F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit 9783050050430, 3050026903, 9783050026909

Schellings Freiheitsschrift, im Jahre 1809 als einer der letzten Beiträge von ihm veröffentlicht, ehe er vierzig Jahre j

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German Pages 294 [290] Year 1995

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F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit
 9783050050430, 3050026903, 9783050026909

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Es gibt Texte, die jeder Student der Philosophie, ja sogar jeder an Philosophie Interessierte gründlich gelesen haben muß. Derartige, nicht bloß klassische, sondern schon kanonische Texte werden in Seminaren und Vorlesungen behandelt und auch außerhalb der Fachphilosophie intensiv gelesen.

Die neue Reihe legt zu jeweils einem kanoText eine Sammlung von Abhandlungen vor, nischen in denen die internationale Diskussion gegenwärtig ist und mit deren Hilfe man den Text sowohl in Lehrveranstaltungen als auch im Selbststudium erarbeiten kann. Jeder Band umfaßt neben einer Einleitung, einer kommentierten Bibliographie und einem Sachwort- und Personenverzeichnis, gegebenenfalls auch einem Glossar zehn bis zwölf Abhandlungen. Die Abhandlungen führen in den Text ein; sie erörtern in der Abfolge des Textes dessen wichtigste Themen und bieten zusammen eine Art von kooperativem Kommentar. Interpretation, Analyse und Kritik sind dabei nicht einem einzigen Standpunkt verpflichtet, sondern vermitteln die Vielfalt der Diskussion. Auf diese Weise wird auch zu schwierigen philosophischen Texten der Zugang erleichtert und dem philosophischen Diskurs ein Anstoß gegeben. -

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SCHELLING

Über das Wesen der menschlichen Freiheit

Klassiker Auslegen

Herausgegeben von

Otfried Höffe Band 3

Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie der Universität Tübingen.

an

F.W.J.Schelling

Uber das Wesen der menschlichen Freiheit Herausgegeben von

Otfried Höffe und Annemarie

Pieper

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -

Schelling: Uber das Wesen der menschlichen Freiheit/ hrsg. von Otfried Höffe und Annemarie Pieper. Berlin : Akad. Verl., 1995 (KLASSIKER AUSLEGEN ; Bd. 3) ISBN 3-05-002690-3 NE: Höffe, Otfried [Hrsg.]; GT F. W. J.

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© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. AU rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form by photoprinting, microfilm, or any other means nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. -

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Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur, Berlin Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und

Bindung: GAM Media, Berlin

Gesetzt aus Janson Antiqua Gedruckt auf alterungsbeständigem

Printed in the Federal

Papier

Republic of Germany

Inhalt Zitierweise und

Siglen.VIII

Vorwort.

1

1. Ein Thema wiedergewinnen: Kant über das Böse

Otfried Höffe

.

11

2. Zur Einleitung:

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen (336-350)

Hans Michael Baumgartner. 3. Grund und Existenz in Gott

(350-364)

OdoMarquard. 4. Die Möglichkeit des Guten und des Bösen

Jörgjantzen

35

55

(350-364)

.

61

5.

Zum Problem der Herkunft des Bösen I: Die Wurzel des Bösen im Selbst (364-382) Annemarie Pieper

.

91

6. Zum Problem der Herkunft des Bösen II: Der Ursprung des Bösen in Gott (364-382) Wilhelm Vossenkuhl. 111

7. Die Entscheidung zum Bösen oder Guten im einzelnen Menschen (382-394)

Inhalt

VI 8.

Präreflexive Freiheit und menschliche

Selbstbestimmung (382-394)

Dieter Sturma. 149 9. Von der Freiheit Gottes (394-403) Hermann Krings. 173

10. Gott als Person Francesco Moiso

(394-403)

.

189

11. Das Ende der Offenbarung (403^116) Walter E.Ehrhardt. 221 12.

Der Ungrund und das

Ryôsiike

Ohashi

System (403-416)

.

Anhang Perspektiven der Freiheitsschrift Ein Rückblick auf die Beiträge

235

-

Dieter Sturma. 255

Ein persönliches Nachwort Christoph Wild. 271

Literaturverzeichnis. 275 Personenverzeichnis. 279 Sachverzeichnis. 282 Hinweise

zu

den Autoren

.

287

Zitierweise

Schellings Freiheitsschrift wird zitiert nach der Ausgabe der

hg. v. K. F. A. Sendling, Bd. VII, Stuttgart/Augsburg 1860, S. 331-416. einfache Seitenangaben beziehen sich immer auf Schellings Text in dieser Ausgabe. Sämmtlicben Werke,

Siglen SW= Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Sendling, 1. Abteilung: 10 Bde. (= I-X); 2. Abteilung: 4 Bde. (= XI-XTV), Stuttgart/Augsburg 1856-1861. AA Friedrich Wdhelm Hoseph Schelling-HistorischKritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. H. M. Baumgartner, W. G.Jacobs, H. Krings und H. Zeltner, Stuttgart 1976 ff. (bisher erschienen: 5 Werke-Bände, 1790-1797, 1 Ergänzungsband). =

BuD

=

F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, 2 Bde., hg. H. Fuhrmans, Bonn 1962/1973. Aus Schellings Leben. In Briefen, 3 Bde., hg. v. G. L. v.

Plitt

=

Plitt, Leipzig 1869-1870.

I

Vorwort Es gibt wenige Worte, die über ein ähnlich großes Volumen verfügen, wie das Titelwort der Schrift Schellings: Freiheit.

Das Wort kann eine ganze Welt in sich aufnehmen; und den Rang einer Freiheitstheorie kann man daran messen, wie die nach ihrem Freiheitsbegriff gemessene Welt ausfällt. In seiner einflußreichen Schrift Two Concepts of Liberty (1958) unterscheidet der Sozialphilosoph Isaiah Berlin zwei

Begriffe von Freiheit. Als Abwesenheit von Zwang gewähre negative Freiheit jedem sei es einem Individuum, sei es einer Gruppe das Recht, seinen Interessen nachzugehen, die

-

ohne über die Qualität der Interessen, über ihr Gut- oder Schlechtsein, ihre Vernunft oder Unvernunft, Rechenschaft zu schulden. Im Gegensatz dazu sei positiv frei, wer dank einer Selbstkontrolle fähig sei, gute bzw. vernünftige Ziele zu verfolgen. Wir neigen dazu, den positiven Begriff höher einzuschätzen. Berlin sieht in ihm eine „despotic vision", einen Monismus, der sich nicht nur durch utopische Züge, sondern auch durch totalitäre Konsequenzen auszeichne. Zur negativen Freiheit gehöre dagegen ein Pluralismus von Werten, verbunden mit der Möglichkeit von Konflikt zwischen verschiedenen Werten und der daraus folgenden Notwendigkeit von trade-offs, von einem kompromißorientierten Aushandeln. Zu den Gründen, sich mit Kant und dem Deutschen Idealismus zu befassen, gehört eine doppelte Erwartung. Man rechnet mit einer positiven Einschätzung auch der positiven Freiheit; außerdem erwartet man noch andere Freiheitsbegriffe. Schellings Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, im Jahre 1809 veröffentlicht, erfüllt zweifelsohne die Erwartung. Denn sie erweitert den Begriff der Freiheit und gibt dabei auch positiven Freiheitsbegriffen eine positive Wertschätzung. Sogleich zu Beginn der Schrift sieht Schelling einen Zusammenhang des Freiheitsbegriffs „mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht" (336), womit die Freiheit zu einem Gesichtspunkt für Systemüberlegungen wird. Außerdem geht es Schelling um jene -

2

Vorwort

Nacht- und Schattenseiten der Freiheit, die er im Begriff des Bösen zusammenfaßt und die die Frage nach der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, aufwerfen. Gegenüber der gewohnten Freiheitstheorie erbringt diese Erweiterung eine bemerkenswerte spekulative Vertiefung. Sie hat allerdings auch ihren Preis. Die sozialen und politischen Begriffe der Freiheit treten unmittelbar nicht in den Blick; mehr noch: sie erscheinen auf eine geradezu provokative Weise als unerheblich. Weit mehr als über die Freiheit des Menschen spricht Schelling über die Freiheit Gottes. Die Provokation der Schrift reicht noch weiter, behandelt sie doch Themen, die der heutigen Philosophie weitgehend fremd sind: das Böse, die Theodizee und darüber hinaus die religiöse Offenbarung. Provokativ ist nicht zuletzt die Art und Weise („Methode"), wie über diese Themen philosophiert wird. Schelling denkt weder analytisch noch phänomenologisch noch transzendental-philosophisch, vielmehr

metaphysisch. Und die Gestalt dieser Metaphysik

eine „un-

gestüme Spekulation", verbunden mit zahllosen Hinweisen auf die hier zuständigen Traditionen und wie selbstverständlich eingebettet in eine (christliche) Religionsphilosophie dürften die heute gegen die Metaphysik bestehenden Vorbehalte nur verstärken. Jedenfalls erscheint, vom Hauptstrom der heutigen Philosophie aus betrachtet, Sendlings Freiheitsschrift als ein sperriger Text. In dieser Situation hilft ein Prinzip, das neuerdings von —

-

amerikanischen analytischen Philosophen vertreten wird, das Prinzip der Nachsicht („principle of charity"). In der anspruchsvolleren Version der „aequitas hermeneutica", der hermeneutischen Billigkeit, ist es der kontinentalen Tradition ohnehin schon des längeren bekannt, mindestens seit G. F. Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (17'57',

§ 39).

Bleibt man bei der bescheideneren, analytischen Variante, so soll man Menschen, deren Sprache und Kultur nicht verstanden werden, möglichst nicht logisches Denken und Verhalten absprechen. In diesem Sinn lese man die Freiheitsschrift, ihre fremdgewordenen Themen und ihre fremdgewordene Metaphysik: nicht als einen Text, dem das logische Denken fehlt, sondern als eine Gedankenentwicklung, deren Logik sich

Vorwort durchaus erschließen läßt. Und wer sich der entsprechenden Mühe unterzieht, könnte im bisherigen Hauptstrom der Debatte mancherlei Engführung entdecken. Beispielsweise dürfte er skeptisch werden gegen jede Ethik und jede Sozialphilosophie, die für den Begrif f des Bösen keinen philosophischen Ort haben. Und vielleicht erwächst aus dieser Skepsis eine neue Offenheit für Metaphysik. Zumindest den Versuch ist eine

„Wiedererwägung von Schelling" wert.

Zur Interpretationsgeschichte

Schelling-Forschung haben die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit eine höchst unterschiedliche Wertschätzung erfahren. Während die einen nicht ohne ein gewisses Pathos darin ein Meisterwerk erkannten, erachteten andere, die im Spätwerk den eigentlichen Schelling erblickten, die Freiheitsschrift bestenfalls als ein Ubergangswerk. Wieder andere deuteten sie als einen Wendepunkt in Schellings Philosophie oder zogen die Interpretationslinie bis in die Gegenwart. In der

-

-

So hat Martin Heidegger die Bedeutung dieser Schrift in ihrer innovativen Kraft gesehen: „1809 erschien Schellings Abhandlung über die Freiheit. Sie ist Schellings größte Leistung, und sie ist zugleich eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie."1 Zwar sei Schelling, ebenso wie nach ihm Nietzsche an seinem eigentlichen Werk, dem Willen zur Macht, zerbrochen, am Werk gescheitert, worin Heidegger jedoch „kein Versagen und nichts Negatives [sieht], im Gegenteil. Das ist das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Arideren, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs. Wer den Grund dieses Scheiterns wahrhaft wüßte und wissend bewältigte, müßte zum Gründer des neuen Anfangs der abendländischen Philosophie werden."2 Hans Urs von Balthasar hat Schellings Abhandlung als „das titanischste Werk des deutschen Idealismus" bezeichnet und seiner Begeisterung emphatisch Ausdruck verliehen: „Hier 1 M. Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit

(1809), Tübingen 1971,2. 2 Ebd., 4.

3

4

Vorwort

findet Schelling auch im Stil ganz sich selbst, das PlatonischLiturgische und Esoterische steigert sich zur Unerbittlichkeit und ehernen Geschlossenheit der Visionen der Johannes-Apokalypse. Schelling deduziert nichts mehr, er schaut die innere Geschichte Gottes mit dem steinernen und unwidersprechbaren Blick einer Sibylle. In diesem Blick gewinnt die unexistentielle Schau Sendlings endlich eine wirkliche, eigene Existentialität."3 Wie Heidegger hält auch Karl Jaspers die Freiheitsschrift für gescheitert, allerdings aus anderen Gründen. Nach Jaspers ist es das „Schellingsche zudringlich entartende Denken", das „die Übertragung menschlicher Freiheit auf Gott sinnwidrig" macht.4 „Dann aber zeigt sich auch, daß all dieses Vordergründige eines menschlichen Denkens, wenn es vergeblich in die Gottheit dringt, doch auffordert, in seinem Scheitern vollzogen und begriffen zu werden."5 Zusammenfassend stellt Jaspers das ihn Faszinierende an Schellings Ringen um die menschliche Freiheit heraus: „An Schelling ist zu studieren sein Umgang mit der Chiffrensprache. Man findet die ganze Skala von existentieller Ergriffenheit durch das Grübeln in den Grund bis zur gnostischen Objektivierung eines übersinnlichen Soseins, von echten philosophischen Grundoperationen bis zu rationalen Argumentationen in der Form von Hypothesen, von visionärer Bildprägung bis zu den Leitfäden rationaler Schemata mit leer gewordenen Zeichen, von wundersamer Erhellung in leuchtenden Horizonten bis zu wunderlich leibhaftigem Wissen."6 Xavier Tilliette betrachtet Schellings Freiheitsschrift als ein Übergangswerk.7 Damit folgt er Walter Schulz, gemäß dessen Periodisierungsvorschlag die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit in den Anfang der zweiten Hauptphase gehören. „Nach einer besonders ...

3 H. U. von Balthasar, Apokalypse der deutsehen Seele, Bd. lismus, Salzburg/Leipzig 1937, 240.

1 : Der deutsche Idea-

4 K.Jaspers, Schelling. Größe und Verhängnis, München/Zürich 1955, 182 f. 5 Ebd., 183. 6 Ebd., 211. 7 X. Tilliette, Die Freiheitsschrift, in: II. M. Baumgartner (Hg.), Schelling, Freiburg/München 1975,95-107; 101.

Vorwort

durch den Einfluß Fichtes bestimmten Vorbereitungszeit folgt die idealistische Hochzeit Schellings, der objektive Idealismus des Identitätssystems, und aus der in ihm sich ergebenden Problematik erwächst als eine zweite Vorbereitungszeit die durch Böhme und Baader beeinflußte Epoche eines theosophischen Pantheismus, die dann in der letzten Phase durch die Lehre von einem transzendenten Gott überwunden wird."s Horst Fuhrmans schließlich hat in der Freiheitsschrift eine Wende der Schellingschen Philosophie zu einem „explikativen Theismus" entdecken wollen, „wonach die Welt in ihrer Geschichte die große, aber nicht pantheistisch gemeinte Entwicklungsgeschichte Gottes ist, ein Entwurf, der plotinische Züge hat, in seiner eigendichen Tradition aber auf der Idee des Nikolaus von Kues beruht, daß sie explicatio Dei ist", Ausführung jenes „tiefsinnigen Entwurfs, der so oft als Pantheismus ausgegeben worden ist, ohne es zu sein, der freilich gut als Pan-en-theismus gefaßt werden kann."9 Im Unterschied zu Fuhrmans hat Harald Holz die These vertreten, Schellings Abhandlung sei zutiefst vom Neuplatonismus geprägt,10 was Werner Marx zu der Bemerkung veranlaßt hat, Theosophie und Neuplatonismus gingen nicht auf sich ausschließende Quellen zurück, zumal Schelling sich das ihn interessierende Quellenmaterial ohnehin stets höchst eigenwillig angeeignet habe.11 Marx ist darüber hinaus auch der Überzeugung, „daß manche Bestimmungen der Freiheitsschrift für eine neue Ethik von Bedeutung sein könnten", insofern die Freiheit des Menschen eine moralische Dimension hat, aus welcher sich sein Wesen bestimme. Es müsse „in unserer Zeit, in der viele überlieferte Maßstäbe keine Wirkungskraft mehr haben und neue nicht erschienen sind, die Aufgabe der Philosophie sein, vor den Blick zu halten, daß und wie es für 8 W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismiis in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1975, 13. 9 H. Fuhrmans, Einleitung in: F. W. J. Schelling, Das Wesen der menschlichen

Freiheit, Düsseldorf 1950, XLVII.

10 H. Holz, Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegrijf des initiieren und späten Schelling, Bonn 1970. 11 W. Marx, Schelling Geschichte, System, Freiheit, FVeiburg/München 1977, 107.

-

5

6

Vorwort

traditionelles Denken einmal ein Absolutes gab. Dadurch könnte der Gedanke vor der Vergessenheit bewahrt und in die Gegenwart gerettet werden, daß es eigentlich ein Maß geben muß, soll der Mensch überhaupt zwischen Gut und Böse unterscheiden können, und daß er darum das Maßgebende weiter suchen muß. Eines aber ist uns doch sicher und diese Gewißheit läßt sich gerade an Sendling bewähren -: Es gibt das Wunder der Freiheit' im Menschen. Das Bewußtsein dieser Freiheit hält trotz der stets gegenwärtigen Macht des Bösen die Hoffnung dafür offen, daß innerhalb ihrer immer wieder das Gute über das Böse siegt, und zugleich entläßt es den Menschen nicht aus der Verantwortung für sein Leben auf dieser Erde."12 -

,

Zu Schellings Freiheitskonzeption Es steht außer

Frage, daß man bezüglich der Schellingschen Freiheitskonzeption von verschiedenen Entwicklungsphasen sprechen kann, in denen sich die Schwerpunkte verlagern. So stand im Mittelpunkt der Überlegungen des jungen Schelling die Frage, „wie ein empirisches Ich Freiheit haben solle"," und seine Lösung des Problems lief auf die Fichtesche hinaus: „Daß nämlich das empirische Ich Ich ist, verdankt es dersel-

ben absoluten Causalität, durch welche das absolute Ich Ich ist. Diese Freiheit des empirischen Ichs ist also nur durch ihre Identität mit der absoluten begreiflich, und kann demnach durch keine objektiven Beweise erreicht werden."14 Auch hält Schelling in jener Zeit etwas fest, das sich durch seine gesamte Philosophie durchhalten wird, nämlich daß eine Deduktion aus dem Absoluten nicht möglich sei: „Kein System kann jenen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen realisiren kein System kann jene Kluft ausfüllen, die zwischen beiden befestigt ist. Die Philosophie kann zwar vom Unendlichen nicht zum Endlichen, aber umgekehrt vom End...

...

-

...

12 W. Marx, Das Wesen des Bösen. Zur Aktualität der Freiheitsschrift Sendlings, in: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), 1-9; 1, 5, 9. 13 F. W.J. Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), SW1 235 (AA 1,2 167). 14 Ebd., 236 f. (169).

Vorwort

Unendlichen übergehen. Das Streben, keinen Unendlichen zum Endlichen zuzulassen, Uebergang wird eben dadurch zum verbindenden Mittelglied beider, auch für die menschliche Erkenntniß."15 Sieben Jahre später rückt der Gedanke jener ,,heilige[n] Einheit, worin Gott ungetrennt mit der Natur ist", in den Mittelpunkt von Schellings Überlegungen.16 Die Natur in Gott und Gott in der Natur ermöglichen die Vorstellung einer „Menschwerdung Gottes von Ewigkeit" und damit verbunden „die nothwendige Gottwerdung des Menschen".17 Wiederum zwei Jahre später kristallisiert sich in Schellings Auseinandersetzung mit dem göttlichen Demiurgen des Platonischen Timaios die Umschreibung der Freiheit als „insich-selbst-Seyn" des Absoluten heraus. Diese Form ursprünglicher Selbst-Ständigkeit wird zur Voraussetzung für den frei vollzogenen Abfall des Menschen von Gott.18 „Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr. Jene ist gleichsam die Ibas, diese die Odyssee der Geschichte. In jener war die Richtung centrifugal, in dieser wird sie centripetal."19 FünfJahre danach erscheint die Freiheitsschrift, in welcher Schelling die ,Geschichte' des sich selbst aus dem Prinzip des Grundes zeugenden und aus dem Prinzip der Liebe gebärenden Gottes als Folie für das Verständnis der menschlichen Freiheit und der aus dieser resultierenden Selbstverfehlung im Bösen entfaltet. Diese Geschichte wird dann vier Jahre später in den Weltalterentwürfen und in den Vorlesungen lichen

zum

vom

15 F. W. J. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritici.mius (1795), SW1194 f. (AA 1,3 83). „Mit Einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar" so formuliert Schelling 1804 (SWVI 624). 16 F. W. J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge (1802), SWIV 203. 17 Ebd., 328 f. 18 F. W. J. Schelling, Philosophie und Religion (1804), SWVI 39 f. -

19

Ebd., 57.

7

8

Vorwort

über Mythologie und Offenbarung weiter ,erzählt'. Sendling entwickelt dort die drei Momente des göttlichen Selbstverhältnisses Grund, Existenz, Liebe als Potenzenlehre, um „die ewige Freiheit, das lautere Wollen" als Vollzug eines lebendigen, sich selbst über verschiedene Etappen aktualisierenden und als solchen offenbarenden Gottes zu beschreiben.20 Das ewige Nein des Grundes, das die Selbstentäußerung Gottes verhindern will, und das ewige Ja zur Offenbarung periodisieren den Prozeß, in dem Gott sich im Durchlaufen verschiedener, nacheinander dominierender Kräftepotentiale zur Freiheit durchringt. „So muß dieser Proceß fortschreiten bis zu dem Punkt, da die Kräfte des Seyns anfangen dem Seyenden das Gleichgewicht zu halten. Durch fortwährende Steigerung muß endlich Aequipollenz des Angezogenen mit dem Anziehenden hervorgebracht werden. Dieß ist das Ziel und Ende des Processes. Gott selbst muß die ganze Tiefe und die schrecklichen Kräfte des eignen Seyns -

-

empfinden."21

Die Geschichte Gottes mündet schließlich in die des Menschen, der seine Freiheit jedoch nicht zum Guten, sondern

Bösen gebraucht hat. „Der Mensch war Herr der Potensie mit freiem Willen, insofern durch eigne That unzen, auflöslich für Gott selbst unauflöslich zu machen. Weil diese unauflösliche Einheit sein eignes Werk seyn sollte, darum wurde ihm gezeigt, daß er auch das Gegentheil thun könne, das Gesetz selbst wurde so Anlaß zur Uebertretung."22 zum

um

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-

Wie immer man die Freiheitsschrift in Schellings Gesamtwerk verortet, ob man sie noch zur „negativen", rein rationalen Philosophie rechnet, die wie die Transzendentalphilosophie in der Apriorität von Denkstrukturen nur die Bedingungen der Möglichkeit alles Wirklichen erfaßt, oder ob man sie bereits als einen Vorläufer der „positiven" Philosophie begreift, die als geschichtlich offenes Denkmodell die unableitbaren Bedingungen der Wirklichkeit zu thematisieren ver20 F. W. J. Schelling, Die Weltalter (1813), SWrVIII 239. 21 Ebd., 326. 22 F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW2. Abt. III 358.

Vorwort

sucht in jedem Fall stellen die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit ein eigenständiges und in sich geschlossenes Werk dar, dessen Auslegung nicht zuletzt auch deshalb aufschlußreich ist, weil es sich um einen der letzten drei Beiträge handelt, die Schelling noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, um dann rund vierzig Jahre bis zu seinem Tod jede weitere Publikation zurückzuhalten.25 -

Nun erschwert Schelling uns den Zugang zur Freiheitsschrift dadurch, daß er keine Abhandlung gemäß den heute üblichen wissenschaftlichen Kriterien vorlegt. Obwohl er seinen Ausführungen ein Vorwort und eine Art Einleitung vorausschickt (336-357), bietet er darin keine Ein- und Hinführung zu der von ihm untersuchten Problematik, sondern bewegt sich schon ,mitten im Thema'. Der Stand der Diskussion wird durch eine Fülle von Anspielungen zwar angedeutet, aber für den heutigen Leser nicht klar und übersichdich entfaltet. Um an Schellings Text und die darin verhandelten Fragestellungen heranzuführen, beginnen wir die Kommentierungsarbeit mit Blick auf Kant und dessen Auseinandersetzung mit dem

Problem des Bösen, ohne damit zu präjudizieren, Schelling müsse von Kant her verstanden, gegen ihn abgesetzt oder von ihm her kritisiert werden. Was die jeweils paarweise zu den einzelnen Abschnitten der Freiheitsschrift verfaßten Beiträge in ihren Texterläuterungen mitdokumentieren, ist die immense Belesenheit Schellings, die sich in zahllosen Quellenbezügen niederschlägt. Er, der im Tübinger Stift als Theologe begann und schon früh eine Lebensaufgabe darin sah, eine gegenüber der Tübinger Orthodoxie adäquatere, letztlich freiheitstheoretisch fundierte Theologie zu entwerfen, zieht dank einer stupenden Gelehrsamkeit die dafür zuständigen Traditionen in einem geradezu überwältigenden Ausmaß heran: der reiche Schatz der religiösen Erfahrungen, einschließlich der Mythen, der Gnosis, der Kabbala und der Mystik; Piaton, Plotin, ferner 23 1812 erschien noch die Kampfschrift Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen des Friedrich A. Jacobi sowie 1815 die Abhandlung Über die Gottheiten von Samothrake.

q

io

Vorwort

Denker wie Augustinus und Paracelsus, Jakob Böhme, Spinoza, Leibniz und Lessing, Franz von Baader, Friedrich Schlegel und natürlich auch Kant und Jacobi; nicht zu vergessen die damalige Medizin und Naturwissenschaft, hier insbesondere die Chemie. Interessant ist auch der Blick nach vorn, etwa auf Kierkegaard und die zeitgenössische Subjekttheorie. Die Freiheitsschrift wurde in der Schelling-Literatur bisher vielfach vernachlässigt. Den einzigen Kommentar bietet nach wie vor Heideggers im Sommersemester 1936 gehaltene Vorlesung Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Die Idee, einen kooperativen Kommentar, wie er sich bereits in bezug auf Kants Grundlegung bewährt hat24, auch zu Schellings Freiheitsschrift zu erstellen, verbanden die Herausgeber mit der Planung eines Symposiums, das zugleich einen Denker anläßlich seines 80. Geburtstags ehren sollte, dessen Philosophieren durch die beiden Titelworte „Schel-

ling" und „Freiheit" Krings.25

nachhaltig geprägt

-

ist: Hermann



Für die großzügige Unterstützung dieses Symposiums, das im September 1993 stattfand, danken wir der Thyssen-Stiftung und der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissen-

schaften.

Otfried Höffe und Annemarie Pieper

24 Vgl. Grundlegung zur .Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hg. v. o. Höffe, Frankfurt a. M., -1993. 25 Krings ist seit 1973 Vorsitzender der Schelling-Kommission zur Herausgabe der Historisch-Kritischen Ausgabe der Schriften Schellings an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; stellvertretend für seine zahlreichen Arbeiten zum Freiheitsbegriff sei hier auf den Sammelband System und Freiheit verwiesen (Freiburg/München 1980).

1 Otfried Höffe

Ein Thema wiedergewinnen: Kant über das Böse

I. Den Verlust wahrnehmen Schon der oberflächlichen Lektüre fällt eines auf: Die Freiheitsschrift behandelt ein Thema, das Böse, das die Philosophie seit der Antike erörtert, ihr heute aber verlorengegangen ist. Wer nun die Freiheitsschrift nicht nur historisch verstehen, wer sie auch mit einem systematischen Interesse lesen will, wird den Verlust nicht bloß wahrnehmen, sondern sich auch überlegen, ob er schlicht hinzunehmen ist: Ist das Böse tatsächlich kein angemessenes Thema der Philosophie mehr, oder verdient es im Gegenteil eine neue Debatte? Einwenden könnte man, der genannte Verlust liege gar nicht vor, da die Philosophie das Böse von jeher selten thematisiere. Wahr ist, daß es zwar nicht ständig, aber doch hinreichend oft geschieht. Angefangen mit den Vorsokratikern über Piaton und Plotin, Augustinus und Thomas von Aquin bis zu den großen Philosophen der Neuzeit hat der Begriff, den die Freiheitsschrift verwendet er entspricht dem lateinischen malum bzw. dem griechischen xaxöv -, hat Schöllings Begriff des Bösen den Rang eines philosophischen -

Grundbegriffs.1

Nach einem zweiten Einwand geht das Thema nicht erst kürzlich verloren, denn unsere Epoche, die Moderne, leugne das Böse generell.2 Tatsächlich erörtert gerade die Moderne Marquard u. a., Artikel „malum", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel/Stuttgart 1980, 652-706. 2 A. Schuller/W. v. Rahden (Hg.), Die andere Kraß. Zur Renaissance des Bösen, Berlin 1993, VIII. 1 Zur Begriffsgeschichte C).

12

Otfried Höffe

ausgiebig. Zumindest von Kant, Schelling und Hegel, von Kierkegaard und Schopenhauer müßten die einschlägigen Erörterungen bekannt sein. Man braucht aber nicht einmal an sie zu erinnern, um die Behauptung, das Böse werde geleugnet, als leichtfertig auszuweisen. Auch vor Kant wird das Thema vielfältig diskutiert, sogar in Texten, die wie Leibniz' es

Théodicée (1710) und Rousseaus Zweiter Diskurs zum „Lesebuch des gebildeten Europa" werden.3 Weit davon entfernt, nur in entlegenen Traktaten erörtert zu werden, ist das Thema in allseits bekannten Texten präsent. Diskutiert wird es auch nicht etwa nur in der Ethik, sondern ebenfalls, und zwar als Inbegriff der Unvollkommenheit der Welt, in der Metaphysik4. Da deren Fragen aber heute gemieden werden ein Tatbestand, der weder gegen ihre Dringlichkeit noch gegen ihre Diskursfähigkeit spricht-, ist es nicht verwunderlich, daß diese Seite des Themas unbeachtet bleibt. Anders, sogar grundlegend anders sieht es jedoch mit der Moral aus. Die einschlägige Disziplin, die Ethik, erlebt heute nicht nur als angewandte Ethik eine beispiellose Konjunktur, sondern auch als Grundlagendebatte. Daß sie über das Böse trotzdem nicht mehr nachdenkt, ist denn doch erstaunlich. Gewiß gibt es wie zu allen Themen so auch zum Bösen einige versprengte Bemerkungen, im Blick auf Apels transzendentale Sprachpragmatik beispielsweise von Krings5. Außerdem finden wir Lexikonartikel, etwa von Oelmüller6 und von Vossenkuhl7, während das Historische Wörterbuch den Begriff „Böses" bezeichnenderweise? vergißt und die Sache in den Artikeln „malum" und „radikal Böses" nachtragen muß. Fer-

-

-

Überweg,

Geschichte der Philosophie der Neuzeit, Berlin "1914, 176. 3 F. 4 So etwa bei Leibniz, vorher bei Plotin in Enneade 1 8 (51) (vgl. D. O'Brien, Plotinus on Evil, in: P. M. Schuhl/P. Hadot [Hg.], Le Néoplatonisme, Paris 1971, 113-146, u. ders., Théodizéeplotinienne théodizée gnostique, Leiden 1992) und davor bei Platon Phaidros 256 b, Politeia II 379 b f., Theaitetos 176 a, Nomoi X 896 d ff. 5 H. Krings u. a. (Flg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, 367 ff. 6 W. Oelmüller, Artikel „Das Böse", in Krings, a. a. O., 255-268. 7 W. Vossenkuhl, Artikel „Das Böse", in O. Höffe (Hg.), Lexikon der Ethik, München 41992, 26-28. -

Kant über das Böse

lesen wir da und dort philosophiegeschichtliche Beiträge8 oder Untersuchungen wie die von Görres und Rahner''. Und die Studia Philosophica widmen dem Thema sogar einen eigenen Band.10 In jener Debatte, der kontinentale Philosophen gern ein verengtes Problembewußtsein anlasten, in der anglophonen Diskussion, verwenden ihre Wortführer den Ausdruck selbst in systematischen Werken." Die entsprechenden Bemerkungen bleiben aber ohne Resonanz.12 Übersehen wollen wir auch nicht das Werk von Ricoeur, ferner nicht die Bemerkungen von Jaspers und die Überlegungen von Walter ner

8 B. Welte, Über das Böse. Eine thomistische Untersuchung, Basel 1959; A. Pieper, Der Ursprung des Bösen Schellings Versuch einer Rekonstruktion des transzendentalen Anfangs von Geschichte, in: A. Cesana/O. Rubitschon (Hg.), Festscbriftfür H. A. Salmony. Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart, Basel/Boston/Stuttgart 1985;Ch. Schulte, Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988; A. M. Guillaume, Mal, mensonge et mauvaise foi. Une lecture de Kant, Namur 1995. 9 A. Görres/K. Rahner, Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum, Freiburg/Basel/Wien 1982. 10 Die Philosophie vor der Herausforderung des Bösen/La Philosophie face au défi du mal, in: Studia Philosophica, Bd. 52, Basel 1993. 11 Vgl. J. Rawls, A Theory ofJustice, Oxford 1972 (dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975), §66; R. M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Methods, and Point, Oxford 1981 (dt. Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methoden und sein Witz, Frankfurt a. M. 1992), Kap. 8.6. 12 In der fast uferlosen Diskussion, die sich an Rawls anschließt, spielt-wenn man auf die Sammelbande (vgl. z. B. N. Daniels, Reading Rawls. Critical Studies on Rawls' Theory ofJustice, Oxford 1975; O. Höffe (Flg.), John Rawls. Gerechtigkeit als Fairneß, Freiburg/München 1977; N. Rosenblum (Hg.), Liberalism and the Moral Liße, Cambridge (Mass.VLondon 1990; R. B. Douglass/G. M.Mara/H. S. Richardson (Hg.), Liberalism and the Good, New York 1990) und deren Bibliographien blickt das Böse keine Rolle, ebensowenig bei den Kritikern, die sich wie die Kommunitaristen als eigenständige „Bewegung" etablieren konnten. Selbst Autoren, die die Moderne im Namen der Antike kritisieren, beispielsweise Maclntyre (Afier Virtue, London 1981, -'1985 [dt. Der Verlust del- Tugend, Frankfurt a. M. 1987]), gehen auf das Thema nicht ein. Ein Grund könnte darin liegen, daß Maclntyre sich auf Aristoteles beruft, der im Unterschied zu Piaton den Begriff in der 'Fat nicht kennt; Maclntyre beruft sich aber auch auf Thomas, der das Böse ausführlich erörtert: Quaestiones disputatae II, de mala. 13 P. Ricoeur, La symbolique du mal, in Finitude et culpabilité, Bd. 2, Paris 1969 (dt. Symbolik des Bösen, Freiburg/München 1971,21988); K.Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, Berlin u. a. 41973,170 ff; W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 718 ff.; 40 f. und 344-347. -

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Otfried Höffe

Schulz.13 Trotzdem läßt sich nicht bestreiten, daß die „Insignien" einer größeren philosophischen Debatte fehlen: die Klärung und Differenzierung des Begriffs, das Aufstellen von Thesen und Gegenthesen, der Entwurf einer „Theorie" und die Skepsis dagegen, schließlich die Aufmerksamkeit von Einzelwissenschaften und der hier zuständigen Öffentlichkeit. Insoweit gilt denn doch: die Philosophie hat als Thema das Böse verloren. Nun könnte der Verlust einen historischen Grund haben. Nach Bohrer habe der Schock über den Holocaust im Nachkriegsdeutschland jeden Diskurs über das Böse tabuisiert.14 Die These hält aber dem einschlägigen Test, einer Bewahrung an der Wirklichkeit, nicht stand. Die entsprechenden Diskurse müßte man nämlich sowohl in den Jahren zuvor als auch in anderen Ländern finden und man dürfte sicher sein, daß Deutschland sie vielleicht nicht unmittelbar nach dem Krieg, aber doch inzwischen wiederaufgegriffen bzw. fortgeführt hätte. Ein derartiges Sichsperren gegen eine frühere oder gegen eine ausländische Debatte sehe ich aber nicht. Gegen Bohrers These spricht außerdem, daß sich der Schock insoweit gelegt hat, als über die Verbrechen, die unter Hitler, Stalin und anderen Diktatoren verübt wurden, längst eine vielschichtige Debatte geführt wird. Daß mit wenigen Ausnahmen, z. B. E. Neumann und später Hannah Arendts Eichmann-Bericht,15 der Begriff des Bösen trotzdem nicht verwendet wird, dieser merkwürdige Tatbestand läßt sich eher mit einem älteren Defizit erklären: Schon vorher, vor 1933, fehlen die entsprechenden Debatten, zumal die erforderlichen Grundlagendebatten. Daher trifft eher diese Diagnose zu: An einer Diskussion über das Böse mangelt es im 20. Jahrhundert generell. Für diesen Mangel könnte man einen philosophischen Grund vermuten. Vielleicht ist das Böse ein Thema weniger der Ethik als der Religion, und dann nicht einmal jederart Re-

14 K. H. Bohrer, Die permimente Theodizee, in: ders., Nach der Natur. Uber Politik und Ästhetik, MünchenAVlen 1988, 133-161. 15 E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, Zürich 1949, 7; H. Arendt, Eicbmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986.

Kan t über

das

Böse

ligion, sondern nur in ihrer theistischen Form. Folgerichtig gehöre der Begriff in eine Philosophie, die es im 20. Jahrhundert aber kaum noch gibt, in eine christliche oder jüdischchristliche Philosophie, und nicht in einen Diskurs, der sich auf interkulturelle Gültigkeit verpflichte, nicht zur Philosophie tout court. Für einen Teil der Debatte, für die Theodizee zum Beispiel, trifft das Argument zu, für das Böse als Gegenbegriff zum moralisch Guten jedoch nicht. Auch für die beiden anderen Arten des malum (s. u. Abschnitt II) erscheint das Argument kaum als triftig. Weder die Unvollkommenheit der Welt, das malum metaphysicum, noch Übel und Leiden, das malum phy-

Gegenstände, über die man nur unter Vorausseteines Theismus diskutieren kann. Sollte für den Verlust zung ein philosophischer Grund vorliegen, trotzdem des Themas so müßte er innerphilosophischer Natur sein. Berufen könnte man sich dann etwa auf einen Begriff des Guten, zu dem ein anderer Gegenbegriffgehört. Wer das Böse in der Ethik nicht

sicum, sind

bloß verdrängen, sondern philosophisch verabschieden will, braucht einen grundlegend neuen Begriff des Guten, einen Begriff, dessen Negation nicht mehr „das Böse" heißt. Den entsprechenden Versuch hat bekanntlich Nietzsche unternommen. Sein Jenseits von Gut und Böse" besteht ja nicht in moralischer Indifferenz, sondern in einer „Umwertung aller Werte", in jener alternativen Interpretation von Moral, die die erste Abhandlung der Genealogie der Moral schon im Titel nennt: an die Stelle von „Gut und Böse" tritt „Gut und Schlecht". Der Frage, ob die Alternative überzeugen kann, wäre andernorts nachzugehen. Hier können wir sie deshalb beiseite lassen, weil unser Thema kaum deshalb aus der philosophischen Debatte verschwunden ist, weil Nietzsches fulminante Attacke gegen die überlieferte Moral allseits erfolgreich wäre. Im Gegenteil gehört nicht Nietzsche zu den wichtigsten Bezugsautoren der heutigen Ethik, sondern einer der Philosophen, die unter sein Verdikt fallen und die Moral ausdrücklich in der Alternative von Gut und Böse erörtern; ich meine Kant. Deshalb wage ich diese Hypothese: Nicht aufgrund von Argumenten fehlt heute der Philosophie das Böse, sondern

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16

Otfried Höffe

aufgrund

Gedankenlosigkeit. Ohne daß sie sich von Nietzsches „Umwertung aller Werte" hätte überzeugen lassen und die überlieferten Ansichten als „Sklavenaufstand in der Moral" diskreditiert hätte (Genealogie, 1. Abh., Abschn. 10; vgl. Abschn. 7 und Jenseits von GutundBöse, Nr. 195), ohne den Mut, die Menschen aufzufordern, „besser und böser" zu werden (Also sprach Zarathustra, 3. Teil, „Der Genesende"), hat sie das Thema einfach „irgendwie verloren". II.

einer

„Das Böse" wiedergewinnen

Die Umgangssprache hat den Ausdruck beibehalten. Im Bewußtsein der schweren Anschuldigung, die man mit ihm erhebt, wird er zwar selten, gelegendich aber denn doch verwendet. Eine Handlung oder einen Menschen im emphatischen Sinn böse zu nennen ist durchaus üblich. Wenn nun zuwas Kant behauptet und einer der unser Jahrhundert bestimmenden Denker, Freud,16 bekräftigt, wenn das Böse zur Natur des Menschen gehört, dann zeigt der genannte Verlust, daß die Philosophie trotz ihrer vielen Fachvertreter ihre selbstübernommene Aufgabe nicht in vollem Sinn wahrnimmt. Sie liebt es zwar, das sokratische Denken zu beschwören, übersieht aber, daß es dort beginnt, wo man ein noch fehlendes Problembewußtsein weckt. Wer Nietzsches Denken hoch einschätzt und sich trotzdem nicht zur Alternativmoral von Gut und Schlecht bekehrt, muß sich ernsthaft überlegen, ob eine problemgerechte Theorie der Moral, ob eine philosophische Ethik ohne den Begriff des Bösen auskommt. Ich vermute, daß dies nicht der Fall ist; deshalb sollte die Philosophie das Böse als Thema wiedergewinnen. Unterschätzen darf man freilich nicht die Schwierigkeiten und Widerstände. Die Aufgabe dürfte sich aber erleichtern, wer die folgenden drei Bedingungen anerkennt: 1. Zu dem, was sich von selbst versteht, einem klaren

trifft,

Begriff, gehört die Abgrenzung gegen Nachbarphänomene.

16 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, London 1948,479-484.

Kant über

das

Böse

gibt Leibniz eine wichtige Unterscheidung vor.17 Das bei Leibniz als Sünde („péché") verstanden gehört zur Gattung des Übels (mal) und ist als mal moral-von zwei anderen Arten zu unterscheiden, vom physischen Übel (mal physique), das Leibniz übrigens ausschließlich als Leiden („souffrance") auffaßt, und vom metaphysischen Übel (mal métaphysique), der bloßen Unvollkommenheit der Welt („la simple imperfection"). 2. Auseinandersetzen muß sich die entsprechende Rehabilitierung mit dem Verdacht, ihrem Gegenstand fehle ein Korrelat in der Erfahrungswelt. Um diesen Verdacht zu entkräfHier Böse

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man das Korrelat vor; eine erneute Diskussion des Bösen muß erfahrungsgesättigt sein. 3. Probleme reichern sich im Laufe der Geschichte an und setzen sich bald aus verschiedenen Schichten zusammen. Wer ein verlorengegangenes Thema wiedergewinnen will, verfolgt besser die gegenläufige Strategie. Statt zu viele Probleme „auf einmal" zu behandeln, beginne er bescheiden mit dem Kern bzw. einem Kern des Problems. Imfolgenden handelt es sich erst um Vorüberlegungen. Sie beziehen sich auf einen der Autoren, auf die Schelling schon in seiner ersten einschlägigen Schrift zurückgreift, auf Kant. Ohnehin ist er die überragende philosophische Autorität der Zeit. Kants Abhandlung über das radikale, das heißt: bis zu den Wurzeln reichende Böse erscheint im Aprilheft der Berlinischen Monatsschrift von 1792 und geht später als „Erstes Stück" in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ein.18 Für seine Magister-Dissertation De malorum humano-

ten, führe

17 G. W. Leibniz, Essais de The'odice'e sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l'Homme l'Origine du Mal, Amsterdam 1710 (dt. in: Die philosophischen Schriften, hg. v. C.J.Gerhardt, VI, Berlin 1985), 121. 18 Kant wird zitiert nach der Akademie-Textausgabe (= Akad.-Ausg.), Berlin 1968. Die Abhandlung Von der Einwohnung des bösen Princips neben dein Guten: oder das radikale Böse in der Menschlichen Natur findet sich in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793; Akad.-Ausg. VI 17-5 3. Übrigens spricht Kant vom bösen Willen bemerkenswerterweise auch in seiner Rechtsphilosophie: Zum ewigen Frieden, 1. Präliminarartikel; vgl. 2. Definitivartikel (VTII 355) und Anhang I. (VIII 375). et

'7

18

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origine f die er im September desselben Jahres einreicht, konnte Schelling daher den Text verwenden und erwähnt in ihr tatsächlich Kant zweimal. Der in diesem Band kommentierte Text, die Freiheitsschrift, wird zwar erst eine halbe Generation später veröffentlicht, was für die damalige „Sturm und Drang"-Periode der Philosophie geradezu „eine Ewigkeit später" ist. Wie in der Dissertation geht Schelling aber auch jetzt auf Kant ein, und er tut es durchaus zustimmend (z. B. 383 f.). Außerdem greift er dessen Stichwort, „das radikale Böse" (388), auf und behandelt es als einen der Gegenstände, die mit dem Wesen der menschlichen Freiheit zusammenhängen.20 Nicht zuletzt folgt Schelling insoweit Kant, als er die Freiheit nach ihrem „realen und lebendigen Begriff als „ein Vermögen des Guten und des Bösen" bestimmt (352). Die Abhandlungen von Kant und Schelling sind also nicht etwa zu heterogen, um sich aufeinander beziehen zu lassen. Übersehen darf man zwar nicht, daß Schelling im Titel nur von der „menschlichen Freiheit" spricht, im Text selber auch, man möchte sogar sagen: mehr über die Freiheit Gottes redet. Diese Themenerweiterung ergibt sich aber dem Titel zufolge aus dem Gegenstand, der Kant und Schelling gemeinsam ist, aus dem Wesen der menschlichen Freiheit. Der Zusammenhang der menschlichen Freiheit mit der Freiheit Gottes stellt sich bei Schelling nicht einfach als eine Themenvorgabe dar, sondern als eine These. Und mit ihr könnte er gegen einschlägige Thesen Kants Einspruch erheben wollen oder auch Kant gegen Schelling. Um ein mögliches Mißverständnis abzuwehren: Schelling soll nicht etwa das Recht abgesprochen werden, über Kant hinauszugehen und innovativ zu werden; durch die Erinnerum

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19 Der vollständige Titel lautet: Antiquissimi de prima malorum humanorum origine pbilosophematis Genes. III explicandi tentamen criticum et pbilosophiatm, Tübingen 1792, in: AA i 59-101, dt. Ein kritischer und philosophischer Auslegungsversuch des ältesten Philosophems von Genesis III über den ersten Ursprung der menschlichen Bosheit, übers, v. R. Mokrosch, AA i 101-148. 20 Der vollständige Titel lautet: Philosophische Untersuchungen Uber das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände.

Kant über

das

Böse

rang an Kant läßt sich aber das Innovative genauer sichtbar machen. Im übrigen dienen die folgenden Überlegungen als Einleitung. Für ein wesentliches Teilthema der Freiheitsschrift, das Böse, wollen sie einerseits Schellings Erörterungen durch den Kontrast mit Kant zu einem schärferen Profil,

freilich auch zu kritischen Rück- oder Anfragen verhelfen; andererseits wollen sie einer systematischen Wiedererwägung des Teilthemas vorarbeiten.

III. Der moralische Begriff des Bösen 1. Manche Theoretiker des Bösen sind der Ansicht, ihr Gegenstand lasse sich nicht hinreichend genau bestimmen. Nach Walter Schulz21 kann man das Böse nicht eindeutig de-

finieren, weder wissenschaftstheoretisch noch moralphiloso-

phisch oder metaphysisch; nach Schmidt-Biggemann22 hat es kein Wesen. Beide Hinweise klingen plausibel und benennen

eine Verlegenheit. Um etwas als etwas zu identifizieren, braucht es einen Begriff, zumindest ein Vorverständnis, das mehr als nur vage ist. Bei Kant finde ich einen erfolgversprechenden Versuch, den Gegenstand sogar in seinem Wesen zu bestimmen. Beiseite bleibt von vornherein jene abgeflachte Bedeutung, die in der Redewendung gegenwärtig ist „Sei mir nicht böse!". Eine andere Verwendung: „Mir wurde böse mitgespielt" kommt unserem Thema schon näher, meint es doch ebenso wie „das Böse" ein malum, allerdings nicht das malum morale, sondern das malum physicum. Wem böse mitgespielt wird, der ist nicht notwendigerweise das Opfer von Bosheit,

doch

nur

wohl aber von Übel oder Leid. Vom Übel spricht man auch im Plural, vom Bösen nur im Singular. Daß Schelling schon im Titel der Frühschrift De malorum humanorum origine den Plural verwendet, zeigt deut21 Schulz, a.a.O., 719. 22 W. Schmidt-Biggemann, Vorwon. Über die unpäßliche Evidenz des Bösen, in: C. ColpeAV. Schmidt-Biggemann (I Ig.), Dus Böse. Eine historische Phänomeno-

logie des Unerklärlichen, Frankfurt a. M. 1993, 7.

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Otfried Höffe

lieh, daß er außer dem Bösen auch das Übel erörtern will. Von der Bibel-Stelle, deren Interpretation er sich vornimmt, ist

das Doppelthema vorgegeben. Kapitel 3 der Genesis handelt sowohl von der Auflehnung der Menschen gegen Gott, dem sogenannten Sündenfall bzw. dem radikalen Bösen, als auch von den Leiden, die Gott als Strafe für die Auflehnung verhängt. Zu überlegen ist aber, ob diese beiden Themen und zusätzlich das dritte, das Schelling ebenfalls untersucht, das malum metaphysicum, ob also die drei seit Leibniz bekannten Arten nicht so verschieden sind, daß sie, zumal unter Schellings Leitperspektive, dem Wesen der menschlichen Freiheit, eine getrennte Behandlung verdienen. Läßt sich der Diskurs über das moralisch Böse nicht von einer Ätiologie sowohl des Leidens wie der Unvollkommenheit der Welt abkoppeln? Hier drängt sich jedenfalls die erste Anfrage an Schelling auf: Hängen die verschiedenen Arten von Übel tatsächlich derart eng zusammen, daß man sie sinnvollerweise nur gemeinsam erörtert? Leibniz vertritt diese These, da er vom moralischen Übel sagt, es sei nur deshalb ein so großes Übel, weil es sich in einem Geschöpf befindet, das physische Übel mit größter

Macht und Fähigkeit hervorzubringen versteht.23 Eine solche These müßte aber Schelling, wenn er sie denn vertritt, sorg-

fältig begründen.

Nach Leibniz ist das physische Übel die Folge des moralischen Übels. Wenn diese Ansicht zutrifft und das Leiden die Strafe für das mit dem Menschen in die Welt gekommene Böse ist, drängt sich eine zweite Frage auf. Im abendländischen Denken, und zwar sowohl in der Philosopie wie der Theologie, wird sie überraschend selten diskutiert: Wieso müssen auch jene Wesen leiden, die, weil zur Freiheit nicht fähig, gar nicht böse sein können? Wieso werden Unschuldige ich meine die Tiere mitbestraft? Zwar fügen Tiere durchaus anderen Tieren Leid zu man denke nur an Katzen, die mit der Todesangst von Mäusen „spielen" -, so daß sie nicht vollkommen unschuldig sind. Da wir aber nicht annehmen, daß Tiere wissentlich-willentlich handeln, kann man -

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23

Leibniz, a. a. O., I 26.

Kant über

das

Böse

ihnen das Leid verursachende Tun nicht zurechnen. (Nur in Klammern: Weil sich weder die Genesis noch andere Schriften des Alten oder Neuen Testaments und auch Philosophen kaum für diese Frage interessieren, sind sie in gleichsam unschuldiger Weise zutiefst anthropozentrisch.24) Kant nimmt die bei Sendling fehlende oder müßte man sagen: die von ihm wieder zurückgenommene? Abkoppelung verschiedener Arten des Bösen vor. Seit der zweiten Kritik legt er Wert auf die schon semantisch klare Unterscheidung eines Übels, das sich auf einen Zustand der Unannehmlichkeit bezieht, vom Bösen, das jederzeit eine Beziehung auf den Willen bedeutet.25 Und gemäß dieser Unterscheidung handelt es sich um zwei von Grund auf verschiedene Phänomene. Von ihnen erörtert er eine einzige und ausgezeichnete Bedeutung; er spricht lediglich über das moralisch Böse. Indem Schelling weder in der Magisterdissertation noch in der Freiheitsschrift die Ausdifferenzierung anerkennt, lädt er sich von Kant her gesehen eine große Beweislast auf. Allerdings könnte man auch Kant von Schelling her vorhalten, er versuche unzulässigerweise die Herkunft des moralisch Bösen von der Herkunft des physischen und des metaphysischen Übels abzukoppeln. Denn ein bloß ethischer Diskurs über das Böse könnte in Schwierigkeiten geraten, die sich nur dadurch überwinden lassen, daß man den Themenkreis um die anderen Arten des Übels erweitert. Vielleicht geht es Schelling aber gar nicht um einen allgemeinen Diskurs über das moralisch Böse, sondern von vornherein um einen der jüdisch-christlichen Offenbarung verpflichteten Diskurs. Die Tatsache, daß er verschiedene Arten vonÜbel zusammen behandelt, läßt also mindestens zwei Interpretationen zu. Nach der ersten Lesart spricht sich in der Verklammerung eine These, nach der zweiten eine Themenvorgabe aus, was zur dritten Anfrage führt: Will die Freiheitsschrift Schwierigkeiten, in die ein bloß ethischer Diskurs über das Böse unvermeidlicherweise? gerät, dadurch überwin-

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24 Vgl. ü. Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Technik und Umwelt, Frankfurt a. M. 1993, Kap. 12. 25 Akad.-Ausg. V 59 f.

Wissenschaft.

2 1

22

Otfried Höffe

den, daß sie den nur ethischen um einen auch metaphysischen Diskurs über das Böse erweitert, oder sucht sie eine

so etwas

jüdisch-christliche Fundamentaltheologie?

Im

wie

ersten

Fall erfüllt Schelling den im Titel genannten Anspruch, „das Wesen der menschlichen Freiheit" schlechthin und nicht bloß unter Voraussetzung der jüdisch-chrisdichen Offenbarung aufzuhellen. Im anderen Fall will er „lediglich" Grundaussagen des Glaubens intelligibel machen. Dabei entwickelt er ohne Zweifel innovative, für die christliche Orthodoxie vielleicht sogar häresieverdächtige Gedanken. Er sucht aber keine Philosophie tout court, vielmehr intendiert er hier ähnlich wie Leibniz eine in der Reichweite eingeengte, -

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jüdisch-christliche Philosophie. -

nur

Thema, auf das sich Kant konzentriert, dem moralisch Bösen, ist ein erstes Element unstrittig; gemeint ist eine Negation des moralisch Guten. Strittig ist erst die Art der Negation. Die harmloseste Art, das Gute, das man läßt, ist für Kant noch keine ernste Option, und Schelling wird ihm folgen. Nicht in einer privatio boni, in einem Mangel oder einer Beraubung des Guten, besteht das Böse, sondern im strengen Widerspruch zum Guten, kurz: im Widerguten. Nach einem Theorem Kants, das als gültige Einsicht gelten darf, existiert das moralisch Gute in zwei Stufen. Auf die einfache Stufe, eigentlich nur Vorstufe, die Ubereinstimmung mit dem Sittengesetz, die Legalität, folgt als deren Steigerung das Handeln um des Sittengesetzes willen, die Moralität. Während es dort genügt, das moralisch Richtige zu tun, kommt es hier zusätzlich, nicht etwa statt dessen darauf an, das Richtige nicht erst aufgrund externer Vorteile, sondern schon um seiner selbst willen zu tun. Für das Widergute ist eine analoge Stufung zu erwarten, und Kant führt sie, freilich nur en passant, tatsächlich ein. Die einfache Stufe des Bösen, die bloße Gesetzwidrigkeit oder Kontra-Legalität, unterscheidet er von der Steigerung zu einer Gesetzwidrigkeit um der Gesetzwidrigkeit willen, der Kontra-Moralität. Er nennt nämlich gewisse Handlungen „böse" und setzt ein erläuterndes „gesetzwidrig" hinzu.26 Das 2. Beim

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26

Akad.-Ausg. VI 20.

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Kant über das Böse Böse im vollen Sinn, jenes, das einen Menschen qualifiziert, sieht er aber erst beim konträren Gegensatz zum moralisch Guten gegeben, dort, wo die Gesetzwidrigkeit zur Triebfeder geworden ist. Das im vollen Sinn moralische Handeln erfolgt aus einer guten, das im vollen Sinn unmoralische Handeln aus einer moralisch bösen Maxime heraus; dort reicht als Motivationsgrund die Achtung des moralischen Gesetzes, hier seine Mißachtung aus.27 Seit der Grundlegung interessiert sich Kant letztlich nicht für die Vorstufe, sondern bloß für die Hauptstufe der Moral. Die heutige Rehabilitierung der Kantischen Ethik pflegt diesen Punkt zwar zu übersehen, wenn sie einerseits vornehmlich auf den kategorischen Imperativ achtet und ihn andererseits als Kriterium nur des moralisch Richtigen verwendet. In Wahrheit prüft der kategorische Imperativ Maximen, also subjektive Bestimmungsgründe, und er prüft sie angesichts einer auf die Alternative „Pflicht kontra Neigung" zugespitzten Situation.28 Es geht also um einen Test des moralisch Guten und zugleich um den Baustein einer Theorie moralischer Subjektivität. Bezüglich des radikalen Bösen finden wir dasselbe Interesse in der Abhandlung über das radikale Böse. Über böse Handlungen spricht Kant nur im Vorübergehen und nur zum Zweck, das eigentliche Thema näher zu bestimmen, das Böse im vollen Sinn des Wortes, das Böse als Beschaffenheit einer Maxime bzw. des entsprechenden Subjekts. Insofern leistet das Titelwort der Schrift, „Religion", dem Mißverständnis Vorschub, Kant lege einen bloß für die Religionsphilosophie einschlägigen Traktat vor. Tatsächlich setzt er wenn auch auf dem Weg der Negation die in der Grundlegung begonnene und in der zweiten Kritik weiter ausgeführte Theorie moralischer Subjektivität fort. Wer Kants Moralphilosophie einer sachlichen Überprüfung unterziehen will, darf daher weder die Hinweise zum Bösen aus der Grundlegung1'' und der -

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27 Vgl. Akad.-Ausg. VI 27. 28 Vgl. O. Höffe, Kants nichtempirische Verallgemeinerung: zum Rechtsheispiel des falschen Versprechens, in: ders. (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 1989, 206-233. 29 Z.B. Akad.-Ausg. IV 404.

2

3

24

Otfried Höffe zweiten Kritik30 überlesen, noch darf er die Abhandlung über das radikale Böse schlicht beiseitelegen. In dem Umstand, daß sich die heutige Moralphilosophie schon für die positive Seite moralischer Subjektivität wenig interessiert, sehe ich einen der Gründe für ihren Mangel an Beiträgen zu einer Theorie des Bösen. Wo sie sich mit der positiven Seite dennoch befaßt (was bei Apel und Habermas nicht der Fall ist)31, dort öffnet man sich aber auch für die negative Seite. Ich denke an Hares Moral Thinking (Abschn. 8.6), vor allem an Rawls' A Theory ofJustice; deren einschlägige Ausführungen finden sich allerdings erst in einem Teil, zu dem die Lektüre in der Regel nicht mehr führt, im Teil 3, § 66 („The Definition of Good Applied to Persons"). Wenn Rawls hier vom bösen Menschen spricht, ist er sich der Schwere der darin enthaltenen Verurteilung bewußt. Auf der Seite moralischer Negativität unterscheidet er zwischen ungerechten, schlechten und bösen Menschen und sieht bei letzteren eine Steigerung der Negativität gegeben, die auf den vorhergehenden Stufen fehlt. Weil Kant eine ähnliche Steigerung vornimmt, dürfte Rawls auch in dieser Hinsicht und nicht etwa bloß in der „Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß" (§ 40) von Kant inspiriert sein. Wie Rawls beginnt auch Kant mit niedrigeren Stufen moralischer Depravation. Vergleichsweise harmlos ist ein nur gesetzwidriges Handeln, schlimmer ist, wenn man die Gesetzwidrigkeit mit Bewußtsein begeht; die schlimmste Form wird aber dort erreicht, wo die bewußt begangene Gesetzwidrigkeit den letzten Bestimmungsgrund abgibt. Freiheit stellt schon derjenige unter Beweis, der gemäß der zweiten 30 „Analytik", 2. Hauptstück. 31 Obwohl Krings (Die Grenzen der Transzendentalpragmatik, in: H. M. Baumgartner [Hg.], Prinzip Freiheit-Eine Auseinandersetzungum Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens, Freiburg/München 1979, 370) eine „ernste Schwäche der Sprachpragmatik" Apels darin sieht, daß sie „gegenüber dem Bösen resignieren muß", spricht er selbst weder in der Abhandlung Freiheit. Ein Versuch, Gott zu denken (in: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, FVeiburg/München 1980, 161-184) vom Bösen noch in seinem Handbuchartikel „Freiheit" (in: Krings, Handbuch, a. a. O., 493-510; wiederabgedruckt in: System und Freiheit, 99-130). Anders sieht es erst in späteren Texten aus, vgl. System und Freiheit, 32-38 und 87, 89, 98.

Kant über

das

Böse

Stufe die Gesetzwidrigkeit mit Bewußtsein begeht; das höhere Maß liegt aber erst auf der dritten Stufe vor. Weil sich dieses Maß nicht mehr steigern läßt, hat es den Rang eines Superlativs und erinnert an den Eingangssatz der Grundlegung. Was dort auf der positiven, liegt hier auf der negativen Seite vor: etwas, das sich nicht mehr überbieten läßt. Daher könnte es zur Grundlegung analog heißen: Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für böse könnte gehalten werden, als allein ein böser Wüle. Weil sich das volle Maß der Freiheit in der Anerkennung des Sittengesetzes zeigt, ist die Freiheit lediglich dann denkbar, wenn es eine alternative Option gibt, also die Möglichkeit, die Anerkennung auch zu verweigern. Wenn dieser Zusammenhang, den ich hier nur als Vermutung äußere, zutrifft, dann gehört das Böse freilich nicht als Wirklichkeit, sondern bloß als Möglichkeit zum Kern der Freiheit, und jede Theorie der Freiheit, die nicht das Böse thematisiert, muß als unzureichende Freiheitstheorie gelten.'2 Auch ein weiteres Kantisches Element erscheint als plausibel, daß nämlich die Nichtanerkennung des Sittengesetzes in verschiedenen Stufen erfolgen kann. Auf einer ersten Stufe Kant spricht von Gebrechlichkeit wird das Sittengesetz nicht vollumfänglich anerkannt; auf einer zweiten Stufe, der Unlauterkeit, erfolgt die Anerkennung unter Vorbehalt; erst auf einer dritten Stufe, der Bösartigkeit, wird die Anerkennung direkt verweigert. Im Handbuch phdosophischer Grundbegriffe definiert Oelmüller (1973) das Böse als die „unbewältigte Unmenschlichkeit". Diese Definition ist m. E. zu weit. So wie rein semantisch gesehen das moralisch Gute etwas bedeutet, das die schlechthin höchste Anerkennung verdient, bedeutet das moralisch Böse etwas, das die schlechthin höchste Ablehnung -

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32 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft (Akad.-Ausg. V 61 f.): „im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn [sc. den Menschen] das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinkt verrichtet". Vielmehr hat der Mensch die Vernunft „überdem zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, ...

zu

unterscheiden".

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2

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Otfried Höffe

verlangt. Ein zu weiter Begriff enthält zwar à contre coeur, aber eben doch eine Verharmlosung des im strengen Sinn Bösen. Nicht in jeder Unmenschlichkeit tritt das moralische Böse zutage, sondern nur bei einem Teil, beim schlechthin Verwerflichen, beim Höchstmaß

extrem an

und

Deprava-

tion.

TV. Gibt es das moralisch Böse?

Begriff für das Böse, die zum subjektiven Grundsatz, zur Maxime gewordene Gesetzwidrigkeit, ist im großen und ganzen „Feindebatten" bleiben beiseite „wohlkonstruiert". Fragen muß man sich aber, ob diesem Begriff auch eine Wirklichkeit entspricht: Kommt das so Defi-

Kants

mithin

-

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nierte in der Welt, in der wir leben, tatsächlich vor? Kant sieht in diesem Zusammenhang eine Schwierigkeit, die wir schon von

der positiven

Seite, der genuinen Moral, her kennen. Seit

der Grundlegung wird er nicht müde zu betonen, daß es für Moralität kein sicheres Beispiel gebe.33 Dieser Hinweis besagt nicht etwa, Kant interessiere sich nicht für die empirische Wirklichkeit des Guten. Richtig ist, daß diese Wirklichkeit schwierig festzustellen ist und daß Kant um diese Schwierigkeit weiß. Der Grund liegt in einem Moment, das die positive und die negative Seite der Moral miteinander teilen, in der notwendigen Bezugnahme auf Maximen. Ob Gesetzmäßigkeit oder Gesetzwidrigkeit daß man sie als solche will, kann man bei einer konkreten Handlung nicht beobachten, weder bei anderen noch bei sich selbst. Den letzten Bestimmungsgrund, eben eine Maxime, kann man sich allenfalls er-

schließen.34 Obwohl bei Phänomenen, die man sich nur erschließen kann, Vorsicht geboten ist, fühlt sich Kant selber erstaunlich sicher. Für das Böse beruft er sich auf eine „Menge schreiender Beispiele"35 und teilt diese zwei Gruppen zu. Die Bei-

33 Z. B. Akad.-Ausg. IV 408; vgl. Kritik der praktischen Vernunft, V 47; Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. VI 221 u. 226. 34 Akad.-Ausg. VI 20. 35 Akad.-Ausg. VI 32 f.

Akad.-Ausg.

Kant über

das

Böse

spiele der einen Gruppe betreffen zivilisierte Gesellschaften, binden also nicht

etwa

den Grund, wohl aber die Anwen-

dungsbedingung des Bösen an veränderbare Verhältnisse. Der Text spricht von „Lastern der Kultur und Zivilisierung" und führt, durchaus plausibel, „geheime Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft" an.56 Die Beispiele der anderen Gruppe richten sich gegen „eine gutmütige Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis zu Rousseau", derzufolge der Mensch von Natur aus gut sei.17 Als Gegenbeweis führt Kant „die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordszenen" einiger Naturvölker an.38 Die Erfahrung, auf die sich Kant hier beruft, brauchen weder Sendling noch wir zu teilen. Der zugrundeliegenden Frage kann man sich aber nicht entziehen, der vierten Rückfrage: Welche Phänomene, welche Phänomenbasis hat Schelling vor Augen, wenn er vom Bösen redet? Auch Leibniz stellt sich diese Frage und bezeichnet jenen Menschen als böse, „der Vergnügen daran findet, Leid und Zerstörung hervorzubringen"; als Beispiel nennt er Caligula und Nero, die mehr Unheil als selbst ein Erdbeben angerichtet hätten.3'' Die

Frage, ob die Völker, auf die sich Kant beruft, tatsäch-

lich eine

derartige Grausamkeit üben, kann man nicht ohne ethnologische Kenntnisse beantworten; Kants Gewährsmann ist ein „Kapt. Hearne"40. Hier kommt es auf die andere Frage an, ob die Belege belegen, was sie belegen sollen: Kann 36 Akad.-Ausg. VI 33. Bei der jüdisch-chrisdichen Offenbarung, auf die sich die Ereiheitsschrift bezieht, könnte man an Judas' Verrat denken. Das andere Paradigma, das diese Tradition für das Böse anführt, ist die Auflehnung gegen Gott, eine Auflehnung, die sowohl von Seiten der Engel, nämlich Luzifers, als auch des Menschen erfolgt sein soll. 37 Akad.-Ausg. VI 20. 38 Akad.-Ausg. VI 33. Nach der schon erwähnten Schrift Zum ewigen Frieden läßt sich andernorts, im „freien Verhältnis der Völker", die „Bösartigkeit der menschlichen Natur" sogar „unverhohlen" blicken. Kant meint damit und hier tritt eine dritte Gruppe von Beispielen zutage die Bereitschaft der Staaten, Konflikte mit anderen Staaten nicht durch das Recht (sprich: durch den Prozeß vor einem internationalen Gerichtshof), sondern durch Gewalt, gegebenenfalls durch Krieg zu entscheiden. 39 Leibniz, a. a. O., I 26. 40 Akad.-Ausg. VI 33. -

-

-

-

2

7

28

Otfried Höffe

ohne Schwierigkeit auf eine böse Maxime schließen? Um die Frage zu beantworten, muß man sich das Beispiel sehr genau ansehen. Kant beruft sich nicht etwa auf jene zwar eklatante und bewußte, aber „einfache Pflichtwidrigkeit", auf eine wissentlich-willentliche Tötung, ohne daß Notwehr gegeben wäre. Bei ihr, der vorsätzlichen Tötung, liegt deshalb erst eine „einfache Pflichtwidrigkeit" vor, weil die Triebfeder offen bleibt. Auf die Spur kommt man ihr durch die zwei Elemente, die Kant hinzusetzt: Es handelt sich um Mord, also eine Tötung aus verwerflicher Gesinnung, außerdem um eine Grausamkeit. Weil beide Elemente für die Tötung unnötig sind, belegen sie, daß der Täter mehr als nur das Leben des anderen auslöschen will. Und weil das Mehr, so das dritte Zusatzelement, „ungereizt" erfolgt, kann man sich nicht auf eine Affekthandlung herausreden. Erst diese abermalige Steigerung zu einer wissentlich-willendichen Grausamkeit, zu einem „freien Sadismus", läßt auf eine böse Triebfeder schließen. Nur in Parenthese eine Bemerkung zu sozialwissenschaftlichen Versuchen, das Böse zu definieren: „Ungereizte Grausamkeit" bedeutet weit mehr als ein Aggressionstrieb, mit dem sich Freud41, später Fromm42 und Konrad Lorenz43 befassen. Auch in Placks Deutung als „Beziehungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Feindseligkeit oder Grausamkeit"44, selbst in Walter Schulz' Interpretation als „Vernichtungswille und Destruktionstrieb"45 tritt das Freiheitsmoment im moralischen Bösen nicht klar genug hervor. Daß es Menschen gibt, die in Verbindung mit Grausamkeit morden, wird kaum jemand bestreiten, auch kaum, daß die man

Steigerung existiert, die ungereizte Grausamkeit; man denke

41 Freud, a. a. O., 419-506. 42 E. Fromm, Man for Himself. An Inquiry into the Psychology of Ethics, New York 1947 (dt. Psychoanalyse undEthik, Zürich 1954), Kap. 4, IV. Vgl. ders., The Anatomy of Human Destruetiveness, New York 197 3 (dt. Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974). 43 K. Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963. 44 A. Plack, Die Gesellschaft und das Böse: Eine Kritik der herrschenden Moral, Frankfurt a. M./BerlinAVien 1979. 45 W. Schulz, Grundprobleme der Ethik, Pfullingen 1989, 344-347.

Kant über das Böse

entsprechende Folterungen. Insofern erfüllt Kant unBedingung für eine Rehabilitierung des Themas, Erfolg verspricht: seine „Theorie" des Bösen ist erfah-

nur an sere

die

zweite

Wer im Einzelfall einer Person ungereizte Grausamkeit zuspricht, lädt sich zwar eine hohe Beweislast auf; zu behaupten, die Beweislast sei nie und nimmer zu er-

rungsgesättigt.

bringen, wäre zu optimistisch. Genau diese Behauptung stellen diejenigen Moralphilosophen und auch Sozialwissenschaftler auf, die den Begriff des Bösen bewußt oder stillschweigend grundsätzlich aufgeben. -

-

V. Von Natur aus böse? Kant gibt sich nicht damit zufrieden, einen Begriff des Bösen zu bilden und ihn in der Erfahrung zu verankern. Er nimmt auch Augustins Frage „unde malum?"46 auf und gibt darauf die bekannte Antwort: Das Böse gehört zum Menschen von Natur, insofern ist niemand davon ausgenommen; gegeben ist es aber nicht als Anlage diese besteht zum Guten -, sondern lediglich als Hang. Nach dieser These hat das Böse im Menschen nicht den gleichen Rang wie das Gute, gehört aber, obzwar nachgeordnet, zum Menschen als solchem; es hat obwohl dies in den entsprechenden Debatten fehlt einen anthropologischen Rang. Jeder Mensch, sagt Kant, hat den Hang, von der Maxime der Sittlichkeit, obzwar er sich ihrer bewußt ist, abzuweichen. Und Kants Argument ist plausibel: Jeder Mensch habe die Bereitschaft, in „Notfällen" das moralische Gesetz dem Selbstinteresse zu opfern. (Man beachte: nicht im bloßen Selbstinteresse liegt das Böse, sondern in jenem gesteigerten Selbstinteresse, das sich mit Wissen und -

-

-

Willen gegen das Sittengesetz wendet.) Kants Antwort, so vermute ich, hat gute Chancen, die „im Prinzip" allein vertretbare zu sein. „Im Prinzip" soll heißen, daß es erst um das Argumentationsmuster und noch nicht um Feindebatten geht. Ühlicherweise diskutiert man zwei andere Optionen, die Alternative, daß der Mensch von Natur entwe46

Augustinus, Confessiones VII 7,

11.

29

3o

Otfrif.d Höffe

der gut oder aber böse ist. Beide Optionen sind jedoch mit dem „Wesen des moralischen Bösen" schwerlich vereinbar. Träfe die erste Option zu und wäre der Mensch von Natur aus gut, dann wäre das Böse wie dies etwa Plack47 vertritt lediglich den Gesellschaftsverhältnissen anzulasten. Zugleich würde der einzelne Mensch von seiner Verantwortung entlastet und das Böse im vollen, moralischen Sinn, das Böse als freie Mißachtung des Sittengesetzes, aufgehoben. Träfe dagegen die zweite Option zu, so wäre das Böse, weil schon mit der Natur gegeben, einmal mehr der Entscheidung des Menschen entzogen, was erneut der Freiheit zum Bösen zuwiderliefe. Da beide Optionen den moralischen Begriff aufheben, drängt sich, um die Wirklichkeit des Bösen verständlich zu machen, eine dritte, in gewisser Weise mittlere, eben die Kantische Option auf. Das Böse ist „mehr als von Natur nicht vorhanden", es ist mit dem Menschsein als solchem schon gegeben; lediglich gut ist der Mensch von Natur aus nicht. Andererseits existiert es als „weniger denn als Anlage". Und genau dieses, ein „Weniger als Anlage" und ein „Mehr als nicht vorhanden", besagt Kants Begriff eines Hanges zum Bösen.48 Denn unter einem Hang versteht er „eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses"49. -

-

VI. Warum das Thema wiedergewinnen? Der Skepsis gegen unser Thema bleibt der Einwand, zumindest die Frage: Welchen Unterschied macht es, ob man den Begriff des Bösen anerkennt oder leugnet? Erfolgen kann die 47 Plack, a. a. O., 15ff.,270ff. 48 Skeptisch bin ich daher gegen die These, die Holzhey (Das Böse. Vom ethischen zum metaphysischen Diskurs, in: Studia Philosophica, Bd. 52, 7-27; 24) in seiner insgesamt sehr lesenswerten Abhandlung vertritt: daß die Kantische Ethik durch den „Zugriff auf das Böse ihre eigenen Voraussetzungen untergräbt". Zwei andere Aussagen überzeugen mich aber: einmal daß man Kants Ethik ohne das Theorem des radikalen Bösen nicht angemessen versteht; zum anderen, daß derjenige, der Schelling folgen und über das Böse wieder einen metaphysischen Diskurs führen will, vorab die Grenzen eines bloß ethischen Diskurses klären sollte. 49 Akad.-Ausg. VI 2 f.

Kant über

das

Böse

Leugnung in

zweierlei Form. Entweder bestreitet man die Existenz des Bösen, oder man räumt die Existenz ein, sieht sie aber nicht mit der Natur des Menschen verbunden. Falls die Hinweise zum Erfahrungsbezug überzeugen, liegt im ersten Fall eine partielle Blindheit vor bzw. ein zu optimistischer Blick auf die Welt. Wer „ungereizter Grausamkeit" zum Opfer fällt, dem erscheint diese Blindheit überdies noch als Zynismus. Die zweite Form sie tangiert das Selbstverständnis des Menschen ist nicht so wirklichkeitsfremd. Falls der Mensch von Natur aus tatsächlich gut ist, tragen für eine „ungereizte Grausamkeit" nicht die Betreffenden selbst die -

-

Verantwortung, sondern andere: die Eltern und die Lehrer,

das Milieu oder die Gesellschaft; selbst der extrem Unmoralische ist entlastet. Als überzeugender erscheint aber folgende Doppelstrategie: Bei der konkreten Frage, ob eine bestimmte Person oder Handlung böse sei, lege man sich eine strenge Zurückhaltung auf. Im Gegensatz zur Tendenz, grundsätzlich alles verwerfliche Tun unter einen Begriff zu subsumieren, der sowohl harmlos klingt als auch Unterschiede einebnet, unter das Wort

„Fehlverhalten" nämlich, erkennt man aber qualitative

Unterschiede an. Insbesondere beachtet man zwei Steigerungen: einerseits, von der Tat her, die Steigerung von einfachem über gravierendes zu extrem starkem Fehlverhalten, andererseits, von der Motivation her, die Steigerung von fahrlässigem über vorsätzliches Fehlverhalten bis zu einem Fehlverhalten, das man als solches will. Ein weiterer Unterschied: Wo man den Begriff des Bösen aufgibt, dort droht die Gefahr einer Selbstüberschätzung, eines Hochmuts der Gattung. Anhängen könnte die Menschheit der (schwärmerischen) Utopie, die da glaubt, das Böse lasse sich einmal für immer ausrotten. Vielleicht klingt die Utopie in Oelmüllers Begriff der unbewältigten Unmenschlichkeit an; denn der Begriff deutet an, daß sich alle Unmenschlichkeit und folglich das Böse einmal ganz bewältigen lasse. Gegen diese Erwartung kann man aber mit einer offenen Frage antworten; sie bekräftigt zugleich den Erfahrungsbezug einer Theorie des Bösen: Warum soll der Mensch nicht fähig sein, das moralisch Gebotene zu erkennen und ihm

3]

32

Otfried Höffe

trotzdem, zudem mit Absicht, zuwiderzuhandeln? Er kann das Interesse daran verlieren, die und das hoffen wir

-

grundsätzliche Fähigkeit aber kaum. Eine Menschheit dagegen, die sich ihres natürlichen Han-

Bösen bewußt ist, rechnet damit, daß der Hang Ausbruch kommen kann, und versucht, dagegen Vorkehrungen zu treffen. Und aus diesem Grand dürfte sich eine Erweiterung des Diskurses aufdrängen; ein bloß ethischer Diskurs öffnet sich sowohl einem pädagogischen als auch einem rechtlich-politischen Diskurs über das Böse. Weiterhin erfährt die Verantwortungsdebatte eine neuartige Radikalisierung. Heute ergänzt man die „übliche" Verantwortung gegen die Mitmenschen um eine Verantwortung sowohl gegen künftige Generationen als auch gegen nichtmenschliche Wesen. Wer über das Böse nachdenkt, nimmt eine andere Radikalisierung vor; er erweitert nicht den in Frage stehenden Personenkreis, vielmehr wirft er einen Blick auf die Wurzeln der menschlichen Persönlichkeit bzw. des Selbst. Theorien des Subjekts als solchen werden heute gern als monologisch oder solipsistisch verdächtigt. Eine Theorie des Bösen korrigiert diese Tendenz genauso, wie dies schon eine Theorie des moralischen Guten tut. Die von Kant geforderte Revolution der Denkungsart bzw. Gesinnung ist nämlich vom einzelnen Subjekt zu leisten. Daß in anderer Hinsicht ges

zum

einmal

zum

Subjektivität

und

Intersubjektivität

miteinander

verknüpft

sind, bleibt unbenommen. Vielleicht ist es ohnehin besser, um einschlägige Mißverständnisse zu vermeiden, statt von Sub-

jekt und Subjektivität, von Person und von Personalität zu sprechen. Hier schließt sich jedenfalls eine fünfte Anfrage an: Was trägt Sendlings „Theorie" des Bösen zu einer Theorie moralischer Subjektivität bzw. Personalität bei? VTI. Eine weise

Selbstbescheidung?

Ob Begriffsbestimmung, Erfahrangsbezug oder Zusammenhang mit der Natur des Menschen Kant behandelt im wesentlichen nur einen Aspekt und erfüllt damit für eine erfolg-

Kam

l bi-r das

Bosi

reiche Wiedergewinnung des Themas die dritte Vorbedingung. Vieles von dem, was man beim Bösen mitdiskutiert, bleibt beiseite. Kant geht es lediglich um den moralischen Begriff des Bösen und dabei allein um die Eigenschaft von Personen und nicht von Institutionen; er untersucht das Böse als etwas, das der handelnden Person voll zugerechnet werden kann. Eine Verteidigung schon dieses Begriffs ist so anspruchsvoll, daß die Konzentration auf dieses Thema, zumindest wenn es heute wieder aufgegriffen werden soll, als weise Selbstbeschränkung gelten darf. Beiseite bleiben etwa die Theodizee und die Freiheit Gottes. Da Schelling sie mitbehandelt, ist es interessant zu erfahren, wie eng die neuen Aspekte zusammenhängen mit dem von Kant diskutierten

Gesichtspunkt, der immerhin vom „Wesen der menschlichen Freiheit" her der Grundgesichtspunkt sein dürfte: Drängt

sich die thematische Erweiterung von innen heraus auf, oder spielen andere, vielleicht heterogene Motive eine Rolle? Gerade weil es beim moralisch Bösen um des Menschen Freiheit geht, scheint das Thema mit der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt unmittelbar nicht mehr verknüpft zu sein. Soweit die Übel auf bewußte Pflichtwidrigkeiten zurückgehen, sind sie dem Menschen anzulasten, soweit nicht, gehören sie weder zum moralischen Bösen noch zu dem, was der Titel der Schrift ankündigt, zur „menschlichen" Freiheit. Der Umstand, daß die Freiheitsschrift sie trotzdem zusammen behandelt, sagt etwas über ihre Frageintention aus. Offensichtlich bleibt Schelling einem Motiv der Tübinger Zeit treu, der Verbindung zweier Themen, deren Zusammenhang nicht von der Sache des Bösen und der menschlichen Freiheit her bestimmt ist, sondern von einer gewissen Tradition, der jüdisch-christlichen Offenbarung. Im übrigen erhebt Kant gegen jede philosophische Diskussion der Theodizee grundsätzliche Bedenken; wie der einschlägige Titel sagt, seien „alle philosophischen Versuche" zum „Mißlingen" verurteilt (1791). Wer einen Diskurs über das Böse mit der Theodizee verbindet, lädt sich also Kant zufolge nicht nur eine unnötige Erweiterung des Themas auf; er versucht sich auch in etwas, das jeder objektiven Aussage ver-

-

33

34

Otfried Hüffe

sperrt ist. Denn unsere Vernunft, so lautet Kants Kernargument, ist „zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend"50. Ein autoritatives Gewicht hat Kants Position aber nicht. Wo Schelling die Theodizee behandelt, können wir exemplarisch den Anspruch des Deutschen Idealismus überprüfen, daß die Grenzen, die der menschlichen Vernunft gesetzt sind, nicht so eng verlaufen müssen, wie Kant gedacht hat. Unsere sechste und letzte Anfrage: Kann Schelling die von ihm praktizierte Erweiterung der Vernunftgrenzen angemes-

-

-

sen

50

begründen?

Akad.-Ausg. VIII 263.

Hans Michael

Baumgartner

Zur Einleitung: Ubersicht, Aufbau und Problemanzeigen (3 3 6-3 50)* Für die Zeitgenossen waren die Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände bis zur von K. F. A. Schelling besorgten Ausgabe der Sämmtlichen Werke (1856-61) der letzte philosophische Systementwurf aus Schellings Feder. Von der Polemik gegen F. H. Jacobi (Denkmal von den göttlichen Dingen 1812), der

aufgrund von Veröffentlichungsankündigungen (Weltalter und Philosophie der Mythologie) mit besonderer Erwartung zur Kenntnis genommenen Vorrede zu einer Schrift von Victor Cousin (1835), der ersten Berliner Vorlesung sowie kleineren Akademiereden abgesehen, hat Schelling zu Lebzeiten nichts mehr veröffentlicht. Zum erstenmal in der Sammlung seiner Philosophischen Schriften1, gleichsam „versteckt"2 erschienen, lag hiermit zugleich Schellings erster Versuch einer Darstellung des ideellen Teils seines philosophischen Systems, das er seit Die Ausarbeitung der Vortragsfassung meines Beitrags ist aus Gesprächen mit meinem wiss. Mitarbeiter, Herrn I Iarald Korten M. A., hervorgegangen, dem ich dafür herzlich danke. \EW.J. Schellings philosophische Schriften, Erster Band, Landshut 1809. H. Euhrmans hat bei seiner Edition der Freiheitsschrift festgestellt, daß mindestens zwei Druckfassungen dieser Ausgabe existieren, und auf einige charakteristische Differenzen hingewiesen; vgl. F. W.J. Schelling, Uber das Wesen der menschlichen Freiheit, Einleitung und Anmerkungen von H. Euhrmans, Stuttgart 1964. 2. Eine zweite Veröffentlichung erschien im Rahmen der schwedischen Ausgabe von Schellings Sämmtlichen Werken, Bd. 11, Upsala 1818. Die erste Einzelveröffentlichung der Freiheitsschrift erschien Reutlingen 1834. 2 X. Tilliette, Die Freiheitsschrift, in: H. M. Baumgartner (I Ig.), Schelling. Eine Einführung in seine Philosophie, Freiburg/München 1975, 95-108; 95. *

36

Hans Michael Baumgartner 1801 entwickelt hat, veröffentlicht vor3. Diese Darstellung der -wie sie Schelling auch nannte „Philosophie der Geisteswelt" wurde bereits von den Zeitgenossen ebenso als Einschnitt in Schellings Denkweg wahrgenommen, wie sie als erster Versuch einer Antwort auf die in der Phänomenologie des Geistes (1807) von Hegel formulierten Kritik, namentlich auf den For-

malismusvorwurf gegenüber der Identitätsphilosophie, verstanden wurde. Da der Freiheitsschrift, die in der Reaktion auf Angriffe und Polemiken in der Tagesdiskussion4 schnell und in manchen Details übereilt konzipiert und ausgeführt wurde, keine weiteren Schriften folgten und sie daher ,einzeln' blieb, mußte in der Folge Schellings Philosophie als durch Hegels System überwunden erscheinen. Hegel selbst hat sie in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Natur- und Identitätsphilosophie eines Satzes gewürdigt: „Schelling hat eine

3 „Da der Verfasser nach der ersten allgemeinen Darstellung seines Systems (in der Zeitschrift für spekulative Physik) [1801], und nach dem in der

Schrift: Philosophie und Religion gemachten Anfang, der freylich durch Schuld der Darstellung undeutlich geblieben, [ist] die gegenwärtige Abhandlung das Erste worin der Verfasser seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlegt ..." (F. W. J. Schellings philosophische Schriften, a. a. O., IX). Das System der gesummten Philosophie, Würzburg 1804, war bekanntlich unveröffentlicht geblieben. 4 Vor allem F. Schlegels anspielungsreiche These, „das System des Pantheismus ist das System der reinen Vernunft" ( Über die Sprache und Weisheit der Inder, Heidelberg 1808, in: F. Schlegel, Studien zur Philosophie und Theologie, hg. v. E. Behler u. U. Struc-Oppenberg, Kritische Ausgabe, Bd. VIII, München ...

1975, 105-132; 243) hat Schelling (338) herausgefordert. Nach Schlegel lehrt der Pantheismus, „daß alles gut sei, denn alles sei nur eines, und jeder Anschein von dem, was wir Unrecht oder schlecht nennen, nur eine leere Täuschung. Daher der zerstörende Einfluß desselben auf das Leben, indem, man mag sich nun in den Ausdrücken auch drehen, und an den durch die Stimme des Gewissens überall hervortretenden Glauben anschließen wie man will, im Grunde doch, wenn man dem verderblichen Prinzip nur getreu bleibt, die Handlung des Menschen für gleichgültig, und der ewige Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, ganz aufgehoben, und für nichtig erklärt werden muß" (201). Diesen Vorwurf verstand Schelling auf seine Philosophie gemünzt und bekräftigt im Brief an Windischmann vom 9. 5. 1809, daß er Schlegels „verdeckte Polemik in eine offene zu verwandeln gesucht habe" (Plitt II 156). Der von Jacobi erhobene Fatalismusvorwurf findet sich bei Schlegel selbst nicht. u. a.

...

-

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen einzelne Abhandlung über die Freiheit bekannt gemacht, diese

ist von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden."5 Wenn man auch nicht wie Xavier Tilliette von einem

„raschen Untergang gleich nach der Veröffentlichung" sprechen möchte,6 so ist gleichwohl der spätere Erfolg der Frei-

-

heitsschrift unübersehbar und bemerkenswert. Vor allem das grundsätzliche Problem des Zusammenhangs von System und Freiheit und das Konzept einer Metaphysik des Bösen übten eine Faszination auch auf solche Leser aus, die nicht primär an einer Interpretation von Sendlings Werk insgesamt interessiert waren. Immerhin nannte bereits ein Interpret vom Range Kuno Fischers in seiner Darstellung der Schellingschen Philosophie die Freiheitsschrift „schon in der Bestimmung und Auseinandersetzung dieses schwierigsten aller Probleme ein Meisterstück an Klarheit und Tiefe"7. Mit der Freiheitsschrift im ganzen will Sendling dem Anspruch nach den Grund zu einem vollständigen, einen reellen (Naturphilosophie) und einen ideellen Teil umfassenden Vernunftsystem zu dem er bisher nur „Bruchstücke" geliefert habe (334) legen, in dem der Begriff der Freiheit den innersten Mittelpunkt bezeichnet. -

-

5 Theorie-Werkausgabe, Bd. 20,453. 6 Chr. H. Weiße und I. H. Fichte haben sich wesendich mit der Freiheitsschrift beschäftigt und von daher die Philosophie des sog. Spätidealismus konzipiert. Ein Philosophiehistoriker wie J. E. F.rdmann sah bei Erscheinen der Sämmtlichen Werke Sendlings seine durch Nachschriften genährte Vermutung bestätigt, daß Sendling seit der Freiheitsschrift kontinuierlich an einem

einheitlichen Systemkonzept gearbeitet hat. 7 K. Fischer, Schellings heben, Werke und Lehre, Heidelberg -T899, S. 633 f. Der vierte Abschnitt (631-832: Schellings Werke 1809-1854) trägt hier den Titel Die Religionsphilosophie; in der 1. Aufl. schloß dieser erheblich kürzere Abschnitt an dem Punkt, „wo Schellings öffentliche litterarische Wirksamkeit in der Mitte seiner Lebensdauer aufhörte" (a. a. O., IX), und trug den eher pejorativen Titel Theosophismus (vgl. dazu indes das Vorwort zur 2. Aufl.).

37

38

Hans Michael Baumgartner

I.

Übersicht über die elf Abschnitte der

Einleitung

Was für Schellings Freiheitsschrift im Ganzen gilt, trifft auch auf die Einleitung zu: sie ist gegliedert, enthält aber keine Zwischendtel. Auch zum Zweck einer leichteren Bezugnahme auf Schellings Text wird die Einleitung in insgesamt 11 Abschnitte eingeteilt, die den im Druck erkennbaren Absätzen von Schellings Schrift entsprechen: /: 336-338 Das allgemeine Problem: System und Freiheit. 2: 338-340 Konkretisierung des Problems: Pantheismus als Fatalismus. Die verschiedenen Ansichten des Pantheismus: I. Die Immanenz der Dinge in Gott (Gott ist -

-

alles).

3: 340-342 II. Pantheismus als Identifikation Gottes mit den Dingen (Alles ist Gott); Grund der Mißdeutungen: mangelndes Verständnis des Identitätsgesetzes bzw. der Kopula -

im Urteil; 1. Bemerkung zu Spinoza. 4: 343-345' III. Pantheismus als Aufhebung aller Individualität (Die Dinge sind nichts); 2. Bemerkung zu Spinoza. 5: 345-341 Pantheismus ist nicht notwendig Leugnung der —

Freiheit: Rückgriff auf das Gesetz der Identität; das Theorem der derivierten Absolutheit, Begriffensein in Gott und Folgen aus Gott; 3. Bemerkung zu Spinoza. 6: 341-348 Resümee zum Verhältnis von Pantheismus und Freiheit. Auseinandersetzung mit Jacobis Spinozismusvorwurf an jedes Vernunftsystem. 7: 349-350 Spinozas Leugnung der Freiheit ergibt sich nicht aus seinem Pantheismus, sondern aus seinem Determinismus (einseitiger Realismus); Schellings Absicht einer Wechseldurchdringung von Realismus und Idealismus in den frühen Schriften: Wollen ist Urseyn. 8: 350-352 Selbst der Idealismus als nicht-fatalistisches Vernunftsystem (mit dem formellen Begriff der Freiheit: Ich ist alles/Alles ist Ich) läßt in der Lehre der Freiheit ratlos. Er verfehlt das Spezifische der menschlichen Freiheit als eines Vermögens des Guten und des Bösen. 9: 352-355 Das Böse und die konzeptionellen Schwierigkeiten seiner Bestimmung in allen pantheistischen Systemen: -

-

-

-

-

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen Immanenz, Concursus, Dualismus und Emanation; letzte Be-

merkung zu Spinoza. 10: 356-357

benstellung;

Überleitung zum Hauptteil: Die

der -

neue

Aufga-

Idealismus, obgleich Seele der Philosophie,

bedarf eines lebendigen Realismus zur Basis. /1 (Schlußabschnitt): 357 erster Absatz Abschluß der Einleitung: eine Lösung des Problems von System und Freiheit ist nur im Ausgang von den „Grundsätzen einer wahren Natur-

philosophie" möglich. Abschnitt 1 gibt den allgemeinen Vorriß der Problemstellung: das Verhältnis von System und Freiheit.

Die Abschnitte 2-7 enthalten die Konkretion der Problemstellung in der Pantheismusfrage: ist der Pantheismus notwendig ein Fatalismus? Sendling stützt sich hierbei auf Hilfsüberlegungen zum Identitätsgesetz und zur Copula sowie auf eine kritische und zugleich differenzierte Darlegung

des

Spinozismus.

Abschnitt 8 erörtert die Frage, weshalb der Idealismus als Pantheismus im recht verstandenen Sinn, d. h. als nicht-fatalistisches Vernunftsystem, dennoch in der Frage der lebendigen Freiheit zum Guten und zum Bösen, „in der Lehre der Freiheit" (351) ratlos läßt. Abschnitt 9 zeigt, daß „der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit" (352) alle bisher bekannten Systeme trifft. Abschnitt 10 präsentiert als Überleitung zum Hauptteil die neue Aufgabenstellung und die notwendigen systematischen Voraussetzungen ihrer Lösung: der Idealismus (als Seele der Philosophie) muß einen lebendigen Realismus (als ihren Leib) zur Basis haben. Abschnitt 11 verweist abschließend auf die Funktion der

Einleitung als „Berichtigung wesentlicher Begriffe" (357) und betont noch einmal die Bedeutung eines Ausgangs von „den Grundsätzen einer wahren Naturphilosophie" für eine gelingende Einordnung der realen Freiheit in die philosophische Weltansicht.

39

4o

Hans Michael Baumgartner

II. Kurze inhaltliche Darlegung des

der Einleitung

Ganges

Abschnitt 1 läßt sich in fünf Sinnabschnitte einteilen: 1. Zunächst behandelt Schelling die Möglichkeiten einer philosophischen Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit: Teils geht es ihm darum, den richtigen Begriff der Freiheit zu finden, weil die Tatsache der Freiheit trotz eines unmittelbaren Gefühls der Freiheit nicht an der Oberfläche liegt: Teils muß der Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht, mit einer philosophischen Gesamtansicht der Welt (= System) dargelegt werden. Weil aber a) kein Begriff einzeln bestimmt werden kann und b) die letzte wissenschaftliche Vollendung für einen Begriff im Nachweis seines Zusammenhangs mit dem Ganzen liegt, fallen die beiden Seiten der Untersuchung eigentlich überall in eins: insbesondere bei einem so zentralen Begriff wie dem der Freiheit, der weder ein untergeordneter noch ein Naturbegriff ist, sondern einen der „herrschenden Mittelpunkte des Systems" (336) bezeichnet. 2. Ein wesentlicher Einspruch gegen ein solches Unterfangen kommt aus einer weit verbreiteten Ansicht, aus „einer alten, jedoch keineswegs verklungenen Sage" (336), wie Schelling mit Blick auf Jacobi wohl ironisch bemerkt: daß nämlich der Begriff der Freiheit mit dem des Systems überhaupt unverträglich sei. Daraus folge, daß jede Philosophie, die aufEinheit und Ganzheit Anspruch erhebe, Freiheit leugnen müsse. Wer ein System beansprucht, kann Freiheit nicht zulassen. 3. Schelling gibt zu bedenken: a) Wenn ein beschränkter Systembegriffvorliegt, kann die Behauptung wohl wahr sein: sie ist dann aber auch trivial. Dieser Fall ist für Schelling uninteressant. Wichtig aber ist, daß die Antwort auf die Frage, ob System und Freiheit vereinbar seien, also wesentlich vom jeweiligen Begriff abhängt, b) Wenn aber behauptet wird, dem Begriff der Freiheit widerstreite der Begriff von System überhaupt und an sich, dann werde die Sache philosophisch bedeutsam. In diesem Fall ist zu sehen: die individuelle Frei-

-

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen heit hängt irgendwie mit dem Ganzen der Welt zusammen. Also muß doch irgendein System vorhanden sein, mit dem die Freiheit zusammen besteht: wenn schon nicht im menschlichen Wissen, so doch wenigstens in der Welt als Ganzem; ein System, das dann wenigstens im göttlichen Verstand erfaßt würde. Die Prämissen für diese Überlegungen lauten: Der Weltzusammenhang muß ein System sein, und dieser Weltzusammenhang hat einen Grund: das Absolute. Deshalb muß dieses System mindestens im göttlichen Verstand sein. Dagegen steht die kantische Auffassung, daß es sich bei einer Systemvorstellung dieser Art um eine notwendige regulative Idee handelt. Diese Ansicht wird freilich von Schelling hier nicht (mehr) erörtert. Statt dessen meint er: Man könne entgegnen, daß wir dieses System nicht erkennen können. Aber diese Aussage könnte erst beurteilt werden, wenn man das Prinzip der menschlichen Erkenntnis wüßte. Hier aber gilt die alte Lehre, daß Gleiches durch Gleiches erkannt wird und daß deshalb der Philosoph eine Erkenntnis Gottes beanspruche, weil er allein „mit dem Gott in sich den Gott außer sich begreife" (337). Jedenfalls meint Schelling, daß man so argumentieren könnte. Freilich steht dem die Ansicht entgegen, daß die Wissenschaft Philosophie nur unlebendige und abstrakte Erkenntnis produziere. Aber dies in der Grundstruktur des Wissens zu zeigen wäre für eine Einleitung zu kompliziert. Deshalb ist es „kürzer oder entscheidender das System auch im Willen oder Verstände des Urwesens [und nicht nur im menschlichen Wissen] zu leugnen" (337), und im Anschluß an Fichte zu sagen: daß es nur einzelne Willen gebe, deren jeder sein je eigenes System habe. 4. Wie auch immer es um die Möglichkeiten und die Reichweite menschlichen Wissens bestellt sein mag, fest steht jedenfalls: 1) die Vernunft dringt auf Einheit; 2) das Gefühl besteht aufFreiheit und Persönlichkeit, also aufmenschlicher Freiheit; und 3) wird beides in der Regel nur durch einen Machtspruch zurückgewiesen, der allerdings nur eine Weile vorhält. (So mußte schließlich auch der frühe Fichte die Einheit „bezeugen", freilich „in der dürftigen Gestalt einer sittlichen Weltordnung" [338].) =

4'

42

Hans Michael Baumgartner 5. Daraus folgt nun: die These, daß System Freiheit ausschließt, mag im Blick auf bisherige Systeme, also historisch, richtig sein. Da es aber keine Gründe aus dem Wesen der Vernunft dafür gibt und Schelling jedenfalls hat keine finden können -, ist die Frage nach dem Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht wohl grundsätzlich eine notwendige Aufgabe, ohne deren Auflösung der Begriff der Freiheit nicht sicherzustellen und eindeutig zu bestimmen ist, womit aber auch die Philosophie letztlich wertlos wäre. Wertlos deshalb, weil 1) die Vermittlung von System und Freiheit „die unbewußte und unsichtbare Triebfeder" (338) aller Erkenntnis ist und 2) ohne den Wderstreit von Notwendigkeit und Freiheit sowohl die Philosophie „wie jedes höhere Wollen des Geistes" absterben würde, wie es bei den abstrakten und unlebendigen Wissenschaften der Fall ist. Daher läßt sich resümieren: Die Vernunft preiszugeben wäre Flucht, d. h. Chaos; die Freiheit preiszugeben hieße pure Flerrschaft der blinden Notwendigkeit, d. h. leblose -

Ordnung.

In den Abschnitten 2-7 stellt sich das Problem (= der innere Widerstreit) von System und Freiheit, Vernunft und Freiheit bestimmter, konkreter und zeitnaher in der Pantheismusfrage, wie sie vor allem von F. H. Jacobi aufgeworfen und von Schlegel aufgegriffen wurde8: Das einzig mögliche System der Vernunft ist Pantheismus; dieser aber ist notwendig Fatalismus, d. h., er muß Freiheit leugnen. Also ist Schelling genötigt darzulegen, daß eine umfassende Systemkonzeption denk- und ausführbar ist, die Freiheit und ihre Phänomene

Schlegels Äußerung verweist Schelling in der Fußnote (338): „Der Pantheismus ist das System der reinen Vernunft..." (F. Schlegel, a. a. O-, 243); die Textstelle fährt fort: und insofern macht er schon den Ubergang von der orientalischen Philosophie zur europäischen. Er schmeichelt dem Eigendünkel des Menschen ebenso als seiner Trägheit. Ist einmal diese große Entdeckung gemacht, diese alles umfassende, alles vernichtende, und doch so leichte Wissenschaft und Vernunft-Weisheit, daß Alles Eins sei, gefunden, so bedarf es weiter keines Suchens und Forschens; alles was andre auf andren Wegen wissen oder glauben, ist nur Irrtum, Täuschung und Verstandesschwäche, so wie alle Veränderung und alles Leben ein leerer Schein." 8 Auf

„...

Übersicht, Aufbau und Problem anzeigen nicht-reduktiv in sich einbegreift, in der Freiheit näherhin sogar als Mittelpunkt fungieren kann. Abschnitt 2 führt zunächst den gängigen Begriff von Pantheismus als einer Lehre von der Immanenz der Dinge in Gott ein. Einen Hinweis darauf, daß Pantheismus nicht wesentlich mit Fatalismus verbunden sei, findet Schelling in den Motiven eines Glaubens an die Einheit des Menschen mit Gott bei Mystikern und religiösen Gemütern: Um das Gefühl individueller Freiheit, die etwa dem Begriff einer göttlichen Allmacht zu widersprechen scheint, zu behaupten, dränge sich, gerade um Freiheit „in das göttliche Wesen selbst zu retten", die Vorstellung auf, „daß der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sey, und daß seine Thätigkeit selbst mit zum

Leben Gottes gehöre" (339). Abschnitt 3 läßt sich in drei Sinnabschnitte gliedern: 1. Die Erklärung des Pantheismus als Identifikation Gottes mit den Dingen trifft nicht die damit charakterisierte Lehre Spinozas. Dessen Unterscheidung von dem, ,quod in se est et per se concipitur' („was in sich ist und durch sich begriffen wird"), und dem, ,quod in alio est, per quod etiam concipitur' („was in anderem ist, durch anderes auch begriffen wird"), markiert eine Differenz toto genere zwischen göttli-

cher Substanz und ihren Modifikationen. 2. Die gleichfalls auf Spinoza bezogene Vorstellung, daß jedes einzelne Ding Gott gleich sei, trifft nicht Spinozas Lehre. Ihm zufolge könnte es bestenfalls ein modifizierter Gott sein, so daß sich mit der Bestimmung der Modifikation wiederum die Differenz von Gott und Ding ergibt. 3. Im Blick auf solche unzutreffenden Behauptungen stellt Schelling heraus, daß „der Grund solcher Mißdeutungen in dem allgemeinen Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des Sinns der Copula im Urtheil" (341) liegt: die im einfachen prädikativen Satz („dieser Körper ist blau") in der Kopula ,ist' bzw. im ,=' ausgedrückte Identität von Subjekt und Prädikat ist weder wie es seinerzeit gängig verstanden wurde (z. B. Reinhold) Einerleiheit noch unvermittelter Zusammenhang, sondern verweist darauf, daß beide, S und P, wiederum als Prädikate eines zugrundeliegenden X zu verstehen sind. Diese „höhere Anwendung des Identitätsgesetzes" ...

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Hans Michael Baumgartner

sei nicht verstanden worden und führe dementsprechend bei Sätzen wie „Das Vollkommene ist das Unvollkommene" (341) oder „Nothwendiges und Freies sind eins" (342) zu den bekannten Mißverständnissen, denen sich Schellings .Identitätsphilosophie' ausgesetzt sah. Bereits in der Logik der Griechen aber sei mit der Unterscheidung von Subjekt und Prädikat als antecedens et consequens bzw. implicitum et explicitum (bei tautologischen Sätzen) der „reelle [ ] Sinn des Identitätsgesetzes" gefaßt worden. Abschnitt 4: Jene Auffassung von Pantheismus schließlich, der zufolge die Dinge nichts seien und damit alle Individualität aufgehoben würde, macht den dem Pantheismus allgemein gemachten Vorwurf der Vermischung von Gott und den Dingen sinnlos und das Konzept der Immanenz gegen-

standslos. Selbst für Spinozas zweischneidige Bestimmung der Dinge außer (praeter) der Substanz als bloßer Affektionen derselben läßt sich dem Sinn nach wie Schelling ausführt

der Unterschied einer (negativen) Bestimmung der Dinge in Relation zu Gott von der Bestimmung, was sie für sich selbst -

-

seien, geltend machen.

Abschnitt 5 läßt sich wiederum in drei Sinnabschnitte gliedern: 1. Sieht man den Charakter des Pantheismus in der Leugnung der Freiheit, so zeigt sich zum einen, daß diese Bestimmung das Spezifische des Pantheismus gar nicht faßt, weil bis

Entdeckung des Idealismus der „eigentliche Begriff der Freiheit" (345) fehlt und alle philosophischen Systeme bezur

troffen sind; zum anderen, daß ein verbreiteter Freiheitsbegriff, der der Herrschaft des intelligenten über das sinnliche Prinzip, selbst in Spinozas System herleitbar ist. Pantheismus bedeutet also nicht notwendig Leugnung der Freiheit; wo diese ausdrücklich wird, muß sie einen anderen Grund haben. 2. Im Rückgriff auf das Gesetz der Identität soll nun dargelegt werden, daß der Immanenzgedanke mit einem Freiheitsbegriff nicht nur vereinbar ist, sondern diesen sogar fordert. Im Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Satz liegt gleichursprünglich mit dem Gesetz der Identität das Gesetz des Grundes: das Ewige (und Identische) muß „unmittelbar, und so wie es in sich selbst ist, auch Grund seyn" (346) von ei-

Übi .rsici it, Aufbau und Problemanzeigen

Begriffenen: da Abhängigkeit keine Bestimmung Wesens, sondern eine Bestimmung des Werdens darstellt, hebt sie Selbständigkeit und Freiheit im Grund-Folge-Verhältnis nicht auf. 3. Eine Betrachtung des göttlichen Wesens als eines lebendigen führt darauf, daß die Folge der Dinge aus Gott weder mechanisch noch als Emanation gedacht werden kann: „Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes" „in freien aus sich selbst handelnden Wesen" (347). Während die Gedanken bloß idealische Repräsentationen der Seele sind, können die „Repräsentationen der Gottheit... nur selbständige Wesen seyn". Das Theorem der derivierten Absolutheit (als Mittelbegriff der ganzen Philosophie), die der Natur zukommt, soll den inneren Zusammenhang von Immanenz und Freiheit unabweisbar machen. Diese „allgemeine Deduktion" einer Folge aus Gott nennt Sendling im nächsten Abschnitt „ungenügend" (347), weil in ihr noch nicht deutlich wird, wie „der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit" (352), das Böse, letztlich wirklich auflösbar ist (vgl. Abschnitt 9). In Abschnitt 6 wird aber aus dieser vorläufigen Deduktion zunächst das Fazit gezogen, daß Pantheismus nicht notwendig mit der Leugnung formeller Freiheit verbunden ist. Sodann wird ein kurzer Ausblick auf die bestimmten, d. h. begrenzten geistesgeschichtlichen Bedingungen (speziell die mechanische Denkweise im Gefolge der französischen Aufklärung) gegeben, unter denen der Spinozismusvorwurf an jedes Vernunftsystem möglich und von Jacobi tatsächlich erhoben wurde, ein Vorwurf, der unter anderen Bedingungen aber weder begreiflich noch hilfreich sei. Abschnitt 7 stellt heraus, daß Spinozas Leugnung der Freiheit nicht aus seinem Pantheismus, sondern seinem Determinismus herrühre. Gegenüber dessen einseitig-realistischem System zeichne sich Schellings philosophische Absicht von Beginn an durch den Versuch einer „Belebung" der Lehre vom „Begriffensein aller Dinge in Gott" im Rahmen einer „Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus" (350) aus; zum Prinzip eines universellen Vernunftsystems taugt Spinozas „Substanz" nur, wenn sie durch das Prinzip des

nein

Abhängigen bzw.

des

in ihm

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Hans Michael Baumgartner

Idealismus vergeistigt, d. h., wenn Freiheit als „der letzte potenzierende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre", begriffen wird wie Schelling in Anspielung auf sein System des transzendentalen Idealismus (1800) formuliert. Es folgt die berühmte Textstelle: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden." -

Zusammengefaßt soll Schellings Erörterung der verschiedenen Auffassungen des Pantheismus zeigen: 1. daß bestimmte Konzeptionen von Pantheismus unhaltbar sind; dabei hat Schelling drei verschiedene Konzeptionen im Auge: I) Gott ist identisch mit den Dingen: Alles ist Gott;

LT) jedes einzelne Ding ist Gott; III) die Dinge sind nichts; 2. daß eine bestimmte Konzeption, nämlich der recht verstandene Pantheismus, der die Immanenz der Dinge in Gott behauptet, nicht notwendig die Freiheit leugnen muß; diese Konzeption ist nach Schelling näherhin so geartet, daß sie in einer bestimmten Weise Freiheit sogar fordert; 3. daß nach entsprechender kritischer Differenzierung Spinozas Fatalismus nicht Folge seines Pantheismus, sondern Folge seines Determinismus und Objektivismus ist; 4. daß gleichwohl der durch das idealistische Prinzip der formellen, weil allgemeinen Freiheit bestimmte Pantheismus nach der Formel: alles ist Ich-haft der menschlichen Freiheit, als eines Vermögens des Guten und des Bösen (352), nicht genügt. Deshalb führt in Abschnitt 8 Schellings Erörterung über den bisherigen Stand des Idealismus hinaus, indem sie zeigt, daß alle bisherigen pantheistischen Systeme den realen und lebendigen Begriff der Freiheit (insbesondere als Freiheit zum Bösen) nicht integrieren können, ohne sich selbst aufzuheben. In Abschnitt 9 werden eben diese Systeme aufgeführt und hinsichtlich des ihnen jeweils charakteristischen Verhältnis-

-

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen der Abkunft des Bösen von Gott kurz erläutert: so 1. das System der Identität und Immanenz; 2. das des Zusammenhangs (Concursus und Mitwirkung); 3. das des Dualismus und schließlich 4. das der Emanation oder der Entfernung von Gott. An diesen Systemen kritisiert Schelling, daß sie das eigentliche Problem nicht fassen können, d. h. letztlich entweder die Möglichkeit des Bösen überhaupt oder seine Positivität und Macht leugnen. Abschnitt 10 formuliert daher die jetzt sich stellende Aufgabe: ein neues Systemkonzept zu finden, das noch über den die formelle Freiheit (des Ich ist alles und des Alles ist Ich) berücksichtigenden idealistischen Pantheismus hinausgeht. Das neue Systemkonzept vereinigt in sich aber nicht nur Idealismus und höheren Realismus, sondern integriert auch eine gegliederte Abfolge der unterschiedlichen philosophischen Systemansätze und ihrer Grundprinzipien als seine auf einen bestimmten systematischen Ort fixierten Momente. Im Brief an Windischmann vom 9. 5. 1809 erläutert ses

Schelling sein neues Systemkonzept in Abhebung von Schlegel, dessen „höchst crasser und allgemeiner Begriff des Pantheismus ihn freilich die Möglichkeit eines Systems nicht ahnden [läßt], worin mit der Immanenz der Dinge in Gott Freiheit, Leben, Individualität, desgleichen Gutes und Böses besteht. Er kennt nur die drei Systeme seines indischen Buchs9; das Wahre liegt aber gerade zwischen diesen dreien mitten inne und hat die organisch verflochtenen Bestandtheile eines jeden in sich. Es giebt einen (aber auch nur ...

9 Diese drei Systeme sind nach Schlegel „das System der Emanation, das endlich in astrologischen Aberglauben und schwärmerischen Materialismus entartete; die Lehre von den zwei Prinzipien, deren System des Dualismus später zum Pantheismus umgewandelt ward" (F. Schlegel, a. a. O., 253). Hinsichtlich des Problems des Bösen hebt er als jeweils charakteristisch hervor: „Der Pantheismus hebt den Unterschied des Guten und Bösen unvermeidlich auf, so sehr er sich auch in Worten dagegen sträuben mag; das System der Emanation erdrückt den freien Mut, durch das Gefühl unendlicher verborgner Schuld und den Glauben, daß alles böse und auf Ewigkeiten hin unselig sei; die Lehre von den zwei Prinzipien und dem Kampf des Guten und Bösen hält das Mittel zwischen diesen beiden Extremen, und ist selbst ein mächtiger Antrieb zu gleichem Kampf, eine unversiegliche Quelle sittlichen Lebens"

(a.a.O. 229-231).

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Hans Michael Baumgartner

einen) Punct, bei dem die Vorstellung der Emanation anwendbar ist, einen (aber auch nur einen), wo die des Dualismus, und endlich wieder einen, wo die Indifferenz des Pantheismus. Ich glaube diese Puncte in meiner Abhandlung mit zuvor nie erreichter Deutlichkeit bezeichnet zu haben."10 Die verschiedenen Formen des Pantheismus können also jeweils ein untergeordnetes Moment im Rahmen eines umfassend an- und ausgelegten Systemkonzepts bezeichnen.

Vereinigung von Idealismus und Realismus hat zur Konsequenz, daß Gott nicht in der idealistischen Weise als Die

Freiheit im Sinne des bloßen Sich-wollens („Wollen ist Urseyn", 350), sondern als lebendige Liebe, daß er als Grund der lebendigen Freiheit gedacht werden muß; dies aber bedeutet, daß die Freiheit als Freiheit zum Bösen in ihm eine Wurzel haben muß, die nicht Er selbst ist. Die im Abschnitt 11 schließende Einleitung vermerkt zu

Recht, daß

sie die

Aufgabe hatte, die zum Verständnis der Problemstellung Hauptteils wesentlichen Begriffe zu des

klären und

III.

zu

berichtigen.

Problemanzeigen

Zu Schellings Text

Nötig wäre eine Explikation des verwendeten allgemeiSystembegriffs als Vernunftsystem. Hierbei wäre zunächst die Frage zu klären, ob Schellings Intention in der Freiheitsschrift, obwohl auf ein neues System gerichtet, nicht doch den Systemgedanken überhaupt aufhebt. Des weiteren wäre der Begriff der „derivierten Absolutheit" (347), der als Mittelbegriff der ganzen Philosophie eingeführt wird, in seinem Verhältnis zu dem sogenannten neuen System zu klären. Nötig wäre vor allem eine Begründung seiner Einführung in der Einleitung. Darüber hinaus aber auch, ob und wie er für den Hauptteil der Freiheitsschrift von Bedeutung und ob er 1.

nen

10 Pütt II 156.

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen überhaupt noch mit einem „lebendigen" Pantheismus kompatibel ist? 2. Hilfreich wäre eine Analyse und Rechtfertigung des neu eingeführten Begriffs einer realen und lebendigen Freiheit. Wie ist der Begriff der Freiheit zu verstehen, von dem gesagt wird, daß er einerseits formell und andererseits der allgemeinste Begriff sein solle: bezieht sich der formelle Charakter auf die Kantisch-Fichtesche Philosophie, der Charakter der Allgemeinheit auf Sendlings eigene Naturphilosophie? Handelt es sich dabei um zwei verschiedene Freiheitsbegriffe, oder meint „einerseits andererseits" nur eine doppelte Perspektive desselben Begriffs? Ein besonderes Problem der Deutung stellt der Zusammenhang von formellem und realem Freiheitsbegriff dar. Die Tatsache, daß Schelling an einer späteren und zentralen Stelle -

der Freiheitsschrift (382-389) hinsichtlich der Selbstbestimmung des intelligiblen Wesens des Menschen von einer „transzendentalen, alles menschliche Sein bestimmenden That" spricht und bezüglich des „vollkommenen formellen Freiheitsbegriffs" zwar das Lob, nicht aber die Kritik am Idealismus wiederholt, hat Interpreten dazu geführt, das Reale im Freiheitsbegriff nicht genau genug zu beachten bzw. auf das Formelle des Begriffs zurückzuführen." Zugleich wäre darauf zu verweisen, daß der mit dem lebendigen Freiheitsbegriff verbundene Begriff des Bösen

11 Vgl. zu diesem Problem: M. Theunissen, Schellmgs anthropologischer Ansatz, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 47, 174—189. Aufgrund der dem Gedanken einer Selbst-Schöpfung bzw. Selbsterschaffung des intelli-

giblen Wesens, aus dem die einzelne ,freie' Handlung bestimmt ist, eigenen Tendenz zur Entschränkung der menschlichen Absolutheit, die durch keine Deriviertheit beeinträchtigt wird, sieht Theunissen folgende grundsätzliche Schwierigkeit der Freiheitsschrift: „Die Transzendentalität des sich selbst erschaffenden Menschenwesens schließt das theologisch verstandene Geschaffensein aus. Durch seine transzendentale 'Fat ist, wie Schelling weiter sagt, der Mensch außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger Anfang" (187; vgl. Schelling 368). Durch diesen Rückfall in Transzendentalphilosophie verfehlte Schelling aber die anfängliche Intention, diese durch eine schöpfungstheologische Anthropologie (Stichwort: derivierte Absolutheit) zu unterlaufen. 12 Vgl. dazu Theunissen: „Das Tun des Bösen ist die volle Verwirklichung des Menschen als des Geistes. Diese Konsequenz zieht Schelling tatsächlich" (a. a. O., 187).

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5o

Hans Michael Baumgartner

phänomenologischen und religionsphilosophischen Deutung des Faktums des Bösen ermangelt.12 3. Kritisch zu erörtern wäre Schellings Rede von Identität und Differenz im einfachen prädikativen Urteil sowie seine in der Einleitung nur kurz angerissene Lehre von der Copula. Besondere Bedeutung hat dabei sicherlich, daß Schelling das einer

dynamisch-explikatives Moment versteht und systematisch auslegt. 4. Schließlich wäre zu fragen, wie der „höhere" Realismus der Naturphilosophie, auf den sich Schelling bezieht, zu verstehen ist. Auf welcher Naturphilosophie (der frühen Schriften oder der Naturphilosophie im Rahmen der Identitätsphilosophie) und auf welchem Realismus beharrt Schelling am Ende der Einleitung? „ist"

im Urteil als

Zur Interpretation Heideggers

Schellings Einleitung zur Freiheitsschrift kann die bisher beste Darstellung und gründlichste Interpretation des Werkes insgesamt nicht übergehen; diese stammt von Martin Heidegger13. Von besonderer Eindringlichkeit ist Heideggers Darlegung der verschiedenen Freiheitsbegriffe, die es ermöglicht, den von Schelling neu eingeführten reellen Begriff der Freiheit als eines Vermögens des Guten und des Bösen präzise zu lokalisieren und zu bestimmen. Heidegger listet die folgenden sieben Freiheitsbegriffe auf: 1. Freiheit als Selbstanfangenkönnen 2. Freiheit als Ungebundenheit, Freiheit von (negative FreiEine

Interpretation

von

heit)

3. Freiheit als Sichbinden an, libertas determinationis, Freiheit zu (positive Freiheit) 13 Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. v. H. Feick, Tübingen 1971 ; neuerdings: M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), in: Gesamtausgabe, II. Abt.: Vorlesungen 1919-1944, Bd. 42, hg. v. I. Schüßler, FYankfurt/M. 1988; die folgenden Zitate sind dieser Ausgabe entnommen.

Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen 4. Freiheit als Herrschaft über die Sinnlichkeit (uneigentliche Freiheit) 5. Freiheit als Selbstbestimmung aus dem eigenen Wesensgesetz (eigentliche Freiheit), formeller Begriff der Freiheit; er schließt alle vorigen Bestimmungen in sich 6. Freiheit als das Vermögen des Guten und Bösen 7. Freiheit als reine Unentschiedenheit, libertas indifferentiae.H Damit wird in überzeugender Weise deutlich, wie Schellings neu eingeführter Begriff der Freiheit von den bisher bekannten abzuheben ist. Allerdings wären an Heidegger folgende Fragen zu stellen: 1. Ist die Freiheitsabhandlung Schellings wirklich das Paradigma der Metaphysik des Idealismus, worin dieser tatsächlich zu einer Art Vollendungsgestalt gelangt?15 Die Frage hat ihre Berechtigung im Blick auf die Spätphilosophie Schellings selbst,16 den späten Fichte, aber auch im Blick auf das Selbstverständnis der Philosophie Hegels in Logik und Enzyklopädie, die alle als Vollendungsgestalten der Metaphysik verstanden werden können. Mit dem Niedergang des Deutschen Idealismus ist die Philosophie auf einen anderen Boden gestellt. Hier wäre

zu zeigen, daß und inwiefern Sendling, wenn auch aufgrund des „Bruches" der Freiheit zwischen Sein und Seiendem kein Seinsphilosoph herkömmlicher Art, doch in der abendländischen Tradition der Metaphysik stehenbleibt, nicht eigentlich über sie hinausgelangt, sondern wie Heidegger interpretiert in der Tat noch Onto-theologe bleibt. 2. Bewährt sich Heideggers These, daß Freiheit überhaupt, also auch die zum Guten und Bösen, als Wesen des eigentlichen Seins, als Wesen des Grundes für das Seiende im Ganzen, also als Wesen Gottes zu denken ist?17

genauer

-

-

Heidegger, a. a. O., 152 f. (Nr. 1-5), 167 (Nr. 6), 178 (Nr. 7). Vgl. Heidegger, a. a. o., 6. 16 Vgl. dazu das Standardwerk zu Schellings Spàtphilosophie: W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spàtphilosophie Schellings, Pfullingen 14 15

'1975. 17 Siehe dazu

Heidegger, a. a. ().,

15.

5J

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Hans Michael Baumgartner 3. Läßt sich formelle Freiheit (Alles ist ichhaft) mit Heidegger als „Selbstständigkeit, als Eigenständigkeit im eige-

Wesensgesetz"18 fassen? „Freiheit und Notwendigkeit" als höhere Gegensatzformel im Vergleich zu „Geist und Natur" beschrieben wird, so ist zu fragen, worauf sich „Notwendigkeit", nachdem sie vorher als mechanische Vorstellungsart beschrieben wurde", nun als Gegensatz zur Freiheit genauer nen

4. Wenn

bezieht: auf Vernunft, auf Gott, oder auf die Welt im Ganzen? Ist die mechanische Vorstellungsart jetzt nur noch eine bestimmte abkünftige Weise von Notwendigkeit neben anderen? 5. Kann

man

die

entsprechenden Passagen in Schellings

Einleitung so verstehen, daß die höchste Instanz immer noch wie Heidegger es tut als Sichselbstwollen, näherhin also Sichselbstwollen als das ursprüngliche Wesen des Seins, als Ursein begriffen werden muß? Oder hat sich dies nicht grundsätzlich mit dem reellen Begriff der Freiheit geändert?

-

-

Abschließend sei noch einmal auf Blickpunkt und Funktion der Einleitung hingewiesen. Anhand der Erörterung der zentralen Problematik von System und Freiheit, Pantheismus und Freiheit hat sie die wesentlichen philosophischen Begriffe zu klären. Diese Klärung führt zu einer Bestimmung und Präzisierung der anstehenden Aufgaben: dazu gehört vor 18 19

Heidegger, a. a. O., VE und 143 ff. Vgl. dazu Sendling im Vorwort: „Da

zum Wesen der geistigen Natur zunächst Vernunft, Denken und Erkennen gerechnet werden, so wurde der Gegensatz von Natur und Geist billig zuerst von dieser Seite betrachtet. Der feste Glaube an eine bloß menschliche Vernunft, die Ueberzeugung von der vollkommenen Subjektivität alles Denkens und Erkennens, und der gänzlichen Vernunft- und Gedankenlosigkeit der Natur, sammt der überall herrschenden mechanischen Vbrstellungsart, indem auch das durch Kant wiedergeweckte Dynamische wieder nur in ein höheres Mechanisches überging und in seiner Identität mit dem Geistigen keineswegs erkannt wurde, rechtfertigen hinlänglich diesen Gang der Betrachtung. Jene Wurzel des Gegensatzes ist nun ausgerissen und die Befestigung richtigerer Einsicht kann ruhig dem allgemeinen Fortgang zu besserer Erkenntnis überlassen werden. Es ist Zeit, daß der höhere, oder viel mehr der eigentliche ( Gegensatz hervortrete, der von Nothwendigkeit und Freiheit, mit welchem erst der innerste Mittelpunkt der Philosophie zur Betrachtung kommt" (333).

Übersicht, Aufbau und Problemanzi k,i n allem das Problem, wie der von Schelling gefaßte Begriff der Freiheit als einer Freiheit zum Guten und zum Bösen im Verhältnis zu Gott zu verstehen ist und welche Bedeutung ihm für eine philosophische Weltansicht zukommt. Gibt es ein philosophisches System, in dem der lebendige Begriff der

Freiheit Platz findet?

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Odo Marquard

Grund und Existenz in Gott

Zusammen mit Jörg Jantzen bin ich zuständig für die WerkeOriginalausgabeseiten 350-364. Wir beide haben uns über die Aufgabenverteilung nicht abgesprochen, schon um durch die Tat Plausibilität zu wecken für den Satz von der ursprünglichen Unordnung: „immer liegt noch im Grunde das Regellose und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche" (359). Das trifft: nicht nur für mein Arbeitszimmer zu, sondern wie's Gescherr, so der Herr auch für mich selber. Ich gliedere meine Bemerkung in zwei Abschnitte: 1. Ultrakurzreferat der betreffenden Seiten; 2. Beitrag zur Interpretation. Ich schicke voraus: mich interessieren gerade diese Seiten die ich zuerst vor 44 Jahren gelesen habe -, weil dort Schelling das Theodizeeproblem aufnimmt und seinen spezifischen Lösungsansatz exponiert. ...

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I. Ultrakurzreferat meint dort Schelling verdanken wir „den vollkommenen ersten Begriff der formellen Freiheit" und „den einmal zum Eins und Alles der PhiloFreiheit die Gedanken, Der Idealismus läßt uns aber „in der Lehre sophie zu machen". der Freiheit dennoch ratlos"; denn „um das Bestimmte der menschlichen Freiheit zu zeigen, reicht der bloße Idealismus nicht hin": er gibt eben nur den „bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff [sc. der Freiheit] aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und Bösen sei" (3 52). Daraus folgt die Frage „der Punkt der tiefsten Schwierigkeit" -, wie das Böse kompatibel sei mit Gott. Das nota bene ist das Dem Idealismus

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...

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Odo M\rquard

Theodizeeproblem. Entweder meint Schelling wird „die Realität des Bösen geleugnet", z. B. indem es (durch eine privatio-Lehre) zum bloßen Seinsmangel stilisiert wird: mit der -

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Realität des Bösen verschwindet aber auch der reale und lebendige Begriff der Freiheit. Oder das Böse ist real: dann wird es entweder dualistisch durch ein böses Gegenprinzip (sozusagen einen Gegengott) ins Spiel gebracht, was der Göttlichkeit Gottes widerspricht, oder Gott selber wird mindestens zum „Miturheber" des Bösen gemacht, was ebenfalls Gottes Göttlichkeit widerspricht. Jedenfalls: Die Frage nach der Freiheit und dem Bösen das Theodizeeproblem ist schwierig für alle

philosophischen Systeme. Lösen meint Schelling -

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kann man dieses Problem nur, das ernst nimmt, was die bisherige Philosophie, insbesondere die neuere, nicht ernstgenommen hat: nämlich die Natur. Also muß der Idealismus durch einen die Natur ernst nehmenden Realismus ergänzt werden, wie es zuerst die Na-

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wenn man

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turphilosophie

die früheste

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eigenständige Philosophie

Schellings getan hat: das diese Ernstnahme der Natur ist Sendlings Lösungsansatz auch der Theodizeefrage, und dieser Lösungsansatz sieht näherhin folgendermaßen aus: -

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Man muß den Unterschied

von

beachten, wie es nach Schelling

„Grund" und „Existenz"

zuerst seine eigene frühe Naturphilosophie getan hat. Und man muß diesen Unterschied auch und gerade für Gott ansetzen durch die These: es gibt etwas in Gott selbst, das nicht Gott selbst ist, nämlich die -

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„Natur in Gott", die zugleich identisch mit Gott und als „Grund" in ihm different von ihm, dem „Er selbst der Existierende" (360), ist. Dieser Grund in Gott ist seinem Charakter nach in etwa „der Materie des Piaton gleich" (3 60) das -

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Dunkle, Begierde, Wille, Sehnsucht in Gott: eben die Natur in Gott, aus der durch Ein-Bildung des Verstandes in diese -

Natur Gott als Geist, der er noch nicht ist, erst werden muß durch „stufenweise geschehende Entfaltung" (362). Diese stufenweise Entfaltung Gottes seine Offenbarung auf der Strecke seines Noch-nicht wo er nicht mehr gar nicht Er selbst und noch nicht ganz Er selbst ist ist die Kreatur -

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einschließlich ihrer höchsten Möglichkeit, des Menschen. Indem Kreatur und Mensch mit der „Natur in Gott" teilweise -

Grund und Existenz in Gott

identisch sind, kann sie durch Eigenwillen widersetzlich sein gegen Gott: im Menschen also „böse". Durch teilweie Identität mit Gottes Geist also durch das, was im Verstände vorgebildet ist kann die Kreatur, zuhöchst der Mensch, Gott offenbaren: im Menschen also „gut" sein. So meint Sendling ist das Böse und das Gute möglich: solange bei dieser creatio e natura in Deum Gott durch die Natur in Gott bei seiner Gottwerdung gehemmt ist, der Mensch diese Gottwerdung Gottes widerspenstig („böse") aufhalten oder zuträglich („gut") befördern kann, ist-meint Schelling- Gutes und Böses möglich. Schluß der Passage. -

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II.

Beitrag zur Interpretation

Für mich ist ich wiederhole es diese Textpassage vor allem deswegen interessant und wichtig, weil dort Schelling das Theodizeeproblem aufnimmt und seinen spezifischen Lösungsansatz exponiert. Ich möchte zum Zwecke seiner Interpretation diesen Lösungsansatz einordnen in eine grob -

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schematische Sequenz der philosopischen Lösungsversuche der Theodizee, die alle das ist meine Grundthese (angesichts der am klarsten in De ira Dei von Laktanz in seinem Epikurreferat aufgelisteten Theodizeeschwierigkeiten bei der Frage „si Deus, unde malum?") darin bestehen, daß sie Gottes Allmacht entmächtigen, d. h. einschränken, und darum alle eine Allmachtsgrenze Gottes benennen. Ich möchte hier ultrakurz auf folgende drei einschlägige Antwortmöglichkeiten der Theodizee hinweisen. Da ist: a) der antike Ansatz. Die Allmachtsgrenze ist vor Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden veruneigentlicht: sie gehören nicht zur eigentlichen Wirklichkeit. Es gibt die Übel, das Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, das Leiden, das Böse zuzulassen; er hat nämlich vgl. Piatons Timaios und Plotins „peri tou kakou" nicht aus Nichts geschaffen, sondern aus Materie: daß die Materie vorgegeben ist, ist als Grenze seiner Allmacht das Alibi Gottes. Ohne Gott wäre nur das Chaos; durch Gott kommt es zur bestmöglichen Ordnung, die die Übel (das -

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Odo Marquard

Böse) mindert. Dadurch ist Gott gerechtfertigt: stung ist, „to make the best of it". Da ist:

seine Lei-

der christliche Ansatz. Die Allmachtsgrenze ist neben Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden moralisiert: sie kommen durch menschliche Schuld und als Strafe von der Sünde. Es gibt die Übel, die Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, die Leiden, das Böse zuzulassen. Seiner Erlösung vgl. Markion und seiner Schöpfung vgl. Augustinus tritt nämlich ein Gegengott entgegen: der böse Schöpfergott oder der wie Gott sein wollende frei sündigende Mensch. Gegengott und menschliche Freiheit sind als Funktionsnachfolger der antiken Materie die Allmachtsgrenze Gottes: das Alibi Gottes. Zugleich beantwortet Gott die sündenbedingte Korruption der Schöpfung mit der Erlösung durch Christus. Dadurch ist Gott gerechtfertigt: seine Leistung ist, „to make the best of it". Da ist: c) der neuzeitliche ausdrückliche Theodizeeansatz. Die Allmachtsgrenze ist/w Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden instrumentalisiert: sie die modern nicht mehr veraneigentlicht und nicht mehr umfassend moralisiert werden können, denn es gibt neben dem „malum morale" (darauf nicht rückführbar) das „malum physicum" (das Leiden) und das „malum metaphysicum" (die Endlichkeit) werden Mittel zum Zweck der bestmöglichen Schöpfung (Leibniz) und der „Gottheit Gottes" (Schelling). Es gibt die Übel, die Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, die Leiden, das Böse zuzulassen, und zwar wegen einer Allmachtsgrenze in Gott selber. Die Vernunft des göttlichen Verantwortungsschöpfers muß durch eine grenznut-

b)

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Optimierungskalkulation beim Schaffen die Sachzwänge der Kompossibilitäten respektieren (Leibniz). Und in Schellings Freiheitsschrift ist es so: Gott selbst („Exi-

zenbewußte

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stenz") hat es mit dem „Grund" in Gott, der Natur in Gott so schwer, daß durch dieses Schwerhaben Gott die Möglichkeit

des Bösen eröffnen muß. Anders und quasi psychoanalytisch gesagt: Gottes Ich hat es mit Gottes Es („Grand in Gott") so schwer, daß er die korrumpierbare Welt und den Menschen mit seiner Freiheit zum Bösen und Guten braucht, um mit

Grund und Existenz in Gott

sich selber fertig, d. h. Gott zu werden. Das Alibi Gottes ist jetzt die Grenze seiner Allmacht in ihm selber: seine Vernunft oder sein Es. Dadurch ist Gott gerechtfertig: seine Leistung ist, „to make the best of it". Alle drei Lösungsmodelle verbindet die Einschränkung der Allmacht Gottes: wegen dieser Allmachtsschranke der Materie, der Allmachtsschranke in Gott selbst ist Gottes Allmacht ohnmächtig und darum nicht zum malum-frei Guten, sondern nur zum Bestmöglichen befähigt. Dabei gehört der Lösungsversuch von Sendlings Freiheitsschrift die Natur in Gott ist jene Allmachtsgrenze in Gott, die Gott eine Gottwerdung auferlegt und durch die vorläufige Ohnmachtslage eines Gottes, der noch nicht ganz Gott geworden ist, das Böse möglich macht zum dritten Ansatz: zur These von der Allmachtsschranke in Gott selber als deren möglicherweise konsequenteste Form. Dabei hängt am Gelingen dieser Schelling-Form der Theodizee nicht wenig; denn sie ist die vielleicht einzig aussichtsreiche Möglichkeit, den dominierenden Trend der Theodizee in der Neuzeit zu vermeiden: die Theodizee durch den Atheismus einer extrem autonomistischen Position. Deren Frage ist radikal: warum wenn doch die Übel, die Leiden, das Böse unvermeidlich sind -, warum hat dann Gott das Schaffen nicht bleibenlassen? Die autonomistische Antwort ist: Gott ,hat' das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott hat die Welt geschaffen, sondern der Mensch, zumindest als Kulturwelt. Gottes Allmacht wird so sehr eingeschränkt, daß der Ohnmachtsgrenzfall seiner Nichtexistenz eintritt; denn, wie Stendhal sagte: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt." Der Autonomismus ist durch Belastung des Menschen mit dem Pensum der Schöpfung und Erlösung (von Kant über Fichte und Marx bis Nietzsche) ein Atheismus ad maiorem Dei gloriam' durch den Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz mit dem Resultat: Theodizee gelungen, Gott tot. Dahin wollte der spätere Sendling gerade nicht: darum hat er in der Freiheitsschrift seinen Versuch unternommen einer Theodizee durch Annahme einer „Natur in Gott", die wir hier interpretieren. „So dacht' ich, nächstens mehr." -

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_4 Jörgjantzen

Die Möglichkeit des Guten und des Bösen (350-364) „Die Abhandlung über das Wesen der Freiheit leidet an dem Grundübel aller wissenschaftlichen Arbeiten Schellings, an der Formlosigkeit."1 Der erste Blick auf die Freiheitsschrift bestätigt die harsche Kritik. Sendling trägt seinen Gedanken vor, ohne ihn zu gliedern und einzuteilen,2 er läßt ihn vielmehr den Lauf einer Erzählung nehmen, die ihre Handlung ohne Unterbrechung verfolgt und wo „alles wie gesprächsweise entsteht"3. Die Freiheitsschrift ist m. a. W. nicht „wissenschaftlich". Aber dennoch besitzt sie in Schellings eigener Einschätzung eine zentrale Bedeutung; denn sie setzt das Unternehmen fort, das mit der Darstellung von 1801 begonnen, aber nicht durchgeführt worden war. Sie vollendet in gewisser Weise das Identitätssystem: „die gegenwärtige Abhandlung [ist] das Erste, worin der Verfasser seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlegt."4 Aber zugleich führt sie auch einen anderen, nämlich den 1804 mit Philosophie und Religion gemachten Anfang fort, von dem Schelling 1809 sagt, er sei „durch Schuld der Darstellung undeudich" geblieben (334). 1 E. O. Burmann, Die Transcendentalphilosopbie Fichtes und Schellings, Upsala 1891, 322. Vgl. auch K. Rosenkranz, Schelling, Danzig 1843, 307, der „den Mangel an logischer Schärfe" rügt. 2 Siehe unten Anm. 19. 3 410 Anm. Eine in gewisser Weise ähnliche Form gelingt Schelling zuvor mit Uber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur von 1807. 4 334; vgl. 350; S. auch den Briefan Windischmann vom 9. 5.1809 (Plitt II 156 ff.). Die Freiheitsschrift als Teil des Identitätssysteins betont A. White, Schelling. An Introduction to the System of Freedom, New Haven/London 1983, 107.

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Möglicherweise will Schelling in

dem kurzen Vorbericht Freiheitsschrift eine Kontinuität seines Denkens seit 1801 festhalten;5 aber der Hinweis auf den einen abgebrochenen Versuch, ein System darzustellen, und auf den anderen „undeutlich gebliebenen" Anfang läßt eher mit Schellings Ausdruck an „zwei Anfänge" (408) denken, die die Freiheitsschrift entfaltet und um die sie jedenfalls kreist. Schelling findet nach 1800 keine befriedigende Antwort auf seine früh, z. B. in Vom Ich als Princip der Philosophie, formulierte Grundfrage, wie das Absolute dazu gekommen ist, aus sich herauszugehen. „Die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniß zu ihm" kann, um die Formulierung von 1804 zu nehmen,6 zweifach konzipiert werden: Zum einen, indem die endlichen Dinge identitätstheoretisch im Absoluten gedacht werden also nicht eigentlich als faktisch endlich, existierend bzw. wirklich. Zum anderen, indem die endlichen Dinge tatsächlich aus dem Absoluten entfernt werden, die Endlichkeit also wirklich ist, aber eben so das Absolute in Frage stellt. 1804 muß Schelling in Philosophie und Rezur

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ligion uneingestanden gnostische Mythologeme bemühen, um die Faktizität des Endlichen als Folge eines prähistorischen „Abfalls" zu beschreiben.7 Das Problem des Ubergangs von Möglichkeit zu Wirklichkeit, von Logik zu Faktizität usw. bleibt ungelöst; aber immerhin hat sich, wie Schelling -

in einem späteren Rückblick bemerkt, ein „Raum für die Philosophie, welche sich auf Existenz bezieht"8, eröffnet. Freilich bestehen philosophische Probleme nicht zuletzt in -

der Problematik ihres Ausdrucks. Josef König hat hierin das Spezifische und Eigentümliche des Philosophierens gesehen: „Es liegt darin, daß der Ausdruck des Gedankens selber und unmittelbar wieder ein sachliches Problem in Sicht bringt, das in keine Einzelwisssenschaft und auch nicht in eine be5 So K. Fischer, Schellings Lehen, Werke und Lehre, Heidelberg '1902, 633. 6 Philosophie und Religion, SW VI 28. zur 7 Vgl. Vf., Eschenmayer und Schelling. Die Philosophie in ihrem Nichtphilosophie, in: W. Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und spekulative Theologie, Hamburg 1994, 74-97. 8 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchner Vorlesungen, Darmstadt 1975, 110.

Übergang

Die Mögeichkf.it des Guten

und des

Bösen

sondere Disziplin der Philosophie selber verwiesen werden Der gerade Blick auf die Sache ist gleichsam in sich kann gespalten und geht nun teils zwar auf diese, teils aber auch und zugleich auf den Ausdruck oder den Logos der Sache, und er richtet sich auf jene in philosophisch relevanter Weise nur, insofern er sich auch auf diesen richtet."9 Es scheint, als meine Schelling, mit der Freiheitsschrift einen angemessenen Ausdruck gefunden zu haben.10 In seinem Vorbericht spricht er von der freien kunstreichen Ausbildung eines Gegenstands, die eine vollkommene Herrschaft über ihn möglich mache;" und eine solche freie, aber doch auch kunstreiche, also in gewisser Weise Freiheit und Notwendigkeitverbindende Ausbildung will offenbar die Freiheitsschrift sein. Sie hat in der Tat keine wissenschaftliche' Form. Sie ist nicht spinozistisch-deduktiv wie die Darstellung, nicht platonisch-dialektisch wie der Bruno, flüchtet nicht in die gekünstelte aphorisdsche Form der Jahre 1805 bis 1807. Sie verliert sich nicht in Polemik,12 und sie versucht auch nicht den ,großen' Ton, mit dem Philosophie und Religion unter dem Titel Idee des Absoluten beginnt. Die Freiheitsschrift geht ruhiger, reflektierter, distanzierter vor. Sie nähert sich ihrem Gegenstand dem Wesen der menschlichen Freiheit indirekt, indem sie das Problem der Freiheit als Problem seiner Dar...

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9 J. König, Das spezifische Können der Philosophie als ey legein, in: Vorträge und Aufsätze, hg. von G. Patzig, Freiburg-München 1978, 20. Das Problem der Darstellung bzw. der spezifischen Form der philosophischen Rede markiert Sendlings Denken von Beginn an (vgl. Ueber Mythen, historische Sagen und Philosoph eme der ältesten Welt von 1793, AAI, 1). 10 Vgl. 410 Anm.: „Den Gang, den er in gegenwärtiger, Abhandlung genommen, wo, wenn auch die äußere Form des Gesprächs fehlt doch alles wie gesprächweise entsteht, wird er auch künftig beibehalten. Manches konnte hier schärfer bestimmt und weniger lässig gehalten, manches vor Mißdeutung

ausdrücklicher verwahrt werden." 11 „Wenn vollkommene Herrschaft über seinen Gegenstand die freie kunstreiche Ausbildung desselben möglich macht, so können doch die künstlichen Schraubengänge der Polemik nicht die Form der Philosophie seyn" (335). Was grammatikalisch mit „seinen" gemeint ist, ist auch im Blick auf den Kontext nicht zu erkennen. Der Ausdruck „freie kunstfreie Ausbildung" kann wohl auf Piaton anspielen. 12 Vgl. z. B. Darlegung des-wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 1806.

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Stellung im System der Vernunft zur Sprache bringt". In Frage steht, ob die spinozistische Annahme der Existenz der Dinge, d. h. ihrer Immanenz in Gott als solche schon Freiheit im System negiert. Schelling verneint die Frage und nimmt also Partei für Spinoza. Immanenz bedeutet zwar Identität, aber diese muß weder als Einerleiheit der Dinge mit Gott noch als ihr Verschwinden vor Gott aufgefaßt werden;14 sie bedeutet vielmehr das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil, das wiederum das Verhältnis von Grund (antecedens) und Folge (consequens) darstellt." Unter der Voraussetzung, daß dies Verhältnis so ursprünglich ist wie das der Identität, kann Schelling die Folge der Dinge aus Gott als „Selbstoffenbarung Gottes" deuten (346 f.). Und da dasjenige, worin und wodurch Gott sich (für sich selbst) offenbart, so sein muß, wie er ist: frei und tätig (347),16 gewinnt Schelling nun auch den eigentlichen Ansatz zu einer Kritik an Spinoza:

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„Einer alten, jedoch keineswegs verklungenen Sage zufolge soll

zwar jeBegriff der Freiheit mit dem System überhaupt unverträglich seyn, und jede auf Einheit und Ganzheit Anspruch machende Philosophie auf Leug-

ner

nung der Freiheit hinauslaufen" (336). 14 340-345; vgl. D. Korsch, Der Grund der Freiheit, München 1980,128 f.; zu der Passage ferner J. Bracken: Freiheit und Kausalität bei Schelling, Freiburg-München 1972, 39: „Schelling versucht, zwei an sich verschiedene Probleme gleichzeitig zu lösen: nämlich das Problem des Pantheismus oder der Immanenz der Dinge in Gott und das Problem der menschlichen Freiheit bzw. der selbständigen Tätigkeit des Menschen." 15 Schelling beruft sich gegen Reinhold-auf Leibniz, Defensio Trinitatis Responsio ad objectiones Wisscnvani, in: Opera omnia. hg. von L. Dutens, 6 Bde., Genf 1768, Bd. 1, 10-16; S. 11 formuliert Leibniz universale bzw. singulare Aussagen um: (a) omnis homo est albus omnis, qui est homo, est albus; (b) Petrus Apostolus fuit primus Episcopus romanus Omnis qui est Petrus Apostolus fuit Episcopus Romanus. In der von Lessing aufgenommenen Kontroverse leugnet Wissowatius als Sozinianer die Trinität, aber damit gleichsam auch die Möglichkeit der Schöpfung. 16 Schelling nimmt damit einen übrigens im Bruno vorbereiteten Gedanken aus Philosophie und Religion auf; im Blick auf Piatons Timaios, in dem es 29e heißt, daß das Werk des Demiurgen Ähnlichkeit beabsichtigt, hält Schelling als Bedingung der Möglichkeit des „Abfalls" fest, daß das „Gegenbild" (also das Geschaffene) des Absoluten mit dessen Wesen auch dessen Selbständigkeit, also Freiheit besitzt (SW VI 39 f.); vgl. auch G. Vergauwen, Absolute und endliche Freiheit. Schellings Lehre von Schöpfung und Fall, F'reiburg (Schweiz) 1975, 113. -

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Die Möglichkeit

des

Guten und des Bösen

„Der Fehler seines Systems liegt keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin daß es Dinge sind in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz selber, die ihm eben auch ein Ding ist.... Er behandelt auch den Willen als eine Sache und beweist dann sehr natürlich, daß er in jedem Fall des Wirkens durch eine andere u. s. f. ins Unendliche" (349). Sache bestimmt sein müsse Das ist deterministisch, aber nicht pantheistisch gedacht leblos und mechanisch, aber nicht dynamisch und beseelt. heißt es emphatisch am Ende der „Wollen ist Urseyn Einleitung.'7 Der Wille ist gleichsam das Mittlere zwischen Substanz und Subjekt, und insofern freilich auch das erste Wirkliche: Urseyn, das sich bloß ontologischer, aber auch bloß transzendentaler Denkweise entzieht und übrigens unmittelbar als Gefühl wirksam ist. Schelling erinnert ausdrücklich an seinen eigenen Entwurf von Philosophie, der (spinozistischen) Realismus und (fichteschen) Idealismus in eine „Wechseldurchdringung" bringen wollte (3 50).18 Er erinnert m. a. W. an eine Darstellung, die als Reflexion über Spinoza das Freiheitsproblem allererst formuliert, u. z. indem sie nicht mehr nach dem Ort der Freiheit im System fragt, sondern indem sie Freiheit als „Urseyn" dem System -

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voransetzt. zu diesem Punkt ist die Philosophie zu unsrer Zeit den Idealismus gekommen", so fährt Schelling fort und durch

„Bis

17 Zur Ursprünglichkeit des Willens vgl. Plotin, Enneaden VI 8, ix, xiii. 18 Etwa gleichzeitig mit seiner Bekanntschaft mit Fichte und Spinoza 1794 (vgl. W. G.Jacobs, in Schelling-AA 1,1 250-254) denkt Schellingdas Problem im Blick auf Piatons Timaios, d. h. im Blick auf die beiden dort konzipierten „Anfänge" (vgl. 48 a-b); und es ist sicher kein Zufall, daß Schelling sich 1804 und 1809 wieder dem Timaios zuwendet (vgl. H. Krings, Genesis und Materie, in: F. W. J. Schelling, Timaeus (1794), hg. von H. Buchner, Stuttgart 1994, 145-151). Die Thematisierung des Willens, die ganz besonders in der Allgemeinen Übersiebt von 1796 faßbar ist, folgt einer anderen, nicht mehr platonischen, sondern eher an Augustinus und Pelagius orientierten und dann natürlich mit Kant und Reinhold bezeichneten Tradirionslinie (vgl. AA1,4, hg. von W. Schieche, 121 ff., 159 ff. mit Anm. z. St.). Die Allgemeine Übersicht wird von Schelling 1809 wohl nicht zufällig mit in Philosophische Schriften aufgenommen (unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissen-

schaftslehre).

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beginnt zugleich einen neuen Abschnitt," mit dem die Exposition in die argumentative Darlegung übergeführt wird. Die Passage (350-364) hat die Funktion eines Scharniers; sie beschließt die Einleitung im engeren Sinn und eröffnet mit der „Unterscheidung zwischen dem Wesen, sofern es existirt, ...

und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist", den Hauptteil der Untersuchungen. Die Passage läßt sich weiter in zwei fast gleich lange Abschnitte gliedern: (I) 350-357, (II) 357-364.

I. Kritik an den Systemen der Philosophie

(350-357)

E Idealismus

(350-352)

Sendling vindiziert den Satz „Wollen ist Urseyn"20 dem Idealismus als dem System der Freiheit: „wir [verdanken] ihm den

vollkommenen Begriff der formellen Freiheit" (351). Eine kurze Paraphrase aus Schellings Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) mag dies verdeutlichen: Das empirische ersten

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19 Die hier zugrundeliegende Gliederung (1) 336-350, 2) 350-364, 3) 364-382, 4) 382-394, 5) 394-403, 6) 403^116] weicht vor allem mit der Einteilung der ersten Abschnitte von den sonst gegebenen Gliederungen ab; vgl.

M.

Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung Sendling..., Frankfurt/M. 1991, S. 8 f. [= GAU. Abt., Bd. 49, vgl. auch die Ausgabe: SchellingsAbhandlung Uber das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. von E. Feick, Tübingen 1971]: Einleitung: 336-357, Hauptuntersuchung: 1) 357-373: Die innere Möglichkeit des Bösen, 2) 373-382: Die allgemeine Wirklichkeit des Bösen als Möglichkeit des vereinzelten Bösen, 3) 382-389: Der Vorgang der Vereinzelung des wirklichen Bösen, 4) 389- 394: Die Gestalt des im Menschen erscheinenden Bösen, 5) 394-399: Die Rechtfertigung der Gottheit des Gottes angesichts des Bösen, 6) 399^106: Das Böse im Ganzen des Systems, 7) 406—115: Die höchste Einheit des Seienden im Ganzen und die menschliche Freiheit, Schlußbemerkung: 415^116; ähnlich die Gliederungen von r. Sanne, Sündenfall und Erbsünde in der Spekulativen Theologie, Frankfurt/M.-Bern 1976, 101; A. White, Sckelling. An Introduction to the System of von

Freedom, New Haven/London 1983,106 ff.; J. Bracken, Freiheit und Kausalität bei Schelling, Freiburg/München 1972, 36. 20 Vgl. damit das späte Anthropologische Schema (SW X 287 ff.: „I. Wille-die eigentliche geistige Substanz des Menschen, der Grund von allem, das ursprünglich Stoff-Erzeugende, das Fjnzige im Menschen, das Ursache von

Seyn ist."

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neswegs nur von historischem Interesse, sondern üben auch auf die ethische Debatte der

Gegenwart entscheidenden Einfluß aus. Die 13 Beiträge dieses Bandes legen dieGrundOllnnl II-.(fr

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