daraus, daß das jenseits des Bewußtseyns gedachte für alle Individuen dasselbe ist, daß hier das Individuum noch nicht mitwirkt, daraus erklärt sich alsdann, warum ich für meine Vorstellung von der Außenwelt unbedingt, und ohne selbst erst eine Erfahrung darüber gemacht zu haben, auf die Uebereinstimmung aller menschlichen Individuen zähle (das Kind schon, das mir einen Gegenstand zeigt, setzt voraus, daß dieser Gegenstand ebensowohl für mich als für es existiren müsse)“ (SW I/10, p. 94).

Einmal zum Individuum geworden, bei dem ,Ich bin‘ angekommen, erinnere das Ich sich nicht mehr des Weges, den es bis dahin zurückgelegt habe, „denn da das Ende dieses Wegs eben erst das Bewußtseyn ist, so hat es (das bis jetzt individuelle) den Weg zum Bewußtseyn selbst bewußtlos und ohne es zu wissen zurückgelegt. Hier erklärt sich die Blindheit und Nothwendigkeit seiner Vorstellungen von der Außenwelt, wie dort die Gleichheit und Allgemeinheit derselben in allen Individuen. Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Momente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst“ (SW I/10, p. 94 sq.).

Jede Möglichkeit der Erkenntnis entsteht in der Vorschule eines identifizierenden Unbewußtseins.37 Wortwahl wie Inhalt dieser Exzerpte aus den Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie erstaunen, könnten sie doch von Freud selbst stammen; das heißt, auch im Hinblick auf die erst viel später aufkommende Psychoanalyse erweist Schellings Naturphilosophie sich als ebenso vorausblickend wie antizipierend. Und wenn er es als „Aufgabe der Wissenschaft“ bestimmt, das unbewußte Ich zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein kommen zu lassen, 37 Der Begriff des Unbewußtseins, der in Schellings Schriften häufige Verwendung findet, ist entweder eine Übersetzung von Leibniz’ Terminus der petite perception, mit welchem jener die Fakultät der Monaden bezeichnet, oder Schelling hat ihn von Goethe übernommen, bei dem der Begriff erstmalig nachweisbar ist, in seinem Gedicht An den Mond von 1777. Cf. etiam art. Unbewußt, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, vol. 3, pp. 296-305, et Unbewußtes, das Unbewußte, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, col. 124 sq.

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es in eine „höhere Potenz der Subjektivität“ zu verwandeln, so bedient er die Interessen der Psychoanalyse wie des Marxismus gleichermaßen: „Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat“ (SW I/10, p. 95). Der Verfasser zog aus diesen Einsichten die Konsequenz, indem er für beide, Ich und Nicht-Ich, einen gemeinsamen Identifizierungsgrund setzte. Gedanke und Sein müssen, so die Annahme, einander bereits in einem ursprünglichen, unbewußten Zustand begegnet sein, das heißt im Akte einer bestimmten Kraft: dem Sich-selbst-Wollen der Natur. Bewußtsein ist das Ergebnis einer Stufenfolge des Naturprozesses. „Schellings ,Realismus‘ besteht darin, daß er dem Nicht-Ich seine Autonomie zurückgibt, daß er die ,Natur‘ nicht zur Setzung, sondern zur Voraussetzung des Ich erhebt. Mit unseren Worten: Fichtes Ich geht im Entwurf auf, Schellings Ich entwirft als entworfenes. Das Ich als höchste Potenz ist geworden und findet sich als gewordenes vor. Diese Befindlichkeit des Ich konstituiert sich im allgemeinen Modus des Vorfindens von Seiende[m], das nicht Ichselbst ist, weiter in den ausgezeichneten Modis des Vorfindens von anderen Menschen und des Vorfindens des eigenen Selbst.“38

Fichte bestand auf der eindimensionalen Ich-Bestimmtheit der Wirklichkeit. Wenn er auch von der Existenz einer ,bewußtlosen Intelligenz‘ ausging, der Natur wollte er keine Eigenschaft oder Tätigkeit zubilligen, die über das bloße Objekt-sein hinausgeht. „Die Natur ist ihm [Fichte] in dem abstrakten, eine bloße Schranke bezeichnenden Begriff des Nicht-Ich, des völlig leeren Objekts, an dem gar nichts wahrzunehmen ist, als daß es eben dem Subjekt entgegengesetzt ist, – die ganze Natur ist ihm in diesem Begriff so zusammengeschwunden, daß er eine Deduktion, die weiter als dieser Begriff sich erstreckte, nicht für nöthig hielt. Am Ende war in Kants Kritik mehr Objektivität als in Fichtes Wissenschaftslehre. Denn: Kant ließ sich bei der unternommenen Kritik, bei der Ausmessung des Erkenntnißvermögens, unbedenklich von der Erfahrung leiten, bei Fichte war es doch nur seine, also eine zufällige Reflexion, die alle Kosten der Fortschreitung bestritt. Nach Fichte also war alles nur das Ich und für das Ich“ (SW I/10, p. 90 sqq.).

Wie jedoch ist eine Deduktion der ursprünglichen Identität von Ich und Nicht-Ich möglich? Würde der Natur, gleich dem absoluten Ich, ebenfalls Unendlichkeit zugestanden, fände der Antagonismus von Unendlichkeit (des Ichs) und Endlichkeit 38 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 160.

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(des Nicht-Ichs) seine Aufhebung – so die Überlegung Schellings. Er überträgt die unendliche Tätigkeit des Ichs auf die Natur und heißt sie dort Dynamik und Organik. Das unbewußte oder, wie er auch sagt, bewußtlose Schaffen der Natur ist die gemeinsame Quelle, aus der auf der einen Seite das Bewußtsein, auf der anderen das Nicht-Ich entsteht. Ich und Nicht-Ich sind also Produkte desselben unendlichen Wollens und Produzierens. Beide, Natur und Ich, sind Produkte einer produzierenden Kraft. Diejenige Philosophie, welche das Objekt zum Ausgangspunkt der Erkenntnis wählt, nennt Schelling Naturphilosophie, diejenige, welche beim Ich beginnt, Transzendentalphilosophie: „Entweder wird das Objective zum Ersten gemacht, und gefragt: wie ein Subjectives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt? [...] Oder das Subjective wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objectives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt?“ (AA 9/1, p. 30 sq.). Der Autor selbst zögert in der Beantwortung dieser Frage, schwankt über einen langen Zeitraum seines Wirkens – insofern mag durchaus von ,Verschiebungen‘ oder ,Bewegungen‘ in seinem Denken die Rede sein.39 Er verlagert periodisch die Schwerpunkte bzw. den ,Sitz‘ der Identität. In den ersten Schriften geht bei ihm alle Gewißheit der Erkenntnis vom absoluten Ich aus. Als er an dessen Potenz zu zweifeln beginnt, sucht er dieselbe in der Natur zu finden. In der Spätphilosophie kehrt

39 Es ist fraglich, ob Ausdrücke wie Wende oder Kehre, wie bei vielen Autoren sie voreilige Verwendung finden, Schelling überhaupt gerecht würden, da alle Elemente seines Denkens, auch des späten, irgendwie immer und überall in seinem Œuvre schon enthalten sind, mehr oder weniger kompatibel und unterschiedlich prononciert. Karl Jaspers bemerkt dazu: „Wer an die Wandlung Schellings glaubt, könnte sie in Analogie zu den katholischen Konversionen der Romantiker setzen. In der Tat gab es damals zwischen 1810 und 1820 Gerüchte, die sogar Goethe täuschten, Schelling sei im Begriff, katholisch zu werden. Aber davon war bei Schelling nie der leiseste Ansatz. Wir werden noch hören, wie er nicht nur die absolute Unabhängigkeit und Souveränität der Philosophie auch in Glaubensfragen aufrecht erhielt, sondern seinerseits nur an eine neue philosophische Religion, hinaus über Katholizismus und Protestantismus, dachte. Daß Schelling über gewisse Dinge in den Niederschriften jahrelang schweigt, bedeutet nicht, daß er sie nicht denkt. Alle Entwicklungen und Standpunktverschiebungen scheinen vordergründig. Tritt man gleichsam zurück und überschaut, soweit man vermag, ganze Werkgruppen und die Werke im Ganzen, so überzeugt man sich, daß keine wirklichen Wandlungen der Denkungsart stattfinden, keine wirklich neuen Gehalte auftreten, sondern Bevorzugungen, Verengungen, Auswachsen von längst vorhandenen Keimen, Aneignung von neuen Gehalten seitens der sich gleich bleibenden Denkungsart“ (K. Jaspers: Schelling. Größe und Verhängnis, p. 55 sq.).

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er zum idealistischen Ausgangspunkt zurück, indem er Gott als Schöpfer noch vor die Natur setzt.

3.4 W ARUM N ATUR ? Ungeachtet dieses theoretischen und auf den ersten Blick plausibel scheinenden Ganges der Erklärung steht dennoch die Frage im Raum, warum Schelling die Natur als Repräsentant der Nicht-Ich-Seite der Erkenntnis wählte und nicht – wie Hegel es tat – die Geschichte. Oder etwas ganz anderes. Freilich wird ihm diese Wahl gegenüber den anderen Idealisten immer als seine, ,ureigene‘ Leistung angerechnet werden. In der Neue[n] Deduktion des Naturrechts (1795 als Beitrag für das Philosophische Journal verfaßt, dort jedoch erst 1796 veröffentlicht) (§. 8.-13.) betrachtet er die Natur als Schranke des Könnens, die Menschheit als Schranke des Dürfens. Er hätte angesichts dieser von ihm selbst vorgenommenen Differenzierung auch für eine ausführliche Untersuchung der Menschheit sich entscheiden können, ist diese schließlich nicht nur ein moralisches Hindernis, sondern auch ein existentielles. Selbstbewußtsein ist für Schelling und Fichte zwar nicht mehr „der höchste Punkt“ der Philosophie, behält jedoch nach wie vor seine zentrale Bedeutung: ohne Bewußtsein und Selbstbewußtsein (egal ob reflexiv oder instantan) keine Erkenntnis. Bewußtsein ist für Schelling das Resultat einer Stufenfolge bzw. eines Prozesses. Er und Hegel haben auf dieser Prämisse ihre Systeme errichtet, unabhängig davon, daß jener das Sein als Identität an den ,Anfang‘, dieser es an das ,Ende‘ setzte. Es scheint jedoch plausibel, wenn Schelling die Geschichte als Deduktionsort des Absoluten ungenügend erscheint und er noch ,hinter‘ dieselbe ,zurück‘ will. Geschichte ist immer die Geschichte von ,Ichen‘. Und wenn das Nicht-Ich aus ,Ichen‘ besteht, geht die Erkenntnis im Zirkel, sofern das Problem das Ich selbst ist. Die Untersuchung auf seine plurale Form auszuweiten, hieße nur, sie zu quantifizieren, statt zu ihrer Lösung beizutragen. ,Iche‘ sind zwar die empirische Grenze des einzelnen Ich, jedoch zugleich – was viel mehr wiegt – ihre eigene gnoseologische Beschränkung. Denn auch den ,Ichen‘ geht ein Sein als Ermöglichungsbedingung voraus, das von allen es bestimmenden historischen Relata unbedingt ist. Geschichte kann deshalb immer nur die Grenze der empirischen Freiheit sein, nicht der absoluten, und sie muß – als logische Folgerung daraus – selbst einen Deduktionsgrund besitzen, auf dem sie ruht: dieser kann dann nur die Natur sein. „Ist das einmal zugestanden, kann die Deduktion sich weiter voranwagen. Wenn die transzendentale Vergangenheit des Selbstbewußtseins in einer unbewußten Tätigkeit besteht, warum sie nicht als eine Naturtätigkeit qualifizieren? Und sagen, dasjenige, welches dem Sichbewußtwerden des Selbst zuvorbestehe, sei eben die Natur?“ (ES, p. 98).

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Hegel und Fichte vernachlässigten die Existenz des Unbewußten. Aus diesem Grunde konnten sie auf der geschichtlichen Basis weiterarbeiten bzw. blieben sie auf dem Niveau von Geschichte stehen. Für Fichte entstand das Ich durch Reflexion auf die Tathandlung. Dieses Modell wurde von Hegel nur erweitert: aus dem Ich wird ein ,allgemeines, objektives Ich‘, der Weltgeist, aus der Tathandlung die Weltgeschichte. In beiden Systemen ist das Selbstbewußtsein das Ergebnis eines reflexiven Prozesses. Die Idee der Geschichte ist jedoch eine direkte Ableitung und Konsequenz aus Fichtes Relation von Ich und Tathandlung. (Die Reihenfolge der drei Idealisten müßte nicht zuletzt deshalb eigentlich lauten: Fichte, Hegel, Schelling statt – wie üblich – Fichte, Schelling, Hegel.)40 Zur weiteren Erhellung des Antagonismus Natur-Geschichte sollten wir unsere Aufmerksamkeit kurz einem Beitrag schenken, welchen Schelling für die Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur des Philosophische[n] Journal[s] im Jahre 1797 verfaßt hatte: Ist eine Philosophie der Geschichte möglich? Er entstand noch vor den Ideen zu einer Philosophie der Natur, welche im gleichen Jahr erschienen. Des Autors Ringen um die philosophische Priorität einer der beiden Positionen, Geschichte oder Natur, spiegelt dort sich anschaulich wieder. Er beginnt mit der Unterscheidung, daß Geschichte die Kenntnis des Geschehenen und Natur der Inbegriff des Geschehenden sei. Das Geschehene habe das „Veränderliche“, „in der Zeit Fortschreitende“ zum Gegenstand, das Geschehende hingegen „Begebenheiten, die man periodisch regelmäßig wiederkehren sieht“. Was bedeutet das konkret? „Der Lauf der Gestirne, ihre periodische Erscheinung u. s. w. ist für 40 Manfred Frank fügt noch einen weiteren Grund hinzu, warum die üblicherweise genannte Reihenfolge der drei Idealisten nicht ganz korrekt ist: „Schelling hat gleichzeitig mit dem 13 Jahre älteren Fichte (nämlich zwischen 1792 und 1794) seine ersten philosophischen Gehversuche unternommen; 1794 verfügte er über ein (bei aller Ähnlichkeit von Fichte unterschiedenes und tatsächlich auch aus Fichte-unabhängigen Quellen erwachsenes) idealistisches philosophisches System, das Dieter Henrich im XVI. Kapitel seines Mammutwerks Grundlegung aus dem Ich minutiös rekonstruiert hat. [...] Und er wird nach Hegels Tod (im Jahre 1831) mit einer weithin beachteten Hegel- und Idealismuskritik aufwarten, die es geraten erscheinen läßt, vielmehr Hegel als ein Mittelglied zwischen Fichte und Schelling darzustellen. Das ist die Pointe des Titels von Walter Schulzens Schelling-Klassiker: Die Vollendung des [D]eutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Gewöhnlich wird diese Vollendung ja Hegel zugeschrieben, erwartbarerweise von Hegel selbst. Schelling seinerseits wird in Bezug auf die Leistung seines alten Freundes abschätzig als von einer bloßen, nämlich nicht einschlägigen ,Episode‘ in der Entwicklung der neueren Philosophie sprechen (SW I/10, 125)“ (M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 3. Vorl. WS 2008/09, p. 51).

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den Menschen Geschichte nur so lange, als er das Regelmäßige nicht bemerkt. Kann er es vollends gar bestimmen, so giebt es keine Geschichte des Himmels mehr“ (SW I/1, p. 467). Nur aus „Unwissenheit“ wird also etwas in die Geschichte aufgenommen oder als Geschichte betrachtet. Je weiter das Wissen fortschreitet, desto kleiner wird der Raum für Historisches, denn dieses zeichnet sich dadurch aus, daß es nicht – wie Planeten – in berechenbaren Bahnen verläuft. Kürzer: Naturabläufe sind kalkulierbar, Geschichte nicht. Oder, mit Schellings Worten: „was a priori zu berechnen ist, was nach nothwendigen Gesetzen geschieht, ist nicht Objekt der Geschichte; und umgekehrt, was Objekt der Geschichte ist, muß nicht a priori zu berechnen seyn“ (l. c., p. 467). Daß das, was eigentlich Naturbeschreibung sei, dennoch bisweilen als Naturgeschichte bezeichnet würde, ist für den Autor ein verzeihlicher Irrtum. Er entstehe daraus, daß wir die Natur uns als Freiheit denken, was wiederum legitim sei. Freiheit bedeute jedoch nicht Gesetzlosigkeit, betont der Verfasser, denn auch die Natur folge einem Ideal. Genau wie im Ältesten Systemprogramm, wo in Anlehnung an Kant die Natur als ,Zweck-Organismus‘ gedacht wird, tritt auch hier die Angst vor einer Willkür der Natur deutlich zutage – was Schelling die Entscheidung, Natur oder Geschichte, zusätzlich erschwert und hinauszögern läßt. Durch ihre zyklischen Bewegungen ist die Natur ihm aber nicht nur das Einem-Ideal-Folgende und deshalb Berechenbare, sondern auch das Unveränderliche. Die abderitistischen Bewegungen der Geschichte sind seine Sache nicht. Er tendiert hier noch immer – wie in der Ich-Schrift zwei Jahre zuvor – zum Metaphysischen, welches, bar aller Wechselfälle, mit dem Versprechen des Ewigen und Unveränderlichen lockt. Geschichte vermag beides nicht zu leisten – daher rührt Schellings eigentliche Skepsis ihr gegenüber. Platon ist auch im folgenden präsent: „In der Natur, insofern wir sie in ihren Produktionen als durch ein ihr vorschwebendes Urbild geleitet annehmen, ist ein Schein der Freiheit, aber nur ein Schein. [...] – Es findet also nur ein Schein von Naturgeschichte statt“ (SW I/1, p. 470). Der Autor weiß nicht, wieviel Freiheit und Vorbestimmtheit er der Natur am Ende zugestehen soll. Auch ihr mißtraut er im Letzten. Und er folgert daraus, „daß Geschichte im einzigen, wahrsten Sinn nur da stattfindet, wo es absolut, d. h. für jeden Grad der Erkenntniß, unmöglich ist, die Richtungen einer freien Thätigkeit a priori zu bestimmen“ (l. c., p. 470). Die Freiheit, welche in der Geschichte des Menschen herrscht, ist eine dynamische. Sie wird der Mechanik der ,Kreisbewegungen‘ der Natur – wie schon im Systemprogramm – entgegengehalten: „Wo Mechanismus ist, ist keine Geschichte, und umgekehrt, wo Geschichte ist, ist kein Mechanismus“. Es sei schließlich auch nicht möglich, die „Geschichte einer Uhr“ zu denken, fügt der Verfasser als Beispiel hinzu. Denn in der Uhr und in jeder anderen Maschine gäbe es „keine Freiheit des Princips“. So konkludiert er: „Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine Geschichte möglich, und umgekehrt, nur was keine Theorie a priori hat, hat Geschichte. Wenn also der Mensch Geschichte (a posterio-

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ri) hat, so hat er sie nur deßwegen, weil er keine (a priori) hat; kurz, weil er seine Geschichte nicht mit-, sondern selbst erst hervorbringt“ (SW I/1, p. 471 sq.). Da Geschichte das Werk unserer „Beschränktheit“ sei, das heißt unserer Unwissenheit über Abläufe, die wir für unberechenbar halten, es aber in Wirklichkeit nicht sind, besteht für den Autor die Möglichkeit, daß die Geschichte – proportional der Zunahme unseres Wissens – eines Tages in der Vernunft sich ganz aufheben wird – ein Gedanke übrigens, dessen Ausführung Hegel seine Bekanntheit verdanken wird.41 Interessanterweise würde in einem solchen Moment für Schelling Geschichte mit Natur in eins fallen, das heißt das Absolute wäre verwirklicht: „denn hätten wir je unsere ganze Aufgabe erfüllt und das Absolute realisiert: dann würde es auch für jeden Einzelnen und für das ganze Geschlecht kein anderes Gesetz geben, als das Gesetz seiner vollendeten Natur, alle Geschichte würde sonach aufhören“ (SW I/1, p. 472 sq.). Und indem der Verfasser beschreibt, unter welchen Bedingungen eine Theorie a priori von Geschichte möglich sein soll, antizipiert er im Wesentlichen den Inhalt von Hegels Phänomenologie des Geistes. Er führt aus: „daß Geschichte überhaupt nur da ist, wo ein Ideal und wo unendlich-mannichfaltige Abweichungen von demselben im Einzelnen, doch völlige Congruenz mit demselben im Ganzen stattfindet; ein Satz, aus welchem denn auch zum voraus einleuchtet, daß Geschichte überhaupt nur von Wesen, die den Charakter einer Gattung ausdrücken, möglich ist; daher wir al-

41 Dies hatte auch Schelling selbst so gesehen. Friedrich Engels legte ihm diese Einsicht als Überheblichkeit aus, wußte jedoch insgeheim, daß jener recht hat. Nachdem er Schelling in dessen Berliner Vorlesung Hegels Philosophie kritisieren gehört hatte, faßte er das Resultat treffend wie folgt zusammen: „Wenn man das Schellingsche Todesurteil des Hegelschen Systems seiner Kurialsprache entkleidet, so kommt folgendes heraus: Hegel hat eigentlich gar kein eignes System gehabt, sondern vom Abfall meiner Gedanken kümmerlich sein Leben gefristet; während ich mit der partie brillante, der positiven Philosophie, mich beschäftigte, schwelgte er in der partie honteuse, der negativen, und übernahm, da ich keine Zeit hierzu hatte, ihre Vervollständigung und Ausarbeitung, unendlich beglückt dadurch, daß ich ihm dies noch anvertraute. Wollt Ihr ihn deshalb tadeln? ,Er tat, was ihm zunächst lag.‘ Er hat dennoch ,eine Stelle unter den großen Denkern‘, denn ,er war der einzige, der den Grundgedanken der Identitätsphilosophie anerkannte, während alle andern sie flach und seicht auffaßten‘. Aber dennoch sah es schlimm mit ihm aus, denn er wollte die halbe Philosophie zur ganzen machen. Man erzählt ein bekanntes Wort, angeblich aus Hegels Munde, das aber nach obigen Äußerungen unzweifelhaft von Schelling herrührt: ,Nur einer meiner Schüler verstand mich, und auch dieser verstand mich leider falsch‘“ (F. Engels: „Anti-Schelling“, in: MEW EB II, pp. [161]-245; p. 167).

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lein auch aus diesem Satz das [sic] Befugnis, das Menschengeschlecht in der Geschichte als Ein Ganzes vorzustellen, werden ableiten können“ (SW I/1, p. 469).

Bis dies jedoch erreicht sei, bis eine Vorstellung der Menschheit als Ein Ganzes, das heißt die Totalisierung des Einzelnen durch das Ganze sowie die Retotalisierung des Ganzen durch den Einzelnen gelinge, gelte uneingeschränkt, „daß eine Philosophie der Geschichte unmöglich ist“ (l. c., p. 473). Freilich scheint Schelling auch fasziniert zu sein von der Vorstellung einer Freiheit der Geschichte, für welche kein Weg vorgezeichnet, deren Richtung nicht festgelegt ist, eine Freiheit, welche Offenheit nach vorne bedeutet. Doch erst wenn Geschichte Natur, das heißt apriorisch erkenn- und berechenbar – wie die Gesetzlichkeit des Kosmos – wird, wenn sie sich selbst durch und in Vernunft aufhebt, vermag sie jenes Absolutum abzubilden, nach welchem er eigentlich verlangt. Weiter ist zu bedenken, daß es vermutlich Schellings früh einsetzende SpinozaStudien waren, welche ihm bei der Entscheidung pro natura geholfen haben.42 In einem Brief vom 4. Februar 1795 schreibt er bezeichnenderweise an Hegel: „Ich bin indessen Spinozist geworden! – Staune nicht. Du wirst bald hören, wie?43. Spinoza war die Welt (das Objekt schlechthin im Gegensatz gegen das Subjekt) – Alles, mir ist es das Ich. Der eigentliche Unterschied der kritischen und dogmatischen Philosophie scheint mir darin zu liegen, daß jene vom absoluten (noch durch kein Objekt bedingten) Ich, diese vom absoluten Objekt oder Nicht-Ich ausgeht. Die letztere in ihrer höchsten Konsequenz führt auf Spinoza’s System, die [erstere] aufs Kantische.“44

Hinzu kam eine Tendenz jener Zeit, welcher er sich nicht entziehen konnte: das Aufkommen eines durch Überdruß am Rationalismus ausgelösten allgemeinen Interesses der Frühromantik an der Natur. Die Idee des Organismus wurde dem rationalen Weltbild des Mechanismus bewußt entgegengesetzt. Schellings freundschaftliche Beziehung zu Goethe beruhte in erster Linie auf gemeinsamen naturwissen42 Ein Beispiel: 1789 erschien die „neue, vermehrte Ausgabe“ (17851) der Studie von Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Michael Franz weist in seiner Habilitationsschrift Schellings Tübinger PlatonStudien nach, daß Schelling dieses Werk Jacobis „um die Mitte des Jahres 1793 schon gelesen hatte“ (p. 282). 43 Gemeint sind die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, durch Vermittlung von Immanuel Carl Diez 1795 erschienen im Philosophischen Journal, das von Fichte und Niethammer herausgegeben wurde. 44 F. W. J. Schelling: Aus Schellings Leben in Briefen, vol. 1, p. 76.

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schaftlichen Fragestellungen sowie auf der geteilten Leidenschaft für die Lektüre Spinozas. Überhaupt galt Schelling als aufmerksamer Beobachter und Rezipient der geistigen Strömungen seiner Epoche. Wie schon während seiner Tübinger Studienjahre, nahm er aktuelle Themen rasch auf, um sie schriftlich zu verarbeiten. Erst nach seinem Fortgang aus Jena wird er in dieser Anlage insofern sich beschränken, als er fast nichts mehr publiziert – was jedoch nicht heißt, daß er aufhört, seine Philosophie weiterzuentwickeln, im Gegenteil: auch die Spätphase seines Wirkens bleibt in dieser Hinsicht fruchtbar. Manfred Durner vermutet, daß auch der Tübinger Chemiker Kielmeyer45 einen nicht unerheblichen Einfluß auf Schellings naturwissenschaftliche Neigung gehabt hat. Aus Kielmeyers Briefen an seine Eltern gehe hervor, daß die Familien Kielmeyer und Schelling sich kannten, da sie beide in Bebenhausen lebten. Er hätte zum Geburtstag von Herzog Carl Eugen von Württemberg 1793 eine später auch in gedruckter Form vorliegende Rede gehalten Über die Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse. Darin interpretiere Kielmeyer die verschiedenen Erscheinungsformen des Lebens als Resultat des Zusammenspiels spezifischer organischer Kräfte. „Bekannt und in ganz Deutschland verbreitet waren Nachschriften seiner Vorlesungen. Eine der frühesten dieser Nachschriften hat Kielmeyers im Wintersemester 1792/93 an der Karlsschule gehaltene Chemie-Vorlesung zum Gegenstand. Er entwickelt in dieser Vorlesung Grundzüge einer dynamischen Chemie und zeigt Analogien in der Strukturiertheit von anor45 „Kielmeyer, Carl Friedrich von, Naturforscher, Mediziner, * 22.10.1765 Bebenhausen, † 24.9.1844 Stuttgart. Der Sohn eines herzoglichen Jagdzeugmeisters wurde schon 1773 in die Karlsakademie in Stuttgart aufgenommen […] Das Medizinstudium schloß K[ielmeyer] 1786 ab […]. […] 1790 zum Lehrer der Zoologie an der Hohen Karlsschule ernannt, stieg er 1792 zum o. Prof. der Chemie in der Medizinischen Fakultät auf. Nach der[en] Schließung […] unternahm er Reisen […] und hielt sich […] zu Forschungszwecken in Göttingen auf. 1796 übernahm K[ielmeyer] die Professur für Chemie an der Univ. Tübingen, die er 1801 mit derjenigen für Botanik, vergleichende Anatomie und Materia medica vertauschte. [1808 wurde er geadelt] 1817 als Staatsrat nach Stuttgart berufen, war er bis zu seiner Pensionierung 1839 vorwiegend administrativ tätig. […] 1818 wurde K[ielmeyer] in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina aufgenommen. […] Größte Wirkung entfalteten ferner K[ielmeyer]s Vorlesungen über nahezu alle naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer der Medizin, insbesondere vergleichende Anatomie und Physiologie, die in zahlreichen Mit- und Nachschriften in ganz Deutschland Verbreitung fanden“ (DBE 5, p. 614).

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ganischer und organischer Natur auf. Die Nähe bestimmter Auffassungen Schellings zu wesentlichen Thesen von Kielmeyers Naturphilosophie wurde schon von den Zeitgenossen bemerkt. So bezeichnete z. B. Georges de Cuvier (1769-1832) Kielmeyer als den ,Urheber‘ der deutschen Naturphilosophie.“46

Daß Schellings Naturinteresse nicht nur aus Studien Platons und Spinozas, sondern auch Kants und besonders Leibniz’s stammen könnte, wird erstmals ausführlicher von Kuno Fischer erörtert. Natur könne bei Schelling nur aus ihrer Ableitung aus der Geschichte verstanden werden. Das heißt, es wird von jener genau die Zweckorganisiertheit erwartet, deren diese entbehrt: Natur als die ,bessere‘ Geschichte. Sie soll jenen Rest an Unvernunft wie Unfreiheit tilgen, deren Existenz Robbespierre und sein Terreur offenbarten. Der bewußtlose Prozeß erweist für Schelling sich als der idealere, kommt er doch ohne Begriffe aus. Er ist unbedingte, absolute und freie Tätigkeit. Dennoch strebt der Geist der Natur nach Selbstanschauung, Selbstgestaltung und Selbstproduktion qua Bewußtsein (des Menschen). Schellings Leistung besteht nach Fischer vorzüglich darin, gegen Kants Auffassungen in der Kritik der teleologischen Urteilskraft Natur als Entwicklungssystem gedacht zu haben, „dessen innerster bewegender und erzeugender Grund, dessen letzter, treibender Zweck und naturgemäße Frucht der Geist ist“47. Natur erscheine als eine Entwicklungsreihe in der Geschichte des Selbstbewußtseins. Gründlich arbeitet Fischer die Gemeinsamkeiten heraus, welche Schelling mit Kants Naturlehre verbinden: daß die innere Zweckmäßigkeit der organischen Naturprodukte eine notwendige Vorstellung sei, daß, wo Zweckmäßigkeit ist, auch Begriff, Intelligenz und Geist sein müsse und daß darum die Selbstorganisation der Materie Intelligenz in der Materie und Geist in der Natur erfordere. Im Vergleich zu Kant jedoch gehe Schelling nicht nur von der Erkennbarkeit des Naturobjekts aus, sondern auch von der Idee einer aus inneren Ursachen wirksamen, lebendigen Materie, das heißt von jenem Hylozoismus, den Kant in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft als den „Tod aller Naturphilosophie“ verworfen habe.48 Für Fischer ist es nachvollziehbar, daß die von Schelling angenommene Einheit von Geist und Materie auch deren Selbständigkeit zur logischen Folge habe. Die Übereinstimmung mit Leibniz falle „in denselben Punkt als sein Gegensatz zu Kant: in die Bejahung zweckthätiger Naturkräfte, der Allgegenwart des Lebens, des Stufenganges der Dinge, des Entwick46 M. Durner: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: AA I/5, pp. 3-58; p. 30. Cf. etiam T. Bach: Biologie und Philosophie bei C. F. Kielmeyer und F. W. J. Schelling. 47 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 308. 48 Cf. K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 321 sq.

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lungssystemes der Welt“49. Dies alles sei aber nicht als ein „Zurückgehen hinter Kant“ zu verstehen, betont Fischer, sondern gemeinsam mit Leibniz und Fichte als wahrer Fortschritt, welcher die Entdeckungen Darwins, nämlich das Prinzip der organischen Entwicklung und der durchgängigen Natureinheit, antizipiert habe. „Nicht eine Wiederholung, sondern eine Erneuerung und Umbildung der Leibnizischen Entwicklungslehre auf der Grundlage der kritischen Philosophie, eine Synthese der Kantischen Lehre von dem organisirenden Naturzweck und der Fichteschen Lehre von der bewußtlosen Intelligenz: so können wir [...] den Grundgedanken bestimmen, der das folgerichtig entwickelte Fundament der Schellingschen Naturphilosophie ausmacht.“50

„Naturzweckmäßigkeit“ ist für Fischer nur ein anderes Wort für „Harmonie“, Harmonie zwischen Natur und Geist. Er begreift den Zusammenhang und die Konsequenz der genannten Grundgedanken, welche die Lehre Schellings tragen: „Verneinen wir die wirkliche Geltung der inneren Naturzweckmäßigkeit, so gibt es keine Natur als bewußtlose Intelligenz, als nothwendige Production des Geistes; ist aber die Natur nicht Geistesproduct, so kann sie auch nie Geistesobject sein, es giebt dann keine Natur als Erkenntnisobject, keine erkennbare Natur. Daher gehören diese drei Begriffe nothwendig zusammen und tragen sich gegenseitig: innere Zweckmäßigkeit der Natur oder Organisation, Naturleben oder Entwicklung, und Möglichkeit der Naturerkenntniß oder Erkennbarkeit der Natur.“51

Auch Jürgen Habermas beschäftigt in seiner Studie über Schelling (Das Absolute und die Geschichte) sich mit der Herkunft dessen Naturinteresses: „[W]ie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus auf ein Entgegengesetztes zu gehen?“ (p. 124). Seine Antwort ist unzweideutig: er sieht „die schwäbische Tradition als Mutterboden der Naturphilosophie“ (§11). Schellings „Kehre zur Natur“ zeichne sich bereits in den Philosophischen Briefen über Kritizismus und Dogmatismus (1795) ab. In diesen stünden die beiden unversöhnlichen Auslegungen der „Vernunft als Tathandlung“ sowie als „unwandelbares Ewiges“ dicht nebeneinander. „Schelling schwankt zwischen beiden.“52 Genau diese Diskrepanz bereite das Feld für den „Einbruch der Oetingerschen Tradition“: „die Vernunft ist weder Tathandlung noch absolute Identität, die Vernunft ist – Leben. Schon in den ,Briefen‘ zeigt 49 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 322. 50 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 323. 51 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 323. 52 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 126.

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sich, daß die schwäbische Tradition der Grund ist für jenes merkwürdige Schwanken.“53 Nach Schelling könne allein das Prinzip „Anschauung und Erfahrung“ dem „toten und unbeseelten Systeme Leben einhauchen“. Der Geist dieser ,Erfahrung‘, Oetinger nennt sie die „phänomenologische“, unterwandere die ,intellektuelle Anschauung‘ Fichtes und Spinozas und dirigiere die Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Verstandeserkenntnis so, daß diese sich sachlich immer mehr „gleichschalte[]“ mit der Auseinandersetzung von phänomenologischer und mechanischer, generativer und geometrischer Erkenntnis. Bei dem Schwaben Schelling hätten die Begriffe der Kantisch-Fichteschen Lehre, die er als Jüngling mit so genialer Spontaneität aufgenommen habe, sich „von Anfang an mit der schwäbischen Tradition erfüllt. Ohne diese ist der Impetus zur Naturphilosophie kaum zu verstehen. Denn nur über Oetinger ist direkte Kontinuität mit der Naturphilosophie der deutschen Renaissance gewahrt.“54 Schelling habe verstanden, daß nur in einem „Geist“ von schöpferischem Vermögen Begriff und Wirklichkeit, Ideales und Reales so sich durchdringen und vereinigen, daß zwischen beiden keine Trennung möglich ist (cf. SW I/2, p. 46). Horst Fuhrmans vermutet, daß die Begegnung in Stuttgart mit dem 1795 für kurze Zeit ins Schwäbische heimgekehrten Hölderlin bei Schelling so tiefen Eindruck hinterlassen hatte, daß sie ihn zu einer ,Wende‘ zur Natur veranlaßt habe. In seinen ersten Hyperion-Entwürfen sowie in seinem Gedicht An die Natur habe jener versucht, einen Weg zu finden „zu einer neuen Verehrung der großen, umfangenden, der ,göttlichen‘ Natur, darin der Mensch Glied ist und Umfangener zugleich, tief enttäuscht, daß Schiller solchem so wenig offen war und begreifend zumal, wie sehr Fichtes Philosophieren solches Denken und Dichten gefährde.“55 Zeugnis dieser ,Kehre‘ gebe die noch in Stuttgart begonnene Schrift Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus56. Wie schon Rosenzweig, der Herausgeber des Fragments57, geht Fuhrmans fest davon aus, daß Schelling der Verfasser ist.58 Die 53 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 126. 54 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 127. 55 F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, vol. 1, p. 56. 56 Unter anderem abgedruckt in: F. Hölderlin: Sämtliche Werke, vol. 4, pp. 297-299. 57 Cf. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Ein handschriftlicher Fund. Zur Editionsgeschichte sei verwiesen auf F.-P. Hansen: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, pp. 19-42, et D. Henrich: „Aufklärung der Herkunft des Manuskripts ,Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‘“. 58 „Ich nehme also an“, schreibt Horst Fuhrmans, „daß das ,Systemprogramm‘ in der letzten Zeit von Schellings Aufenthalt in Stuttgart entstanden ist: geboren aus der Begegnung mit Hölderlin, entwarf hier Schelling zum erstenmal in großen Linien seine neue Weltsicht,

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Autorenschaft – es werden auch Hegel und Hölderlin erwogen – ist jedoch bis heute ungeklärt59. „Aber die Verfasserfrage, um die ein großer Aufwand betrieben worden ist, ist im Grunde gleichgültig und tritt zurück hinter der Datierungsfrage und dem diskursiven Kontext der Aufzeichnung, die man mit Recht als Gründungsakte

die im Tiefsten als ,Gegenentwurf‘ gegen das in Tübingen gelehrte (letztlich christlich bestimmte) Weltbild gemeint war, jene Weltsicht, die ihm wie Hölderlin seit längerem in vagen Konturen vor Augen gestanden hatte, und die aber im Tiefsten der Anlaß geworden war, sich dem Überlieferten zu verweigern. Tiefste Sehnsucht fand darin bei ihm erstmaligen Ausdruck, während Hölderlin vieles des von ihm Gewollten dann im ,Hyperion‘ aussprach“ (F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, vol. 1, p. 58). 59 Cf. F.-P. Hansen: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. In der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe findet sich folgende Erklärung: „Den in Hegels Handschrift überlieferten Text, dessen Anfang (vermutlich die erste Hälfte auf den beiden Seiten eines angebogenen Blattes) verloren ist, hat Schelling formuliert, in hohem Maße, zumal in der Konzeption der Schönheitsidee, von Hölderlin angeregt. Es handelt sich nicht etwa um den Entwurf eines einzelnen Aufsatzes, sondern um das Programm eines philosophischen Lebenswerkes“ (vol. 4,1, p. 425). – Auch Xavier Tilliette hält Schelling für den Autor. In seinem Beitrag „Schelling als Verfasser des Systemprogramms?“, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, pp. 193-[211], konstatiert er, „daß der größte und fast einzige Einwand gegen Schellings Urheberschaft die Tatsache ist, daß die Handschrift nicht von ihm stammt. Sonst liefert die Analyse des Textes solide Gründe, die uns immer noch bewegen können, ihm das Systemprogramm zuzuschreiben. 1. Er ist derjenige, der in den Jahren 1796-1797 am ehesten imstande war, solch einen Entwurf zu konzipieren, 2. er ist derjenige, der sichtlich diesen Entwurf ausgeführt oder auszuführen versucht hat, 3. er ist derjenige, dessen damalige Haltung und Lage sich am klarsten mit dem Inhalt des Fragmentes vereinbaren läßt“ (p. 203). In seiner jüngsten Studie über Schelling ist er bis auf Punkt 2 dieser Auffassung treu geblieben: „Zu keinem der drei Genies paßt so gut das in Angriff genommene Schreibvorhaben: die neue Ethik, die Physik ,im großen Stil‘, der revolutionäre Tonfall, die Bezüge zu Schiller, die Erziehung der Menschheit, die neue Mythologie, das Evangelium des Volkes und vieles andere. Schelling war der einzige, der alle Komponenten dieses Programms fast Punkt für Punkt umgesetzt hat. Darüber hinaus entspricht der Ton recht gut seiner selbstbewußten Natur und der zusätzlichen Energie, die er durch das Verlassen des Stifts bekommen hatte. Das Rätselhafte liegt nicht darin, daß der Text unter den Papieren Hegels, der ein großer Sammler von Textauszügen war, begraben lag, sondern daß er keine einzige Spur in Schellings weiterer Entwicklung hinterlassen hat“ (X. Tilliette: Schelling, p. 46).

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des deutschen Idealismus in seiner romantisch-ästhetischen Spielart bezeichnet hat.“60 Für Wolfgang Wieland erweist die Schellingsche Wahl des Naturbegriffs sich deshalb als besonders geeignet, weil er nicht nur „der Inbegriff der das Ich ermöglichenden Bedingungen“, sondern auch weil er das Symbol schlechthin für das ,Wiederganzwerden‘ der ,Entzweiung‘ des Menschen sei, für die Aufhebung seines ,Von-sich-selbst-getrennt-Seins‘. Von ihrem Ansatz wie ihrer Intention her sei die Naturphilosophie Schellings „eine Selbstkritik der Philosophie überhaupt“, denn Philosophie setze zu ihrer Existenz voraus, „daß der Mensch mit der äußeren Welt in Gegensatz geraten ist. Dieser Gegensatz schafft erst die Bedingungen dafür, daß ein Bedürfnis (II, 15) nach Philosophie entstehen kann.“61 Philosophie sei ein Akt der Entgegensetzung und damit der Freiheit. Ähnlich wie bei Rousseau geht nach diesem Verständnis dem „Philosophieren ein Naturzustand voraus, in dem der Mensch noch einig ist mit seiner Welt. Für einen Menschen in diesem Naturzustande sind Gegenstand und Vorstellung noch identisch; es gibt für ihn weder ein Selbstbewußtsein, noch gibt es Objekte.“62 Der Mensch habe in diesem Zustand sich noch nicht „von den Dingen“ distanziert, weil er sich noch nicht seiner selbst bewußt geworden sei. Einen wesentlichen Beginn sowie die Manifestation dieses Denkens sieht Wieland im Ältesten Systemprogramm. Da es dort um reale Aufhebungspostulate gegenüber der Entfremdung des menschlichen Subjekts ginge, sei es von politischer Brisanz. „Wenn Schelling von der Trennung einer ursprünglichen Einheit zwischen Mensch und Natur spricht, so greift er damit ein Lieblingsmotiv seiner Zeit auf. Doch wichtiger als die Herkunft des Motivs ist die Art, wie er es aufgreift und auf der Basis der transzendentalen Fragestellung verarbeitet. Wenn er auf eine endzeitliche Aufhebung dieser Trennung hofft, so betrifft dieses Ereignis nicht nur das Denken und die Reflexion. Die Reflexion ist ihm nämlich nur die am meisten charakteristische, aber durchaus nicht die einzige Manifestation dieser Trennung. Die erhoffte Aufhebung der Entzweiung erscheint im Systemprogramm in der Gestalt einer neuen Religion, die paradox als ,Mythologie der Vernunft‘ bezeichnet wird. Dies ist im Sinne eines nicht gewachsenen, sondern geschaffenen Mythos zu verstehen, in dem sich die spekulierende Vernunft zugleich mit aller Positivität in Religion und Staat selbst aufhebt. In diesem zukünftigen Reich gibt es keine Philosophie mehr; sie hat auf ihre Wissenschaftlichkeit Verzicht getan und ist ins ,Leben‘ übergegangen.“63 60 M. Frank: Der kommende Gott, p. 153. 61 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 256. 62 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 258. 63 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 262.

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Wieland betont: „Die Aufhebung der Trennung ist nicht nur ein Bewußtseinswandel, sondern als solcher ist sie zugleich auch ein politisches und soziales Ideal.“64 Schelling gäbe im Systemprogramm sich als „utopischer Anarchist“, da er verkünde, daß die Dichtkunst allein alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben werde und die Geschichte mit dem Abbau aller Herrschaftsstrukturen an ihr Ende gekommen sei. „Denn die neue Religion soll das Bewußtsein der Menschen so verwandeln, daß es einer äußeren Sicherung der Freiheit nicht mehr bedarf.“65 Es sei gerade die der Entzweiung vorausliegende Natur, „die zum Symbol der für die Zukunft erwarteten und die Entzweiung überwindenden Religion wird“66. In der Tat notiert Schelling in Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt: „Die neue Religion, die schon sich in einzelnen Offenbarungen verkündet [...], wird in der Wiedergeburt der Natur zum Symbol der ewigen Einheit er-

64 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 262. 65 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 263. Diese Einschätzung teilt auch F.-P. Hansen, „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, pp. 465474. Das Systemprogramm strebe keine Revolution des Staates, sondern der Vernunft an (es geht „über den Staat“ hinaus). Diese, über sich selbst aufgeklärt und Wirklichkeit geworden, bedürfe dann keiner praktischen Umwälzung der politischen Verhältnisse mehr, da alle Veränderung aus ihr selbst käme. Insofern ist der Entwurf politisch und unpolitisch gleichermaßen. Für Hansen liegt der Ursprung des Fragments in Kant und Schiller. Er interpretiert eine „Vorbildstellung“ von Kants sinnlich-vernünftiger Religionsstiftung in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und von Schillers Schönheitskonzept in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen für den volksreligiösen Monotheismus-Polytheismusentwurf des Systemprogramms. Die „unsichtbare Kirche“ Kants sei in der Tat ein „politisches Symbol“ der 1789er Ideen von Freiheit und Gleichheit, aber eben nur ein Symbol. Die angestrebte Vernunftreligion sei nicht mittels einer „äußeren Revolution“ zu verwirklichen. An diesen Vorstellungen orientiere sich auch Hegels Auffassung vom Staat. Das Schillersche Vermächtnis der ästhetischen Erziehung des Menschen, und dasjenige der praktischen Vernunftreligion Kants habe Hegel im zweiten Teil des Systemprogramms in umfassender Weise gewürdigt. „Noch bis in die entlegendsten religionsphilosophischen Ausläufer der Philosophie ist er seinem Lehrer Kant auf kongeniale Weise gefolgt, um andererseits auch die Gedankenwelt des anderen großen Kantschülers – Schiller – als einen wesentlichen Bestandteil in seine Ästhetiküberlegungen zu integrieren. Als Hegel dieses Programm im Frühjahr bzw. Sommer 1795 niederschrieb, da tat er dies als ein in den gedanklichen Gehalt und die geistige Atmosphäre des Kritizismus umfassend eingeweihter Kantianer“ (p. 474). 66 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 263.

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kannt“ (SW I/5, p. 120). Die ,Reich-Gottes-Idee‘ des Verfassers könne man erst richtig würdigen, so Wieland, wenn man bedenke, „daß hier Ideale der französischen Revolution in eigenartiger Weise eine theologische Sublimation erfahren haben – eine Sublimation freilich, die Schelling gerade nicht zum politischen Akteur, sondern zum naherwartenden Utopisten macht, der sich mit gleichgesinnten Freunden zu einem esoterischen Bund zusammenschließt und mit ihnen die Idee des Reiches Gottes verwalten will, bis sie von der Geschichte selbst für die Welt verwirklicht wird und so den Gegensatz von Philosophie und Volk überwindet. Dieses Reich Gottes bedeutet nicht nur das Ende der hierarchisch und nach politischem Vorbild verfaßten Kirche, sondern zugleich auch das Ende jeden religiösen Glaubens, sofern dieser an Dogmen gebunden oder an gegenständlichen Fakten orientiert ist.“67

Sicher sei es nicht möglich, aus Schellings Naturphilosophie bruchlos eine politische Theorie abzuleiten, doch schließe das „die politische Relevanz seines Denkens nicht aus“. Es sei eben die politisch-soziale Bedeutung seiner Subjektivitätsphilosophie schwer zu leugnen: „Ein Gedanke wie der eines Ich, das aus sich eine Welt produziert, aber nicht sieht, daß es sich hier um seine Produktion handelt, das sich daher als von der von ihm produzierten Welt abhängig erfährt und den Folgen dieser Abhängigkeit entfliehen will – ein Gedanke dieser Art paßt zu gut auf die Struktur unserer Lebenswelt, als daß man sich nicht versucht fühlen könnte, die von Schelling entwickelten Denkformen bei der Lösung ihrer Probleme in Anspruch zu nehmen.“68

Ungeachtet des Systemdenkens im Idealismus hält Wieland es für möglich, den Naturgedanken und die Naturerfahrung Schellings für gesellschaftskritische Problemstellungen unserer Tage auszuwerten und fruchtbar zu machen. Gerade deshalb verdiene dessen Intention, „auf dem Weg über eine neuartige Zuwendung zur Natur die Entzweiung, durch die auch Reflexion und Herrschaftsstrukturen erst möglich geworden sind, zu überwinden, besondere Aufmerksamkeit, und dies nicht nur wegen ihrer längst bekannten Berührungen mit der Naturerfahrung Hölderlins.“69 Die politischen Dimensionen des Systemprogramms sieht auch Manfred Frank: „Die Idee einer neuen Mythologie ist – innerhalb und außerhalb der Dichtung – immer zugleich auch ein politisches Programm gewesen, das im Widerspruch ge67 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 264 sq. 68 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 268 sq. 69 W. Wieland: „Die Anfänge der Philosophie Schellings“, p. 274.

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gen den ,mechanistischen‫ ދ‬Grundzug in der analytisch-aufgeklärten Konzeption sozialer Interaktion formuliert wurde.“70 Das Systemprogramm habe seine Forderung nach einer „Neuen Mythologie“ aus einer „Kritik am Maschinenstaat“ entwickelt. Die darin gepriesene Natur sieht Frank als eine logische Folge aus „kantianischen Prämissen“, denn „[n]achdem es die Idee aller Ideen, die Idee des frei handelnden Ichs, zum Grundsatz der gesamten Philosophie erklärt hat, stellt es die Frage, wie denn die Natur eingerichtet und ,beschaffen‘ sein müsse, um dieser Idee zu entsprechen, oder richtiger: um diese Idee zu manifestieren (Mat., 110). Die Antwort kann nach – kantianischen Prämissen – nur lauten: die Natur muß insgesamt als Organismus gedacht werden. Warum? Weil Organismen [...] solche Teil-Ganzes-Beziehungen sind, in denen die Interaktion aller Teile/Glieder durch die gemeinsame Hinsicht auf einen Zweck begründet ist. Anders gesagt: Organische Strukturen können nur gedacht werden, wenn man unterstellt, daß die mechanische Kausalität der Naturprozesse ihrerseits teleologisch – in Zweck-Ursachen – fundiert ist.“71

Das heißt, die Natur würde, sobald man sie organisch dächte, als Resultat eines vernünftigen Willens angesehen, der ihr einen Sinn, einen verallgemeinerbaren Endzweck, einen Telos verleiht, insofern ja der Wille ein Vermögen der Zwecke sei. Natur ist gemeinhin als Symbol für die nicht-mechanische Organisation eines vernünftigen Staates zu verstehen. Im Vergleich zu Wieland verschiebt in Franks Interpretation sich der genetische Schwerpunkt von Platon (Natur als ,Ur-Einheit‘) nach Kant (Natur als ,Vernunft-Natur der Zwecke‘). In seiner Habilitationsschrift vertritt Odo Marquard die These, daß jenes Mißtrauen gegenüber der Unberechenbarkeit der Geschichte, ihrem ,Status-a-posteriori‘ – wie wir es oben anhand der Schrift Ist eine Geschichte der Philosophie möglich? bei Schelling feststellen konnten – unweigerlich zu einem ,Ausweichen‘ in die Naturphilosophie habe führen müssen. Jener transzendentalphilosophische Zweifel an der Kalkulierbarkeit der Geschichte sei zu bewältigen versucht worden, indem die Natur als ,Kompensationsort‘ gewählt wurde. „Wo die geschichtliche Vernunft nur ,transzendental‘[,] d. h. nach Ziel und Mitteln unbestimmt ist und die Menschenwelt der Vernunft solcherweis zu entbehren scheint, da entsteht die Hoffnung, daß die

70 M. Frank: Der kommende Gott, p. 156. Mythen sind nach Frank Erzählungen, „die ein (geschichtliches oder natürliches) Faktum“ begründen. Dabei unterscheidet er zwei Weisen von Begründung: „kausale Herleitung“ und „Rechtfertigung“ (M. Frank: Der kommende Gott, p. 159). 71 M. Frank: Der kommende Gott, p. 160.

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Natur das Fehlende ersetze.“72 Als auch an der rationalen Suffizienz der Natur selbst erste Zweifel aufkamen, habe die Naturphilosophie einfach zwischen einer (,guten‘) Kontrollnatur und einer (,schlechten‘) Triebnatur zu unterscheiden begonnen. „[G]enau das ist ihr Problem und ihre Tendenz: einerseits die radikale Absicht, die Natur zum Fundament zu machen; andererseits: die radikale Weigerung, diese Natur als bloße Triebnatur zuzulassen.“73 Würde man dies eingestehen, hätte man nicht vor der Insuffizienz historischer Vernunft ausweichen müssen; denn als Triebnatur ist Natur so richtungslos, willkürlich und unberechenbar wie die Geschichte. Aus jener Zweiteilung der Natur sei dann die moderne Naturwissenschaft und die Psychoanalyse Freuds hervorgegangen. Letztere, so behauptet Marquard, sei deshalb ein „Aggregatzustand des deutschen Idealismus“ zu nennen. Das heißt, sie bildet ein Element zwischen ,nicht mehr‘ (Metaphysik) und ,noch nicht‘ (Geschichtsphilosophie). Weder traue sie der metaphysischen noch der geschichtlichen Vernunft des Ichs mit seinen Tathandlungen. In dieser Situation vermag die Philosophie sich weder eindeutig „durch das (betrachtungszielige) Interesse am Immerstimmenden und Immerseienden, noch eindeutig durch das (veränderungszielige) Interesse am geschichtlichen Erreichen einer heilen Welt zu definieren, sondern [...] allein durch die Furcht vor einer Herrschaft der ,Triebnatur‘“74. Die Herausbildung der Naturphilosophie ist nach Marquard eine logische Konsequenz aus der schrittweise sich entwickelnden „Depotenzierung“ der Transzendentalphilosophie. „Wo es der Transzendentalphilosophie mißlingt, die geschichtlichen Hoffnungen des Menschendaseins ,geschichtsphilosophisch‘ auf politische Vernunft zu gründen, erzwingt das den ,naturphilosophischen‘ Versuch, sie auf die unbewußte Vernunft der ,Naturұ zu gründen.“75 Das ist auch gemeint, wenn Marquard von der „Naturalisierung der Geschichte“ und der „Historisierung der Natur“ als Intention der Naturphilosophie schreibt. Mit unseren Worten: Geschichte hat mit ihrer unbewußten Vorgeschichte sich zu befassen und Natur ist auf die Raison ihrer organischen Abläufe hin zu überprüfen. „Wo die transzendentalphilosophische Geschichtsphilosophie Vernunft in der Geschichte nicht (zureichend) zu erkennen vermag, kommt es notgedrungen zum Versuch, diese Vernunft von der Natur her zu erwarten: die ,Wende zur Naturphilosophie‘ kompensiert die transzendentalphilosophische Verzweiflung an der Geschichtsphilosophie.“76

72 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, p. 155. 73 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, p. 153. 74 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, p. 3. 75 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, p. 156. 76 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, p. 156.

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Wie auch immer die Argumente für Schellings Wahl der Natur als Repräsentant der Objektseite der Erkenntnis lauten: ,logische Konsequenz‘ einer ,auf die Spitze getriebenen‘ Transzendentalphilosophie, ,epochale Tendenz‘, ,Symbol‘ für ,Wiedergeburt‘ und ,Ursprung‘ (,Heimat‘), Kantischer ,Zweck-Organismus‘, ,unio mystica‘, usw., letztlich bleiben alle aufgeführten Erklärungsmodelle Hypothesen. Weder können wir sie zurückweisen, noch als erschöpfend bezeichnen. Eine vollständige Explikation wird sich nicht finden. Wir haben es mit einem nicht weiter reduzierbaren Residuum historischer Kontingenz zu tun. Ohne Rücksicht darauf können wir dennoch resümieren: in den ersten Werken Schellings ist nur wenig Material zur Lösung des von uns vorgebrachten Problems der Verdinglichung zu gewinnen. Um zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen, setzen wir unsere Studie mit der Analyse der naturphilosophischen Schriften und Fragmente fort. Diese sind zwar noch zur ,Frühphase‘ zu rechnen, repräsentieren innerhalb derer aber eine spezifische Ausrichtung, das Experiment eines neuen (transzendentalen) Ansatzes mit materialistischen Implikationen. Nicht jedoch geht dem Autor darüber sein idealistisches Fundament verloren.

3.5 N ATURPHILOSOPHISCHE E NTWÜRFE

UND

S CHRIFTEN

3.5.1 „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ Schellings erste naturphilosophische Schriften, Ideen zu einer Philosophie der Natur sowie Von der Weltseele, entstanden in Leipzig. Dorthin war er 1796 in seiner Eigenschaft als Hofmeister der beiden jungen Freiherren von Riedesel77 beordert worden. Seine Aufgabe bestand in der Betreuung des Universitätsstudiums seiner Eleven. Neben dieser Tätigkeit besuchte er selbst Vorlesungen in verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern.78 Dadurch sowie aufgrund seines Selbststudiums verfügte Schelling über sehr gute Kenntnisse des damaligen Standes der Forschung.79 Es läßt insgesamt sich fixieren, „daß Schellings extensive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften in Leipzig auf einem soliden Fundament aufbauen konnte, das bereits während seiner Tübinger Studienjahre gelegt worden war. Diese 77 Friedrich Ludwig Wilhelm Karl Riedesel Freiherr zu Eisenach (1780-1806) und Ludwig Georg Friedrich Karl Hermann Riedesel Freiherr zu Eisenach (1778-1828). 78 Manfred Durner versucht im Editorische[n] Bericht zu den Ideen zu rekonstruieren, welche Vorlesungen genau Schelling besucht haben könnte; cf. AA I/5, p. 17 sqq. 79 Cf. den Teil Erklärende Anmerkungen der kritischen Ausgabe des Textes, AA I/5, p. 305 sqq.

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Tatsache wiederum läßt es verständlich erscheinen, daß die Niederschrift seines ersten naturphilosophischen Werkes in so kurzer Zeit erfolgte.“80 Vorrede und Einleitung der Ideen zu einer Philosophie der Natur wurden ohne Zweifel nach Vollendung des Haupttextes verfaßt.81 Der Hauptteil selbst bricht nach dem „Zweyten Buch“ ab. Das Werk ist Fragment geblieben. Eine vom Autor angekündigte und geplante Fortsetzung ist nie erschienen. Statt dessen verfaßt und publiziert er 1798 Von der Weltseele. In deren Einleitung weist er ausdrücklich darauf hin, daß diese Schrift nicht als Fortsetzung der Ideen anzusehen sei: „Ich werde sie nicht fortsetzen, ehe ich mich im Stande sehe, das Ganze mit einer wissenschaftlichen Physiologie zu beschließen, die erst dem Ganzen Rundung geben kann“ (AA I/6, p. 70; SW I/2, p. 351). Wir sagten oben, daß Schelling sich dem Problem der Bedingtheit des Ichs durch das Nicht-Ich gestellt hatte. Für dieses Verhältnis findet er eine Analogie in der Natur, genauer: im Gleichgewicht der dort herrschenden Kräfte. Das Wort Kraft heißt auf Altgriechisch į઄ȞĮȝȚȢ. Davon sowie von seiner Bedeutung bei Aristoteles leitet Schelling den Begriff der Dynamik ab, welcher von nun an bei ihm häufige und wesentliche Verwendung findet. Die dynamische Äquilibration wird zum Zentralproblem seiner naturwissenschaftlichen Untersuchungen und zum Ausgangspunkt der 1797 erschienenen Ideen zu einer Philosophie der Natur82. Doch wie 80 M. Durner: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: AA I/5, pp. 3-58; p. 33. 81 „Dies zeigen nicht nur die Verweise auf Stellen im ,Ersten Buch‘ und ,Zweyten Buch‘, sondern auch der Umstand, daß in der ,Einleitung‘ Themen aus dem Bereich der Physiologie angesprochen werden, die im Haupttext selbst nicht weiter ausgeführt sind, wohl aber Anknüpfungspunkte in der nachfolgenden Schrift ,Von der Weltseele‘ finden. Ein weiteres Indiz hierfür ist die eigene römische Paginierung von ,Vorrede‘ und ,Einleitung‘. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich der kritisch-distanzierten Stellungnahme Schellings zu Gottfried Wilhelm Leibniz im zweiten Kapitel des ,Zweyten Buches‘ mit der geradezu empathischen Zustimmung zu dessen Philosophie in der ,Einleitung‘. Möglicherweise hatte Schelling zwischen der Abfassung der beiden Texte Leibniz eingehender studiert und dabei sein Urteil revidiert“ (M. Durner: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: AA I/5, pp. 3-58; p. 16 sq.). 82 Durner bemerkt, daß der Titel Anklänge an Johann Gottfried Herders in den Jahren 1784 bis 1791 erschienenes Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit weckt. „Nach Schellings eigener Aussage soll dieser Titel den vorläufigen Charakter der Schrift betonen, d. h. mit ihm soll zum Ausdruck gebracht werden, daß dieses Buch keine Darstellung eines Systems enthält, sondern ,einzelne Abhandlungen‘ zum Thema einer Philo-

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kommt Schelling zu dieser Analogie? Verfolgen wir seine Argumentation im einzelnen: Die ,erste Eigenschaft‘ des Ichs ist es, (unendlich) tätig zu sein. Sie wird vom Verfasser als gegeben betrachtet und (hier) nicht hinterfragt. In der Tätigkeit ist der Mensch eins mit sich. Je weniger er über sich reflektiert, desto tätiger ist er. „Seine edelste Thätigkeit ist die, die sich selbst nicht kennt. So bald er sich selbst zum Objekt macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch, er hat einen Theil seiner Thätigkeit aufgehoben, um über den andern reflektiren zu können“ (AA I/5, p. 71).83 Erst durch das Bewußtsein wird er getrennt von sich selbst. Dies gilt jedoch auch für das Verhältnis zu den Dingen, die außerhalb seiner mentalen Zustände existieren. Das ,Ich denke‘ als Trennung von sich selbst und den Dingen der Außenwelt ist notwendig ein „Werk der Freyheit“. In Freiheit, das heißt durch Reflexion, das heißt im Setzen von Begriffen, sowohl trennt sich das Subjekt als auch setzt es sich wieder in eins mit der Welt (insofern der Begriff die Wirklichkeit, so wie sie ist, trifft). Dabei nicht von der Eigenständigkeit der Objekte auszugehen, ist für Schelling ein „Hirngespinnst“ – im wörtlichsten Sinne. Denn wie sollte etwas, das nicht existiert, Einfluß auf mein Denken haben? Zwischen Mensch und Welt „muß Berührung und Wechselwirkung möglich seyn; denn nur so wird der Mensch zum Menschen“ (l. c., p. 71). Wenn Ich nur durch Nicht-Ich und Nicht-Ich nur durch Ich ist, stehen beide in so großer Abhängigkeit zueinander, daß auch eine wechselseitige Durchdringung möglich sein muß. Denn daß dem Subjekt Bewußtsein, also der entscheidende Akt der Trennung von sich selbst und den Dingen, möglich ist, kann seinen Grund allein in einer Wechselwirkung von Geist und Materie haben; es ist nämlich kaum anzunehmen, daß Bewußtsein ex nihilo entsteht. Die Durchdringung von Denken und Sein geschieht nach Schelling mittels der Vorstellung. Vorstellen heißt einen Gegenstand mental abbilden zu können. Eine Vorstellung von etwas haben bedeutet für unseren Autor (noch) nicht, Bewußtsein von etwas zu haben, jedoch betrachtet er die Fähigkeit des Vorstellens als ,Vorstufe‘ und Prämisse desselben. Die ,gnoseologische Reihenfolge‘ ist diese: Unendliche Tätigsophie der Natur. [...] Auch wenn Herder in den ,Ideen‘ nicht namentlich genannt wird, so erinnert doch insbesondere der Gedanke eines Strebens von Kräften nach Gleichgewicht, das den Naturprozeß reguliert und Materie in ihren Konkretionen entstehen läßt, an ähnliche Vorstellungen bei Herder. Daneben finden sich vereinzelt Aussagen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Lektüre von Herders ,Ideen‘ zurückzuführen sein dürften“ (M. Durner: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: AA I/5, pp. 3-58; p. 17; p. 36). 83 Die Angabe zur Paginierung der SW ist bei den Ideen nicht möglich, da ihr Erstdruck von 1797 nur in der AA erschienen ist, während in SW der Zweitdruck von 1803 wiedergegeben wird.

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keit, Widerstand, Empfindung, Vorstellung, Bewußtsein, Begriff. Indem ich mir einen Gegenstand vorstelle, sind Gegenstand und Vorstellung „Eins und Dasselbe“. Schelling geht davon aus, daß – wie zwischen Ich und Selbst – zwischen Ich und Ding eine ursprüngliche Identität herrscht, welche erst durch das Bewußtsein unterbrochen und aufgelöst wird. Indem der Philosoph fragt, wie Vorstellungen äußerer Dinge in uns entstehen, hebt er die Identität des Gegenstandes und der Vorstellung auf. Durch das Vermögen, überhaupt so zu fragen, „versetzen wir die Dinge außer uns, setzen sie voraus als unabhängig von unsern Vorstellungen“ (AA I/5, p. 73); denn indem ich frage: „[w]ie kommt es, daß ich vorstelle, erhebe ich mich selbst über die Vorstellung, ich werde durch diese Frage selbst zu einem Wesen, das in Ansehung alles Vorstellens sich ursprünglich frey fühlt, das die Vorstellung selbst, und den ganzen Zusammenhang seiner Vorstellungen unter sich erblickt“ (AA I/5, p. 73). Dies bedeutet einen Moment der Unabhängigkeit und Unbedingtheit des Subjekts – bekannte Thesen aus Form- und Ich-Schrift. Wohl ist zu begreifen, wie Dinge auf Dinge wirken, nicht aber wie Dinge auf mich wirken. Indem ich mich über den Zusammenhang der Dinge erhebe und frage, wie dieselben überhaupt wirken und vorsichgehen, bin ich jedoch zumindest frei und unbedingt von den Dingen außerhalb. Und insofern ich frei bin, „bin ich gar kein Ding, kein Objekt mehr. Ich lebe in einer ganz eignen Welt, bin ein Wesen, das nicht für andere Wesen, sondern für sich selbst da ist. In mir kann nur That und Handlung seyn, von mir können nur Wirkungen ausgehen, es kann kein Leiden in mir seyn, denn Leiden ist nur da, wo Wirkung und Gegenwirkung ist, und diese ist nur im Zusammenhang der Dinge, über die ich mich selbst erhoben habe“ (l. c., p. 74). Hier also, in der nachträglich zum Haupttext verfaßten Einleitung, finden wir noch den Verfasser der transzendentalphilosophischen Frühschriften wieder. Schellings Hang zur Metaphysik erhält sich in der stillen Freude über die Möglichkeit, sich einen Moment über das Endliche und Bedingte „mechanischer Succession“ (Ursache und Wirkung) erheben zu können. Für die Verdinglichungsdebatte ist diese Stelle dennoch insofern glücklich, als sie dem Augenblick der Bewußtwerdung wieder Geltung verschafft, zu dem es kommt, wenn ich eine bestimmte Frage an die Welt richte, danach trachte, etwas über die Verhältnisse außerhalb meines Ichs zu erfahren und zu wissen, wie mein Ich und die Dinge überhaupt miteinander in Verbindung stehen, das heißt sich durchdringen. Der Moment, in dem Bewußtsein auftritt, erhebt das Subjekt tatsächlich aus dem Zustand, nur Ding zu sein. Es geht Schelling darum, Geist und Materie als zwei Manifestationen einer Substanz zu denken. Von Platon bereits, so betont er, stamme die Idee, daß die Materie eine selbständige Entität darstelle und von Spinoza rühre der Gedanke, daß Geist und Materie Eines, Modifikationen desselben Prinzips seien. Freiheit gäbe es nur, wenn auch Notwendigkeit existiere. Wenn ich Bewußtsein von Freiheit habe, muß ich auch eines von Notwendigkeit besitzen; denn daß es Bewußtsein nur von einem

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der beiden geben könnte, wäre widersinnig. Beide aber, Freiheit und Notwendigkeit existieren allein durch Bewußtsein. Aus beiden Zuständen resultieren die „Tätigkeit“ und das „Leiden“ oder: Aktivität und Passivität – wobei auch das Leiden sein Subjekt insofern tätig sich fühlen läßt, als es Bewußtsein von ihm hat. „Und was ist denn dasjenige in mir, was urtheilt, es sey ein Eindruck auf mich geschehen? Abermals ich selbst, der doch, in so fern er urtheilt, nicht leidend, sondern thätig ist – also etwas in mir, das sich vom Eindruck frey fühlt, und das doch um den Eindruck weiß, ihn auffaßt, ihn zum Bewußtseyn erhebt. Wie kommt das?“ (AA I/5, p. 78). Würde ich mich nämlich durch Bewußtsein von allen Eindrücken und Dingen, welche von außen zu mir gelangen, unabhängig machen können, wäre ich auch all meiner Empfindungen enthoben, was jedoch nicht der Fall ist. Wie also erfahre ich Notwendigkeit? Durch Empfindung, sagt Schelling (und läßt uns leider im Ungewissen darüber, was genau er unter einer ,Empfindung‘ versteht; auch unterscheidet er dieselbe nicht vom Ausdruck des Gefühls). Wie jedoch entsteht eine Empfindung? Durch äußere Eindrücke, welche auf mich einwirken. Wie gelangen diese aber als Empfindung zu mir? Eben das versucht der Autor im sich anschließenden Haupttext physiologisch zu erläutern. Die Besonderheit seines Entwurfes liegt im Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Beantwortung einer philosophischen Frage. Naturphilosophie heißt bei Schelling bezeichnenderweise auch „spekulative Physik“. Zweck dieser Methodologie ist die dezidierte Umgehung mechanischer Erklärungsmodelle, das heißt, er sucht einen Weg abseits des üblichen und von ihm verachteten Ursache-Wirkung-Prinzips. Es begegnet uns hier die bereits von Bloch konstatierte „Umkehrung“ der Kantischen Erkenntnisrichtung. Statt zu fragen, wie das Subjekt begreifend zum Objekt gelangt, will Schelling wissen, wie das Objekt zum Subjekt kommt, das heißt, wie die Erkenntnis, die mit einer vom Gegenstand ausgelösten Empfindung beginnt, in mir entstehen kann und den komplizierten Weg in meinen Geist findet. Um den Akt der Freiheit, das bedeutet die Heraufbildung von Bewußtsein, in und aus der Natur zu erklären, reichen die Begründungsmodelle der Kausalität nicht mehr aus. „Daß von außen auf mich gewirkt wird, [...] ist nicht genug. Es muß Etwas in mir seyn, das empfindet, und zwischen diesem und dem, was ihr außer mir voraussetzt, ist keine Berührung möglich. Oder wann dieses Aeußere auf mich, wie Materie auf Materie wirkt, so kann ich nur auf dieses Aeußere, (etwa durch repulsive Kraft,) nicht aber auf mich selbst zurückwirken. Und doch soll dieses geschehen, denn ich soll empfinden, soll diese Empfindung zum Bewußtseyn erheben“ (AA I/5, p. 81).

Schelling unterscheidet die Begriffe Materie und Natur. Materie ist ihm ein geeigneter ,Arbeitstitel‘, um die physikalischen Vorgänge dem Verstande anschaulich zu machen. Natur hingegen bezeichnet den allgemeinen philosophischen Ausdruck für

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jenes systemische Ganze, aus welchem alle weiteren Sätze deduzierbar sein sollen. Der Begriff Natur entspricht hier in etwa dem der Vernunft bei Hegel: „Die rohe Materie, d. h. die Materie, in so fern sie bloß als den Raum erfüllend gedacht wird, ist nur der feste Grund und Boden, auf welchem erst das große Gebäude der Natur aufgeführt wird“ (l. c., p. 80). Weiter unterscheidet er die qualitative von der quantitativen, das heißt die ,innere‘ von der ,äußeren‘ Materie. Materie selbst ist für Schelling keine Fixierung, sondern Kraft und Bewegung. Die quantitative Bewegung der Materie bezeichnet er als Schwere, ihre qualitative Bewegung ist für ihn ein chemischer und ihre relative Bewegung ein mechanischer Vorgang. Alles, was von der Materie wir zu empfinden in der Lage sind, nennt er Qualität. Sie ist „Etwas Inneres, eine innere Beschaffenheit der Materie“ (AA I/5, p. 81). Eine Einwirkung auf uns von außen wird dann eine qualitative genannt, wenn sie nicht etwa durch grobes Stoßen (repulsio) oder starke Anziehung (attractio) verursacht und wahrgenommen wird, sondern durch eine ,Übertragung anderer Art‘ geschieht. Das ist dann der Fall, wenn wir beispielsweise Farben oder Gerüche perzipieren. Schelling bezweifelt, daß Qualia allein durch subjektive Urteile existieren. Und ihre Wirkung nur durch Kausalität erklären zu wollen, hält er für ganz unmöglich: „Ihr untersucht wohl sehr scharfsinnig, wie das Licht von den Körpern zurückstrahlt, auf eure Sehnerven wirkt, auch wohl, wie das verkehrte Bild auf der Netzhaut, in eurer Seele doch nicht verkehrt, sondern gerade erscheint? Aber was ist denn dasjenige in euch, was dieses Bild auf der Netzhaut selbst wieder sieht, und untersucht, wie es wohl in die Seele gekommen seyn möge? Offenbar etwas, das in so fern vom äußern Eindruck völlig unabhängig ist, und dem doch dieser Eindruck nicht unbekannt ist. Wie kam also der Eindruck bis in diese Gegend eurer Seele, in der ihr euch völlig frey und von Eindrücken unabhängig fühlt?“ (AA I/5, p. 81).84

Schelling sucht der Spannung zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Bewußtsein und äußerer Bedingtheit auf den Grund zu gehen. Eine ,Verbindung‘ soll schließlich der von ihm eingeführte Terminus „Sprung“ herstellen: „Mögt ihr doch zwischen die Affektion eurer Nerven, eures Gehirns u. s. w. und die Vorstellung eines äußern Dinges noch so viele Zwischenglieder einschieben; ihr täuscht nur euch selbst, denn der Uebergang vom Körper zur Seele kann [...] nicht kontinuirlich – sondern nur durch einen Sprung geschehen“ (AA I/5, p. 81 sq.). Doch ungeachtet 84 Für Bewußtsein verwendet Schelling in den Ideen alternierend auch die Begriffe „Geist“ oder „Seele“. „Seele“ wiederum benutzt er auch im Sinne von „belebendes Princip“ („Weltseele“); ein anderes Mal ist sie ihm „Grundstoff und Antrieb“ der Natur. Auf exakte Übersetzungen verzichtet er.

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dieser physikalischen Spekulation ist die Frage, wie die Qualitäten für uns wirken, in uns Vorstellungen veranlassen, noch nicht hinreichend beantwortet. Neben dem Mechanismus führt Schelling deshalb den Ausdruck Organismus ein. Sein Gedanke ist dabei dieser: „Jedes organische Produkt besteht für sich selbst, sein Daseyn ist von keinem andern Dasyen abhängig“ (AA I/5, p. 93). Die in der Natur vorkommende Organisation produziert sich selbst und entspringt aus sich selbst, sie steht außerhalb „relativer Bewegungen“. Die Organisation ist Ursache und Wirkung an sich selbst. „Kein einzelner Theil konnte entstehen als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Theile“ (l. c., p. 94). Da es die erste Eigenschaft einer Organisation sei, stets identisch mit sich zu sein, läge ihr ein Begriff zugrunde; „denn wo nothwendige Beziehung des Ganzen auf Theile und der Theile auf ein Ganzes ist, ist Begriff“. Und dieser Begriff „wohnt in ihr selbst, kann von ihr gar nicht getrennt werden“ (l. c., p. 94). Ihre Zuschreibung kann nicht von außen kommen, wie etwa ein Kunstwerk von seinem Schöpfer einen Namen erhält, da sie zu diesem Zwecke erst von sich getrennt werden müßte, was nach Schelling jedoch widersinnig wäre. „Nicht ihre Form allein, sondern ihr Daseyn ist zweckmäßig. Sie konnte sich nicht organisiren ohne schon organisirt zu seyn“ (l. c., p. 94). Organisation bilde allein sich aus Organisation. Sie war ,immer schon da‘, hat keinen äußeren Entstehungsgrund, ist causa sui. Die Organisation der Natur enthält alles, was der Autor bis dahin suchte: das Ganze, die Einheit, welche alle Teile umfaßt, die vernunftgeleitete Zweckmäßigkeit sowie die Identität und Selbsttätigkeit (Unbedingtheit). Indem er das bedingte Ich einfach als Teil eines größeren Ganzen betrachtet, das frühere Nicht-Ich, das jetzt Natur heißt, und diesem subordiniert, erhält am Ende er doch noch dessen gewünschte Unbedingtheit bei absoluter Identität. Die Einheit der Organisation kann jedoch nicht aus der Materie als solcher erklärt werden, denn sie ist Begriff und damit Resultat eines Urteils. Ein Urteil aber, so Schellings Überlegung, könne gar nicht entstehen „als nur von einem Geiste“. Also müsse man einräumen, daß, so wie Zweckmäßigkeit nur in Bezug auf einen urteilenden Verstand, auch Organisation nur in Bezug auf einen Geist möglich ist. „Nicht, daß die Naturdinge überhaupt zweckmäßig sind, so wie jedes Werk der Kunst auch zweckmäßig ist, sondern daß diese Zweckmäßigkeit Etwas ist, was ihnen von außen gar nicht mitgetheilt werden konnte, daß sie zweckmäßig sind ursprünglich durch sich selbst, dies ist, was wir erklärt wissen wollen“ (AA I/5, p. 97). Man zerstöre alle Idee von Natur, warnt der Verfasser, wenn man versuche, deren Zweckmäßigkeit von außen in sie einzuführen. Der Geist komme durch die „Stufenfolge des Lebens in der Natur“ zu sich selbst und offenbare sich als Begriff. „[I]n den ältesten Zeiten schon ließ man die ganze Welt von einem belebenden Princip, Weltseele genannt, durchdrungen werden, und das spätere Zeitalter Leibnitzens [sic] gab jeder Pflanze ihre Seele [...]. So ist es auch“ (l. c., p. 99). Daß eine

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Seele in mir wohnt, schließt Schelling aus der Cartesischen Evidenz, daß Ich bin, lebe, vorstelle, will, daß jedoch von „Seyn und Leben nur ein unmittelbares Wissen möglich ist, und daß, was ist und lebt, nur in so fern ist und lebt, als es vorerst und vor allem Andern für sich selbst da ist, seines Lebens durch sein Leben sich bewußt wird“ (l. c., p. 104). Auffallend zunächst, daß das Sein durch Leben, Wollen und Vorstellen Erweiterung findet. Nur so aber, durch die Verbindung von Sein mit Leben, mit Lebendigem, gelingt Schelling sein Gedankengang. Die Apodiktizität wird nun aus dem Für-sich-selbst-Dasein, das heißt aus der Selbstbezüglichkeit des organischen Lebens deduziert und nicht mehr allein aus dem ,Ich denke‘.85 Die exi85 Die Selbstbewegung, nach welcher Schelling in der Natur sucht und die eine erweiterte Form des mit sich selbst identischen Ichs bedeutet, hat ihren Ursprung nicht nur in der Ideen-Lehre Platons, sondern auch in Aristoteles’ Gedanken vom ȞંȘıȚȢ ȞȠ੾ıİȦȢ. Klaus Oehler verweist auf die bereits dort zugrunde gelegte Konzeption des engen Zusammenhanges zwischen Selbstbewußtsein und Leben: „Der Ausdruck ,Denken des Denkens‘ hat [...] eine Bedeutung, die fundamental für Aristoteles’ Philosophie, im ganzen gesehen, ist. Dieser Ausdruck (Noesis noesos) bezieht sich auf eine reflexive Relation, genauer gesagt, auf eine ganz abstrakte Gleichung, eine totale Reflexivität (x = x), und ihr Wesen besteht in dieser reziproken Relation. Die Antwort auf die Frage, warum Aristoteles die logische Figur der Selbstbeziehung verwendet, um die Natur des höchsten und vollkommensten Wesens zu beschreiben, die des Ersten Bewegers, kann man aus seiner Lehre von der Selbstbezüglichkeit aller Lebewesen beziehen, welche ihm zufolge in verschiedener Weise in allen Formen des Lebens zu finden ist, ja sogar das Wesen des Lebendigen selbst ist. Platons Prinzip des Lebens als ,Selbstbewegung‘, d. h. als originäre Aktivität in bezug auf sich selbst, ist eine andere Formulierung einer Selbstreferenz, die nicht ohne Einfluß auf Aristoteles geblieben ist. Unter den Titel ,Ein Mensch zeugt einen Menschen‘ subsumierte Aristoteles den selbstreferentiellen Charakter des Lebendigen und unterzog es vielfältigen Analysen. Wahrnehmung und Wissen sind gleichfalls Formen des Lebens, und in Aristoteles’ Sicht ist die intellektuelle Lebensweise die höchste Form des Lebens. Aber alle seine Darlegungen über die kognitiven Fähigkeiten sind in der noch grundsätzlicheren Annahme verwurzelt, daß das Leben als solches Selbst-Bewußtsein und SelbstErkennen mitsichbringt“ (K. Oehler: Der unbewegte Beweger des Aristoteles, p. 91 sq.). Der selbstbezügliche Charakter des Lebens selbst schließt nach Oehler den des Erkennens mit ein. Ebenso inhäriert dem ,sich selbst denkenden Denken‘ je immer schon das Lebendige als Prämisse aller Selbstbewegung. Das Leben als Existenz wird auch im selbstbezüglichen Denken noch mitgedacht. Auch Schellings Idee einer Graduierung des organischen Vermögens der Selbstreferenz, welche teleologisch im Selbstbewußtsein gipfelt, stammt von Aristoteles; denn mit „der Beschreibung der höchsten Form der Existenz als der eines Lebewesens und seiner Existenz als reiner und vollkommener Selbstbezüg-

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stentielle Gewißheit entsteht aus der präverbalen Selbstbegegnung und Selbstbewegung der organischen Einheit, aus der unbewußten Vertrautheit der einzelnen Teile mit dem autonomen Ganzen, aus dem unvermittelten ,Wissen‘ um die Gehörigkeit zu einer lebendigen Totalität sowie durch die bewußtlose Selbstanschauung des Ganzen durch seine Glieder. Das ,Ich denke‘ wird der allgemeinen Natur-Vernunft, welche den Zweck der Organisation bestimmt und ausrichtet, überantwortet. „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen“ (AA I/5, p. 107). Dieser Satz am Ende der Einleitung nimmt vorweg, was von Schelling erst noch ausgeführt werden muß. Auch im Haupttext, welchem wir uns jetzt zuwenden, wird dies nicht geschehen, erst in den folgenden Schriften wird sein Inhalt sich ganz erhellen. Im „Ersten Buch“ der Ideen macht der Autor sich konkret auf die Suche nach jenem „Grundstoff“ der Bewegung, welcher „Empfindungen“ in uns auslöst ohne mechanischer Natur zu sein. Er will wissen, wie Bewegungen, die nicht durch „Succession“ verursacht werden, also nicht quantitativer oder relativer Art sind, in uns Vorstellungen bewirken können (– eine Vorstellung nämlich ist das Resultat der ihr vorausgehenden Empfindung). Gemeint sind Bewegungen, welche zwar ,wirken‘, jedoch nicht mechanisch, sondern qualitativ ,ursächlich‘ sind. Nicht-mechanische Bewegungen sind für Schelling, wir sagten das oben, chemische (oder qualitative) Bewegungen. Dies darzulegen, beginnt er mit der unabgeleiteten Setzung, daß das „Geheimnis der Natur“ darin bestehe, „daß sie entgegengesetzte Kräfte [Attraktion und Repulsion] im Gleichgewicht [...] erhält“ (AA I/5, p. 111). Kräfte seien prinzipiell unendlich, brächen sich jedoch, wenn sie aufeinandertreffen. Dieser permanent stattfindende Austausch der Widerstände sorge für ihr Gleichgewicht (– die lichkeit folgt Aristoteles nur konsequent seinen eigenen Voraussetzungen. Das reflexive Denken des Ersten Bewegers ist nur die reinste Form der gleichen Selbstbezüglichkeit, die er bei anderen Formen aller Arten von Leben gefunden hat. Das macht den paradigmatischen Charakter verständlich, den Aristoteles der noetischen Existenz des Ersten Bewegers zuschreibt. Die unvollkommenen Formen der Selbstbezüglichkeit der Existenzen untergeordneten Ranges erfahren die Überwindung ihres Mangels an Vollkommenheit in der höheren, reinen Form von Reflexivität, welche das Ordnungsprinzip alles Untergeordneten ist, indem sie als Finalursache in Aristoteles’ Kosmologie fungiert. Die Aristotelische Kosmologie stellt sich nach dieser Interpretation als ein Ordnungssystem abgestufter Formen von Selbstbezüglichkeiten heraus. Jede solche Form dient als Telos für das, was auf einer niedrigeren Stufe steht. Das höchste Telos aber ist die vollkommene Reflexivität des Denkens des Ersten Bewegers“ (K. Oehler: Der unbewegte Beweger des Aristoteles, p. 93).

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moderne Physik nennt die Fähigkeit eines Systems zur Selbstregulation Homöostase). Hier wird jenes synthetisierende Vermögen, welches Hegel und Marx später von der Geschichte erwarten, der Natur zugeschrieben. Eine genauere Kenntnis der Naturphilosophie Schellings hätte den Marxismus, insbesondere Lukács, zu der Überlegung bringen müssen, daß ein natürlicher Ausgleich der Kräfte, politisch interpretiert, eher zu einer Rechtfertigung der Demokratie drängt als der Diktatur des Proletariats. Die allgemeine Wirkung der Dynamik demonstriert Schelling am Beispiel von Licht und Wärme. Licht betrachtet er als Materie, die Wärme als dessen Modifikation. Es handelt sich wieder um zwei Manifestationen derselben Substanz (analog zum Verhältnis von Geist und Materie). „Das, was auch die träge Materie in Bewegung setzen, und todte Stoffe dem Gleichgewicht entreissen kann, Licht und Wärme, kommt beydes aus Einer Quelle, und längst hat der Mensch beyde – das Eine als Ursache, das andere als Wirkung – zusammengedacht“ (AA I/5, p. 173). Das Licht dringt in die Gegenstände, die Widerstände sind, ein und verwandelt sich in Wärme (= chemische Bewegung). Diese bewirkt die Qualia der Objekte: „Gewächse, dem Licht ausgesetzt, werden dadurch farbig, flüchtig, entzündlich, schmackhaft u. s. w.“ (l. c., p. 125). Der Verfasser macht Qualität zu etwas, das außer uns existiert und dem Objekt objektiv innewohnt. Der Austausch des objektiv Vorhandenen mit dem subjektiven Bewußtsein resultiert aus jener Begegnung ,unsichtbarer Kräfte‘, welche das organische Ganze in Bewegung halten. Begriffe wie „Wechselseitigkeit“ und „Durchdringung“ finden in den Ideen eine auffällig häufige Verwendung. Dahinter steht die Frage, wie Ich und Nicht-Ich sich „durchdringen“ und welche Art von Kräften in beiden und auf beide wirkt, so daß sie vermittelt und ausgeglichen werden. Die unsichtbaren und deshalb schwer meßbaren Kräfte sind es, die den Autor interessieren; jene, welche unser und der Gegenstände Innerstes erreichen. Licht und Wärme stellen seiner Ansicht nach solch ,invisible Dynamik‘ par excellence dar, aber auch Elektrizität und Magnetismus rechnet er mit ein. Analog dazu geht ihm die Anschauung methodisch tiefer als die Logik der Begriffe. Worte sind für Schelling die Mechanik des Geistes. Von ihnen kommt keine absolute Gewißheit. Sie bilden nur die Oberfläche dessen, worin die Qualität sich verbirgt (– wir erinnern uns an Lukács’ Darstellung des Problems). Qualität wird in erster Linie nicht gewußt, sondern empfunden. Von ihr habe ich ein unmittelbares Bewußtsein. „Alles, was zur Qualität der Körper gehört, ist bloß in unserer Empfindung vorhanden, und was empfunden wird, läßt sich niemals objektiv (durch Begriffe,) sondern nur durch Berufung auf das allgemeine Gefühl verständlich machen“ (AA I/5, p. 246). Dies mag auf den ersten Blick empiristisch klingen, ist es aber nicht, zu groß ist für Schelling die Abhängigkeit der Empfindung vom vermittelnden Bewußtsein. Denn Ziel und Zweck der Bewegung ist die stufenweise aus ihr

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sich erhebende Konzeptualisierung der Qualia. Der Wille zu ihr bildet die unreduzierbar idealistische Seite seiner Naturphilosophie. Nicht lehrt Schelling, die ,innere Beschaffenheit‘ (= Qualität) eines Dings unbedingt erkennen zu können (wie später der Marxismus). Mit Gewißheit könne lediglich erklärt werden, daß eine (durch anziehende und abstoßende Kräfte bewirkte) Empfindung in mir vorhanden ist, etwas gefühlt wird (woraus auf die Existenz einer unabhängigen Wirklichkeit geschlossen werden kann). Die Empfindung orientiert sich (wie die Erkenntnis) immer zunächst am Äußeren des einwirkenden Gegenstandes. Eine qualitative Empfindung kann ohne mechanische Pulsion, das heißt durch das bloße Anschauen (einer ,attraktiven‘ Landschaft beispielsweise) entstehen. Unser Auge (und jedes andere Sinnesorgan) vermag jedoch die Oberfläche der Dinge (auf den ersten Blick) nicht zu durchbrechen, bleibt auf deren Form beschränkt. Alle Indikationen über das Innere des wahrgenommenen Gegenstandes bleiben Spekulation aufgrund der Erfahrung, oder es wird experimentell erforscht (= Naturwissenschaft). Schelling sucht nach der Möglichkeit einer ,Innenschau‘, welche mittels Außenwahrnehmung vollzogen wird. Innerlich sind dabei unsere Empfindungen sowie deren mentale Verarbeitung. Beide Vorgänge bleiben jedoch auf Daten der Außenwelt und deren Oberfläche verwiesen. Ich habe eine Rotwahrnehmung beim Anblick der untergehenden Sonne (= Attraktion). Das Objekt der Anschauung kann dabei in mir beispielsweise ,Sehnsuchtsgefühle‘ auslösen. Mittels meiner Empfindung entsteht eine bestimmte Vorstellung von ,Sonnenuntergang‘ in mir. Über die materielle Zusammensetzung der Sonne als solcher sind auf diese Weise keine Aussagen möglich, das weiß auch Schelling. Es geht ihm allein um die qualitative Empfindung des Subjekts, dessen Wie-Wissen von sich selbst und auf welche Weise es zu demselben überhaupt gelangt: durch objektiv wirkende Kräfte. Die Grundfrage, die jeder qualitativen Empfindung innewohnt, lautet: Wie ist dir zumute? Sie ist damit zutiefst subjektiv und entspricht jener berühmten Frage, die Thomas Nagel formulierte: „What is it like to be a bat?“86 Mein Zumute-Sein kann nur Ich allein mit letzter Gewißheit beschreiben. Es entsteht aus dem ,Innersten‘ meiner Subjektivität, dem präreflexiven Selbstbewußtsein. Frank nennt es „die irreduzibel subjektive Komponente aller mentalen Zustände“, „eine Eigenschaft ,innerer Erfahrung‘ [...], die sich rein deskriptiv schlechterdings nicht unters Schema des Wissens, daß... subsumieren läßt.“87 Vielmehr rührt die subjektive Evidenz aus dem Wissen, wie.... Qualis (lat.) bedeutet wie beschaffen. Qualität bezeichnet die Wie-Beschaffenheit oder auch den Innen-Zustand von etwas. „Es kann mir unbekannt sein, in wel86 T. Nagel: „What is it like to be a bat?” 87 M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, p. 227.

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chem Zustand ich mich befinde (d. h., es kann sein, daß ich den Zustand merkwürdigen Schwindels, der mich beim Gedanken an die Erlebnisse des gestrigen Nachmittags ergreift, nicht genau oder gar nicht durch ein Prädikat oder eine PrädikatenMenge zu klassifizieren weiß: habe ich mich verliebt, war ich nur in Hochstimmung, oder war mir nur einfach – wie man so sagt – blümerant zumute, etc.?). Unmöglich aber ist, daß es nicht irgendwie war, in diesem schwer klassifizierenden Zustand gewesen (oder jetzt gerade) zu sein.“88 Die subjektive Seite der Erfahrung (z. B. eine Fledermaus zu sein) kann nur „dadurch erworben werden, daß man in einem mentalen Zustand sich befindet, daß man ihn nicht nur aus der Außenperspektive durch ein Wissen, daß wahrheitsgemäß und regelkonform beschreiben kann, sondern ihn erlebt.“89 Schließlich umfaßt das qualitative Wie-Wissen auch meine psychische Erlebniswelt. Für die Erklärung der Wechselbeziehung von Denken und Empfinden orientiert Schelling sich ganz am Bild der materiellen Grundkräfte Licht und Wärme. Er notiert in diesem Zusammenhang: „Aber das Licht, dieses Element des Himmels, ist zu allgemein verbreitet, zu allgemein wirksam, als daß das Auge des gewöhnlichen, an den Boden gefesselten Menschen es suchte, um die Wonne des Sehens mit Bewußtseyn zu genießen. Das Licht, als solches, rührt nur das geistigere Organ – und was wir ihm, insofern es Licht ist, verdanken, sind Schauspiele, für die der Mensch, dessen Sinn zur Erde sich kehrt, keine Empfänglichkeit hat“ (AA I/5, p. 173).

Hier, wie an vielen vergleichbaren Stellen, kehrt die alte (platonische) Wertung wieder, daß Licht ,Aufstieg‘ und Sinnlichkeit ,Abstieg‘ bedeutet. Und obgleich es dabei sich, wie wir oben feststellen konnten, nur um zwei Manifestationen ein und derselben Hypostase handelt, will Schelling unter diesen doch noch einmal genauer unterschieden bzw. gewertet wissen – was mit seinem gleichzeitigen Plädoyer für die Einheit von Geist und Materie, von Licht und Schwere, nicht vereinbar ist. Daß Denken (Bewußtsein) und Schauen (Theorie) ein höherer ,Wert‘ inhäriert als sinnlicher Wahrnehmung, ist ein moralisches Urteil, welches der Verfasser unkritisch aus dem Griechentum transferiert. Mag diese Bewertung auch ungerecht erscheinen, in physikalischer Hinsicht herrscht seiner Ansicht nach unbedingte Gerechtigkeit, das heißt ein ausgewogenes Verhältnis der Kräfte: „[D]ie Natur läßt keine Kraft je ganz aus ihren Schranken treten“. Den Nutzen der Homöostase erläutert Schelling wie folgt: es sei doch so, „daß Wärme selbst nichts ursprüngliches ist, daß sie nur insofern da ist, als das Licht Widerstand findet, und so beweisen selbst die thätigen 88 M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, p. 227. 89 M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, p. 227 sq.

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Kräfte der Natur, nur widerstrebenden Kräften gegenüber, ihre ganze Macht, die, sobald sie schrankenlos wäre, alles, woran sie sich äußern könnte, und damit sich selbst vernichtete“ (AA I/5, p. 175). Es sei kein Wunder, daß Licht und Wärme immer im Verhältnis ihrer Quantität, mit Entgegengesetztem sich zu verbinden strebten, weil sie nämlich nur in dieser Beschränkung seien, was sie sind: ausdehnende, repulsive, belebende Kräfte. So sei es zur Erhaltung dieser Kräfte notwendig, daß träge, tote Stoffe ihnen entgegenwirken. Indem Schelling den Widerstand als „Triebwerk“ alles Lebendigen, als Motor der Natur installiert, verteidigt er die Existenz des Nicht-Ichs und dessen paritätische Stellung gegenüber dem Ich. Er rechtfertigt so die Bedingtheit des Ichs, die, wir erinnern uns, sein Ausgangsproblem bildet. Aus dem Widerstand erst, welchen das Licht erfährt, entwickelt die tote Materie sich zur ausgedehnten, die Pflanze zur Knospe; alles Lebendige aber gipfelt im Menschen. Die gesamte Stufenfolge der Natur ist auf Licht und Wärme hin angelegt, von ihr her bestimmt: „Das Phänomen der äußern Ausdehnung roher Materie durch Wärme ist gleichsam nur ein Schatten jener innern lebendigen Wärme, welche die Knospe schwellt, den werdenden Menschen im Keime bewahrt, fortbildet und organisirt“ (l. c., p. 174). Diese Stelle impliziert bereits das Ferment jenes Marxschen Gedankens, daß natürliches Dasein und menschliches Dasein in eins fallen und im gesellschaftlichen Menschen dann prozeßhaft zur Vollendung gelangen, daß es den Naturalismus des Menschen und den Humanismus der Natur wieder zu entdecken gelte (cf. MEW EB I, p. 536 sqq.). Voraussetzung ist nach Schelling die Annahme der Einheit von Geist und Materie sowie der Existenz von Qualität in der Natur als Mittel gegenseitiger „Durchdringung“ im Prozeß. Jedes objektive Quale entsteht allein durch Widerstand (gegenüber unendlicher Tätigkeit) und vermag nur durch subjektive Empfindung (bewußt) erfahren zu werden. So wie das wärmende Sonnenlicht die Pflanze zur Knospe und Blühte treibt, wird dieselbe durch die Empfindungen der menschlichen Sinnesorgane in Vorstellung umgewandelt und zu Bewußtsein gebracht, das heißt zur vollständigen Erkenntnis im Begriff erhoben. Für das Auge des Erkennenden ist das Licht ebenso notwendig wie für das Wachstum der Pflanze. Beide schöpfen aus einer Quelle. Das „Zweyte Buch“ widmet der Autor der genaueren Untersuchung der beiden Grundkräfte Anziehung und Zurückstoßung „als Principien des Natursystems“ sowie deren Beziehung zur Materie. Für Schelling vollzieht Bewegung sich immer systemisch, das heißt je innerhalb einer geschlossenen Totalität. Nur durch die Ungleichheit der Massen, durch ihre unterschiedliche Quantität und Qualität kann Bewegung überhaupt erst entstehen. Das einmal entstandene Übergewicht der einen Masse wird durch das der anderen in Folge und mit Notwendigkeit abgelöst. Keine Kraft geht system-immanent verloren, sondern überträgt sich nur auf einen anderen Gegenstand oder verwandelt sich in einen anderen Zustand (die moderne Physik spricht in diesem Zusammenhang vom Energieerhaltungssatz). „Denn da es der Be-

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griff von System mit sich bringt, daß es ein in sich selbst beschloßnes Ganzes seye, so muß auch die Bewegung im System als lediglich relativ vorstellbar seyn, ohne doch auf irgend etwas außer dem System Vorhandnes bezogen zu werden“ (AA I/5, p. 185). Welche Art der Bewegung die unterschiedlichen Kräfte bewirken, relative oder qualitative, spielt für Schelling keine Rolle, solange die Natur für deren Gleichgewicht sorgt. „Nun heißt jede Bewegung, die durch Stoß bewirkt wird, mechanisch, Bewegung aber, die der ruhende Körper im ruhenden bewirkt, chemisch“ (AA I/5, p. 189). Der mechanischen Bewegung entgegengesetzt ist die chemische. „Jene wird einem Körper durch äußere Kräfte mitgetheilt, diese im Körper zwar durch äußere Ursachen, aber doch, wie es scheint, durch innere Kräfte bewirkt: Jene setzt im bewegten Körper partiale Ruhe, diese setzt, gerade umgekehrt, im unbewegten Körper, partiale Bewegung voraus“ (l. c., p. 189). Diese Sätze weisen den Verfasser als Vordenker dessen aus, was wir heute unter dem klinischen Phänomen der Psychosomatik verstehen: innere Ursachen werden als äußere gedacht und verkannt – Resultat mechanistischer Denkweise und verdinglichten Bewußtseins. Die Bedingung der Möglichkeit von Materie sind die in ihr wirkenden und ihr entgegenwirkenden Kräfte, oder: Materie ist „diese Kräfte im Conflikt gedacht“. „Materie und Körper sind […] selbst nichts als Produkte entgegengesetzter Kräfte, oder vielmehr selbst nichts anders, als diese Kräfte. Wie kommen wir doch zum Gebrauch des Begriffs von Kraft, der in keiner Anschauung darstellbar ist, und dadurch schon verräth, daß er etwas ausdrückt, dessen Ursprung jenseits alles Bewußtseyns liegt – alles Bewußtseyn, Erkennen und also auch alles Erklären, nach Gesetzen von Ursache und Wirkung erst möglich macht“ (AA I/5, p. 195).

Kraft als Materie wie Materie als Kraft bilden demnach das ,a priori‫ ދ‬des Bewußtseins. Ohne Kräftegegensatz keine Empfindung und kein Gedanke. Wir sehen an dieser Stelle, daß Bloch unseren Autor nicht zu unrecht als Materialisten interpretiert. Weiter weist Schelling mit seiner Auffassung von Materie als sichtbar gewordenem Kräftekonflikt jene Anschauungen seiner Zeit zurück, welche behaupten, daß attraktive und repulsierende Kräfte „zum Wesen der Materie, als solcher,“ gehören. Denn „Kräfte sind doch einmal nichts, das in der Anschauung darstellbar ist“ (AA I/5, p. 208). Kraft sei überhaupt nur als Materie anschaubar, nicht jedoch derart, als wäre sie dort ,im Innern‘ – wie ein ,Wesenskern‘ etwa – verborgen. Es besteht nach Schelling ein interreferentielles Verhältnis zwischen Kraft, Materie und Erkenntnis. Das Eine gibt es nicht ohne das Andere; denn Kraft läßt sich nur als Materie anschauen. Anschauung jedoch gibt es nur durch empfundene Kräfte. Erkenntnis wiederum resultiert aus der Anschauung, welche jener vorausgeht. Aller Begrifflichkeit mißtraut Schelling nach wie vor. Begriffe sind ihm nur „Schattenrisse der Wirklichkeit“. Mit ihrer und des Verstandes Hilfe würde alle

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Wirklichkeit „ideal“. Der bloße Begriff sei ein Wort ohne Bedeutung, „ein Schall für das Ohr, ohne Sinn für den Geist. Alle Realität, die ihm zukommen kann, leiht ihm doch nur die Anschauung, die ihm vorangieng. Und deswegen kann und soll im menschlichen Geist, Begriff und Anschauung, Gedanke und Bild nie getrennt seyn“ (AA I/5, p. 209 sq.). Nichts sei uns so wirklich, gibt Schelling zu bedenken, als was uns, ohne jede Vermittlung durch Begriffe, ohne jedes Bewußtsein von Freiheit, unmittelbar gegeben ist. Durch nichts gelänge die Wirklichkeit unmittelbarer zu uns als durch die Anschauung. Von Ihr allein geht Gewißheit aus. Die Anschauung sei das „[H]öchste in unsere[r][] Erkenntniß“ (AA I/5, p. 210). Es ist ihr apodiktisches Potential, dem immer noch Schellings Hauptinteresse gilt und das er mittels der Dynamik in der Natur zu ergründen hofft. „In der Anschauung selbst also müßte der Grund liegen, warum der Materie jene Kräfte nothwendig zukommen. Es müßte sich aus der Beschaffenheit unsrer äußern Anschauung darthun lassen, daß, was Objekt dieser Anschauung ist, als Materie, d. h. als Produkt anziehender und zurückstoßender Kräfte angeschaut werden muß. Sie wären also Bedingungen der Möglichkeit äußerer Anschauung, und daher stammte eigentlich die Nothwendigkeit, mit der wir sie denken“ (AA I/5, p. 210).

Nur die unmittelbare Empfindung von Kräften kann mir die Gewißheit der Existenz jener Materie geben, mittels derer sie wirken. Kürzer: ohne Anziehung und Abstoßung keine Anschauung und keine Evidenz; denn „[d]aß etwas ist, und unabhängig von mir ist, kann ich nur dadurch wissen, daß ich mich schlechterdings genöthigt fühle, dieses Etwas mir vorzustellen“ (l. c., p. 211). Wie die Wärme, welche das Licht in einem Gegenstand erzeugt, eine Modifikation des Seins des Lichtes bedeutet, bewirkt die Vorstellung, die ich von etwas habe, eine Modifikation meines Seins. „[N]ur an der ursprünglichen Kraft meines Ich bricht sich die Kraft einer Außenwelt. Aber umgekehrt auch, (so wie der Lichtstrahl nur an Körpern zur Farbe wird) wird die ursprüngliche Thätigkeit in mir erst am Objekte zum Denken, zum selbstbewußten Vorstellen“ (AA I/5, p. 211). Mit dem ersten Bewußtsein einer Außenwelt sei auch das Bewußtsein meiner selbst da, so Schelling, und umgekehrt tue mit dem ersten Moment meines Selbstbewußtseins die wirkliche Welt sich vor mir auf. Der Glaube an die Wirklichkeit außer mir entstünde und wachse mit dem Glauben an mich selbst; „einer ist so nothwendig wie der andere; beyde – nicht spekulativ getrennt, sondern in ihrer vollsten, innigsten Zusammenwirkung – sind das Element meines Lebens und meiner ganzen Thätigkeit“ (l. c., p. 212). Immer wieder sticht Kantisches im Text heraus, bildet den Ausgangspunkt der Überlegung, um dann naturphilosophisch erweitert und begründet zu werden. Daß ich leide, weiß ich nur dadurch, daß ich tätig bin; und daß ich tätig bin, weiß ich nur dadurch, daß ich leide. Aus der reziproken Abhängigkeit von Aktivität

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und Passivität als den subjektiven Grundbewegungen erschließt für Schelling sich die Gewißheit über die Existenz der Außenwelt. Der Eindringlichkeit nach, mit welcher er diese zu rechtfertigen trachtet und seine Argumentation wiederholt, bleibt ihr Nachweis das sich durchhaltende Hauptanliegen der Ideen. Die Wirklichkeit, als Produkt der Kräfte und gefühlte Beschränktheit, besitzt, wie der Autor sich ausdrückt, „Selbstdaseyn“ und „Unabhängigkeit“ (l. c., p. 217). Unsere Gewißheit über sie entsteht allein aus ihrem – von uns gefühlten – Selbstdaseyn. Ebenso rührt daher die Evidenz einer ursprünglich unendlichen Tätigkeit des Ichs und der Natur. „Allem Denken und Vorstellen in uns geht [...] nothwendig voran eine ursprüngliche Thätigkeit, die, weil sie allem Denken vorangeht, in so fern schlechthin – unbestimmt, und unbeschränkt ist. Erst nachdem ein Entgegengesetztes da ist, wird sie beschränkte, und eben deswegen bestimmte (denkbare) Thätigkeit. Wäre diese Thätigkeit unseres Geistes ursprünglich beschränkt, (so wie es die Philosophen sich einbilden, die alles auf Denken und Vorstellen zurückführen,) so könnte der Geist niemals sich beschränkt fühlen. Er fühlt seine Beschränktheit nur, in so fern er zugleich seine ursprüngliche Unbeschränktheit fühlt“ (AA I/5, p. 212).

Diese Sätze wiederholen das schon Gesagte. Eine Übersetzung ist nicht notwendig. Anstelle von empfinden verwendet der Verfasser hier das Verbum fühlen. Wie oben erwähnt, alterniert er die Begriffe Empfindung und Gefühl, ohne uns ihre genauere Definition zu hinterlassen. Eine exakte Unterscheidung ist allerdings insofern unnötig, als es ihm darum geht, einen alternativen Zugang zur Wirklichkeit als Wirklichkeit zu finden; einen Zugang, wie ihn quantitative Vorgehensweisen nicht zu eröffnen vermögen – so Schellings Unterstellung. Gefühl und Empfindung stehen repräsentativ für Qualität als ,Evidenz-Koeffizient‘ und Gegensatz zur quantitativen Methode. (Auch Lukács hätte in seinem Kampf gegen die quantitative Erzeugung der Lebenswelt dieser Weg sich angeboten, er aber diffamierte denselben, wir sahen es oben, als Irrationalismus). Als Widerspruch zum Gedachten und Gesagten ist beim Autor „die Rede von entgegengesetzten Thätigkeiten in uns, insofern sie gefühlt und empfunden werden. Und aus diesem gefühlten und ursprünglich-empfundnen Streit in uns selbst, wollen wir, daß das Wirkliche hervorgehe“ (AA I/5, p. 214, Anm. E). Da eine Empfindung ohne Subjekt undenkbar ist, steht als logische Folge die deutliche ,Subjektivierung‘ der Philosophie als Naturphilosophie. Die Hervorhebung des Gefühls überhaupt, die Betonung der Institution des „Gemüths“, der qualitativen Empfindung sowie der Anschauung als „die erste Stufe des Erkennens“ und „das Höchste im menschlichen Geiste“ machen Schellings System zu einem subjekthaltigen, subjektbetonten. Das Attribut intellektuell zur Anschauung, aus Form- und Ich-Schrift bekannt, findet sich in den gesamten Ideen nicht mehr. Des Verfassers Sicht hat sich diesbezüglich grundlegend verändert. Die Sinnlichkeit steht nun als erkenntnissichernder Faktor im Vordergrund. Durfte vorher, zum

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Zwecke der Bewahrung der absoluten Identität, die Anschauung kein Objekt haben, ist nun das Gegenteil der Fall: damit die Anschauung überhaupt zu einer Anschauung wird, muß ihr ein Objekt entgegentreten, sie beschränken. Auf diese Weise wird das reale Vorhandensein des Nicht-Ichs gerechtfertigt. Schelling geht noch weiter: „Jenes Vermögen der Anschauung zu üben, muß der erste Zweck jeder Erziehung seyn. Denn sie ist das, was den Menschen zum Menschen macht. – Keinem Menschen, die Blinden ausgenommen, kann man absprechen, daß er sieht. Aber, daß er mit Bewußtseyn anschaue, dazu gehört ein freyer Sinn und ein geistiges Organ, das so vielen versagt ist“ (l. c., p. 216, Anm. G). Bewußtsein wird nun zum Resultat einer Empfindung. Geht die Anschauung in Begriffe über, so wechselt sie von der Qualität zur Quantität. Denn diese repräsentiert das Allgemeine, jene das Besondere. Verstand und Reflexion nennt der Autor eine „gemeinschaftliche Sphäre“. Sie sei „das „Nothwendige, das unser Verstand jeder Vorstellung von einem Gegenstand zu Grunde legt“. „Nothwendigkeit“ meint die Unfreiheit des fühlenden Subjekts im logischen System der Begrifflichkeit. Es findet sich dort festgelegt – um nicht zu sagen verdinglicht. „Was aber das ursprünglich Reale am Gegenstand ist, was dem Leiden in mir entspricht, ist in Bezug auf jene Sphäre ein Zufälliges (Accidens). Vergebens also versucht man es a priori abzuleiten, oder auf Begriffe zurückzubringen. Denn das Reale selbst ist, nur insofern ich afficirt bin. Es giebt mir aber schlechterdings keinen Begriff von einem Objekt, sondern nur das Bewußtseyn des leidenden Zustandes, in dem ich mich befinde. Nur ein selbstthätiges Vermögen in mir bezieht das Empfundene auf ein Objekt überhaupt, dadurch erst erhält das Objekt Bestimmtheit, und die Empfindung Dauer. Daraus ist klar, daß Quantität und Qualität nothwendig verbunden sind. Jene erhält durch diese erst Bestimmtheit, diese durch jene erst Gränze und Grad. Aber das Empfundene selbst in Begriffe zu verwandeln, heißt ihm seine Realität rauben. Denn nur im Moment seiner Wirkung auf mich hat es Realität. Erheb’ ich es zum Begriff, so wird es Gedankenwerk, sobald ich ihm selbst Nothwendigkeit gebe, nehme ich ihm auch alles, was es zu einem Gegenstand der Empfindung machte“ (AA I/5, p. 249 sq.).

Daß das Reale nur ist, sofern ich von ihm affiziert bin, erinnert wieder, wir sagten es oben, an Bischof Berkley (esse est percipi). Auch hier läßt jedoch nicht ohne weiteres auf einen Empirismus Schellingscher Prägung sich schließen – auch wenn der erste Blick dazu verführt. Die Realität erhält ihr Sein durch Wahrgenommenwerden. Die Perzeption geschieht durch die Empfindung. Da die Empfindung ihr Sein jedoch ausschließlich durch das Bewußtsein erhält, schließt sich der Kreis um sein idealistisches Zentrum. Man könnte an dieser Stelle auch von einem ,EmpirioIdealismus‘ oder einem ,Ideal-Empirismus‘ Schellings sprechen. Im System des

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transscendentalen Idealismus (1800) wird er selbst diesen Gedanken „Ideal-Realismus“ nennen. Der Satz, daß das Reale nur ist, sofern ich von ihm affiziert bin, hat nicht zu bedeuten, daß es keine Irrtümer in bezug auf das Reale, das Was eines Objekts geben kann. Nicht geht es Schelling um die Wahrheit eines Urteils über den Gegenstand, sondern allein um das apodiktische Daß seiner Existenz. Vom leidenden Zustand des Subjekts schließt er auf die Wirklichkeit als Wirklichkeit. Die in den Ideen grundgelegte Skepsis gegenüber Begriff und Reflexion, später nennt er sie negative Philosophie, wird er im Laufe seines Schaffens zwar modifizieren, im wesentlichen jedoch bis zu seinen Berliner Vorlesungen beibehalten. Sie bringt ihm den Vorwurf des „Irrationalismus“ von Lukács und den der „Gefühlsmystik“ von Engels ein.90 Dies mag auch erklären, warum der Marxismus von je her ein schlechtes Verhältnis zur Psychologie im allgemeinen und zur Psychoanalyse im besonderen hatte. Nicht 90 Friedrich Engels hat in insgesamt drei Schriften, welche unter dem Einheitstitel AntiSchelling (MEW EB II, pp. [161]-245) publiziert wurden, seine Kritik an Schelling formuliert: 1. Schelling über Hegel, 2. Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie, und 3. Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit. Diese Kritiken beziehen sich jedoch hauptsächlich auf Schellings in Berlin gehaltene Vorlesung über die Philosophie der Offenbarung, welche Engels persönlich besucht hatte. Sie sind in erster Linie der Versuch einer Apologie des Hegelschen Erbes, welches er, wie viele andere, durch die Anwesenheit Schellings in Berlin bedroht sah. In diesem Zusammenhang ist auch der folgende Ausschnitt zu begreifen: „Alle Philosophie hat es sich bisher zur Aufgabe gestellt, die Welt als vernünftig zu begreifen. Was vernünftig ist, das ist nun freilich auch notwendig, was notwendig ist, muß wirklich sein oder doch werden. Dies ist die Brücke zu den großen praktischen Resultaten der neueren Philosophie. Wenn nun Schelling diese Resultate nicht anerkennt, so war es konsequent, die Vernünftigkeit der Welt auch zu leugnen. Dies geradezu auszusprechen, hat er indes nicht gewagt, sondern es vorgezogen, die Vernünftigkeit der Philosophie zu leugnen. So zieht er sich denn zwischen Vernunft und Unvernunft auf einem möglichst krummen Wege durch, nennt das Vernünftige a priori begreiflich, das Unvernünftige a posteriori begreiflich, und weist das erste der ,reinen Vernunftwissenschaft oder negativen Philosophie‘, das zweite der neu zu begründenden ,positiven Philosophie‘ zu. Hier ist die erste, große Kluft zwischen Schelling und allen andern Philosophen; hier der erste Versuch, Autoritätsglauben, Gefühlsmystik, gnostische Phantasterei in die freie Wissenschaft des Denkens hineinzuschmuggeln“ (MEW EB II, p. 180 sq.). Engels sieht in Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie die Einführung eines neuen „Dualismus“. Jener sei unfähig, „das Universum als Vernünftiges und Ganzes zu begreifen“ (MEW EB II, p. 181).

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äußert Engels sich über Schellings naturphilosophische Schriften, was verwundert, da zwischen diesen und seinem eigenen Essay zur Dialektik der Natur (MEW 20, pp. [305]-570) durchaus Entsprechungen existieren – abgesehen davon, daß in den Ideen der Begriff der Dialektik nicht verwendet wird und in Engels Arbeit Empfindung überhaupt keine, Qualität und Dynamik nur geringe Aufmerksamkeit erfahren oder eine gänzlich andere Bedeutung erhalten. Analogie und Präkursion allerdings werden allein Hegel und dessen Naturphilosophie zugestanden.91 Woran Engels freilich besonders sich störte, war, daß Schelling die absolute Erkenntnisgewißheit nur für das Quod, das Daß der Existenz, nicht aber für das Quid, das Was derselben gelten ließ. Ungeachtet seiner Bemühungen, dem naturwissenschaftlichen Niveau seiner Zeit zu entsprechen, was über weite Strecken ihm gelungen ist92, bleiben Schellings Versuche auf Allegorisierungen verwiesen. Den Kern dieser ,physikalischen Verbildlichung‘ stellt bis zum Würzburger System die Analogisierung von Licht und Bewußtsein, Materie und Sinnlichkeit dar. Allein aber der Versuch eines ,biochemischen‘ Nachweises einer ursprünglichen ,hypostatischen Union‘ der Gegensatzpaare Licht-Schwere, Gedanke-Ausdehnung ist ihm dennoch als wichtiger Beitrag zur

91 Dies wird besonders auffällig beim Terminus der „Wechselwirkung“. Diese geht auch für Engels als Grundprinzip der Natur aller Kausalität voran. Sie sei „das erste, was uns entgegentritt, wenn wir die sich bewegende Materie im ganzen und großen, vom Standpunkt der heutigen Naturwissenschaft betrachten. Wir sehn eine Reihe von Bewegungsformen, mechanische Bewegung, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, chemische Zusammensetzung und Zersetzung, Übergänge der Aggregatzustände, organisches Leben [...]. So wird von der Naturwissenschaft bestätigt, was Hegel sagt (wo?), daß die Wechselwirkung die wahre causa finalis der Dinge ist. Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nichts zu Erkennendes liegt. Haben wir die Bewegungsformen der Materie erkannt [...], so haben wir die Materie selbst erkannt, und damit ist die Erkenntnis fertig. [...] Erst von dieser universellen Wechselwirkung kommen wir zum wirklichen Kausalitätsverhältnis. Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehn, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andre als Wirkung“ (F. Engels: „Dialektik der Natur“, in: MEW 20, pp. [305]-620; p. 499). 92 Cf. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 17971800 = AA I/Ergänzungsband zu Werke Band 5 bis 9.

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Geschichte des Materialismusproblems anzurechnen. Nicht im exakten Wie, sondern im Daß seiner Bemühungen verbirgt sich die Leistung.93 3.5.2 „Von der Weltseele“ 1798, ein Jahr nach dem Erscheinen der Ideen zu einer Philosophie der Natur, wurde Schellings zweite naturphilosophische Schrift, welche er in Leipzig niedergeschrieben hatte, publiziert: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. 1806 wurde eine zweite, 1809 eine dritte, unveränderte Auflage gedruckt. Diese beiden Ausgaben wurden jeweils durch die kurze Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts, welche dem Haupttext vorangestellt ist, ergänzt.94 Weitere Auflagen erfuhr das Werk nicht. Erst 1857 fand es (in der Fassung 93 Besonders Wolfdietrich Schmied-Kowarzik verteidigt Schellings Naturphilosophie gegen den verbreiteten Vorwurf, diese gelte deswegen als überholt, weil sie ihre naturwissenschaftliche Aktualität verloren habe: „Sicherlich haben die Naturwissenschaften in den letzten anderthalb Jahrhunderten uns Forschungsergebnisse und Naturerkenntnisse gebracht, die zu Schellings Zeiten jenseits allen Vorstellungsvermögens lagen. Aber diese Einzelergebnisse werden von den Naturwissenschaften nicht auf den produktiven Werdeund Gestaltungsprozeß der Natur bezogen. Die Naturwissenschaften können auch von ihrer objektivierenden Methodologie her dies prinzipiell nicht. Wo sie dennoch von ihren Objekt- und Gesetzeserkenntnissen her Gesamtaussagen über die Wirklichkeit zu machen versuchen, kommt jenes mechanistische, objektivistische Naturverständnis heraus, das für unseren derzeitigen katastrophalen Umgang mit der Natur mitverantwortlich ist. Eine heutige Naturphilosophie im Sinne Schellings wird durchaus all unser gegenwärtiges Wissen von der Natur aufzunehmen, gleichzeitig aber dieses aus dem naturwissenschaftlichen Objektivierungszusammenhang herauszulösen haben, um es aus dem produktiven Wirklichkeitszusammenhang der Natur, der zugleich in unserem wirklichen Erfahrungszusammenhang von der Natur vorliegt, bedenken zu können“ (W. Schmied-Kowarzik: „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“, p. 220). 94 Diese findet sich in SW I/2, pp. [357]-378. In der Historisch-kritische[n] Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wird die Abhandlung nicht wiedergegeben, weil, so die Begründung der Herausgeber, diese zur „Identitätsphilosophie“ gehöre und daher in einen anderen Band aufgenommen werde (der allerdings noch nicht erschienen ist). Was Von der Weltseele betrifft, folgt meine Untersuchung dem Text des Erstdrucks (ED), wie er in der AA (I/6) vorliegt; bezüglich der Abhandlung bediene ich mich der SW.

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von 1806) Aufnahme in der Edition Sämmtliche Werke und 2000 in der Historischkritische[n] Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (AA I/6). Zum Titel: Schon in den Ideen kann man dem Begriff „Weltseele“ begegnen (cf. AA I/5, p. 99). Eine genaue Definition ist dort jedoch ebenso wenig anzutreffen wie in Von der Weltseele. Hier findet das Wort sich nur ein einziges Mal, gleich zu Beginn (AA I/6, p. 77). Der Ausdruck ist ein Erbe Platons und es ist naheliegend, daß Schelling ihn von dort aufgenommen hat, weil er frühestens seit seinem Kommentar zum Timaios (1794) und spätestens seit seiner Dissertation De Marcione Paullinarum epistolarum emendatore (1795) mit dem Terminus auf das Genaueste vertraut war. „Inwieweit Schelling mit den Stationen des Weltseele-Begriffs bei Cusanus und dann in der Naturphilosophie und Naturerklärung der Renaissance bei Giovanni Pico della Mirandola, Ficino, Patrizi, Cardano, Campanella, Bruno bekannt und damit u. a. auch mit einer ,materiell‘ oder ,stoisch‘ gedachten Weltseele vertraut ist, sei dahingestellt. Aber man wird die Wiederkehr des Begriffs der Sache nach bei Spinoza, die kritische Diskussion bei Leibniz, die Restitution bei Hemsterhuis, seine Rolle im sog. Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Herder, seine kritische Erwähnung bei Kant [KrV A 642/B 670], seine Rechtfertigung bei Maimon und dann Reinholds Blick auf den antiken und nicht bloß platonischen Begriff der Weltseele wohl als einen Hintergrund für Schellings ,Weltseele‘ annehmen dürfen.“95

Auch wenn Schelling in der „Vorrede zur ersten Auflage“ zu Von der Weltseele ausdrücklich formuliert, daß das Werk nicht als Fortsetzung der unvollendet gebliebenen Ideen einer Philosophie der Natur zu verstehen sei, könnte man es dennoch als solche begreifen96, geht es darin doch nach wie vor um die zentralen Themen der Dynamik und Homöostase. Die chemische Abgleichung der Kräfte wird auch hier als Moment der Wiederherstellung der Identität der einzelnen Materieglieder mit dem Naturganzen betrachtet. Eine besondere Einleitung, auch eine nachträglich verfaßte, wie es bei Schelling oft der Fall ist, liegt in Von der Weltseele nicht vor. Der Autor beginnt die Untersuchung mit einer „Übersicht über die erste Kraft der Natur“, und kommt unverzüglich zur Sache. Dualismus und Polarität heißen die synonym verwendeten Schlüsselbegriffe, die Schelling neu einführt. Ihr Inhalt, der Widerspruch der Naturkräfte, ist jedoch aus den Ideen weitgehend bekannt. Die Hauptfrage, welche die gesamte Schrift über die Weltseele anleitet, lautet: welches ist die erste und positive Ursache des Lebens? Schelling, so haben wir ihn 95 „Editorischer Bericht“ (s. n.) zu F. W. J. Schelling: Von der Weltseele (1798), in: AA I/6, pp. 3-58; p. 19 sqq. 96 Anders wäre im übrigen auch seine rasche Abfassung kaum zu erklären.

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kennengelernt, sucht als gründlicher und neugieriger Denker stets solange hinter jedes einmal erlangte Wissen in der Kausalreihe zurückzugehen, bis er den irreduziblen Punkt der Erkenntnis erreicht hat. Zuletzt, das heißt in den Ideen, wir erinnern uns, standen die Empfindungen und Vorstellungen, welche durch die in der Natur waltenden Kräfte im Subjekt bewirkt werden, im Zentrum des Interesses. Nun möchte der Verfasser erfahren, woher wiederum jene Kräfte stammen und wer oder was sie auslösen könnte. Er sucht nach dem, was die festgestellte Dynamik in der Permanenz ihrer Entgegensetzung konserviert, das heißt nach dem Prinzip dessen, welches das Ganze als Ganzes am Leben erhält. In den Ideen war ihm das Licht und die Wärme der ,höchste Punkt‘; doch wie es schon beim Selbstbewußtsein Kants und beim absoluten Ich Fichtes seine Art war, begibt Schelling sich auch im vorliegenden Text auf die Suche nach dem, was den in den Ideen aufgestellten Prinzipien noch vorausgeht. Wie Aristoteles forscht er nach dem primum movens. Er vermutet es jedoch nicht außerhalb, sondern innerhalb der Natur: die erste Ursache des Lebens scheint nach Schelling mit der Urkraft der Natur selbst identisch zu sein. Den ewigen Kreislauf der Welterscheinungen erhalten sowohl eine positive (als Impuls) als auch eine negative Kraft (als Anziehung). „Diese beyden streitenden Kräfte zusammengefaßt, oder im Conflict vorgestellt, führen auf die Idee eines organisirenden, die Welt zum System bildenden, Princips. Ein solches wollten vielleicht die Alten durch die Weltseele andeuten“ (AA I/6, p. 77). Die positive Kraft nennt der Verfasser das „erste Prinzip“, die negative Kraft das „zweyte Prinzip“. Der Grund und Sinn des negativen Prinzips ist, die Kontinuität des positiven zu beschränken, um es überhaupt sichtbar, das heißt zum Objekt „möglicher Wahrnehmung“ werden zu lassen. Schelling macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, die beiden Kräfte zu differenzieren: „Das einzig-unmittelbare Object der Anschauung ist das Positive in jeder Erscheinung. Auf das Negative, (als die Ursache des bloß Empfundenen) kann nur geschlossen werden“ (AA I/6, p. 77). Alle Erscheinungen entstehen durch Beschränkung der positiven, unendlichen Kraft durch die negative, endliche. Erstere wird auf diese Weise von der Unendlichkeit in die Endlichkeit ,überführt‘. Erst durch seine Schwere, vom Autor im gesamten Text „Ponderablilität“ genannt, kann das Licht als positive Materie zum Gegenstand der Wahrnehmung werden. Nicht aber könnte das Licht auf die untergeordneten Weltkörper wirken, wenn in und auf diesen nicht eine Kraft verbreitet wäre, welche, durch das Licht erregbar, diesem ursprünglich verwandt ist. Körper allerdings können nicht als solche, das heißt nicht allein deshalb, weil sie Körper sind, zum negativen Prinzip (gegenüber dem Licht als positivem) werden. Schelling hypothetisiert ein bestimmtes Medium, welches die (negativen) Kräfte in den Körpern zur „Excitation“ bringt: „Gaz oxygène“ (= Sauerstoff). Das Besondere dieses Grundstoffs, vom Autor bisweilen auch „Lebensluft“, „Fluidum“ oder „Aether“ genannt, sei seine „stete Coexistenz [...] mit der energischen Materie, die sich im Licht offenbart“ (AA I/6, p. 84). Mit unseren

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Worten: Licht kann nur im Zusammenhang mit Luft wirksam werden. Licht und Luft repräsentieren den „Dualismus“ der Wirklichkeit. Schellings Naturlehre setzt als unmittelbares Prinzip eine allgemeine „Heterogeneität“, und um diese erklären zu können, eine allgemeine „Homogeneität“ der Materie voraus. Deshalb gelte: „Weder das Princip absoluter Homogeneität noch das der absoluten Heterogeneität ist das wahre; die Wahrheit liegt in der Vereinigung beyder“ (AA I/6, p. 86). Keine der beiden Kräfte bzw. Prinzipien ist ohne die andere denkbar. Sie sind Eins und erscheinen dennoch als Zwei. Hier wendet der Verfasser wieder jenes idealistische Denken an, welches er sich bei der Konstruktion des Ichs als Subjekt-Objekt-Identität angeeignet hatte. Die positive Ursache aller Bewegung, sagt Schelling, sei die Kraft, die den gesamten Raum „erfüllt“. Solle die allgemeine Bewegung aufrechterhalten werden, müsse diese Kraft beständig erregt werden. Er betont jedoch, daß „nur endliche Kräfte“ aufeinander wirken. Das „Phänomen“ jeder Kraft sei immer Materie. Die Erklärung aus der Immanenz des Systems hat für ihn seit den Ideen nicht an Bedeutung verloren. „Das erste Phänomen der allgemeinen Naturkraft, durch welche Bewegung angefacht und unterhalten wird, ist das Licht. Was von der Sonne zu uns strömt, (da es die Bewegung erhält) erscheint uns, als das Positive, was unsre Erde (als bloß reagirend) jener Kraft entgegensetzt, erscheint uns als negativ“ (AA I/6, p. 90). Ohne allen Zweifel sei, was auf der Erde den „Charakter des Positiven“ trüge, ein Bestandteil des Lichts, denn „zugleich mit ihm gelangen zu uns die positiven Elemente der Elektricität und des Magnetismus“ (AA I/6, p. 90). Der Autor geht von der Existenz einer „Urmaterie (des Aethers)“ aus, welche die absolute Einheit symbolisiere. Die Mannigfaltigkeit in der Welt entstehe durch die „verschiednen Schranken“, die auf das Positive wirken und es in zahllose Einzelmaterien aufteilen. „Die positive Kraft erst erweckt die negative. Daher in der ganzen Natur keine dieser Kräfte ohne die andre da ist“ (l. c., p. 90). Alles, was unserer Erde angehöre, habe eine „gemeinschaftliche Eigenschaft“, nämlich, daß es dem positiven Prinzip, das als Licht von der Sonne zu uns ströme, entgegengesetzt sei. In dieser ätiologischen Antithese sieht Schelling das Ferment einer allgemeinen Weltorganisation. Was er dann bemerkt, ist gegenüber den Ideen als Novität zu vermerken: Jene Antithese, sagt er, sei „keiner empirischen, sondern nur einer transcendentalen Ableitung fähig. Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität unseres Geistes zu suchen, der nur aus entgegengesetzen Thätigkeiten ein endliches Produkt construirt“ (AA I/6, p. 91). Durch Applikation des Begriffes „Construction“ distanziert der Autor sich von einer rein physiologischen Terminologie, von der er in den Ideen sich noch vollständige Aufklärung erhofft hatte. Jene frühe Begeisterung ist in der Weltseele gewichen. Schelling besinnt sich wieder seiner transzendentalphilosophischen Wurzeln:

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„Die, welche sich an das Experimentiren halten, wissen von jener Antithese nichts, obgleich sie nicht läugnen können, daß ihre Constructionen der Naturerscheinungen (z. B. des Verbrennens) ohne einen solchen – wenn nicht erfahrungsmäßig erweisbaren, doch nothwendig zu postulirenden Conflict ganz und gar unverständlich sind. Die, welche jene Antithese schlechthin aufstellen, [...] setzen sich dem Vorwurf aus, daß sie hypothetische Elemente erdichten, wo sie experimentiren sollten. Dieser Widerspruch kann nur durch eine Philosophie der Natur ausgeglichen werden“ (AA I/6, p. 91).

Er betont jedoch, daß das Negative, nur weil es eine „Construction“ sei, also immer erst „erschlossen“ werden müsse, „um nichts weniger reel“ sei als das Positive. Denn wo das Positive sei, sei eben deswegen auch das Negative. Keines von beiden sei absolut und an sich da. Eine eigene, abgesonderte Existenz erhielten beide nur im Moment des Konflikts; wo dieser aufhöre, „verlieren sich beyde in einander“. Auch das Positive nämlich ist nicht wahrnehmbar ohne Gegensatz. Und sowie man in der unmittelbaren Anschauung des Positiven zu stehen vermeine, setze man, ohne es zu wissen, das Negative bereits voraus. Eine Konstruktion ist dann real, wenn sie einen Anstoß, als Konflikt (der Kräfte), aus der Wirklichkeit erfährt. Das Daß des Konfliktes kann nicht in Frage gestellt werden, da durch ihn ein Reiz entsteht, eine Empfindung existiert – so haben wir es in den Ideen zu einer Philosophie der Natur gelernt. Wir sahen außerdem, daß Lukács und Bloch davon ausgehen, daß das Phänomen der Verdinglichung existiert, obwohl es sich um einen Begriff, eine Mentalkonstruktion handelt (deren hoher Anspruch darin besteht, die Verdinglichung für eine allgemein verbreitete und für jeden erkennbare Erscheinung zu halten). Dies ist mit der ebenso materialistischen wie idealistischen Anschauung begründbar, wie Schelling sie hier vornimmt. Der Konflikt, gleich ob er Verdinglichung, Entfremdung oder Klassenkampf heißt, wird zunächst physisch erlebt, bevor er begrifflich eingeholt, das heißt „erschlossen“ werden kann, wie der Verfasser sagt. Die Materialität seines Seins sowie deren sensitive Perzeption durch das Subjekt legitimieren seine Deduktion als Realexistenz. Schelling schließt seine Ausführungen über das Wagnis des Konstruierens mit einem wiederholten Plädoyer für die idealistische Methodik: „Lasset uns also gleich anfangs feyerlich Verzicht thun auf eine physikalische Erklärung jenes allgemeinen Conflictes negativer Principien mit positiven, aus welchem allein ein System der Natur harmonisch sich entwickelt. Und damit unsre Philosophie in ihren Behauptungen nicht gegen die experimentirende Physik zurückstehe, lasset uns dieser [...] beweisen, daß ihre einseitige Erklärungsart, da sie nicht wagt, über das Gesehne oder mit Händen Gegriffne hinauszugehen, in der That zu nichts führt, und keine Construction der ersten Erscheinungen der Natur möglich macht“ (AA I/6, p. 92).

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Des Autors naturphilosophische „Construction“ bringt zusammengefaßt folgendes zur Evidenz: Erstens, daß das Licht die erste und positive Ursache der allgemeinen Polarität sei (primum movens), zweitens, daß kein Prinzip Polarität erregen könne, ohne in sich selbst eine ursprüngliche Duplizität zu haben (Heterogenität) und drittens, daß reelle Entgegensetzungen nur zwischen Dingen Einer Art und gemeinschaftlichen Ursprungs möglich sei (Homogenität). Die Anlage des Lichtes zur Duplizität besteht nach Schellings Überlegung darin, daß es, um zu expandieren, eines Körpers bedarf, welcher, je weniger durchsichtig er ist, desto besser das Licht aufnimmt und in Wärme verwandelt. Daß das Licht nicht an sich warm ist, wisse man aus der Erfahrung, „daß das Thermometer auf den höchsten Bergen vom Lichte so wenig afficirt wird [...]. Die Ursache muß darin liegen, daß unser Körper eine Fähigkeit hat, die dem Glas abgeht, diese, durch Wärme erregbar zu seyn“ (AA I/6, p. 96). Mit diesem Beispiel erklärt der Verfasser, wie unser Körper und die ihn durchdringende Luft als negatives Prinzip funktioniert. Das Licht wiederum enthält, weil es selber materiell ist, sogenannte „negative Materie“. Diese erst befähigt es, auf das negative Prinzip (der Attraktion) zu reagieren. Das Licht erwärmt den Körper in dem Grade, als dieser fähig ist, ihm seine negative Materie zu entziehen. Dies sei besonders beim Vorgang des Verbrennens der Fall. Mit ihm beschäftigt Schelling sich deshalb ausführlich und unter Einbezug aller ihm zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Forschungsstände. Den Stoff, welcher im Körper das Verbrennen ermöglicht, hält er für „Phlogiston“ (ein Begriff, welcher seit Paracelsus und noch zu Zeiten unseres Autors gebräuchlich war. Die moderne Chemie würde allgemein von einer Oxydationsreaktion sprechen. Interessant ist der Ausdruck im Hinblick auf Schellings Theorie der Qualia, wie wir sie in den Ideen kennengelernt haben. Phlogiston wurde nämlich für jenen Grundstoff gehalten, welcher Farbe, Geruch und Geschmack entstehen läßt, womit die Existenz von Qualität chemisch nachweisbar wäre). Phlogiston sei das gemeinschaftliche Prinzip aller brennbaren Körper. „Dieses Princip aber darf nicht [...] als Bestandtheil in den Körpern vorausgesetzt werden, denn es existirt ganz und gar nicht an sich, es existirt nur im Gegensatz gegen das Oxygene des Lichts, und drückt überhaupt nichts aus, als einen Wechselbegriff. Es existirt als solches gar nicht, als im Augenblick des Conflicts, den das Licht in jedem phlogistischen Körper erregt, in dem es ihn erwärmt“ (AA I/6, p. 99). Das Phlogiston sei das Negative des Oxygene’s; „woraus denn erhellt, daß es, absolut und an sich gedacht, nichts ist“. Dies kommt uns aus der frühen Ich-Lehre bekannt vor: erst in dem Moment, wenn ich Ich sage, erhelle ich gleichzeitig die Existenz der Welt dessen, was nicht Ich ist, also das Nicht-Ich. Jede (positive) Bestimmung schließt die Negation mit ein – et vice versa. Der Reflexion, als Akt der Trennung, entspricht in der Naturphilosophie der Konflikt der Kräfte. Allein in der Entgegensetzung vermag etwas in Erscheinung zu treten. Reflexion und Konflikt fungieren auf diese Weise als Trä-

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ger und Geburtshelfer des Seins. Existenz als solche wird absolutiert, indem sie, wie einst das Ich, zum idealistischen Konstrukt erklärt wird. Der Zweck der Entgegensetzung der Prinzipien liegt für Schelling jedoch nicht nur in der Hervorbringung des Seins, sondern auch im allgemeinen Streben der Natur nach Gleichgewicht. Der harmonische Ausgleich „wechselseitig-erregter Kräfte“ bleibt ihm die unverzichtbare Teleologie des Ganzen. „Jede erregte Kraft erweckt eine andre, durch welche sie zum Gleichgewicht zurückgebracht wird, (gegen welche sie sonach gravitirt)“ (AA I/6, p. 126). Die Gravitation sei das gemeinschaftliche Gesetz, unter dem alle anziehenden Kräfte stünden. So wie beim Ein- und Ausatmen Sauerstoff verbrannt würde, funktioniere auch der gesamte Prozeß aller Entgegensetzungen in der Natur: Licht, Widerstand, Wärme, Oxydation etc. Dieser Vorgang könne niemals zum Stillstand kommen, das heißt den Zustand des absoluten Gleichgewichts der positiven und negativen Kräfte erreichen. „Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt, und ohne Zweifel in einer allgemeinen Neutralisation enden würde, wenn sie nicht durch den steten Einfluß fremder Principien ihr eigen Werk hemmte, erhält sich selbst im ewigen Kreislauf, da sie auf der Einen Seite trennt, was sie auf der andern verbindet, und hier verbindet, was sie dort getrennt hat“ (AA I/6, p. 183). Die Natur selbst sei ein „Schwanken zwischen entgegengesetzten Zwecken“, da sie sowohl das Gleichgewicht konträrer Prinzipien erhalten wolle als auch den Dualismus, welcher die Fortdauer des Gesamtprozesses überhaupt gewährleiste und damit verhindere, daß es „zum Product“, das heißt zum Stillstand kommt. Wo und wann jedoch beginnt der unendliche Kreislauf, den wir Leben nennen? Dies ist das Thema des zweiten Teils der Weltseele, welcher den Titel „Über den Ursprung des allgemeinen Organismus“ trägt. Und solange die „ganze chemische Physiologie“ diese entscheidende Frage nicht beantworten könne, sei sie nichts weiter als „ein bloßes Spiel von Begriffen“ und habe keinen „reellen Werth, ja nicht einmal Sinn und Verstand“, kritisiert der Autor. So wie für ihn „die Vegetation in einer steten Desoxydation besteht, wird umgekehrt der Lebensproceß in einer continuirlichen Oxydation bestehen: wobey man nicht vergessen darf, daß Vegetation und Leben nur im Processe selbst bestehen“ (AA I/6, p. 184). Anders: das pflanzliche Leben produziert Sauerstoff, das tierische konsumiert ihn; mit Fischers Worten: „Dort wird Sauerstoff abgesondert, hier aufgenommen; im ersten Fall besteht das Verhältniß zwischen Körper und Sauerstoff in der Trennung, im zweiten in der Vereinigung; beide Processe sind einander entgegengesetzt: die Desoxydation hat den Charakter des Positiven, die Oxydation den des Negativen. So verhalten sich Vegetation und Leben. Die Pflanzen hauchen

258 | O BJEKT -S UBJEKT den Sauerstoff aus, die Thiere athmen ihn ein, jene verbessern, diese verderben die Lebensluft [= ,aër vitalis‫]ދ‬.“97

(Schelling trifft nur die Unterscheidung zwischen „thierisch“ und „pflanzlich“. Ob er unter „thierisch“ jedoch auch menschlich versteht oder miteinschließt, sagt er nirgends explizit, wir gehen jedoch davon aus). Als Lebensprozeß jedoch ist der vegetative gegenüber dem animalischen der negative, denn: „Die Pflanze selbst hat kein Leben, sie entsteht nur durch Entwicklung des Lebensprincips, und hat nur den Schein des Lebens im Moment dieses negativen Processes. In der Pflanze trennt die Natur, was sie im Thier vereinigt. Das Thier hat Leben in sich selbst, denn es erzeugt selbst unaufhörlich das belebende Princip, das der Pflanze durch fremden Einfluß entzogen wird“ (AA I/6, p. 185).

Wir wüßten wohl, daß unsere Fortdauer an der Lebensluft hinge, welche in unseren Lungen vorgeht, aber diese Zersetzung sei nur eine „Function des Lebens“, nicht das „Leben selbst“. Nach diesem und dessen Anfang müsse geforscht werden, nicht nach den physiologischen Einzelvorgängen. Es sei in diesem Zusammenhang der „Gipfel der Unphilosohie“ zu behaupten, das Leben wäre eine Eigenschaft der Materie. Die „thierische Materie“ könne nicht als eine solche analysiert werden, da sie zunächst einmal nur Begriff, das heißt eine „(synthetische[]) Construction“ sei. Auch hier ringt Schelling wieder mit der Naturwissenschaft um die Vorherrschaft idealistischer Philosophie. Das Leben sei nicht Eigenschaft oder Produkt der tierischen Materie, sondern umgekehrt sei die Materie das Produkt des Lebens (so wie sie in den Ideen das Produkt der Kräfte ist). „Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind eben so viele Beschränkungen oder einzelne Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus. [...] Die Dinge sind also nicht Principien des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Principium der Dinge“ (AA I/6, p. 189). Das Wesentliche aller Dinge sei das Leben, das Akzidentelle nur die Art ihres Lebens; selbst das Tote in der Natur sei nicht an sich tot, betont der Autor, sondern nur das „erloschne Leben“. Leben bezieht sich sowohl auf das Ganze der Natur als auch auf die Einzelprozesse des Werdens und Vergehens. Das Leben der Totalität der Natur schließt die singuläre Materie mit ein, ob lebendig oder tot. „Die Ursache des Lebens mußte also viel füher da seyn, als die Materie, die (nicht lebt, sondern) belebt ist“ (l. c., p. 190). Nicht richtig sei es jedoch, die Ursache, nur weil diese vermutlich früher da war, gänzlich außerhalb aller Organisation zu suchen oder sie etwa auf 97 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 380.

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rein chemischem Wege finden zu wollen. Weder kommt das Leben von außen in die Materie, noch wohnt es ihr einfach inne. Es bedarf vielmehr sowohl des Anstoßes von außen als auch des materiellen Innewohnens. So wie Materie aus der Entgegensetzung der Kräfte hervorgeht, schöpft das Leben sich aus den entgegengesetzten Prinzipien von Außen und Innen. Wir wollen dies genauer wissen. Welches sind die Prinzipien, welche Leben verursachen, es existieren lassen? „Das positive Princip des Lebens muß Eines, die negativen Principien müssen mannichfaltig seyn. [...] Die negativen Principien des Lebens haben alle das Gemeinschaftliche, daß sie zwar Bedingungen[,] aber nicht Ursachen des Lebens sind; als ein Ganzes gedacht, sind sie die Principien der thierischen Erregbarkeit“ (AA I/6, p. 195). Der Verfasser verbindet seine naturphilosophischen Einsichten mit der Leitidee des ਨȞ țĮ੿ ʌ઼Ȟ: „Der Grund des Lebens ist in entgegengesetzten Principien enthalten, davon das Eine (positive) außer dem lebenden Individuum, das Andre (negative) im Individuum selbst zu suchen ist“ (l. c., p. 192). Der Widerspruch, welcher zwischen den Teilen und dem Ganzen entsteht, bildet den Ort und Moment, an dem Leben hervorgebracht wird. Da Totalität immer ein Konstrukt ist, reüssiert auch hier die idealistische Denkweise. Schelling führt an dieser Stelle den Begriff des Individuums ein. Was versteht er unter Individualität? Er bezeichnet damit allgemein den unterscheidenden Charakter eines Produktes der Natur. Die Termini Individualität und Produkt hängen für ihn auf das Engste zusammen. Unterschieden werden kann etwas nur anhand seiner Form und Gestalt. Ein „Product“ ist das, was es aus der Sphäre bloßer Erscheinungen herausnimmt und hervorhebt. Es ist etwas, das die Natur zu einer bestimmten Gestalt und Form heraufbildet. Individualität und Produkt sind zunächst immer körperlich. Der Begriff des Produktes, analog zur platonischen Idee, ist das Unveränderliche, seine Erscheinung das Veränderliche an ihm. Die Unveränderlichkeit bedingt die „transscendentale Unzerstörbarkeit“ der individuellen Materie. Ein Produkt bildet sich im Übergang von flüssigem in festen Zustand. Es ist damit a priori abzuleiten, daß jeder feste Körper „eine Art von Individualität“ besitzt. Individualität heißt die Unteilbarkeit einer bestimmten Materie und ihres Begriffes (da dieser das Unveränderliche repräsentiert). Das „Perennierende“ innerhalb der Natursphäre seien nicht die einzelnen Erscheinungen in ihr, sondern die Sphäre selbst, als solche. So sei es auch hinsichtlich der Zerstörbarkeit der Phänomene. Daß diese immer wieder aufs Neue zerstört und verändert würden, sei gerade das Unzerstörbare an ihnen. „Die Natur allein ertheilt ihren Producten Unzerstörbarkeit, oder was dasselbe ist, Zerstörbarkeit ins Unendliche“ (AA I/6, p. 208). Der Begriff der Unzerstörbarkeit jeder Organisation heißt demnach nichts anderes als „daß in ihr ins Unendliche kein Theil angetroffen wird, in welchem nicht das Ganze gleichsam fortdauerte, oder aus welchem das Ganze erkennbar wäre“. Ein Individuum ist etwas, worin das Ganze als Organisation materiell und begrifflich sich abbildet. Wir

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erinnern uns an dieser Stelle, was Schelling in den Ideen sagte: daß es das Merkmal einer jeden Organisation sei, daß sie ihren Begriff aus sich selbst heraus bilde, er ihr nicht von außen zukommen könne. „Daher folgt […] aus dem Begriff der Individualität die doppelte Ansicht jeder Organisation, die als idealisches Ganzes die Ursache aller Theile [...], und als reales Ganzes [...], die Ursache ihrer selbst als idealischen Ganzen ist, worin man dann ohne Mühe die [...] Vereinigung des Begriffs und der Erscheinung (des Idealen und Realen) in jedem Naturproduct erkennt, und auf die endliche Bestimmung kommt, daß jedes wahrhaft individuelle Wesen von sich selbst zugleich Wirkung und Ursache seye“ (AA I/6, p. 208 sq.).

Weil ein solches Wesen „organisirt“ heiße, müsse, was in der Natur den Charakter der Individualität trage, eine Organisation sein – und umgekehrt. „Das Wesen des organisirenden Processes muß also im Individualisiren der Materie ins Unendliche bestehen“ (l. c., p. 209). Die Neigung der Natur zur unendlichen Individualisierung nennt Schelling auch ihre „Reproduktionskraft“. Oben sagte er, daß das Tier (gegenüber der Pflanze) das Leben „in sich selbst“ habe, daß es „das belebende Princip“ selbst erzeuge (indem es atmet). Aus dieser Überlegung wird nun die Individualität abgleitet: als Selbstdasein und Selbstorganisation, deren eigenes Lebensprinzip von der Partizipation am Naturganzen abhängt. Die Naturorganisation als Einheit lebt von ihren individualisierten Gliedern. Begriffe wie Lebenskraft, Lebenstrieb oder Weltseele führen Schelling, obwohl von ihm selbst eingeführt, in einen doppelten Zwiespalt. Es ist sein „Schwanken, dem Endlichen ein unabhängiges Leben zuzugestehen oder nicht“98. Weiter ist es der Zweifel, inwieweit die naturphilosophische Frage nach der Ursache des Lebens, des Lebendigen, den Naturwissenschaften überantwortet werden kann. Reicht deren ,mechanische Kompetenz‘ und ,starre Methodik‘ für ein solches Unterfangen? Es ist dies eine Entscheidung zwischen Idealismus und Realismus. Diese jedoch läßt frühere Ängste des Verfassers wieder aufbrechen, welche noch immer ihrer Aufhebung harren. Evozieren die genannten Termini doch Schellings alte Furcht vor der Unberechenbarkeit der Natur (wir erinnern uns an die oben besprochene Abhandlung von 1797: Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?). Für die Erforschung einer Gesetzhaftigkeit der Natur aber erweist sich die wissenschaftliche, d. h. die „realistische“ Methode als die geeignetere. Diese könnte, viel eher als eine bloß idealistische Herangehensweise, dem Autor helfen, sein Unbehagen gegenüber dem nicht-kalkulierbaren Teil der Natur zu zerstreuen. Das reine Berechnen allerdings würde seinem Postulat nach Freiheit widersprechen. Ein Relikt aus Form- und Ich98 J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, p. 207.

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Schrift, das für ihn jedoch nicht an Aktualität und Bedeutung verloren hat. Auf der Suche nach einem Kompromiß, gelangt er zu folgender Lösung: „Die Natur soll in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frey, und umgekehrt in ihrer vollen Freyheit gesetzmäßig seyn, in dieser Vereinigung allein liegt der Begriff der Organisation. Die Natur soll weder schlechthin gesetzlos handeln, (wie die Vertheidiger der Lebenskraft, wenn sie consequent sind, behaupten müssen), noch schlechthin gesetzmäßig (wie die chemischen Physiologen behaupten), sondern sie soll in ihrer Gesetzmäßigkeit gesetzlos, und in ihrer Gesetzlosigkeit gesetzmäßig seyn“ (AA I/6, p. 215 sq.).

Die Natur soll also frei und berechenbar gleichermaßen sein, sie soll in Freiheit sich entfalten, jedoch in den Bahnen von Zeichen und Zahl. „Für diese Vereinigung von Freyheit und Gesetzmäßigkeit haben wir nun keinen andern Begriff, als den Begriff Trieb. Anstatt also zu sagen, daß die Natur in ihren Bildungen zugleich gesetzmäßig und frey handle, können wir sagen, in der organischen Materie wirke ein ursprünglicher Bildungstrieb, kraft dessen sie eine bestimmte Gestalt annehme, erhalte, und immerfort wiederherstelle“ (AA I/6, p. 216).

Der Bildungstrieb erhält hier die gleiche Deduktion wie oben bereits die Unzerstörbarkeit der Materie: beide stellen perennierende Prozesse dar; das heißt, es spielt keine Rolle, ob der Trieb reproduziert oder zerstört (Eros und Thanatos!), es zählen für Schelling lediglich die Gesetzmäßigkeit sowie die Abbildung der Unendlichkeit in ihnen. Aus diesem Grund also kann auch der Bildungstrieb nicht letzte Ursache der Gesamtorganisation der Natur sein. Unendlichkeit allein ist keine Angabe der Ursache des Seins. Kürzer: die Weltseele kann kein Trieb sein, auch kein unendlicher. Vielmehr steht sie noch vor dem Trieb, ist dessen Ursache. Denn eine Ursache, „die in der Unendlichkeit liegt, ist soviel als eine Ursache, die nirgends liegt, so wie man sagt, der Punct, wo zwo Parallellinien zusammentreffen, liege in der Unendlichkeit, dieß ebensoviel heißt, als er liege nirgends“ (l. c., p. 217). Dies aber bedeutet, daß „die erste Ursache der Organisation in der organisirten Materie selbst ins Unendliche fort, d. h. überhaupt nicht zu finden sey, daß also eine solche Ursache, wenn sie gefunden werden solle (worauf die Naturwissenschaft nimmermehr Verzicht thut), außerhalb der organisirten Materie gesucht werden müsse“ (l. c., p. 217). Dies aber kann nicht sein, da immer noch gilt, was Schelling bereits oben erkannt hat: die Ursache des Lebens ist weder nur außerhalb noch nur innerhalb der Materie zu finden, sondern allein im Konflikt des Ganzen mit seinen Teilen und umgekehrt, das heißt, die Ursache ist sowohl Einheit als auch Vielheit. Sie ist und wirkt nur als die entgegengesetzten individuellen Prinzipien umfassende Totalität. Das Prinzip des Lebens sind die einander widerstrebenden Kräfte im Konflikt

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angeschaut. Nur gleichzeitig und gemeinsam vermögen sie zu existieren und ihre Wirkung zu entfalten. „Der Gegenstand unserer Untersuchung ist der Ursprung des Lebens. Das Leben aber besteht in einem Kreislauf, in einer Aufeinanderfolge von Processen, die continuirlich in sich selbst zurückkehren, so daß es unmöglich ist anzugeben, welcher Proceß eigentlich das Leben anfache, welcher der frühere, welcher der spätere seye? Jede Organisation ist ein in sich beschloßnes Ganzes, in welchem alles zugleich ist, und wo die mechanische Erklärungsart uns ganz verläßt, weil es in einem solchen Ganzen kein Vor und kein Nach giebt“ (AA I/6, p. 237).

Die Ursache des Lebens fällt mit dem innersten Wesen der gesamten Natur in eins. Diese Überlegungen führen Schelling am Ende in die Diskussion um Freiheit und Notwendigkeit. Die Freiheit bestehe nicht in der Bildung einzelner Produkte, sondern im Uranstoß zu diesem Vermögen. Die Vorgänge einzelner Organismen seien berechenbar, nicht aber ihr Vorhandensein überhaupt. Der Autor stellt dem erforschbaren, aber nur bedingt freien Was das unbekannte, aber absolut freie Daß gegenüber. (Vor allem in der Philosophie der Offenbarung wird er diesem Problem sich noch einmal ausführlicher und auch unter Beimischung theologischer Argumentation widmen). Die Reproduktionskraft könne nur deshalb eine bedingt freie, keine absolut freie sein, weil sie eine von veränderlichen Bedingungen abhängige Kraft sei, also selbst ein materielles Prinzip als ihre erste Ursache voraussetze. Schellings Argumentation hinsichtlich der Freiheit ist insofern nicht neu, als schon die Scholastik die Sentenz operari sequitur esse kannte. Frei ist nur das Sein selbst, also das Daß, notwendig aber die Handlung, weil durch das Sein bestimmt (Arthur Schopenhauer wird 1840 in der Preisschrift über die Grundlage der Moral auf diesem Fundament seine Ethik errichten). Kürzer: frei ist das Ganze, notwendig das Einzelne. Dieses Prinzip inhäriert insofern auch dem Begriff der Weltseele, als dieser ein umfassender ist, das heißt das Ganze, als Welt, zur Darstellung bringt. Die Weltseele verkörpert somit absolute Freiheit, die von ihr beseelten Produkte als individuelle Organismen dagegen verkörpern bedingte Freiheit. Ebenso verhält es sich mit dem Ausdruck Leben. Leben gibt es einzig als Begriff, nie nur als Ausschnitt, als Individuum. Die Synthese geht der Analyse voraus. In Von der Weltseele demonstriert der Verfasser, wie idealistisch sein Denken geblieben ist. Beinahe ließe sich auf den Gedanken verfallen, daß er seine Thesen aus den Ideen zu einer Philosophie der Natur hier wieder rückgängig zu machen sucht. Die idealistische, nennen wir es ,Rückbesinnung‫ދ‬, nicht ,Kehre‘, welche er plötzlich und inmitten seiner naturphilosophischen Phase vollzieht, scheint auch der Grund zu sein, warum er im Vorwort unterstreicht, daß die Weltseele nicht als Fortsetzung der Ideen zu mißverstehen sei.

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Schelling verkehrt insofern seine Argumentation aus den Ideen, als er das synthetisierende Vermögen des Begriffes gegenüber dem analysierenden Vermögen der Naturwissenschaft favorisiert. Erst die begriffliche Synthese setze die Welt ins Sein, ,beseele‘ sie. Damit legt er eine idealistische Position vor, wie sie von Hegel später vertreten wird: alle Individualität ist aufgehoben in der Totalität des vernünftigen Begriffes. Ob Natur oder Geschichte, beide bilden mit ihren entgegengesetzten Kräften die Prämisse für eine Stufenfolge des Bewußtseins. Die Identität als Begriff steht auch bei Schelling, zumindest in der Abhandlung Von der Weltseele am Ende der Naturschöpfung, nicht am Beginn, da sie ja Begriff ist, und der Preis des Idealismus immer ist, daß er später kommt. Von der Anschauung, welche allem Begriff vorausgeht, ist, wie noch in den Schriften zuvor, in der Weltseele keine Rede mehr. Womöglich hat Hegel sogar von dort die Idee für seinen Weltgeist genommen. Und ebenso könnte er von Schelling die Vorstellung erhalten haben, daß der Weltgeist, durch die „List der Vernunft“, des Individuums sich bemächtigt, um in und durch dasselbe sich selbst zu erfassen und zu offenbaren, denn auch die Weltseele bedient sich des Individuums, um in ihm als Ursache des Ganzen in Erscheinung zu treten: „Das Princip des Lebens ist nicht von außen in die organische Materie (etwa durch Infusion) gekommen – (eine geistlose, doch weit verbreitete Vorstellung) – sondern umgekehrt, dieses Princip hat sich die organisierende Materie angebildet. So indem es in einzelnen Wesen sich individualisierte, und hinwiederum diesen ihre Individualität gab, ist es zu einem aus der Organisation selbst unerklärbaren Princip geworden, dessen Einwirkung nur als ein immer reger Trieb dem individuellen Gefühl sich offenbart“ (AA I/6, p. 255).

Das Herausstellen der Synthetizität gegenüber der Analytizität, der Einheit gegenüber der Individualität, des Idealismus gegenüber der Naturwissenschaft schmälert jedoch nicht die Meriten, welche Schelling sich durch die Weltseele erwirbt. Gerade sein auch hier anhaltendes ,Schwanken‘ zwischen Idealismus und Materialismus macht verständlich, warum es keine eindeutige Option geben kann, solange Geist und Materie als zwei Äußerungen ein und derselben Substanz angenommen und artikuliert werden. Habermas’ Ausdruck des „Schwankens“ ist in dieser Hinsicht unglücklich, da er suggeriert, Schelling müsse sich für eine Sache aus zweien entscheiden. Dessen ,Schwanken‘ könnte aber ebenso als Wille zur Vereinigung beider Prinzipien gewertet werden. Dem Marxismus selbst ist die Problematik nicht unbekannt, konnte auch er sich von der idealistischen Verwiesenheit seiner Philosophie nie ganz befreien (auch wenn er es bisweilen gerne getan hätte). So gesteht Engels selbst in Dialektik und Natur, daß Materie bloß als Begriff existiere (cf. MEW 20, p. 519); das gleiche gilt für die Ausdrücke Klassenkampf oder Entfremdung. Auch die spezifisch marxistische Sicht, daß die produzierten Waren eingefrorene Arbeitszeit, verzauberte Menschen etc. seien, oder daß immer das Ganze im Auge zu be-

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halten sei, um das Einzelne zu begreifen, ist nicht anders zu erklären als aus einem Denken, das in Schelling seinen Anfang nimmt. Der gesamte Marxismus deduziert zusammengefaßt sich aus folgendem Lehrsatz: Das individuelle Selbstbewußtsein, das aus Widerspruch, das heißt aus entgegengesetzten Kräften, hervorgeht, stiftet die Identität des Ganzen, indem es dieselbe als Wir in Begriff und Praxis verwandelt. Die gesamte in dieser Definition verwendete Terminologie läßt in den Ideen und der Weltseele sich nahezu vollständig nachweisen. Diese Schriftwerke demonstrieren, wie sehr der Marxismus vom Deutschen Idealismus profitiert, in welch großer Abhängigkeit er von dessen Vorarbeiten steht. Daß er dennoch es nicht vermochte, die Identität von Geist und Materie ideell und materiell herzustellen, ist besonders in Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein zu sehen. Schellings Haltung in der Weltseele ist vor diesem Hintergrund nicht als ,Schwanken‘ zu verstehen. Er zeigt der Naturforschung und der Transzendentalphilosophie gleichermaßen sowohl deren Grenzen als auch deren Möglichkeiten.99 Damit schafft er die Voraus99 Michael Rudolphi ist der Ansicht, daß idealistische Terminologie bei den Naturwissenschaften durchaus Verwendung findet, so z. B. in der Elementarteilchenphysik. „Offenkundig stößt die Experimentalphysik an unüberwindbare Grenzen. Setzt sie bei der Erklärung der Materie auf ideelle Begriffe, kommt sie einer zentralen Forderung von Schellings spekulativer Physik nach. Die Elementarteilchenphysik erforscht nicht mehr die substantielle Materie, sondern deren formale Struktur. Ziel ist es, elementare dynamische Funktionen aufzuzeigen, deren empirische Wirkung die Materie ist. Analog zu Schellings Ansatz transzendiert die Physik die Materie als Datum, um deren ursprüngliche dynamische Struktur ins Blickfeld zu rücken. Damit gibt sie den Anspruch auf Veranschaulichung auf. Materie ist nicht länger die erste Entität der Natur. Die Physik transformiert sie in ein Symbol, das – ganz im Sinne Schellings – Ausdruck ursprünglicher Prinzipien ist. Ein solches stellt sich etwa im Begriff der Symmetrie dar. Symmetrien sind ideelle Ordnungsfunktionen, die aufgrund von dynamischen Operationen (zum Beispiel der Vertauschung von Ladungen) das Teilchenspektrum der Materie bestimmen und strukturieren. Trotz der Entsprechung zu Schellings Prinzip der entgegengesetzten Aktionen führt die Elementarteilchenphysik ideelle Begriffe sehr unvermittelt ein. Schelling hingegen erörtert ausführlich den erkenntnistheoretischen Status seiner Prinzipien und bereitet den Boden, um ihre transzendentale Funktion für die Materiekonstruktion plausibel zu machen. Die Physik verschließt sich jedoch einer angemessenen und notwendigen Diskussion über den erkenntnistheoretischen Status ihrer elementaren Begriffe. Hier könnte Schellings spekulative Materiekonstruktion zum Tragen kommen: Sie könnte für die Physik eine heuristische Funktion übernehmen, um den erkenntnistheoretischen Kontext zu entfalten, innerhalb dessen sich die Frage nach der Materie erst sinnvollerweise stellen läßt“ (M. Rudolphi: Produktion und Konstruktion, p. 189 sq.).

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setzung für einen interdisziplinären Dialog der Wissenschaften. Seine Aktualität erweist dieser Habitus nicht nur in der Bewußtseinsdebatte zwischen Philosophie und Hirnforschung100, sondern auch in der Auseinandersetzung um Fragen der Ökologie und Umweltethik.101 100 Dieter Sturma sieht eine Notwendigkeit des Schellingschen Beitrages nicht nur für die Diskussion mit der Hirnforschung, sondern auch für die Philosophie selbst. Gemeint sind jene philosophischen Destinationen, deren Begrifflichkeit stark von den Naturwissenschaften beeinflußt sei, wie Teile der Philosophy of Mind. Er nennt diese Strömungen „Programme eines eliminativen Reduktionismus“. „Viele nüchterne Aufklärer in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft werden in den Resultaten der neueren Kosmologie, nach der die gesamte Materie des Universums aus einem singulären Anfangszustand hervorgegangen ist, die empirische Bestätigung von La Mettries anschaulichem Bild sehen. Auch die neuere Philosophie des Geistes orientiert sich zum Großteil an Methoden und Verfahrensweisen nicht-philosophischer Disziplinen, insbesondere an der Physik, der Biologie und den Kognitionswissenschaften. Mit dieser Ausrichtung sind methodische Einseitigkeiten verbunden, die vor allem subjektive Bestimmungen menschlichen Bewußtseins – wie ,Selbstbewußtsein‘, ,Erlebnis‘, ,Qualia‘ – vom Ansatz her ausklammern“ (D. Sturma: „Die Natur des Bewußtseins“, p. 159). Cf. etiam M. Mayer: „Freiheit als Modell. Zur Debatte zwischen Philosophie und Neurowissenschaften“. 101 Eine Naturphilosophie im Sinne Schellings sei deshalb heute dringender denn je geboten, meint Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Zu lange hätte die Philosophie das Bedenken der Natur allein den Naturwissenschaften und deren Wissenschaftstheoretikern überlassen. „Heute da die Zerstörung unserer Lebenswelt immer rascher voranschreitet und wir langsam einzusehen beginnen, daß das gesamte Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik für diese Lebenszerstörung mitverantwortlich ist, wird eine Kritik des Paradigmas neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik geradezu zu einem praktischen Überlebensproblem für uns Menschen. Unter einer Kritik des Paradigmas der neuzeitlichen Naturwissenschaften verstehen wir keineswegs die unsinnige Forderung nach ihrer Abschaffung, sondern ein kritisches Bedenken der Reichweite und Begrenztheit ihrer Aussagen über die Natur sowie der Konsequenzen, die sich aus ihrer technischen Anwendung für die Natur als unserer Lebensgrundlage und für uns selbst ergeben. Von wo anders soll eine solche Kritik begründet werden können, als einerseits von einer Naturphilosophie her, die die wirkliche Natur thematisiert, in die wir selbst miteinbezogen sind, und andererseits – und mit dieser systematisch verbunden – von einer Philosophie gesellschaftlicher Praxis her, die die ökonomische Formbestimmtheit unseres theoretischen und praktischen Naturverhältnisses kritisch durchdenkt?“ (W. Schmied-Kowarzik: „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“, p. 219).

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3.5.3 „Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen“ Wir wollen an dieser Stelle noch einen Blick auf jene Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts werfen, welche der zweiten Auflage der Weltseele beigefügt, jedoch erst 1806 verfaßt wurde – und damit eigentlich nicht mehr in das Gebiet unserer Forschung fällt, da sie der sogenannten identitätsphilosophischen Phase Schellings zugerechnet werden muß. In der Einleitung zu unserer Untersuchung sagten wir jedoch bereits, daß eine zu rigide Kategorisierung der Schellingschen Schriften ihrer wissenschaftlichen Gesamtdarstellung mehr schade als nütze. Eine Auswertung jener Abhandlung scheint unter anderem deshalb sinnvoll, weil sie uns eine synthetisierende Perspektive des gereiften Autors auf sein eigenes Werk bietet. Er kann uns helfen, es und ihn selbst besser zu verstehen. Die Ambition, welche Schelling noch zu Beginn der Ideen leitete, nämlich die Prinzipien der Naturphilosophie physiologisch und biochemisch nachzuweisen, scheint er in der vorliegenden Schrift gänzlich aufgegeben zu haben. Er spricht jetzt offen davon, daß Natur und Materie nur Sinnbilder für „die höchsten Grundsätze der Philosophie“ und „das ganze innere Triebwerk des Universums“ seien. Auffällig ist, daß er, um den Ausdruck Weltseele zu ersetzen bzw. zu verdeutlichen, den lateinischen Begriff „Copula“ (= „Band“) neu einführt. Dieses („göttliche“ oder „heilige“) Band ist die Verbildlichung der unsichtbaren Verbundenheit des Einzelnen mit dem Ganzen (und umgekehrt), des Unendlichen mit dem Endlichen. Es allegorisiert seine Funktion als ,vermittelndes Drittes‘ zwischen der unendlichen Einheit und der Vielheit der endlichen Dinge. Das Band ist das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit. Das Verhältnis selbst wird als ,Sitz‘ der Weltseele identifiziert. „Das Band vermittelt also nicht zwischen zwei Separaten, die es der Identität überführte. Es verknüpft ,sich selbst‘ mit dem von ihm Verbundenen als mit sich selbst (SW I/2, 361), so daß das Verbundene auch das Andere seiner selbst (oder ,in diesem Anderen sich selbst das Eine‘) heißen kann (SW I/2, 54 [f.]). Nur wenn die Teile des Verbundenen ,für sich‘, also vom Bande abstrahiert, auftreten, heißen sie dem ,bloß Einen‘ gegenüber ,das Viele‘.“102

Das Wort Copula (Schelling schreibt es auch auf Latein groß) soll außerdem die Ort-, und Zeitlosigkeit jener ersten Ursache des Naturkreislaufes auf sich vereinen und in sich aufheben. Es hat den Umstand zu kompensieren, daß Topos und Kairos, 102 M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 19. Vorl. SS 2009, p. 506.

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welche die erste Ursache der Weltbewegung, ihr primum movens, anzuzeigen haben, nicht real existieren, sondern nur ideell, im Begriff des Bandes. Da die gesuchte Erstursache jedoch ein Sinnbild für das Absolute ist, sperrt sie sich gleichzeitig einer Artikulation. Jeder Versuch, sie exakt zu orten oder zu versprachlichen, birgt das Risiko ihrer ,unsachgemäßen‘ Behandlung, die Gefahr, ihr nicht gerecht zu werden. Der Terminus Copula ist dennoch insofern günstig gewählt, als er verdichtet zu erhellen vermag, um was es Schelling in der Weltseele eigentlich geht. Es wundert allerdings, daß er den lateinischen und nicht den altgriechischen Ausdruck įİıȝંȢ gebraucht. Dieser nämlich stammt aus Platons Timaios und da unser Autor über denselben 1794 einen Kommentar verfaßt hatte103, muß er ihn auch von dort rezipiert haben. Weil es ihm um den Erhalt und die Betonung der Freiheit als erster Eigenschaft des Absoluten geht, ist es allerdings fraglich, ob Copula oder įİıȝંȢ überhaupt geeignete Termini darstellen; beide bedeuten zwar das zu Verknüpfende, Verkettende, aber eben auch Fessel, Fangstrick und Fangleine, was beengende, unfreie Assoziationen zur Folge hat. Für Schellings Anliegen geeigneter, weil ,unverbindlicher‘, scheint der ebenfalls aus dem Timaios stammende, jedoch unbeachtet gebliebene Begriff für Vermittler: ıȣȞĮȖȦȖંȢ (woraus Synagoge [ıȣȞĮȖȦȖ੾Ǿ, als Ort der Versammlung und der Vermittlung zwischen Gott und seinem Volk, sich ableitet). Beide Wörter, Band und Vermittlung, werden von Platon dort sogar innerhalb eines Satzes verwendet: įİıȝઁȞ Ȗ੹ȡ ਥȞ ȝ੼ı૳ įİȚ IJȚȞĮ ਕȝijȠȚȞ ıȣȞĮȖȦȖઁȞ Ȗ઀ȖȞİıșĮȚ (Timaios, Steph. 31c).104 Der Umgang mit dem Begriff des Bandes, vor al103 Cf. F. W. J. Schelling: „Timaeus“ (1794). 104 Die Stelle im Timaios (Steph. 31-32), wo Platon die Rolle des Bandes erklärt, lautet in der Übersetzung von Otto Apelt wie folgt: „Körperlich also, sichtbar und fühlbar muß das Gewordene sein. Ohne Feuer aber kann niemals etwas sichtbar werden und fühlbar nicht ohne etwas Festes und fest nicht ohne Erde. Daher bildete Gott, als er anfing den Weltkörper zusammenzufügen, ihn aus Feuer und Erde. Zwei Dinge aber lassen sich für sich allein nicht haltbar zusammenfügen; es gehört notwendig dazu ein drittes, ein vermittelndes Band [įİıȝઁȞ] nämlich, welches die Vereinigung [ıȣȞĮȖȦȖઁȞ] beider erst zustande bringen kann. Das schönste aller Bänder aber ist dasjenige, welches die engste Vereinheitlichung des Bandes selbst mit den verbundenen Gegenständen herstellt. Dies aber am besten zu bewirken vermag ihrem Wesen nach die Proportion. Denn wenn drei Zahlen, seien es nun Produktzahlen oder Quadratzahlen, die mittlere zu der letzten sich so verhält, wie die erste zur mittleren und ebenso wieder die letzte zu der mittleren wie die mittlere zu der ersten, so ergibt sich, daß, wenn man die mittlere an die erste und letzte Stelle, die letzte und erste dagegen beide in die Mitte setzt, das Verhältnis immer ganz das nämliche bleibt; bleiben sie aber immer in dem nämlichen Verhältnis zueinander, so bilden sie zusammen eine Einheit“. Ebenso kennt und zitiert Hegel diese Passa-

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lem in dessen lateinischer Ausführung, Copula, wird Schelling jedoch ebenso vertraut gewesen sein, wurde er doch vor allem im Logikstudium verwendet und erläutert. Copula ist seit der Scholastik des Mittelalters der Ausdruck und das äußere Zeichen der Identifizierung zweier Begriffe. An Stelle der Copula ist könnte man auch setzen: ,ich erkläre für identisch‘. Die Copula verbindet das Subjekt mit dem Prädikat. Beide können auf diese Weise erst zu Gliedern eines Urteils werden. Die Copula ist scholastisch die Bedingung der Möglichkeit eines Urteils. Das identifizierende ist wird zwischen Subjekt und Prädikat gestellt, ist von diesen abhängig. Es kann nicht ohne sie existieren; so beispielsweise in der Aussage: ,Das Ganze ist die Vielheit‘. Diese besondere grammatische Position läßt den Begriff für Schelling geeignet erscheinen, den schwierigen Topos der Weltursache zu beschreiben und darzustellen. Nicht mehr die Analyse der positiven und negativen Kräfte oder der ersten Prinzipien der Natur stehen acht Jahre nach der ersten Auflage der Weltseele im Vordergrund, sondern der Aspekt von Ewigkeit und Unendlichkeit als Kategorien des Absoluten und Göttlichen.105 Wenn der Verfasser wissen möchte, wie Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Einheit und Vielheit, Unbedingtes und Bedingtes, Unendliches und Endliches zueinanderfinden, steht hinter diesen alternierenden Gegensatzpaaren stets die gleiche Grundfrage nach dem Verhältnis des Idealen zum Realen (so auch der Titel des Traktates). Es ist „das Problem des Übergangs von der Immanenz der Subjektivität zur Objektivität der Subjektivität“106. Als entsprechende Variation muß auch die Antwort gewertet werden, welche uns der Verfasser in seiner Abhandlung gibt: „Das Unendliche kann nun nicht zu dem Endlichen hinzukommen; denn es müßte sonst aus sich selbst zu dem Endlichen herausgehen, d. h. es müßte nicht Unendliches seyn. Ebenso undenkbar aber ist es, daß das Endliche zu dem Unendlichen hinzukomme; denn es kann vor diesem überall nicht seyn, und ist überhaupt erst etwas in der Identität mit dem Unendlichen. Beide müssen also durch eine gewisse ursprüngliche und absolute Nothwendigkeit vereinigt seyn, wenn sie überhaupt als verbunden erscheinen. Wir nennen diese Nothwendigkeit, so lange bis wir etwa einen andern Ausdruck derselben finden, das absolute Band, oder die Copula“ (SW I/2, p. 360). ge in seiner Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie von 1801 (GW 4, p. 65). 105 Vielleicht war dies aber auch die eigentliche Intention der Weltseele, welche jedoch durch zu viel naturwissenschaftliche Informationen und Erklärungsversuche in den Hintergrund geraten war, und Schelling wollte dies mit einem Supplement korrigieren. 106 D. Sturma: „Die Natur des Bewußtseins“, p. 162.

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Das Band drücke in dem Verbundenen zugleich sein eigenes in der Identität bestehendes Wesen aus. Dieses könne daher als sein Abdruck betrachtet werden. Den Unterschied zwischen dem Band und dem Verbundenen vergleicht Schelling mit jenem zwischen dem Esse substantiae und dem Esse formae, von welchem gleichfalls einzusehen sei, daß er kein reeller, sondern ein bloß ideeller ist. „Wir können das Band im Wesentlichen ausdrücken als die unendliche Liebe seiner selbst (welche in allen Dingen das Höchste ist), als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren, nur daß das Wesen des Absoluten nicht von dieser Lust verschieden gedacht werde, sondern als eben sich-selber-Wollen“ (SW I/2, p. 362). Im Sich-selbst-Bejahen liegt für den Autor das Wesen des Unendlichen. Das Absolute sei jedoch nicht allein ein Wollen seiner selbst, sondern ein Wollen auf unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und Potenzen von Realität. Das unendliche Wollen schließt die endliche Wirklichkeit mit ein. „Der Abdruck dieses ewigen und unendlichen sich-selberWollens ist die Welt“ (l. c., p. 362). Der Wille zu sich selbst ist nur ein Synonym für den Wunsch nach (absoluter) Identität. Diese jedoch meint immer das Ganze, kann nur als Ganzes existieren. „Identität in der Totalität, und Totalität in der Identität ist [...] das ursprüngliche und in keiner Art trennbare oder auflösbare Wesen des Bandes, welches dadurch keine Duplizität erhält, sondern vielmehr erst wahrhaft Eins wird“ (SW I/2, p. 363). Raum und Zeit sind die bloßen Formen der Dinge ohne das Band. Es sind die Faktoren ihrer Veränderlichkeit. Das Band ist die Einheit der Vielheit der Dinge und somit die Negation der „Vielheit für sich betrachtet“. Zugleich hat das Band göttliche Funktionen, denn: „Von Gott sagt ein Ausspruch des Alterthums: er sey dasjenige Wesen, das überall Mittelpunkt, auch im Umkreis ist, und daher nirgends Umkreis. Wir möchten dagegen den Raum erklären, als dasjenige, was überall nur bloß Umkreis ist, nirgends Mittelpunkt“ (SW I/2, p. 363). Das Band als Einheitstiftendes ist das Wesende der Verbundenheit unter den endlichen Dingen. „Indem nach einer unvermeidlichen Nothwendigkeit das Band des Ganzen auch das Wesen des einzelnen Verbundenen ist, beseelt es dieses unmittelbar; Beseelung ist Einbildung des Ganzen in ein Einzelnes. Als Beseelung wird es betrachtet, daß der Magnetstein das Eisen, das Elektron leichte Körper an sich zieht; aber ist es nicht unmittelbare Beseelung, daß jeder Körper, ohne sichtbare Ursache, gleichsam magischer Weise, zum Centrum bewegt wird? Diese Beseelung des Einzelnen durch die Copula des Ganzen ist jedoch der Beseelung des Punkts zu vergleichen, wenn er in die Linie eintretend gedacht wird, und zwar vom Begriff eines Ganzen, der mehr enthält, als er (der Punkt) für sich selbst enthalten kann, durchdrungen wird, aber in diesem Durchgang auch sein unabhängiges Leben verliert“ (SW I/2, p. 364).

Das Sein des Verbundenen, als Verbundenes, das heißt das Sein der endlichen Dinge, die miteinander als Ganzes verbunden sind, ist jedoch, und auf diese Unter-

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scheidung legt Schelling großen Wert, „ein der Natur und dem Begriff nach verschiedenes von dem des Bandes. Das Wesen des Bandes ist an sich selbst Ewigkeit, das Seyn des Verbundenen aber ist für sich Dauer; denn seine Natur ist, von der einen Seite zwar zu seyn, aber nur als dienend dem Ganzen, insofern also auch nicht zu seyn“ (SW I/2, p. 364 sq.). Die Unterscheidung von Ewigkeit und Dauer erinnert an jene Differenzierung, welche der Verfasser in seinen transzendentalphilosophischen Frühschriften am Ich vornimmt, indem er es in ein absolutes, unbedingtes und ein endliches, bedingtes zerteilt. Wahres Sein steht nur dem absoluten Ich zu. Nicht nur die metaphysischen Sehnsüchte des Autors, sondern auch das „Seyn“ als absolute Identität aus Hölderlins Urtheil und Seyn kommen hier wieder zum Vorschein. Wie stehen das Zeitlose und das Zeitliche zueinander? Die Zeit bedarf des Realen und Endlichen, um überhaupt fließen zu können. Auch in diesem Verhältnis betont Schelling die Wechselseitigkeit, welche das Gleichgewicht bedingt. „Das Wesen in der Zeit ist überall Mittelpunkt, aber nirgends Umkreis. Jeder Augenblick ist daher von der gleichen Ewigkeit wie das Ganze“ (l. c., p. 365). Nur durch die Zeit ist das Gefühl für die Ewigkeit vermittelbar. Das Ewige am Zeitlichen ist, daß es zum Ganzen gehört. Ebenso verhält es sich mit der Schwere. Die Schwere ist die Identität der Dinge als Vielheit in der Einheit. „Allgemein [...] ist die Schwere das Verendlichende der Dinge, indem sie in das Verbundene die Einheit oder innere Identität aller Dinge als Zeit setzt“ (l. c., p. 366). Das Wesen der Identität in der Totalität als Schwere wiederum sei das Band. Das Band wiederum kenne weder Leere, noch Abstand, weder Höhe noch Ferne; denn es sei der überall gegenwärtige Mittelpunkt. Die Schwere ist nur der Abdruck ihrer Einheit, welche ihr Wesen ist. Jedes Einzelne verliert sich in der Totalität, die das Band ist. Das Band als Einheit der Schwere hebt die Einzelheit in der Allheit als Identität auf. „Gerade in dieser Ueberwältigung oder Unterdrückung durch das Band wird das Verbundene des Gegenscheines fähig und geschickt zu der Abschattung des Wesentlichen, wie der formlose Stoff nur in dem Maß, als er von dem Bildner bewältigt selbst gleichsam verschwindet, die Idea des Künstlers hervortreten läßt“ (l. c., p. 366 sq.). Alle Verwirklichung in der Natur beruhe auf eben dieser „Vernichtung“, dem „durchsichtigWerden“ des Verbundenen als des Verbundenen für das Band. Letzteres verhalte sich zu dem Verbundenen wieder, wie sich Bejahendes zu Bejahtem verhalte, welche beide „auf ebenso nothwendige Weise beisammen sind, als in dem höchsten Vernunftsatz (A = A) mit der Copula zugleich auch das Subjekt und Prädicat als verknüpfte sind“ (l. c., p. 367). Das Ewige aber bejahe nicht nur sich selbst als die Einheit in der Allheit der Dinge, sondern es bejahe auch das Einzelne, das heißt, es ist Einheit auch in der Einzelheit. Der Einheit der Schwere stellt Schelling ein „allgegenwärtiges Lichtwesen“, „Jupiter“, entgegen. Materie trifft dabei, wieder einmal, ein negatives Urteil: „Das

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Dunkel der Schwere und der Glanz des Lichtwesens bringen erst zusammen den schönen Schein des Lebens hervor, und vollenden das Ding zu dem eigentlich Realen, das wir so nennen“ (l. c., p. 369). Damit hat der Autor die Überleitung zu jenen religiös anmutenden Konklusionen bereitet, in welche seine Abhandlung mündet: von allem, was Vernunft als ewige Folge von dem Wesen Gottes erkenne, faßt er zusammen, sei in der Natur nicht allein der Abdruck, sondern die wirkliche Geschichte selbst enthalten. „Die Natur ist nicht bloß Produkt einer unbegreiflichen Schöpfung, sondern diese Schöpfung selbst; nicht nur die Erscheinung oder Offenbarung des Ewigen, vielmehr zugleich eben dieses Ewige selbst. Je mehr wir die einzelnen Dinge erkennen, desto mehr erkennen wir Gott, sagt Spinoza, und mit stets erhöhter Ueberzeugung müssen wir auch jetzt noch denen, welche die Wissenschaft des Ewigen suchen, zurufen: Kommet her zur Physik und erkennet das Ewige!“ (SW I/2, p. 378).

Die Richtung, welche der Verfasser hier einschlägt, ist offensichtlich. Das naturwissenschaftliche Übergewicht seiner Bemühungen in den Ideen wurde bereits in der Weltseele durch eine Rückbesinnung auf idealistische Methodik wieder ausgeglichen. 1806 aber verliert das Gleichgewicht der Ansätze sich zugunsten einer transzendentaltheologischen Deutung. Ihr wird Schelling von da an bis zur Philosophie der Offenbarung im wesentlichen treu sein. Alle essentiellen Ingredienzien der „philosophische[n] Christologie“107 in Schellings Philosophie der Offenbarung sind in der Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen sowie in der Weltseele bereits enthalten. Der katholische Theologe Walter Kasper arbeitet an vielen Stellen seines Werkes nicht nur deshalb mit der Terminologie Schellings, weil er in Tübingen mit einer Arbeit über jenen sich habilitiert hatte (cf. Das Absolute in der Geschichte) und zeitlebens von ihm inspiriert blieb, sondern weil er mit ihrer Hilfe die dogmatischen Probleme der frühen Kirche, deren Aufgabe es war, griechisches Denken mit semitischem nach dem Prinzip des fides quaerens intellectum zu vereinen, auf hohem Niveau zu durchdringen und zu artikulieren vermochte. Daß ein Dialog zwischen der idealistischen Philosophie und der Theologie fruchtbar sein könne, „zeigt vor allem ein Blick auf die katholische Tübinger Schule des neunzehnten Jahrhunderts, wo ein J. S. Drey108, J. A. Möhler109, F. A. Staudenmaier110, J. E. Kuhn111 in Begegnung mit 107 Cf. C. Danz: Die philosophische Christologie F. W. J. Schellings. 108 Drey, Johann Sebastian von, kath. Theologe, * 17.10.1777 Killingen bei Ellwangen, † 19.2.1853 Tübingen. Nach Studium in Ellwangen, Augsburg und Pfaffenhausen bei

272 | O BJEKT -S UBJEKT Schelling und Hegel eine Erneuerung der Theologie und des gesamten deutschen Katholizismus einleiteten, die zunächst leider von einer neuscholastischen Restauration verdrängt wurde und erst in unserem Jahrhundert voll zur Auswirkung kommen konnte“112.

Er plädiert deshalb für eine Wiederaufnahme der idealistischen Problematik durch die Theologie und für die Herausstellung ihrer Systemansätze. Diese seien für das christliche Denken besonders förderlich. Die Leistung Schellings bestehe unter anderem in dem Versuch, theologische Ansätze „nicht von außen her an das idealistische Denken als Gegeninstanz heranzutragen, sondern sie aus dem ursprünglichen Ansatz heraus selbst zu entfalten und sie mit dem idealistischen Denken zu vermitteln. [...] Im Spätwerk Schellings fand eigentlich die letzte Begegnung großen Stils zwischen idealistischem Denken und Christentum statt. Die Auseinandersetzungen zu Beginn unseres Jahrhunderts reichen daran in keiner Weise heran. So kann Schelling gerade für die Theologie ein sehr aktuelles Interesse beanspruchen.“113

Mindelheim 1801 Priesterweihe; 1806 Prof. für Naturwissenschaften am Lyzeum in Rottweil; 1812 Prof. für Theol. Enzyklopädie, Dogmatik u. Dogmengeschichte an der kath. Landes-Univ. Ellwangen u. von 1817-46 an der Univ. Tübingen. 1819 war Drey Mitbegründer der Theol. Quartalschrift; 1822-27 1. Bischofskandidat der württ. Krone, jedoch von Rom abgelehnt (cf. ad vocem LThK 3, col. 373 sq.; BBKL 1, col. 1383 sq.). 109 Möhler, Johann Adam, kath. Theologe, * 6.5.1796 Igersheim bei Mergentheim, † 12.4.1838 München. 1815-17 Studium in Ellwangen u. 1817-18 in Tübingen, 1819 Priesterweihe, 1820 Repetent am Wilhelmsstift in Tübingen; 1822 Priv.-Doz., 1828 Ordinarius für Kirchengeschichte an der Univ. Tübingen u. 1835 in München (cf. ad vocem LThK 7, col. 374 sq.; BBKL 5, coll. 1584-1593). 110 Staudenmaier, Franz Anton, kath. Theologe, * 11.9.1800 Donzdorf (Württemberg), † 19.1.1856 Freiburg (Breisgau); 1827 Priester; 1830 o. ö. Prof. für Dogmatik in Gießen, 1837 in Freiburg (Breisgau), 1843 Domkapitular. Staudenmaier galt als ausgezeichneter Kenner aber auch Kritiker Hegels und Schellings (cf. ad vocem LThK 9, col. 936 sq.; BBKL 10, coll. 1235-1241). 111 Kuhn, Johannes Evangelist von, kath. Theologe, * 20.2.1806 Wäschenbeuren (WürtWHPEHUJ ‚7ELQJHQ3ULHVWHU-36 o. ö. Prof. für Exegese in Gießen, 1837-82 für Exegese (bis 1855) u. Dogmatik in Tübingen (cf. ad vocem LThK 6, col. 501 sq.; BBKL 4, coll. 795-798). 112 W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte, p. 5. 113 W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte, p. 6.

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Kasper hat den Nachweis erbracht, daß Schelling nicht direkt auf Platon rekurrierte, sondern auf einen Platonismus, welcher durch christliches Gedankengut über die Jahrhunderte so sehr angereichert war, daß dieses gar nicht mehr als Beimischung empfunden wurde. So ist die Verhältnisbestimmung von Idealem und Realem ein Problem, welches seine Wirkungsgeschichte und Relevanz allein dem Christentum zu verdanken hat. Es war dessen dringendes Anliegen, die Frage nach der Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu Christi zu beantworten. Die Konzilien der ersten Jahrhunderte, vor allem jene von Nikaia (325) und Konstantinopel (381), suchten beide Naturen in Christus zu synthetisieren, um die Spaltung in ein Entweder...oder zu verhindern.114 Die Schwierigkeit bestand darin, zu erklären, wie Gott Mensch werden, wie das Göttliche sich in das Irdische einlassen, mit ihm sich verbinden könne. Die Frage der Schöpfungslehre, wie aus Gedanken Gottes Materie entstehen könne, lautet in ihrer christologischen Erweiterung: wie kann Gott Mensch werden ohne seine Absolutheit zu verlieren? Im Begriff der Inkarnation verdichtet sich die Schwierigkeit der Vermittlung und des Übergangs. Jesus ist als Christus, als Gesalbter, Gott und Mensch zugleich. Durch seine Person und das Wirken des Heiligen Geistes115 wird er zum Mittler zwischen Gott und den Menschen. „Letztlich läßt sich die Vermittlung von Gott und Mensch in Jesus Christus nur trinitätstheologisch verstehen.“116 Schellings „Band“ übernimmt die gleiche Funktion wie der Spiritus Sanctus, welcher die Ewigkeit Gottes mit der Zeitlichkeit der Welt vermittelt. „Der Geist ist also gleichsam die transzendentaltheologische Ermöglichung einer freien Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte. In ihm kann Gott seine Freiheit in der Liebe in geschichtlicher Weise nicht nur offenbaren, sondern auch verwirklichen. Der Geist als die Vermittlung zwischen Vater und Sohn ist zugleich die Vermittlung Gottes in die Geschichte.“117 114 Das nicaeno-constantinopolitanische Glaubensbekenntnis gibt bezüglich der zwei Naturen, welche Jesus Christus in sich vereint, folgende Definition: „[Credo...] in unum Dominum Iesum Christum, Filium Dei unigenitum, et ex Patre natum ante omnia saecula, Deum de Deo, lumen de lumine, Deum verum de Deo vero, genitum non factum, consubstantialem Patri: per quem omnia facta sunt; qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit de coelis, et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria virgine, et homo factus est [...]“ (Enchiridion symbolorum, 150). 115 Der Heilige Geist wird durch das nicaeno-constantinopolitanische Glaubensbekenntnis wie folgt definiert: „[Credo...] Et in Spiritum Sanctum, Dominum vivificantem [= Lebensspender], qui ex Patre Filioque procedit, qui cum Patre et Filio simul adoratur et conglorificatur [...]“ (Enchiridion symbolorum, 150). 116 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 296. 117 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 297 sq.

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Die hypostatische Union als göttliche Trinität (una substantia, tres personae) findet ihre Entsprechung in Schellings absoluter Identität von Subjekt und Objekt. Selbst der Präreflexivität des Selbstbewußtseins Jesu trägt Kaspers Theologie Rechnung: dessen „Bewußtsein der Einheit mit dem Vater war [...] kein gegenständliches Wissen, sondern eine Art Grundbefindlichkeit und Grundgestimmtheit, die ihre Konkretion in den je und je überraschenden Situationen erfuhr, in denen Jesus konkret aufging, was der Wille Gottes ist“118. Die Menschwerdung Gottes bleibt nach Kasper vor allem wegen ihrer sprachlichen Uneinholbarkeit ein „Geheimnis“. Die identifizierende Durchdringung von göttlicher und menschlicher Sphäre stoße an die Grenze des Denkens und Sprechens. Diese Grenze bedeute nicht nur, daß das Denken plötzlich abbreche und ins Unabsehbare sich verliere. „Im Glauben ist diese Grenze vielmehr gleichsam die andere Seite, das Negativ eines höchst Positiven, kein Dunkel, sondern [...] Licht [...]. Im Unterschied zum Geheimnis, das an den Grenzen philosophischen Denkens aufleuchtet, handelt es sich in der Theologie um ein inhaltlich qualifiziertes Geheimnis, das Geheimnis einer unergründlichen Liebe, zu deren Wesen es gehört, Unterschiedenes so zu vereinen, daß dabei der Unterschied respektiert wird; die Liebe“, paraphrasiert Kasper Schelling119, „ist ja in unerfindlicher Weise die Einheit zweier, die bleibend verschieden und doch gerade in ihrer wechselseitigen Freiheit ohne einander nicht sein können“120. Im direkten Vergleich dazu erinnern wir uns, was Schelling in der Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen schreibt: „Wir können das Band im Wesentlichen ausdrücken als die unendliche Liebe seiner selbst (welche in allen Dingen das Höchste ist), als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren, nur daß das Wesen des Absoluten nicht von dieser Lust verschieden gedacht werde, sondern als eben sichselber-Wollen“ (SW I/2, p. 362). Die Entsprechung der Texte bedarf keiner weiteren Erläuterung. Für die Konstruktion von Kaspers Christologie ist die Bestimmung des Begriffes der Person entscheidend. Der Person kommt jene Bedeutung zu, die bei Schelling das Individuum als Glied des Ganzen erhält. Kasper erläutert das Person-Sein vor allem als Prädikation des Gottessohnes. Durch dessen Heilsvermittlung erhalte jeder Mensch seine Würde als Person:

118 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 295. 119 Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: WW IV (ed. Schröter), 300 [Anm. von Kasper]. 120 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 296.

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„Die Person ist die Weise, wie das Allgemeine, das Sein als Horizont des Geistes, dieses Konkrete ist: sie ist der Ort, wo das Sein bei sich selber ist; [...] Die Person ist konstituiert durch die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem, Bestimmtem und Unbestimmtem, Faktizität und Transzendenz, Unendlichem und Endlichem. Sie ist diese Spannung; ihre Identität besteht darin, daß sie das Differente sein läßt. Sie ist [...] die Hegelsche Identität der Identität und Nicht-Identität.“121

Person ist also wesentlich Vermittlung. Durch seine Personalität sei der Mensch „eingespannt“ in der Horizontalen wie in der Vertikalen; er sei das Wesen der Mitte. Der unendliche Abstand jedoch, welcher Gott und Mensch trenne, könne vom Menschen her nicht „übersprungen“ werden. Diese Vermittlung könne nur von Gott her gelingen. „Der Mensch ist in seiner Personalität nur die Grammatik, potentia oboedientialis, reine und passive Möglichkeit dieser Vermittlung. Ihre Vermittlung bleibt ein mysterium stricte dictum, d. h. wir können weder das Daß noch das Wie dieser Vermittlung begreifen. Wir können nicht ableiten, daß sie Wirklichkeit wird, weil wir als Menschen nicht über Gott verfügen; noch können wir, nachdem sie geschehen ist, verstehen, wie sie geschieht, weil wir die Relation von Gott und Mensch nicht denkend umgreifen und so begreifen können. Was wir anthropologisch aufzeigen können, ist etwas rein Negatives: Die Vermittlung, wie sie in Jesus Christus geschehen ist, stellt keinen Widerspruch zum Wesen des Menschen dar, sondern ist dessen tiefste Erfüllung. Der Mensch ist in seiner Personalität gleichsam die unbestimmte Vermittlung zwischen Gott und Mensch.“122

Wir sehen: die Theologie der Gegenwart wendet ähnliche Mühen auf wie einst Schelling, um das Ineffabile zu fabilisieren. Beide ringen mit nahezu identischer Begrifflichkeit um die Kommunikabilität des inkarnierten oder zu inkarnierenden Logos. Kasper eine Freude, dem Marxismus ein Ärgernis: die Einführung eines „Jupiter“ oder „eines Gottes“ überhaupt, die starke Gewichtung der Ewigkeit bzw. Unendlichkeit in Schellings Abhandlung, sind Gedankengänge, an denen Engels verständlicherweise sich stören mußte.123 Und Marx veranlaßte eben diese ganz eigene Form der Metaphysik, Schelling zu mahnen, seines „aufrichtigen Jugendgedankens“ sich zu erinnern (wir erörterten dies im zweiten Kapitel). Gleichzeitig sollte seine geistige Herkunft den Marxismus nicht vergessen lassen, daß auch er vom 121 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 291. 122 W. Kasper: Jesus der Christus, p. 292 sq. 123 Cf. F. Engels: „Anti-Schelling“, in: MEW EB II, pp. [161]-245.

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platonisch-christlichen Denken beeinflußt bleibt, ja ohne dasselbe gar nicht hätte entstehen können. Es scheint deshalb, als sollten gerade diese Wurzeln durch eine Zurückweisung Schellings und Blochs verleugnet werden. Zum Problem der Verdinglichung allerdings haben die transzendenten Motive der Naturphilosophie in der Tat wenig beizutragen, weshalb wir nicht weiter auf sie eingehen werden. Aus dem gleichen Grunde verzichtet unsere Untersuchung auf eine Darstellung der Spätphilosophie. Der Aspekt der Totalität jedoch, die Betrachtung des Ganzen in der Verbundenheit mit seinen Teilen, öffnet den Raum für ein Denken, welches unserem Erkenntnisinteresse entgegenkommt. Erinnert sei an Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein, wo er ausdrücklich die Vergessenheit der Totalität gegenüber der Tendenz zur Vereinzelung beklagt. Schelling hilft bei der Schwierigkeit, das Ganze als Einheit in Differenz zu konzeptionalisieren. An der Frage, wie das Einzelne mit dem Ganzen (freilich unter Auslassung der Transzendenz) zusammenhängt, mit ihm zu identifizieren ist, entscheidet sich, ob die vollständige Erkenntnis des Individuellen, sei es Ding oder Person, gelingt oder auf halbem Wege stehen bleibt. 3.5.4 „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ Die erste und einzige Auflage von Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie erschien 1799. 1858 fand die Schrift Aufnahme in der Edition Sämmtliche Werke (I/3, pp. [1]-268) und, unter anderem, 2001 in der Historisch-kritische[n] Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (AA I/7, pp. [63]-271). Da in Letzterer sich neben einem ausführlichen Register und erklärenden Anmerkungen auch Schellings „Einträge ins Handexemplar“ abgedruckt finden, bevorzugen wir diese als Textgrundlage. Das Werk wurde bogenweise ausgeliefert, im Rhythmus der Lehrveranstaltungen. Dies erklärt auch den Untertitel: „Zum Behuf seiner Vorlesungen“. Der Verfasser war im Sommer 1798 auf Fürsprache Goethes als außerordentlicher Professor der Philosophie nach Jena berufen worden.124 Damit en124 Goethes Absicht war es, vor allem die Naturwissenschaften an der Universität Jena zu vermehren. Deren Aufkommen und Bedeutung war um 1800 nicht zu unterschätzen. „Eine entscheidende Rolle für die Forschung spielten die naturwissenschaftlichen Gesellschaften in Jena. Schelling wurde kurz nach seiner Ankunft [...] Ehrenmitglied der beiden wissenschaftlichen Gesellschaften in Jena, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Förderung der Naturwissenschaften gegründet wurden, nämlich der ,Naturforschenden Gesellschaft‘ und der ,Societät für die gesammte Mineralogie‘. [...] Die Naturforschende Gesellschaft war 1793 von August Johann Georg Carl Batsch gegründet worden, der auch bis zu seinem Tod 1802 die Präsidentschaft innehatte. Nach Batschs Tod

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dete seine Tätigkeit als Hofmeister. Für das Wintersemester 1798/99 hatte er zwei Kollegien angekündigt: „Die Elemente des transscendentalen Idealismus“ und „Philosophie der Natur“. Aus diesen entstand sukzessive das vollständige Buch. Das erklärt auch den im Titel verwendeten Ausdruck Entwurf: ein bewußter Hinweis auf seinen unabgeschlossenen sowie vorläufigen Inhalt. Die dazugehörige Einleitung verfaßte der Autor erst hinterher; sie wurde aber noch im gleichen Jahr, 1799, publiziert. Der Entwurf wiederholt Themen aus den Ideen und der Weltseele. Besonders in der Einleitung aber kommt es zu terminologischer Modifikation. Da Schelling nicht voraussetzten konnte, daß die Jenaer Hörer seine bis dato veröffentlichten Schriften sämtlich kannten, versuchte er, ihnen sein darin erreichtes Wissen im Laufe der Vorlesungen zusammengefaßt und schrittweise zu vermitteln. Der gesamte Entwurf steht unter Anleitung folgender Fragesequenz: „Welches ist der allgemeine Thätigkeitsquell in der Natur? Welche Ursache hat in der Natur das erste dynamische Außeinander (wovon das mechanische eine bloße Folge ist) hervorgebracht? Oder welche Ursache hat zuerst in die allgemeine Ruhe der Natur den Keim der Bewegung, in die allgemeine Identität Duplicität, in die allgemeine Homogenität der Natur den ersten Funken der Heterogenität geworfen?“ (AA I/7, p. 230).

Kaum eine dieser Fragen wird Schelling im Laufe seiner Vorlesungen mit Klarheit und ohne einen Rest an Zweifel beantworten können. Daß er es dennoch wagt, idealistisch, enthusiastisch, treibt den Text in seine gedanklichen Tiefen. In der Paraphrasierung der Problematik liegt bereits ihre Auflösung. Stets auf der Suche nach neuer Begrifflichkeit, dringt er vor bis an die Grenze des Artikulierbaren. Er wendet und verwirft altes oder verbraucht klingendes Vokabular, um den Kern der Sache zu treffen, ihn doch noch zur Darstellung zu bringen, das Unsagbare sagbar zu machen. Schelling geht davon aus, daß eine gemeinschaftliche Ursache der allgemeinen und organischen Duplizität existiert, das heißt, daß aller Differenz in der Natur Identität vorausgehen muß. Damit eröffnet sich unmittelbar, daß er auch hier unverändert an seinem Grundthema weiterarbeitet. Das Novum ist jeweils in der Terminologie sowie in den naturwissenschaftlichen Analogien zu suchen, mit welchen er die ,Urthese‘ von der Subjekt-Objekt-Identität, vom ਨȞ țĮ੿ ʌ઼Ȟ der Wirklichkeit, unterlegt. Wichtig ist hierbei des Autors Bestimmung, daß wir uns die Einheit in der Vielheit nicht einfach statisch, als Ruhe oder Bewegungslosigkeit vorzustellen wurde 1804 Goethe Präsident und blieb es bis zu seinem Tod“ (W. Jacobs et al.: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: AA I/7, pp. 3-62; p. 27 sq.).

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haben, sondern daß jene Einheit als dynamische und überhaupt nur als solche existiert. Es geht um die Deduktion, daß das Ganze nicht ist, sondern wird. Schelling lenkt die Aufmerksamkeit auf die Permanenz und den Prozeß. Denn das Unbedingte, als Synonym der absoluten Identität, nach der gesucht wird, offenbart sich nicht als Objekt oder in einem Gegenstand. Der Autor bewahrt die Einsicht aus Formund Ich-Schrift, daß das Unbedingte niemals Objekt sein kann, sondern immer nur Subjekt ist. Wie aber soll es dann jemals erkannt und gewußt werden können? Nur Gegenständliches nämlich kann Objekt der Erkenntnis sein. Alles Gegenständliche sei Erscheinung, unterscheidet Schelling, und alles Subjektive wesenhaft. Doch wie läßt sich dennoch, von der einzelnen Erscheinung ausgehend, auf die das menschliche Wissen verwiesen bleibt, ein übergeordnetes, das heißt allgemeines und unbedingtes Wesen induzieren? Wie kann also der epistemische Gang vom Objekt zum Subjekt führen? Des Verfassers Antwort gibt onto-idealistische Hinweise: Das Einzelne als Erscheinung oder „endliches Product“ sei nur ein „besondrer Abdruck“ des „SEYNS SELBST“ (AA I/7, p. 77). Zu diesem „Seyn selbst“, das im Seienden sich niederschlägt, erläutert er: „Wenn nach Principien [der Transzendentalphilosophie] alles, was ist, Construction des Geistes ist, so ist das Seyn selbst, nichts anderes als das Construiren selbst, oder da Construction überhaupt nur als Thätigkeit vorstellbar ist, nichts anders, als die höchste construirende Thätigkeit, die, obgleich selbst nie Object, doch Princip alles Objectiven ist“ (AA I/7, p. 78).

Jeweils dann, wenn die Natur tätig ist, ist sie nur Subjekt, nie Objekt. Der Akt selbst garantiert ein permanentes ,Fließen‘, welches keine ,Objektstarre‘ entstehen läßt. Die Natur ist dem Autor der Inbegriff „alles Seyns“. Es sei unmöglich, die Natur als ein Unbedingtes anzusehen, „wenn nicht im Begriff des Seyns selbst die verborgne Spur der Freiheit entdeckbar wäre. Darum behaupten wir: Alles Einzelne (in der Natur) sey nur eine Form des Seyns selbst, das Seyn selbst aber = absoluter [sic] Thätigkeit“ (l. c., p. 78). Konstruktion = Tätigkeit (in der Einleitung wird er sagen: Produktivität), so lautet die entscheidende Gleichung seiner Deduktion. Bekannter in der Gestalt des Folgesatzes: „Ueber die Natur philosophiren heißt die Natur schaffen. Iede Thätigkeit aber erstirbt in ihrem Producte, denn sie gieng nur auf dieses Product. Die Natur als Product kennen wir also nicht. Wir kennen die Natur nur als thätig – denn philosophiren läßt sich über keinen Gegenstand, der nicht in Thätigkeit zu versetzen ist. Philosophiren über die Natur heißt, sie aus dem todten Mechanismus, worinn sie befangen erscheint, herausheben, sie mit Freiheit gleichsam beleben, und in eigne freie Entwicklung versetzen – heißt, mit andern Worten, sich selbst von der gemeinen Ansicht losreißen, welche in der Natur nur, was geschieht – höchstens das Handeln als Factum, nicht das Handeln selbst im Handeln – erblickt“ (AA I/7, p. 78 sqq.).

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Das Denken wird nicht mehr als eigene Entität, sondern als Teil der Gesamtbewegung der Natur betrachtet, als deren Produkt. Dies ist nur möglich, wenn Natur als die gemeinsame Quelle von Geist und Materie anerkannt wird. Mit Hilfe des menschlichen Bewußtseins gelangt die Natur dann zur Freiheit. Im ewig unabgeschlossenen Akt des Philosophierens bildet das Unendliche sich im Endlichen ab. Schellings Konzeption hängt an der Spekulation, daß das Absolute weder ein Objekt noch ohne Bewegung sein kann, daß es weder Anfang noch Ende aufweisen darf, um die Bedingungen seiner Existenz zu erfüllen. Es kann nicht das reduzible Glied einer Kausalkette sein, denn alles, was beginnt und endet, das heißt Ursache und Wirkung kennt, diese aber nicht an sich selbst hat, bleibt ohne die Eigenschaft der Unbedingtheit. Ergo: das Absolute kann nur in permanenter Tätigkeit gesucht werden. Dort obliegt es einem fortwährendem Schwebezustand, ohne Beginn und Schluß, bar jeder mechanistischen Überprüfbarkeit. Allein in geistiger Konstruktion ist das unbedingte Naturschaffen vermittelbar. Durch „Hemmungen“ wird das unendliche Produzieren der Natur in sichtbare Produkte verwandelt. „Der ursprüngliche Grund dieser Hemmung aber muß, da die Natur SCHLECHTHIN thätig ist, doch nur wieder IN IHR SELBST gesucht werden. [...] Die Natur EXISTIRT als Product nirgends, alle einzelnen Producte in der Natur sind nur Scheinproducte, nicht das absolute Product, in welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer WIRD und nie IST“ (AA I/7, p. 81).

Nur durch die Beschränkungen als Negativa sind die produzierenden Naturkräfte als Positiva überhaupt erkennbar. Das Koinzidieren von Unendlichem und Endlichem im Produkt geschieht jedoch nur für den Augenblick, es ist kein Zustand von Dauer. Auch die Endlichkeit nämlich, in Gestalt ihrer Produkte, ist nie vollendet. Die unbestimmt anhaltende Teilbarkeit der einzelnen Produkte läßt den Verfasser auf einen unendlichen Produktionstrieb schließen. „Die Natur ist schlechthin thätig, wenn in jedem ihrer Producte der Trieb einer unendlichen Entwicklung liegt“ (l. c., p. 83). Im Gegensatz zu Platon, der die Wahrheit in der Unveränderlichkeit, als am Himmel fixierte Ideen, zu finden glaubte, sucht Schelling sie in der Bewegung. Im „Beharren“ zeige die Natur sich als Objekt, im fortwährenden Tätigsein dagegen als Subjekt. Die einzelnen Hemmungen des unendlichen Drängens der Natur, aus denen die individuellen Produkte hervorgehen, erfolgen nach bestimmten Entwicklungsstufen. Auf diese Weise sei ein geordneter Ablauf des Naturkreislaufes gewährleistet. Zirkel und Prozeß, beobachtet an der Erscheinung des Produkts, sind Analoga schlechthin für die spekulativ-idealistische (Re-) Konstruktion Schellings. Auf jeder Stufe ihrer Entwicklung sei die bildende Natur jeweils auf eine festgelegte Gestalt eingeschränkt, das heißt, in der regelmäßigen Produktion individueller Produkte ist die Natur gebunden: sie besitzt keine Freiheit. Frei ist sie allein als Ganzes, in der

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Totalität ihrer Organisation. Deshalb gelte: „Der Natur ist das Individuelle zuwider, sie verlangt nach dem Absoluten, und ist continuirlich bestrebt, es darzustellen“ (AA I/7, p. 102). Das Individuum ginge vorüber, die Gattung jedoch bliebe bestehen. „Das Individuum also muß Mittel, die Gattung Zweck der Natur scheinen – das Individuelle untergehen und die Gattung bleiben – wenn es wahr ist, daß die einzelnen Produkte in der Natur, als mislungne Versuche, das Absolute darzustellen, angesehen werden müssen“ (l. c., p. 106). Die Voraussetzung für die mehrstufige Entwicklung der organischen Natur liegt für Schelling in der „Geschlechtsverschiedenheit“. Die Trennung der Geschlechter ist ihm der entscheidende Hemmungspunkt für die unendliche Naturproduktion, um individuelle Vielheit hervorbringen zu können. Durch die Geschlechtsfähigkeit und Teilbarkeit ist die organische Natur Ursache und Wirkung an sich selbst. Alle Funktionen des Organismus erfolgen für Schelling nach chemischen Gesetzen der Materie, das Leben selbst sei ein chemischer Prozeß. Er veranschaulicht dies am Beispiel von der Wirkung des Giftes auf einen Organismus und verweist nebenbei auf die Relativität des Begriffes Gift. Für die Viper sei das Viperngift nämlich kein Gift. „Gift überhaupt ist nicht Gift, als insofern es der Körper dazu macht. Für das Gift als Gift hat der Körper keine Receptivität, als insofern er dagegen thätig ist. Das Gift greift ihn nicht an, sondern er greift das Gift an. Der letzte Effect des Gifts also [...] ist der Art sowohl als dem Grade nach bestimmt durch die Art und den Grad der Thätigkeit, welche der Organismus ihm entgegensezt, also eigentlich nicht Effect des Gifts, sondern Effekt der Thätigkeit - A“ (AA I/7, p. 120).

Mit „- A“ bezeichnet Schelling die „Receptivität des Absolut Innern“ eines Organismus „für die äußre Thätigkeit = A“. Das Innere ist Effekt der Tätigkeit des Äußeren und umgekehrt. Etwas erhält Sein nur im Moment der Entgegensetzung, im Akte des Konflikts. Auch hier geht es implizit, wie in den vorhergehenden Schriften, um die Rechtfertigung der Außenwelt des Ichs und um die Suche nach dem homogenen Grund beider. Ihn sieht Schelling in der Tätigkeit selbst. Es bleibt sein erklärtes Ziel, aller Differenz ihre Gleichheit und Auflösbarkeit nachzuweisen. Körper und Gift wirken, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Anteilbildung, solange aufeinander, bis sie sich chemisch angeglichen haben, es zum Gleichgewicht der Kräfte kommt. Es „sind A und - A selbst wechselseitig von einander Ursache und Wirkung. In der Thätigkeit, welche das Absolut-Innere dem Aeußern entgegensetzt, liegt seine Receptivität für das Aeußre, und umgekehrt von seiner Receptivität für das Aeußre hängt seine Thätigkeit ab. Weder was die Thätigkeit des Organismus, noch was seine Receptivität an sich ist, kann rein erkannt

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werden. Denn jene erlischt ohne Object, gegen welches sie ankämpft, und umgekehrt, nichts ist Object für sie, als insofern sie dagegen thätig ist“ (AA I/7, p. 120).

Jeder Organismus bildet bei Schelling einen autonomen Kreis. Dieser wieder ist Teil eines größeren Kreises. So bildet jeder das Innere eines anderen Äußeren. Ein homöostatisches Bild ergibt sich erst aus der Perspektive des Naturganzen, der Natur selbst, in deren Absolutheit sich alle einander entgegengesetzten Einzelorganismen aufheben. „Die Einheit der Organisation, genealogisch gefaßt, erklärt sich aus der Herkunft von einer gemeinsamen Grundform; die Einheit der Organisation, teleologisch gefaßt, erklärt sich aus der Annäherung an ein gemeinsames Ziel.“125 Vor zielloser Zerstreuung bleibt sie gefeit. Die evolutionäre Destination der Natur orientiert sich an einem Urprodukt, welches allen Produkten als Urbild dient, an dem sie partizipieren, indem sie sich von ihm ableiten. Gleichzeitig nähert sich die Gesamtorganisation der Natur konstant einem gemeinsamen Ziel. Genealogisch gefaßt, erklärt sich die Einheit der Naturentwicklung aus einer gemeinsamen Grundform. Teleologisch besehen, erklärt dieselbe sich aus der Approximation an ein gemeinsames Ziel. Urbild und Telos korrespondieren in platonisch-anamnetischer Weise miteinander. Alle Entwicklung strebt nach der Wiederherstellung des Urzustandes. Weiter legt Schelling dar, daß die unorganische Natur als Lebensbedingung der organischen fungiert und daß beide sich als notwendige Sphären des Weltorganismus wechselseitig bestimmen. Beide seien einander nicht fremde und getrennte Gegensätze, betont er, sondern aus gemeinsamer Quelle entsprungene. Alle Organisation geschieht aus einer fortschreitenden Differenzierung, welche aus einem Urwesen hervorgeht, das in verschiedene Produkte zerfällt, die sich selbst wieder in ähnlicher Weise differenzieren. So besteht die Natur aus einer Vielheit organisierter Körper (Individuen), welche sich beständig produzieren und reproduzieren. Wichtig ist dabei Schellings Auffassung, daß die Entstehung der einzelnen Dinge und Lebewesen nicht durch willkürliche Zusammensetzung oder Zufall geschieht, sondern durch Produktion und dynamischen Hervorgang aus dem Einen; er verwendet dafür dezidiert den Begriff „Evolution“. Organisation und Evolution sind für den Autor dasselbe. Es bedeutet in erster Linie: eine Einheit bilden sowie Ursache und Wirkung an sich selbst haben. Alle Dinge und Körper sind durch Affinität miteinander verbunden. Als logische Folge dieser Überlegungen stellt Schelling sich die Frage nach dem Ursprung der Welt. Hier erweist er einmal mehr sich als ebenso fortschrittlicher wie vorausblickender Denker, führt er doch die Entstehung des Universums 125 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 394.

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auf einen Urknall zurück (welchen er „Explosion“ nennt) und konstatiert die unendliche Ausdehnung des Weltalls. Das Universum habe, schreibt er, „vermittelst einer immer fortgehenden Explosion sich selbst hervorgebracht“ (AA I/7, p. 154). So sei auch das Werden der einzelnen Planeten auf den einen Ursprung zurückzuverfolgen. Resultate der Ur-Explosion seien die Zentrifugalbewegung und die Gravitation. Zu dieser Ansicht vom Weltanfang bemerkt Schelling, „daß man den Ursprung der Centrifugalbewegung besonders in Ansehung ihrer Richtung nicht mehr weder von einer unmittelbaren göttlichen Wirkung mit Newton abzuleiten, noch auch mit Kant dem Zufall zu überlassen braucht, sondern von einem in der Centralmasse selbst liegenden Grund, der ohne Zweifel noch viel weiter sich erstreckt, ableiten kann“ (AA I/7, p. 156). Nicht nur ist dieser Kommentar der Rubrik des „aufrichtigen Jugendgedankens“ zuzuordnen, sondern er verdeutlicht auch die Absicht des Autors, die Weltentwicklung dynamisch, nicht mechanisch, auszulegen. Dies schlägt sich bereits in der ausgewählten Terminologie nieder: Begriffe wie Explosion, Organismus, Evolution und organische Metamorphose des Universums sollen per se eine rein mechanische Kausaldeduktion verhindern. Die Bildung des Allsystems beginnt nach Schelling an einem Punkt im Raum, von dem aus es sich bis zum Selbstbewußtsein des Subjekts hinaufpotenziert. Da dies alles Hypothese bleiben muß, unternimmt er es nicht, jenen Punkt als realen Topos physikalisch zu beschreiben. Vielmehr sucht er den Gegenstand spekulativ zu explizieren: „Wenn aber die Welt nicht unendlich ist (sondern nur wird), und man annimmt, daß Eine Action, die erste Ursache der allgemeinen Regung von Einem ersten Punkt aus, nach allen Punkten fortgepflanzt wird, die einer selbstständigen Bildung fähig sind, und so in’s Unendliche fort, so wird jener erste Punkt126 wenigstens der Mittelpunkt der werdenden Schöpfung seyn. Allein die ursprünglichen, selbständigen Bildungen werden dann doch zusammen nur ein idealisches Centrum haben, ebendeswegen, weil jede einzelne selbständig d. h. durch eigne Formation sich gebildet hat, und in dem Verhältniß als jene Bildungen fortschreiten, wird auch jenes (in den leeren Raum fallende) Centrum immer in einen neuen Punkt verlegt werden“ (AA I/7, p. 157).

Mit unseren Worten: der Mittelpunkt des Universums kann stets nur der Mittelpunkt einer werdenden Schöpfung sein, nie einer seienden, da dieselbe niemals stillsteht, sondern in den unendlichen Raum sich ausdehnt. Würde das All einen fixen Mittelpunkt besitzen, entspräche das einem Anfangspunkt, der kausal sich zu126 Die Orthographie des der AA zugrundeliegenden Erstdrucks ist bisweilen uneinheitlich; so steht für Punkt auch Punct oder an Stelle von Produkt auch Product geschrieben.

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rückverfolgen ließe. Da dies jedoch die Endlichkeit des Universums bedeuten würde, geht Schelling von einem dynamischen Zentrum aus, einem Mittelpunkt, der nie Mittelpunkt ist, sondern stets Peripherie. Eine besondere Schwierigkeit bildet die Wechselwirkung von physikalischen und elektrochemischen Vorgängen im Materieprozeß. Die Frage lautet: wie kann Organisches aus Anorganischem entstehen? Oder: wie können organische und anorganische Materie einen gemeinsamen Ursprung haben? Das Prinzip, welches die anorganischen Massen in Bewegung versetzt und hält, ist der Magnetismus. Die Prinzipien, welche das organische Leben verursacht, sind die Elektrizität und die Chemie. Diese wirken durch eine ihnen zugrunde liegende Dualität, welche die Gesamtheit des Seienden prozessieren läßt. Die unendliche Ausdehnung des Universums geschieht einmal durch den kontinuierlichen Wechsel von Kontraktion und Expansion (auf diese Weise entstehen die Planeten) und zum anderen durch organische Reproduktion (woraus das, was wir allgemein als Leben bezeichnen, hervorgeht). Da Schelling unbedingt die Einheit dieser dualen Genese beweisen will, konstruiert er, daß die chemischen Vorgänge des Lebens das physikalische Wirken der Kräfte voraussetzen. Beide müssen in einer Entwicklungsreihe stehen, sonst könnten sie keinen gemeinsamen Ursprung haben. Dies erläutert er unter anderem am Beispiel des Verhältnisses von Sonne und Erde. Alle irdischen Körper seien sowohl gegen einander als auch gegen die Sonne schwer. Dies geschieht nach dem allgemeinen Gesetz der Schwere unter den Körpern, welches jedoch nicht immer so weit wirke, daß es zur vollständigen Vereinigung unter diesen kommt. Durch die Zentrifugalkraft kann dies beispielsweise verhindert werden. Sollte es denn doch einmal zur Berührung zwischen den Körpern kommen, trete also an die Stelle ihrer „Coexistenz“ die wechselseitige Durchdringung, sei das, so Schelling, „Intussusception“ zu nennen. Die Gravitation ist in einem solchen Falle dann „die Voraussetzung, aber nicht die Ursache dieser Erscheinung. Intussusception ist nicht mehr Gravitation“127. Hierfür müsse die Ursache ein chemischer Prozeß sein, jedoch durch die „Action der Sonne“ (AA I/7, p. 161) ausgelöst. Die „Action der Schwere“ gäbe zwar den „erste[n] Impuls“ (AA I/7, p. 159) dazu, komme jedoch über diesen nicht hinaus. Körper, welche nach chemischer Vereinigung strebten, seien einander verwandt. Schwere allein jedoch „ist nicht Verwandtschaft“128. Von der Sonne geht sowohl physikalische also auch chemische Wirkung auf die Erde aus, da sie nicht nur Himmelskörper ist, sondern zudem auch Licht aussendet; darin liegt ihre Besonderheit. „Da die Sonne selbst ein Glied im Weltall ist, unterworfen auch ihrerseits einem höheren Centralkörper, so ist sie nur die nächste, nicht die alleinige Ur127 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 406. 128 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 406.

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sache der irdischen Gravitation.“129 Das Medium, welches zwischen der Sonne und den Körpern auf der Erde vermittelnd wirke, sei der Sauerstoff. Er sei „Mittelglied aller chemischen Affinitäten der Erde“ (AA I/7, p. 160). Im Vergleich zu den vorangehenden Schriften ist für Schelling der Sauerstoff nun „kein Product der Erde mehr“ (l. c., p. 160), vielmehr ein „Erzeugniß der Sonne“ (l. c., p. 161), denn sonst könnte er ja nicht allen irdischen Produkten entgegengesetzt sein und diese begrenzen. „Der Sauerstoff ist dadurch allen anderen Stoffen der Erde entgegengesetzt, daß mit ihm alle andre [sic] verbrennen, während er mit keinem andern verbrennt“ (AA I/7, p. 160). Durch die besondere Nähe (Gravitation) und Eigenschaft (Licht) der Sonne kann auf der Erde (mit Hilfe des Mediums Sauerstoff) sowohl anorganische (Kräfte) als auch organische (Leben) Bewegung entstehen wie dauerhaft erhalten bleiben. Damit hat der Autor die Union der dualen Prinzipien des Alls idealiter hergestellt. Im Anschluß an die Kosmogonie kann er sich deshalb der näheren Bestimmung der chemischen Durchdringung organischer Körper zuwenden. Die erforderliche „Lebenskraft“, als „immaterielles Princip“ der Natur, geht nach Schelling aus einer allgemeinen Erregbarkeit der Körper hervor. Erregung und Erregbarkeit bedingen sich wechselseitig. Sie ereignen sich gewöhnlich zwischen dem Außen und Innen der Organismen, aber auch bloß innerhalb (im Krankheitsfalle beispielsweise). „Das Wesen des Organismus besteht in Erregbarkeit. Dieß ist aber ebensoviel, als: der Organismus ist sein eigen Object. (Nur insofern auch, als er sich selbst zugleich Subject und Object ist, kann der Organismus das Ursprünglichste in der Natur seyn, denn die Natur haben wir [...] bestimmt, als eine Causalität, die sich selbst zum Object hat)“ (l. c., p. 172). Die Erregbarkeit interessiert unseren Autor deshalb, weil er in ihr den autonomen Motor der Bewegungsabläufe im Organismus zu erkennen meint. „Der Organismus constituirt sich selbst. Aber er constituirt sich selbst, (als Object) nur im Andrang gegen eine äußre Welt. Könnte die äußre Welt den Organismus als Subject bestimmen, so hörte er auf erregbar zu seyn. Also nur der Organismus, als Object muß durch äußre Einflüsse bestimmbar seyn, der Organismus, als Subject muß durch sie unerreichbar seyn“ (l. c., p. 172). Die Erregbarkeit des Organismus bedeutet seine Anlage zu beständiger Selbstreproduktion. Das organische Leben sei, im Unterschied zum toten, ein beständiges „Reproducirtwerden (durch sich selbst)“. Dazu müsse im Organismus eine „ursprüngliche Duplicität“ existieren (l. c., p. 173). Dieses Bild ist uns aus den frühen Ich-Studien des Verfassers vertraut. Wir erinnern uns, daß er dort, im Anschluß an Fichte sowie in Abgrenzung gegen ihn, ein zweigeteiltes Ich konzipiert hatte: ein bedingtes (als Objekt) und ein unbedingtes (welches niemals Objekt, nur Subjekt sein kann). Diese Dichotomie überträgt er nun auf den Organismus. Wie 129 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 408.

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das Ich, ist der Organismus alles, was er ist, nur gegen seine Außenwelt. Gleichzeitig gibt es in ihm ein von der Außenwelt gänzlich unabhängiges Sein. Dies ist seine unbedingte Subjekt-Objekt-Identität. Soll nämlich der Organismus erregbar „(sein eigen Object), seyn, (welches äußerlich als beständige Selbstreproduction, den äußern conträren Einflüssen, entgegen, sich darstellt), so muß im Organismus etwas durch die Einflüsse seiner Außenwelt unerreichbares seyn, oder [...] ein Theil [...] des Organismus, der für die Einflüsse seiner unmittelbaren Außenwelt gar nicht unmittelbar empfänglich ist“ (AA I/7, p. 173 sq.). Den von der Außenwelt unabhängigen Teil des Organismus rechnet Schelling einer „höhere[n] Ordnung“, einer „höhern Welt“ zu. Es sind die Einflüsse einer „höhern Welt“, die seine Selbständigkeit garantieren. Dennoch bedarf der Organismus auch der ,niederen‘, irdischen, endlichen Sphäre entgegengesetzter Systeme, um sich als autonome Einheit versichern zu können, als solche zu erscheinen. Kurzum: „Jede Organisation ist nur Organisation, insofern sie gegen zwei Welten zugleich gekehrt ist. Jede Organisation eine Dyas!“ (l. c., p. 174). Wie aber gelangt die Duplizität in den Organismus? Die Duplizität des Organismus definiert der Verfasser als Sensibilität. Gehirn und Nerven seien nicht, wie üblich angenommen, Ursache der Sensibilität, sondern umgekehrt, deren Produkt, korrigiert er. Sensibilität sei der unsichtbare, „indemonstrab[le]“ „Quell’ und Ursprung des Lebens“. „Indemonstrabel“ deshalb, weil sie als Quelle aller organischen Tätigkeit nur durch und als Tätigkeit erkannt werden kann. Alle Tätigkeit zeigt sich als positive erst durch negative Entgegensetzung, so auch die Sensibilität oder Empfindlichkeit. Jede Erscheinung läßt auf eine dahinter liegende Tätigkeit schließen. Jede Tätigkeit wiederum muß eine Quelle besitzen. Allein die reale Erscheinung läßt diesen zweistufigen Rückschluß zu. Nur in ihr wird er sicht- und begreifbar. Die Fähigkeit des Körpers, auf äußere Einflüsse, das heißt Erregungen, überhaupt reagieren zu können, nennt Schelling „Perceptivität“. Wenn er sagt: Duplizität = Sensibilität, verweist er auf die oben dargestellte „höhere Welt“ und deren Einflüsse auf das innere, autonome Leben des Organismus. Dieser partizipiert durch den unendlichen Teil seines Wesens an der Unendlichkeit des höchsten Organismus, der das Ganze ist. Duplizität meint die Zweiheit seiner Zugehörigkeit. Sensibilität ist die Quelle der unendlichen Tätigkeit der Natur, deren endliche Erscheinungsform Perzeptivität und Irritabilität heißen. Auf die Sensibilität kann nur mittels Perzeptivität und Irritabilität geschlossen werden, als solche ist sie nicht zu erkennen. „Du erkennst sie nur aus dem äußern Effect, den du im Organismus als Object siehst, erkennst also nicht sie selbst, sondern nur ihre äußre Erscheinung“ (AA I/7, p. 182). Ihre Wissbarkeit ist also nur möglich als Resultat einer sichtbaren Subjekt-Objekt-Relation. In der Form absoluter Identität bliebe sie ganz für sich. Das Begriffspaar Sensibilität-Duplizität ist eine Metonymie der unbedingten SubjektObjekt-Identität. Um aber Ursache und Wirkung an sich selbst zu sein, bedarf es ih-

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rer Erweiterung. Sie muß auf ein äußeres Objekt hin sich überschreiten; das Verhältnis heißt dann: Sensibilität-Irritabilität. Mit der Ursache der Sensibilität steht es wie mit der Ursache des Lebens – wir erinnern uns an Schellings Ausführungen in der Weltseele. Da sie die Quelle aller Tätigkeit ist, kann ihr Ursprung weder nur außerhalb noch nur innerhalb der Natur liegen. Damit schreibt er ihr die gleichen Eigenschaften zu wie der Copula. Allein in der Korrespondenz des Ganzen mit dem Einzelnen in der Natur kann sie als Ursache des organischen Lebens bestimmt werden. „Es ist eine Ursache, wodurch in ein ursprünglich Identisches Duplicität kommt: Aber Duplicität in einem ursprünglich Identischen (A = A) ist nicht möglich, als, insofern die Identität selbst wieder Product der Duplicität wird, (wo denn A = A soviel heißt, als A ist das Product von sich selbst). Duplicität, oder Sensibilität (denn beides ist gleichbedeutend) ist also im Organismus nur insofern er sein eigen Object wird, die Ursache der Sensibilität also die Ursache wodurch der Organismus sein eigen Object wird“ (AA I/7, p. 182).

Sensibilität als Ursache der Einzelorganismen ist gleichursprünglich mit der Ursache der Natur selbst: „[D]ie Ursache der Sensibilität (oder was dasselbe ist, der organischen Duplicität überhaupt) muß in den letzten Bedingungen der Natur selbst sich verlieren. – Sensibilität als Phänomen steht an der Gränze aller empirischen Erscheinungen, und an ihre Ursache als das höchste ist in der Natur alles geknüpft. [...] So nämlich wie der Organismus Duplicität in der Identität ist, so ist es auch die Natur; die Eine, sich selbst gleiche, und doch auch sich selbst entgegengesetzte. Darum muß der Ursprung der organischen Duplicität mit dem Ursprung der Duplicität in der Natur überhaupt, d. h. mit dem Ursprung der Natur selbst Eines seyn“ (AA I/7, p. 183).

Da alles Sichtbare nur Darstellung eines Unsichtbaren sei, gesteht Schelling, reiche bis zum ersten Ursprung der Duplizität selbst keine Erfahrung. Weil das höhere System niemals Objekt der Erkenntnis werden könne, bliebe es im Letzten dem menschlichen Wissen unzugänglich. Wir sagten bereits: Sensibilität ist nur in ihrem Objekt, der Irritabilität, erkennbar. Ohne diese, als Erregung von außen, fiele der Organismus, gleichsam ohne Objekt, in seinen Indifferenzpunkt zurück. Es bedarf deshalb der kontinuierlichen (exogenen) Störung (= „Sensation“) des Indifferenzpunktes. Da nämlich die Tendenz aller Tätigkeit nach Schelling Homogenität ist, muß diese durch ebenso beständige Entgegensetzung gehemmt und in ihrer Neigung zum Ausgleich behindert werden. Gleichzeitig ist Irritabilität „productive Thätigkeit“, „Bildungstrieb“, da sie sich allein im „äußern Producte“ darstellt und, wenn dies geschehen ist, in diesem erlösch[t]. Sensibilität, Irritabilität und Produktionstätigkeit bilden (mit allen ihren

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Modifikationen) eine gemeinsame Kraft. Allein durch ihr reales Hervortreten sind sie einander entgegengesetzt wirksam und sichtbar. Beispiel hierfür ist der Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb. Er entstammt einer einzigen Quelle. Indem er sich selbst im Zielobjekt aufhält, wählt er seine eigene Entgegensetzung. Er ist Ursache und Wirkung seiner eigenen Erregbarkeit, deren Bedingung Sensibilität und deren Ergebnis Reproduktion heißt. „Statt der Einheit des PRODUCTS also […], […] die wir wegen der Trennung in entgegengesetzte Geschlechter [...] nicht annehmen konnten[,] haben wir nun eine Einheit der KRAFT der Hervorbringung durch die ganze organische Natur. Es ist nicht Ein Product zwar, aber doch EINE Kraft, die wir nun auf verschiedenen Stuffen der Erscheinung gehemmt erblicken“ (AA I/7, p. 219).

Letzte Ursache und Anstoß dieser Stufenfolge sei das Licht, der Bildungstrieb nur die „höhere Potenz“ eines von der Sonne ausgelösten chemischen Prozesses. Unter dieser „Action“ sei allerdings nichts Materielles zu denken, so wenig als unter dem Licht selbst. Schelling begründet seine neuen Einsichten über der Immaterialität des Lichtes folgendermaßen: „Das Licht, d. h. das, was wir LICHT nennen ist überhaupt nicht Materie, selbst nicht eine werdende, (im Werden begriffne Materie) es ist vielmehr das Werden selbst; Lichtwerdung das unmittelbarste Symbol der nie ruhenden Schöpfung. – Da das Licht keines höhern Lichts bedarf, und da es eigentlich das ist, was die äußerste Gränze unsrer Sensibilität bezeichnet, kann es nicht mehr selbst Object, d. h. Materie seyn“ (AA I/7, p. 220).

Unter Beimischung biblischer Symbolik und theologischer Sprache führt der Verfasser auch hier ein Bild an, das die Analogie der absoluten Subjekt-ObjektIdentität verspricht. Von der idealistischen Darlegung der Sensibilität als Erstursache der Naturbewegung kehrt er für einen Moment auf den Boden ,chemischer Realität‘ zurück und erklärt ergänzend das Licht zum primum movens der organischen Prozesse. Nach Schellings Ausführungen sind Licht und Magnetismus durch die Vermittlung von Sauerstoff die Ursachen für Gravitation und Bildungstrieb. Er versucht nun, unter diesen dreien einen Ursprung auszumachen, sie gemeinsam aus einer Quelle hervorgehen zu lassen. Die Einheit der Ursache allen Seins realiter zu beweisen, fällt ihm weitaus schwerer als dies idealiter zu leisten. Während er idealistisch (das, auf was nur geschlossen werden kann) alles im Begriff der Sensibilität unterzubringen weiß, hat er realistisch (das, was als wirklich angenommen werden muß) drei verschiedene (von ihm selbst konstatierte) Initiationen zu vereinigen: Magnetismus, Licht und Sauerstoff. Aus dieser Ursachentrinität erklärt er den Mag-

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netismus (der Sonne) zum Alleinurheber der organischen wie anorganischen Welt. (Wie aus dem bloßen Magnetismus jedoch das Licht, welches doch immateriell sein soll, hervorgehen kann, erklärt er leider nicht, und der Sauerstoff findet überhaupt keine Erwähnung mehr). Zweck seiner Erörterung ist es, darzulegen, daß das Prinzip der Entgegensetzung durch den Magnetismus in die Welt kommt, „daß es Ein und derselbe allgemeine Dualismus ist, der von der magnetischen Polarität an durch die electrischen Erscheinungen endlich selbst in die chemischen Heterogeneitäten sich verliert, und zuletzt in der organischen Natur wieder zum Vorschein kommt“ (l. c., p. 262). Die ursprüngliche Identität, einmal durch Differenz unterbrochen, darf, auch nach deren Aufhebung, nicht mehr Identität heißen. Sie hat ihre Unschuld verloren. Auch absolute Homogenität kann sie nicht sein. Stattdessen nennt Schelling sie Indifferenz. „[E]r ist sich in dieser Art der Bezeichnung nicht gleich geblieben.“130 Diese Unterscheidungen sind ihm heilig. Bei ihnen fühlt er sich deutlich wohler als auf dem Terrain realistischer Grundlegung. Tendenziell aber ist die Ausrichtung des Entwurfs nicht idealistischer als die der Weltseele. Weiter und von uns verkürzt, sagt Schelling dies: Der Magnetismus der Sonne weckt die Polarität der Erde. Dadurch wird Heterogenität in ihr hervorgebracht. Die Heterogenität wiederum wird durch Reproduktion oder „Vertheilung“ unterhalten. Ziel dieser Abläufe ist es, das Gleichgewicht der Kräfte (= „Indifferenzzustand“) nach deren Störung je aufs Neue wiederherzustellen. Neben der „Vertheilung“ sei aber noch eine andere Wirkungsart möglich: „durch Mittheilung“. Was ist gemeint? „Wenn nun zwischen Sonne und Erde wirklich eine Mittheilung statt findet, (wovon das Licht wenigstens das Phänomen ist), so wird die Sonne, der Erde dadurch etwas Homogenes mittheilen, wie ein electrisirter Körper dem nicht electrisirten homogene Electricität mittheilt. – Durch diese Mittheilung also kommt in das untergeordnete Product Heterogeneität, und mit ihr die Bedingung des electrischen und chemischen Processes“ (AA I/7, p. 264).

Durch „Mittheilung“ verwandelt Homogenität sich in Heterogenität, durch „Vertheilung“ erhält sich die Permanenz. Es ist Schelling deutlich daran gelegen, die Reihenfolge von Onto- und Phylogenese immer wieder neu zu bestimmen und so anzuordnen, daß beide aus einer Quelle hervorgehen. Die Differenz im Homogenen setzt sich selbst als Initiator eines dynamischen Prozesses und organischen Lebens, als ihre eigene unendliche Auflösung und Wiederherstellung. Immer geht es darum, Eins als Zwei und Zwei als Eins zu denken, ohne Alpha und Omega, als Ursache und Wirkung seiner selbst, als absolute Subjekt-Objekt-Identität.

130 K. Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, p. 427.

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Weiter hält in Schellings Naturphilosophie sich der Gedanke durch, einfache Kausalität und reine Mechanik als Erkenntnismittel zu entkräften. Dies gelingt ihm durch die Einführung des Begriffes Organismus als wirkmächtiges Gegenüber eines mechanischen Materialismus. Das Organische setzt zwar das Anorganische voraus und die Irritabilität den Magnetismus, nicht aber hat das Dynamische das Mechanische zu seiner notwendigen Bedingung. Dort verhält es sich genau umgekehrt. Daß alle Mechanik nur die Ableitung und Oberfläche der Dynamik bildet, will der Autor am Ende des Entwurfs noch einmal herausgestellt wissen: „Erst nachdem durch die höhern dynamischen Kräfte der Schauplatz gleichsam gesichert ist, können die blos mechanischen Besitz ergreiffen, die Betrachtung dieser Kräfte und ihrer Gesetze fällt nicht mehr in die Gränzen der Naturphilosophie, die nichts anders als höhere Dynamik ist, und deren Geist sich in dem Princip ausdrückt, das Dynamische als das einzig Positive und Ursprüngliche, das Mechanische nur als das Negative und Abgeleitete des Dynamischen anzusehen“ (AA I/7, p. 271).

Schellings Versuch, das Unbedingte aus dem Bedingten zu deduzieren, ist den hier aufgeführten Analogien (Sonne-Erde, Licht-Körper, Sensibilität-Duplizität etc.) ebenso gemäß wie den früheren. Der Primat des Absoluten hat bei ihm nichts von dem eingebüßt, was seine ursprüngliche Relevanz ausmachte und deretwegen sein Forschen begonnen hatte. Es bedeutet für unser Erkenntnisinteresse, daß ein unhintergehbarer Teil von Subjektivität existiert. Als Reservat erhält sich im Ich etwas, das von einer verdinglichten Außenwelt sich als unabhängig erweist. Das Bild vom Organismus ist außerdem eines, aus dem die leibliche Verfaßtheit des Ichs sich ableiten läßt. Ich ist immer auch Körper. Wie die Materie prozeßhaft, stufenweise Bewußtsein hervorbringt, dieses auf jener aufruht, so ist der Körper die Prämisse des Ichs. Der leibliche Eindruck wird noch vertieft, wenn Schelling im Zusammenhang seiner Ausführungen über den Organismus Begriffe wie Irritabilität und Perceptivität verwendet und auf die Risiken wie Möglichkeiten einer Intussusception hinweist. Mit der Definition des Organismus als Dyade oder als Duplizität macht er darauf aufmerksam, daß das Subjekt immer auch die Anlage zur Abspaltung, zur völligen (geistigen wie körperlichen) Hingabe an die Außenwelt in sich trägt. Die Gefahr besteht darin, den Subjekt-Organismus entweder in die eine oder in die andere Sphäre, der er angehört, hineinzutreiben und so den Hiatus zwischen seinen bedingten wie unbedingten Anteilen zu vergrößern. Autismus auf der einen oder Selbstverdinglichung auf der anderen Seite wären die Folgen, die es zu vermeiden gilt.

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3.5.5 „Einleitung“ (zu „Erster Entwurf…“) Noch im gleichen Jahr, da der Erste Entwurf als Buch vorlag, 1799, reichte Schelling die dazu einführenden Sätze als selbständige Veröffentlichung nach. Der vollständige Titel lautet: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder: Ueber den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft. Eine zweite, bis auf zahlreiche Druckfehler unveränderte Ausgabe wurde 1812, also noch zu des Autors Lebzeiten, im schwedischen Lund gedruckt. 1858 fand die Version von 1799 Aufnahme in die von Karl Friedrich August Schelling herausgegebenen „Sämmtliche[n] Werke“ (SW I/3, pp. [269]-326; AS 1, pp. [337]-394). 2004 fand der Erstdruck, inklusive der Einträge ins Handexemplar, Eingang in die historisch-kritische Edition (AA I/8, pp. [1]-86). Gegenüber allen früheren Schriften neu eingeführt ist der aufschlußreiche Terminus der „Produktivität [= Productivität]“. Auch im Entwurf ist dieser noch nicht zu finden, wohl aber unter den Marginalien des Verfassers. Schelling beginnt mit der wiederholten Rechtfertigung einer Naturphilosophie überhaupt, daß das Ideelle dem Reellen entspringe und deshalb nur von diesem her und aus ihm heraus verstanden werden könne. „Wenn es nun Aufgabe der Transscendentalphilosophie ist, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären; beyde Wissenschaften sind also Eine, nur durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Aufgaben sich unterscheidende Wissenschaft“ (AA I/8, p. 30). Er sucht hier bereits jene Gleichrangigkeit der beiden epistemischen Zugänge herzustellen, welcher er im Jahr darauf, mit dem System des transscendentalen Idealismus, sogar eine eigene Schrift widmen wird. Konstruktion und Erfahrung, so der Tenor, bedingten einander: „Da die letzten Ursachen der Naturerscheinungen selbst nicht mehr erscheinen, so muß man entweder darauf Verzicht thun, sie je einzusehen, oder man muß sie schlechthin in die Natur setzen, in die Natur hineinlegen“ (l. c., p. 34). Mit dem sichtbaren Hervortreten allein sei die Welt noch nicht fertig. Vielmehr gelte es, die hinter der Totalität der Erscheinungen stehenden Kräfte zu entdecken und zu beachten. Das Ganze sei nicht bloß Produkt, sondern zugleich immer produktiv. Daher aber könne es nie zu einer absoluten Identität kommen. Dieses „Schweben“ zwischen Produktivität und Produkt müsse als eine allgemeine „Duplicität der Principien“ erscheinen, wodurch die Natur in beständiger Tätigkeit erhalten und verhindert wird. Eine allgemeine Dualität als Prinzip aller Naturerklärung anzunehmen, sei darum so notwendig wie der Begriff der Natur selbst. Die Lehre von der Duplizität der Prinzipien entspricht nach Schelling einem Satz a priori. Zwei Kriterien hat ein Satz zu erfüllen, um als a priori gelten zu können: er muß erstens notwendig sein und zweitens seine empirische Probe bestehen. Kantische Einflüsse sind unübersehbar. Es gäbe kein wahres System, so der Autor, welches nicht zugleich ein

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organisches Ganzes wäre. Nur dieses ist sich causa sui. Und wenn in jedem organischen Ganzen alles sich wechselseitig trüge und unterstütze, so müßte diese Organisation als Ganzes ihren Teilen präexistieren. Nicht das Ganze nämlich entspringe aus den Teilen, sondern die Teile aus dem Ganzen. „Nicht also WIR KENNEN die Natur, sondern die Natur IST a priori, d. h. alles einzelne in ihr ist zum Voraus bestimmt durch das Ganze oder durch die Idee einer Natur überhaupt. Aber ist die Natur a priori, so muß es auch möglich seyn, sie als etwas, das a priori ist, zu erkennen, und dies eigentlich ist der Sinn unserer Behauptung“ (AA I/8, p. 36).

Daß die Totalität der Partikularität vorausgeht, ist zum Verständnis Schellingscher Naturphilosophie ebenso unhintergehbar wie die Einsicht, daß die Materie dem Begriff voransteht. Beides sind ihm Notwendigkeiten, die eine ideeller, die andere materieller Natur. Das ideelle Totum präexistiert seinen ideellen Teilen ebenso wie das materielle Totum seinen materiellen Teilen. Das materielle Ganze jedoch ist für unseren Verstand nur ideell erfaßbar. Und so zeigt Schelling sich überzeugt von den wissenschaftlichen Fähigkeiten des Idealismus: „Dieses Fragmentarische unserer Kenntnisse leuchtet erst dann ein, wenn man das blos hypothetische vom reinen Ertrag der Wissenschaft absondert, und darauf ausgeht, jene Bruchstücke des großen Ganzen der Natur wieder in einem System zu sammeln. Es ist daher begreiflich, daß speculative Physik (die Seele des wahren Experiments) von jeher die Mutter aller großen Entdeckungen in der Natur gewesen ist“ (AA I/8, p. 37).

Der Begriff der Erfahrungswissenschaft sei ein „Zwitterbegriff“, bei dem sich nichts Zusammenhängendes, oder der sich vielmehr überhaupt nicht denken lasse. „Was reine Empirie ist, ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie. [...] Reine Empirie, ihr Object sey welches es wolle, ist Geschichte (das absolut entgegengesetzte der Theorie), und umgekehrt, nur Geschichte ist Empirie“ (l. c., p. 39). Diese These kennen wir bereits aus der kurzen Abhandlung von 1797: Ist eine Philosophie der Geschichte möglich? Die Unabsehbarkeit des historischen Ganges verunmöglicht jedes a-priorische Wissen von ihm. Schellings Absicht hingegen ist es, Empirisches und Epistemisches „wie Leib und Seele zu scheiden“ und in die Wissenschaft nichts aufzunehmen, was nicht der „Construction a priori“ fähig sei. Der Gegensatz zwischen Empirie und Wissenschaft beruhe darauf, „daß jene ihr Object im Seyn als etwas fertiges und zu Stande gebrachtes; die Wissenschaft dagegen das Object im Werden und als ein erst zu Stande zu bringendes betrachtet. Da die Wissenschaft von nichts ausgehen kann, was Product d. h. Ding ist, so muß sie von dem un-

292 | O BJEKT -S UBJEKT bedingten ausgehen; die erste Untersuchung der speculativen Physik ist die über das unbedingte der Naturwissenschaft“ (AA I/8, p. 40).

Das wissenschaftliche Bemühen will Schelling allein auf das Werden, auf das Produktive gerichtet und von diesem her bestimmt sehen. Natur ist für ihn nur ein anderer Name für die Identität des Produktes und der Produktivität. „Die Natur als bloßes Product (natura naturata) nennen wir Natur als Object (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Productivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subject (auf diese allein geht alle Theorie)“ (l. c., p. 41). Als Subjekt sei die Natur immer unbedingt, als Objekt sei sie bedingt. In der gemeinen Ansicht werde die Produktivität über der Erscheinung des Produktes leicht übersehen. Ferner stimme mit diesem Begriff von Natur die Identität des Ideellen und Reellen überein, welche im Begriff eines jeden Naturprodukts mitgedacht werde „und in Ansehung welcher allein auch die Natur der Kunst entgegen gesetzt werden kann. Denn wenn in der Kunst der Begriff der That, der Entwurf der Ausführung vorangeht, so sind in der Natur vielmehr Begriff und That gleichzeitig und Eins, der Begriff geht unmittelbar in das Product über und läßt sich nicht von ihm trennen“ (l. c., 41). Übertragen auf das Thema unserer Studie entspräche dies der idealen Vorstellung von nicht-verdinglichter Arbeit – abzuschauen bei der Natur selbst. Sowohl für die sozialkritische als auch für die naturphilosophische Sphäre entsteht das Problem partieller Wahrheit erst dann, wenn alle Aufmerksamkeit nur auf die Wirkung, nicht aber auf deren Ursache sich richtet. Spekulation bedeutet für Schelling Ursachenforschung. Als reine Produktivität ist die Natur reine Identität. Um sich selbst Objekt werden zu können, sei ihre Verwandlung vom „reinen Subject[]“ in ein „Selbst-Object“ nötig. Dies sei jedoch ohne ursprüngliche Entzweiung in der Natur selbst undenkbar. „Diese Duplizität läßt sich [...] nicht weiter physikalisch ableiten, denn als Bedingung aller Natur überhaupt, ist sie das Princip aller physikalischen Erklärung, und alle physikalische Erklärung kann nur darauf gehen, alle Gegensätze, die in der Natur erscheinen, auf jenen ursprünglichen Gegensatz im Innern der Natur, der selbst nicht mehr erscheint, zurückzuführen“ (AA I/8, p. 44).

Das Produkt sei im Grunde nichts anderes als ein bloßer Punkt, „bloße Gränze“, und erst indem die Natur gegen diesen Punkt ankämpfe, würde dieser zur „erfüllten Sphäre“, zum Produkt gleichsam erhoben. Der Autor verwendet dafür ein Bild: „Man denke sich einen Strom, derselbe ist reine Identität, wo er einem Widerstand begegnet, bildet sich ein Wirbel, dieser Wirbel ist nichts Feststehendes, sondern in jedem Augenblick Verschwindendes, in jedem Augenblick wieder Entstehendes. [...] An jedem solchem Punkt

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bricht sich der Strom (die Productivität wird vernichtet), aber in jedem Moment kommt eine neue Welle, welche die Sphäre erfüllt“ (AA I/8, p. 45 sq.).

In der Natur aber könne es weder zur reinen Produktivität noch zum reinen Produkt kommen. Jene sei die absolute Negation allen Produkts, dieses die Negation aller Produktivität. „Die Natur wird also ursprünglich das Mittlere zwischen beyden seyn, und so gelangen wir zum Begriff einer auf dem Uebergang in’s Product begriffnen Productivität, oder eines Products, das ins unendliche productiv ist“ (l. c., p. 54). Das Produkt „wird also zwar in jedem Moment auf bestimmte Art productiv seyn, die Productivität wird bleiben, nicht aber das Product“ (l. c., p. 55). Wie zu erwarten, releviert Schelling den Aspekt der Unveränderlichkeit der allgemeinen Produktivität gegenüber der Vergänglichkeit der einzelnen Produkte. Letztere scheinen ihm in „unendlicher Metamorphose“ begriffen, als beständig auf dem Sprung, vom Flüssigen ins Feste, ohne jedoch die gesuchte Gestalt zu treffen. Die vollständige Aufhebung seiner eigenen Differenz bleibt ihm verwehrt. Dennoch, betont er, geschähen die Metamorphosen der Produkte nicht regellos, sondern gemäß den Gesetzen der Natur. Daß dies so sei, gewährleiste eine dynamische Stufenfolge, aus welcher jeweils die fixen Produkte kontinuierlich hervorgingen. „Das Product wird gehemmt durch Entzweiung der Productivität auf jeder einzelnen Entwicklungsstuffe“ (AA I/8, p. 60). Die organische Natur mit ihren doublierten und sich doublierenden Produkten bildet die „höhere Potenz“ der anorganischen. Schelling stellt das Prinzip auf, „daß, da das organische Product das Product in der zweiten Potenz ist, die ORGANISCHE Construction des Products wenigstens Sinnbild der URSPRÜNGLICHEN Construction ALLES Products seyn muß“ (l. c., p. 61). Durch diese spekulative Ableitung gelingt es ihm, die organische und anorganische Sphäre aus einer Quelle hervorgehen zu lassen, sie „auf einen gemeinschaftlichen Ausdruck zu bringen“ (l. c., p. 60). Die in sich selbst entzweite Produktivität ist nach Schelling die Ursache der in der Natur einander entgegengesetzten Tätigkeiten. Sie wirke als stetiger Wechsel von Differenz und Aufhebung. Ursprünglich sei die Natur reine Identität. Gleichzeitig aber enthalte dieselbe das Streben, sich selbst zu entzweien, das heißt sich als ihr eigener Gegensatz zu setzen. Und wäre „hinwiederum nicht in dem Gegensatz wieder Identität, so könnte der Gegensatz selbst nicht fortdauern“ (l. c., p. 63). Wie genau soll das vorsichgehen? „Daß aber der Gegensatz fortdaure, ist nur dadurch denkbar, daß er unendlich ist – daß die äußersten Gränzen in’s unendliche auseinandergehalten werden, so daß immer nur vermittelnde Glieder der Synthesis, nie die letzte und absolute Synthesis selbst producirt werden kann, wobey es nie zum absoluten, sondern immer nur zu relativen Indifferenzpuncten kommt“ (AA I/8, p. 64).

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Die Permanenz der Wechselwirkung bleibt erhalten, indem die erzeugte Spannung zu keiner Zeit vollständige Entladung erfährt. Dies bedeutet: das An-sich-Sein von Natur und Geschichte wird nie erreicht werden. Der Verfasser erspart uns hier jene Illusion, die nach ihm Hegel, dann Marx und nicht zuletzt Lukács in die Welt setzten. Er warnt sogar ausdrücklich, die Natur nicht zu einer Harmonie zu nötigen, welche ihrem Wesen widerspricht: „In der organischen Natur kann es zur Indifferenz auf dem Wege nicht kommen, auf welchem es in der anorganischen dazu kommt, weil das Leben eben in dem beständigen Verhindern, DAß

es zur Indifferenz komme, besteht, wodurch freilich nur ein Zustand herauskommen kann,

der der Natur gleichsam abgezwungen ist“ (AA I/8, p. 72).

Die organische Natur könne niemals zur absoluten Ruhe kommen, weil in jedem produzierten Produkt bereits wieder der „zündende Funke eines neuen Erregungsprozesses“ stecke. (Es fällt auf, daß die noch im Entwurf unter großem Aufwand explizierten Termini der Sensibilität, der Irritabilität und des Organismus in der Einleitung fast keine Erwähnung mehr finden – ein Charakteristikum des Verfassers. Gewöhnlich bedeutet dies, daß Schelling sich innerlich bereits auf die Suche nach neuer, geeigneterer Begrifflichkeit gemacht hat.) Die Dualität in der Identität, im Konflikt oder, was dasselbe ist, im Produkt angeschaut, bleibt für ihn eine unhintergehbare Konstruktion, der Kern seiner Naturphilosophie. Das Resultat, auf das jede echte Naturwissenschaft führen müsse, sei daher, daß „der Unterschied zwischen organischer und anorganischer Natur nur in der Natur als Object seye, und daß die Natur als ursprünglich-productiv über beiden schwebe“ (l. c., p. 75). Noch einmal: Für Schelling kann das Subjekt im Fluß der Tätigkeit nur Subjekt, nie Objekt sein. Der ,Zustand‘ des Tätigseins garantiert die Subjektivität. Solange ich in Aktion bin, das heißt nicht ruhe, nicht aufgehalten und gehemmt werde, bleibe ich vor jeder Objektivierung geschützt. Hemmungspunkte sind beispielsweise ein anderes Subjekt oder die Reflexion. Theoretisch unverriegelt geblieben ist dabei die Überlegung, daß es auch verdinglichte Tätigkeit gibt. Bewußtloses Handeln muß nicht immer identisches Handeln sein. Es gilt zwischen wahrer und falscher Identität zu unterscheiden. Der Sklave der Antike ist in der Verrichtung seiner Tätigkeit zwar bewußtlos und deshalb identisch, dennoch aber Objekt (seines Herrn). Nicht anders ergeht es dem Leibeigenen des Mittelalters oder dem Proletarier im Spätkapitalismus. Hier erliegt Schelling, wie nach ihm auch Hegel, einem romantisch-idealisierten Arbeits- und Tätigkeitsbegriff. Es muß daher gelten: Ich bin nur dann Subjekt der Tätigkeit, wenn diese ganz meine ist, das heißt, wenn Ich alleine ihre Ursache und ihr Erzeuger bin. Allein unter diesen Bedingungen ist es möglich, von (wahrer) Identität zu sprechen und verdinglichte Beziehungen zu verhindern.

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Und noch etwas offenbart uns die Lektüre der Naturphilosophie: Blochs Interpretation der Einleitung in den Leipziger Vorlesungen, das können wir nun sagen, hat sich besonders in zweierlei Hinsicht als stimmig erwiesen: erstens die Schrift als Postulat Schellings und Erbstück gegen die Verdinglichung aufzufassen („über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen“) sowie zweitens, dies mit Marx selbst in Verbindung zu bringen: „Bei dem Schelling-Satz, über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen, erinnern Sie sich vielleicht einer verwandt klingenden Formulierung: Über der Ware nicht den Hersteller der Ware vergessen. Dazu gehört weiterhin Marxens scharfe Kritik an der falschen Auffassung des Schicksals, als ob es hinter unserem Rücken stünde, während wir im Gegenteil durch unser Produzieren mit undurchschauter, desto kräftiger zu durchschauender Ideologie es erst erzeugt haben“ (LV 4, p. 203).

Gelungen auch, wie Bloch (in nahezu Sartrescher Manier) an die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts gegenüber seinen Handlungen erinnert. Ich habe an jedem Ding als Produkt, ebenso wie an mir selbst als Produkt, je mitgewirkt, mitproduziert, da ich prinzipiell, als ein singuläres Abbild der Natur, unendlich tätig bin. Ich bin Erzeuger und Produkt in Einem, ich habe mich als dieses oder jenes Produkt selbst gewählt. Ich bin als Produzierender mitverantwortlich für die Welt, in der ich lebe, weil auch diese mein Produkt ist. Mit dieser erweiterten, aber konsequenten Hermeneutik Schellingscher Naturphilosophie erklärt Bloch das Rätsel der Selbstverdinglichung. Selbst- meint nichts anderes als den Anteil an Selbstverantwortung, welchen das Individuum als am allgemeinen Objektivierungsprozeß beteiligtes und mitproduzierendes trägt. Selbstverdinglichung bedeutet, die (unbegriffene) Mitschuld an seiner eigenen Verobjektivierung zu tragen, mitverantwortlich dafür zu sein, zum Produkt Anderer zu werden. Mit Wörtern wie Produktivität und Produkt hat Schelling, ohne es zu ahnen, Begriffe inauguriert, durch die er unserem Zeitalter, geprägt durch Industrie, Kapital und Produktion, Ausdruck verleiht. Von der Natur abgeleitet, wurden sie zu Signaturen der Geschichte. Mit dem in der Einleitung erstmals verwendeten Terminus der Produktivität nennt er zum Produkt, Inbegriff des Fertigen und Unbeweglichen, auch das Mittel zu seiner Verflüssigung. Schelling richtet die Aufmerksamkeit wieder auf das, was dem Produkt vorangeht, es überhaupt ermöglicht. Er lenkt ab von dem, was nur Erscheinung ist. Er weiß von der Täuschung, welche vom allein Sichtbaren ausgeht. Hinter dem Schleier dessen, was vollendet scheint, verbergen sich subjektive Interessen, getarnt als ,objektive Struktur‘, ,ökonomischer Sachzwang‘ oder ,göttlicher Wille‘. In Wahrheit jedoch haben auch sie einen realen Erzeuger. Wo Zahl und Mechanik als einziges Organon der Erkenntnis gepriesen werden, hält Schelling mit Konstruktion und Dynamik dagegen. Wo Unveränderlichkeit

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und Identität unterstellt werden, garantiert er das unendliche Fortdauern von Metamorphose und Differenz. Welt steht nie still. 3.5.6 „System des transscendentalen Idealismus“ Unter dem Titel System des transscendentalen Idealismus erschien in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung zu Tübingen im Jahre 1800 Schellings nächste Veröffentlichung nach dem Entwurf und dessen Einleitung. Unsere Analyse folgt dem Jahresrhythmus seiner Publikationstätigkeit. Ein Zweitdruck wurde 1816 als Band fünf der schwedischen Gesamtausgabe der Werke Schellings in Upsala herausgegeben. Die Ausgabe Sämmtliche Werke von 1858 enthält die Schrift als Band drei der ersten Abteilung (pp. [327]-634), die historisch-kritische Edition gibt sie 2005 als Band 9,1 der Abteilung I (Werke) wieder (Editorischer Bericht, Anmerkungen und Register als Band 9,2; da das Handexemplar verlorengegangen ist, finden sich hier ausnahmsweise keine Einträge aus demselben wiedergegeben). Die Monographie ist, wie schon der Entwurf, das Ergebnis von Schellings Jenaer Vorlesungstätigkeit. Er las Transzendentalphilosophie im Sommersemester 1799 und im Wintersemester 1799/1800. Im System kehrt er zu seinem ursprünglichen, transzendentalphilosophischen Themenkreis zurück, um ihn mit dem jüngeren naturphilosophischen Ansatz zu verknüpfen. Er beabsichtigt, beide Erkenntniszugänge als einen darzustellen. Mittelfristiges Resultat ist die daraus folgende sogenannte Identitätsphilosophie, zu der die Darstellung meines Systems (1801), die Fernere[n] Darstellungen aus dem System (1802) sowie das Würzburger System (1804) zu rechnen sind. Das Wort System im Titel von 1800 ist ein Hinweis des Autors, das seit längerem bestehende Desiderat einer systematischen Gesamtschau transzendentaler Philosophie zu erfüllen. Alle Wissenschaft solle aus einer einzigen Philosophie deduziert werden, „alles Wißen von vorne gleichsam entstehen“ (AA I/9,1, p. 24) können. Vorbild muß ihm dabei Fichtes Wissenschaftslehre gewesen sein; jedoch auch die Form-Schrift kann als ein früher Versuch in dieser Richtung gelten. Es schien seinen Zwecken dienlicher, die Naturphilosophie in das Modell der Transzendentalphilosophie einzugliedern, statt umgekehrt. Nicht aber soll dies einen Regreß zur Transzendentalphilosophie bedeuten oder gar eine Abkehr von der Naturphilosophie, sondern das berechtigte Schwanken zwischen dem jeweiligen Primat der beiden Positionen. Die Tendenzen zu einer Rückbesinnung auf die Transzendentalphilosophie war dem Entwurf und seiner Einleitung bereits abzulesen. Das System stellt einen das bisherige Wissen ordnenden und sammelnden Übergang zwischen Transzendental-, Natur- und Identitätsphilosophie dar. Es steht „zwischen Schellings früheren Schriften zur Transzendentalphilosophie, die im ,System‘ in wesentlichen Aspekten einen systematisierenden Abschluß erfahren, einerseits, und, zumin-

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dest durch den Vorverweis auf Fragen der Systemstruktur und durch einzelne Themen wie Geschichte und Kunst, seinen späteren Schriften andererseits. Wenn Schelling selbst im Jahre 1801 den systematischen Entwurf seiner Identitätsphilosophie ausdrücklich als ,Darstellung meines Systems‘ bezeichnet, was die Aufzeichnung eines Systems bereits voraussetzt, scheint er anzudeuten, daß seine Schriften ab 1801 […] als Reflexion auf das bis 1800 Erreichte verstanden werden könn[]en. Auch die Fortentwicklung von Schellings Terminologie, in der nach Abfassung des ,Ersten Entwurfs‘ zentrale Begriffe wie ,Produktivität‘ und ,Potenz‘ neu hervorgetreten waren bzw. neue Bedeutung erlangten, setzt sich im ,System‘ und in den nachfolgenden Schriften fort. Speziell zur Potenzen-Terminologie finden sich im ,System‘ wichtige Neuerungen, so wenn Schelling nun von einer ,höchsten‘ Potenz spricht (AA I,9. S. 25, 46, 63, 276) und erstmals auch die Operation des ,Potenzirens‘ einführt (z. B. AA I,9. S. 146, 330).“131

Ziel der Abhandlung ist es, den Idealismus „in seiner ganzen Ausdehnung darzustellen“, das heißt „als System des gesammten Wissens“. Alle Teile der Philosophie sollen in „Einer Continuität“ und die „gesammte Philosophie als das[,] was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient“, vorgetragen werden, so der Verfasser in der Vorrede (AA I/9,1, p. 25). Er weiß um die seit Kant bestehenden Schwierigkeiten einer Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie. Die Wahrheiten der Letzteren könnten in einem System des transzendentalen Idealismus „selbst nur als Mittelglieder vorkommen, und was eigentlich von der practischen Philosophie demselben anheimfällt, ist nur das Objective in ihr, welches in seiner größten Allgemeinheit die Geschichte ist, welche in einem System des Idealismus ebensogut transscendental deducirt zu werden verlangt, als das Objective der ersten Ordnung oder die Natur“ (AA I/9,1, p. 26 sq). Nach wie vor behält die Natur ihren Vorrang gegenüber der Geschichte. Letztere dürfe nicht auf Natur reduziert werden, solle aber ihre Herkunft aus jener keinesfalls vergessen. Beide zusammen könnten allerdings aus bloß transzendentaler Perspektive erschlossen werden. Im System wird das Wissen selbst wieder zum primären Gegenstand der Philosophie. Was Wissen oder Wahrheit ist, versucht der Verfasser nicht neu zu bestimmen. Er folgt einer bewährten Definition der Scholastik: veritas est adaequatio intellectus et rei. Schelling formuliert dies so: „Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung eines Objectiven mit einem Subjectiven. – Denn man weiß nur das Wahre; die Wahrheit aber wird allgemein in die Uebereinstimmung der Vorstellungen 131 H. Korten et al.: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800), in: AA I/9,2, pp. 3-60; p. 8 sq.

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mit ihren Gegenständen gesetzt“ (AA I/9,1, p. 29). Den Inbegriff alles Objektiven nennt er Natur, den Inbegriff alles Subjektiven heißt er Ich. Ich und Natur sind sich entgegengesetzt. Das Ich sei das bloß Vorstellende, die Natur das bloß Vorgestellte. Das Ich sei das Bewußte, die Natur das Bewußtlose. Im Wissen geschehe das wechselseitige Zusammentreffen beider: „Im Wissen selbst – indem ich weiß – ist Objectives und Subjectives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und Eins“ (l. c., p. 29). Nicht interessiert hier, wer oder was das Wissen auslöst, sondern daß dasselbe auf der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt beruht. Funktion und Eigenschaft des Wissens erinnern wieder an die Copula. Das Wissen selbst wird nun zum Topos des Unbedingten. Seine Richtung und Herkunft spielen daher eine untergeordnete Rolle: „Entweder wird das Objective zum Ersten gemacht, und gefragt: wie ein Subjectives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt? [...] Oder das Subjective wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objectives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt?“ (l. c., p. 30 sq.). Das Objektive zum Ersten zu machen, entspräche der Aufgabe der Naturphilosophie, dem Subjektiven Priorität einzuräumen, käme dem Anliegen der Transzendentalphilosophie gleich. In der Einleitung repetiert Schelling einige Grundthesen aus der Ich-Schrift. Der Satz: Ich bin ist für ihn nach wie vor die „individuellste aller Wahrheiten“ (AA I/9,1, p. 34). Er ist das „absolute Vorurtheil, das zuerst angenommen werden muß, wenn irgend etwas anderes gewiß seyn soll“ (l. c., p. 34). Allerdings der Satz: Es gibt Dinge außer uns, könne für den Transzendentalphilosophen auch nur gewiß sein durch seine Identität mit dem Satz: Ich bin. Nur wenn die Übertragung der identischen Beziehung von Ich bin auf die Dinge der Außenwelt gelingt, kann dort eine analoge Gewißheit abgeleitet werden. Das jedoch bildet Schellings noch nicht vollständig aufgelöstes Kernproblem, die Frage nach dem Wie des Übergangs vom Unendlichen ins Endliche. Ursprüngliche Realität habe dem Transzendentalphilosophen allein das Subjektive. Das Objektive als solches ist für ihn zweitrangig. Das Objektive interessiert ihn nur in der Hinsicht, wie es vom Subjekt ,erzeugt‘ wird. Es ist das Objektive des Subjekts. Absolute Wahrheit kann es einzig im Subjektiven geben. Dies leitet aus dem Satz Ich bin sich ab. Und weil das Wissen ein System ist, das heißt ein Ganzes, das sich selbst trägt und in sich zusammenstimmt, das heißt den Grund seines Bestehens in sich selbst hat, kann es, wie das Ich bin, nie Objekt werden. Das Wissen des Wissens ist immer ein subjektiver Akt. Der Transzendentalphilosoph macht daher sich stets nur das Subjektive zum ,Objekt‘. Wer Wissen als gewöhnliches Objekt (außerhalb) betrachtet, als beliebigen Gegenstand, würde nie zu einem absoluten Begriff von Wissen gelangen, warnt Schelling. Absolutes Wissen sei immer ein Wissen für uns und in uns. Ob es abstrahiert von uns, jenseits dieses „ersten Wissens“, das heißt in der Realität, noch überhaupt et-

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was gäbe, dies kümmere den Transzendentalphilosophen vorerst gar nicht. Das „erste Wissen“ ist für ihn das Wissen von uns selbst, oder, was dasselbe ist, das Selbstbewußtsein. „Daß nun aber dieses Selbstbewußtseyn nur die Modification eines höhern Seyns – (vielleicht eines höhern Bewußtseyns, und dieses eines noch höhern, und so ins unendliche fort) seyn könne – mit Einem Wort, daß auch das Selbstbewußtseyn noch etwas überhaupt Erklärbares seyn möge, erklärbar aus etwas, von dem wir nichts wissen können, weil eben durch das Selbstbewußtseyn die ganze Synthesis unsers Wissens erst gemacht wird – geht uns als Transscendental-Philosophen nichts an; denn das Selbstbewußtseyn ist uns nicht eine Art des Seyns, sondern eine Art des Wissens, und zwar die höchste und äußerste, die es überhaupt giebt“ (AA I/9,1, p. 46).

Als Naturphilosophen, müßte man hier ergänzen, ginge Schelling es jedoch sehr wohl etwas an. So ist ihm das Selbstbewußtsein auch an dieser Stelle noch immer nicht der „höchste Punkt“ der Philosophie geworden. Nur innerhalb des transzendentalen Systems des Wissens ist das Selbstbewußtsein „der lichte Punkt“, welcher absolute Gewißheit garantiert. Da eine externe Warte der Erkenntnis jedoch nicht einnehmbar ist, wie auch auf ein „höheres Seyn“ nur geschlossen werden kann, bleiben wir auf die transzendentale Vermittlung als erstes Wissen angewiesen. Noch einmal: „Unbedingt weiß ich nur das, was einzig durch das Subjective, nicht durch das Objective bedingt ist“. Solch ein Wissen wird in identischen Sätzen wie A = A ausgedrückt. „Ob A überhaupt Realität hat, oder nicht, ist für dieses Wissen ganz gleichgültig“ (AA I/9,1, p. 52). A wird nur insoweit betrachtet, als es in uns gesetzt ist, das heißt für uns ist und von uns vorgestellt wird. Der Satz A = A erhält seine Evidenz unabhängig davon, welchen Inhalts A ist. „Denn der Satz sagt nur so viel: indem ich A denke, denke ich nichts anders, als A. Das Wissen in diesem Satz ist also blos durch mein Denken (das Subjective) bedingt, d. h. [...] es ist unbedingt“ (AA I/9,1, p. 52). Zum Wissen gehört jedoch, daß es über ein A = A, das heißt das reine Denken, hinausreicht, also Identität mit der Wirklichkeit außerhalb herzustellen vermag. Identität sollte nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch intendiert sein. In Bezug auf das Wissen für uns ist dann allerdings keine absolute Gewißheit mehr leistbar – so die Crux aller synthetischen Versuche. Soll, ungeachtet dieses Widerspruches, dennoch in der Verbindung des Subjekts mit der äußeren Objektwelt die gleiche unbedingte Evidenz einlösbar sein, wie im Innern des subjektiven Denkens, muß der Kreis von Subjekt und Objekt erweitert werden. Die einfache Gewißheit muß dann zurückgeführt werden auf eine höhere Gewißheit, welche jene zwischen A und B, als ihr untergeordnete, miteinschließt. Dort müsse jener „Punct“ zu finden sein, „worinn das Identische und Synthetische Eins ist, oder, irgend ein Satz, der, indem er identisch, zugleich synthetisch, und indem er synthetisch, zu-

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gleich identisch ist“ (AA I/9,1, p. 53). Es ist der „Punct“, in „welchem das Object und sein Begriff, der Gegenstand und seine Vorstellung ursprünglich, schlechthin und ohne alle Vermittlung Eins sind“ (l. c., p. 54). Wie Vorstellung und Gegenstand übereinstimmen können, sei schlechthin unerklärbar, wenn es nicht im Wissen selbst einen „Punct“ gäbe, wo beide ursprünglich Eins seien, oder, „wo die vollkommenste Identität des Seyns und des Vorstellens ist“ (l. c., p. 55). Die gesuchte Identität könne einzig dort existieren, wo das Vorgestellte zugleich auch das Vorstellende, das Angeschaute auch das Anschauende sei. „Aber diese Identität des Vorgestellten mit dem Vorstellenden ist nur im Selbstbewußtseyn; also ist der gesuchte Punct im Selbstbewußtseyn gefunden“ (l. c., p. 55). Das Selbstbewußtsein sei der „Act“, wodurch das Denkende sich selbst unmittelbar zum Objekt werde, und umgekehrt, dieser Akt, als Akt, und kein anderer, sei das Selbstbewußtsein. „Dieser Act ist eine absolut freye Handlung, zu der man wohl angeleitet, aber nicht genöthigt werden kann“ (l. c., p. 56). Dieser Satz enthält eine wesentliche Aussage für die Verdinglichungsdebatte: Selbstbewußtsein entsteht nicht durch externe Einwirkung, sondern erweist sich als ein Akt der Freiheit. Auch Schelling vermag nicht zu sagen, wann oder warum etwas zu Bewußtsein kommt, wann oder warum ich mir meiner selbst bewußt werde. Bewußtsein und Selbstbewußtsein sind nicht von außen infundierbar. Diese wichtige Erkenntnis ist direkt an Lukács zu richten, welcher gerade das Selbstbewußtsein (von Individuum und Klasse) als allein unter Anleitung entstehbar betrachtet. Das Ich ist für Schelling hier ein Produkt des Selbstbewußtseins. Denn indem „ich mir durch das Selbstbewußtseyn zum Object werde, entsteht mir der Begriff des Ich, und umgekehrt, der Begriff des Ich ist nur der Begriff des Selbstobjectwerdens“. Die ganze Realität des Ichs beruhe einzig auf diesem Akt, in welchem es entsteht, „und es ist selbst nichts, als dieser Act. Das Ich kann also nur vorgestellt werden als Act überhaupt, und es ist sonst nichts“ (AA I/9,1, p. 56). Das Ich sei also nichts anderes, als das sich Objekt werdende Denken, also nichts außer dem Denken. „Daß so vielen diese Identität des Gedachtwerdens und des Entstehens beym Ich verborgen bleibt, hat allein darinn seinen Grund, daß sie weder den Act des Selbstbewußtseyns mit Freyheit vollziehen, noch in diesem Act auf das in demselben entstehende reflectiren können“ (l. c., p. 56 sq.). Schelling will das Selbstbewußtsein hier vom gewöhnlichen, das heißt empirischen Bewußtsein, welches allein auf die Objekte der Außenwelt gerichtet ist, unterschieden wissen. Ganz anders nämlich sei der Akt, „wodurch ich meiner nicht mit dieser oder jener Bestimmung, sondern ursprünglich bewußt werde, und dieses Bewußtseyn heißt im Gegensatz

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gegen jenes, reines Bewußtseyn, oder Selbstbewußtseyn țĮIJ’ȱਥȟȠȤ[੾Ȟ]132“ (l. c., p. 57). Das Ich denke sei jenes Denken, welches (nach Kant) alle Vorstellungen begleiten können soll. Dies entspricht dem empirischen Bewußtsein. Das Ich bin jedoch sei der Satz, „welcher ohne Zweifel ein höherer Satz ist“; denn in „dem Satz: Ich denke, liegt schon der Ausdruck einer Bestimmung, oder Affection des Ich; der Satz: Ich bin, dagegen ist ein unendlicher Satz, weil es ein Satz ist, der kein wirkliches Prädicat hat, der aber eben deswegen die Position einer Unendlichkeit möglicher Prädicate ist“ (l. c., p. 57). Ich und Denken seien ununterschieden. Ich und Denken seien Eins. Das Ich sei so auch Objekt, jedoch nur für sich selbst. Es sei nicht ursprünglich in der Welt der Objekte, sondern werde erst zum Objekt dadurch, daß es selbst sich zum Objekt mache. Auf diese Weise sei es nie Objekt für etwas Äußeres, sondern allein für sich selbst. Es gilt, was schon in der Ich-Schrift Konsens war: das Unbedingte kann in der Welt der Objekte nicht vorkommen oder gesucht werden. Nahezu wörtlich wiederholt der Verfasser sein Frühwerk: „Unbedingt heißt, was schlechterdings nicht zum Ding, zur Sache werden kann. Das erste Problem der Philosophie läßt sich also auch so ausdrücken: etwas zu finden, was schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann. Aber ein solches ist nur das Ich, und umgekehrt, das Ich ist, was an sich nichtobjectiv ist“ (AA I/9,1, p. 59).

Des Autors Repetitionen, im System wie im gesamten Werk, haben den Vorteil, daß sie uns jene Inhalte seines Denkens vermitteln, welche für ihn wirkliche Kontinuität und dauerhafte Gültigkeit besitzen. Oft genug, das sahen wir, ändert oder verwirft er seine Thesen. An denen aber, die erhalten bleiben, entsteht dem Leser – wenn auch unter nicht geringen Mühen – das sich durchhaltende Grundmotiv. Das Wissen des Ichs um sich selbst, indem es sein eigenes Objekt ist, sich als solches selbst erschafft, ist für Schelling kein Wissen im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Anschauen. In Vermengung von (neu entstandener) naturphilosophischer mit (bewährter) transzendentalphilosophischer Terminologie formuliert er dies folgendermaßen: „[E]in Wissen, dessen Object nicht von ihm unabhängig ist, also ein Wissen, das zugleich ein Produciren seines Objects ist – eine Anschauung, welche überhaupt frey producirend, und in welcher das Producirende mit dem Producirten Eins und dasselbe ist“, ein solches Wissen müsse „intellectuelle Anschauung“ genannt werden (l. c., p. 59). Eine solche Anschauung sei das Ich, weil durch das Wissen des Ichs von sich selbst das Ich selbst erst entstehe. Einzig dadurch, daß es 132 Das fehlende [੾Ȟ] bei țĮIJ’ ਥȟȠȤ੾Ȟ [= vorzugsweise, schlechthin] ist ein Setzfehler des Erstdrucks von 1800. Er wurde in der AA originalgetreu übernommen. In der Ausgabe Sämmtliche Werke (I/3, p. 367) wurde er korrigiert.

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von sich wisse, könne das Ich sich selbst hervorbringen. Das Ich selbst sei ein Wissen, das zugleich sich selbst als Objekt produziere. Die ,intellektuelle Anschauung‘ sei ein Organ alles transzendentalen Denkens, denn dieses gehe darauf aus, sich selbst durch Freiheit zum Objekt zu machen. Daher steht das intellektuelle Anschauen des Ichs unter denselben Bedingungen, wie das Selbstbewußtsein: es kann nicht zu sich selbst genötigt oder von außen infundiert werden. Die ,intellektuelle Anschauung‘ „kann also nicht demonstrirt, sie kann nur gefordert werden; aber das Ich ist selbst nur diese Anschauung, also ist das Ich, als Princip der Philosophie, selbst nur etwas, das postulirt wird“ (l. c., p. 61). Das Ich ist nur, indem es sich selbst anschauend produziert. Im Ich allein sei die Identität von Sein und Produzieren ursprünglich gegeben. Nur das Ich ist Produzierendes und Produkt in Einem. Da dies ein Akt sei, in welchem Entgegengesetztes gleich gesetzt würde, sei Ich = Ich kein identischer, sondern ein synthetischer Satz. Ich = Ich entspricht nicht mehr einfach A = A, da es sich beim Ich um ein Produkt handelt, wenn auch um ein Selbstprodukt: „Durch den Satz Ich = Ich wird also der Satz A = A in einen synthetischen verwandelt, und wir haben den Punct gefunden, wo das identische Wissen unmittelbar aus dem synthetischen, und das synthetische aus dem identischen entspringt. Aber in diesem Punct fällt auch [...] das Princip alles Wissens. In dem Satz Ich = Ich muß also das Princip alles Wissens ausgedrückt seyn, weil eben dieser Satz der einzig mögliche zugleich identische und synthetische ist“ (AA I/9,1, p. 63).

Allein im Selbstbewußtsein erkennt Schelling den Begriff einer „ursprünglichen Identität in der Duplicität“, das heißt den Begriff eines ursprünglichen SubjektObjekts. Jetzt gilt es nur noch den Begriff des Selbstbewußtseins auf die Natur zu übertragen, ihn mit jener zu analogisieren, um die gewünschte Identität mit der Außenwelt herstellen zu können. Es wird hier eine mentale Fähigkeit, über welche einzig der Mensch verfügt, nämlich das Selbstbewußtsein, die Fähigkeit Ich und Ich bin zu sagen, proportional auf das Ganze der Natur transferiert – und dies zum Zwecke einer totalisierenden Gewißheits- wie Harmonieerzeugung: im Ganzen die gleiche Identität herzustellen wie im Individuum. Diese Form von Anthropomorphismus, um nichts anderes handelt es sich, kann wiederum nur aus transzendentalphilosophischer und nicht aus empirischer Perspektive induziert werden. Die Stärke des Schellingschen Idealismus, die Aufmerksamkeit auf Natur und Materie gelenkt zu haben, ist zugleich auch seine größte Schwäche. Daß Schelling den gesamten ersten und zweiten Hauptabschnitt des Systems der ausführlichen Explikation des Selbstbewußtseins widmet, zu diesem wesentlichen Begriff zurückkehrt, um von dessen Warte aus seine spekulative Gesamtschau des Wissens zu entfalten, ist auch für das Problem der Verdinglichung von Belang. Je-

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des Gewahrwerden reifikatorischer Prozesse nämlich beginnt – noch lange vor dem Wir – beim Individuum, das Ich sagt. Nur das Ich als und im Akt der Abgrenzung gegenüber dem Außen vermag die nötige Distanz zu einer übermächtigen Objektwelt herzustellen. Erst die im Inneren wahrgenommene Identität ermöglicht den Vergleich mit dem von Ungewißheit besetzten Äußeren. Das Subjekt-Objekt als Selbstbewußtsein wird zur Matrix des empirischen Bewußtseins: „Kant findet es in seiner Anthropologie merkwürdig, daß dem Kind, sobald es anfange, von sich selbst durch Ich zu sprechen, eine neue Welt aufzugehen scheine. Es ist dieß in der That sehr natürlich; es ist die intellectuelle Welt, die sich ihm öffnet, denn was zu sich selbst Ich sagen kann, erhebt sich ebendadurch über die objective Welt, und tritt aus fremder Anschauung in seine eigene“ (AA I/9,1, p. 64).

Und der Autor geht noch weiter: „Das reine Selbstbewußtseyn ist ein Act, der außerhalb aller Zeit liegt, und alle Zeit erst constituirt; das empirische Bewußtseyn ist das nur in der Zeit, und der Succession der Vorstellungen sich erzeugende“ (l. c., p. 65). Deshalb rät er eindringlich: „Die intellectuelle Anschauung ist etwas, das man fordern und anmuthen kann; wer das Vermögen einer solchen nicht hat, sollte es wenigstens haben“ (l. c., p. 66). Objekt für sich selbst sein, als Bedingung des Selbstbewußtseins, heißt sich selbst begrenzen. Ohne eine Form der Entgegensetzung kein Selbstbewußtsein. Auch in diesem Stadium der Erklärung ist zu beobachten, wie viel Mühe es Schelling bisweilen bereitet, eine reale Entgegensetzung, das heißt ein Objekt außerhalb zuzulassen. Das unbedingte Festhalten an der Unabhängigkeit und Selbsttätigkeit der subjektiven Subjekt-Objekt-Identität nimmt zum Teil autistische Züge an: „Das Ich ist eine ganz in sich beschlossene Welt, eine Monade, die nicht aus sich heraus, in die aber auch nichts von außen herein kommen kann“ (AA I/9,1, p. 72). Durch eine solche Auffassung vom Ich hat Schelling sich selbst die Schwierigkeiten bereitet, die er nun zu lösen hat. Er muß einen externen Zugang in die abgezirkelte IchMonade finden, ohne deren absolute Identität zu gefährden. Da das Ich als aktiv definiert wurde, also als einzig im Akte seiend, sich hervorbringend, kann es, so Schellings Dilemma, nur schwerlich etwas passiv (als Entgegensetzung) empfangen. Dennoch empfindet es dieses Etwas. Der Autor löst das Problem auf dieselbe Weise, wie er es schon in den Ideen tat: jede Empfindung (der Außenwelt) bedarf des (empirischen) Bewußtseins. Da Bewußtsein jedoch ein Akt ist, bleibt die Aktivität des Ichs auch beim Vorgang einer Empfindung gewährleistet. Das Ich nimmt das Entgegengesetzte als Empfindung tätig in sich auf. Dem Wort Empfinden inhäriert bereits jenes Finden, welches ihm als Aktivität ausgelegt wird: „Das Ich findet allerdings etwas Entgegengesetztes, dieses Entgegengesetzte aber doch nur in sich selbst“ (l. c., p. 98). So darf und kann die Schranke, welcher das Ich als unendliche

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Tätigkeit bedarf, um seiner selbst sich bewußt zu werden, ideell und reell zugleich sein. „Reell d. h. unabhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht wirklich begränzt ist, ideell, abhängig vom Ich, weil das Ich sonst sich nicht selbst setzt, anschaut als begränzt. Beyde Behauptungen, die, daß die Schranke reell, und die, daß sie blos ideell sey, sind aus dem Selbstbewußtseyn zu deduciren“ (l. c., p. 76). Kurzum: kein Ich ohne Nicht-Ich, keine Passivität ohne Aktivität. Idealismus und Realismus setzen sich wechselseitig und gleichberechtigt voraus. Das Ergebnis nennt Schelling „Ideal-Realismus“ (AA I/9,1, p. 78). Das Ich teilt sich in eine unendliche und endliche Tätigkeit. Die unendliche oder „reine“ Tätigkeit wird durch die endliche „fixiert“. Aktiv bleibt das Ich bei allen seinen endlichen Tätigkeiten, bei jenen also, durch welche es mittels realer Objekte gehemmt oder „fixiert“ wird. Die Grenze zwischen Ich und realer Entgegensetzung behält jedoch insofern etwas von ihrer Undurchlässigkeit, als Schelling das Objekt der Außenwelt kantisch als ,Ding an sich‘ bezeichnet. Über die realen Objekte kann nicht jene absolute Gewißheit herrschen wie innerhalb der rein subjektiven Identität. „Das Ding an sich ist also nichts anders, als der Schatten der ideellen, über die Gräntze hinausgegangenen Thätigkeit, der dem Ich durch die Anschauung zurückgeworfen wird, und in so fern selbst ein Product des Ichs“ (AA I/9,1, p. 116). Das ,Ding an sich‘ ist für den Verfasser deshalb nicht erkennbar, weil seine Provenienz und der Zusammenhang, in dem es entstanden ist, nicht bekannt sind. Anders: nicht nur das Was des Gegenstandes, sondern vor allem sein Woher und Wodurch sind (für den Nicht-Philosophen) unbegreiflich. Nur wenn das ,Ding an sich‘ nicht mehr Ding an sich heißt, sondern Produkt, wird auch verständlich, daß vor demselben noch ein (produzierendes) Subjekt existieren muß, das für das Werden jenes Produktes verantwortlich gemacht werden kann. An jeder Empfindung wirkt das Subjekt durch die Funktion seines Bewußtseins aktiv mit. Es darf daher die subjektive Beteiligung an jeder Entgegensetzung nicht unterschlagen werden. Daß alle Handlungen Wechselwirkungen sind, daß also Subjekt und Objekt gleichermaßen an ihnen partizipieren, ist eine wesentliche Erkenntnis für die Verdinglichungsdebatte. So hat der Blick nicht allein auf das Produkt gerichtet zu sein, sondern auf den ihm vorgängig Produzierenden. Diesen gilt es aus seinem bewußtlosen Zustand zu befreien und ihn über sein wahres Tätigsein aufzuklären: „Der Dogmatiker, der das Ding an sich für reell ansieht, steht auf demselben Standpunct, auf welchem das Ich im gegenwärtigen Moment steht. Das Ding an sich entsteht ihm durch ein Handeln, das Entstandene bleibt zurück, nicht die Handlung, wodurch es entstanden ist. Das Ich also ist ursprünglich unwissend darüber, daß jenes Entgegengesetzte sein Product ist, und es muß in dieser Unwissenheit bleiben, so lang es in den magischen Kreis eingeschlossen ist, den das Selbstbewußtseyn um das Ich beschreibt; der Philosoph nur, der diesen Kreis öffnet, kann hinter jene Täuschung kommen“ (AA I/9,1, p. 116).

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Und einige Abschnitte später warnt Schelling: „Für wen es z. B. in aller Thätigkeit des Geistes überall nichts Bewußtloses giebt, und keine Region, außer der des Bewußtseyns, wird so wenig begreifen, wie die Intelligenz in ihren Producten sich vergesse, als wie der Künstler in seinem Werk verloren seyn könne. Es giebt für ihn kein anderes, als das gemeine moralische Hervorbringen, und überall kein Produciren, in welchem Nothwendigkeit mit Freyheit vereinigt ist“ (AA I/9,1, p. 125).

Mit der Bestimmung seiner Wissenschaftslehre (= Transzendentalphilosophie) als Ideal-Realismus hat der Verfasser die methodische Grundlage bereitet, von der aus er zur Erklärung der Natur übergehen kann. Von der ,intellektuellen Anschauung‘ des Ichs führt der Weg zur produktiven Anschauung der Natur. Die Kunst der Zusammenführung beider Sphären, von Geist und Materie, liegt in der Reihenfolge ihrer Entstehung und dem Grad ihrer Potenzierung. Wie können Natur und Wissen übereinstimmen? Indem die Natur selbst das subjektive Bewußtsein (= das Selbstbewußtsein der Natur) als höchstmöglichen Grad der Evolution hervorbringt. Die Natur besitzt, ganz wie das Individuum, die Fähigkeit zu bewußtloser Produktion. Eine prozeßhafte, stufenartige Entwicklung garantieren die Kräfte der Physik (Repulsion und Attraktion) sowie die Wirkungen von Elektrizität und Chemie (Biologie). Ohne besondere Modifikation wiederholt Schelling einige naturwissenschaftlichen Grundthesen – wie wir sie bereits aus den Ideen, der Weltseele und dem Entwurf kennen. Am Begriff der Organisation erläutert er die Materialität einer Subjekt-Objekt-Einheit. Ihre Erscheinung als Individuum sei nichts anderes „als das verkleinerte und gleichsam zusammengezogene Bild des Universums“ (l. c., p. 189). Die Organisation als solche sei die „höhere Potenz“ der einfachen Kategorie der Wechselwirkung. „Der Grundcharakter der Organisation ist also, daß sie mit sich selbst Wechselwirkung, Producirendes und Product zugleich sey, welcher Begriff Princip aller organischen Naturlehre ist, aus welchem alle weitere Bestimmungen der Organisation a priori abgeleitet werden können“ (l. c., p. 193). Weiter sind im System noch einige Überlegungen Schellings zur „practischen Philosophie nach Grundsätzen des transscendentalen Idealismus“ im vierten Hauptabschnitt für uns von Interesse. Zweck des Kapitels ist es, nach der Naturphilosophie auch die praktische Philosophie transzendental zu deduzieren. Wenn Ersteres, muß auch Letzteres möglich sein, so die Erwägung des Autors. Ausgangspunkt ist die Frage, wie und warum Bewußtsein entsteht. Da Bewußtsein durch Beschränkung evoziert wird, ist es naheliegend und konsequent, in diesem Zusammenhang die moralphilosophische Frage nach Freiheit und Notwendigkeit zu stellen. Es muß dem Bewußtsein etwas vorgängig sein, etwas, das die Hemmung des unendlich produktiven Ichs, welche zur Selbstanschauung führt, auslöst. Schelling definiert diese Initiation als Wollen. Er beginnt das vierte Hauptstück des Systems mit der

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Feststellung, daß das Selbstbewußtsein, welches seinen Anfang im subjektiven „Wollen“ als „Selbstbestimmung“ findet, ein Handeln sei, zugegebenermaßen ein abstraktes, jedoch ein Handeln: das „Handeln der Intelligenz auf sich selbst“. Er nennt es daher „absolute Abstraction“. Eine absolute oder abstrakte Handlung zeichnet dadurch sich aus, daß sie durch keine vorhergehende Handlung bedingt ist. Eine solche Handlung ist nicht „aus der Intelligenz“ erklärbar, wenn überhaupt, so ist sie es „aus dem Absoluten in der Intelligenz selbst, aus dem letzten Princip alles Handelns in ihr“. Den Terminus Intelligenz hat Schelling im System neu eingeführt. „Die Handlung ist also allerdings erklärbar, nur nicht aus einem Bestimmtseyn der Intelligenz, sondern aus einem unmittelbaren Selbstbestimmen“ (AA I/9,1, p. 231). Dadurch ist die Handlung ein „Handeln auf sich selbst“ (l. c., p. 231). Was das Selbstbestimmen der Intelligenz (= Wollen) sei, lasse sich letztlich nur durch eigene innere Anschauung erklären. Allein im Medium des Wollens kann die Intelligenz sich selbst zum Objekt werden, oder: im Willensakt erkennt die Intelligenz sich als anschauend. Erst im Wollen wird das Ich in seiner Selbstanschauung zur „höhern Potenz“ erhoben. Da das Wollen empfunden wird, schlägt es die Brücke zwischen der intelligiblen und empirischen Sphäre des Ichs. Es schafft den (lange gesuchten) Übergang vom unendlichen zum endlichen Ich. Nur im Willensakt macht das Ich sich produzierend zum Objekt. „Dieses Producirende löst sich von dem blos idealen Ich gleichsam ab, und kann jetzt nie wieder ideell werden, sondern ist das ewig, und absolut Objective für das Ich selbst“ (l. c., p. 232). Aus der nur anschauenden Anschauung wird so zugleich eine produktive Anschauung. Noch einmal: für Schelling ist der Akt des Selbstbewußtseins der Ausdruck des Willens zur Selbstbestimmung. In diesem Akt produziert (= realisiert) das Ich sich selbst, es ist gleichermaßen Subjekt wie Objekt, Anschauendes und Angeschautes, Bestimmendes wie Bestimmtes. „Der Unterschied des Anschauens und des freyen Handelns ist nur der, daß das Ich im letztern für sich selbst producirend ist. Das Anschauende ist wie immer, wenn es blos das Ich zum Object hat, blos ideell, das Angeschaute ist das ganze Ich, d. h. das zugleich ideelle und reelle“ (l. c., p. 234). Die anschauende und praktische Tätigkeit sei Eine. Das subjektive Wollen wird im Innern empfunden und im Äußern am Produkt gespiegelt. Auf diese Weise soll die Gewißheit, welche bisher nur für das A = A als subjektives Subjekt-Objekt galt, nun auch für das Ich = Ich als objektives Subjekt-Objekt gewährleistet sein. Durch die Einführung des Wille-Begriffs löst Schelling in der Tat das Dilemma um eine adäquate Vermittlung zwischen reinem und empirischen Bewußtsein. Er ist nicht mehr nur von Analogien abhängig wie noch bei der Konstruktion seiner Naturphilosophie. Der Wille als Ich, das Ich als Wille, erhält seine sichtbare, also ganze Gestalt erst in seiner Spiegelung am Gegenstand. Ohne Wechselwirkung mit der Außenwelt bliebe das Ich nur ein halbes. Diese Einsicht ist der wesentliche Fortschritt des Verfassers gegenüber den früheren Versuchen, die Welt als Nicht-Ich zu legitimieren. Sie ist jedoch nur mög-

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lich auf der Grundlage eines propositional verstandenen Begriffes von Selbstbewußtsein. Aus all dem gelte: „Der Act der Selbstbestimmung, oder das freye Handeln der Intelligenz auf sich selbst ist nur erklärbar aus dem bestimmten Handeln einer Intelligenz ausser ihr“ (l. c., p. 238). Was bedeutet das? Hintergrund dieses Satzes bildet zum einen wieder die Frage, wie die Existenz eines Nicht-Ichs, die Tatsache, daß es etwas dem Ich Entgegensetztes gibt, zu rechtfertigen sei (nur daß Schelling das Problem hier auf moralphilosophischer Ebene diskutiert und zu lösen versucht) und zum anderen, wie es um die Selbstbestimmung als Freiheit bestellt ist, wenn zwei Freiheiten, als zwei ,Selbstbewußtseine‘, aufeinandertreffen. So wie der Autor in den Ideen nach der Wechselwirkung der physikalischen Kräfte fragte, interessiert ihn jetzt, wie die Einwirkung der einen Intelligenz auf die andere möglich sei. Und: läßt sich eine vorherbestimmte Harmonie zwischen den Intelligenzen denken, welche für eine permanente Homöostase der verschiedenen Freiheiten sorgt? Die Antwort geht mit folgender Überlegung einher: „Durch den Act der Selbstbestimmung soll ich mir selbst entstehen als Ich, d. h. als SubjectObject. Ferner, jener Act soll ein freyer seyn; daß ich mich selbst bestimme, davon soll der Grund einzig und allein in mir selbst liegen. Ist jene Handlung eine freye Handlung, so muß ich gewollt haben, was mir durch diese Handlung entsteht, und es muß mir nur entstehen, weil ich es gewollt habe. Nun ist aber das, was mir durch diese Handlung entsteht, das Wollen selbst, (denn das Ich ist ein ursprüngliches Wollen). Ich muß also das Wollen schon gewollt haben, ehe ich frey handeln kann, und gleichwohl entsteht mir der Begriff des Wollens mit dem des Ichs, erst durch jene Handlung“ (AA I/9,1, p. 239).

Wenn das Wollen (= Ich) erst durch eine Handlung entsteht, weil erst an ihr sichtbar, objektiv geworden, so folgt daraus, daß das Wollen immer zunächst unbewußt sich vollzieht. Da es aber geschieht „ehe ich frey handeln kann“, so ist die Handlung keine freie mehr. Wenn Freiheit = Bewußtsein (von sich selbst), und Bewußtsein = Reflexion, dann zeichnet Freiheit, da alle Faktizität und Existenz der Reflexion vorausgehen, sich durch Nachträglichkeit aus – was jedoch widersprüchlich ist. Der Zirkel entsteht durch Schellings doppelte Bestimmung der Freiheit. Zum einen bedeutet frei der Akt des Selbstbewußtseins (als Akt der Selbstdistanzierung). In ihm drückt sich der Wille des Ichs zu sich selbst aus. Zum anderen bedeutet frei, wenn der Grund der Selbstbestimmung „einzig und allein in mir selbst lieg[t]“ (= causa sui). Eine Freiheit ist hier der anderen vorgängig, oder, mit des Autors Worten: das Ich muß „das Wollen schon gewollt haben“. Daß aber das Wollen vor dem Wollen zum Objekt werden könnte, geschehe „unmöglich durch mich selbst“. Daraus schließt er, daß mir der Begriff des Wollens als „indirekter Grund der Selbstbestimmung“ auch durch eine äußere Intelligenz entstehen könne, ja dieser dazu be-

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dürfe. Welche Handlung aber kann dies realisieren? Antwort: „Nur durch den Begriff des Sollens entsteht die Entgegensetzung zwischen dem ideellen und producirenden Ich“ (l. c., 240). Dabei muß das Wollen jedoch immer ein freies sein, sonst ist es kein Wollen. Das Sollen darf das Wollen also nicht beschränken, sondern soll es in und zu seiner Freiheit befördern, die Voraussetzungen dafür schaffen. Nur die Bedingung der Möglichkeit des Wollens müsse im Ich ohne sein Zutun hervorgebracht werden. „Und so sehen wir denn zugleich vollständig den Widerspruch aufgelöst, daß dieselbe Handlung der Intelligenz erklärbar und unerklärbar zugleich seyn soll. Der Mittelbegriff für diesen Widerspruch ist der Begriff einer Forderung, weil durch die Forderung die Handlung erklärt wird, wenn sie geschieht, ohne daß sie deßwegen geschehen müßte. Sie kann erfolgen, sobald dem Ich der Begriff des Wollens entsteht, oder sobald es, sich selbst reflectirt, sich im Spiegel einer andern Intelligenz erblickt, aber sie muß nicht erfolgen“ (AA I/9,1, p. 240).

Aus diesen Überlegungen, welche an Sartres phänomenologischen regard d’autrui erinnern, der mich im Moment einer unbewußten Handlung ,west‘ bzw. ,sein macht‘, mir zu meiner eigenen Objektivität verhilft, leitet Schelling also eine indirekte gegenseitige Einwirkung verschiedener Intelligenzen ab. Und aus der gemeinschaftlichen Welt, die unterschiedliche Intelligenzen sich vorstellen, deduziert er eine „prästabilirte Harmonie“, welche diesen zugrunde liegen müsse. Würden die einander begegnenden, frei tätigen Subjekte nämlich ganz verschiedene Welten betrachten, könnten sie, da es keinen erkenntnistheoretischen Berührungspunkt gäbe, überhaupt nicht zusammentreffen. „Da ich den Begriff der Intelligenz nur aus mir selbst nehme, so muß eine Intelligenz, welche ich als eine solche anerkennen soll, unter denselben Bedingungen der Weltanschauung mit mir stehen, und weil der Unterschied zwischen ihr und mir nur durch die beyderseitige Individualität gemacht wird, so muß das, was übrig bleibt, wenn ich die Bestimmtheit dieser Individualität hinwegnehme, uns beyden gemein seyn“ (AA I/9,1, p. 241).

Weiter leitet Schelling die Tatsache übereinstimmender Weltanschauungen von einem „gemeinschaftliche[n] Urbild“ ab. Platonische Sichtweisen sind auch im System immer wieder explizit präsent und erkennbar. Der Autor antizipiert an dieser Stelle außerdem Thesen, welche erst später, in der Freiheit-Schrift (1809), wieder erscheinen, wo er (endliche) moralische Unterschiede zwischen Individuen für rein quantitative Differenzen erklärt gegenüber der (unendlichen) qualitativen Identität, oder Moral an sich, welche alle Verschiedenheit in sich aufhebt. Objektive Wahrheit entstünde aus unserer „gemeinschaftlichen Natur“. Deshalb sei die „gemeinschaftliche Anschauung“ auch der Boden, das Substrat, auf dem alle Wechselwir-

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kung der Intelligenzen sich ereigne. Die Intelligenz ist ein objektives und allgemeines Gut, das Individuum nur ihre beschränkte Erscheinung. Die Freiheit des einzelnen Subjekts ist in erster Linie dadurch beschränkt, daß es seiner Tätigkeiten sich nicht immer bewußt ist. Sein Wollen bleibt im Dunkeln, weil es nicht objektiv, das heißt anschaulich wird. Vollzieht eine Handlung sich jedoch frei, weil bewußt und als Ursache ihrer selbst, begegnet ihr eine Beschränkung ganz anderer Art: die objektive Welt in der Vielheit ihrer Individuen. Die Intelligenz ist aber „innerhalb dieser Eingeschränktheit wieder uneingeschränkt, so daß sich ihre Thätigkeit z. B. auf jedes beliebige Object richten kann“ (AA I/9,1, p. 243). Wähle ich ein bestimmtes Objekt unter mehreren aus, so beschränke ich mich wiederum freiwillig selbst (sofern mir die Richtung auf die übrigen Objekte nicht durch Intelligenzen außerhalb unmöglich gemacht wurde). Es sei demnach, so Schelling, eine Bedingung des Selbstbewußtseins, daß „meine Thätigkeit sich auf ein bestimmtes Object richte. Aber eben diese Richtung meiner Thätigkeit ist etwas, was durch die Synthesis meiner Individualität schon gesetzt, prädeterminirt ist. Also sind auch durch dieselbe Synthesis schon andere Intelligenzen, durch welche ich mich in meinem freyen Handeln eingeschränkt anschaue, also auch bestimmte Handlungen dieser Intelligenzen, für mich gesetzt, ohne daß es noch einer besondern Einwirkung derselben auf mich bedürfte“ (AA I/9,1, p. 243).

Die „Synthesis meiner Individualität“ entspricht inhaltlich genau dem von Sartre formulierten Seinsentwurf (projet d’être), welcher meine Handlungen bedingt. Jene „Synthesis“ bedeutet eine selbstbestimmte, und daher freie Einschränkung. Diese wird, weil es eine selbstverursachte Handlung ist, als Akt der Freiheit gewertet. Und wenn ich nun die Einschränkung in Gestalt anderer, äußerer Intelligenzen aus transzendentaler Perspektive nicht als deren, sondern als meine, weil von mir gewählte betrachte, bleiben meine Selbstbestimmung und somit meine Freiheit in jedem Handeln vollständig erhalten. Dies gilt auch für alle übrigen, an derselben Interaktion beteiligten Individuen. Jeder bleibt in seiner eigenen Freiheit. Verkehrt wäre es, meine Beschränkungen als Passivität an sich zu deuten. In Wahrheit handelt es sich nämlich um eine als Passivität erscheinende Aktivität. Anders: erst durch Aktivität von außen vermag ich mich selbst, in meiner Passivität, überhaupt als aktiv anzuschauen. Allein es zählt, daß alles, was geschieht, ich gewählt habe. Meine Welt ereignet sich als unbewußtes Wollen, das nur am Objekt zu sich selbst kommt, gleichsam ans Licht gelangt. Eben diese den Existentialismus und die Psychoanalyse vorbereitenden, gar vorwegnehmenden Einsichten vermochte Bloch, das erweist sich hier, nicht zu erfassen. Dies stellt ohne Zweifel den Mangel seiner Schelling-Interpretation dar, aber auch seiner eigenen Metaphysik, welche diese Inhalte bedauerlicherweise vernachlässigt.

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Die Möglichkeit fremder Einwirkungen in die subjektive Intelligenz ist für Schelling nichts anderes als eine freie „Negation in ihr selbst“. „Nach der gemeinen Vorstellung ist durch Activität außer mir Passivität in mir gesetzt, so daß jene das Ursprüngliche, diese das Abgeleitete ist. Nach unserer Theorie ist die unmittelbar durch meine Individualität gesetzte Passivität Bedingung der Activität, welche ich ausser mir anschaue“ (l. c., p. 246). Zwischen der positiven Einwirkung und der negativen Perzeptivität herrscht Einvernehmen insofern, als keine Seite dauerhaft die Oberhand gewinnt. Egal welche Handlungen im Einzelnen ablaufen, die Harmonie des Ganzen als Subjekt-Objekt bleibt bestehen. Das ,dynamische‘ Gleichgewicht unter den individuellen Freiheiten erhält sich. Hier geschieht eine methodische Umkehrung: der Autor überträgt seine naturphilosophischen Konstruktionen zurück in die Transzendentalphilosophie. Noch einmal: Freiheit = notwendige Beschränktheit. Sie allein führt mich zur (aktiven) Anschauung meiner selbst. Durch die Anwesenheit anderer Intelligenzen ist es mir unmöglich gemacht, alles zu wollen. Mehreres gleichzeitig zu wollen, sei wiederum möglich. Daß ich aber „von mehreren Objecten B, C, D, gerade C wähle, davon muß der letzte Grund doch in mir selbst liegen. Nun kann aber dieser Grund nicht in meiner Freyheit liegen, denn erst durch diese Beschränktheit der freyen Thätigkeit auf ein bestimmtes Object werde ich meiner bewußt, also auch frey, mithin muß, ehe ich frey, d. h. der Freyheit bewußt bin, meine Freyheit schon eingeschränkt, und gewisse freye Handlungen müssen noch, ehe ich frey bin, für mich unmöglich gemacht seyn“ (AA I/9,1, p. 247).

Da die Objektwahl ohne mein Bewußtsein getroffen wurde, also noch nicht im Akte der Freiheit, muß sie in meiner „individuellen Synthesis“ (das heißt in meinem ,Seinsentwurf‘) verborgen sein. Die Präsenz anderer Intelligenzen außer mir ist nicht nur zum Zwecke der Selbstbestimmung von Vorteil, sondern auch, um die Welt überhaupt als objektiv wahrnehmen zu können. Bisher, so Schelling, habe mir nichts die Existenz der Außenwelt beweisen können, da sie mir nur in meiner Vorstellung entsteht. Äußere Objekte sind immer Objekte für mich, niemals aber an sich. Daß Objekte an und für sich nicht außer mir sind, erhellt sich dadurch, daß, wo Objekte sind, auch Ich bin, „und selbst der Raum, in welchem ich sie anschaue, ist ursprünglich nur in mir“. Nur eine andere Intelligenz, die ebenfalls über die Fähigkeit subjektiver Anschauung verfügt, kann hier weiterhelfen, denn: „Das einzige ursprüngliche Außer mir ist eine Anschauung außer mir, und hier ist der Punct, wo zuerst der ursprüngliche Idealismus sich in Realismus verwandelt“ (l. c., p. 253). Ein weiteres Mal gelingt dem Verfasser der Übergang von Innen nach Außen, vom Subjekt zum Objekt. An keiner Stelle seiner früheren Schriften berücksichtigte er die Existenz anderer Sub-

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jekte. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß diese ebenfalls ein Ich besitzen, so sehr war er auf das einzelne Ich konzentriert. Über jene ,singuläre Egologie‘ hinauszudenken, war ihm durch die enge Konstruktion seines Idealismus nicht möglich gewesen. Ganz anders hingegen seine Rede im System: „Daß Objecte wirklich außer mir, d. h. unabhängig von mir existiren, davon kann ich nur überzeugt werden, daß sie auch dann existiren, wenn ich sie nicht anschaue“ (l. c., p. 253). Dies aber sei nur dann der Fall, wenn sie von Intelligenzen außer mir angeschaut würden. „Die von uns früher schon vorherbestimmte Harmonie in Ansehung der unwillkührlichen Vorstellungen verschiedener Intelligenzen ist also zugleich als einzige Bedingung abzuleiten, unter welchem die Welt dem Individuum objectiv wird. Für das Individuum sind die andern Intelligenzen gleichsam die ewigen Träger des Universums, und so viel Intelligenzen, so viel unzerstörbare Spiegel der objectiven Welt. Die Welt ist unabhängig von mir, obgleich nur durch das Ich gesetzt, denn sie ruht für mich in der Anschauung anderer Intelligenzen, deren gemeinschaftliche Welt das Urbild ist, dessen Uebereinstimmung mit meinen Vorstellungen allein Wahrheit ist“ (AA I/9,1, p. 253 sq.).

Wir wollen nun wissen, zu welchem moralischen Ende die dargestellten Erkenntnisse ihren Autor führen. Zu unserem Erstaunen verknüpft er sie mit der Sittenlehre Kants. Wir sagten oben, daß Schelling in der äußeren „Forderung“ eine Möglichkeit erblickt, das unbewußte Wollen des Subjekts in ein objektives zu verwandeln. Diese Idee wiederholt er nun, indem er jene „Forderung“ genauer ausformuliert: „[D]as Ich soll nichts anders wollen, als das reine Selbstbestimmen selbst, denn durch diese Forderung wird ihm jene reine, blos auf das Selbstbestimmen an sich gerichtete, Thätigkeit als Object vorgehalten. Diese Forderung selbst aber ist nichts anders, als der categorische Imperativ, oder das Sittengesetz, welches Kant so ausdrückt: du sollst nur wollen, was alle Intelligenzen wollen können. Aber was alle Intelligenzen wollen können, ist nur das reine Selbstbestimmen selbst, die reine Gesetzmäßigkeit. Durch das Sittengesetz wird also das reine Selbstbestimmen, das rein Objective in allem Wollen, insofern es blos objectiv, nicht selbst wieder anschauend, d. h. auf ein Aeusseres (empirisches) sich richtend ist, dem Ich zum Object. Nur insofern auch ist vom Sittengesetz die Rede in der Transscendental-Philosophie, denn auch das Sittengesetz wird nur deducirt als Bedingung des Selbstbewußtseyns“ (AA I/9,1, p. 272).

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Es liegt in der geistigen Raffinesse Schellings, den kategorischen Imperativ Kants133 so zu formulieren, daß er sich seinen eigenen Zwecken fügt. Seine Umgestaltung des Kantischen Gebots besteht darin, das Wollenkönnen allein auf Selbstbestimmung festzulegen, es als solches zu definieren. Kant verwendet das Wort Handeln, Schelling nicht. Er weiß warum. Wollen ist nicht unbedingt mit Handeln identisch. Er selbst lehrt im System, daß das alles Wollen nicht unmittelbar ein bewußtes, sondern zunächst ein unbewußtes ist. Kant hingegen ist die Existenz eines Unbewußten noch nicht bekannt.134 In seinem Sittengesetz geht er deshalb nur von bewußten Handlungen aus. Eine weitere Verfremdung durch Schelling besteht darin, den subjektiven Drang zur Selbstbestimmung zum Naturgesetz zu erheben. Damit setzt er den kategorischen Imperativ Kants, dessen Zweck es doch sein sollte, die sittliche Vernunft über den individuellen Eigennutz (wenn dieser nicht zum „allgemeinen Gesetz“ erweitert werden kann) zu stellen, außer Kraft. Durch nichts hätte er die ursprüngliche Forderung der Kantischen Morallehre besser in ihr Gegenteil verkehren können. Wohl suchte auch Kant das Objektive im Subjektiven, doch bestand dies für ihn in der Vernunft und nicht in der Natur. In der Version Schellings allerdings ist der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, welchen den kategorischen Imperativ auszeichnet, in der Tat eher zu realisieren als in der Fassung Kants. Dies festzustellen, ist auch für das Problem der Verdinglichung nicht unerheblich. Schelling hört in diesem Zusammenhang nicht auf, die Priorität des Ganzen gegenüber dem Einzelnen, des Objektiven gegenüber dem Subjektiven zu betonen: „Dieses Gesetz wendet sich ursprünglich nicht an mich, insofern ich diese bestimmte Intelligenz bin, es schlägt vielmehr alles nieder, was zur Individualität gehört, und vernichtet sie völlig, sondern es wendet sich vielmehr an mich, als Intelligenz überhaupt, an das, was das rein Objective in mir, das Ewige unmittelbar zum Object hat, nicht aber an dieses Objective selbst, insofern es auf ein vom Ich verschiedenes und unabhängiges Zufälliges gerichtet ist, und ist ebendarum allein auch die Bedingung, unter welcher die Intelligenz sich ihres Bewußtseyns bewußt wird“ (AA I/9,1, p. 272 sq.). 133 „Der kategorische Imperativ ist also ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, p. 421). 134 Kant erklärt: „Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? [...] Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele“ (I. Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, I, § 5., BA 15 sq.).

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In Umkehr des Hegelschen Diktums von der „List der Vernunft“ ließe hier sich von der ,List der Natur‘ sprechen, welche das Individuum zu seinem Nutzen instrumentalisiert. In diesem Falle geschieht die Objektivierung des Subjekts durch die Natur und nicht, wie wir es auch kennen, durch die Geschichte. Nur dann nämlich würde die Objektivierung Verdinglichung heißen. Das Objektive im Subjekt bezeichnet der Verfasser als „Naturtrieb“. Dieser Trieb sei der, welcher in der Moral auch der eigennützige genannt werde und sein Objekt sei das, was man im weitesten Sinne „Glückseligkeit“ nenne. Mit dem Gedanken der İ੝įĮȚȝȠȞ઀Įȱmengt Schelling, neben Kant, auch Aristoteles in seine moralischen Ansichten hinein. Der Trieb nach individuellem Glück sei in jedem Individuum naturgemäß so verankert, daß derselbe nicht etwa erst unter hohem Aufwand künstlich geweckt werden müsse. Statt dessen könne in dieser Sache der Natur selbst vertraut werden. „Es existirt kein Gebot, kein Imperativ der Glückseligkeit. Es ist widersinnisch [sic], einen solchen zu denken, denn was von selbst, d. h. nach einem Naturgesetz geschieht, braucht nicht geboten zu werden. Jener Glückseligkeitstrieb, (so nennen wir ihn der Kürze halber, die weitere Entwicklung dieses Begriffs gehört in die Moral), ist nichts anders, als die dem Ich wieder objectiv gewordene objective, auf ein vom Wollen unabhängiges gehende Thätigkeit, ein Trieb, der also so nothwendig ist, als das Bewußtseyn der Freyheit selbst“ (AA I/9,1, p. 274).

Der Autor schließt den Kreis von Freiheit und Notwendigkeit, indem er beide, vermittelt durch Natur und Individuum, für identisch erklärt. Die Bestimmung der Welt ist Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist der absolute Wille, welcher dem Universum zugrunde liegt. Er ist das, was Schelling auch Weltseele nennt. Mein Wille als Freiheit, ist nur die Erscheinung des absoluten Willens als absoluter Freiheit. Alles Handeln ist daher „nur zu begreifen durch eine ursprüngliche Vereinigung von Freyheit und Nothwendigkeit. Der Beweis ist, daß jedes Handeln, sowohl das des Individuums, als das der ganzen Gattung, als handeln [sic] frey, als objectiver Erfolg aber als unter Naturgesetzen stehend gedacht werden muß. Subjectiv also, für die innere Erscheinung handeln wir, objectiv handeln nie wir, sondern ein Anderes gleichsam durch uns“ (AA I/9,1, p. 304). Diese Äußerungen gegen Ende des Systems sind die Vorboten der unaufhaltsamen Entzweiung mit Fichte. Die Crux, welche den Hauptunterschied zur Wissenschaftslehre offenbart, besteht in der Duplizität der Freiheit. Die Freiheit des Ichs und die Freiheit der Natur (als das Ganze) sind einander entgegengesetzt und doch geht die eine aus der anderen hervor, ist deren Produkt. Im Individuum äußert sich diese Antinomie im Verhältnis von bewußtem zu unbewußtem Wollen. Die Freiheit des einzelnen Subjekts bildet nur eine Filiation der absoluten Freiheit, welche Natur ist. Da Schelling jedoch die Natur auch als Intelligenz beschreibt, welche sich des Indi-

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viduums bedient, um in ihm sich selbst anzuschauen (was nach der transzendentalen Selbstreflexion des Wissens klingt), kommt der Verdacht auf, daß die wahre Differenz zu Fichte nicht im Gegensatz Idealismus-Realismus liegt, sondern subjektiver und objektiver Idealismus heißt. Das Objektive, schreibt der Autor gegen Ende, das „durch mich handelt[,] soll nun aber doch wieder ich seyn. Nun bin aber ich nur das Bewußte, jenes andere dagegen das Unbewußte. Also das Unbewußte in meinem Handeln soll identisch seyn mit dem Bewußten“ (l. c., p. 304). Mit dem letzten Satz hat der Verfasser des Systems den wichtigsten Imperativ gegen die Verdinglichung artikuliert. Kann es doch angesichts unbegriffener Mächte, seien diese Natur oder Geschichte, allein darum gehen, unbewußte Prozesse in bewußte, und somit in freie, zu verwandeln. Kürzer: alle Freiheit beginnt mit der individuellen Selbstbestimmung, von der aus sie in Allianz mit anderen Intelligenzen die objektive Welt, das heißt die Wahrheit des Ganzen, zu erkennen vermag. Die Teilung von Natur und Subjekt in die Sphären des Bewußten und Unbewußten, welche in dieser expliziten Form zum ersten Mal im System beschrieben wird, führt Schelling zu der Konsequenz, am Ende seiner Abhandlung noch zum Phänomen der Ästhetik sich zu äußern. In der Kunst nämlich, so der Autor, drücke jenes unbewußte Produzieren von Natur und Individuum sich gemeinschaftlich aus. Dort falle das unbewußte Schaffen von Natur und Mensch in eins. Der Künstler ist der, welcher im Auftrag der Natur handelt, als ihr Substitut produziert und Unbewußtes in Bewußtes transformiert. Das Kunstwerk reflektiert die Identität von bewußter und bewußtloser Tätigkeit. (Schelling macht bei der Verwendung der Prädikate bewußtlos und unbewußt keinen Unterschied). „Ebenso wie der verhängnißvolle Mensch nicht vollführt, was er will, oder beabsichtigt, sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter dessen Einwirkung er steht, vollführen muß, so scheint der Künstler, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich Objective in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert, und ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist“ (AA I/9,1, p. 317 sq.).

Die Kunst sei die einzige und ewige Offenbarung, die es gäbe, und das Wunder, das, „wenn es auch nur Einmal existirt hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte“ (l. c., p. 318). Der Grundcharakter des Kunstwerks sei daher eine bewußtlose Unendlichkeit. Der Künstler scheine in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht hinein gelegt habe, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig sei. Als Beispiel führt Schelling die griechische Mythologie an. Von ihr sei es unleugbar, daß sie einen „unendlichen Sinn und Symbole für alle Ideen“

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in sich schließe. Jedes wahre Kunstwerk eröffne, „als ob eine Unendlichkeit von Absichten darinn wäre“, die Möglichkeit zu unendlicher Auslegung, wobei nie genau sich sagen ließe, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe oder allein im Kunstwerk. „Dagegen in dem Product, welches den Charakter des Kunstwerks nur heuchelt, Absicht und Regel an der Oberfläche liegen und so beschränkt und umgräntzt erscheinen, daß das Product nichts anders als der getreue Abdruck der bewußten Thätigkeit des Künstlers, und durchaus nur ein Object für die Reflexion, nicht aber für die Anschauung ist, welche im Angeschauten sich zu vertiefen liebt, und nur auf dem Unendlichen zu ruhen vermag“ (AA I/9,1, p. 320).

Der Künstler scheint das Unmögliche zu schaffen: er produziert ein reales Objekt ohne in der Reflexion an demselben oder an dasselbe sich verlieren zu müssen. Er und der Betrachter können bei sich selbst bleiben. Sie sehen die empirische Welt an, ohne als Subjekt-Objekt sich zu verlieren. Dies gewährleistet die Anwesenheit der Unendlichkeit im angeschauten Objekt. Obwohl das Artefakt außerhalb existiert, kommt es durch die Anschauung nicht zu jener Trennung von Subjekt und Objekt, zu der es durch Reflexion kommt. „Denn die ästhetische Anschauung eben ist die objectiv gewordene intellektuelle“ (l. c., p. 325). Die ,intellektuelle Anschauung‘, die bislang allein für das Ich bin galt, wird von Schelling erstmals auf die Außenwelt angewendet. Diese logische Erweiterung gelingt ihm, indem er das Kunstwerk nicht als veritables Objekt betrachtet, sondern als ein Produkt, in dem mittels der Schönheit sich die Unendlichkeit spiegelt. Platons Ansichten zur Ästhetik, als wesentlicher Teil seiner Ideenlehre, ermöglichen unserem Verfasser den Ausweg aus der Isolation des ,objektfreien‘ Satzes Ich bin. Die Welt der Objekte ist dann keine im herkömmlich-empirischen Sinne mehr, wenn menschliche oder natürliche Produkte die Bedingung eines Kunstwerks erfüllen, das heißt jene Schönheit verkörpern, in der das Unendliche aufscheint. In Ansehung dessen traut Schelling der Kunst sogar zu, die entstandene Differenz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Anschauendem und Angeschautem, zu überwinden: „Die Philosophie geht aus von einer unendlichen Entzweyung entgegengesetzter Thätigkeiten; aber auf derselben Entzweyung beruht auch jede ästhetische Production, und dieselbe wird durch jede einzelne Darstellung der Kunst vollständig aufgehoben“ (l. c., p. 326). Das Hervorbringen des Artefakts unterbricht die unendliche Tätigkeit und sorgt gleichzeitig für ihren ununterbrochenen Fortgang. Im Kunstwerk koinzidieren auf einmalige Weise Reflexion und Anschauung, Bewußtsein und Unbewußtes. Weiter muß das Kunstprodukt zweckfrei sein, denn sonst könnte es nicht die Natur repräsentieren, welche keinen Zweck kennt, außer sich selbst. Aus der Unabhängigkeit von äußern Zwekken nämlich erst entspringe die „Heiligkeit und Reinheit der Kunst“ (AA I/9,1, p. 322).

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Durch diese seine aus Transzendental- und Naturphilosophie gewonnenen Erkenntnisse über die Ästhetik kommt Schelling zu dem Schluß, daß, idealerweise, auch die Philosophie wie ein Kunstwerk beschaffen sein sollte. So nämlich fungiere die Philosophie selbst wie eine ,intellektuelle Anschauung‘ und käme der absoluten Wahrheit und Gewißheit näher als durch die endlichen Methoden der Reflexion. Die Form, welche die philosophische Wissenschaft als Kunst anzuziehen habe, sei die Dichtung, genauer: die Mythologie. Das bedeutet, daß die Philosophie, „so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poësie gebohren, und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poësie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist“ (AA I/9,1, p. 329).

Die Kunst allein als das „ewige Organon und Document der Philosophie“ vermöge zu beurkunden, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen könne, nämlich das Bewußtlose im Handeln und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunst sei eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm jenes „Allerheiligste“ gleichsam öffne, „wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme“ brenne, was in Natur und Geschichte gesondert sei, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken „ewig sich fliehen“ müsse. Und als wollte Schelling dem eigenen theoretischen Anspruch genügen, indem er mit praktischem Beispiel vorangeht und zum Poeten, zum dichtenden Denker wird, fährt er fort: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschloßen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyßee des Geistes darinn erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten. Jedes herrliche Gemählde entsteht dadurch gleichsam, daß die unsichtbare Scheidewand aufgehoben wird, welche die wirkliche und idealistische Welt trennt, und ist nur die Öffnung, durch welche jene Gestalten und Gegenden der Phantasiewelt, welche durch die wirkliche nur unvollkommen hindurchschimmert, völlig hervortreten. Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Philosophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen erscheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existirt“ (AA I/9,1, p. 328).

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Auch in Bezug auf das Kunstwerk gilt, was Schelling zuvor im Hinblick auf Freiheit und Notwendigkeit resümierte: erst die Anwesenheit des Anderen, der anderen Intelligenz, welche auch und gerade im Künstler in Erscheinung tritt, ermöglicht dem Individuum in den Akt der Selbstbestimmung einzutreten. Denn indem ich das Unendliche im Kunstwerk oder in der Natur anschaue, werde ich auch und zugleich meiner selbst und meiner eigenen Unendlichkeit bewußt. Im System begegnet uns beim Autor zum ersten Mal so etwas wie eine Theorie der Intersubjektivität im Rahmen transzendentalphilosophischer Überlegungen: Ich gelange nicht zu mir selbst ohne die von mir unabhängige Außenwelt, welche mir als Spiegel dient, in dem ich mich selbst anschaue. Die Reflexion, in den Frühschriften desavouiert, erhält nun ihre Kantische Dignität zurück: sie wird zur Bedingung der Konstitution des Ichs. Diese Einsicht darf als eigentliche Novität des Systems betrachtet werden. Hegel wird diese Passagen sorgfältig studiert haben, ging doch aus ihnen das berühmte Kapitel IV135 der Phänomenologie hervor, Grundlage des Marxismus und Vorbild für Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtseins. All dies findet seinen Ursprung in Schelling. 3.5.7 Zur Wirkungsgeschichte des „Systems“ Das geistige wie persönliche Auseinandertreten von Fichte und Schelling war, wie meist bei Brüchen dieser Art, keine gegenseitige Spontanentscheidung. Ebenso lange wie zeichenreich bahnte der Moment der Entzweiung sich an. Auch bei Lukács und Bloch war dies zu beobachten. Noch bevor die gestörte Kommunikation zwischen Schelling und Fichte in der Korrespondenz ab 1801 ihren offiziellen Ausdruck findet, war sie von Hegel bereits benannt. Und dies, interessanterweise, unmittelbar nach der Veröffentlichung des Systems. Nicht ohne Grund beginnt der Titel von Hegels in Jena verfaßter, erster Publikation mit dem Wort Differenz. Damit war alles Wesentliche schon ausgesprochen. Die Abhandlung Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, gedruckt im Sommer 1801, war ursprünglich, eine (auch von Schelling angestoßene) Initiative gegen die sogenannte Reflexionsphilosophie. Gleichzeitig bestimmt Hegel darin zum ersten Mal seine eigene Position. Die Abhandlung trägt essentiell zum Verständnis der nur wenige Jahre später erschienenen Phänomenologie des Geistes bei. Die DifferenzSchrift war eine Reaktion sowohl auf Schellings ein Jahr zuvor veröffentlichtes Werk System des transscendentalen Idealismus als auch auf seine zu Beginn des 135 Es trägt den Titel „Wahrheit und Gewißheit seiner selbst. A. Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft. B. Freiheit des Selbstbewußtseins [...]“.

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Jahres 1801 veröffentlichte Darstellung. Auf beide Schriften nimmt Hegel darin Bezug.136 Mit klarem Blick, trefflich verdichtet, erkennt und erläutert er die entscheidenden Unterschiede zwischen Fichte und Schelling, indem er, teilweise zumindest, die Argumentation des Schellingschen Systems von 1800 wiederholt. Für die Philosophie Fichtes gelte, so Hegel, daß das Prinzip der Identität nicht zum Prinzip des Systems werde, denn: das Subjekt-Objekt trete aus der Identität heraus, um als differenziertes „ins Kausalitätsverhältnis versetzt“ zu werden; „so wie das System sich zu bilden anfängt, wird die Identität aufgegeben, das System selbst ist eine konsequente verständige Menge von Endlichkeiten, welche die ursprüngliche Identität nicht in den Fokus der Totalität, zur absoluten Selbstanschauung zusammen zu greifen vermag. Das Subjekt = Objekt macht sich daher zu einem subjektiven; und es gelingt ihm nicht, diese Subjektivität aufzuheben, und sich objektiv zu setzen“. Anders bei Schelling: „Das Princip der Identität ist absolutes Princip des ganzen Schelling’schen Systems; Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Theilen, noch weniger im Resultate.“137 Natur bildet hier nicht mehr das endliche Gegenüber des Bewußtseins, sondern ist jetzt selbst die unbedingte Grundlage des Systems selbst. Natur = System = Philosophie. Identität habe im Fichteschen System sich zu einem subjektiven Subjekt-Objekt konstituiert; es bedürfe aber dessen Ergänzung durch ein objektives Subjekt-Objekt, „so daß das Absolute sich in jedem der beyden darstellt, vollständig sich nur in beyden zusammen findet, als höchste Synthese in der Vernichtung beyder, insofern sie entgegengesetzt sind, als ihr absoluter Indifferenzpunkt, beyde in sich schließt, beyde gebiert, und sich aus beyden gebiert“138. Es gefällt Hegel an Schelling die Verortung der Naturphilosophie innerhalb der Transzendentalphilosophie (als Oberbegriff für eine Gesamtschau der Wissenschaft). Er scheint darin den geeigneten Ausgangspunkt für seine eigene Systembildung entdeckt zu haben. Zu Ende gedacht ist dies 1801 aber noch nicht. Bevor er der Welt seine eigenen Vorstellungen von Identität präsentiert, ergreift er noch Partei pro Schelling und contra Fichte: „Die Naturphilosophie ist eine physikalische Erklärung des Idealismus; – die Natur hat von Ferne schon die Anlage gemacht zu der Höhe, welche sie in der Vernunft erreicht. – Der Philosoph übersieht dieß nur, weil er sein Objekt mit dem ersten Akt schon in der höchsten Po136 Cf. etiam H. Korten et al.: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800), in: AA I/9,2, pp. 3-60; p. 46 sq. 137 G. W. F. Hegel: „Differenz des Fichte‫ތ‬schen und Schelling‫ތ‬schen Systems der Philosophie“ (1801), in: GW 4, pp. [1]-92; p. 63. 138 G. W. F. Hegel: „Differenz des Fichte‫ތ‬schen und Schelling‫ތ‬schen Systems der Philosophie“ (1801), in: GW 4, pp. [1]-92; p. 63.

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tenz – als Ich als Bewußtseyn aufnimmt, und nur der Physiker kommt hinter diese Täuschung. Der Idealist hat Recht, wenn er die Vernunft zum Selbstschöpfer von allem macht, er hat die eigne Intention der Natur mit dem Menschen für sich, aber eben weil es die Intention der Natur ist – wird jener Idealismus etwas Erklärbares, – und damit fällt die theoretische Realität des Idealismus zusammen. – Wenn die Menschen erst lernen werden, rein theoretisch, BLOSS OBJEKTIV OHNE ALLE EINMISCHUNG VON SUBJEKTIVEM zu denken, so werden sie dieß verstehn lernen.“139

Kurzum: Schellings System-Schrift von 1800 kann, noch vor der Darstellung (1801), als ein erster Anlaß (nicht Ursache!) für die Entzweiung mit Fichte betrachtet werden, dies jedoch nur durch die ,Vermittlung‘ von Hegels Differenz-Schrift. Das System hatte jedoch nicht nur eine Wirkung auf Hegel und Fichte, sondern auch auf den Autor selbst. Dies aber in ganz anderer Hinsicht. War es doch das letzte Kapitel über eine Theorie der Ästhetik, welche Schelling zu dem Experiment veranlaßte, seine Philosophie einmal als Kunst zu präsentieren. Ästhetische Vorbilder fand er, wie oben erwähnt, bei den Griechen. So wählte er Platons Timaios, mit dem er seit seinem Kommentar zu demselben auf das Beste vertraut war, zur hauptsächlich formkritischen, aber auch inhaltlichen Imitation: in Dialogform nämlich verfaßte er im Winter 1801/02 Bruno oder das göttliche und das natürliche Princip der Dinge (SW I/4, pp. [213]-332) Der Timaios bot sich ihm deshalb als Folie an, weil Platon darin den Ursprung der Welt thematisiert. An Giordano Bruno fand er Interesse, weil dieser die Unendlichkeit des Weltalls angenommen hatte (– wofür er als Ketzer verurteilt und hingerichtet wurde!). Die Lust, poetisch zu philosophieren (gar Gedichte zu verfassen), ging allerdings nicht nur aus dem unmittelbaren Studium der griechischen Antike hervor, sondern entsprach auch einer allgemeinen Tendenz der Frühromantik. Romantisch nämlich, „nicht klassisch war die Versuchung, Philosophie qualitativ zu laden, sie zu ästhetisieren, die Kunst über die Philosophie zu setzen und sie gar utopisch in absolute Dichtung münden zu lassen. Schelling entwarf das Programm einer ästhetischen Philosophie, einer Philosophie, die nicht nur begrifflich zureichend genetisch differenziert, sondern einer Theorie – bei Schelling stand sie nicht sonderlich hoch im Kurs –, die ebenso erbauen, kurzweilige Freude bereiten möchte.“140

139 G. W. F. Hegel: „Differenz des Fichte‫ތ‬schen und Schelling‫ތ‬schen Systems der Philosophie“ (1801), in: GW 4, pp. [1]-92; p. 79; im Original gesperrt. 140 E. Braun: Bruno oder die Paradoxien des absoluten philosophischen Gedichts, p. 3.

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Schellings Bruno folgten noch zwei weitere Dialoge: eine Polemik gegen Karl Leonhard Reinhold, den Neukantianer und Vorgänger Fichtes an der Universität Jena, Über das absolute Identitätssystem und sein Verhältnis zu dem neuesten (Reinholdschen) Dualismus, sowie das Nachlaßfragment Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch. Und Entwurf zur Fortsetzung des Gesprächs ,Clara‘: Der Frühling, entstanden wohl zwischen 1809 und 1812 im Kontext von Die Weltalter (1810 sqq.). Neben dem Dialog übte er sich aber auch in der Gattung der Aphorismen; so entstanden 1806 die Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie und die Aphorismen über die Naturphilosophie. Durch seine Ästhetik-Theorie im System ließ er außerdem zu der Abhandlung Über Dante in philosophischer Beziehung (1803), zu einer Philosophie der Kunst (1802/03), zu Vorlesungen Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur (1807) sowie – noch viel später – zu einer Philosophie der Mythologie (1821 sqq.) sich inspirieren. Insgesamt ein ebenso fruchtbares wie kreatives Unterfangen, welches aus einem einzigen Gedanken hervorgegangen war: der Gleichsetzung von Kunst- und Naturproduktion. 3.5.8 „Darstellung meines Systems der Philosophie“ Der zweite Band der von Schelling gegründeten Zeitschrift für speculative Physik erschien im Jahre 1801 im Verlag von Christian Ernst Gabler (1770-1821) in Jena und Leipzig. Das zweite Heft des zweiten Bandes, veröffentlicht am 26. April 1801, enthält ausschließlich seinen Beitrag Darstellung meines Systems der Philosophie (pp. III-127). Aufgrund von Streitigkeiten mit Gabler endete die Publikation der Zeitschrift für speculative Physik mit dem Heft zwei. Im März 1802 gelang es Schelling jedoch, in Johann Friedrich Cotta (1764-1832) aus Tübingen einen neuen Verleger für seine Zeitschrift zu finden. Sie erschien daraufhin unter dem leicht veränderten Titel Neue Zeitschrift für speculative Physik in drei Heften bis Oktober 1802 bei Cotta, dann wurde ihr Erscheinen endgültig eingestellt. Zu Lebzeiten des Autors fand die Darstellung durch den Band sieben der 1816 im schwedischen Upsala gedruckten Ausgabe F. W. J. Schellings sämmtliche Werke noch ein weiteres Mal Verbreitung. In der von Karl Friedrich August Schelling veranstalteten Ausgabe Sämmtliche Werke ging die Darstellung 1859 in Band vier der ersten Abteilung ein (pp. [105]-212). 2009 schließlich erschien dieselbe in der historisch-kritischen Edition bei Frommann-Holzboog in Stuttgart (AA I/10, pp. [108]-211).

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Manfred Durner vertritt die Auffassung, daß der Titel Darstellung meines Systems der Philosophie indirekt gegen Fichte sich wende.141 Dieser habe nämlich in Jena in der Allgemeinen Zeitung vom 24. Januar 1801142 eine Ankündigung seiner nächsten Publikation gemacht, die den Titel Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre tragen sollte. Folgende Passage daraus wurde von Schelling als Provokation gegen ihn aufgefaßt: „Inwiefern es meinem geistvollen Mitarbeiter, Hrn. Prof. Schelling, in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften, und in seinem neuerlich erschienenen Systeme des transscendentalen Idealismus, besser gelungen sey, der transscendentalen Ansicht Eingang zu verschaffen, will ich hier nicht untersuchen.“143 Caroline Schlegel, für welche diese Bemerkung ebenfalls zu Protest ging, äußert in einem Brief vom 1. März 1801 an Schelling: „Eben habe ich Fichtens Ankündigung gelesen. Ich kann nicht läugnen, die Stelle ist von der feinsten Zweydeutigkeit, ich habe sie mir nach allen Seiten hingewendet und kann sie nicht wegbringen. War sie denn Goethen nicht aufgefallen ehe du mit ihm darüber sprachst? [...] So wie ich die Sache einsehe[,] würde ich vermuthen[,] daß er dich mit der Naturphilosophie wie in ein Nebenfach zurückweisen und das Wissen des Wissens für sich allein behalten möchte – Deine Theorie des Universums ZB. wie eine Meynung behandeln. Die Wahrheit zu sagen[,] ich helfe mir hier mit Sehen im Dunkeln, und brauche dir das nicht erst anzuvertraun[,] da du es wohl merken wirst. – Was du jetzt gleich im Journal als Darlegung deiner neuen Ansicht auszuführen gedenkst, wird das schon umfassend genug seyn[,] um ihm entgegengestellt werden zu können – nehmlich nur in so weit daß man den Standpunkt deines Idealismus ganz daraus abnehmen kann?“ (AA III/2,1, 1801.03.01).

Soviel zu den äußeren Motiven Schellings, die Darstellungen zu verfassen. Inhaltlich gedachte er darin – als Fortsetzung des Systems – den transzendentalen Zugang zur Wirklichkeit weiter mit dem naturphilosophischen zu vereinen und das duplizitäre Wissen als eines zu erhellen. „Der Identitätsgedanke bestimmte […] Schellings Denken von seinen ersten Anfängen an, wurde aber bis dahin nicht zum ausdrücklichen Gegenstand philosophischer Reflexion gemacht.“144 Der identitätsphilosophischen Phase allgemein zugeordnet, fällt die Darstellung strenggenommen nicht 141 M. Durner: „Editorischer Bericht“, zu F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), in: AA I/10, pp. 3-76; p. 26. 142 Beilage Nr. 1, pp. 1-4. 143 J. G. Fichte: „[Ankündigung] Seit sechs Jahren“, in: Gesamtausgabe I/7, pp. 143-164; p. 154. 144 M. Durner: „Editorischer Bericht“ zu F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), in: AA I/10, pp. 3-76; p. 27.

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mehr in den Interessebereich unserer Studie. Es sind vornehmlich Schellings Naturphilosophie und sein Materialismus, von denen wir erwarten, daß sie uns Aufschluß über die Bewältigung des Verdinglichungsproblems geben können. Dennoch wollen wir auf eine kurze Analyse der Darstellungen nicht verzichten, da uns der Topos interessiert, welchen ihr Verfasser der Natur innerhalb seiner systemischen Gesamtschau zuweist. Mit einer Interpretation der Darstellung wäre außerdem die textgeschichtliche Grundlage bereitet, welche wir zum Verständnis des Würzburger Systems von 1804 benötigen. Die Abhandlung, und das ist eine gattungskritische Neuheit des Autors, weist eine Untergliederung des Stoffes in 159 Paragraphen auf. Dies unterstreicht den affirmierenden Charakter der Schrift. Zugleich verleiht es ihr Züge der Abgeschlossenheit und Endgültigkeit. Bei der Wahl der scholastischen Form orientierte Schelling sich an Spinozas Ethik. Die Imitation geschah nach des Autors eigenem Bekunden nicht nur aus äußerlichen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen. Die Form spiegelt das Innere. Sie hilft, das Systemische wie Einheitliche zur Geltung zu bringen. Gegenüber der System-Schrift allerdings wurde, wenn auch nur geringfügig (und wie wir es vom Verfasser kennen), die Wortwahl verändert. Statt Wissen wird jetzt dem Ausdruck Vernunft der Vorzug gegeben. Die Begriffe Produkt, Produktivität und Organismus treten weit seltener in Erscheinung. Dies gilt ebenso für den bislang unverzichtbaren Terminus des Selbstbewußtseins. Auf die Selbstbestimmung verzichtet der Autor sogar gänzlich. Im Vordergrund seines Vokabulars dagegen stehen – bezeichnenderweise – Identität und Totalität. Die „Vorerinnerung“ beginnt mit der bekannten und wiederholten Verteidigung Schellings, daß er von Beginn seines Wirkens an nichts anderes als die „Eine und selbe“ Philosophie betrieben, diese allerdings von zwei Seiten darzustellen versucht habe, als Transzendental- und Naturphilosophie. Beide seien nur die entgegengesetzten Pole des Einen. „Niemals habe ich weder mir selbst noch anderen verhehlt, [...] daß ich weder das, was ich Transscendental- noch was ich Naturphilosophie nenne[,] jedes für sich für das System der Philosophie selbst, oder für mehr als eine einseitige Darstellung desselben halte“ (AA I/10, p. 110). Der Name Idealismus für beide Erkenntniszugänge bedeutet für den Autor keinen Widerspruch, wenn nämlich der eine aus dem anderen sich ableitet, das heißt, wenn die Natur, als absolutes Subjekt, durch das Individuum sich selbst anschaut. Hier bereits beginnt der direkte Vergleich mit dem Kontrahenten: Schellings Idealismus sei auf den Standpunkt der Produktion gestellt, während jener Fichtes auf dem Standpunkt der Reflexion stehe. Dessen subjektiven Idealismus bringt Schelling auf die Formel Ich = Alles; den eigenen, objektiven, setzt er in die Gleichung Alles = Ich. §. 1. der Darstellung beginnt mit der Erklärung: „Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als die totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven gedacht wird“ (AA I/10, p. 116). Neu, bzw. verändert, sind die

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Termini Vernunft (für Wissen) und Indifferenz (für Identität). Wie schon das Wissen im System, fungiert die Vernunft in der Darstellung als Copula, welche Subjekt und Objekt ,vermittelt‘. Aufgabe der Philosophie ist es nach Schelling, die Dinge, wie sie an sich sind, das heißt wie sie in der Vernunft sind, zu erkennen. Die Dinge der Außenwelt mit den Augen der Vernunft zu sehen, bedeutet, in ihnen nur das zu sehen, wodurch sie die absolute Vernunft (= das Unendliche) ausdrücken. Da alles seine ontologische Würde erst durch die Vernunft erhält, gilt §. 2.: „Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist Alles.“ Das höchste Gesetz für das Sein der Vernunft selbst, und, da außer der Vernunft nichts ist, für alles Sein, sei das Gesetz der Identität, welches der Autor, wie üblich, durch das logische Axiom A = A ausdrückt. Der Satz A = A ist ihm die einzige Wahrheit, welche an sich, das heißt ohne alle Beziehung auf Zeit, gesetzt ist. Idealiter gelte daher §. 6.: „Der Satz A = A allgemein gedacht, sagt weder, daß A überhaupt, noch daß es als Subject, oder als Prädicat SEYE. Sondern das einzige Seyn, was durch diesen Satz gesetzt wird, ist das der IDENTITÄT SELBST, welche daher von dem A als Subject, und von dem A als Praedicat völlig unabhängig gesetzt wird.“ Die einzig unbedingte Erkenntnis sei deshalb die der absoluten Identität. Und nur dieser komme auch Sein als solches zu. Das Sein an sich der absoluten Identität sei eine „ewige Wahrheit“. Einzig, was an sich ist, ist absolute Identität. Es gilt also: Vernunft = Sein = Identität. Wichtig ist Schelling, gleich an dieser Stelle zu betonen, daß die absolute Identität als Identität niemals aufgehoben werden könne. „§. 12. Alles, was ist, ist die absolute Identität selbst.“ Mit unseren Worten: alles, was (durch die Vernunft) existiert, also an sich ist, ist per se mit sich identisch. An sich angeschaut, ist nichts endlich. Das bedeutet, daß alles, was an sich ist, dem Wesen nach die absolute Identität selbst ist, „der Form des Seyns nach aber ein Erkennen der absoluten Identität“ (§. 18.). Ihr Erkennen ist die Form ihres Seins, denn: „§. 19. Die absolute Identität IST nur unter der Form des Erkennens ihrer Identität mit sich selbst.“ Erkennen = Form = Sein = Identität. Das Selbsterkennen der absoluten Identität sei unendlich. Die absolute Identität sei in ihrer Unendlichkeit als Subjekt und Objekt gesetzt. Zwischen beiden fände jedoch kein Gegensatz an sich statt, betont der Autor. „§. 23. Zwischen Subject und Object ist keine andere, als quantitative Differenz möglich.“ Ein qualitativer Gegensatz ist für Schelling ausgeschlossen, da seiner Meinung nach keine Unterscheidung von Subjekt und Objekt „in Ansehung des Seyns selbst“ möglich ist. In Ansehung der „Größe des Seyns“ allerdings, das heißt quantitativ, könne es durchaus zu einer Differenz kommen. Der Wesenskern dessen, was durch die Vernunft erkannt wird, bleibt von der Differenz unberührt. Weiter ist ihm die Gleichsetzung von absoluter Identität und absoluter Totalität wichtig. Absolute Totalität definiert er, und das ist neu, als Universum. Da quantitative Differenz nur außerhalb des Universums (= absolute Totalität = absolute Identität), das heißt als Endlichkeit, möglich sei, folgen daraus §. 27., „[...] Was außerhalb der Totalität ist,

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nenne ich in dieser Rücksicht ein EINZELNES Seyn oder Ding.“ und §. 28., „Es giebt kein einzelnes Seyn, oder einzelnes Ding an SICH. Denn das einzige An sich ist die absolute Identität. [...] Diese aber ist nur als Totalität.“ Diese Sätze sind durch sich selbst klar. Wenn gilt: Identität = Totalität = Universum = An-sich-Sein, => kein An-sich-Sein der Dinge ,außerhalb‘ der Totalität. Könnten wir jedoch kraft der Vernunft alles, was ist, als Totalität erblicken, sähen wir, so der Verfasser, im Ganzen ein vollkommenes Gleichgewicht von Subjektivität und Objektivität, also nichts als reine Identität. Die Dinge wären dann nicht mehr einzeln. Etwas Einzelnes ist außerhalb der Totalität, insofern es keine absolute Identität ist. Zugleich aber ist es innerhalb des Universums, insofern dieses als Ganzes alles Einzelne in sich einschließt. Dies klingt zunächst widersprüchlich: ein einzelnes Ding ist innerhalb eines Ganzen und auch außerhalb, insofern dieses Ganze als absolute Identität definiert ist. So ist es zugleich innen und außen. Indem er also das Ganze zur absoluten Identität erklärt, setzt Schelling alles, was ,im Innern‘ dieses Ganzen sich findet, als quantitative Differenz. Diese sei der Grund aller Endlichkeit. In der Totalität als absoluter Identität sind alle endlichen Unterschiede aufgehoben, oder: die Allgemeinheit setzt das Einzelne gleich. Dabei ist die absolute Identität als Totalität nicht Ursache des Universums, sondern das Universum selbst. „Das Universum aber ist alles, was ist“ (§. 32.). Identität = Totalität = Universum = Sein. Jedes einzelne Sein sei als solches nur eine bestimmte Form des Seins der absoluten Identität, nicht aber ihr Sein selbst, welches allein in der Totalität sei. Die einzelnen Dinge könnten ihrem Sein entsprechend zwar nicht absolut unendlich sein, jedoch ihrer „Art“ nach, unterscheidet Schelling. Wie ist das gemeint? Wenn gilt – was für den Verfasser der Fall ist –, daß jedes Einzelne in Bezug auf sich selbst eine Totalität ist, muß es den An-sich-Status zugesprochen bekommen, da gesetzt ist, daß alle Totalität an sich ist. Ding = Totalität = Unendlichkeit („der Art nach“). Das Einzelne ist jedoch nicht absolut unendlich, denn „es ist etwas außer ihm, und es ist bestimmt in seinem Seyn durch etwas außer ihm. [...] Es ist aber in seiner Art, oder da die Art des Seyns bestimmt ist durch die quantitative Differenz von S[ubjectivität] und O[bjectivität] [...] und diese Differenz wiederum durch Potenzen des Einen von beiden ausgedrückt wird, [...] in seiner Potenz unendlich, denn es drückt das Seyn der absoluten Identität für seine Potenz unter derselben Form aus, wie das unendliche, es ist also selbst unendlich in Ansehung seiner Potenz, obgleich nicht absolut unendlich“ (AA I/10, p. 134).

Unser Blick erweitert sich jetzt: seiner Art nach unendlich sein, bedeutet seiner Potenz nach unendlich sein. Da die absolute Identität nur unter einer bestimmten Form des Sein sich ausdrückt, wird dieses durch die Anwesenheit der Unendlichkeit in ihm zu deren Repräsentation: es wird seiner Potenz nach unendlich. Der Begriff

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Potenz erklärt genauerhin sich aus dem Folgenden: „Das Existirende ist immer nur die Indifferenz, und es existirt nichts wahrhaft außer ihr: aber sie existirt auch auf unendliche Weise, und existirt niemals anders als unter der Form A = A, d. h. als Erkennen und Seyn“ (l. c., p. 135, Anm.). Da auch das Einzelne (mit Intelligenz) erkannt werden muß, um überhaupt zu sein, hat es durch den Akt des Erkennens selbst Anteil an der universalen Vernunft (A = A) und somit an der Unendlichkeit; es wird in das allgemeine Wissen miteinbezogen, ohne jedoch mit diesem vollständig identisch zu werden. Je mehr sich das Unendliche im Einzelnen spiegelt, desto höher die Möglichkeit seiner Existenz. Und umgekehrt: je näher das Einzelne seiner Indifferenz (A = A) kommt, desto höher die Möglichkeit seiner Existenz. (Dies erinnert zweifellos an die scholastische Lehre der analogia entis). Potenz bezeichnet die Variabilität der Differenz bzw. Indifferenz zwischen Erkennendem und Erkanntem. Und obgleich das Einzelne in Differenz zu seiner Indifferenz steht, kann es niemals aus der Indifferenz herausfallen (was ihm den permanenten Anteil an der absoluten Identität des Ganzen sichert). „Jedes A = B ist in Bezug auf sich selbst, oder an sich betrachtet ein A = A, also ein absolut sich selbst gleiches. – Ohne dieß würde nichts wirklich seyn, denn alles, was ist, ist nur insofern es die absolute Identität unter einer bestimmten Form des Seyns ausdrückt“ (l. c., p. 135). Die Bedingung für das A = A bei etwas Einzelnem lautet also: in Bezug auf sich selbst. Was aber, wenn es noch eine weitere Relation gibt, die nach außen gerichtet ist? Was, wenn Subjekt und Objekt sich gegenüberstehen? Was, wenn „eine Identität gegen die andere im Gegensatze“ ist, wenn es also ein Für-sich-Sein (= A = Subjektivität + Potenz) und ein An-sich-Sein (= B = Objektivität + Potenz) bei gleichzeitigem An-und-für-sich-Sein (A = A = Indifferenz bzw. absolute Identität) gibt? Die Sache muß auch dann unentschieden bleiben, weil nur in dieser ,Onto-Potenz-Schwebe‘ der Gegensätze die Welt ihr Vermögen zu prozessieren und zu produzieren erhält. Die sich differenzierende Indifferenz ist für Schelling nach wie vor Prämisse und Erklärung für die evolutionäre Entwicklung des Universums. A = B ist Ausdruck der Potenz der quantitativen Differenz in Bezug auf das Ganze. Die Potenz in A = B bezeichnet den Grad der Abweichung in Bezug auf das A = A von etwas Einzelnem, d. h. inwiefern es sich dem Erkennen selbst entzieht oder annähert. A ist also nicht in demselben Sinne wie B. Denn A bezeichnet der Autor als das erkennende, B als das reelle Prinzip. Hierin folgt er der Lehre Spinozas, welcher die ,absolute Substanz‘ nach den Attributen Gedanke und Ausdehnung teilt. Dann folgt §. 45.: „Weder A noch B kann an sich gesetzt werden, sondern nur das Eine und Selbe mit der überwiegenden Subjectivität und Objectivität zugleich, und der quantitativen Indifferenz beider.“ Mit unseren Worten: weder das Erkennen, noch das Erkannte sind an sich oder absolut. Sie können nur dem Grade der Potenz nach bestimmt werden. Ihre Genauigkeit bleibt approximativ gegenüber dem A = A. Die Annäherung erfolgt aus beiden Destinationen, von A und B, wobei immer eine der beiden

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Seiten überwiegt. „§. 46. Subjectivität und Objectivität können nur nach entgegengesetzten Richtungen überwiegend gesetzt werden.“ Die Form des Seins der absoluten Identität könne daher allgemein unter dem Bild einer Linie gedacht werden:

+ A=B

+ A=B

A=A Im Schaubild steht A für das Erkennen oder die Subjektivität, B für das Erkannte oder die Objektivität, das + für die jeweilige Potenz. A mit Potenz (links oben) bedeutet die Möglichkeit des Überwiegens der Subjektivität, B mit Potenz (recht oben) bedeutet die Möglichkeit des Überwiegens der Objektivität. A = A ist der Indifferenzpunkt. Die Linie, welche die Sphären von A = B und A = A teilt und welche zugleich trennen und verbinden soll, demonstriert die absolute Identität. Sie erinnert wieder an die Copula. Linie und Band sind sich sehr ähnlich. „§. 47. Die […] construirte Linie ist die Form des Seyns der absoluten Identität im Einzelnen, wie im Ganzen.“ Absolute Identität ist nicht erkennbar außer unter der Form von A oder B. Der Verfasser spricht bezüglich der Totalität, welche jedes einzelne Sein für sich bilde, von relativer Totalität. Absolute Totalität ist allein dem Sein des Universums vorbehalten, also dem Sein des größten Ganzen. Dieses schließt alles einzelne Sein mit relativer Totalität in sich ein. In der gleichen Weise unterscheidet er jetzt auch absolute und relative Identität. Letztere prädiziert die Identität des Einzelnen (welche er bislang durch den Ausdruck Indifferenz unterschieden hatte), Erstere die Identität des Ganzen. Ebenso verfährt er mit dem Terminus Duplizität: A = B sei eine relative, A = A dagegen eine absolute Duplizität. Einfallsreich setzt Schelling allein durch begriffliche Kleinarbeit immer wieder neue ,Trennwände‘ zwischen das Absolute und das Relative. Die hier ungewöhnlich häufige Verwendung von Formeln für die Darstellung seiner Identitätslehre unterstreicht (neben dem juridischen) den logischen Gesamtcharakter der Schrift. Es macht außerdem den Eindruck, als wollte ihr Autor die aufstrebenden Naturwissenschaften von der epistemischen Seriosität seines Unternehmens überzeugen. §. 51. markiert im Text die Wende zur Erklärung der Naturphilosophie. Er lautet: „Die erste relative Totalität ist die Materie.“ A = B sei weder als relative Identität noch als relative Duplizität etwas Reelles. Allein durch die Linie könne A = B als Identität, im Einzelnen wie im Ganzen, ausgedrückt werden. Aber in jeder Linie sei A durchgängig als „seyend“ gesetzt. Das bedeutet: einzig die Linie ist reell. Realität kommt den Dingen nur vom Ganzen und seiner Allvernunft her zu. Totalität = Identität = Realität. Da die Dimensionen der Länge und Breite nicht ausreichten,

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um die quantitative Differenz zwischen A und B zu erhalten, bedürfe es einer dritten Dimension, welche die Materie sei, so Schellings Konklusion. Keine Potenz ohne Materie, keine Materie ohne Potenz. „Die Materie ist das primum Existens“ (AA I/10, p. 144). Das Wesen der absoluten Identität, insofern sie unmittelbar Grund von Realität sei, sei die Kraft, denn jeder immanente Grund von Realität heiße Kraft. Daraus folgt §. 54.: „Die absolute Identität als unmittelbarer Grund der Realität von A und B in dem primum Existens ist Schwerkraft.“ Diese sei unbedingt, sie enthalte den Grund ihres eigenen Seins, sei aber nicht das Sein selbst von Wirklichkeit. Sie könne nur sein unter der Form des Seins von A und B. „§. 55. Das subjective, erkennende Princip geht in die Materie selbst mit ein, oder wird in ihr reell.“ Ohne B kein A. A wird real nur an B. A gelangt durch B zur Wirklichkeit – und umgekehrt. A und B müssen ursprünglich identisch sein. „§. 56. In der Materie ist A und B mit (in Ansehung des Ganzen) überwiegender Objectivität gesetzt“. Die Materie sei also in Ansehung des Ganzen = A = B mit Potenz (in der Formel oben rechts). „A und B mit überwiegender Objectivität gesetzt, ist daher jenes Attractiv-, dieses Expansivkraft“. Den Gegensatz zur Schwerkraft bildet das ideelle Prinzip. Es wird ausgedrückt durch A2. Die Potenzierung bezeichnet den Grad seiner Begrenzung durch die Schwerkraft, wobei der Gegensatz, wie auch die Identität, ein relativer ist: A2 = (A = B). Was aber ist A2 nun genau? A2 = Licht (§. 62.). „Das A2 ist, obgleich es für die höhere Potenz objectiv seyn kann, doch in Bezug auf die Natur selbst etwas schlechthin Inneres, und es ist hier an nichts Aeußeres zu denken“ (§. 62.). Das Licht sei also ein inneres, die Schwere ein äußeres Anschauen der Natur. Licht und Schwere bilden auch hier die entscheidende Analogie zu Denken und Sein. Schelling versucht alle uns bekannten Inhalte und Termini der Naturphilosophie in seine oben dargestellte Formel zu übertragen, um sie von dort her wieder logisch abzuleiten zu können. Dies gelingt nicht immer bzw. führt zu Abstraktionen, welche die Naturphilosophie zum Teil bis zur Unkenntlichkeit deduzieren. Auch sein Vorgehen in Paragraphenform erweist sich zur Präsentation jener Inhalte nicht immer als geeignet. Freilich suchte er bewußt einen ökonomisch-formelhaften Überbau zu konstruieren, um so, gerade auch optisch, die Einheit von transzendental- und naturphilosophischem Denken zu verdeutlichen. Eine wesentliche und signifikante Modifikation im naturphilosophischen Teil der Darstellung findet sich bei der Erörterung des Weltursprungs. Der Autor verwirft seine Theorie vom Urknall (als „Explosion“), um nun den Anfang des Universums als „Cohäsionsproceß“ zu betrachten (cf. §. 95.). Auch von einer „unendlichen Ausdehnung“ ist nicht mehr die Rede. Neu ist der anschauliche Begriff der „Absonderung“, welchen er im Zusammenhang mit der Weltentstehung einführt: „Wird nach dem wahren Ursprung des materiellen Universums gefragt, so kann man von ihm weder sagen, daß es einen Anfang habe, noch daß es keinen habe. Denn es ist absolut oder

328 | O BJEKT -S UBJEKT der Idee nach ewig, d. h. es hat überhaupt kein Verhältnis zu der Zeit. Alle Zeitbestimmung ist nur im endlichen und reflektirenden Erkennen, an sich aber sind alle Dinge auf eine ewige und nichtzeitliche Weise enthalten in dem Absoluten. Fragt man aber nach dem Absonderungsakt, wodurch das materielle Universum für das reflektirende Erkennen sich absondert von dem All und in ein zeitliches Daseyn übergeht, so ist der Magnet (sein Produkt Cohäsion) Princip der Individuirung, aktiv ausgedrückt, das Selbstbewußtseyn“ (AA I/10, p. 166, Anm.).

Das Wort Absonderung soll einmal mehr zwischen Unendlichem und Endlichem so vermitteln, daß der Übergang von jenem zu diesem ohne Berührung oder Einschränkung der Autonomie der beiden Sphären geschieht. Zirkelgleich kehrt Schelling immer wieder zurück zum Paradigma transzendentaler Identität schlechthin, dem Ich bin. Das Selbstbewußtsein wird hier erstmals mit einem Magneten verglichen. Erklärung: „Was sich absondert, sondert sich nur für sich ab, nicht in Ansehung des Absoluten. Dieß ist freilich am klarsten an dem höchsten Absonderungsakt, dem Ich. Ich bin nur dadurch, daß ich von mir weiß, und unabhängig von diesem Wissen überhaupt nicht als Ich. Das Ich ist sein eignes Thun, sein eignes Handeln“ (l. c., p. 166 sq., Anm.). Das idealistische Übergewicht im Schellingschen Denken wird hier offensichtlich: während im Entwurf die Existenz des Ichs nicht nur idealiter, sondern auch realiter, nämlich nicht nur aus dem Besitz der Eigenschaften eines Organismus, der Ursache und Wirkung seiner selbst ist, sondern auch und gerade aus der Zugehörigkeit zu einem (materiellen) Organismus deduziert wurde, erhält es seine Essenz nun einzig durch das Wissen von sich. Auch im System ließ Schelling das Ich bereits im selbstbestimmten, jedoch bewußtlosen Wollen beginnen, also noch bevor es unter Mitwirkung anderer Intelligenzen sich selbst als Ich anzuschauen vermag. Um zum eigenen Als (= Identität) werden zu können, muß schon vorher etwas dasein, auf dem das Wissen aufruhen kann. Wer oder was jedoch kann jenes Wissen hervorbringen, durch welches das Selbstwissen ,erzeugt‘ wird? Für Schelling ist dies (in der Darstellung) die Vernunft selbst oder die absolute Vernunft (cf. §. 1.). „Von diesem Absonderungsakt aber, der im Ich lebendig, selbsthätig ist, ist an den körperlichen Dingen ein passiver Ausdruck, ein Princip der Individuirung, das ihnen im Absoluten selbst aufgedrückt ist, um sich, nicht in Ansehung des Absoluten, wohl aber in Ansehung ihrer selbst, abzusondern. – Das Einzelne tritt in die Zeit, ohne sich in Ansehung des Absoluten aus der Ewigkeit zu verlieren“ (AA I/10, p. 167).

Dies bedarf keiner Erläuterung. „Alles, was zur Form des Universums gehört, ist nur auf eine nicht zeitliche Weise begriffen in ihr. Da diese Form quantitative Differenz, d. h. Endliches im Einzelnen, und Indifferenz, d.

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h. Unendliches im Ganzen ist, so ist auch die ganze Reihe des Endlichen, aber nicht als endlich, gleich ewig, schlechthin gegenwärtig im Absoluten“ (AA I/10, p. 167).

Diese ewige Ordnung der Dinge, innerhalb welcher eins das andere setzt und nur durch das andere möglich ist, sei nicht entstanden, oder wenn sie entstanden, so entstehe sie mit jedem Bewußtsein aufs neue. Welt entsteht nun nicht mehr durch einen physikalischen Schöpfungsakt wie der Urknall, sondern allein durch das Bewußtsein. Das Bewußtsein ,erzeugt‘ das Universum als Ganzes. (In der Spätphilosophie zieht Schelling daraus die Konsequenz, indem er dieses das All ,schaffende‘ Bewußtsein zum Bewußtsein Gottes erklärt). Da Bewußtsein Freiheit bedeutet und in Freiheit entsteht, ist es nicht mehr räumlich oder zeitlich festzulegen. Bewußtsein heißt der freischwebende, ubiquitäre Allanfang der Welt. Welt ist nur, wo Bewußtsein ist. Die absolute Identität sei „der allgemeine Auflösungsmoment aller Dinge“ (AA I/10, p. 167). In ihr sei nichts unterschieden, obgleich in ihr alles enthalten. Das endliche Erkennen, als Selbstbewußtsein, trübe diese „höchste Durchsichtigkeit“. Und so ist die „reale, materielle Welt ein Niederschlag oder die Präcipitation der absoluten Identität, die ideelle Welt dagegen eine Sublimation. Diese beide sind im Absoluten nicht getrennt, sondern eins, und hinwiederum ist das, worin sie eins sind, das Absolute“ (l. c., p. 167). Auch den Begriff des Organismus setzt Schelling in der Darstellung konsequent in eine Formel. Da ein Organismus nur im Zusammentreffen von Licht und Materie existiert, tritt er auch nur unter den „Formen des Seyns“ von A2 und A = B in Erscheinung (cf. §. 142.). Es gilt also: Organismus = A2 + (A = B). Auch hier zeigen sich, im Vergleich zu früheren Ausführungen, vermehrt idealistische Tendenzen: „§. 144. Die Wirksamkeit, wodurch der Organismus besteht, geht nicht auf die Erhaltung der Substanz als solcher, sondern der Substanz, als Form der Existenz der absoluten Identität. – Denn die Substanz (A = B) ist in Ansehung des Organismus selbst eine bloße Form der Existenz.“ Im Entwurf hingegen wurde dem Organismus eine wesentlich größere materielle Autonomie und Selbsttätigkeit bescheinigt. In der Darstellung scheint sein Wesen einzig auf die Repräsentation des Absoluten reduziert. Gleiches widerfährt der unorganischen Materie: „§. 147. [...] Die Materie, insofern sie nicht zur Form der Existenz der absoluten Identität erhoben ist, nennen wir todte oder auch unorganische Materie. Die Materie, welche Form des Seyns der absoluten Identität ist, ist belebt.“ Die Organisation der belebten Materie müsse als durch „Metamorphose“ entstanden gedacht werden. Das bedeutet, daß jeder Weltkörper (z. B. die Erde) durch innere Verwandlung gebildet wird (§. 153a.). Verwandlung bedeutet für Schelling quantitative Differenz bei qualitativer Identität. Die Identität erhält sich durch das Sein-als-Ganzes der Materie. Statt nämlich angesichts der unterschiedlichen Formen von Leben auf der Erde (Tiere und Pflanzen) von einem Kausalverhältnis auszugehen, gelte es vielmehr, jene als ein

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Identitätsverhältnis zu bestimmen. „Die Erde selbst wird Thier und Pflanze, und es ist eben die zu Thier und Pflanze gewordne Erde, die wir jezt [sic] in den Organisationen erblicken“ (AA I/10, p. 207). Aus all dem müsse man ersehen, „daß wir eine innere Identität aller Dinge, und eine potentiale Gegenwart von allem in allem behaupten, und also selbst die sogenannte todte Materie nur als eine schlafende Thierund Pflanzenwelt betrachten, welche durch das Seyn der absoluten Identität belebt, in irgend einer Periode, deren Ablauf noch keine Erfahrung erlebt hat, auferstehen könnte. Die Erde ist uns nichts als der Inbegriff oder die Totalität der Thiere und Pflanzen selbst, und, wenn jene den positiven, diese den negativen Pol repräsentiren, der bloße Indifferenzpunct dieses organischen Magnets, (mithin selbst organisch)“ (l. c., p. 208). „§. 156. Der potenzirteste positive Pol der Erde ist das Gehirn der Thiere und unter diesen des Menschen.“ Das Ganze als Thelisch-Produzierendes gewährleistet die Identität von Produkt und Produktivität. Identität geht aus Produktion, nicht Reflexion hervor: „Das Geschlecht ist die Wurzel des Thiers, die Blüthe das Gehirn der Pflanzen“ (l. c., p. 209). Und wie „die Pflanze in der Blüthe sich schließt, so die ganze Erde im Gehirn des Menschen, welches die höchste Blüthe der ganzen organischen Metamorphose ist“ (l. c., p. 210). Der Kreis schließt sich, indem wir erst an dieser Stelle jene Gleichung aus der „Vorerinnerung“ in ihrer ganzen idealistischen Tragweite begreifen: Alles = Ich. Bündiger ließe der objektive Idealismus Schellings sich nicht ausdrücken. Bewußtsein ist der Schöpfungsakt des gesamten Universums, der Indifferenzpunkt schlechthin zwischen endlicher und unendlicher Welt. Wir sehen: die einzig wichtige Funktion, welcher der Naturphilosophie in der Darstellung noch zukommt, ist diejenige, den transzendentalen Idealismus in einen objektiven zu verwandeln – was auch den entscheidenden Unterschied zu Fichtes Wissenschaftslehre ausmacht. Die reelle Eigenständigkeit geht der Natur zugunsten einer ideellen Identitätslehre verloren. Schelling als Materialist, wie Bloch ihn suchte, ist hier nicht mehr zu entdecken. Auch zum Problem der Verdinglichung findet sich kein verwertbarer Stoff. Wir wollen im folgenden prüfen, ob die transzendental-idealistische ,Wende‘ beim Autor konsistiert oder als Ephémère sich erweist. Zu diesem Zweck untersuchen wir abschließend das Würzburger System. Da es drei Jahre nach der Darstellung, 1804, verfaßt wurde, läßt an ihm sich erkennen, ob Schelling noch einmal zu seinen materialistischen Ursprüngen zurückfindet oder nicht. 3.5.9 Zur Wirkungsgeschichte der „Darstellung“ Wirkungsgeschichtlich sind die Darstellungen insofern interessant, als sie, vorbereitet durch das System des transscendentalen Idealismus, die endgültige Entzweiung mit Fichte herbeiführten. Am 15. Mai 1801 übersandte Schelling die beiden Hefte des zweiten Bandes der Zeitschrift für speculative Physik an Fichte. In einem

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Begleitbrief bittet er jenen um sein Urteil über die Darstellung. Er tut dies in der Hoffnung, bei Fichte auf Wohlwollen und Übereinstimmung zu stoßen. Seine Verletzung, verursacht durch Fichtes Zweideutigkeiten in dessen Ankündigung seiner neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, läßt er sich nicht anmerken, im Gegenteil: „Ihre Ankündigung der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre mußte mich nothwendig sehr interessiren, und Sie urtheilen leicht, mit welchem Verlangen ich dieser [...] entgegen sehe. Für die Stelle jener Ankündigung, in der Sie meinen Arbeiten die Ehre der Erwähnung erzeigen, bin ich Ihnen auf jeden Fall sehr verbunden; und ich muß auf jeden Fall, und ohne alle weitere Untersuchung, sie für wahr erkennen, da es Ihnen selbst bekannt ist, daß es, besonders, mit meinen naturphilosophischen Arbeiten eben nicht meine Absicht gewesen, der transscendentalen Ansicht, wie sie Ihnen insgemein zugeschrieben wird, oder auch der Ansicht, welche, nach dem oben Angeführten, mit dem was ich will, allerdings in Widerspruch ist, bei dem Publikum Eingang zu verschaffen“ (AA III/1,2, 1801.05.15).

Dem folgt am 24. Mai 1801 ein weiterer Brief Schellings, worin er die Bitte wiederholt, jener möge doch endlich zu den eingereichten Heften Stellung nehmen. Fichte, der am 31. Mai 1801 antwortet, äußert sich kritisch zur Darstellung: „So viel ich in Ihrem System gelesen habe, möchten wir wohl in Absicht der Sachen auf dasselbe hinauskommen, keineswegs aber in Absicht der Darstellung, u. diese gehört hier durchaus wesentlich zur Sache. Ich glaube z. B. und glaube es erweisen zu können, daß Ihr System in sich selbst (ohne stillschweigende Erläuterungen aus der Wissenschaftslehre) keine Evidenz hat, und durchaus keine erhalten kann. Gleich Ihr erster Saz [sic] beweis’t dies“ (AA III/2,1, 1801.08.07).

Für Fichte stellt es nach wie vor einen Zirkel dar, die Natur aus der Intelligenz abzuleiten, um dann die Intelligenz aus der Natur hervorgehen zu lassen. Weil jedes Wissen eben nur von der subjektiven Intelligenz aus gesehen werden könne, wie solle man da etwas außer dieser als über ihr stehend beurteilen? Wer, wenn nicht die transzendentale Vernunft, gibt mir denn Auskunft über die Natur? Also muß die subjektive Intelligenz auch die erste Quelle und Instanz des Wissens sein – so Fichtes Argumentation. Die Fragen, ob die Wissenschaftslehre das Wissen subjektiv oder objektiv nehme, ob sie Idealismus oder Realismus sei, hätten keinen Sinn, schreibt er, „denn diese Distinktionen werden erst innerhalb der W[issenschafts]L[ehre] gemacht, nicht ausserhalb ihrer, und vor ihr vorher; auch bleiben sie ohne die W[issenschafts]L[ehre] unverständlich. Es giebt keinen besonderen Idealismus, oder Realismus, oder NaturPhilosophie, u.

332 | O BJEKT -S UBJEKT dergleichen die da wahr wären; sondern es giebt überall nur Eine Wissenschaft, dies ist die W[issenschafts]L[ehre]: und alle übrigen Wissenschaften sind nur Theile der W[issenschafts]L[ehre] und sind wahr, und evident, nur inwiefern sie auf dem Boden derselben ruhen“ (AA III/2,1, 1801.08.07).

Es könne nicht von einem Sein, sondern nur von einem Sehen ausgegangen werden. Auch müsse die Identität des Ideal- und Realgrundes = der Identität des Denkens und des Anschauens aufgestellt werden. Fichte betont, daß die Vernunft nicht nur als Indifferenz, sondern auch als Differenz des Subjektiven und Objektiven gedacht werden müsse, da sonst von ihr zu keinen weiteren Bestimmungen fortgeschritten werden könne. „Daß Differenzen zwischen uns weiter laut würden“, schließt Fichte seinen Brief, „würde der guten Sache gewiß sehr schaden, und von den Feinden der Wissenschaft, und den Blödsinnigen auf die schlimmste Weise benuzt werden.“ Schelling versucht daraufhin vergeblich, das gegenseitige Mißverstehen weiter auszuräumen. Da er immer noch gewillt ist, Fichte von der Stimmigkeit seines Ansatzes zu überzeugen, kündigt er für das nächste Heft seiner Zeitschrift eine Fortsetzung der Darstellung an. So geschehen im ersten Heft des ersten Bandes der Neue[n] Zeitschrift für speculative Physik von 1802 unter dem Titel Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie (SW I/4, pp. [333]-508). Diese Abhandlung ist nicht mehr scholastisch überformt, sondern so, wie wir es vom Verfasser ursprünglich gewohnt sind. Er bemüht sich dort, jene Paragraphen der Darstellung zu kommentieren und gründlicher auszuführen. Inhaltlich weist sie daher keine wesentlichen Modifikationen auf. Ihren apologetischen Charakter vermag sie nicht zu verbergen. Dasselbe gilt für den letzten Versuch dieser Art aus dem Jahre 1806, die Schrift Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre. Eine Erläuterungsschrift der ersten (SW I/7, pp. [1]126). Der Erfolg dieser Bemühungen blieb insofern aus, als Fichte nicht mehr reagierte. Der Bruch war vollzogen. 3.5.10 Das Würzburger „System“ Mit der vorzunehmenden Analyse des Würzburger Systems sind wir am Ende unseres textkritischen Durchgangs angelangt. Es ist die einzige der hier besprochenen Schriften, welche nicht zu Lebzeiten des Autors publiziert wurde. Dies übernahm Schellings Sohn, welcher das Werk aus dem handschriftlichen Nachlaß des Vaters heraus in seine Sämmtlichen Werke (1856-61) aufnahm (SW I/6, pp. [131]-577; AS 3, pp. [141]-587). In der Historisch-kritische[n] Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ist es (noch) nicht erschienen. Wir greifen daher auf den Text der SW-Edition zurück. Der vollständige Titel lautet: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere. Es handelt sich um die aus-

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formulierte Zusammenfassung einer in Würzburg gehaltenen Vorlesung. Dorthin war Schelling 1803 einem Ruf als Ordinarius für Philosophie gefolgt. Für die Abhandlung wählt und rezipiert der Verfasser die Paragraphenform der Darstellung. Das wiederholte und bewährte Wort System im Titel ist der Hinweis auf den Anspruch wie Versuch einer Gesamtschau des Wissens, welches Natur- und Transzendentalphilosophie als die zwei Eingänge zu ein und demselben darstellen. So besehen, haben wir es mit der Fortsetzung der identitätsphilosophischen Periode des Autors zu tun. Die Vorlesung behandelt zwei Teile: I. Allgemeine Philosophie und II. Naturphilosophie. Der zweite Teil gliedert sich wiederum in drei Hauptabschnitte: „A) Allgemeine Naturphilosophie“, „B) Specielle Naturphilosophie“ und „C) Construktion der idealen Welt und ihrer Potenzen“. Außerdem ist der gesamte Text unabhängig davon in 326 Paragraphen gegliedert. Schelling beginnt, indem er den Satz der inbegriffenen Evidenz, Ich bin, zu einem allgemeinen macht: „§. 1. Die erste Voraussetzung alles Wissens ist, daß es ein und dasselbe ist, das da weiß, und das da gewußt wird.“145 Diese Setzung ist wegweisend für die gesamte Abhandlung. Im Wissen selbst, als Akt, eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt anzunehmen, sei bereits der „Grundirrthum in allem Wissen“. Auf derselben „niedrigen Stufe der Reflexion“ werde auch die Wahrheit als eine erklärt, welche aus der Übereinstimmung der Subjektivität mit der Objektivität im Wissen hervorgehe146; und Wissen bedürfe immer eines Objekts, mit dem es übereinstimmt, um überhaupt Wissen zu sein. Von derlei, und weiteren irrigen Annahmen, verspricht der Verfasser sein Publikum zu befreien, indem er fragt: ist Wissen eine Wirkung des Gewußten auf das Wissende (den Wissenden) oder umgekehrt, eine Wirkung des Wissenden auf das Gewußte, oder beides? Das heißt, ist ihr Verhältnis ein- oder wechselseitig? Der Begriff Wirkung deutet auf eine Form der Vermittlung hin, denn ein Gewußtes, das wirkt, wird bereits nicht mehr in der Weise perzipiert, wie es an sich ist, sondern eben nur so, wie es wirkt. Nicht das Objekt selbst, sondern bloß die Wirkung des Objekts ist dann zu erfahren. Im Subjekt, als dem Wissenden, würde allein die Wirkung des Objekts vorkommen, niemals aber jenes an sich. Ebenso undenkbar wie unvollständig ist Schelling die umgekehrte Richtung: vom Subjekt zum Objekt. Würde das Objekt nämlich in seiner Bestimmung gänzlich als vom Subjekt abhängig gedacht, wäre es ein relatives Objekt, welches daher genauso gut ein „Nichtgewußtes“, „Nichtvorstellbare[s]“, „Kantische[s] Ding an sich“, das heißt ein „Gedankending“, genannt werden könnte. Was also bliebe, um zu Wissen zu gelangen, 145 Alle Zitate aus dem Würzbuger System, welche hier aufgeführt werden und kursiv erscheinen, sind im Original durch S p e r r u n g hervorgehoben. 146 Cf. F. W. J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus, SW I/3, p. [339], 1.

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sei die Wechselwirkung von Subjekt und Objekt anzunehmen. „Hiermit trennen wir uns also für immer von derjenigen Sphäre der Reflexion, in welcher eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt gemacht wird“ (SW I/6, p. 140). Die Unterscheidung selbst sei schon ein Produkt unserer Subjektivität und sonach unserer Endlichkeit. Und gerade diese müßten aus dem Philosophieren „gänzlich verschwinden“. Der Ursprung des Wissens kann nicht in einer Unterscheidung liegen, er hat anderswo gesucht zu werden. „Daß ich sage, ich weiß, oder ich bin der Wissende, dies ist schon das ʌȡ૵IJȠȞ ȥİ૨įȠȢ. Ich weiß nichts, oder mein Wissen, insofern es wirklich meines ist, ist kein wahres Wissen. Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir, wenn das Wissen, das ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wahres Wissen ist“ (l. c., p. 140). Die höchste Erkenntnis bestünde darin, die Gleichheit des Subjekts und Objekts selbst zu erkennen. Auch ist gemeint: die ewige Gleichheit erkennt sich selbst. Und dieses Erkennen, „in welchem die ewige Gleichheit sich selbst erkennt, ist die Vernunft. Denn die Vernunft ist entweder überall keine Erkenntniß, oder sie ist Erkenntniß des Ewigen, des Unveränderlichen im Wissen“ (§. 4.). Noch einmal: von der Wechselwirkung des Wissens zwischen Subjekt und Objekt schließt Schelling auf deren Gleichheit. Die Gleichheit wiederum identifiziert er als absolute Vernunft oder Allvernunft, die in der Gleichheit sich selbst anschaut. Wechselwirkung = Gleichheit = Vernunft. Die Vernunft ist die Selbsterkenntnis des Unveränderlichen und der ewigen Gleichheit. Im Wissen kann nur die Gleichheit „ewig“ sein.147 Mit diesen Sätzen ist für den Verfasser „alles Subjektiviren der Vernunfterkenntniß auf immer niedergeschlagen“. In der Vernunft höre alle Subjektivität auf. Wir wären nämlich in unserem Denken und Wissen „eingeschlossen“, hinge alles Erkennen einzig an uns als Subjekt. – Wir sehen bereits nach wenigen Seiten: der Beginn dieser Schrift fällt wesentlich assertorischer aus. Hinter der deutlichen Abgrenzung seines Systems gegenüber einem subjektiven Idealismus verbirgt sich immer noch die Auseinandersetzung mit Fichte. Der anhaltende Rechtfertigungsdruck, unter welchen Schelling sich selbst setzt, birgt den Effekt, daß er seine Thesen mit größerer Schärfe als bisher vorträgt und den eigenen Standpunkt besser kenntlich macht. Als Grundgesetz der Vernunft betrachtet der Autor das Gesetz der Identität oder, was dasselbe ist, den Satz A = A. Alles Wissen sei nichts anderes als eine „Affirmation“, und in jeder „Affirmation“ gäbe es ein „Affirmirendes“ und ein „Affirmirtes“. Dieses Begriffpaar ist neu und findet in der Würzburger Vorlesung durchgängige Verwendung. Das Affirmierende ist das Subjektive, das Affirmierte das Objektive in allem Wissen. Das höchste Erkennen ist die „absolute Affirmation“ ihrer Einheit. Nach Schelling ist der analytische Satz a priori, der Kreis ist rund, ei147 Schelling benutzt hier das Adjektiv ewig, statt wie bisher, unendlich.

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ne „absolute Affirmation“ (A = A). Der Satz A = A sagt nichts über die Beschaffenheit von A aus, auch nicht, ob es in der Realität vorkommt oder nicht, sondern lediglich, daß A = A ist. Die „wahre Substanz“ des Wissens in diesem Satz ist lediglich die Gleichheit, oder: die absolute Identität. Die absolute Identität und die Gleichheit an sich selbst sind vom Subjektiven und Objektiven in dem Satz A = A vollkommen unabhängig. Etwas hat An-sich-Sein nur, wenn es Affirmierendes und Affirmiertes an sich selbst ist. Daraus folgt §. 7.: „Ein solches, welches sich selbst absolut affirmirt, und von sich selbst das Affirmirte ist, ist nur das Absolute oder Gott.“ In Ansehung Gottes, der die absolute Affirmation von sich selbst ist, sei alles Ideale, Subjektive, und alles Reale, Objektive, gleich. In der gemeinen Reflexion würden zweierlei Arten des Wissens unterschieden: erstens bedingtes, das heißt synthetisches, und zweitens unbedingtes, das heißt analytisches Wissen. Synthetisches Wissen stellt sich in der Gleichung A = B, analytisches Wissen in der Gleichung A = A dar. Bei dem Satz A = A komme ich nicht über mein subjektives Denken hinaus; ich sage keine Realität aus. Im gemeinen Wissen existiere also jener Gegensatz, wie ihn auch Kant mache: „Entweder ich weiß von einem Wirklichen, einem Objektiven, mein Wissen ist ein reelles, alsdann aber ist es auch bloß bedingter, synthetischer Art. Oder ich weiß zwar unbedingt, aber dann ist mein Wissen kein objektives, sondern ein bloß subjektives, ich komme nicht über mich selbst hinaus. Ueber der Realität verliere ich immer die Unbedingtheit, so wie über der Unbedingtheit die Realität“ (SW I/6, p. 150). Schelling nun intendiert diesem Zirkel zu entkommen, indem er die übergeordnete Warte der Vernunft selbst einnimmt. Aus deren Perspektive heben alle Idealität und Realität sich wie von selbst auf. „In der Vernunft (so wie wir sie bestimmt haben) weiß ich unbedingt und reell zugleich“ (l. c., p. 150). Der wahre Gegenstand der Vernunfterkenntnis sei das Absolute, weil nur in Ansehung des Absoluten das Gesetz der Identität zugleich das Gesetz des Seins sei. Hier jedoch bleibt etwas unerörtert. Das Problem läßt in folgende Fragen sich übersetzen: Wie kann ich bedingte Gegenstände aus der Warte einer unbedingten Vernunft anschauen? Wie kann ich selbst mittels der Allvernunft das Absolute in den Objekten dieser Welt erkennen? Wie kann ich die Perspektive Gottes einnehmen, in der die vollkommene Gleichheit von Subjekt und Objekt herrscht? Schellings Antwort ist ebenso abstrakt wie ernüchternd. Zusammengefaßt sagt er dies: Mit der absoluten Vernunft verhält es sich wie mit der ,intellektuellen Anschauung‘. Ich kann sie nicht erlernen, vielmehr überkommt sie mich. Sie ist die Selbstoffenbarung Gottes im Individuum (vergleichbar der Hegelschen „List der Vernunft“). Wenn sie da ist, weiß ich von ihr. Dieser Moment aber ist nur Wenigen vorbehalten. „[D]ie Vernunft ist nicht das Subjektive, das Besondere; sie ist das schlechthin Allgemeine, das alle Besonderheit, alle Subjektivität niederschlägt. In einem wohl geordneten Gemüth

336 | O BJEKT -S UBJEKT aber kann die Besonderheit, die Subjektivität, selbst zur Identität mit der Vernunft sich läutern, und die Erkenntniß des Göttlichen ist dann nicht mehr eine bloße Erkenntniß des Allgemeinen der Seele, sondern auch ihres Besondern (welches mit dem Allgemeinen jetzt Eins ist), und es wird dann auch für das Subjekt ein Genuß des Göttlichen möglich in dem Maß, in welchem es sich selbst dem Allgemeinen vermählt hat“ (SW I/6, p. 152).

Die Erkenntnis des Absoluten in der Vernunft definiert Schelling als eine unmittelbare. Nur dadurch erreicht sie die Qualität einer ,intellektuellen Anschauung‘. Unmittelbar bedeutet erstens, daß es keinerlei Begrenzung des Erkennenden durch das Erkannte gibt. Unmittelbar bedeutet zweitens, daß die Erkenntnisart des Absoluten immer eine kontemplative ist. Jede unmittelbare Erkenntnis muß kontemplativ und Anschauung heißen. Unmittelbarkeit = Kontemplation = Anschauung. Wenn aber die Allvernunft selbst das Erkennende ist, so ist diese Anschauung eine Vernunftoder ,intellektuelle Anschauung‘. Zur Verdeutlichung dieser seiner eigenen Auffassung darüber, was eine ,intellektuelle Anschauung‘ ist, unternimmt unser Autor einen Vergleich mit den Ansichten Fichtes. Dieser bestimme die ,intellektuelle Anschauung‘ so: „Wenn ich einen äußeren Gegenstand denke, so ist der Gedanke und die Sache eine verschiedene, denke ich aber mich selbst, so ist Subjekt und Objekt Eins, und in dieser Einheit ist die intellektuelle Anschauung“ (l. c., p. 154). Schelling hält dem entgegen, daß die Gleichheit von Subjekt und Objekt nicht auf das Bewußtsein meiner selbst eingeschränkt, sondern allgemein verbreitet sei und daß die absolute Evidenz des Ich bin sehr wohl auf das All zu erweitern und anzuwenden möglich sei. Weiter betont er, daß ebenso wenig wie ein äußeres Objekt, ein inneres, also das empirische Selbst, zum Gegenstand der intellektuellen Anschauung werden könne. Äußere wie innere Betrachtungen seien bei Fichte gleichermaßen reflexiver Art. Allein ein Unendliches, Unbegrenztes, von sich selbst Affirmiertes könne intellektuell, das heißt aller Reflexion vorgängig, angeschaut werden. „Wenn nun jemand forderte, daß man ihm die intellektuelle Anschauung mittheilen sollte, so wäre dieß ebenso viel, als wenn er forderte, daß man ihm die Vernunft mittheilte. Der Mangel der intellektuellen Anschauung in ihm beweist nichts weiter, als daß in ihm die Vernunft noch nicht zur Klarheit ihrer Selbsterkenntnis gekommen ist. Die intellektuelle Anschauung ist nichts Besonderes, sondern gerade das ganz Allgemeine“ (SW I/6, p. 154).

Sie ist das Allgemeine, das des Besonderen sich bedient, um in ihm sich zu revelieren. Sie ist noch immer das Ergebnis nicht von Reflexion, sondern von Produktion. Die ,intellektuelle Anschauung‘ entspricht der Tätigkeit des Philosophen. ,Intellektuelle Anschauung‘ = Philosophie. Sie vollzieht sich nicht im Besonderen, sondern hat immer das Ganze im Blick (wobei dieses auch im Einzelnen sich spiegeln kann). Nach diesen Sätzen scheint es, als sei einzig Schelling selbst, indem er sein

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System ausformuliert, die ,intellektuelle Anschauung‘ möglich. In der Niederschrift seiner Gedanken, welche die ,Wahrheit des Ganzen‘ entbergen, offenbart die Vernunft sich selbst. Sein System als System ist eine einzige ,intellektuelle Anschauung‘. Daß ich erkenne, daß es eine höhere Form von Vernunft (= Gott) geben muß, in der die endliche Differenz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist, ist bereits eine Erkenntnis, welche nicht aus mir selbst kommt. Die ,intellektuelle Anschauung‘ als revelatio rationis kann auch punktuell sich ereignen. Dann allerdings, so macht es den Eindruck, entspräche sie eher einer ,mystischen Verzückung‘ oder jener visio beatifica, wie die Scholastiker sie kannten. Erst wenn wir eingesehen hätten, so Schelling, daß Erkenntnis nur ist, wenn sie als Idee Gottes gedacht würde, könnten wir erkennen, „daß nicht nichts ist, sondern daß nothwendig und ewig das All ist“ (SW I/6, p. 155). Daß etwas ist, ist, als höchste Erkenntnis, nur von der absoluten Vernunft her, welche Gott ist, erkennbar. Daher gilt: „[A]lles, was ist, ist, insofern es ist, Gott“ (l. c., p. 157). Die Selbsterkenntnis der Vernunft in der absoluten Identität ist die Selbstaffirmation Gottes. Und indem Gott sich selbst affirmiert, affirmiert er zugleich seine unendliche Realität als die einzige Realität, die reell ist. In Schellings Worten: „Gott erkennt die Dinge nicht, weil sie sind, sondern umgekehrt, die Dinge sind, weil sie Gott erkennt, d. h. weil sie unmittelbar mit der Erkenntniß, die er von sich selbst hat, oder weil sie mit der absoluten Affirmation von sich selbst zugleich affirmirt sind“ (l. c., p. 169 sq.). Im subjektiven Idealismus gilt, daß alles, was ist, ist, weil ich Bewußtsein davon habe. Indem der objektive Idealismus an die Stelle von Ich Gott setzt, gelangt er zu einem entsprechend erweiterten Resultat: die absolute Identität des Alls. Wenn Gott sagt: Ich bin, erkennt die Welt sich selbst. Einzig Gott vermag das Universum als Ganzes ,intellektuell anzuschauen‘. Nur in der Selbsterkenntnis Gottes ist die absolute Gleichheit reell. Die Welt ist nicht als Ort der Selbstdifferenzierung Gottes zu betrachten, da sie sonst sein Bestimmungsgrund wäre – was jedoch nicht sein kann. Vielmehr ist Gott der Bestimmungsgrund der Welt. Schelling will Gott, wie früher das Ich, von aller objektiven Entzweiung frei wissen. „Gott, indem er sich selbst affirmirt, setzt nicht ein Affirmatives und ein Affirmirtes als verschiedene, als differente, sondern er setzt sich selbst als das, was affirmirt und affirmirt ist. [...] Durch das Selbsterkennen Gottes wird weder ein Subjektives als ein Subjektives, noch ein Objektives als ein Objektives gesetzt“ (l. c., p. 171). Gott ist das schlechthin Eine. Er ist die absolute Identität des Subjektiven und des Objektiven, die in ihm ununterschieden sind. Weil Gott Alles ist, ist alles Eins oder: „das All ist Eines“. Darauf erläutert der Verfasser den Ursprung der Welt. Auch hier begegnet uns außer der neuen Verwendung des Begriffes Gott (= Vernunft, Wissen, Totalität, Identität, Copula etc.) nichts Unbekanntes: „§. 27. Gott ist nicht die Ursache des All, sondern das All selbst.“ Gott kann deshalb nicht „Ursache“ sein, weil der Autor unter Ursache ein Affirmierendes versteht, welches von seinem Affirmierten verschieden ist.

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„Pantheismus“ jedoch könne aus diesen Sätzen nicht geschlossen und ihm vorgehalten werden, wirft Schelling im Hinblick auf seine Kritiker ein. Pantheismus dürfe seine Lehre deshalb nicht genannt werden, weil dieser Begriff, im herkömmlichen Sinne, sage, daß Gott die empirische Allheit des Seins sei, „als ob Alles, d. h. alle sinnlichen Dinge zusammengenommen, Gott wären“ (l. c., p. 177). Platonisch erläutert der Verfasser, daß die Wesenheiten der Dinge, gegründet in der „Ewigkeit Gottes“, Ideen seien, daß also das wahrhaft Reale in den Dingen nur die Idee sei. Idee heißt jetzt auch die vollkommene Identität des Besonderen mit seinem Allgemeinen. (Wir sehen an dieser Stelle, daß die Modifikationen des Würzburger Systems vorwiegend aus dem Tausch der Begriffe entstehen, nicht aber die Prinzipien betreffen). Jedes Besondere sei mit seinem Allgemeinen (= Begriff) absolut eins und in ihm aufgelöst, denn es sei nur die Negation des Allgemeinen. Wie ist das gemeint? „Wir schauen in allen Dingen nur das Allgemeine, den Begriff, aber negirt an. Die besondere Pflanze z. B. ist nichts anderes als der angeschaute, aber mit Negation angeschaute Begriff der Pflanze“ (l. c., p. 184). Die Pflanze wird dadurch zu einer bestimmten Pflanze, daß sie ihren Allgemeinbegriff „nicht vollkommen ausgedrückt in sich darstellt, weil sie nur zum Theil ist, was sie ihrem Begriff nach seyn könnte“. Die Pflanze ist also nur die Negation ihres Allgemeinbegriffs. Das Wesen der Pflanze ist „die unendliche Zeugung und Affirmation von sich selbst“ (l. c., p. 184). Damit aber ist das Wesentliche der Pflanze nichts anderes, als das All selbst in der unendlichen Zeugung von sich selbst angeschaut. Allein durch die Idee, welche die vollkommene Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen ausdrückt, erhält die Pflanze ihr An-sich-Sein. Idee = Identität = An-sichSein = Wesen. Eine Differenz zwischen Begriff und Sache existiert nach Schelling nur in der Sphäre der Endlichkeit, was zu einer ständigen Unsicherheit über Wahrheit und Realität der Dinge führen muß. Außerdem könne beispielsweise aus dem Begriff der Substanz in alle Ewigkeit keine wirkliche Substanz eingesehen werden, sondern es müsse etwas von dem Begriff Unabhängiges hinzukommen, um sie als solche zu setzen. „Im All dagegen sind eben die Allgemeinbegriffe auch das Reale, denn sie sind in dem All als Formen, die das ganze Wesen des All selbst in sich aufnehmen, so daß Wesen und Form, Allgemeines und Besonderes hier vollkommen ein und dasselbe ist“ (l. c., p. 185). Kant käme das Verdienst zu, zuerst wieder daran erinnert zu haben, daß Ideen etwas bedeuten, das nicht nur nicht von den Sinnen entlehnt sei, sondern welches sogar die Begriffe des Verstandes oder die Kategorien weit übersteige, indem es Begriffe nicht einer möglichen Erfahrung, sondern Begriffe seien, die über alle Erfahrung hinausgingen. Die Idee steht über dem Reellen ebenso wie sie weit über das Ideelle, als Welt unserer Begrifflichkeit, hinausreicht. Dennoch bedarf die Idee der endlichen Erscheinung, um in ihr sich anzuschauen und Idee zu sein. Egal wie sehr der Verfasser seine Terminologie verändert, stets kehrt er zu seinem Ausgangsproblem zu-

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rück: inwieweit gelingt es, das Absolute (= Idee) als vollkommene Identität zu denken bei gleichzeitiger Differenz? Oder: wie kann die Zweiheit des Einen gedacht sein, ohne das Eine zu entzweien? Und: wie kann Gott sich in der Welt anschauen, ohne das Endliche wirklich berühren zu müssen? Schelling antwortet mit der Metapher vom Auge Gottes. Gott sieht sich im Spiegel (= Welt) an, ohne den Spiegel als solchen wahrzunehmen: „Wie das Auge, indem es sich selbst im Widerschein, z. B. im Spiegel, erblickt, sich selbst setzt, sich selbst anschaut, nur inwiefern es das Reflektirende – den Spiegel – als nichts für sich setzt, und wie es gleichsam Ein Akt des Auges ist, wodurch es sich selbst setzt, sich selbst sieht, und das Reflektirende nicht sieht, es nicht setzt: so setzt oder schaut das All sich selbst, indem es das Besondere nicht-setzt, nicht-schaut; beides ist Ein Akt in ihm; das Nichtsetzen des Besonderen ist ein Schauen, ein Setzen seiner selbst, und dieß ist die Erklärung vom höchsten Geheimniß der Philosophie, wie nämlich die ewige Substanz oder Gott durch das Besondere oder die Erscheinung nicht modificirt ist, sondern nur sich selbst schaut und selbst ist als die Eine unendliche Substanz“ (SW I/6, p. 197 sq.).

Der Spiegel ist Objekt, ohne es wirklich zu sein. Er ist es und ist es nicht. Das Subjekt, als Auge Gottes, schaut sich in einem Objekt, ohne dasselbe als solches zu setzen und ohne daß dies Reflexion heißen könnte. In Umkehrung der Kantischen Lehre, daß erst die Überprüfung durch die Empirie wahre Erkenntnis garantiere, sagt Schelling: „[A]lle sinnliche Erkenntniß ist, als eine sinnliche, eine Verneinung der Erkenntniß, und nur das Wesen, das An-sich, ist der positive Gegenstand des Wissens, dasjenige, von dem wir eigentlich wissen können“ (SW I/6, p. 199). Das Nicht-Sehen und Nicht-Erkennen (des Sinnlichen, welches vom Wesen ablenkt) sind also das wahre Sehen und Erkennen (des Wesens, der Idee). Und so wie unser Sehen ein Nicht-Sehen ist, ist auch das Sein der Dinge ein Nicht-Sein, eine Privation ihres An-sich-Seins. Die Erkenntnis der Dinge entsteht uns, ebenso wie ihr Sein außer uns, nur durch Privation der Erkenntnis überhaupt. Der unmittelbare Gegenstand der Erkenntnis kann immer nur das Positive, also Gott sein. Von dieser Feststellung aus führt Schelling den Begriff der Natur ein: „§. 42. […] Die Gesammtheit der Dinge, inwiefern sie bloß in Gott sind, kein Seyn an sich haben, und in ihrem Nichtseyn nur Widerschein des All sind, ist die reflektirte oder abgebildete Welt (Natura naturata), das All aber, als die unendliche Affirmation Gottes, oder als das, in dem alles ist, was ist, ist absolutes All oder die schaffende Natur (Natura naturans).“

Die Gleichsetzung von All und Natur begegnet im Text als Setzung, das heißt ohne Begründungs- oder Beweisgang, wie wir es sonst vom Autor gewohnt sind. Er

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kommentiert lediglich, daß die erscheinende Welt, oder Natura naturata, „nur der Schauplatz“ sei, auf welchem die Dinge, „nicht ihrem Seyn in Gott, sondern ihrem eignen Leben nach, aber eben daher unter dem Gesetz der Nichtigkeit, der Privation, der Endlichkeit“ erschienen. Die Differenzen innerhalb der natura naturata seien rein quantitativer Art, es existierten nur Unterschiede der Potenz, nicht aber dem Wesen nach. Natura naturata wird lediglich als Sinnbild für Privation betrachtet. Damit verliert sie ihren ursprünglichen Wert als Gesamtorganismus, wie er ihr noch in den Ideen, der Weltseele oder dem Entwurf zukam. Die ehemals fruchtbare Teilung der natura in eine naturans und eine naturata (als differenzierte Indifferenz) wird jetzt zu einer unüberwindlichen. Indem nämlich ein Teil der Natur (die natura naturans) mit Gott identifiziert wird, verliert die Natur endgültig ihre Einheitlichkeit und somit ihre Unabhängigkeit; ihr Gesamtcharakter verändert sich dadurch wesentlich. Von Schelling neu hinzugefügt ist die (platonische) Unterscheidung von Leib und Seele: „§. 64. Das Affirmirende, inwiefern es unmittelbar bloß das Affirmirende des Besonderen ist, ist die Seele, das Affirmirte dagegen, inwiefern es unmittelbar bloß das Affirmirte jenes Affirmirenden ist, der Leib des Dings.“ Die Seele ist das Erkennende, der Leib das Erkannte. Das Verhältnis von Seele und Leib ist gleich dem Verhältnis von Idealem und Realem. Als beseelendes Prinzip haben wir (in der Weltseele) bisher nur die Totalität kennengelernt, nicht aber ein einzelnes Affirmierendes. Der Autor erinnert auch an dieser Stelle daran, daß das wahre Wesen der Dinge jedoch weder die Seele noch der Leib, sondern das Identische beider sei. Nur die Einheit aus Seele und Leib macht ein Einzelnes zu einer Totalität für sich. „§. 67. Einzig durch diese Verbindung des Affirmirenden mit einem Affirmirten (der Seele mit einem Leibe) bilden beide zusammen eine vollendete Substanz (substantia completa), eine Monas, eine Welt für sich.“ Ohne ein Affirmiertes wäre das Affirmierende reine Tätigkeit oder „reine Entelechie“. Erst in Verbindung mit dem Affirmierten vermag die Entelechie eine Monas und das Affirmierte eine Realität zu werden. Alle endlichen, einzelnen Dinge führten daher ein „gedoppeltes Leben“: eines in der Unendlichkeit der Substanz (= Wesen) und eines „in sich selbst“ oder ein „besonderes“ Leben (= Erscheinung). Im Gegensatz zum Leben im All könne das besondere Leben nur als ein unendliches Zerfallen in Differenz erscheinen, als unendliche Nicht-Identität, als reine Ausdehnung. Indem das All in der Nichtigkeit der Dinge sich anschaut, vernichtet es zugleich die Unendlichkeit in den Dingen. Konkret geschieht dies mittels der Zeit. „Die Zeit ist diese Vernichtung des besonderen Lebens als eines besonderen; denn es entsteht nur in der Zeit, es ist nicht an sich selbst, sondern nur, insofern ihm der unendliche Begriff des All eingebildet [ist]“ (l. c., p. 220). Der Raum, als Korrelat der Zeit, ist die bloße Form der Nichtigkeit der Dinge oder die Form ihres Affirmiertseins. Die Zeit hingegen ist die Form des Beseeltseins der Dinge. Über die Erläuterung von Raum und Zeit gelangt

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Schelling zur Beschreibung der Dimension. Die erste Dimension der Ausdehnung nennt er das Affirmative im Leiblichen oder die Zeit. Sie drückt sich als Linie (A1) aus. Die zweite Dimension im ausgedehnten Raum bildet das Affirmierte oder die Fläche (A2). Die dritte Dimension ist der Kubus (A3). Er entspricht der Form vollkommener quantitativer Gleichheit. Innerhalb dieser drei Dimensionen potenziert die endliche Welt sich als Differenz. Statt von Dimension spricht der Autor auch von Potenz. Und anstelle von Dreidimensionalität ist bisweilen die Rede von der „Triplicität der Potenzen“. In der vollkommenen Gleichheit seiner Form ist der Kubus (= Grundgestalt aller Körper) für sich indifferent (= relative Identität). Mit und für sich bildet er seine eigene Totalität und damit Realität. Und da gilt: Realität = Indifferenz, schließt der Verfasser in §. 76.: „Das Reale oder die Indifferenz im Affirmirten ist die Materie.“ Die Materie wird jedoch von ihrer Substanz, welche deren wahres Wesen ist, unterschieden. Sie selbst ist, als Ausdruck des Affirmierten schlechthin, in Raum und Zeit unendlich teilbar, nicht aber ihre Substanz. Was wir demnach anschauen, wenn wir Materie betrachten, ist nach Schelling nur das Allgemeine, das Eine, die unendliche Substanz, nicht das Partikulare an ihr. „Indem wir also ein besonderes körperliches Ding anschauen, schauen wir nicht eine besondere Substanz an, sondern nur die Substanz im Besonderen, in dem, was für sich eigentlich nicht sehbar ist, weil es Nichts ist. Diesem Nichts, diesem ȝ‫ݻ ޣ‬Ȟ148, strahlt die unendliche 148 Schelling war bekannt, daß schon die Griechen zwischen etwas, das nur nicht ist, jedoch sein könnte (ȝ੽ ੕Ȟ) und etwas, das überhaupt nicht, in keiner Hinsicht ist (Ƞ੝ț ੕Ȟ), genau unterscheiden. Das von ihm eingesetzte ȝ੽ ੕Ȟȱist hier also bewußt gesetzt. Es entspricht einem Nichts, das dennoch die Potenz zu sein in sich trägt (im Gegensatz zu einem Nichts, das nur Nichts und nie Sein sein kann). In seiner Darstellung des philosophischen Empirismus, welche er 1836 in München vortrug, expliziert er dies genauer: „Das ȝ੽ ੕Ȟȱ ist das nicht Seyende, das nur nicht seyend ist, von dem nur das wirklich seyend seyn geleugnet wird, bei dem aber noch die Möglichkeit ist seyend zu seyn, das also, weil es das Seyn noch als Möglichkeit vor sich hat, das nicht Seyende zwar ist, aber nicht so ist, daß es nicht das Seyende seyn könnte. Das Ƞ੝ț ੕Ȟȱ aber ist das ganz und in jedem Sinn nicht seyende, oder es ist das, von welchem nicht bloß die Wirklichkeit des Seyns, sondern auch das Seyn überhaupt, also auch die Möglichkeit geleugnet ist. Im ersten Sinn oder durch den Ausdruck ȝ੽ ੕Ȟ wird nur die Position, das wirkliche Setzen des Seyns verneint – aber das, von dem es zu verneinen, muß doch auf gewisse Weise seyn. Im andern Sinn, durch den Ausdruck Ƞ੝ț ੕Ȟ, wird die Negation des Seyns bejaht und selbst gesetzt“ (SW I/10, p. 283). Darauf gibt Schelling zur Veranschaulichung ein Beispiel: „Wenn jemand den Vorsatz zu einer Handlung, etwa zu einem Verbrechen gefaßt, ihn aber nicht ausgeführt hat, so würde ich gut griechisch bloß sagen

342 | O BJEKT -S UBJEKT Substanz ihr Wesen, nämlich die absolute Identität ein, aber wegen der impotentia recipiendi Deum kann die absolute Identität in ihm nur in der Form der Indifferenz oder der Synthesis erscheinen. Gott beseelt also das Nichts durch die Irradiation der Dimensionen“ (SW I/6, p. 229).

Nicht Eines sähen wir beim Betrachten der Dinge, sondern Gedoppeltes: „die unendliche Substanz + dem Nichts der Besonderheit“, „das Helle + dem Dunkeln, das Positive + dem Nichts, also keines von beiden rein für sich“ (l. c., p. 229 sq.). Die empirische Unendlichkeit ist Schelling nur das falsche Scheinbild der wahren oder der aktuellen Unendlichkeit und ein bloßes Produkt der Imagination (§. 80.). Dies gilt auch für das Universum. Von ihm haben wir einzig eine Vorstellung, nicht aber schauen wir sein Wesen. Das wahre, unendliche All kann keine Dimensionen haben, denn diese sind nur Erscheinungen der absoluten Identität an dem besonderen Ding. Es hat jedoch keine Dimensionen, „nicht wie der Punkt keine hat wegen des Mangels der Totalität, sondern vielmehr, weil es absolute Totalität“ (l. c., p. 240) und absolute Identität ist. Hätte es Dimensionen, wäre es ja begrenzt, was nicht sein könne, argumentiert der Verfasser. Über dem affirmierten Teil der Materie, welcher der Leib ist, sei jedoch, so Schelling, ihre affimierende, das heißt ihre beseelende Seite nicht zu vergessen. Mit der Materie als beseelende meint er auch die Bewegung, welche zur Ruhe (= Leib = Affirmiertes) hinzukommt bzw. mit ihr erst das identische Ganze bildet. Leib und Seele seien nämlich „ein und dasselbe Ding, nur von verschiedenen Seiten betrachtet“ (SW I/6, p. 241). Unter Materie sei also nicht der Leib allein, sondern die Identität von Leib und Seele oder dasjenige zu verstehen, „von welchem Bewegung und Ruhe die beiden gleichen Attribute sind“ (SW I/6, p. 242). Materie ohne bewegendes Prinzip hieße Masse. Mit Schellings Worten: „§. 88. Die Materie als Masse betrachtet ist nicht eine Negation, sondern eine völlige Privation der Bewegung.“ Auch hier gilt: nur der unendlichen Substanz, als Grund der Masse, kommt Realität zu. „§. 92. Die unendliche reale Substanz oder die absolute Identität, sofern sie sich zu den besonderen Dingen als Grund von Realität verhält, ist Schwere.“ Die Schwere ist die unbeseelte Seite der Materie als Masse. Schelling verfährt nach der gleichen Methode wie in der Darstellung: das physikalische Phänomen der Schwere wird transzendentalphilosophisch aufgelöst, zum bloßen Derivat des Absoluten erkönnen: ȝ੽ ਥʌȠ઀Șıİ, denn er hat es nur nicht gethan, nur die Ausführung, das wirkliche Geschehenseyn, die Position wird geleugnet; wenn aber ein Verbrechen begangen worden, und der Thäter zweifelhaft ist, wird man von dem, welcher auch nicht einmal den Vorsatz gefaßt hatte, wo also auch die Möglichkeit geleugnet wird, nothwendig sagen müssen: Ƞ੝ț ਥʌȠ઀Șıİ“ (SW I/10, p. 284).

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klärt. Noch deutlicher erweist dies der folgende Satz: „§. 94. Der Grund der Gravitation einer Masse gegen eine andere Masse liegt weder in jener noch in dieser, noch überhaupt in einer Wirkung der Massen aufeinander, sondern einzig in der absoluten Identität.“ Der Autor abstrahiert jetzt sogar von jener Entgegensetzung der Kräfte, welche durch die Masse aufeinander wirken und noch in den Ideen von ihm als Realprinzip schlechthin angesehen wurden. Was in der Naturphilosophie die Homöostase oder „prästabilirte Harmonie“ war und als Ausgleich der Kräfte die Funktionalität wie Entelechie des Organismus anzeigte, heißt nun schlicht „Harmonie der Dinge“ und steht in völliger Abhängigkeit zu einem Zentrum, welches ihr absolute Notwendigkeit verordnet: die eine und unendliche Substanz. „Da nun aber die Substanz Eine ist, ungetheilt, untheilbar, und da sie gleicherweise das Wesen jedes Dings ist, sofern es Realität hat, so hat mittelbar jedes Wesen in jedem anderen sein Centrum; dieß ist die große Verkettung, die innere ewige Verwandtschaft und Harmonie der Dinge. Es ist also bloß Zufälligkeit der Erscheinung, daß der Stein z. B. gerade gegen das Centrum der Erde gravitirt; denn wahrhaft ist seine Gravitation gegen die Erde nichts anderes als Ausdruck der Nothwendigkeit, die er hat, in der Substanz und dadurch, der Substanz nach, mit allen Dingen eins zu seyn“ (SW I/6, p. 253).

Nicht ein Körper zieht den anderen aus der Ferne an sich, sondern einzig die allgemeine, unendliche Substanz einigt sie, „die aber nicht ferne und nicht nahe, sondern alles und jedes auf gleiche Weise ist. Sie ist das, was als Eines Alles und als Alles Eines ist. Sie ist die Identität in der Totalität und die Totalität in der Identität. [...] Alles ist Mittelpunkt. Dieß ist die große Bedeutung des Gesetzes der Schwere“ (l. c., p. 255). Diese Sätze sind für sich selbst klar. Das der Schwere entgegengesetzte Prinzip ist das Licht oder „Lichtwesen“. Licht = Seele = Bewegung. Schwere = Leib = Ruhe. Das Licht ist im Idealen dasselbe, was die Materie im Realen ist. Es ist das, was durch Spekulation erhellt und sichtbar macht, nicht aber durch Reflexion. „Die Reflexion, welche alles in denkende und in ausgedehnte Wesen trennt und Materie und Geist als zwei absolut-entgegengesetzte ansieht, mußte durch diese Trennung auch die Natur dem völligen Tod hingeben; daher auch die ganz auf Reflexionsbegriffe begründete empirisch-maschinistische Physik vor allem jenen Geist der Natur, das Licht, tödten mußte, um in der Natur ganz rein die Masse zu sehen. Wer dagegen das Licht begriffen hat, erkennt schon daraus, daß das Ideale, Geistige nicht der Natur entgegengesetzt, sondern in der Natur schon begriffen ist. Denn was einst, an den Grenzen der Natur, als Gedanke und Bewußtseyn ausbrechen soll, ist ihr schon im Licht eingebildet“ (SW I/6, p. 264 sq.).

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Hier allerdings ist einzuwenden, daß der Verfasser ebenso abstrahiert wie die von ihm kritisierten Anhänger der Reflexionstheorie: diese von der Idealität, jener von der Realität der Welt. Während er früher für ein dynamisches Naturverständnis plädierte, setzt er nun Geist und Bewußtsein gegen Mechanik und Masse. Was den einen allein Objekt der Kalkulation, ist dem anderen nur Deduktionsort der Identität. In beiden Fällen bezahlt Natur mit dem Preis des Lebendigen. Schelling verwechselt es mit Erkennen. Was er mit Bewußtsein beseelen will, treibt er ins Gegenteil. Nicht jedoch ist darum die Einheit zu leugnen, welche Leib und Seele als Natur bilden, mit Schwere als reiner Objektivität und Licht als reiner Subjektivität. Daß beide nur als differenzierte Identität produktiv sein können, legt uns der Autor mit ebenso theoretischer wie poetischer Tiefe dar: „Inwiefern die Schwere den Grund der Realität abgibt, in welchem erst die besonderen Dinge entstehen, und aus dem sie zum eignen Leben hervorgehen, inwiefern also die Schwere überhaupt das empfangende und mütterliche Princip der Dinge ist, insofern ist das Licht das väterliche Princp aller Dinge in der Natur. Schwanger vom Licht gebiert die Schwere die besonderen Formen der Dinge und entläßt sie aus ihrem fruchtbaren Schooße zum eignen Leben. Inwiefern ferner die Schwere differenzlos, reine Identität aller Dinge ist, insofern ist sie für sich selbst arm und dürftig an Formen, das Licht aber ist reich daran, und da nach Platonischem Mythus aus Armuth und Reichthum die Liebe, durch diese aber die Welt gezeugt ist, so verhält sich die Schwere als Armuth, das Licht aber als Reichthum“ (SW I/6, p. 266).

In Ansehung der Dinge sei die Schwere zentripetal, das Licht zentrifugal aufzufassen. Die Schwere als die Einheit in der Endlichkeit trage alle Dinge und ziehe sie an sich „als mütterlicher Boden“, dem sie nur durch das Licht sich entreißen. Das Licht hingegen sei die Ursache, durch welche aus der Schwere als dem Zentrum die besonderen Dinge hervorgehen. Die Schwere sei das Prinzip der Endlichkeit, des „nicht-für-sich-Seyns“ der Dinge, und das Licht das Prinzip der Unendlichkeit, des „in-sich-selbst-Seyns“ der Dinge. Weiter sei die Schwere in Bezug auf die Dinge die absolute Identität oder die „potenzlose Vernunft selbst“, aber die Vernunft in der vollkommenen Objektivität. „[S]ie ist der unterirdische Gott, der stygische Jupiter, der für sich getrennt vom Reich des Lichts die Besonderheiten der Dinge als bloße Schatten – und Idole – setzt“ (l. c., p. 268). Den zweiten Abschnitt des ersten Teils, „B) Specielle Naturphilosophie“ beginnt Schelling mit der Darlegung der „[o]berste[n] Grundsätze oder Axiome der Naturphilosophie“. Wesentlich in ihrem Aussagegehalt sind unter diesen die beiden ersten, da an ihnen die ausgesprochen idealistische Orientierung des gesamten Würzburger Systems deutlich wird:

3. S CHELLINGS N ATURPHILOSOPHIE | 345

„I. Die ganze Natur ist zu betrachten als die unendliche Substanz selbst, die bloß relativ unter dem Exponenten des Realen erscheint, an sich betrachtet aber die ganze sich selbst affirmirende Substanz ist. [...] II. Ihrem Exponenten nach betrachtet, erscheint die Natur in jedem Ding als bewußtlos schaffend, und mehr als Organon oder Gegenbild der Idee, denn als die Idee selbst; an sich betrachtet, ist sie aber die schaffende und produktive Idee selbst“ (SW I/6, p. 278).

Ursache der Produktivität ist jetzt also die Idee oder unendliche Substanz, nicht mehr die Natur als organische Totalität. Konsequent gilt das gleiche auch für den Organismus: „§. 190. Der Organismus ist das unmittelbare Abbild der absoluten Substanz oder der Natur schlechthin betrachtet.“ Der Organismus ist nicht mehr Urbild sondern Abbild. Auch er ist zur relativen Form einer Idee geworden. Die Besonderheit der einzelnen Formen der endlichen Welt beruht auf den unterschiedlichen Verhältnissen des Affirmierten zum Affirmierenden. Wie in der Darstellung spricht Schelling von dem „relativen Übergewicht“ des je einen der beiden, welches die quantitative Differenz unter ihnen bestimme (A = B mit Potenz über A, und A = B mit Potenz über B). Zur Erläuterung verwendet er sogar das gleiche Schaubild wie in der Darstellung (und wie wir es oben wiedergegeben haben). Dem folgt §. 120.: „Das allgemeine Gesetz der endlichen Erscheinung in der Materie ist das Gesetz der Polarität oder der Duplicität in der Identität.“ In der Sphäre der Endlichkeit kann es auch nach Aufhebung der Differenzen immer nur zu einer relativen Identität kommen. Komplizierter werden des Autors Setzungen in §. 122.: „Das allgemein Entsprechende der Dimensionen in der Materie ist die Cohäsion (oder: was im Raum rein als solchem durch die Dimensionen ausgedrückt ist, ist in der Materie Cohäsion), und es sind daher ebenso viele Formen der Cohäsion, als es Formen der Dimension gibt.“ Wie Materie ohne Licht nur eine passive Masse bildet, ist die Dimension ohne ,Potenz‘ einzig Kohäsion. Kohäsion = ,invertierte‘ Dimension oder die ihrer ,Aktivität‘ subtrahierte Dimension. Kohäsion ist diejenige ,Dimension‘, durch welche die Materie aus der Identität mit anderen Dingen tritt und sich selbst identisch wird. Nach dem Modell der drei Dimensionen existiert nach Schelling auch eine dreifache Kohäsion. Die Entsprechung der ersten Dimension in der Kohäsion drückt in der Materie als „Starrheit“ sich aus. Starr heißt alles, „was nicht in sich selbst zurückläuft. Daher ist die Linie das Urbild der Starrheit in der Natur, so wie der Ausdruck der ersten Dimension oder der ersten Form der Cohäsion nothwendig ebenfalls die Starrheit ist“ (l. c., p. 286). Hier, wie auch in der Darstellung, versucht der Verfasser die Natur zu ,mathematisieren‘. Hinter jedem Versuch einer ,Mathematisierung‘ oder ,Physikalisierung‘ steht die Absicht, das ,Chaos der Wirklichkeit‘ berechnen zu wollen. Durch die Übertragung der Raumdimensionalität auf und in die Materie steht daher der Autor selbst in der Gefahr, einer Mechanisierung – wenn auch anderer Art – derselben Vorschub zu leisten. So

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wie die Dimension sei auch die Cohäsion die allgemeine Form der Absonderung von der Identität, das heißt das Sich-in-Differenz-zu-ihr-Setzen. Wie im Ganzen der Materie, so sei auch in jedem Einzelnen, das für sich eine Totalität bildet, Kohäsion zu finden. Durch die eigene Kohäsion entreißt wiederum das Besondere sich dem Ganzen der Schwere; es affirmiert sich selbst als sich selbst, oder es setzt die Identität, das Allgemeine, Affirmative als den unmittelbaren Begriff von sich selbst. „§. 126. Je mehr in einem Ding die Schwere mit der Cohäsion gleichgesetzt und eins ist, desto höher ist der Grad seiner Realität.“ Denn der Grad der Realität eines Dings ist bestimmt durch den Grad seiner Annäherung zur absoluten Identität. Durch die Kohäsion wird die Masse, die sich identisch ist, differenziert. Je mehr also die Kohäsion über die Schwere siegt, desto mehr wird die Masse expandiert und desto weniger Schwere ist im Raum. Nicht jedoch die Schwere an sich wird dann verändert, sondern nur für sich (als Besonderes). „Die Schwere als absolute Identität der Dinge der Quantität nach ist eben deßhalb selbst keiner Differenz in Bezug auf Quantität, so wie das Licht als absolute Identität der Dinge der Qualität nach keiner Differenz in Bezug auf Qualität empfänglich. Die Schwere hat zu jeder Art der Materie das gleiche Verhältniß, und absolut betrachtet ist alles gleich schwer“ (l. c., p. 289). Die Entdeckung der Schwere als ,Faktor‫ ދ‬und ,Sphäre‫ ދ‬der Identifizierung ist zweifellos eine Modifikation innerhalb der naturphilosophischen Besprechungen des Würzburger Systems. Ebenso die Einführung des Lichtes als beseelende Antipode der Schwere. Daß es Wachstum und Vermehrung der Pflanzen verursacht (Photosynthese), wird vom Verfasser der Ideen als bekannt vorausgesetzt. Daß es aber das erkennende und daher identifizierende Prinzip passiver Masse sein soll, darf als neu bewertet werden. Die vollkommenste Form der Kohäsion (welche der dritten Dimension und dem Kubus, als deren vollendete Gestalt, entspricht) und damit der sich identischen Materie, stellt nach Schelling das „Flüssige“ dar. Das Flüssige ist ihm auch Ausdruck der Privation oder Negation aller Differenzen. Es ist als Masse an sich selbst eins und sich überall gleich. Das Schema der Kohäsion spiegelt das Schema der Polarität, also das Schema aller quantitativen Differenzen in der Natur. Am reinsten und anschaulichsten verkörpert dies der Magnet. Gleich wie viele Teilungen an ihm vorgenommen werden, erhält sich doch in jedem seiner separierten Glieder die Polarität. Der Magnet als Musterbeispiel materieller Einheit differenziert sich selbst durch seine Pole A und B. Die Differenz bzw. Indifferenz von A und B verschiebt sich entlang einer zu denkenden „Cohäsionslinie“, je nach Überwiegen von + oder – „(kein Pol eines Magnets nämlich ist rein südlich oder rein nördlich, sondern immer beides)“. Überhaupt können alle Differenzen der Materie auf eine Kohäsionslinie zurückgebracht werden, so daß ihre Verschiedenheiten der Verschiedenheit der Punkte in einer und derselben Kohäsionslinie entsprechen (SW I/6, p. 294):

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A

________________________ C

B

C stellt in Schellings Schaubild den Indifferenzpunkt zwischen den Polen A und B dar, von dem sie sich je entfernen oder dem sie sich annähern. A ist der positive, B der negative Pol. Die Linie verbildlicht die Selbstaffirmation der Materie. Selbstaffirmation = Kohäsion. Das Maximum an Kohäsion liegt notwendig in C. Die vollkommenste Selbstaffirmation der Materie findet ihre Entsprechung in deren „größter Starrheit“. Die Kohäsion des Flüssigen müßte daher in einem anderen Schaubild dargestellt werden (was der Autor jedoch unterläßt). Der Grad der Selbstaffirmation ist zugleich der Grad der Einbildung des Allgemeinen in das Besondere. Die Schwere als das affirmative Prinzip der Materie ist die Identität aller Kohäsionen und Dimensionen. In der Schwere ist alles eins. Die Metamorphose der Materie entspricht dem Grad ihrer Differenzierung bzw. Indifferenzierung dem Ganzen gegenüber. In §. 136. unternimmt es der Autor, die Metamorphose von Metall nach diesem Muster zu erklären. Das heißt, er intendiert das dimensionale und kohäsionale Schema auf reale Produkte der Natur zu übertragen, indem er das einzelne Materielle nach der „Cohäsionslinie“ ableitet. Mit Schellings Worten: „§. 136. Die Metamorphose, sofern sie durch aktive Cohäsion gesetzt ist, geht nothwendig von der relativen Negation aller Dimension durch den Punkt, als Position derselben, und die Linie zum relativen Gleichgewicht von Expansion und Contraktion, von Punkt und Linie; und die dritte oder sphärische Cohäsionsform, zur Tilgung aller Dimension im relativen Maximum der Ausdehnung oder zum Entsprechenden des unendlichen Raums fort. – Mit den entsprechenden Produkten stellt sich also das Ganze so dar: Dem Punkt als relativer Negation aller Dimensionen entspricht das.... Erdprincip. Dem Punkt als Affirmativem…………………………………………. Platina. Der Linie……………………………………………………………… Silber. Der Synthese von Punkt und Linie……………………………………. Eisen. Der Fläche oder zweiten Dimension………………………………….. Gold. Der Tiefe oder der dritten Dimension………………………………… Quecksilber. Dem unendlichen Raum………………………………………………. Luft [...].“

Die Dimensionalität selbst wird hier vom Verfasser als Idee verstanden, als reine Abstraktion, welche in der Materie hypostasiert, jedoch als selbständige Entität erhalten bleibt. Sie erinnert damit sowohl an die Copula, welche ebenfalls ein abstraktes Eigenleben führt, als auch an a-priorische Urteile. Auf dieselbe Weise sind Kraft und Bewegung für Schelling jetzt ein Produkt universaler Dimensionalität. Dynamik oder das „Grundgesetz jeder lebendigen Bewegung“ entsteht, indem „entgegengesetzte Pole zusammenstreben, gleiche fliehen“ (§. 145). Auf dieselbe Weise

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versucht der Autor, alle elektrischen, magnetischen und chemischen Prozesse nach dem Identitäts- und Differenzprinzip der „Cohäsionslinie“ zu erklären. Innerhalb des Würzburger Systems kehrt Schelling immer wieder zum Ausgangspunkt seines transzendentalen Denkens zurück: nach wie vor kreist er um die Rechtfertigung der Existenz des Nicht-Ichs, der endlichen Welt. Mühsam wägt er ab zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen, dem Allgemeinen und Besonderen, dem Begrifflichen und Dinglichen, sucht stets neue oder andere Wege, um zu einem für ihn akzeptablen Miteinander – bei gleichzeitigem Auseinander – der beiden Sphären zu gelangen. Das notwendige, das heißt absolute Sein der Materie im All, betont er, könne sehr wohl auch in der Erscheinung hervortreten, allerdings nur dort, wo die Materie in ihrer Endlichkeit den unendlichen Begriff der Dinge (= die Dinge als unendlicher Begriff) in sich aufnähme. Das Endliche jedoch, so wirft er ein, sei notwendig, „einzig inwiefern der Begriff von ihm selbst nicht bloß der Begriff von ihm als einem Endlichen, sondern der Begriff aller Dinge ist. Soll also das Seyn der Materie in irgend einer Erscheinung als ein nothwendiges vorkommen, so muß der ihr verbundene Begriff nicht der Begriff eines Besonderen, sondern der Begriff einer Totalität, einer Allheit seyn. Denn alsdann ist nicht unmittelbar das Besondere als Besonderes, sondern nur das Ganze ist affirmirt, und nur mittelbar durch das Ganze ist es auch das Besondere. (Ein All im kleinen)“ (SW I/6, p. 374).

Über viele Seiten und Paragraphen seines Systems sucht Schelling in dieser exemplarischen Weise um die rechte Verbindung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Während noch in den Ideen der Begriff als die Anschauung trübend desavouiert wurde, wird derselbe nun zum Garant für die Teilnahme an der Unendlichkeit. Auch dem Organismus, wir sagten es oben, kommt hier lediglich die Funktion zu, die Idee des Absoluten im Endlichen abzubilden. Diese Entzweiung drückt in der Natur sich im Gegensatz von Licht und Schwere aus. Das Licht entreißt den Organismus der Schwere, indem sie ihn ,an Höherem‘ sich ausrichten läßt. Die verschiedenen Organismen teilt Schelling in vegetative (Pflanzen) und animalische (Tiere). In Anpassung seines Linienschemas steht die Pflanze in engerer Kohärenz mit der Erde als die Tiere (zu denen er auch die Menschen rechnet). Mythisch erklärt er, es sei „der eigentliche Erdgeist, der im anorganischen Naturreich die Seele der Starrheit war, der in der Pflanze sein Haupt erhebt und die Sonne grüßt. In den entwickelteren Leib der Pflanze gefaßt, folgt er doch auch hier nur dem Gesetz eines höheren Magnetismus, der zwischen Erde und Sonne ist, d. h. er strebt Materie und Licht selbst wieder nur unter der Form der Identi-

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tät eins zu machen. Die Pflanze würde, wenn sie bloß ihrem Triebe folgte, bis in die Sonne wachsen und die Identität herstellen“ (SW I/6, p. 393).

Der animalische Organismus hingegen zeichnet sich durch seine Bewegungsfähigkeit aus. Schelling führt dies auf einen höheren Grad von Dimensionalität zurück, dessen vollkommenste Stufe erst im Menschen erreicht sei. Die Mehrdimensionalität des Tieres gegenüber der Pflanze garantiere zugleich einen höheren Grad an Totalität. Einzig der Mensch nämlich als Besonderer, ausgestattet mit Bewußtsein, vermag durch sich selbst das All ganz auszudrücken und die vollkommene Identität als Totalität abzubilden. Diese Überlegung beruht auf Schellings Unterscheidung von Identität und Totalität: Kohäsion als Schwere drückt die vollkommene Identität der Dinge in ihrem Für-sich-Sein aus. Alle Dinge sind durch die Schwere eins. Zugleich bilden sie je für sich eine Totalität, nicht jedoch an-sich. Dazu fehlt ihnen das Licht oder die Dimensionalität, welche das Licht analogisiert. Die Dimensionalität wiederum ist, wie das Licht selbst, ein Analogon für Bewußtsein. Die Schwere bildet nur die vollkommene Identität ab, nicht aber die vollkommene Totalität, da ihr das Bewußtsein oder das Licht fehlt. Das Licht ist die vollendete Totalität, nicht aber zugleich auch die vollendete Identität, weil ihr dazu die Schwere fehlt. Die Dimensionalität ermöglicht Totalität, die Kohäsionalität Identität. Es gilt also: Kohäsion = Schwere = bewußtlose Identität. Dimension = Licht = Totalität. Kohäsion + Dimension = Identität als Totalität und Totalität als Identität. Die Pflanze, weil bewußtlos, repräsentiert unter allen Organismen denjenigen, welcher durch die größte Nähe zur Kohäsion, das heißt zur Schwere und Identität, sich auszeichnet. Das Tier mit seiner Bewegungsfreiheit, jedoch nur instinkthaft, das heißt ohne Bewußtsein, gehört bereits einer höheren Form der Organismen an. Es entzieht sich bereits der Anziehung der Schwere und Identität, wendet sich dem Licht zu. Der Mensch hingegen bildet die Mitte der beiden Reiche. Er allein vermag Geist und Materie, Licht und Schwere, Totalität und Identität in sich zu vereinen. Alles wird am Ende Schellings System absoluter Identität eingeordnet. Es existiert nichts, was nicht diesem unbedingten Zweck sich fügt und von ihm her bestimmt ist. Der Abhandlung mangelt es in dieser Hinsicht nicht an Phantasie, Ausdauer und Durchsetzungswille. In gleicher Weise expliziert der Autor die Entstehung der einzelnen Naturprodukte. Auch sie seien das Ergebnis jenes Ringens zwischen Licht und Schwere, jenes Streites um die Dimensionen des Besonderen. Dieses ist nur die Repräsentation seiner Dimensionen, welche in ihm sich lediglich ausdrücken, sich in ihm anschauen, um das Ganze abzubilden und absolut zu werden. Die Dimensionen des einzelnen Produkts verweisen auf die Potenz des Alls zur Dimensionalität überhaupt. „§. 207. Der Streit beider Principien um das Produkt […] drückt sich in der Erscheinung auch als ein Wechsel der Expansion und der Contraktion aus. – Die beiden

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Principien sind das Licht auf der einen, welches die Totalität verlangt, und das cohäsive Princip auf der andern Seite, das auf Identität geht.“ Die Reproduktion wiederum, in welcher die Dimensionen sich wiederholen, geht aus der allgemeinen Anlage der Naturprodukte zur Geschlechtlichkeit hervor. Die Bedeutung des Geschlechts ist nach Schelling, daß die beiden Attribute der Natur, die Schwere und das Licht, welche im Organismus als eines gesetzt sind, als selbständig und identisch gleichermaßen angeschaut werden. In der geschlechtlichen Begegnung sind das dimensionale und das kohäsive Prinzip gleichgewichtig und gleichwertig anwesend. Dies ist deshalb möglich, weil der Autor Ersteres durch das Maskuline, Letzteres durch das Feminine in der Natur vertreten sieht: „Die Personification des ideellen Princips in der organischen Natur ist das männliche, die Personification des reellen Princips oder der Schwere das weibliche Geschlecht“ (l. c., p. 415). Mittels der Polarität von Dimension und Kohäsion erklärt Schelling die uns vor allem aus dem Entwurf bekannten Erscheinungen der Irritabilität und der Perzeptivität. Irritabilität = Dimensionalität. Perzeptivität = Kohäsionalität. Die Sensibilität wiederum, in der jene eins sind, wird, wie schon zuvor, als allgemeines Weltprinzip anerkannt: „Die Sensibilität ist Totalität“ (l. c., p. 441). „Der sensible Organismus, das Gehirn- und Nervensystem ist ein wahrer Lichtorganismus, ein Lichtgewächs, eine eigentliche Pflanze, nur daß diese Pflanze nicht mit dem Produciren von sich selbst, sondern mit dem Produciren von andern Dingen, die außer ihr sind, beschäftigt ist. Nicht bloß die Materie, sondern das Licht selbst sproßt im Nervensytem und macht sich ganz mit der Materie eins“ (l. c., p. 442). In der Sensibilität wird das Wesen der absoluten Substanz nicht bloß objektiv, sondern auch subjektiv gesetzt. In ihr setzt es sich selbst. „§. 221. Die absolute Substanz als Subjekt des Organismus, d. h. das absolute Subjekt des Organismus selbst, schaut nicht den Gegenstand unmittelbar, sondern nur durch den Organismus und im Organismus an.“ Auch hier sucht Schelling wieder die geteilte Einheit und reziproke Abhängigkeit von Absolutem als Subjekt und Natur als Objekt zu artikulieren. „Ist das absolute Subjekt das Anschauende, so ist die im Organismus objektiv gesetzte Identität des Realen und Idealen das unmittelbar Angeschaute; denn als Subjekt des Organismus hat die Substanz keinen andern Gegenstand als den Organismus, d. h. sich selbst objektiv betrachtet. Nicht unmittelbar der äußere Gegenstand als der äußere wird angeschaut, sondern nur jenes Objektive, das im Organismus selbst liegt, und objektiv erkennbar für das absolut Subjektive – Möglichkeit und Wirklichkeit gleichsetzt“ (SW I/6, p. 434).

Der äußere Gegenstand habe auf den Organismus keine andere Beziehung als die, in ihm als Produkt Differenz zu setzen, aber indirekt dadurch den objektiven Grund des Organismus zur Herstellung der Indifferenz zu bestimmen. „Die beständige Täuschung liegt für uns eben darin, daß wir die Gegenstände als äußere zu sehen

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glauben, da wir sie doch wahrhaftig nur als innere sehen“ (l. c., p. 436). Ungeachtet der konsequent durchgehaltenen Urbild-Abbild-Perspektive, von der das Würzburger System geprägt ist, bewahren wir von ihr dennoch die unausgesprochene Weisung des Verfassers, den Blick hinter das Fertige zu lenken, „über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen“. Es ist wesentlich zu wissen, daß Erkenntnis über die bloße Einschränkung auf jene starre Dualität von Verstand und Sinnlichkeit hinausreicht. Weiter ist für uns Schellings Festhalten an der Einheit von Geist und Materie von Bedeutung. Auf sie kommt die Rede besonders bei der Besprechung der Instinkte, dem Sinnesvermögen der Tiere. Dort nämlich wird der Unterschied zum menschlichen Bewußtsein deutlich. Der Instinkt wird allgemein als Form der Perzeptivität betrachtet, um seine enge Bindung an das kohäsive Prinzip oder seine Erdverbundenheit zu demonstrieren. Er ist die niedrigere Stufe innerhalb der organischen Entwicklung hin zur höheren Dimension, welche das Bewußtsein ist. „§. 237. Der Instinkt ist das relativ Potenzlose im Thier, oder er ist die absolute Identität der Sinne (als die Totalität).“ Vollkommen identisch mit ihrem Grund, welcher die Schwere ist, können die Tiere, die ihren Trieben folgen, auch nur identisch handeln; woraus der Autor schließt: „Allein in der Natur ist kein Irrthum, und wenn das Thier zu irren scheint, so ist in Ansehung seiner der Irrthum das Vernünftige“ (l. c, p. 463). „Das Thier ist wirklich identisch mit seiner Nahrung und hängt durch sie mit dem großen Leibe der Erde zusammen, dessen Glied es selbst ist. Ebenso ist es identisch mit seinen Jungen und hat von ihnen kein anderes Gefühl als von sich selbst. Es fühlt wirklich in seinen Jungen; bei manchen Thieren geht dieß Identitätsgefühl sogar bis zum wirklichen und völligen Identificiren, nämlich bis zum Auffressen“ (SW I/6, p. 464).149

Schon die bloße Reflexion auf den Instinkt in der Natur hätte die Wissenschaft längst zu der Anerkennung der absoluten Identität des Objektiven und Subjektiven führen können, kritisiert der Verfasser. Denn das, „was im thierischen Instinkt objektiv handelt, ist offenbar ein blinder, mit keinem Bewußtseyn verbundener Grund; er bricht unmittelbar aus der Materie hervor; schon dieß lehrt, daß die Materie ursprünglich in ihren tiefsten Erscheinungen auch schon Perception seyn muß, und daß kein absoluter Gegensatz ist von Materie und Geist. Die Lehre von der Identität des 149 Dies ist m. E. das einzige Mal, daß Schelling von „Identifiziren“ oder „Identitätsgefühl“ schreibt. Beide Wörter verwendet er in diesem Text sonst nicht. Neu ist vor allem deren Bedeutung. Identifizieren wird hier gebraucht im Sinne von: sich in jemanden hineinversetzen, eine affektive Substitution herstellen können.

352 | O BJEKT -S UBJEKT Objektiven und Subjektiven, daß nämlich das Objektive nur ein Objektiv-Subjektives ist, ist der Schlüssel zur Erkenntniß der höchsten Erscheinungen der Natur“ (SW I/6, p. 458).

Diese Sätze, verbunden mit der Annahme einer konkreten Leib-Seele-Identität, gehören, unbeschadet der idealistischen und spekulativen Ausrichtung des Würzburger Systems, zu den fortschrittlichsten Gedanken Schellings. Und obwohl er zu Beginn unmißverständlich den transzendentalen Zugang zur absoluten Erkenntnis als den einzig möglichen herausstellt, verzichtet er nicht darauf, die Identität als Totalität mit Hilfe eines bis dahin ungesehenen Reichtums an Naturanalogien zu erläutern und zu beweisen. „Allein da das reale All in der That das ganze unendliche All ist, und aller Unterschied des realen und idealen zur bloßen Erscheinung gehört, hinwiederum also reale und ideale Welt nur eine und dieselbe unendliche Natur ist, so ist eigentlich die ganze Philosophie Naturphilosophie – Lehre vom All“ (SW I/6, p. 494).

Der Abschnitt C, welcher den letzten der Würzburger Gesamtschau gibt, widmet sich der „Construktion der idealen Welt und ihrer Potenzen“. Schellings Intention ist es dort, aus der Warte des Absoluten alles Reale und Ideale zu relativieren, das heißt als vollkommen identisch anzuschauen. Wie Form und Materie können Reales und Ideales nur als Einheit, nicht als Zweiheit, existieren. Alle Formen des Realen seien, an sich und wahrhaft betrachtet, zugleich auch Formen des Idealen. Was im Realen sich durch Potenzen, drücke im Idealen sich durch Dimensionen aus. Durch das Schema der Dimensionalität versucht er, ideale Begriffe wie Selbstbewußtsein, Anschauung oder Ich zu erklären. Die erste Dimension im Idealen nennt Schelling Selbstbewußtsein. Durch das Selbstbewußtsein könne Identität überhaupt in Differenz gesetzt werden. Die zweite Dimension im Idealen heißt er Empfindung. Durch die Empfindung würde ebenfalls eine Differenz in die Identität aufgenommen. Sie sei dasjenige, wodurch ein Ding zuerst über sich selbst hinaus auf andere Dinge gehe. Die dritte Dimension im Idealen ist die Anschauung. Sie sei dasjenige, wodurch ein Ding aus sich selbst hinaus auf andere Dinge gehe und diese als andere in sich setze. In der Natur entspricht diese ideale Triplizität einer dreistufigen Potentialität: die erste Potenz ist die Reflexion der Natur selbst, also das, worin sie als Allgemeines im Besonderen, als Einheit in der Vielheit sich reflektiert. Die zweite Potenz ist die „Subsumtion“, also dasjenige, wodurch sie sich selbst als Differenz in die Identität, das heißt als Besonderes in das Allgemeine zurücknimmt oder einordnet. Die dritte Potenz ist die Einbildungskraft. Sie bezeichnet das in der Natur, wodurch sie sich selbst als Identität des Allgemeinen und Besonderen objektiv macht, im Organismus. Und da für Schelling aus der Warte der absoluten Substanz keine Differenz mehr zwischen Realem und Idealem besteht, gelte:

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„§. 270. Zwischen Realem und Idealem, Seyn und Denken ist kein Causalzusammenhang möglich, oder das Denken kann nie Ursache einer Bestimmung im Seyn, oder hinwiederum das Seyn Ursache einer Bestimmung im Denken seyn. – Denn Reales und Ideales sind nur verschiedene Ansichten einer und derselben Substanz; sie können also so wenig etwas ineinander bewirken, als eine Substanz etwas in sich selbst bewirken kann.“

Damit hebt der Autor jede Subjekt-Objekt-Differenz als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis auf und überantwortet diese vollständig einem objektiven Idealismus. In letzter Konsequenz würde dieser sogar die klassisch-marxistische These, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, vereiteln. Hier bereits stellt sich die Frage nach der Freiheit des Denkens. Schelling wird sie weiter unten beantworten. Zunächst aber gibt er ein weiteres Beispiel für die ungetrennte Existenz von Idealem und Realem: das Individuum. In ihm spiegle sich auf vorzügliche Weise das Verhältnis von Seele und Leib: „§. 273. Die nothwendige Form aller Existenz ist Individuum, d. h. daß der Leib als Leib unmittelbar auch Seele, die Seele als Seele unmittelbar auch Leib ist.“ Und wie die Seele als Seele nur ein Modus der unendlichen Affirmation ist, ist der Leib als Leib nur ein Modus des unendlichen Affirmiertseins. Die verschiedenen körperlichen Dinge seien selbst nur Modi des Erkennens. „Allein auch das vollkommenste Thier ist doch nur ein Modus der Weltanschauung, ein Modus der unendlichen Affirmation. Es ist also nicht das Thier, was anschaut, sondern die Unendlichkeit selbst, betrachtet unter der bestimmten quantitativen Differenz, die durch das Thier ausgedrückt wird“ (l. c., p. 506). Das Tier qua Tier ist also nicht das Anschauende, „denn sonst wäre es identisch mit dem Unendlichen, das Objekt in ihm = Subjekt“. Vielmehr schaut das Absolute (= Gott) sich in ihm an. Diese Sätze bedürfen keiner Erläuterung. Sie sind jetzt hinreichend einsichtig. Der Begriff Modus stellt lediglich eine weitere Variation der Schellingschen Terminologie dar, jedoch keine wesentliche Neuerung des Inhalts. Veränderte Haltungen finden sich erst wieder in §. 291.: „Das System des Erkennens, welches dadurch entsteht, daß der unendliche Begriff objektiv und subjektiv gesetzt ist, ist das System der Nothwendigkeit, bestimmt durch die Möglichkeit und Wirklichkeit.“ Was bedeutet das? Zunächst ist hier mit dem „System des Erkennens“ nicht das System des spekulativen, sondern des gemeinen, das heißt reflektierten Wissens gemeint. In Anlehnung der aristotelischen potentia-et-actus-Lehre ist Schelling der Ansicht, daß der ideal gesetzte Begriff die Möglichkeit des objektiv gesetzten, welchem die Wirklichkeit inhäriert, enthält. Im Wissen aber, als der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, sind beide Begriffe, der mögliche wie der wirkliche, identisch. Für den Verfasser ist daher die Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit = Notwendigkeit; womit erklärt ist, warum er das allgemeine System des Wissens ein System der Notwendigkeit nennt. Die Möglichkeit einer Differenz von Begriff und Sache steht hier nicht mehr zur Disposition. Die Notwen-

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digkeit scheint also eher eine zu sein, die von Schelling selbst gesetzt ist, als Postulat an die Wirklichkeit, als Zwang zu vollkommener Identität. Die drei Formen der Modalität, Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit entsprechen den drei Grundtypen des Erkennens (= ideale Dimensionalität), nämlich Selbstbewußtsein, Empfindung und Anschauung. „Das Selbstbewußtseyn enthält den bloßen Grund von Möglichkeit, Empfindung ist Wirklichkeit, die Anschauung Nothwendigkeit. Wie nun alle Potenzen des Erkennens, die in der Vernunft als absolute Möglichkeiten liegen, auf Anschauung, bestimmt durch Selbstbewußtseyn und Empfindung, beruhen, so das ganze System des objektiv gesetzten oder reflektirten unendlichen Erkennens oder des Wissens auf Nothwendigkeit, bestimmt durch Möglichkeit und Wirklichkeit“ (SW I/6, p. 515).

Dem folgen noch weitere (scholastische) Analogien: Die Sphäre, welche unter dem Schema der Möglichkeit stehe, sei die des Begriffs, der reinen Reflexion, denn der Begriff enthalte die bloße Möglichkeit des Objekts. Die Sphäre des Erkennens wiederum, welche unter dem Schema der Wirklichkeit stehe, sei die des Urteils, und jene endlich, welche unter dem Schema der Notwendigkeit stehe, die Sphäre des Schlusses. Möglichkeit = Reflexion; Wirklichkeit = Urteil; Notwendigkeit = Schluß. Unter Einbezug der geometrischen Dimensionen sind Notwendigkeit und Schluß sozusagen der ,Kubus der Erkenntnis‘. Schellings dreifache Dimensionalität der Erkenntnis oder der Identität läßt sich wie folgt darstellen: 1. Dimension

Linie

Möglichkeit

Selbstbewußtsein

Reflexion

2. Dimension

Fläche

Wirklichkeit

Empfindung

Urteil

3. Dimension

Kubus

Notwendigkeit

Anschauung

Schluß

Die jeweils dritte der Dimensionen drückt die absolute Identität aus. Die Widersprüche, in welche sich „eine Philosophie verflicht, die mit Begriffen des bloß reflektirten Erkennens gleichwohl in das Reich der Ideen sich erhebt“, erklärt Schelling, „[...] sind ebenso natürlich als nothwendig“ (SW I/6, p. 527), denn es lasse mit Reflexionsbegriffen sich sowohl beweisen, daß beispielsweise die Welt einen Anfang habe, als auch das Gegenteil. Der Widerspruch liege hier nicht zwischen beiden Behauptungen, sondern in jeder für sich betrachtet. Beide seien falsch. Denn wahrhaft habe die Welt weder einen Anfang noch keinen Anfang, weil sie, an sich besehen, überhaupt nicht in der Zeit sei. Es sind die Kategorien des Zeitlichen und Endlichen, welche die Irrtümer und Widersprüche hervorbringen. Der Reflexion stellt Schelling daher die Spekulation entgegen:

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„Die spekulative Wahrheit besteht eben darin, daß man von den entgegengesetzten Behauptungen der reflektirenden Vernunft, die aus dem in der Reflexion nothwendigen Gegensatz des Unendlichen und Endlichen entspringen, weder die eine noch die andere zuläßt. Das Entweder – Oder der Reflexion ist für die Speculation ein Weder – Noch oder eine absolute Identität“ (SW I/6, p. 528).

Die unendliche Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit kennen keinen wahren Gegensatz. Ihnen könne also nur die Unmöglichkeit, Unwirklichkeit und Zufälligkeit entgegenstehen, fügt der Verfasser beinahe ironisch hinzu. Wie schon im System des transscendentalen Idealismus sucht der Autor auch hier gegen Ende die Hauptinhalte seiner Wissenschaftslehre auf moralphilosophische Probleme anzuwenden. Zu diesem Zweck überträgt er die Dimension der Notwendigkeit als Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit auf menschliche Handlungen. Wenn Möglichkeit und Wirklichkeit den Grund des Wissens bildeten, müßten diese auch die Voraussetzung allen Handelns sein – zumal der Mensch eine Leib-Seele-Einheit darstelle. „§. 304. Absolutes Erkennen und absolutes Handeln sind ein und dasselbe, nur von verschiedenen Seiten angesehen.“ Auch hier könnten alle Irrtümer nur deshalb entstehen, weil in Reflexionsbegriffen und Kausalzusammenhängen gedachte würde. „Die Vorstellung, daß es ein anderes sey, das in uns erkennt, und ein anderes, das handelt, hat zuerst zu der Vorstellung geführt, daß es eine Freiheit gebe unabhängig von der Nothwendigkeit“ (SW I/6, p. 541). Sowenig man das Erkennen teilen könne, sowenig auch das Handeln; beides fließe aus ein und derselben Quelle. So wie es wahres Wissen gibt, gibt es auch wahres Handeln. In beiden Fällen ist die Identität das Ziel. Und wenn Wahrhaftigkeit die Einheit des Handelns und Erkennens ist, „so ist die Trennung beider die erste Lüge, und unsere heutige Moral ist nur diese fortgesetzte Lüge, nämlich an eine Tugend zu glauben, sie zu fordern und anzupreisen, die nicht aus dem Wesen der menschlichen Natur quillt, und aus der Nothwendigkeit desselben göttlichen Princips, aus welchem die Wissenschaft fließt, oder auch umgekehrt an eine Erkenntnis, die nicht unmittelbar als solche auch Handlung ist“ (SW I/6, p. 541).

Einzig das Göttliche in der Seele, betont Schelling, sei wahrhaft frei, nicht die Seele an sich. Diese besäße auch kein eigenes Vermögen oder einen besonderen Willen. Wenn es denn dort so etwas wie „einzelne Akte des Wollens“ gäbe, so seien diese notwendig bestimmt und nicht frei, nicht absolut. „Der Mensch ist nicht für sich selbst frei; nur das Handeln, was aus Gott stammt, ist frei, wie nur ein gleiches Wissen wahr ist“ (l. c., p. 542). So wie es auch eine Privation der Erkenntnis gäbe, so existiere auch eine Privation im Handeln. Die Frage nach einer guten oder bösen, richtigen oder falschen Handlung entspricht jener nach der quantitativen Differenz

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unter den Dingen. Einen jeweils höheren oder geringeren Grad an moralischer Vollkommenheit, der durch Vergleich entsteht, gibt es nicht in Ansehung des Absoluten. Mit einer Handlung steht es wie mit einem Ding: je höher der Grad seiner Vollkommenheit (= Identität), desto höher der Grad seiner Realität. Seine Realität entscheidet über Nähe oder Distanz zum Göttlichen. Es könne daher vor Gott keinen Verdienst geben, ebenso wenig wie einen Lohn für Tugend. „Dem Unrechthandelnden ist eben der geringere Grad der Realität, der in ihm ausgedrückt ist, selbst die Strafe. Absolut betrachtet ist auch er als Glied der Welt nothwendig, und insofern nicht strafbar und sogar entschuldbar. Aber der Stein ist auch entschuldbar, daß er nicht Mensch ist, nichtsdestoweniger ist er verdammt Stein zu seyn und zu leiden, was der Stein leidet. Wer von einem tollen Hundsbiß wüthig geworden ist, sagt Spinoza, ist entschuldbar, und wird dennoch mit Recht als ein Thier behandelt. Ebenso, wer seine Begierden, seine Leidenschaften nicht zähmen kann, ist zwar wegen seiner Schwäche entschuldbar, die, an ihrer Stelle, weil alle Grade der Perfektion von den niedrigen bis zu den höchsten im Universum seyn müssen, gleichfalls nothwendig ist, aber er geht doch nothwendig verloren, und eben diese Schwäche selbst, dieß, daß er so handeln muß, wie er handelt, ist seine Strafe. Sein Handeln ist sein Seyn selbst, und sein Seyn sein Handeln“ (SW I/6, p. 547 sq.).

Auch hier folgt Schelling wieder dem scholastischen Grundsatz operari sequitur esse. Wie schon das Verhältnis von Denken und Sein, ist auch die Relation von Leib und Seele nicht als Kausalbeziehung, sondern als vollkommene Identität zu denken. „§. 306. Die Seele kann ebensowenig den Leib und die Bewegungen des Leibes bestimmen, als umgekehrt der Leib die Seele und ihre Gedanken bestimmen kann.“ Dieser Satz sei deshalb so wichtig, weil er die absolute Identität der realen und idealen Welt gleichsam „in der höchsten Instanz“ zeige. „Alles, was auch durch Freiheit in der idealen Welt sich zu entwickeln scheint, liegt der Möglichkeit nach schon in der Materie; die Materie kann eben daher nicht das todte, rein reale Wesen seyn, für welches sie genommen wird; sie ist als reale Substanz zugleich die ideale und begreift, was diese begreift. [...] [J]eder Evolution der Seele geht nothwendig eine Evolution der Materie parallel“ (l. c., p. 549). Die Materie (= Nicht-Ich) wird in ihrer Existenz gerechtfertigt, indem sie als wesentlicher Faktor bedingter Freiheit fungiert. Sie beschränkt die unendliche (gute) Tätigkeit und entfernt das Individuum durch diese Privation von Gott. „Wie soll die Handlung in der Seele frey seyn, während dieselbe in der Materie – im Leib – nothwendig ist?“ (l. c., p. 550). Da Seele und Leib eins sind, kann es nur die absolute Substanz, als absolute Identität beider, sein, welche frei handelt. In ihr erst fallen Freiheit und Notwendigkeit in eins. Wodurch aber wird ein Handeln zu meinem Handeln? „Eine Handlung ist meine Handlung, heißt eben so viel als: es ist ein und dasselbe, das in mir handelt, und das in mir weiß. Die Handlung wird also zu meiner Handlung durch das Wissen

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und sie wird in dem Verhältnis zur freien Handlung, in welchem sie aus einem absoluten Wissen, aus einer adäquaten Idee folgt“ (l. c., p. 550). Die freie Handlung erwächst mir allein dadurch, daß ich in absoluter Weise zu erkennen lerne. Der Akt bloßen Bewußtseins reicht hier nicht aus; einzig im Anschauen wird der Mensch frei. „§. 308. Alles wahrhaft freie, d. h. göttliche, Handeln ist von sich selbst in der Harmonie mit der Nothwendigkeit.“ Daher müsse auch jeder Versuch, durch Gebote wahre Sittlichkeit zu erreichen, scheitern. Diese würden die Distanz zu Gott sogar noch vergrößern. Und auch in den folgenden Sätzen erweist Schelling sich nicht nur als religions- und staatskritisch, sondern zugleich auch als progressiver ,Moralphilosoph‘: „Schon das Wort [Sittlichkeit] ist ein Produkt unserer neueren Aufklärerei; es gibt nur Tugend, virtus, d. h. es gibt eine göttliche Beschaffenheit der Seele, aber es gibt keine Moralität, die das Individuum als Individuum sich geben, oder deren es sich rühmen könnte. In diesem Sinn [...] mag und will ich gern allen zugeben, die es behaupten wollen, daß die Sittlichkeit aus meinem System ausgeschlossen sey“ (l. c., p. 557).

Gott könne überhaupt nicht aus der Sittlichkeit geschlossen werden. Das sei, als wolle man ihn rein ökonomisch betrachten, als wäre Gott ein Hausmittel. „Diese Vorstellung ist um nichts besser als die Meinung, welche besonders die Großen und die angeblichen Staatsmänner haben, nach welchen der Glaube an Gott gut ist, die Völker im Zaum zu halten und den schon lang faulen und brüchigen Staatsmaschinen noch als Stütze zu dienen“ (l. c., p. 557). Unter Religion verstehe er das, was „höher als Ahndung und als Gefühl“ (l. c., p. 558) sei. Gott müsse die Substanz alles Denkens und Handelns sein, nicht bloß ein Gegenstand. Hier wiederholt Schelling, was er bereits in der Ich-Schrift (SW I/1, p. 165) formuliert hatte: Gott könne nicht nur Objekt, sondern müsse auch und vor allem Subjekt der Erkenntnis sein. „Gott wird entweder überhaupt nicht erkannt, oder er ist das Subjekt zugleich und das Objekt des Erkennens“ (SW I/6, p. 558). Religiosität bedeute schon dem Ursprung des Wortes nach ein Gebundensein des Handelns, keineswegs aber eine Wahl zwischen Entgegengesetztem, wie man sie bei der Freiheit des Willens annehme. Das höchste Ziel des Handelns kann daher nicht seine Bindung an etwas von Menschen Geschaffenes sein, sondern einzig die Identität der Freiheit und der Notwendigkeit, welche im anschauenden Begreifen derselben als solcher besteht. „§. 314. Für den, der in der Identität mit Gott ist, gibt es so wenig ein Gebot als eine Belohnung, sondern er handelt der inneren Nothwendigkeit seiner Natur gemäß.“ Auch hier werden, wie schon am Ende des Systems von 1800, Inhalte der später folgenden Freiheit-Schrift antizipiert. Alle individuellen Handlungen sind für Schelling zugleich Abbilder des Absoluten. Als Beweis führt er – ein weiteres Mal – die Kunst an. In ihr handle der Künst-

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ler „Gott ähnlich“. Er vollziehe die Synthese von Wissen und Handeln. Die Kunst sei kein von außen, sondern von innen her bestimmtes Tun. Dort nur liege der Grund einer Notwendigkeit, die frei sei. Kunstwerk nennt der Autor ein „einzelnes existierendes Ding“, in welchem der „ewige Begriff des Menschen“ enthalten sei. „Denn wo der ewige Begriff des Menschen objektiv wird, wird auch das Wesen der Seele objektiv, welches freie Notwendigkeit und nothwendige Freiheit ist“ (l. c., p. 570). Die Anwesenheit des „ewigen Begriffs“ im Artefakt mache es, einmal geschaffen, von seinem Erschaffer vollkommen unabhängig. Alle Kunst sei so gleichermaßen subjektiv wie objektiv. In der Folge wird auch Platonisches nicht unterschlagen: „§ 321. Die absolute Identität des Unendlichen mit dem Endlichen objektiv und gegenbildlich angeschaut, ist Schönheit.“ Die Schönheit sei das Wesen des Kunstwerks. Daher seien auch absolute Wahrheit und absolute Schönheit ein und dasselbe. Wahrheit = Schönheit. Und die „höchste Seeligkeit“ aller Menschen liege in der intellektuellen Anschauung der ursprünglichen Schönheit im Kunstwerk. Schellings Exkurs in die Ästhetik nimmt an dieser Stelle insofern ein überraschendes Ende, als er von der Kunst direkt in die ,Politik‘ wechselt. Die beiden letzten Paragraphen seiner Abhandlung widmet er der Erläuterung des Staates: „§. 325. Dasjenige, worin Wissenschaft, Religion und Kunst auf lebendige Weise durchdringend eins und in ihrer Einheit objektiv werden, ist der Staat.“ Nicht sei mit „Staat“ allerdings ein „Bild aus der wirklichen Erfahrung“ gemeint, ein Staat also, der „bloß formell“ ist und um eines äußeren Zweckes willen errichtet wird. Dies seien „bloße Zwangs- und Nationalstaaten“. Bei Schelling ist der Staat hingegen in erster Linie als „das Potenzlose“ bestimmt. Was ist gemeint? Wissenschaft, Religion und Kunst sind für ihn die „drei Potenzen“ (= Dimensionen) der ideellen Welt. Wie die Natur, welche alle Potenzen in sich trägt, selbst aber potenzlos ist, erst im Weltbau oder Weltkörper objektiv wird, „so das Göttliche, welches gesondert in Wissenschaft, Religion und Kunst, obgleich in jedem absolut lebt, durch den Staat. Wie ferner die Schwere, das Licht, der Organismus nur Attribute des Weltkörpers sind, und alle Dinge nur in ihm sind und seyn können, so hat weder wahre Wissenschaft, noch wahre Religion, noch wahre Kunst eine andere Objektivität als im Staat“ (SW I/6, p. 575).

Der Staat ist die notwendige Identität jener drei Erscheinungen, Wissenschaft, Religion und Kunst, welche seine Potenzen sind. Einzig in ihnen wird er überhaupt sichtbar. Der Autor steht konsequent zur Logik seines dreidimensionalen Schemas, mit dem er zum ersten Mal eine historische Größe deduziert. Auch hier ist der Vorschein von Hegels drei Jahre später veröffentlichter Phänomenologie leicht zu erkennen. In einem vernünftigen Staat, wie Schelling ihn meint, ist aller Gegensatz aufgehoben. Indem er denselben mit einem „freien organischen Leben“ vergleicht,

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kehrt er zu seinen Ursprüngen, dem Ältesten Systemprogramm, zurück. Der Philosophie teilt er im Staat eine besondere Aufgabe zu: „§. 326. Was der Staat objektiv, ist subjektiv – nicht die Wissenschaft der Philosophie, sondern – die Philosophie selbst als harmonischer Genuß und Theilnahme an allem Guten und Schönen in einem öffentlichen Leben.“ Wie der Staat objektiv potenzlos sei, so die Philosophie subjektiv. Daher gelte: „Vernunft: Weltbau = Philosophie: Staat“. Philosophie und Staat sind das jeweils potenzlose Subjekt und Objekt. So wie die absolute Vernunft im Weltbau, schaut die Philosophie im Staat, als der Erscheinung vollkommener Identität, sich selbst an und gelangt so zur absoluten Erkenntnis und Gewißheit. „Philosophie – die nicht mehr Wissenschaft ist, sondern zum Leben wird – ist das, was Plato das ʌȠȜȚIJİ઄İȚȞ nennt, das Leben mit und in einer sittlichen Totalität“ (l. c., p. 576). Philosophie = (sittliches) Leben = Staat. Hier schließt sich der Kreis unserer Studie. Zu Beginn erhielten wir die Definition von Lukács’ Begriff der Totalität. Auch er war moralisch besetzt. Dem steht nun Schellings Konzept gegenüber – ebenso sittlich, und doch ganz anders. Beide Totalitätsbegriffe leiden am Zwiespalt von idealer und realer Welt. Schellings Staat bleibt so utopisch wie der von Lukács. Obgleich beide in ihren Zielen sich unterscheiden – absolute Erkenntnis beim einen, Veränderung des Ganzen beim anderen – ist das Scheitern am Realen ihnen gemein. Zu kritisieren ist am Würzburger System weniger sein Analogismus und Formalismus, als vielmehr die ausschließliche Subordination des Individuums unter die absolute Identität als absolute Totalität, denn sie inspirierte auch Hegel, in dessen Tradition der Marxismus steht. Dies bedeutet, daß der egalitäre und totalitäre Grundzug marxistischen Denkens auch und gerade in Schelling zu suchen ist. Der Deutsche Idealismus wird im Würzburger System insofern „vollendet“ (Schulz), als er die ,intellektuelle Anschauung‘ als Selbstanschauung Gottes zu einer Erkenntnis eleviert, die ohne Ort und Zeit, Anfang und Ende, Objekt und Reflexion ist. Was im allgemeinen erst der Spätphilosophie zugetraut wird, findet bereits hier seine Vorschau. Allem Kontemplativen, Reflexionslosen, Reinen haftet jedoch immer zugleich etwas Geschichtsloses an. Solche Philosophie wird die nachromantische, industrielle Welt, deren Ziel es war, zu gestalten und zu verändern, nicht zu betrachten, mitveranlaßt haben, auf Marx sich zu stellen, der eben dies zu leisten versprach.

Schlußfolgerungen

Hier halten wir inne und Rückschau. Es ist uns gelungen, die beiden wirkungsgeschichtlichen Linien Hegel-Lukács und Schelling-Bloch zusammenzuführen, indem aus beiden wir das Verbindende sowie für unsere Problemstellung Nützliche herausdestillierten. Die Schnittmenge, die zurückblieb, hinterläßt vor allem die Begriffe Verdinglichung, Identität, Totalität und Selbstbewußtsein. Während es verhältnismäßig geringer Mühen bedurfte, die philosophiehistorische Kohärenz zwischen Schelling, Hegel, Lukács und Bloch herzustellen, gestaltete es sich um so schwieriger, die ihnen gemeinsamen Termini systematisch und inhaltlich überein zu bringen. Das Hauptproblem besteht in erster Linie darin, spekulativ-idealistische Begriffe in praktische verwandeln oder aus Ich-Philosophie Sozialphilosophie konstruieren zu wollen. Es scheint ebenso undurchführbar, Marxismus aus Hegel wie Marxismus aus Hegel zu deduzieren. Gleiches würde für Schelling gelten, hätte Marx es mit ihm versucht. Um eine Allianz spekulativer und praktischer, idealistischer und materialistischer Philosophie dennoch glücken zu lassen, dürfen Natur und Geschichte nicht als zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Sphären, sondern müssen als bloß zweierlei Ansichten ein und derselben endlichen Totalität betrachtet werden. Lukács schenkte uns den Begriff der Verdinglichung, verfehlte mit Hegel jedoch ihre Aufhebung. Hierzu brachte Bloch Schelling ins Spiel und das Gelingen einer Entdinglichung, als Wiederherstellung des von sich selbst und seiner Arbeit getrennten Individuums, schien aussichtsreich, da beiden Geist und Materie identisch waren. Verschieden blieb jedoch ihr Verhältnis zur Identität selbst. Während für Bloch sie vor allem Realität ist, das heißt ,Wunscherfüllung‫ދ‬, ,konkrete Utopie‘, ist sie für Schelling vorwiegend Idealität, das heißt absolute Erkenntnis oder: ,intellektuelle Anschauung‘. Diese steht bei Letzterem ungeteilt neben seiner Vorstellung von Totalität. Vollkommene Gewißheit ist nur im Ganzen und als Ganzes. In der Totalität allein ist alle Wahrheit sich absolut gleich. Absolute Identität gibt es einzig als absolute Totalität et vice versa. Voraussetzung allen Wissens ist die spekulative Gesamtschau als totalisierende Bewegung, id est die Sicht von der Unend-

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lichkeit auf die Endlichkeit und von den Dingen auf das Absolute oder: das Besondere im Allgemeinen sowie das Allgemeine im Besonderen betrachtet. Weiter lernten wir von Schelling, daß das Ganze nur mit und in sich identisch ist, wenn es als Gedanke Gottes gedacht wird. Wenn Gott denkt: Ich bin, spiegelt die Welt sich in ihm, wie er in ihr sich selbst anschaut. Welt wird eins in Gott oder: absolute Identität. Entfällt dieser Anthropomorphismus, wird auch das Ringen um die Identität in der Totalität vergeblich. Die Differenz von Sache und Begriff scheint dann unaufhebbar. In der Idealität verliert sich die Gewißheit der Realität, in der Gewißheit der Realität die der Idealität. In eben dieses Dilemma geriet Lukács, erreichte er doch nur die begriffliche, nicht aber die empirische Allgemeinheit. Doch auch hier erwies Schelling sich als hilfreich, denn obwohl sein System ein transzendentaler Idealismus ist, eröffnen seine naturphilosophischen Ausführungen die Möglichkeit, zu einer Leib und Seele, Geist und Materie identifizierenden Theorie beizutragen. Hätte Lukács das gesellschaftliche Ganze als natürlichen Organismus betrachtet, als abhängig vom inneren Wechsel der Kräfte, von deren notwendiger Gegensätzlichkeit, wäre er nicht der abstrakten Idee verhangen, Totalität als fixiertes Gefüge zu denken. Hätte er es als beständige Produktivität erkannt, statt als fertiges Produkt geschichtlicher Reflexion, wäre er, wie der orthodoxe Marxismus insgesamt, dem Fortgang der historischen Bewegung offener gegenübergestanden. Sein Irrtum bestand in erster Linie darin, der Dialektik den falschen Ort und die falsche Aufgabe zugewiesen zu haben, sie nicht, wie Schelling, dynamisch, als Triebkraft des Lebens, des Lebendigen zu deuten, sondern als Mechanik des (Welt-)Geistes und einer Vergangenheit, deren Dienstzeit am Tage der Revolution endet. Schellings Begriff des Selbstbewußtseins unterscheidet insofern sich nicht von dem bei Lukács und Bloch verwendeten, als auch er ihn zuvorderst reflexiv auffaßte. Im Unterschied zu diesen galt er ihm jedoch ,bloß‫ ދ‬als die „höchste Form“ des Wissens. „Das Selbstbewußtseyn ist der lichte Punkt im ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet“ (AA I/9,1, p. 47). Es schien ihm eine „Art des Wissens“ und „keine Art des Seyns“ zu sein. Das „Seyn“ selbst als Ausdruck absoluter Identität war es, nach dem er eigentlich verlangte. Vor allem für Lukács war Selbstbewußtsein ein Synonym für jene Subjekt-Objekt-Identität, welche zur entscheidenden Prämisse für Individuum (Ich bin) und Klasse (Wir sind) wird, um exploitierende Ökonomie nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch sich ihrer zu erwehren. Da Verdinglichung aber als ein Phänomen gilt, das nicht einzeln auftritt, sondern strukturell ist, allumfassend, kann das individuelle Selbstbewußtsein nicht genügen, um seiner Herr zu werden. Der Bewußtseinsakt muß ausgeweitet, ,kollektiviert‘ werden, um, wie die Verdinglichung selbst, das Totum zu erfassen. Nur wenn das Ganze, vertreten durch seine Individuen, zu Bewußtsein kommt, kann auch das Ganze verändert werden. Allein wenn das Ganze als Ganzes begriffen wird, kann es auch erzeugt werden. Dazu bedarf es jedoch der

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Ausbildung eines überindividuellen, totalisierten Bewußtseins. Ob ein solches, sei es als kollektives Selbstbewußtsein oder im Sinne einer volonté générale, existiert, wurde von Lukács nie in Frage gestellt. Diese Schwierigkeit bleibt ungelöst stehen. Der Deutsche Idealismus darf als der letzte große, nicht-katholische Versuch der Neuzeit gelten, die Vielheit des Seins als eine Totalität zu fassen, sie aus einem Absoluten deduzieren und als System darzustellen zu wollen: ਨȞ țĮ੿ ʌ઼Ȟ. Gerade aber bei dem Versuch, es nicht zu sein, ist er es doch. Daß nämlich diese Art zu denken, das heißt stets nach dem Unum und der Unitas zu fragen, das Allgemeine dem Einzelnen sowie das Eine dem Vielen gegenüberzustellen, ursprünglich hellenisch war und dann nahezu übergangslos vom frühen Christentum und seiner Theologie absorbiert wurde, erweist schon der Begriff katholisch. Er ist aus dem Altgriechischen hergenommen, von țĮșȠȜȚțંȢ, das wiederum von IJઁȱ੖ȜȠȞ (= das Ganze; lat. totum) sich ableitet. ȀĮșȠȜȚțંȢ bedeutet, das Ganze umfassend und angehend, das Allgemeine, gemeinhin Gültige. Es drückt den universalen Anspruch des christlichen Glaubens sowie die Priorität der Gesamtkirche gegenüber den Ortskirchen aus. Zur Beschränkung dieser Attribution auf die römische Kirche kam es erst durch diverse Schismen (etwa mit der Orthodoxie oder den Reformatoren in Deutschland). Nur durch das Wiedererwachen des Platonismus ist es zu erklären, daß vornehmlich Protestanten, wie Schelling, Hegel und Hölderlin, um jenes Ganze sich bemühten und somit eigentlich wider die lutherische Tradition philosophierten. Es ist dies zugleich der letzte umfassende Versuch neuzeitlicher Philosophie, eine Metaphysik zu konstruieren. Marx, Lukács und Bloch, die gleichfalls dem jüdischchristlichen Denken entstammten und deshalb ebenso systemisch, idealistisch wie spekulativ dachten, bilden ,nur‘ die – freilich säkularisierte und ,auf die Füße gestellte‘ – Fortsetzung dieser Tradition. Auch ihnen war am Ganzen und seiner ideellen wie reellen Bebauung gelegen, auch sie erwarteten in messianisch-eschatologischer Weise jenes Erwachen des Menschen (als Gattungswesen) zu sich selbst, das Heraufkommen seines Selbstbewußtseins, durch das er die Welt zum Besseren hin verändert, sie zur „Heimat“ umgestaltet: „aufrechter Gang auf bewohnbarer Erde“ (GA 6, p. 257). Als Schellings größte Leistung darf mithin die Übertragung der platonischen Urbild-Abbild-Lehre auf die Natur gelten. Indem ich einen Gegenstand nicht mehr Gegen-stand (oder Objekt) nenne, sondern Produkt, erweitert das Wissen sich um ihn und mich selbst. Die natura naturans wird als gemeinsame Quelle von Subjekt und Objekt erkannt. Mit einem Mal spielt nicht nur Identität und Totalität, sondern auch und vor allem Bewegung in die realen wie idealen Akte herein, hat das Ding ein Woher und Wohin. Erkenntnis wird selber zum Produkt. Vernunft offenbart sich selbst. Gleich wie die Natur, produziert und reproduziert sich das Individuum. Es ,erzeugt‘ sich in seinen Handlungen, die als Produkte seiner unendlichen, bewußtlosen

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Tätigkeit aufscheinen. Erst in ihnen schaut das Subjekt sich selbst an, wird zum (bewußten) Ich. Dies zu wissen, ist seine Freiheit. Zugleich stellt die Freiheit als Wissen das Ich in die Verantwortung für sein Handeln. Was einst und bequem Schicksal hieß, wird jetzt, als Entmythologisiertes, dem Subjekt selbst zugeschrieben. Bewußtsein entsteht durch Produktion, nicht durch Reflexion. Daher kann das bewußtlose Wollen, welches der Reflexion vorausgeht, nicht linear-kausal ermittelt werden: Dynamik statt Mechanik. Im Begriff der Dynamik selbst ist ebenso treffend wie verdichtet alle Imponderabilität von Geschichte als a posteriori schlechthin eingeschlossen. Schelling versöhnt Materie und Geist, Leib und Seele, indem er das individuelle Bewußtsein, als Akt der Freiheit, zum (höchsten) Produkt der produzierenden Natur erklärt. Daß gerade im technischen Zeitalter Denken und Sein als bloß zwei Manifestationen des Einen in Vergessenheit geraten, ihre Trennung gar forciert wird, ist uns Grund genug, jener Philosophie ihre Aktualität zu beurkunden. Die Fruchtbarkeit einer Auffassung von Natur als fortwährend und unsichtbar Produzierende zeigt sich erst wirklich in der Übertragung auf Geschichte und Ökonomie: das Produkt ist dann eingefrorene Arbeitszeit, der Mensch im und als Ding oder: alle Dinge sind verzauberte Menschen, so der marxistische Tenor. Marxismus = „Verzauberungsanalyse“ (Sloterdijk). Erst Schellings Naturphilosophie, mit ihrem Begriffspaar Produktivität-Produkt, stellt zu dieser Methodik die Instrumente. Schellings Gabe, das Absolute, als Unsagbares, immer neu zu sagen, hat an dem ,glücklichen Zwang‫ ދ‬sich gebildet, Unendliches mit Endlichem nicht vermengen zu wollen. Von diesem Eigensinn profitieren wir. Auf der einen Seite nämlich lädt seine Theorie zu intersubjektiver Selbsterkenntnis ein (System-Schrift), auf der anderen Seite zu nichtpropositionalem Selbstbewußtsein. Da beide Bezugsgrößen des einen Ich darstellen, eine äußere und eine innere, spaltet diese Vorstellung nicht, sondern sichert dem Ich einen höheren Grad an Relationalität, nämlich in zwei Richtungen: nach außen und nach innen. Dies erst gewährt ihm einen autonomen Umgang mit der eigenen wie der fremden Wirklichkeit. Es gilt die unendliche Dimension des Ichs als irrelationale Selbstvertrautheit neu zu entdecken und das Wissen darum als Prophylaxe gegenüber reifikatorischer Repression zu begreifen. Selbstbewußtsein und (Selbst-)Verdinglichung bilden ein antagonistisches Begriffspaar. Ersteres darf jedoch nicht, wie bei Lukács, das Privileg allein der proletarischen Klasse sein, sondern muß zum klassenübergreifenden Postulat für das Individuum als solches werden. Erst dann und von da aus ist überhaupt erst an eine intersubjektive Aufhebung gesellschaftlicher Differenzen im solidarischen Wir zu denken. ,Konkrete Utopie‫ ދ‬beginnt bei der Aufklärung des Menschen über seine unbedingte Subjektivität, seine unvorgängige Selbstverläßlichkeit. Nur durch das Wissen um seine Unbedingtheit ist das Individuum in der Lage, den schwierigen Austausch zwischen Innen und Außen so zu regulieren, daß es nicht zum Objekt Anderer wird, sondern Subjekt bleibt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ich nie Objekt war oder nie

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zugleich auch als solches existiere. Jedes Individuum entwirft sich als Entworfenes. Sobald Reflexion einsetzt (als notwendige Form der Selbstobjektivierung, als geistige Unterbrechung und Zusammensetzung), finde ich mich als Objekt vor. Ich bin Objekt meines Denkens und ich bin Objekt eines Naturprozesses, der selbst Subjekt ist (Subjekt nicht höherer, aber anderer Potenz). Ich bin Teil des Naturprozesses. Als Teil und Produkt des Naturprozesses bin ich zugleich Subjekt, insofern ich an der Subjektivität der Natur partizipiere und selbst produzierender Organismus bin. Für die Natur (als Ganze) bin ich Objekt (ebenso wie für die Geschichte). Für mich (als Einzelner) bin ich Subjekt. Ich bin also zugleich Objekt-Subjekt und SubjektObjekt. Anders: aus der Perspektive des transzendentalen Idealismus bin ich Subjekt-Objekt, aus naturphilosophischer Sicht bin ich Objekt-Subjekt und in der Wahrnehmung des ökonomischen Kalküls Objekt-Objekt. In Ansehung dessen kommt der Objektivierung eine doppelte Bedeutung zu: einmal geht sie von der Natur aus, das andere Mal von der Geschichte. Beiden ist das Individuum notwendig Objekt. Verdinglichung heißt eine Objektivierung jedoch nur, wenn die Geschichte ihr Verursacher ist, nicht, wenn sie von der Natur ausgeht. Natur steht im Falle der Verdinglichung der Geschichte gegenüber, wird zum Protecteur des reifizierten Individuums. Der objektive Teil in mir, jener also, welcher Natur ist, Körper ist, läßt in mir etwas aufscheinen, auf das ich mich unbedingt verlassen kann. Er allein vermag als Rekursinstanz unhintergehbarer Individualität zu fungieren, denn jedes A = B bleibt, für sich betrachtet, immer ein A = A oder: ein absolut sich selbst Gleiches. Selbstvertrautheit ist in erster Linie ein organischer Zustand, kein begrifflicher. Er bedeutet die subjektive Vertrautheit mit dem Objektiven (= Natur = Organismus) des Subjektiven. Materie ist das Einzige, auf das ich rekurrieren kann, wenn es um eine Entscheidung geht. Alle Signale können nur aus mir selbst kommen, alle Antriebe einzig im Stofflichen liegen. Freiheit = Notwendigkeit. Schelling verdanken wir die Einsicht, daß es nicht nur eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, sondern auch eine im Inneren des Subjekts selbst gibt, daß das Ich als solches immer ein doppeltes ist. Ich-immanent tritt jene Spaltung als endlich-reflexive Selbsterkenntnis und als unendlich-irreflexives Selbstbewußtsein auf. Verdinglichung betrifft je beide Sphären der Trennung, die äußere, als Subjekt-Objekt-Entzweiung, und die innere, als Subjekt-Subjekt-Entzweiung. Anschaulicher wird dies so: Begrifflich wird der Arbeiter mit der Maschine identifiziert. Dies kann entweder durch strukturelle, also gesellschaftliche Prädikation oder durch den Lohnabhängigen selbst, sofern er dem System sich fügt, geschehen. Seine individuelle Empfindung aber signalisiert ihm unter Umständen das Gegenteil. Nur sie, als Erlebnis von bestimmter Qualität, das den „Gegenstand“, das heißt die Repression, „als in bestimmter Weise seiend“ (Döring) repräsentiert, vermag ihm Gewißheit darüber zu geben, ob der Begriff, welchen man ihm aufnötigt, die Realität abbildet,

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ob die Wirklichkeit, in der Weise, wie sie bezeichnet wird, auch wirklich wirklich ist. Es geht um die unersetzbare Eigentümlichkeit subjektiven Wissens als Privileg der ersten Person. Nur von dorther, aus der Perspektive innerer Wahrnehmung, kann jede Form von Verdinglichung ihre Aufhebung und Verflüssigung erfahren. Freiheit als Selbstverursachung entsteht notwendig als Identität von Gefühl und Begriff. Dies zu erkennen, ist eine wesentliche Voraussetzung zur Lösung reifikatorischer Prozesse der Gegenwart. Obwohl Bloch diese nicht in ihrer ganzen Tiefe ausgelotet hat, besaß er dennoch ein gutes hermeneutisches Gespür für Schellings Naturphilosophie und das, was sie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung leistet. Wenn auch unvollständig, erwies seine Analyse sich als im Prinzip richtig. Mit dem Wissen, dafür im Rahmen eigenständiger und fortführender Überlegungen den Nachweis erbracht zu haben, kann unsere Abhandlung schließen.

Siglen

AA = Schelling, F. W. J.: Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der SchellingKommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften edd. Hans Michael Baumgartner † et al., Reihe I: Werke, Reihe II: Nachlaß, Reihe III: Briefe, Reihe IV: Vorlesungsnachschriften. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1976 sqq. AS = Schelling, F. W. J.: Ausgewählte Schriften, 6 voll., ed. Manfred Frank, (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 521-526) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 20033 [19851]. BBKL = Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, ed. Friedrich Wilhelm Bautz, vol. 1 sqq., Hamm: Bautz, 1975 sqq. DBE = Deutsche Biographische Enzyklopädie, ed. Rolf Vierhaus, 2., überarb. und erw. Ausgabe, 12 voll., München: Saur, 2006 [19951]. ES = Frank, Manfred: Eine Einführung in Schellings Philosophie, (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 520) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19952 [19851]. GA = Bloch, Ernst: Gesamtausgabe, 16 voll. + Ergänzungsbd., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959-1978. GeW = Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer, 1999 [1. Aufl.: London: Imago, 1940 sqq.]. GK = Lukács, Georg: „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, in: idem: Werke, vol. 2; Frühschriften II: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied, Berlin: Luchterhand, 1968, pp. 257-397. GW = Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Ed. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Meiner, 1968 sqq. KrV = Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe. Texte und Kommentar. Ed. Georg Mohr, (I. Kant: Theoretische Philosophie; 1) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1518) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. LThK = Lexikon für Theologie und Kirche. Fund. Michael Buchberger. Ed. Walter Kasper cum Konrad Baumgartner et al., 3., völlig neu bearb. Aufl., 11 voll., Freiburg im Breisgau, Basel, Rom, Wien: Herder, 1993-2001.

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LV = Bloch, Ernst: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 19501956. Edd. Ruth Römer et al.. Cur. Eberhard Braun et al., 4 voll., (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft; 570) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. MEW = Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, 42 voll; Ergänzungsbd. I-II; Sachregister (voll. 1-39), Verzeichnis: Werke, Schriften, Artikel. Diese Ausg. fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten Ausg. in russ. Sprache. Teilw. nach der [...], von F. Engels (durchges. und) hrsg. Aufl., Berlin: Dietz, 1956 sqq. PG = Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, (G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke; 9) ed. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Meiner, 1980. PhO = Schelling, F. W. J.: Philosophie der Offenbarung 1841/42, ed. et cur. Manfred Frank, (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 181) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19933 [19771]. SW = Schelling, F. W. J.: Sämmtliche Werke, ed. K. F. A. Schelling, Abt. I: 10 voll., Abt. II: 4 voll., Stuttgart, Augsburg: Cotta, 1856-1861. TRE = Theologische Realenzyklopädie, ed. Gerhard Krause et al., 43 voll., 2 voll. Gesamtregister, 2 voll. Abkürz.-Verz., Register 1/17, Register 1/27, Berlin, New York: de Gruyter, 1977-2007. W = Lukács, Georg: Werke, 18 voll., voll. 1 und 3 nicht erschienen. Ab vol. 18 im Aisthesis-Verlag, Bielefeld, erschienen. Neuwied, Berlin: Luchterhand, 19602005.

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B. Q UELLEN : B LOCH Bloch, Ernst: Gesamtausgabe, 16 voll. + Ergänzungsbd., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959-1978 (zitiert: GA Band, Seite). Vol. 01: Spuren, 1969. Vol. 02: Thomas Münzer als Theologe der Revolution, 1969. Vol. 03: Geist der Utopie (1923), 1964. Vol. 04: Erbschaft dieser Zeit, 1962 (nicht zitiert). Vol. 05: tom. 1: capp. 1-37, tom. 2: capp. 38-55, Das Prinzip Hoffnung, 1959. Vol. 06: Naturrecht und menschliche Würde, 1961. Vol. 07: Das Materialismusproblem. Seine Geschichte und Substanz, 1972. Vol. 08: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, 1962. Vol. 09: Literarische Aufsätze, 1965 (nicht zitiert). Vol. 10: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, 1969. Vol. 11: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, 1970 (nicht zitiert). Vol. 12: Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte, 1977. Vol. 13: Tübinger Einleitung in die Philosophie, 1970. Vol. 14: Atheismus im Christentum, 1968. Vol. 15: Experimentum Mundi, 1975. Vol. 16: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918, 1971. [Vol. 17:] EB: Tendenz – Latenz – Utopie, 1978. „Ich möchte das Meine unter Dach und Fach bringen …“. Ernst Blochs Geschäftskorrespondenz mit dem Aufbau-Verlag Berlin 1946-1961, ed. Jürgen Jahn, (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens: Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte; 18) Wiesbaden: Harrassowitz, 2006. Bloch, Ernst: Briefe 1903-1975, 2 voll., edd. Karola Bloch et al.. Gesamtredaktion: Uwe Opolka, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. Bloch, Ernst: „Ernst Bloch“, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, 3 voll., ed. Ludwig J. Pongratz, Hamburg: Meiner, 1975-1977, vol. 1, pp. [1]-10. Bloch, Ernst: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950-1956. Edd. Ruth Römer et al.. Cur. Eberhard Braun et al., 4 voll., (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 570) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985 (zitiert: LV Band, Seite). Bloch, Ernst: Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nachlaß 19231949, ed. Gerardo Cunico, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. Bloch, Ernst: „Warum und zu welchem Ende die meisten großen Philosophen nicht, noch nicht Materialisten waren“, in: Praxis. Revue philosophique, Nr. 3/4 (1971), pp. 563-566.

B IBLIOGRAPHIE | 371

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D. L ITERATUR „… an der Galeere der Theologie“? Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, ed. Michael Franz, (Schriften der Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft; 23,3) (Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von Hölderlin, Hegel und Schelling; 3) Tübingen: Hölderlin-Ges.; Eggingen: Ed. Isele, 2007. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Ein handschriftlicher Fund, ed. Franz Rosenzweig, (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der

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Edition Moderne Postmoderne Steffi Hobuss, Nicola Tams (Hg.) Lassen und Tun Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken August 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2475-5

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