Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess [1 ed.] 9783428584390, 9783428184392

Die Abhandlung untersucht die Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen von Prozessbeteiligten in der Hauptverhandlung

137 67 3MB

German Pages 306 [307] Year 2022

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Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess [1 ed.]
 9783428584390, 9783428184392

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 301

Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess Von

Helge A. Wiechmann

Duncker & Humblot · Berlin

HELGE A. WIECHMANN

Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 301

Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess Von

Helge A. Wiechmann

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Brian Valerius, Bayreuth Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-18439-2 (Print) ISBN 978-3-428-58439-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Abhandlung wurde im Sommersemester 2020 von der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen und widmet sich mit den „Nonverbalen Verhaltensweisen“ einem für den Strafprozess stets aktuellen Phänomen, welches bisweilen weder in Judikatur noch Schrifttum hinreichende Beachtung erfahren hat, respektive im Schatten der Polygraphen-Diskussion verborgen blieb. So war es mir ein Anliegen, die Frage nach der Verwertbarkeit jener „unwillkürlichen Reaktionen“ im Gerichtsaal aus einem interdisziplinären Ansatz heraus näher zu beleuchten und zugleich praxistaugliche Lösungen anzubieten. Für die Druckfassung der Abhandlung konnten Rechtsprechung und Literatur bis zum Abgabezeitpunkt im September 2020 berücksichtigt werden. Herzlicher Dank gilt in allererster Linie und besonderem Maße meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Brian Valerius. Er war es, der mich schon während meines Studiums für das Strafrecht zu begeistern wusste und schließlich die Entstehung dieser Abhandlung mit intensiver Betreuung und klugem Rat förderte. Sein dogmatisch-methodischer Scharfsinn wird mir für mein weiteres wissenschaftliches Wirken in lebhafter Erinnerung bleiben. Herrn Professor Dr. Heinrich Amadeus Wolff möchte ich für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes sowie Herrn Professor Dr. Andreas Hoyer und Herrn Professor Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme meiner Dissertation in die vorliegende Schriftenreihe ebenso meinen Dank aussprechen. Dank schulde ich überdies Frau Professor Dr. Nina Nestler nicht nur für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch für das stets angenehme Arbeitsumfeld an ihrem Lehrstuhl, welches mir – befördert durch ihre kritischen Anregungen – ein wissenschaftliches Arbeiten unter besten Bedingungen ermöglichte. An dieser Stelle sei auch meiner Kollegin Frau Theresa Bächer sowie meinen Kollegen, den Herren Adrian Schiffner, Albert Kochs, Philipp Prochota und Dr. Stefan Lehner, besonderer Dank ausgesprochen. Ebenso danke ich Herrn Dr. Till Trouvain, LL.M. (Chicago), der als mein Büronachbar die Anfangsphase meiner Dissertation durch wertvollen Rat zu unterstützen wusste, sowie den Herren Simon Tebbe und Frederik Wild, die ich mit den Korrekturarbeiten behelligen durfte. Zudem möchte ich Herrn Dr. Christopher Schletter, LL.M. (Berkeley) sowie Herrn Dr. Philipp Waltke, LL.M. (Cape Town) und im Besonderen auch Herrn Sebastian Fromme danken, die mich, als meine guten Freunde, schon seit den frühen Semestern meines Studiums begleiten.

6

Vorwort

Schließlich möchte ich meiner Familie, namentlich meinen Eltern Jutta und Günter Wiechmann, meinem Bruder Arne Wiechmann sowie meiner lieben Freundin Jule Beck für ihre immerwährende Unterstützung meinen ganz herzlichen Dank aussprechen. Ihnen sei diese Abhandlung gewidmet. Bayreuth, im Sommer 2021

Helge A. Wiechmann

Inhaltsübersicht Einleitende Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Erstes Kapitel Nonverbale Verhaltensweisen

23

A. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 B. Zur Funktion und materiellen Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen im Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zweites Kapitel Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

38

A. Zur Beweisbedürftigkeit nonverbaler Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 B. Nonverbale Verhaltensweisen in der Dichotomie von (subjektivem) Personal- und Sachbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Drittes Kapitel Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

107

A. Die Justizförmigkeit des Verfahrens als Schranke für „ungewöhnliche“ Beweiserhebungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 B. Die Schranke des § 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 C. Das Gebot förmlicher Beweiserhebung und formale Erhebungsschranken für Experiment-Konstellationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ und seine Ausprägungen in §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO und der Mitwirkungsfreiheit . . . . . . . . 142 E. Die Vorschriften der §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 F. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 G. Das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . 220

8

Inhaltsübersicht Viertes Kapitel Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

225

A. Nonverbale Verhaltensweisen als Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 B. Aspekte im Rahmen der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Fünftes Kapitel Schlussbemerkung

283

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Inhaltsverzeichnis Einleitende Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Erstes Kapitel Nonverbale Verhaltensweisen

23

A. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Von verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Zu sogenannten „Micro-facial-expressions“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Zur Funktion und materiellen Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen im Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Funktional theoretische Betrachtung im Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . 28 III. Materielle Bedeutung und Kontrollierbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen . . . . 30 1. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Blickverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 5. Körperhaltung, -orientierung & Distanzverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 6. Nonverbale vokale Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Zweites Kapitel Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

38

A. Zur Beweisbedürftigkeit nonverbaler Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Vom Gebote einer förmlichen Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Nonverbale Verhaltensweisen als Tatsachen mit Auswirkung auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Nonverbale Verhaltensweisen bei förmlicher Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . 42

10

Inhaltsverzeichnis IV. Nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme . . . . . . 43 1. Regelfall: Zufälliges Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . 43 a) Unzulässigkeit wegen Offenkundigkeit nach § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 StPO 44 b) Förmliche Beweiserhebung als Unmittelbarkeits- und Informationsverlust 46 c) Nonverbale Verhaltensweisen als „unaufgesuchte“ Wahrnehmungen . . . . . . 48 2. Sonderfall: Experiment-Konstellationen zur Provokation nonverbaler Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 V. Nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung . . . . . . . 51 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

B. Nonverbale Verhaltensweisen in der Dichotomie von (subjektivem) Personal- und Sachbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Von der Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens . . . . . . . . 54 1. Zur materiell-rechtlichen Zuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Von der Harmonie materiell-rechtlich zugewiesener und formal zu verwendender Beweisinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Nonverbale Verhaltensweisen als Gegenstand des subjektiven Personalbeweises

56

1. Institut des Zeugenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Zum Regelungsgehalt des Instituts des Zeugenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 bb) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 cc) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 dd) Objektiv-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Institut des Zeugenbeweises 67 aa) „Nonverbalität“ als Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 bb) Von „Aussagesurrogaten“ und „Ausdruckserscheinungen“ . . . . . . . . . . 68 cc) Anwendbarkeit trotz partiell „fehlender Gewillkürtheit“ . . . . . . . . . . . . 73 dd) Ein kommunikationswissenschaftlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 ee) Wissenszugriff als Zuweisungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 ff) Die tatgerichtliche Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen als Wissenszugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (1) Von Deutungsoptionen und Zuweisungsproblemen . . . . . . . . . . . . . 80 (2) Vom unmittelbaren und mittelbaren Wissenszugriff . . . . . . . . . . . . . 82 gg) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Institut der Angeklagtenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Institut des Sachverständigenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Regelungsgehalt des Sachverständigenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 aa) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 bb) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 cc) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 dd) Objektiv-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Inhaltsverzeichnis

11

b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Sachverständigenbeweis . . . 87 aa) Ausgangspunkt: Sachkundemangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 bb) Eine Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (1) „Alltagsübliche“ nonverbale Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (2) Von „Mikroexpressionen“ und „Lügensymptomen“ . . . . . . . . . . . . . 89 (3) Medizinische Indikation (Schuldfähigkeitsbegutachtung) . . . . . . . . 90 cc) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Nonverbale Verhaltensweisen als Gegenstand des Sachbeweises . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Institut des Augenscheinsbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Auslegung des Instituts des Augenscheinsbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 aa) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 cc) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 dd) Objektiv-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Vom Vorrang sensueller Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Ansatz der Negativzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 cc) „Hervortretensoffenheit“ und „Interpretationsklarheit“ . . . . . . . . . . . . . . 98 dd) Von der Fehlinterpretation des Kriteriums „fehlender Aufgesuchtheit“ 100 ee) Rückgriff auf die konzeptionelle Idee des Zugriffsgegenstandes . . . . . . 102 ff) Die Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen als Zustandszugriff

103

gg) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Institut des Urkundenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Drittes Kapitel Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

107

A. Die Justizförmigkeit des Verfahrens als Schranke für „ungewöhnliche“ Beweiserhebungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I. Ausgangspunkt: §§ 244 Abs. 2, 261 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. „Ungewöhnliches“ als notwendigerweise „Justiz(un)förmiges“? . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 B. Die Schranke des § 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Beschränkung auf Beweiserhebungen zur Erlangung von „Aussagen“ oder „Aussagesurrogaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Zur Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen vor dem Hintergrund des § 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

12

Inhaltsverzeichnis III. Von sogenannten Experiment-Konstellationen als verbotene Maßnahmen nach § 136a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „körperlicher Eingriff“ nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „Täuschung“ nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Abgrenzung: Täuschung und kriminalistische List . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit . . . . 120 aa) Kausale Beeinträchtigung durch Provokationsverhalten . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Die Schwere der Beeinträchtigung als normatives Abgrenzungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) Unvermeidbarer Zugriff als „Täuschungsaliud“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „Zwang“ nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Provokationsakte als Offenbarungs- und Aussagezwang . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Von der Rechtfertigung jenes Zwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Die Vorschriften der §§ 81a, 81c StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 bb) Die Vorschrift des § 238 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 cc) Die Institute der Vernehmung als Rechtsgrundlage – §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . 132 (1) Experiment-Konstellationen als „Vernehmung“? . . . . . . . . . . . . . . . 132 (2) Grenzen des „Vernehmens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (a) Das Gebot förmlicher Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (b) Vernehmung „versus“ technische Experimente . . . . . . . . . . . . . . 134 (aa) Polygraphen, Wahrheitsdrogen, Gedankensensoren oder ähnliche Wissenszugriffsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (bb) Wissenszugriff durch einen beobachtenden Sachverständigen 136 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

C. Das Gebot förmlicher Beweiserhebung und formale Erhebungsschranken für Experiment-Konstellationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Institut der Angeklagten- und Zeugenvernehmung – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 & § 52 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Institut des Augenscheinsbeweises – Mitwirkungsfreiheit des Angeklagten & § 81c Abs. 3 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Institut des Sachverständigenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Inhaltsverzeichnis

13

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ und seine Ausprägungen in §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO und der Mitwirkungsfreiheit . . . . . . . . 142 I. Von der Genese, den Rechtsgrundlagen und der Rechtsnatur des nemo teneturGrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Erste Ansätze im talmudischen und kanonischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Die Entwicklung in Deutschland zum Verfassungsgewohnheitsrecht . . . . . . . . 145 3. Zur positiv-rechtlichen Neuverortung des nemo tenetur-Grundsatzes . . . . . . . . 148 a) Ableitung aus Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Ableitung aus den Rechtssätzen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 aa) Der nemo tenetur-Grundsatz als Ausfluss der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (1) Von naturrechtlichen Ansätzen und Zumutbarkeitserwägungen . . . . 153 (2) Vom Zwang zur Selbstbelastung als unzulässige Objektivierung subjektiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Von der Abwägungsfestigkeit des nemo tenetur-Grundsatzes als Konsequenz jener Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 cc) Zur (notwendigen) Subsidiarität weiterer Verortungsansätze . . . . . . . . . 159 (1) Ausgangspunkt: Konkurrenzverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (2) Plädoyer für eine rechtsklare Konturierung des nemo teneturGrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (3) Verortungsklarheit als Garant der Abwägungsfestigkeit . . . . . . . . . . 162 II. Nonverbale Verhaltensweisen und das tenetur-Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 III. Nonverbale Verhaltensweisen und das se ipsum accusare-Element . . . . . . . . . . . . 164 1. Ausprägung: Aussagefreiheit – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO 165 a) Nonverbale Verhaltensweisen innerhalb der Dichotomie von „Aussage“ und „Schweigen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Zur Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen bei Ausübung des Schweigerechts – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO . . . . . . . . . 171 aa) Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. 06. 1993 – 5 StR 350/93 . . . . . . 171 bb) Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20. 11. 2019 – 2 StR 467/19 . . . . . . 173 cc) Überleitung zu den Ansätzen des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 dd) Die Aussagefreiheit als Freiheit zur bewussten Aussage . . . . . . . . . . . . 180 ee) „Beredetes“ Schweigen durch nonverbale Verhaltensweisen? – zugleich eine Einordnung in die Kategorien von vollständigem und teilweisem Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Ausprägung: Mitwirkungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 a) Nonverbale Selbstbelastungen unter dem Aktivitäts/Passivitäts-Dogma . . . . 183 b) Wissens- und Zustandszugriff als solche im Wege von „vis absoluta“ . . . . . 186 c) Die Offenbarung unbewusster und physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen als vertretbare Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 d) Von der fehlenden Handlungsqualität jener Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . 189

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Inhaltsverzeichnis e) Von der dogmatischen Unbeachtlichkeit des Zugriffsgegenstandes . . . . . . . 190 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

E. Die Vorschriften der §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Schutzgehalt und verfassungsrechtliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 II. Rechtswirkungen der Zeugnisverweigerung nach § 52 StPO bei Ausübung . . . . . 197 1. Nonverbale Verhaltensweisen und der „Zwang zur Aussage“ . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Verwertungsverbot betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Ein „Gleichlauf“ bei Experiment-Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 III. Rechtswirkungen der Untersuchungsverweigerung nach §§ 81c Abs. 3 Satz 1, 52 StPO bei Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 F. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Die gerichtliche Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen als Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Die Durchführung von Experiment-Konstellationen als klassischer Eingriff . . 206 2. Die Beobachtung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen als mittelbar-faktische Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Nonverbale Verhaltensweisen und die Kernbereichszugehörigkeit der vermittelten Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Nonverbale Entäußerungen der Gedanken- und Gefühlswelt als thematische Ausprägung der Intimsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Von der Zuweisung zum räumlichen Rückzugsbereich der Intimsphäre . . . . . . 211 III. Rechtfertigung des „Informationszugriffs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Rechtsgrundlage für die Erhebung nonverbaler Verhaltensweisen in Experiment-Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Rechtsgrundlage für die Erhebung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen im Einzelfall vor dem Hintergrund des Übermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 G. Das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . 220 I. Ausgangspunkt: Subjektiv-öffentliches Recht des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . 220 II. Experiment-Konstellationen beim Angeklagten als Verstoß gegen das „Instrumentalisierungsverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. „Selbstbelastungsfreiheit“ und „Instrumentalisierungsverbot“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Die vermeintlich „extensive Lösung“ des EGMR und Experiment-Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 III. Die Schranken-Schranke der „Gesamtfairness“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Inhaltsverzeichnis

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IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Viertes Kapitel Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

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A. Nonverbale Verhaltensweisen als Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 I. Ausgangspunkt: Inbegriff der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Der Inbegriff als Ausdruck systemleitender Prozessgrundsätze . . . . . . . . . . . . . 228 2. Die Vorschrift des § 261 StPO – partiell auch eine Regelung der Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3. Zur Reichweitenbestimmung des Inbegriffsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 II. Die Inbegriffszugehörigkeit nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Nonverbale Verhaltensweisen bei förmlicher Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . 234 a) Zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Nonverbale Verhaltensweisen in Experiment-Konstellationen . . . . . . . . . . . 235 2. Nonverbale Verhaltensweisen am Rande förmlicher Beweisaufnahme . . . . . . . 236 a) Ausgangslage: „Fokus-Problematik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Rechtsverkürzung durch unmittelbare Wahrnehmungsmöglichkeiten . . . . . . 237 c) Abhilfe durch Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung . . . . . 242 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 B. Aspekte im Rahmen der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 I. Ausgangspunkt: Die Freiheit tatrichterlicher Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . . 246 1. Die Würdigung nonverbaler Verhaltensweisen als ein partiell intuitiver Vorgang 247 2. Zur Würdigungspflicht nonverbaler Verhaltensweisen als Konsequenz der Unmittelbarkeitsmaxime und des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Zum Gebote der Gewährleistung tatgerichtlicher Wahrnehmungsmöglichkeit 252 4. Die materielle Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen in der tatgerichtlichen Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 a) Zur „(Nicht-)Antizipierbarkeit“ tatrichterlicher Schlussziehung . . . . . . . . . . 255 b) Zwischenergebnis: Die materielle Bedeutung als Frage des Einzelfalles . . . 255 II. Die Grenzen der Freiheit tatrichterlicher Überzeugungsbildung speziell bei nonverbalen Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Die Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen als Ausgangspunkt für Plausibilitätsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 a) Das spezifische Problem der Deutungsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Das „Restriktivitätsgebot“ der Judikatur und das Kriterium einer „nur möglichen Schlussziehung“ aus nonverbalen Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . 257

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Inhaltsverzeichnis c) Anforderungen an die Tatgerichte betreffend nonverbale Verhaltensweisen 259 aa) Darlegungspflicht in den Urteilsgründen betreffend nonverbale Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 bb) Einstellung nonverbaler Indizien in die Gesamtschau . . . . . . . . . . . . . . . 262 cc) Nonverbale Verhaltensweisen und der Grundsatz des „in dubio pro reo“ 263 2. Ausgesuchte „Fehlertypen“ bei der Würdigung nonverbaler Verhaltensweisen als Methodendefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Verstoß gegen Denkgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Verstoß gegen wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze und Naturgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 aa) Der einem wissenschaftlich gesicherten Erfahrungssatz zuwiderlaufende Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 bb) Exkurs: Nonverbale Verhaltensweisen im Bereich der „Glaubhaftigkeitsdiagnostik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 (1) Zur Entstehung der tradierten Korrelationsannahme in der juristischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (2) Die Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Aussagepsychologie . . . 269 (3) Zu den Erkenntnissen neuerer empirischer Untersuchungen . . . . . . 272 (a) Keine zuverlässigen Täuschungsindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . 276 (b) Erhebliche und „beunruhigende“ Disparitäten mit „Laienannahmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 (4) Zu den rechtlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 c) Zu Unrecht angenommene allgemeine Erfahrungssätze („Alltagserfahrung“) 279 aa) Das Problem evident-falscher Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 bb) Das Problem der „Überverallgemeinerung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Fünftes Kapitel Schlussbemerkung

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Abkürzungsverzeichnis Begr. BVerfGG ders. dies. IPBPR

Begründer Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 11. August 1993, BGBl. I S. 1473 derselbe dieselbe Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II S. 1533 öStPO (Österreichische) Strafprozessordnung vom 31. Dezember 1975, BGBl. Nr. 631/1975 prCrimO 1717 Criminalordnung der Chur-Marck Brandenburg 1717 prCrimO 1805 Criminalordnung für die preußischen Staaten 1805 RiStBV Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1. Januar 1977, BAnz. Nr. 245 S. 2

Hinsichtlich aller weiteren Abkürzungen wird verwiesen auf Kirchner, Hildebert (Begr.): Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage, Berlin 2018.

Einleitende Vorrede „Man lügt wohl mit dem Munde, aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit.“ – Friedrich Nietzsche

Ziel des Strafverfahrens ist die prozessordnungsgemäße, Rechtsfrieden bewirkende, materiell richtige Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten.1 Nähme man vorangestelltes Zitat beim Worte – und „Nonverbales“ ist damit sogleich angesprochen –, wäre die richtige Entscheidung vom Tatgericht in vielen Fällen schnell gefunden. Obschon hätte sich lediglich ein Stereotyp enttarnt, denn auch wenn TV-Serien wie „The Mentalist“ und „Lie to me“ betreffend die Lügendetektion Konträres indizieren und zu heuristischem Mitdenken animieren, existieren realiter freilich weder ein gedankenlesendes Medium noch die Nase des Pinocchio, welche einen Lügner zuverlässig zu entlarven geeignet wären. Und doch darf in der Aussage Nietzsches wohl nicht nur Unwahres erblickt werden: Es verkäme als Utopie anzunehmen, dass ein „überraschter Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim Erblicken des vermeintlichen (Raub-)Opfers, ein „auffälliges Stottern“ oder „spontanes Erröten“ des (Alibi-)Zeugen bei einer bestimmten Frage oder ein „kurzes Lachen“ seitens der Ehegattin des Angeklagten im Zuschauerraum bei einem von menschlichen Richtern besetzten Spruchkörper ohne Einfluss verblieben. Zu Recht konstatiert der Bundesgerichtshof, dass „das Mienenspiel oder die Gebärden eines Angeklagten oder Zeugen […] von Bedeutung sein können“,2 denn denknotwendig werden auch nonverbale Reaktionen in die tatgerichtliche Überzeugungsbildung „hineinwirken“ und damit den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch beeinflussen. Was sich zunächst als logische Konsequenz des reformierten Strafprozesses mit seiner mündlichen Hauptverhandlung geriert, offenbart zugleich eine Vielzahl von rechtlichen Problemen, die in Judikatur3 und Schrifttum4 interessanterweise kaum5 1 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3. Vgl. hierzu ferner Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, Einl., Rn. 4; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 3 ff.; Dölling, in: Festschrift für Beulke, S. 679; Fischer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Einl., Rn. 3; Kudlich, in: Münchener-Kommentar-StPO, Einl., Rn. 11; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, Einl., Rn. 4; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 3, Rn. 1. 2 BGHSt 5, S. 354 (356). 3 Die Judikatur scheint betreffend nonverbale Reaktionen im Gerichtssaal schlicht keine rechtlichen Probleme zu erblicken. So lesen sich zumindest die aktuellen Entscheidungen, in welchen nonverbale Reaktionen eine Relevanz für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch (schwerpunktmäßig Letzteren) hatten. Vgl. LG Landshut, Urteil vom 19. Dezember 2002 – KLs 18 Js 29522/00, zitiert nach BGH, BeckRS 2003, S. 10356; LG Halle, Urteil vom 25. 03. 2003,

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Einleitende Vorrede

(angemessene) Beachtung gefunden haben. Während Polygraphenanwendung, Hörfalle, Verdeckte Ermittler und Selbstgespräche unlängst Einzug in die Annalen der höchstrichterlichen Judikatur erhalten haben, scheint das weit alltäglichere Phänomen der (oft unwillkürlichen) Preisgabe (schon sensuell wahrnehmbarer) nonverbaler Reaktionen ins Hintertreffen geraten zu sein, obgleich dieselben Problemkreise tangiert werden: Zeichnet die Mimik des Angeklagten etwa jenen „überraschten Gesichtsausdruck“, obgleich dieser stets angab, das (Raub-)Opfer noch nie gesehen zu haben, so dürfte sich dies als ein, Tatwissen verratendes, (selbst-) belastendes Indiz gerieren und derartigen unwillkürlichen Reaktionen ist der Angeklagte, vermöge der Anwesenheitsverpflichtung in der Hauptverhandlung strukturell „ausgesetzt“. Auch geschieht das „Erröten“ oder „Stottern“ des Zeugen bei der „(Alibi-)Frage“ nicht willkürlich, obgleich sich für das Tatgericht vielleicht ein fehlender Erlebnisbezug andeutet. Und wenn die sich auf § 52 StPO berufende Zeugin zwar schweigt, aber dennoch einen „vorwurfsvollen Blick“ in Richtung des angeklagten Ehegatten wirft, so könnte auch dies nicht ohne Folgen bleiben. Damit sind aber nur die Fälle des zufälligen Auftretens jener nonverbalen Offenbarungen angesprochen, welche sich häufig als ungewollte und vage Selbst- und Fremdbezichtigungen gerieren dürften und folglich eine Diskussion unter den Topoi der „Selbstbelastungsfreiheit“ und des „uneindeutigen Beweiswertes“ indizieren. Werden jene nonverbalen Reaktionen zudem in kriminalistisch-listiger Manier provoziert, etwa eine „zufällige Begegnung“ des Angeklagten mit dem (Raub-)Opfer inszeniert oder dem berechtigt schweigenden Zeugen Lichtbilder vom Tatgeschehen vorgelegt, um dessen „vorwurfsvollen Blick“ vielleicht zu „erhaschen“, so sind es die Topoi der „Justizförmigkeit“, des „Täuschungsverbotes“ und des „fairen Verfahrens“, die anlässlich derart ungewöhnlicher Experimente hinzutreten. Gegenstand dieser Abhandlung ist es, das im Strafprozess alltägliche Phänomen des Auftretens nonverbaler Reaktionen einer dogmatischen „Greifbarkeit“ zu

zitiert nach BGH, BeckRS 2005, S. 1982 sowie LG Schwerin, BeckRS 2019, S. 38150, Rn. 103. „Anders“ nun erstmalig BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6. Vgl. sogleich Fn. 7. 4 Innerhalb des Schrifttums wurde die vorliegende Problematik eher en passant im Schatten anderer unzulässiger Beweiserhebungsakte (wie etwa dem Polygraphen-Einsatz) diskutiert. Nonverbale Reaktionen, die ohne technische Hilfsmittel wahrnehmbar sind, wurden dabei typischerweise als „übliche Ausdruckserscheinungen“ bezeichnet oder unter Verweis auf eine vermeintliche „Sozialadäquanz“ als „zulässiges Gegenstück“ zum Polygraphen qualifiziert. Vgl. Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321 f.) sowie Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (677). 5 Eine „gesonderte Betrachtung“ nonverbaler Reaktionen findet sich ersichtlich nur bei Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 201 ff., 254 ff., welcher auch die Besonderheiten dieser „offen hervortretenden“ nonverbalen Reaktionen untersucht. Teilweise wird die Problematik auch in „Grundlagenarbeiten“ zu den Themenkomplexen des nemo tenetur-Grundsatzes oder § 136a StPO „angerissen“. So etwa bei Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 293 f. und ebenso bereits Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 33.

Einleitende Vorrede

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überantworten und jenes unter rechtlichen6 Aspekten näher zu beleuchten, wobei der Fokus auf die Frage der Verwertbarkeit gerichtet sein wird. Wie es sich dem ein oder anderen Leser vielleicht schon aufdrängen mag, sei die Funktionsweise und vor allem der materielle Bedeutungsgehalt jenes „Nonverbalen“ in der interpersonalen Vis à vis-Kommunikation einer kursorischen „fachfremden“ Betrachtung unterzogen, welche das Vermutete zu bestätigen wissen dürfte: Dass nonverbale Reaktionen partiell unwillkürlich figurieren und einen Einblick in das menschliche forum internum gewähren, nämlich Gemütszustände, Emotionen, Gesinnungen und interpersonale Beziehungen offenbaren können, was häufig „Höchstpersönliches“ betreffen und doch das Tatgericht interessieren dürfte. Auch wenn jene nonverbalen Offenbarungen nicht nur de facto jeder mündlichen Hauptverhandlung immanent sind, sondern sich die Möglichkeit derer Wahrnehmung als wesensprägendes Merkmal des reformierten Strafprozesses bestätigen wird, so ist schon die beweisrechtliche Funktionszuweisung – wie etwa die eines „flüchtigen mimischen Ausdrucks“ – nicht „ganz einfach“ und erst Recht harrt die experimentelle Provokation nonverbaler Reaktionen einer Einordnung in das streng formalisierte Beweisverfahren, denn von „Experimenten“ liest sich in der Strafprozessordnung schlicht nichts. Sowie eine nonverbale Reaktion in der Hauptverhandlung mit dem Terminus einer ungewollten Selbst- oder Fremdbezichtigung konnotiert scheint, ist zugleich angesprochen, was von der Judikatur7 lakonisch übergangen und seitens eines Bedenken äußernden Schrifttums8 mit einer gewissen 6 Verhaltenspsychologische- wie auch verhaltensbiologische Fragen werden nur insoweit diskutiert, als es sich um notwendige Vorfragen jener rechtlichen Fragestellungen handelt. Exemplarisch wird sich ein kursorischer Einblick in die Aussagepsychologie als unentbehrlich erweisen. 7 In nahezu sämtlichen Judikaten, in denen nonverbale Reaktionen in den Entscheidungsgründen zur Sprache kamen (sei es argumentativ oder weil es in der Sache von Relevanz war) fehlt eine rechtliche Auseinandersetzung vor dem Hintergrund ihrer Verwertbarkeit. Jene wird vielmehr unkommentiert vorausgesetzt. Vgl. RGSt 33, S. 403 (404); RGSt 37, S. 212 (213); 39, S. 303 (305); BGHSt 5, S. 332 (335 f.); 5, S. 354 (355 f.); 18, S. 51 (54 f.); 35, S. 164 (166); 45, S. 334 (355, 360 f.); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205 f.); BGH, BeckRS 2003, S. 10356; BGH, BeckRS 2005, S. 1982. In BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6 wurde seitens der Judikatur erstmalig ein Zusammenhang zwischen nonverbalen Reaktionen und dem Schweigerecht des Angeklagten „hergestellt“, indes blieb die Frage der Verwertbarkeit im Falle des Schweigens in expressis verbis unentschieden. Es besteht zudem die Vermutung, dass dieser Beschluss mit einer im Schrifttum weit verbreiteten Fehlinterpretation der Entscheidung BGH, StV 1993, S. 458 f. „aufzuräumen“ geeignet ist. Letztere Entscheidung wird nämlich seitens des Schrifttums tradiert bemüht, der Judikatur ein Unverwertbarkeitspostulat nonverbaler Reaktionen des Angeklagten für den Fall des Totalschweigens zu unterstellen. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) aa) und bb). 8 Innerhalb des herrschenden Schrifttums findet sich im Ausgangspunkt eine „verwertungsfreundliche Tendenz“. Vgl. Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10 f.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196). Im Ergebnis ist dies wenig überraschend. Vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des reformierten Strafprozesses könnte es unmöglich richtig sein, dem Tatrichter die „beweisrechtliche Ausblendung“ jeglicher nonverbaler Reaktionen schon a priori und stets zu gebieten. Der in der Hauptverhandlung

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Einleitende Vorrede

Inkohärenz aufgeworfen wird: „Ob“ und „inwieweit“ Rechtssätze der Verfassung oder der Strafprozessordnung – respektive der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ – einer Verwertung (und „Erhebung“) nonverbaler Reaktionen entgegenstehen. Obgleich juristisch-praktische Tradition kein argumentum für eine Verwertbarkeit und Kuriosität noch kein solches dagegen zu begründen vermögen, mag es prima facie seltsam anmuten, etwa dem (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) eine im Ergebnis belastende Information „auf dem Wege“ partiell unwillkürlicher nonverbaler Verhaltensweisen zu „entlocken“. Eingedenk dessen, dass sich erwähnte „Hürden“ als überwindbar erweisen könnten, wird die Abhandlung schließlich Probleme auf der Ebene der Beweiswürdigung in den Blick zu nehmen haben. Neben der dogmatischen Frage der „Inbegriffszugehörigkeit“ ist es primär die strukturelle Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen im Allgemeinen, welche den Tatgerichten eine gewisse Schwierigkeit bei der „Wahl“ der richtigen Deutungsannahme bereiten dürfte, sodass auch spezifische Darstellungspflichten im Rahmen der Entscheidungsgründe zu fordern sein werden. Ziel muss es sein, Fehldeutungen zu vermeiden. In diesem Sinne wird sich auch zeigen, dass nonverbale Reaktionen zur „klassischen Lügendetektion“ nur eine äußerst geringe Eignung aufweisen, obgleich sich innerhalb der juristischen Praxis ein gegenläufiges Verständnis etabliert zu haben scheint.

(berechtigt) schweigende Angeklagte (Zeuge) markiert hier indes eine Zäsur: So wird seitens des überwiegenden Schrifttums für den Fall des Berufens auf ein Schweige- oder Zeugnisverweigerungsrecht eine Unverwertbarkeit – unter Rückgriff auf den nemo tenetur-Grundsatz – proklamiert. Vgl. hierzu Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/WidmaierStPO, § 261, Rn. 27; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16; Velten, in: SKStPO, § 261, Rn. 68. Wobei sich die dezidiertesten Ausführungen bei Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 208 und passim finden.

Erstes Kapitel

Nonverbale Verhaltensweisen Zu Zeiten des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens waren es die „Gebehrden und Minen“1 der Inquisiten und Zeugen, welche der Inquirent – „fleissig acht haben[d]“2 – in den Gebärdenprotokollen zu verzeichnen hatte. Während auch das Reichsgericht3 noch von den „thatsächliche[n] Gebaren“ des Angeklagten oder Zeugen sprach, so firmierten jene (natürlichen) „Vorgänge“ – in Abgrenzung zu den (technischen) Ergebnissen beim unzulässigen Polygraphen – innerhalb der modernen Judikatur lange Zeit als: „Bewußte und unbewußte Ausdrucksvorgänge […], die in der Hauptverhandlung in üblicher Weise [!] hervortreten.“4

Hier waren es terminologisch das „Mienenspiel und […] Gesten“5, die „Haltung und […] Reaktionsweisen“6 oder weit konkreter das „Erbleichen und Erröten“7, bis der Bundesgerichtshof8 erstmalig im Jahre 2019 den Begriff „nonverbales Verhalten“ als übergeordneten Topos etablierte. Obgleich sich der Schwerpunkt dieser Abhandlung in den rechtlichen Aspekten jenes „nonverbalen Verhaltens“ erschöpfen darf, erscheint schon vermöge jener Inkohärenz eine Begriffsbestimmung sachdienlich. Zudem wird sich eine kursorische Betrachtung von Funktion und (materieller) Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen nicht vermeiden lassen; namentlich, um eine den Rückgriff erlaubende Verständnisbasis zu schaffen, was

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Vgl. Cap. V § XXI prCrimO 1717. Vgl. Cap. III § XV prCrimO 1717. 3 RGSt 33, S. 403 (404). 4 BGHSt 5, S. 332 (335). Innerhalb des juristischen Schrifttums findet sich eine – partiell rechtlich determinierte – uneinheitliche Begriffsverwendung: So spricht etwa Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 293 f. betreffend Mimik und Gestik von „aktiven Ausdrucksgesten“, betreffend Kopfnicken, -schütteln, Erröten oder Erbleichen hingegen von „Ausdruckshandlungen“. Demgegenüber verwendet Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61 die Begriffe „Ausdruckshandlungen“ und „Aussagesurrogate“. 5 BGHSt 35, S. 164 (168). 6 BGHSt 35, S. 164 (166). 7 BGHSt 5, S. 354 (356). 8 BGH, Beschluss vom 20. 11. 2019 – 2 StR 467/19, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6. Wohl ohne jene „Etablierung“ beabsichtigt zu haben. 2

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

etwa das „Mienenspiel des Angeklagten oder Zeugen“ auszudrücken befähigt ist.9

A. Begriffsbestimmung Ausgehend vom Wortlaut erfassen die Begriffe „nonverbales Verhalten“ sowie „nonverbale Verhaltensweisen“– lateinisch: „non“ für „nicht“, beziehungsweise „verbum“ für „Wort“ – mit ihrer Negativformulierung jedes nicht wörtliche Verhalten.10

I. Von verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen Unter verbalem also wörtlichem Verhalten wird lediglich das Gesprochene selbst verstanden, sofern dies mit einem Inhaltsaspekt konnotiert und daher niederschriftsfähig ist.11 Erforderlich ist mithin eine Kommunikation – also eine interpersonale Informationsübertragung – mit Worten; exemplarisch etwa, dass der Zeuge mit Worten erklärt, „den Angeklagten am Tatort gesehen zu haben“. Die Niederschriftsfähigkeit – resultierend aus dem Inhaltsaspekt – fungiert insoweit als zuverlässiges Abgrenzungskriterium.12 Innerhalb des nonverbalen Verhaltens kann entsprechend den anatomischen „Verhaltenskanälen“ der menschlich möglichen Informationsübertragung – Sehen (optisch-visuell), Hören (akustisch-auditiv), Riechen (olfaktorisch), Schmecken (gustatorisch) sowie Fühlen (haptisch-thermisch)13 – zwischen sogenannten „Signalen“14 differenziert werden:15 So erfasst (nonverbales) vokales Verhalten alle Ausdruckserscheinungen, welche mit der 9

Hierfür wird „ein Blick“ in die Wissenschaft der Verhaltenspsychologie notwendig sein. Vgl. hierzu etwa Argyle, Köpersprache & Kommunikation, passim sowie Mehrabian, Nonverbal Communication, passim. 10 Vgl. Duden – Das Fremdwörterbuch, S. 738 und ferner Allhoff/Allhoff, Rhetorik & Kommunikation, S. 25. 11 Vgl. Kaeslin, Nonverbales Verhalten in Gesprächen, S. 4 und ferner Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 37. 12 Vgl. hierzu Kaeslin, Nonverbales Verhalten in Gesprächen, S. 4. Insbesondere zu vokalem nonverbalem Verhalten, „wo“ sich die Abgrenzung vermeintlich schwieriger gestaltet. 13 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 21. 14 Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 11 f. Terminologisch ist mit dem Begriff „Signal“ die jeweils einzelne Ausdruckserscheinung gemeint. 15 Vgl. Kaeslin, Nonverbales Verhalten in Gesprächen, S. 4 f. Von dieser Differenzierung ausgehend auch: L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 11; Scherer, in: Scherer/Wallbott (Hrsg.), Nonverbale Kommunikation, S. 12; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53.

A. Begriffsbestimmung

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Stimme und Stimmproduktion zusammenhängen,16 wie Sprechstil, Sprechpausen, Lautstärke, Stimmhöhe sowie Stimmqualität.17 Nonverbales nonvokales Verhalten erfasst hingegen alle motorischen Ausdruckserscheinungen, wie Mimik, Gestik, Blickverhalten, Körperhaltungen, Körperorientierung sowie das interpersonale Distanzverhalten.18 Mimik ist insoweit der Inbegriff des Mienenspiels des Gesichts, Gestik der Inbegriff der Bewegungen und Haltungen des ganzen Körpers sowie Teilen desselben.19 Unter Blickverhalten wird – sofern dieses nicht bereits unter die Kategorie Mimik fällt – der Blickkontakt von Personen, die Häufigkeit dessen, Veränderungen der Pupillen, Lidschlagfrequenz sowie der Ausdruck der Augen verstanden.20 Während die Körperhaltung das Auftreten der Person als solches umfasst, beschreibt die Körperorientierung den jeweiligen Winkel, in welchem jemand einer anderen Person gegenübertritt.21 Das Distanzverhalten beschreibt die gewählte räumliche Entfernung zu anderen Personen.22

II. Zu sogenannten „Micro-facial-expressions“ Bei „Micro-facial-expressions“ – also sogenannten „Mikroexpressionen“ – handelt es sich um äußerst kurzzeitige mimische Ausdruckserscheinungen, welche innerhalb des gesamten Gesichtsbereichs aufzutreten vermögen,23 und so höchstens

16 Diese werden teilweise auch als extralinguistisch, paraverbal oder parasprachlich bezeichnet. Vgl. insoweit Köhnken, Sprechverhalten und Glaubwürdigkeit, S. 154; Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 163; L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 11. 17 Vgl. L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 11; Bellebaum, Schweigen und Verschweigen, S. 13; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 18 Vgl. Allhoff/Allhoff, Rhetorik & Kommunikation, S. 25, 43 ff.; Bellebaum, Schweigen und Verschweigen, S. 13; Reck, Schlüsselbegriffe der Kommunikationsanalyse, S. 45; Sager/ Bührig, in: Sager/Bührig (Hrsg.), Nonverbale Kommunikation im Gespräch, S. 10. Für das interpersonale Distanzverhalten wird teilweise auch der Begriff der „Proxemik“ verwendet. Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 11. 19 Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 163; L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 11; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 20 Allhoff/Allhoff, Rhetorik & Kommunikation, S. 43; Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 194 ff. Teilweise wird das Blickverhalten bereits unter den Begriff der Mimik subsumiert. Vgl. – eine gesonderte Betrachtung befürwortend – auch Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 61. 21 Allhoff/Allhoff, Rhetorik & Kommunikation, S. 38, 45; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 64. 22 Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 65. 23 Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 25; Vrij, Detecting Lies and Deceit, S. 64 f. Vgl. ferner Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88, welche terminologisch von „micro affect displays“ sprechen.

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

für eine halbe Sekunde „bemerkbar“ bleiben.24 Terminologisch sind jene als ein Unterfall der Mimik zu qualifizieren. Deren gesonderte Erwähnung ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass die Forschungen von Ekman/Friesen25 in diesem Bereich eine (vermeintliche) Korrelation derer mit Täuschungen aufdeckten und jene zudem den Grundstein für weitergehende empirische Untersuchungen legten, nämlich zu untersuchen, inwieweit auch andere nonverbale Reaktionen – etwa ein „häufiges Blinzeln“ oder eine „gestische Unruhe“ – mit Täuschungen korrelieren.

III. Zusammenfassung Ausgehend von jenem „Niederschriftsfähigkeitstopos“ als Abgrenzungskriterium erfasst der Begriff „nonverbale Verhaltensweisen“ – für die vorliegende Abhandlung einheitlich – jegliches nicht wörtliches, daher nicht (unmittelbar) niederschriftsfähiges, menschliches (vokales wie auch nonvokales) Verhalten:26 Wie etwa „Erröten“, „Blinzeln“, „mimische Veränderungen“, „Änderungen der Stimmhöhe“, „gestische Ruhe“ oder „beleidigende Gesten“ sowie auch „Mikroexpressionen“.

B. Zur Funktion und materiellen Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen im Kommunikationsprozess Von der Funktion nonverbaler Verhaltensweisen wird ein jeder Leser ein Vorstellungsbild vor den Augen haben, so etwa mit der nahezu alltäglichen Verwendung einer „illustrierenden Geste“ oder eines „mimischen Ausdrucks“. Von durchgreifendem Interesse für die rechtlichen Aspekte erscheint indes der materielle Bedeutungsgehalt nonverbaler Verhaltensweisen, was also etwa eine „mimische Veränderung“ – des Angeklagten oder Zeugen – bedeuten kann, und en passant, ob sich jene Verhaltensweisen bewusst oder unbewusst und manche – vielleicht ein „Erröten“ – gar vollständig physisch-unkontrollierbar ereignen und

24 Daher sind jene auch nur für speziell geschulte Personen oder mittels technischer Geräte wahrnehmbar. Vgl. Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88 (97). 25 Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 98. Demnach sei jeder Täuschung ein „Überspielen des wahren Emotions- oder Stimmungszustandes“ immanent. Obgleich der Täuschende den wahren Zustand überspielt – nämlich einen fingierten Zustand in seiner Mimik abbildet – offenbare sich jener dennoch für den Bruchteil einer Sekunde in Gestalt einer mimischen Veränderung. 26 Teilweise werden im Schrifttum andere Begrifflichkeiten verwendet: Statt von „sprachlicher“ beziehungsweise „nicht sprachlicher“ Kommunikation sprechen Watzlawick/ Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, Formen, Störungen, Paradoxien, S. 71 ff. von „digitaler“ beziehungsweise „analoger“ Kommunikation. Während Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 163 die Terminologie „extraverbal“ verwendet.

B. Funktion und materielle Bedeutung

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sich ein Angeklagter der gerichtlichen Wahrnehmung dessen schon ipso facto nicht entziehen kann.27

I. Genese Die Bedeutung des „Nonverbalen“ war schon den Rednern der Antike bekannt: So sprach bereits Quintilian28 der Gestik im Rahmen der actio eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu und auch Marcus Tulius Cicero29 würdigte in seinem Werk „De oratore“ die Beherrschung des redebegleitenden Verhaltens als gar notwendigen Bestandteil der Redekunst. Über diese frühen „Ideen“ der Antike hinausgehend ist der jüngere Forschungsstand betreffend die Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen erwartungsgemäß vielschichtiger: Den Anstoß lieferte zweifelsohne Charles Darwin30, welcher im Jahre 1874 erstmalig in nennenswerter Form den Ursprung des Ausdrucksverhaltens, respektive die Gemütsbewegungen der Menschen und Tiere, insbesondere durch Vergleichsbetrachtungen, näher untersuchte. Insoweit beschreibt Darwin den Zusammenhang von Emotionen und dargebotener Mimik.31 In diese Zeit sind auch die Forschungen von Magnus32 einzuordnen, welcher, speziell bezogen auf die Augen, die kommunikative Funktion nonverbaler Verhaltensweisen thematisierte und jene von Pfungst33, welcher ebenso erste Beiträge zur nichtverbalen Kommunikation lieferte. Bis in die 1950er Jahre hat sich ein Forschungsbereich etabliert, der heute wohl primär als Ausdruckspsychologie firmiert und darauf gerichtet war, Rückschlüsse auf Emotionszustände und Wesens- und Charaktereigenschaften des Menschen zu erfassen.34 Letzterenfalls war es im Besonderen Lersch35, der Zu27

Der „aufmerksame“ Leser wird vielleicht erahnen, dass dies bei „nemo tenetur“ den Ausschlag geben könnte. Vgl. hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D., welche den Schwerpunkt dieser Abhandlung betreffen. 28 Quintilian, Institutio oratoria X, S. 19. Hier würdigt Quintilian bereits die Art und Weise des Vortrags als „potentissima in dicendo ratio“, also als das „Gewaltigste“ beziehungsweise „Wirksamste an der Rede selbst“. 29 Cicero, De oratore, S. 319, 321. Insoweit seien es gerade die Mimik und der Sprechstil, welche ein Bild vom Charakter des Redenden präsentierten und so geeignet wären, für eine wohlwollende Einstellung des Gegenübers, respektive des Richters zu streiten. Die praktische Relevanz von Ciceros Annahmen für den – auch für den heutigen – Strafprozess wäre damit offensichtlich. 30 Darwin, Ausdruck der Gemüthsbewegungen, S. 133 und passim. Dort beginnen die Darstellungen zu den Ausdrucksweisen beim Menschen. Darwin untersuchte insbesondere die Ursachen des Zustandekommens eines jeweiligen Gesichtsausdrucks. 31 Darwin, Ausdruck der Gemüthsbewegungen, S. 166 und passim. 32 Magnus, Sprache der Augen, passim. 33 Pfungst, Das Pferd des Herrn von Osten, S. 27 und passim. Vgl. ferner zu dieser Darstellung bereits Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 10. 34 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 10.

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

sammenhänge zwischen Ausdrucksbewegungen und der „Seele“ des Menschen herzustellen versuchte. In der jüngsten Forschung finden sich bei Scherer36 und Wallbott37 eher systematisierende Ausarbeitungen, welche die Funktion nonverbaler Verhaltensweisen im Kommunikationsprozess näher beleuchteten. Hier sind auch die – wohl bekanntesten – Forschungen von Watzlawick38 einzuordnen. Daneben haben Untersuchungen der Funktionen nonverbaler Verhaltensweisen mit Fokus auf das soziale Interaktionsgefüge stattgefunden. So stellten etwa Alloffs/Alloffs39 Erwägungen zur Körpersprache speziell für die Rhetorik und Gesprächspädagogik an, Mehrabian40 untersuchte die Funktion von Ausdrucksverhalten innerhalb von Statusverhältnissen, und Argyle41 zeigte auf, welche Bedeutung nonverbalem Verhalten bei der Entstehung von sozialem Verhalten zukommt. Bei Ellgring42 finden sich demgegenüber Ansätze zu nonverbalen Verhaltensweisen bei Depressionen oder psychischen Störungen. Besonderer Erwähnung bedürfen – auch noch an späterer Stelle – die Forschungen im Bereich der sogenannten Aussagepsychologie von Undeutsch43 und Arntzen44, welche Zusammenhänge zwischen nonverbalen Reaktionen und der Glaubhaftigkeit von Aussagen untersuchten, womit die Relevanz derer für den Strafprozess einmal mehr verdeutlicht wäre.

II. Funktional theoretische Betrachtung im Kommunikationsprozess Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht versteht sich menschliche45 Kommunikation per definitionem als eine Informationsübertragung zwischen einem „Sender-System“ und einem „Empfänger-System“; konkretisiert ist es der Vorgang 35

Lersch, Gesicht und Seele, 40 ff. und passim. Scherer, in: Scherer/Wallbott (Hrsg.), Nonverbale Kommunikation, passim. 37 Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, passim. 38 Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, passim. 39 Allhoff/Allhoff, Rhetorik & Kommunikation, passim. 40 Mehrabian, Nonverbal communication, S. 28 und passim. 41 Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 9 und passim. 42 Ellgring, Nonverbale Kommunikation im Verlauf der Depression, passim. Dessen Ausführungen gewähren zudem einen sehr systematischen Überblick betreffend die Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen. 43 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 ff.; ders., in: Kube/Störzer/Brugger (Hrsg.), Wissenschaftliche Kriminalistik – Grundlagen und Perspektiven (Teilband 1), S. 389 ff. 44 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 68 ff. sowie bereits im Jahre 1970 ders., Psychologie der Zeugenaussage [1. Auflage 1970], S. 105 ff. 45 Diese Definition beansprucht für sämtliche biologischen Systeme Gültigkeit, so eben auch für das Tierreich. Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 14. 36

B. Funktion und materielle Bedeutung

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zwischen jenen Systemen, welcher als Kommunikation zu begreifen ist.46 Dass Kommunikation nicht nur verbal stattfindet, sondern sich vielmehr im Wege anderer Phänomene – respektive nonverbal – zu ereignen vermag, ist allgemein anerkannt:47 So findet die interpersonale Übertragung von Emotionszuständen nach Mehrabian48 etwa zu 93 Prozent im Wege nonverbaler Verhaltensweisen („Signale“) statt. Demgegenüber ist nicht anerkannt und in der Fachliteratur49 durchaus umstritten, ob sämtlichen nonverbalen Signalen eine kommunikative Qualität innewohnt. Für ein „bejahendes Kopfnicken“ in einer Gesprächssituation wird man dies ohne Weiteres annehmen können, wohingegen es sich bei „spontanen mimischen Veränderungen“ schon weit schwieriger verhält. Hierzu formulierte Watzlawick, als erstes Axiom, seinen berühmten Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“50 Diese Annahme beruht im Wesentlichen auf einem Verständnis, wonach jedes Verhalten – Handeln, Nichthandeln, Worte, Schweigen – in einer zwischenmenschlichen Situation einen Mitteilungscharakter aufweise; und zwar davon unabhängig, ob jenes Verhalten von einer Intention geprägt sei.51 Für die vorliegende Abhandlung, welche sich als juristische, denn kommunikationswissenschaftliche begreift, sei sich diesem Verständnis angeschlossen.52 Nonverbale interpersonale Kommunikation entsteht mithin dort, wo ein Mensch („Sender“) einen anderen Menschen („Empfänger“) über einen Teil des menschlichen Körpers („Verhaltenskanal“) vermöge einer nonverbalen Verhaltensweise („Signal“) beeinflusst.53 In der Kommunikationsforschung hat sich eine funktional orientierte Differenzierung nonverbaler Verhaltensweisen in sogenannte Illustratoren, Adaptoren, Embleme, Regulatoren und Affekt-Darstellungen etabliert.54 Als 46

Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 12; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 14. Im Falle wechselseitiger Informationsübertragung sei terminologisch insoweit von „Interaktion“ gesprochen. So auch Watzlawick/ Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 58. 47 Vgl. hierzu statt vieler Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 58 f. 48 Mehrabian/Ferris, Journal of Consulting Psychology, S. 248 (252). 49 Vgl. für eine Übersicht Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 16 f. So sprechen sich etwa Ekman/Friesen, Semiotica 1969, S. 49 (55 ff.) für eine Differenzierung zwischen nonverbalen Verhaltensweisen mit kommunikativem, informativem sowie interaktivem Charakter aus. 50 Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 60. Vgl. erstmalig ders., Menschliche Kommunikation [1. Auflage, 1969], S. 53. 51 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation [1. Auflage, 1969], S. 50 ff. Zustimmend auch Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 12; Sollmann, Einführung in die Körpersprache, S. 9. 52 Weitere Ausführungen lieferten für den Forschungsgegenstand schlicht keinen Mehrwert. 53 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 12. Vgl. ferner Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 20. 54 Vgl. zu dem Ansatz nonverbale Verhaltensweisen ihrer Funktion im Kommunikationsprozess entsprechend zu ordnen: Engels, Status und nonverbales Verhalten, S. 17; Scherer, in:

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

„Illustratoren“ werden Verhaltensweisen bezeichnet, welche einen verbalen Kommunikationsakt untermalen, begleiten, also illustrieren, wie exemplarisch Kopfbewegungen oder betonendes Augenbrauen-Hochziehen.55 Während „Embleme“ entsprechend ihrer ursprünglichen Wortbedeutung als „Sinnbilder“ Verhaltensweisen erfassen, welche selbstständig einen kommunikativen Akt bilden, mithin die verbale Kommunikation ersetzen, wie exemplarisch das Kopfnicken, um eine in unserem Kulturkreis übliche Bejahung auszudrücken.56 Ferner bezeichnen „Adaptoren“ Verhaltensweisen, welche der Erregungsabfuhr zuzurechnen sind, wie das Sich-Kratzen,57 „Regulatoren“ solche, welche die Interaktion zwischen Kommunikationspartnern oder den Wechsel des Sprechers regeln, wie das Heben der Stimme oder Sprechpausen58 und „Affekt-Darstellungen“ solche, die Emotionen und Stimmungen zum Ausdruck bringen, wie der Gesichtsausdruck und die Stimme einer Person.59

III. Materielle Bedeutung und Kontrollierbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen Soweit die materielle Bedeutung jener nonverbalen Signale in Rede steht – etwa der Erklärungsgehalt eines „mimischen Ausdrucks“ des Angeklagten –, ist bereits zu erahnen, dass die konkrete Bedeutung des „Nonverbalen“ häufig weniger evident sein wird, als dies bei „klassisch“-verbaler Kommunikation der Fall ist. Eine „strukturelle Mehrdeutigkeit“ einerseits sowie mögliche kulturelle Disparitäten andererseits erhöhen hier das Risiko von Fehldeutungen erheblich. 1. Ein Überblick Die „Sender-Empfänger-Systematik“60 offenbart dies: Ein beim Sender gegebener Zustand – etwa die Emotion „Freude“ – wird in ein nonverbales Signal – etwa ein „heiteres Lachen“ – encodiert,61 jenes Signal wird sodann beim Empfänger in

Scherer/Wallbott (Hrsg.), Nonverbale Kommunikation, S. 26 f.; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53 f. 55 Vgl. Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 56 Vgl. Reck, Schlüsselbegriffe der Kommunikationsanalyse, S. 47; Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 57 Vgl. Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 58 Vgl. Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 53. 59 Vgl. Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88 (97); Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 54. 60 Vgl. die Abbildung bei Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 12. 61 Oder auch in ein verbales Signal, dies ist hier aber nicht Forschungsgegenstand.

B. Funktion und materielle Bedeutung

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eine Wahrnehmung decodiert.62 Die Encodierung auf der Senderseite begründet einen Ausdrucksprozess, welcher sich entweder in Gestalt eines unmittelbaren Ausdrucks – etwa das „heitere Lachen“ – oder im Wege eines zielgerichteten Ausdrucks – etwa eine „beleidigende Geste“ – zu ereignen vermag.63 Dieser Prozess ist insoweit individuenspezifisch,64 als mehrere nonverbale Signale für die Encodierung eines Zustandes existent sind.65 Die Decodierung auf der Empfängerseite begründet einen (korrespondierenden) Eindrucksprozess, welcher sich entweder als unmittelbarer Eindruck – etwa des „freudigen Zustandes“ – oder als bewusst-analytisch gewonnener Eindruck – etwa der „beleidigenden Geste“ – realisiert.66 Für den Empfänger ereignet sich diese Wahrnehmung als solche eines Gesamteindrucks. Diese Gesamteindruckswahrnehmung auf der Empfängerseite vermag denklogisch die Individuenspezifität auf der Senderseite sukzessive auszugleichen und das Verstehen nonverbaler Kommunikation überhaupt erst zu ermöglichen.67 Denn es ereignet sich niemals nur ein einziges Signal, sondern stets eine Fülle von Signalen, sodass sich der Empfänger auf die individuenspezifische Verwendung einstellen kann. So ist ferner logisch, dass aus zunehmender Vertrautheit innerhalb der „SenderEmpfänger-Beziehung“ eine sukzessive Verbesserung der nonverbalen Kommunikation folgt oder negativ formuliert: Je geringer die Vertrautheit, umso geringer die Chance richtiger Interpretation.68 Die konkrete Bedeutung eines jeden erdenklichen nonverbalen Signals kann hier unmöglich dargestellt werden, wohl aber ein „erhellender“, kursorischer Ausschnitt. 2. Mimik Das menschliche Gesicht gilt als der wichtigste nonverbale Verhaltenskanal.69 Als Affekt-Darstellung gewährt das mimische Ausdrucksverhalten primär einen Ein-

62

Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 12; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 19 f. 63 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 19 f. 64 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 20. 65 So kann etwa die Emotion „Furcht“ nicht lediglich mimisch, sondern auch (zusätzlich) gestisch ausgedrückt werden. 66 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 19 f. 67 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 20. 68 Wobei unter „richtiger“ Interpretation die Erfassung des wahren Zustandes beim Sender zu verstehen ist. 69 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 155. Sodass Nietzsches Zitat aus der Einleitenden Vorrede schon hier passend erscheint.

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

blick in den menschlichen Emotionszustand.70 Physiologisch wird dies damit begründet, dass die Veränderungen an der Hautoberfläche auf die Aktivität des mit Nerven innervierten Gesichtsmuskelgeflechts zurückzuführen seien, welches über den Gesichtsnerv (nucleus nervi facialis) mit dem Hirnstamm, respektive dem sogenannten limbischen System, verbunden sei.71 Wenn der Organismus emotional erregt ist, so weise jenes limbische System Aktivitäten auf, welche sich über das Gesichtsmuskelgeflecht entäußerten.72 Insoweit also zu differenzierten Emotionsäußerungen in der Lage,73 vermag das Gesicht sechs Grundemotionen abzubilden: Freude, Überraschung, Furcht, Traurigkeit, Ärger/Wut sowie Ekel/Verachtung.74 Ebenso fungiert das mimische Ausdrucksverhalten als Ausdruck interpersonaler Beziehungen: Hier werden Zuneigung und Anziehung – etwa ein „Lächeln“ – sowie Dominanz und Unterordnung – etwa ein „Senken der Augenbrauen“ – ausgedrückt.75 Sekundär beinhaltet das mimische Ausdrucksverhalten in Form von Emblemen und Illustratoren schließlich gesprächsbezogene Inhalte – so können etwa „Skepsis“ und „Unverständnis“ auch mimisch ausgedrückt werden.76 Daneben ist denkbar, dass die Mimik (lediglich) als Ausdruck physio- oder psychologischer Störungen fungiert.77 Betreffend die Kontrollierbarkeit des mimischen Ausdrucksverhaltens, ist festzustellen, dass es sich bei der Mimik zunächst um ein angeborenes und daher kulturell universelles Signalsystem handelt.78 So sind etwa bei Neugeborenen einheitliche mimische Reaktionen auf bestimmte Reize festgestellt worden und das kulturübergreifend.79 Das mimische Ausdrucksverhalten wird zwar (überwiegend) der physiologischen Kontrolle unterliegen, indes ereignet sich jenes in der frühkindli-

70 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 155, 160; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 22. 71 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 18. 72 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 18; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 22. 73 Vgl. Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 56. 74 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 155; Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88 (97); Wallbott, in: Lotzmann (Hrsg.), Ausdrucksgestaltung, S. 57. 75 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 171 f. Wobei festzustellen ist, dass sich Emotionen und interpersonale Beziehungen ähnlich äußern, also jedenfalls Überschneidungen gegeben sind. 76 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 155; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 24. Mittelbar wird dies ebenso eine Emotionsdarstellung beinhalten. 77 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 155. 78 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 19. 79 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 23. Das bedeutet, dass etwa ein „Ureinwohner aus dem Amazonas-Gebiet“ im Falle des „Erschreckens“ den gleichen mimischen Ausdruck zeigt wie ein „Nord-Europäer“.

B. Funktion und materielle Bedeutung

33

chen Phase stets unbewusst.80 Mit fortschreitendem Alter findet die (kulturell variante) Sozialisation des Menschen statt, mit welcher der Mensch sukzessive die Fähigkeit erlernt, mimisches Ausdrucksverhalten bewusst einzusetzen.81 Der mimische Ausdruck wird damit partiell zum bewussten Element der Kommunikation dergestalt, dass exemplarisch (falsche) Emotionen – etwa „Freude“ – mittels Mimik (vorgetäuscht) dargestellt werden. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Mimik der ubiquitären physiologischen Kontrolle zugänglich wäre, so ist etwa für ein „Erröten“ oder „Erbleichen“ festzustellen, dass jenes jeweilig auf einer Veränderung der Gesichtstemperatur beruht und mithin physisch nicht steuerbar ist und freilich ereignet sich der Großteil der im Kommunikationsprozess auftretenden Mimik – respektive erwähnte „Mikroexpressionen“ – unbewusst, also ohne gesonderte Kenntnis des Entäußernden.82 3. Blickverhalten Das menschliche Blickverhalten fungiert primär als Regulator, so wird durch Blickkontakt und Blickrichtung bestehende oder fehlende Kommunikationsbereitschaft zum Ausdruck gebracht – etwa das „klassische Anblicken“ des zukünftigen Kommunikationspartners.83 Sekundär besteht ein Zusammenhang zwischen dem Blickverhalten, als Affekt-Darstellung, und dem Konzentrations- und Erregungsniveau.84 Das ist damit zu erklären, dass eine direkte Verbindung zwischen den Augen und dem Zentralnervensystem besteht.85 So variieren Pupillengröße und Lidschlagfrequenz je nach entsprechender aktueller Belastung und im Besonderen bei affektiver Erregung.86 Daher besteht letztlich ein Zusammenhang zum Intensi80

In der hier relevanten Fachliteratur findet sich eine terminologische Uneinheitlichkeit. Im Folgenden wird zwischen bewusst (also vom aktuellen Willen getragen), unbewusst (nicht vom aktuellen Willen getragen) und nicht steuerbar (als physisch unmöglich) unterschieden. 81 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 23. Hier wird auch von sogenannten „display rules“ gesprochen. Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 21, 23. 82 Vgl. Bahrs, Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis, S. 79 sowie Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88 und passim. 83 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 194; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 278. 84 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 27 f. 85 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 27 f. Die Erwägungen gehen dahin, dass der menschliche Körper unbewusst den Blick weg von spezifischen visuellen Wahrnehmungen lenkt (etwa das „Wegschauen“ vom Kommunikationspartner), sofern eine besondere Belastung mit kognitiven Prozessen gegeben ist. Ist durch den Denkprozess die Leistungsgrenze erreicht, so werde die visuelle Informationsaufnahme unterbewusst ausgeblendet. 86 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 27.

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

tätslevel von Emotionszuständen.87 Auch die Belastung mit Denkprozessen beeinflusst die Blickrichtung – so etwa in Gestalt des visuellen Ausblendens des Kommunikationspartners bei erhöhter Belastung.88 Tertiär gewährt das Blickverhalten in begrenztem Maße Einblick in interpersonale Beziehungen.89 So besteht eine Korrelation zwischen der Häufigkeit des Blickkontaktes und Zuneigung, aber auch zu Dominanz und Status; dominante, statushöhere Menschen blicken beim Zuhören eher weniger in Richtung des Gegenübers.90 Daneben kann „wiederum auch“ die Veränderung des Blickverhaltens schlicht auf physio- oder psychologischen Störungen beruhen; so bewirkt etwa Methamphetamin eine „Pupillenerweiterung“, und bei depressiven Menschen führt die „Blickabwendung“ des Gegenübers zu einem stetigen „Nach-unten-schauen“.91 Betreffend die Kontrollierbarkeit ist festzustellen, dass ein erheblicher Anteil des Blickverhaltens bewusst stattfindet – so etwa zur Steuerung des Kommunikationsablaufs oder um ein etwaiges Stresslevel zu verbergen.92 Daneben sind Veränderungen der Pupillen schon physisch nicht steuerbar, was ebenso für sämtliches Blickverhalten zutrifft, welches auf physiologischen Störungen (pathologischen Zuständen) basiert. Blickverhalten basierend auf psychologischen Störungen ereignet sich jedenfalls unbewusst. 4. Gestik Bei der Gestik verhält es sich strukturell anders als bei der Mimik. Gestisches Ausdrucksverhalten weist primär einen verstärkten Bezug zu verbaler Kommunikation auf. Der Anteil gesprächsbezogener Inhalte in Gestalt von Emblemen und Illustratoren ist hier besonders hoch – etwa ein „bejahendes Nicken“ oder eine „akzentuierende Geste“.93 Sekundär offenbaren Gesten, in Gestalt von Affekt-Darstellungen und Adaptoren, auch den Anspannungs- und Erregungszustand – so äußert sich etwa Spannung und Unruhe in einem „ständigen Füßerücken“.94 Wenngleich 87 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 210. Wobei sich nur das emotionale Intensitätslevel, nicht aber die Art der Information widerspiegle. 88 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 28. 89 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 205 ff., 208. 90 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 205 ff., 208. 91 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 195. 92 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 29. Dieser verweist auf die bewusste Herstellung von Blickkontakt zum Überspielen eines intensiven Denkprozesses. 93 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 237 ff.; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 31 f. Vgl. ferner Sollmann, Körpersprache und nonverbale Kommunikation, S. 40. 94 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 248 f.; Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 32 f.

B. Funktion und materielle Bedeutung

35

schwerpunktartig das mimische Ausdrucksverhalten die Entäußerung von Emotionen bewirkt, offenbart die Gestik partiell den Emotionszustand (und dessen Intensität);95 so zeigt sich etwa Angst durch ein „Verdecken des Gesichts“.96 „Wie zuvor“ können Gesten freilich auch Ausdruck (bloßer) physio- oder psychologischer Störungen sein. So wurden etwa bei depressiven Menschen „zögernde Bewegungen“ und „kaschierende Gesten“ festgestellt.97 Bevor auf die Kontrollierbarkeit eingegangen sei, ist zunächst festzustellen, dass es sich bei gestischem Ausdrucksverhalten wohl nicht um angeborene Verhaltensweisen handelt, sondern diese überwiegend unter dem Einfluss der Sozialisationsphase entstehen.98 Anders ist es für die Gesten zu beurteilen, welche Emotionen abbilden.99 Entgegen dem mimischen, weist das gestische Ausdrucksverhalten daher eine besondere kulturelle Varianz auf.100 Wie die Nähe zur verbalen Kommunikation dies bereits andeutet, ist der ganz überwiegende Teil der Gestik bewusst eingesetzt,101 eben zur Substituierung (Embleme) oder Begleitung (Illustratoren) verbaler Kommunikation. Sofern sich indes der Anspannungs-, Erregungs- oder Emotionszustand im Wege gestischen Ausdrucksverhaltens offenbart, wird dies unbewusst geschehen. 5. Körperhaltung, -orientierung & Distanzverhalten Die Körperhaltung und die Körperorientierung sowie das Distanzverhalten gewähren primär maßgebliche Einblicke in interpersonale Beziehungen,102 es offenbaren sich der Grad an Intimität und Zuneigung; maßgeblich sind hier etwa „Berührungen“ oder die „gewählte Gesprächsdistanz“. Ferner werden Status- und Machtrelationen zum Ausdruck gebracht; etwa das „Aufrichten zu voller Größe“.103 Sekundär lassen sich – in engen Grenzen – auch Anspannungs- und Erregungsniveau ablesen; etwa in Gestalt einer „angespannten Sitzposition“.104 Körperhaltung, -orientierung sowie Distanzverhalten weisen erwartungsgemäß eine sehr starke kulturelle Prägung auf; so wird etwa schon in südlichen Teilen 95 Für das Phänomen des sogenannten „nonverbal leakage“ ist es eben auch häufig so, dass sich der wahre Emotionszustand im Rahmen der Gestik offenbart. 96 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 249. 97 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 248. 98 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 240; Sollmann, Körpersprache und nonverbale Kommunikation, S. 39 f. 99 Hier gilt wiederum das obig zur Mimik Gesagte unter Erstes Kapitel B. III. 2. 100 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 240; Sollmann, Körpersprache und nonverbale Kommunikation, S. 40. 101 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 31 f. 102 Vgl. Mehrabian, Nonverbal Communication, S. 10. 103 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 260. 104 Vgl. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, S. 263.

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1. Kap.: Nonverbale Verhaltensweisen

Europas eine „geringere Distanz“ in Gesprächssituationen als (noch) angemessen empfunden, als dies im Norden der Fall wäre.105 Was die Kontrollierbarkeit betrifft, ist darauf zu verweisen, dass Körperhaltung, -orientierung und das Distanzverhalten durchaus bewussten Einsatz in Interaktionssituationen erfahren, sich partiell aber auch unbewusst „einstellen“. Anders ist dies zu beurteilen, sofern jene Signale Ausdruck einer psychischen Störung sind. So wurde etwa bei depressiven Patienten eine unbewusste reduzierte Bewegungsvariabilität festgestellt.106 6. Nonverbale vokale Signale Nonverbale vokale Signale weisen primär einen starken Bezug zur verbalen Kommunikation auf, so können jene den Sprachinhalt modifizieren oder verdeutlichen; etwa in Gestalt „erhöhter Lautstärke“.107 Sekundär sind vokale Signale auch geeignet, den Stress- oder Erregungszustand abzubilden. So konnte etwa eine Kausalität zwischen erhöhtem Stresslevel und unvollständigen Sätzen, Wiederholungen und Stottern nachgewiesen werden,108 was erwartungsgemäß im Bereich der Täuschungsdiagnostik fruchtbar zu machen versucht wurde.109

IV. Zusammenfassung Ausgehend von Watzlawicks110 Feststellung, der Mensch könne „nicht nicht kommunizieren“, und vermöge der Erkenntnis, dass nach Mehrabian111 die interpersonale Übertragung von Emotionszuständen zu 93 Prozent im Wege nonverbaler Verhaltensweisen stattfindet, ist jenen wohl eine erhebliche Bedeutung innerhalb der zwischenmenschlichen Kommunikation beizumessen. So sind nonverbale Verhaltensweisen neben der Substituierung verbaler Inhalte – in Gestalt von Emblemen wie etwa ein „bejahendes Nicken“ – der Offenbarung von Emotionszuständen „fähig“,112 „gewähren“ einen Einblick in Kommunikationsbereitschaft und interpersonale Beziehungen (etwa „Vertrautheit“) und „liefern“ ferner Erkenntnisse über das An105

Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 35. Vgl. hierzu ferner auch Mehrabian, Nonverbal Communication, S. 6. 106 Vgl. Ellgring, Nonverbale Kommunikation im Verlauf der Depression, S. 69. 107 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 37. 108 Vgl. Ellgring, in: Rosenbusch (Hrsg.), Körpersprache in der schulischen Erziehung, S. 37, 40. 109 Vgl. diesbezüglich die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 110 Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 60. Vgl. erstmalig ders., Menschliche Kommunikation [1. Auflage, 1969], S. 53. 111 Mehrabian/Ferris, Journal of Consulting Psychology, S. 248 (252). 112 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 2.

B. Funktion und materielle Bedeutung

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spannungs- und Erregungsniveau eines Menschen.113 Dabei geschieht die Entäußerung jener nonverbalen Verhaltensweisen – wie etwa bei einer „beleidigenden Geste“ – indes nur teilweise bewusst. Überwiegend vollzieht sich die Entäußerung unbewusst – etwa ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – oder ist schon – wie bei einem „Erröten“ oder „Erbleichen“ – per se der physischen Steuerbarkeit entzogen.

113

Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 3., 4., 5. und 6.

Zweites Kapitel

Formale Anforderungen an die Beweiserhebung Entsprechend ihrer Funktion im Kommunikationsprozess1 ereignen sich in der Hauptverhandlung – als Bühne des Strafprozesses2 – unterschiedlichste nonverbale Verhaltensweisen und bieten sich so dem jeweiligen Tatgericht zur quasi „notwendigen Wahrnehmung“ dar: Sei es ein „wild gestikulierender“ Angeklagter oder dessen „überraschter Gesichtsausdruck“, das „sichtliche Erröten“, „Stottern“ oder „Erbleichen“ eines Zeugen oder (einfach) ein „vorwurfsvoller Blick“ der Ehegattin des Angeklagten aus dem Zuschauerraum. Der Bundesgerichtshof3 konstatiert Derartigem apodiktisch eine Relevanz für die „Beweiswürdigung [sowie] insbesondere [für] die Beurteilung der Glaubwürdigkeit“ und formuliert ferner: „Körpersprache, zögernde oder flüssige Aussage, oder erkennbare Emotionen […] sind Teil der prozessualen [förmlichen] Vernehmung.“4

Mit diesem Zitat ist der erste Problemkreis dieses Kapitels, in welchem das Stadium der Beweiserhebung in den Fokus gerückt sei, bereits (mittelbar) angesprochen. Wenn nonverbale Reaktionen sich dem Tatgericht auch „unaufgefordert“ darbieten – wie etwa bei einem „spontanen abfälligen Lachen“ – so ist generell die Frage nach der Beweisbedürftigkeit dessen zu stellen, respektive, ob es überhaupt einer förmlichen Beweiserhebung – über jenes „Lachen“ – (vielleicht in Gestalt einer Vernehmung) bedarf. Der zweite Problemkreis wird sodann die Zuweisung zu den Instituten förmlicher Beweiserhebung betreffen, respektive die Frage, ob die „Erhebung“ nonverbaler Reaktionen im Wege des (subjektiven) Personalbeweises oder des Sachbeweises zu erfolgen hat und „wovon“ dies möglicherweise abhängt.5

1

Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. Schon vermöge der räumlichen Gegebenheiten in deutschen Gerichtssälen bieten sich dem Tatgericht nahezu Idealverhältnisse, nonverbale Verhaltensweisen der Verfahrensbeteiligten wahrzunehmen; was nicht zuletzt bereits die Ideen des historischen Gesetzgebers der Reichsstrafprozessordnung realisieren dürfte. 3 BGHSt 45, S. 354 (359 f.). Ob dem in dieser Pauschalität zugestimmt werden kann – respektive was die Relevanz für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Aussageperson betrifft – steht auf einem anderen Papier geschrieben und wird im Rahmen des Vierten Kapitels eine umfassende Erörterung erfahren. 4 BGHSt 45, S. 354 (360). 5 Auch wird kursorisch auf die Gebotenheit der „Zuziehung“ eines Sachverständigen einzugehen sein. 2

A. Beweisbedürftigkeit

39

A. Zur Beweisbedürftigkeit nonverbaler Verhaltensweisen Sowie in der Hauptverhandlung bei Verfahrensbeteiligten nonverbale Verhaltensweisen auftreten, sind diese für das erkennende Tatgericht grundsätzlich ohne Weiteres wahrnehmbar und das Gericht könnte sich der Wahrnehmung etwa eines „abfälligen Lachens“ des Angeklagten oder eines „spontanes Errötens“ des Zeugen ohnehin nicht „erwehren“. Jene präsentieren sich dem Gericht vielmehr zur „notwendigen Wahrnehmung“. Während die möglichen Auswirkungen auf das Strafurteil in dieser Abhandlung en passant anhand einer Falltypenbildung präsentiert werden sollen,6 kann bereits hier konstatiert werden, dass bei einem von „menschlichen“ Richtern besetzten Tatgericht de facto stets auch nonverbale Reaktionen „ihren Weg“ in die gerichtliche Entscheidung finden werden und dies schon vermöge dessen, dass sich die Decodierung auf der Empfängerseite – also die Deutung des etwa „abfälligen Lachens“ durch das Tatgericht – nur partiell bewusst-analytisch, denn überwiegend unbewusst in Gestalt einer „Gesamteindruckswahrnehmung“ vollzieht.7 Soll aber nun über jede nonverbale Reaktion im Gerichtssaal – jedes „spontane Erröten“ – förmlich Beweis erhoben werden? Wohl kaum!

Das strafprozessuale Beweisverfahren „in den Blick nehmend“, stellt sich die Frage, ob das Tatgericht auch de iure jede – notwendig wahrgenommene – nonverbale Reaktion – wie etwa das „spontane Erröten“ – „ohne Weiteres“ in der Entscheidungsfindung berücksichtigen darf8 oder, ob das Regime des Strengbeweisverfahrens in bestimmten Konstellationen möglicherweise „doch“ zu förmlicher Beweiserhebung über eine nonverbale Reaktion verpflichtet; (vielleicht) wenn das Gericht einen „überraschten Gesichtsausdruck“ durch Vorlage von Lichtbildern gezielt evoziert?9

I. Vom Gebote einer förmlichen Beweiserhebung Sind Tatsachen mit der Möglichkeit einer Auswirkung auf den Schuldoder Rechtsfolgenausspruch nach § 267 StPO behaftet, so gilt das Primat förmlicher 6

Vgl. die sogleich folgenden Ausführungen und insbesondere jene im Rahmen des Vierten Kapitels. 7 Vgl. die obigen Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. Vgl. zu der Frage, inwieweit dies auch von der Strafprozessordnung „vorgesehen“ ist, die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. und B. I. 2. 8 Das Gebot einer förmlichen Beweiserhebung wäre insoweit die „erste Hürde“ für eine Berücksichtigung, obgleich sich aus anderen Rechtssätzen der Strafprozessordnung oder der Verfassung noch Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken ergeben könnten. Vgl. insoweit die Ausführungen im Rahmen des Dritten Kapitels. 9 Hier deutet sich bereits an, dass ein Unterschied darin bestehen könnte, ob ein Tatgericht die nonverbale Reaktion zufällig wahrnimmt oder jene in Experiment-Konstellationen evoziert.

40

2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Beweiserhebung. Jene Tatsachen sind vom Tatgericht im Wege des formalisierten Beweisverfahrens zu erheben.10 Hierfür stehen dem Gericht fünf Institute förmlicher Beweiserhebung zur Verfügung:11 Zeugenbeweis (§§ 48 ff. StPO), Augenscheinsbeweis (§§ 86 ff. StPO), Sachverständigenbeweis (§§ 72 ff. StPO), Urkundenbeweis (§§ 249 ff. StPO), sowie die Angeklagtenvernehmung (§§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO).12, 13 Andere – etwa neu zu „erfindende“ – Beweismittel kennt die Strafprozessordnung de lege lata nicht.14 Gilt das förmliche Beweisverfahren, so ist eine andersartige Erhebung, etwa im Wege des Freibeweisverfahrens, ausgeschlossen.15

10 Vgl. BGHSt 16, S. 164 (166); 21, S. 81; Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 8; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 12; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 244, Rn. 6; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 34. 11 Die Strengbeweismittel sowie die Angeklagtenvernehmung sind ihrer rechtlichen Natur nach als eine Art Vorschriftenkomplex zu begreifen, daher sei im Rahmen dieser Bearbeitung terminologisch kohärent von „Instituten“ gesprochen. Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302, welcher insoweit von „Beweismittelkategorie[n]“ spricht. 12 Vgl. Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 18; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 15. 13 Klassischerweise wird hier zwischen den Strengbeweismitteln (Zeugenbeweis, Augenscheinsbeweis, Sachverständigenbeweis, Urkundenbeweis) als Beweiserhebung „im engeren Sinne“ (vgl. statt vieler Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 15) und der Angeklagtenvernehmung als Beweiserhebung „im weiteren Sinne“ (vgl. statt vieler Sättele, in Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 6) unterschieden. Dies mag bei rein systematischer Betrachtung seine Berechtigung haben, so zeigt sich, dass die Angeklagtenvernehmung nach §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO der förmlichen Beweisaufnahme nach §§ 244 ff. StPO – systematisch – vorgelagert ist. Richtigerweise ist indes auch der Angeklagte Beweismittel, so ist es auch seine Aussage, die nach der Beweisaufnahme gewürdigt wird. Vgl. hierzu bereits Krause, Jura 1982, S. 225 (226 f.), welcher insoweit auf die missverständliche Wortfassung des § 244 Abs. 1 StPO verweist. Vgl. ferner Eb. Schmidt, Lehrkommentar-StPO, S. 659. Daher sei im Folgenden terminologisch einheitlich von förmlicher Beweiserhebung (unter Einbeziehung der Angeklagtenvernehmung) gesprochen. In diesem Sinne auch BGHSt 2, S. 269 (270); Eb. Schmidt, JZ 1970 S. 337 (341); Geppert, Jura 1996, S. 307 (308) [Fn. 6]; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 [Fn. 218]. So kohärieren jene nämlich zumindest was die Zuweisungsfrage für nonverbale Verhaltensweisen betrifft. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 2. 14 Vgl. BGH, NJW 1961, S. 1486 (1487); Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 179; Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 206 (207) [Fn. 16]; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 35; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 18; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Trüg/Habetha, in: MünchenerKommentar-StPO, § 244, Rn. 35. Andere Ansicht Dallinger, MDR 1956, S. 145 (146). 15 Vgl. statt vieler Sättele, in Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 12 f.

A. Beweisbedürftigkeit

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II. Nonverbale Verhaltensweisen als Tatsachen mit Auswirkung auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch Gegenstand der Beweisaufnahme sind „Tatsachen“, per definitionem also Zustände und Geschehnisse der Vergangenheit oder Gegenwart.16 Wobei zwischen Haupttatsachen und Indizien zu differenzieren ist. Haupttatsachen sind unmittelbar entscheidungserheblich, indem das Gericht mit diesen direkt die Subsumtion unter die in Betracht kommende Norm vollziehen kann; Voraussetzung ist, dass jene einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt für das Vorliegen des Tatbestandes, die Strafbarkeit, die Strafzumessung oder eine sonstige Rechtsfolge bieten.17 Indizien ermöglichen indes, originär oder in Verbindung mit weiteren Indizien, lediglich einen zwingenden oder möglichen Schluss auf eine Haupttatsache; jene sind also nur mittelbar entscheidungserheblich.18 Sowie sich nonverbale Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ereignen, vermögen jene in nur wenigen denkbaren Konstellationen die „Qualität“ einer Haupttatsache aufzuweisen. Zu erwähnen sei hier etwa ein „abfälliges Lachen“ des Angeklagten „in Richtung“ der (Opfer-)Zeugin, was als relevantes Nachtatverhalten nach § 46 Abs. 2 StGB unmittelbar – „negativen“ – Einfluss auf die Strafzumessung haben könnte.19 Überwiegend wird man nonverbale Verhaltensweisen ihrer Natur nach als Indizien zu qualifizieren haben. So misst der Bundesgerichtshof – wie erwähnt – etwa „Körpersprache, zögernde[r] oder flüssige[r] Aussage, oder erkennbare[n] Emotionen des Zeugen“ eine derartige Indizwirkung bei.20 Sähe man etwa das „Erröten“ 16

Vgl. BGH, NStZ 2006, S. 585 (586); BayObLG, NStZ 2003, S. 105; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 91; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 3; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 9; Trück/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 21. 17 Vgl. Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 7; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 405; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 8; Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 1122; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 4; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 7; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 11; Eb. Schmidt, Lehrkommentar-StPO, S. 100; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 23, Rn. 2. 18 Vgl. Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 7; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 405; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 9; Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 1124 f.; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 5; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 11; Eb. Schmidt, Lehrkommentar-StPO, S. 100; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 23, Rn. 2. 19 So etwa bei LG Halle, Urteil vom 25. 03. 2003, zitiert nach BGH, BeckRS 2005, S. 1982. Vgl. hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4., Fn. 154 und ebenso Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 187, welcher sich insoweit auf das gesamte Prozessverhalten des Angeklagten bezieht und auch von den Auswirkungen auf die Prognoseentscheidung des § 56 StGB spricht. Vgl. ferner Kinzig, in: Schönke/Schröder-StGB, § 46, Rn. 41a. 20 BGHSt 45, S. 354 (359 f.).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

des Zeugen als ein Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit,21 so ist hieraus der Schluss zu ziehen, dass das vom Zeugen in Bezug auf die Haupttatsache „Ausgesagte“ eben nicht der Wahrheit entspricht. Vergleichbar verhält es sich, wenn die mimischen Veränderungen des Angeklagten in Gestalt eines „überraschten Gesichtsausdrucks“ den Schluss eines Wiedererkennens der (Opfer-)Zeugin zuließen.22 In beiden Fällen wäre nur der Schluss auf die Haupttatsache möglich. Wenngleich an späterer Stelle noch die Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen in der gerichtlichen Spruchpraxis untersucht sei,23 so ist bereits hier zu konstatieren, dass eine – primär: indizielle – Auswirkung auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch regelmäßig gegeben sein wird. Nur hiervon ausgehend, wäre damit eine förmliche Beweiserhebung stets notwendig.

III. Nonverbale Verhaltensweisen bei förmlicher Beweiserhebung Es macht indes wenig Sinn, etwa über den Umstand, dass der Zeuge während seiner Vernehmung „spontan errötet“, förmlich Beweis zu erheben,24 wäre es doch eine Beweiserhebung über die Beweiserhebung selbst. Der Strafprozessordnung ist Derartiges fremd. Was schon Bestandteil des Beweiserhebungsvorganges selbst ist, kann bei dogmatischer Betrachtung nicht erneut erhoben werden. Eine derartige Beweiserhebung ist unzulässig.25 Dies ist nur logisch, denn was dem Gericht schon unmittelbar zur Kenntnis gebracht ist, bedarf keiner erneuten – zudem nur mittelbaren – „Erbringung“. Es ist daher folgende Regel aufzustellen: Sofern nonverbale Verhaltensweisen von dem Gericht bei Durchführung einer förmlichen Beweiserhebung beobachtet oder andersartig wahrgenommen werden, verbietet sich darüber eine (erneute) Beweiserhebung.26 Nonverbale Reaktionen – wie das „spontane Erröten“ des Zeugen während seiner Vernehmung – sind ipso iure bereits förmlich erhoben.

21 Vgl. überblicksartig zum Einfluss nonverbaler Verhaltensweisen auf die Glaubwürdigkeitsbegutachtung Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1458 ff. Dass dies als höchst bedenklich anzusehen ist, weil wissenschaftlich unfundiert, sei an späterer Stelle erläutert. Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 22 Vgl. zu dieser Konstellation Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 148. 23 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 24 Ebenso wie es auch wenig Sinn ergäbe, Beweis darüber erheben, was der Zeuge zuvor verbal ausgesagt hatte. 25 Vgl. Bachler, in: Graf-StPO, § 244, Rn. 7; Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 113; Rissingvan Saan, MDR 1993, S. 310. Eine andere Auffassung wird diesbezüglich nicht vertreten. 26 Darauf gerichtete Beweisanträge wären mithin gemäß § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO als unzulässig abzulehnen.

A. Beweisbedürftigkeit

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IV. Nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme Damit ist indes noch keine Aussage über die Beweisbedürftigkeit nonverbaler Verhaltensweisen getroffen, welche am Rande der förmlichen Beweisaufnahme auftreten. Dies betrifft die Konstellation, dass nonverbale Reaktionen zwar innerhalb des Zentralgeschehens der Hauptverhandlung – also dem (räumlichen) „Dreieck“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagtem auftreten –, aber eben nicht bei einer förmlichen Beweiserhebung, sondern quasi „Nebenher“. Exemplarisch ist hier der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim Wiedererkennen der (Opfer-)Zeugin (außerhalb seiner Vernehmung) zu nennen oder etwa das „sichtliche Erbleichen“ der Zeugin (außerhalb des Zeugenstandes), die „mittlerweile“ wieder als Nebenklägerin „Platz genommen hat“. 1. Regelfall: Zufälliges Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen In Judikatur und Schrifttum hat diese Konstellation bisher kaum Erwähnung gefunden und respektive nicht spezifisch bezogen auf nonverbale Reaktionen wie ein „spontanes Erröten“. Einzig bei Velten27 findet sich die ausführliche Darstellung eines (vermeintlichen) Streitstandes unter dem Topos „Vorgänge am Rande der förmlichen Beweisaufnahme“,28 was auch nonverbale Verhaltensweisen von Prozessbeteiligten inkludiert. Es wird insoweit von einem Ansatz berichtet, wonach auch für (nonverbale29) zufällige Spontanreaktionen – „innerhalb der Hauptverhandlung, aber nicht im Rahmen der förmlichen Beweisaufnahme“ – ein strikter Vorrang förmlicher Beweiserhebung gelte.30 Nach Velten basiere dieser Ansatz auf einem – abzulehnenden – sehr formalisierten Verständnis der Hauptverhandlung, innerhalb dessen, zwischen förmlicher Beweisaufnahme und sonstigem Geschehen prozessrechtlich strikt zu differenzieren sei.31 Alles was sich nicht innerhalb der förmlichen Beweisaufnahme „ereignet“ hat, bedürfe daher gesonderter förmlicher Beweiserhebung.32 27

Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 ff. Was schließlich zu vorliegenden Ausführungen veranlasst hat. 29 Innerhalb dieser Auffassung wird richtigerweise nicht zwischen verbalen und nonverbalen Äußerungen differenziert, nur treten nonverbale Äußerungen eben typischerweise noch „weit mehr“ zufällig auf. Für die verbale Ebene wäre hier etwa eine (verbale) Spontanbeleidigung zu nennen. 30 Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57, welche jenen Ansatz – ohne diesem zu folgen – lediglich darstellt, und zwar unter Verweis auf: Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/SchmittStPO [58. Auflage 2015], § 261, Rn. 6 a. E.; Eschelbach, in: BeckOK-StPO [24. Edition 2016], § 261, Rn. 20 f.; Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozess, S. 170 f.; Seebode/Sydow, JZ 1980, S. 506 (512). 31 Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58. 32 Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58. 28

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

„Interessant“ ist, dass die Darstellung jenes Ansatzes zunächst ohne unmittelbare Quellenangabe auskommt und erst an späterer Stelle ein Verweis auf Meyer-Goßner, Eschelbach, Prittwitz und Seebode/Sydow erfolgt,33 welche sich indes keineswegs für ein derartiges Verständnis aussprechen.34 Jedenfalls bedeutete jener Ansatz zu Ende gedacht, dass etwa betreffend den Umstand des „spontanen Errötens“ des Angeklagten – außerhalb seiner förmlichen Vernehmung – zunächst eine gesonderte förmliche Beweiserhebung stattzufinden hätte. Mangels Videoaufzeichnung des Geschehens in deutschen Gerichtssälen, könnte dies nur durch Zeugenvernehmung eines Beobachters jenen Geschehens erfolgen,35 was ein Vorgehen begründete, welches schon aus praktischen Gründen „grotesk“ erscheint und zudem möglicherweise dem Verdikt der rechtlichen Unzulässigkeit anheimfällt.36 a) Unzulässigkeit wegen Offenkundigkeit nach § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 StPO Prima facie erscheint es die Offenkundigkeit jener Verhaltensweisen – am Rande – zu sein, welche eine förmliche Beweiserhebung, entsprechend § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 StPO, obsolet werden lässt. „Offenkundig“ ist zunächst jede allgemeinkundige Tatsache, also solche Tatsachen, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder dessen 33 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 [Fn. 219], welche insoweit von einer Gegenansicht spricht. 34 So stellt Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO [58. Auflage 2015], § 261, Rn. 6 a. E. zwar durchaus fest, dass der Richter bei Geltung des Strengbeweises, nicht strengbeweislich erhobenes Wissen auszublenden habe, jedoch bezieht sich dies nicht auf die Beobachtung von Spontanreaktionen, wie ein inhaltlicher Vergleich mit Rn. 6b offenbart. Erst dort wird nämlich von hinzukommenden Beweiseindrücken gesprochen, welche der Richter gerade zu berücksichtigen habe. Ebenso verhält es sich bei Eschelbach, in: BeckOK-StPO, § 261, Rn. 20 f. [24. Edition 2016], „wo“ zwar auf die Beweismittelarten des Strengbeweises beim Personalbeweis verwiesen wird, gleichwohl aber der Gesamtlesart kein derartiges Verständnis entnehmbar ist. Die Verweisung bezieht sich ersichtlich darauf, dass Vorhalte an sich nicht Gegenstand der Beweiswürdigung sind, sondern die jeweilige Antwort der Beweisperson. Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozess, S. 170 f. beschäftigt sich mit der Vernehmung des Mitangeklagten und stellt fest, dass dies einen „nicht zugelassenen materiellen Rollentausch“ darstelle, weil es sich materiell um eine Zeugenaussage handle. Die dortigen Ausführungen sind zwar von großem Interesse, betreffen indes nicht die Frage, ob eine gesonderte förmliche Beweiserhebung bei Spontanreaktionen grundsätzlich erforderlich ist. Seebode/ Sydow, JZ 1980, S. 506 (512) diskutieren die Zulässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen und als Vorfrage die gesetzliche Limitierung der Strengbeweismittel. Diese gehen zwar davon aus, dass die Verwendung weiterer Beweismittel oder Beweisbehelfe unzulässig ist, nur betrifft das nicht die vorliegende Konstellation. Hier geht es nämlich nicht um die Verwendung bestimmter Beweismittel im Rahmen der förmlichen Beweiserhebung, sondern um die Frage, ob eine förmliche Beweiserhebung überhaupt erforderlich ist. 35 Wenn Arzt, in: Festschrift für Peters, S. 223 f. nun diesbezüglich Bedenken betreffend die praktische Durchführbarkeit der Trennung von strengbeweislich erlangtem Wissen und sonstigem Wissen äußert, so ist dies zwar für sich überzeugend, indes kein Argument gegen ein etwaiges Gebot förmlicher Beweiserhebung. 36 Im Folgenden sei dies näher untersucht.

A. Beweisbedürftigkeit

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Wahrheit sich aus allgemein zugänglichen Quellen für jedermann unmittelbar einsichtig zeigt.37 Ereignen sich nun nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme, so sind diese zwar Tatsachen (primär: Indizien),38 gleichwohl besteht aber keineswegs eine Allgemeinkundigkeit hinsichtlich des „Sich-Ereignens“ jener. Selbst wenn man eine räumlich-beschränkte Allgemeinkundigkeit ausreichen lassen wollte,39 so ließe sich auch hier, beschränkt etwa auf die Gruppe der Verfahrensbeteiligten, nicht von regelmäßiger Kenntnis oder unmittelbar zugänglicher Kenntnisverschaffungsmöglichkeit ausgehen. Es liegt in der Eigenart nonverbaler Verhaltensweisen begründet, dass die Auftretensauffälligkeit derer regelmäßig hinter dem Niveau verbaler Verhaltensweisen zurückbleibt (jene schlicht häufiger „übersehen“ werden); wieso sollte etwa jeder Verfahrensbeteiligte das „zeitweilige Erröten“ des Nebenklägers wahrnehmen. Daher kann nicht von regelmäßiger Kenntnis der Verfahrensbeteiligten ausgegangen werden, und etwaige Beobachter der jeweiligen nonverbalen Reaktion haben nicht den Status einer allgemein zugänglichen Quelle. Eine Einordnung als allgemeinkundige Tatsache ist daher abzulehnen. Denkbar erscheint nun, die sich am Rande der förmlichen Beweisaufnahme ereignende nonverbale Verhaltensweise als gerichtskundige Tatsache einzuordnen.40 Eine Tatsache ist „gerichtskundig“, wenn ein Richter von jener bereits im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit zuverlässig Kenntnis erlangt hat.41 Es ließe sich nun argumentieren, dass bei jeder Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen – am Rande – durch ein Mitglied des erkennenden Gerichts, das Gericht ja nun dieser Tatsache kundig geworden ist; und von einer zuverlässigen Kenntniserlangung kann, vermöge der unmittelbaren (eigenen) Wahrnehmung, erst Recht ausgegangen 37

Vgl. BVerfGE 10, S. 177 (183); BGHSt 6, S. 292 (293); 26, S. 56 (59); 40, S. 97 (99); Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 204; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 404; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 48; Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 117; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 9; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 10; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 24, Rn. 11. 38 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. II. 39 Vgl. dahingehend BGHSt 6, S. 292, 293; Hanack, JZ 1970, S. 561 (562); Koch, DAR 1961, S. 275; Nüse, GA 1955, S. 72. Dies ablehnend Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 122. 40 Diese Einordnung vornehmend BGH, NStZ 1995, S. 609, OLG Jena, StV 2007, S. 26 sowie Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 sämtlich aber für den Fall des Auftretens von Verhaltensweisen im Zuschauerraum (außerhalb des Zentralgeschehens der mündlichen Verhandlung). Was aber a maiore ad minus von diesen Quellen auch für den Fall des Auftretens am Rande förmlicher Beweisaufnahme bejaht werden dürfte. 41 Vgl. RGSt 16, S. 327 (330); BGHSt 26, S. 56 (59); 45, S. 354 (357 f.); Becker, in: Löwe/ Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 208; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 404; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 61; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 10; Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 123 f.; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 10; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 24, Rn. 11. Ausreichend ist bei einem Kollegialgericht insoweit, dass ein Richter die notwendige „Kunde“ besitzt, dieser kann sodann das Gericht von seinem Wissen überzeugen. Vgl. Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 10.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

werden. Tatsächlich ist es aber jene unmittelbare eigene Wahrnehmung, welche einer Subsumtion unter das Merkmal der Offenkundigkeit, respektive der Gerichtskundigkeit, im Wege steht. Der Sinn und Zweck der Vorschrift des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 StPO besteht darin, förmliche Beweiserhebungen dort zu verhindern, wo jene als bloß verzögernder Formalismus verblieben.42 Dies ist der Konzeption nach etwa dann der Fall, wenn über eine für das aktuelle Verfahren relevante Tatsache bereits unabhängig von dem aktuellen Verfahren gesicherte Kenntnis besteht, sei jene nun allgemeinkundig oder gerichtskundig. Für diesen Fall bestimmt die Vorschrift, dass jene verfahrensfremde Information nicht förmlich erhoben werden braucht (oder darf). Ereignen sich nun nonverbale Verhaltensweisen am Rande der sonstigen förmlichen Beweisaufnahme, so sind dies keine verfahrensfremden, sondern verfahrenseigene Vorgänge (beziehungsweise Tatsachen), welche nicht im Wege eines argumentum a maiore ad minus unter die Offenkundigkeit subsumierbar sind. Das telos steht dem schlicht entgegen.43 Offenkundig – respektive gerichtskundig – kann niemals sein, was durch unmittelbare Wahrnehmung in demselben Verfahren durch die mündliche Verhandlung erlangt wird oder – anders formuliert – erlangt werden soll.44 In diesen Fällen würde die Annahme der Gerichtskundigkeit den Unmittelbarkeitsgrundsatz in seinem Wesensgehalt betreffen,45 entspricht es doch der historischen Konzeption der mündlichen Verhandlung, dem Gericht auf diesem Wege einen unmittelbaren Eindruck der Vorgänge des Einzelfalles zu gewähren. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Ursprung gerichtlicher Kunde über die Tatsachen, für welche die Gerichtskundigkeit in Frage steht, außerhalb der laufenden Verhandlung wurzelt.46 Das Merkmal der Offenkundigkeit steht daher – aus dogmatischen Gründen – einer förmlichen Beweiserhebung in jenen Fällen nicht entgegen. b) Förmliche Beweiserhebung als Unmittelbarkeits- und Informationsverlust Indes gilt zu bedenken, dass derartige nonverbale Verhaltensweisen – so sie denn am Rande der förmlichen Beweisaufnahme auftreten – dem erkennenden Gericht im 42

Vgl. BGHSt 45, S. 354 (358, 360); Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 123. Interessant ist auch folgende Erwägung: Unterstellt, das Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen – am Rande – wäre eine gerichtskundige Tatsache, so könnte diese Tatsache in anderen Verfahren (sofern wiederum dem Gericht kundig) ohne förmliche Beweiserhebung verwertet werden. Das kann nicht richtig sein, handelt sich doch gerade um unmittelbare Wahrnehmungen des Einzelfalles innerhalb der Hauptverhandlung. Der BGHSt 45, S. 354 (358) und [Leitsatz] hat insoweit etwa entschieden, dass die unmittelbaren Wahrnehmungen eines beauftragten Richters (§ 223 StPO) nur im Wege der Verlesung der Vernehmungsniederschrift nach § 251 Abs. 1 StPO in die Verhandlung eingeführt werden können und gerade nicht als gerichtskundige Tatsache. 44 So ausdrücklich auch Nüse, GA 1995, S. 72. 45 Vgl. zu dem Spannungsverhältnis zwischen Offenkundigkeit (respektive Gerichtskundigkeit) und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz BGHSt 45, S. 354 (358). 46 Vgl. Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 79. 43

A. Beweisbedürftigkeit

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Wege unmittelbarer Wahrnehmung bereits zur Kenntnis gebracht sind; jene nun erneut zu „erheben“, erschiene doch sehr befremdlich. So ist es nur überzeugend, dass Judikatur47 und Schrifttum48 hier von einem unzulässigen Beweisgegenstand ausgehen oder Bottke49 von einer der Strafprozessordnung fremden „Metaisierung“ spricht. Zieht man die Sachaufklärungsmaxime heran und zwar in Gestalt des Gebotes der Verwendung des sachnächsten Beweismittels,50 so offenbart sich ein Widerspruch zum Sinngehalt des förmlichen Beweisverfahrens: Treten nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme auf, so gerierte sich die „unmittelbarste“ förmliche Beweiserhebung – Zeugenvernehmung des Beobachters – realiter als nur mittelbar gegenüber der unmittelbaren Wahrnehmung durch das erkennende Gericht selbst. Die Verwendung des sachnächsten Beweismittels dient primär der Qualitätssicherung der Beweiserhebung;51 bei unmittelbarer Wahrnehmung ist indes schon das höchst-mögliche Qualitätsniveau erreicht, sodass eine förmliche Beweiserhebung als sinnentleerter Formalismus ein strukturelles Unmittelbarkeitsdefizit begründete. Zunächst bedürfte es nämlich eines gerichtlichen Extraneus’, welcher das in Rede stehende (nonverbale) Verhalten beobachtet haben müsste.52 Anderenfalls – hätte etwa nur das Gericht die in Rede stehende Verhaltensweise bemerkt – gestaltete sich die juristisch-praktische Konsequenz als Wahl zwischen Skylla und Charybdis: Entweder ginge man in Ermangelung eines „Beobachtungs-Zeugen“ von rechtlicher Unmöglichkeit bezüglich der Erhebung und mithin der Verwertung aus, mit der Folge, dass das Gericht jener potentiell verfahrensrelevanten Information verlustig 47 Vgl. BGHSt 39, S. 239 (241). Dort suchte eine in der Hauptverhandlung vernommene Zeugin den Vorsitzenden nach Abschluss der Beweisaufnahme in seinem Dienstzimmer auf und revidierte ihre vorherige Aussage. In der wiedereröffneten Beweisaufnahme blieb die Zeugin unerreichbar und der Vorsitzende informierte die Strafkammer über das Geschehen im Wege richterlichen Hinweises. Auch für diese Konstellation lehnte der Bundesgerichtshof eine förmliche Beweiserhebung in Gestalt der Zeugenvernehmung des Richters ab. Dies muss erst recht für Wahrnehmungen des erkennenden Gerichts innerhalb des Zentralgeschehens der mündlichen Verhandlung gelten. Vgl. ferner BGH, StV 1983, S. 402; BGH, NStZ 1998, S. 212; BGH, StraFo 2010, S. 71; BayObLGSt 1953, S. 26 (27 f.); BGHSt 20, S. 298 (299); BGH, NStZ 1995, S. 218 (219); OLG Köln, OLGSt-StPO, § 244, Nr. 1. 48 So ausdrücklich Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 113; Rissing-van Saan, MDR 1993, S. 310. Vgl. ferner Bottke, NStZ 1994, S. 81 (82); Beulke, in: Festschrift für Amelung, S. 543 (552 f.); Michel, MDR 1992, S. 1026; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 244, Rn. 49; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58. 49 Bottke, NStZ 1994, S. 81 (82). 50 Vgl. BGH, NStZ 2004, S. 50; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 24; Cornelius, NStZ 2008, S. 244 (245). Vgl. zu den Auswirkungen BGHSt 10, S. 186 (191 f.). 51 Vgl. BVerfG, NJW 1981, S. 1719 (1722). 52 Also irgendeine Person im Gerichtssaal, welche nicht dem erkennenden Gericht angehören darf. Und dies wird vielfach nicht gegeben sein, denn nonverbale Verhaltensweisen werden regelmäßig als situative Besonderheit nur kurzweilig auftreten und nicht längere Zeit als Zustand verbleiben.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

ginge;53 oder ein Mitglied des erkennenden Gerichts würde förmlich als Zeuge über die in Rede stehende Beobachtung vernommen werden müssen,54 was das erkennende Gericht entscheidungsunfähig machen würde und eo ipso dem Angeklagten den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2) entzöge.55 c) Nonverbale Verhaltensweisen als „unaufgesuchte“ Wahrnehmungen Tatsächlich wurzelt das entscheidende Argument für eine Negation der Bedürftigkeit förmlicher Beweiserhebung hier in der Zufälligkeit des Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen selbst. So weisen die Institute förmlicher Beweiserhebung eine Gemeinsamkeit auf: Bei sämtlichen von der Strafprozessordnung aufgeführten Mitteln zur Führung des Beweises handelt es sich um solche, welche dem Gericht vorgeführt werden, einen Beweis zu erbringen. Jede Beweiserhebung versteht sich daher strukturell als Aufsuchung des jeweiligen Beweismittels (exemplarisch des konkreten Zeugen). Treten nonverbale Verhaltensweisen nun am Rande der förmlichen Beweisaufnahme auf und werden jene vom Gericht bemerkt, so handelt es sich hierbei in der Regel56 um rein zufällige und daher „unaufgesuchte“ Wahrnehmungen.57 Die von der Strafprozessordnung vorgegebenen Institute förmlicher Beweiserhebung können hierauf – wie schon das Reichsgericht58 richtig konstatierte – dogmatisch keine Anwendung finden. In vorbezeichneter Entscheidung ging es um die sinnliche Wahrnehmung der „Gesichtszüge“ des Angeklagten und denen einer weiteren Person, aufgrund dessen Ähnlichkeit sich das Tatgericht in der Annahme der Vaterschaft des Angeklagten bestärkt sah.59 Die Revision rügte nun den Umstand, dass diese – zufällige – sinnliche Wahrnehmung nicht als förmliche Augenscheinseinnahme geschah (und folglich nicht protokolliert wurde).60 Bei dem bloßen „Aussehen“ einer Person handelt es sich zwar freilich nicht um eine nonverbale Verhaltensweise, indes besteht bei normativer Betrachtung eine identische Ausgangslage: Das Gericht 53

Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58. Vgl. Rissing-van Saan, MDR 1993, S. 310 ff. 55 Vgl. zu dieser Schlussfolgerung im Ergebnis auch BGHSt 39, 239 (241). 56 Die Ausnahme wären sogenannte Experiment-Konstellationen. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 57 Wird innerhalb des Schrifttums von „fehlender Aufgesuchtheit“, „Unaufgesuchtheit“ oder „unaufgesuchten Wahrnehmungen“ gesprochen – etwa bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2312; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 146; Wenskat, Der Augenscheinsbeweis im Strafprozess, S. 23 unter Verweis auf BGHSt 5, S. 354 (356); 18, S. 51 (54 f.) – so geschieht dies (fälschlicherweise) in einem anderen Zusammenhang und gerade nicht bezogen auf die eigentliche Frage der Beweisbedürftigkeit. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb) sowie Zweites Kapitel B. III. 1. b) dd). 58 RGSt 39, S. 303 (304). Vgl. zur im Schrifttum leider häufigen Fehlinterpretation dieser Entscheidung des Reichsgerichts die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb). 59 RGSt 39, S. 303. 60 RGSt 39, S. 303. 54

A. Beweisbedürftigkeit

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„tätigt“ die Beobachtung einer Situation, derer es sich überhaupt nicht hätte verschließen können, namentlich deren Wahrnehmung sich dem Gericht vielmehr aufgezwungen hat. Derartige unaufgesuchte Wahrnehmungen können strukturell nicht förmlich erfolgen, dies ist mangels Finalität unmöglich. Es ist also letztlich die „Unaufgesuchtheit“ dieser am Rande auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen, welche einer förmlichen Beweiserhebung entgegensteht, sodass sich eine Berücksichtigung jener in der Entscheidungsfindung gerade nicht als aktive Umgehung des formalisierten Beweisverfahrens geriert.61 2. Sonderfall: Experiment-Konstellationen zur Provokation nonverbaler Verhaltensweisen Gänzlich anders verhält es sich, sofern nonverbale Verhaltensweisen im Rahmen sogenannter Experiment-Konstellationen auftreten. Erfasst sind jene Fälle, in denen nonverbale Reaktionen – wie etwa ein „spontanes In-Tränen-Ausbrechen“ – durch Fragestellungen oder Experimente seitens des Gerichts final und zweckbezogen, nämlich mit dem Ziel der Wahrnehmung, bei einer Person provoziert werden. Exemplarisch sei hier etwa genannt, dem Angeklagten, dem Zeugen oder auch dem Nebenkläger Fotos des getöteten Opfers vorzulegen, um einen „Blick“ auf seine Reaktionen „zu erhaschen“. Folgender – von einiger Kuriosität beseelter und als „umgekehrte Rekognition“62 firmierender – Beispielsfall soll dies noch einmal verdeutlichen:63 Der Adam wurde rechtskräftig wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes, §§ 249 ff., 250 Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB, verurteilt; die Identität des Mittäters (Bertram) blieb unbekannt, da Adam dessen Namen nicht kannte und Bertram bei der Tatausführung maskiert war. Bei Begehung der Tat hatten Adam und Bertram das Opfer über einen längeren Zeitraum in Schach gehalten, sodass sich ihnen das Gesicht des Opfers einprägen musste. In einem von Adam betriebenen Wiederaufnahmeverfahren benennt dieser nun den Carl als Mittäter. Die Staatsanwaltschaft leitet daraufhin gegen Carl ein Ermittlungsverfahren ein und schließlich wird gegen diesen die Hauptverhandlung eröffnet. Der Vorsitzende Richter vereinbart mit dem Raubopfer, dass dieses während der mündlichen Verhandlung den Gerichtssaal durch einen Seiteneingang betritt und – ohne sich selbst zu äußern – ihm ein Schriftstück vorlegt. Dabei stellt sich das Raubopfer so neben den Vorsitzenden, dass der Angeklagte das Opfer wahrnimmt. Das nonverbale Verhalten des Angeklagten zeigt, dass dieser das Opfer 61 Ob diese zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen sodann auch eo ipso Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung sind, ist auch hier eine gesonderte Frage. Vgl. insoweit die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. 62 Vgl. zu der Bezeichnung dieser Fallgruppe Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 148. 63 Beispielfall – modifiziert – nach Haas, GA 1997, S. 368 (370). Haas beschäftigt sich in jenem Beitrag mit der Frage, ob der Beschuldigte während seiner Vernehmung zugleich Augenscheinsobjekt sein kann und diskutiert insoweit auch, welche nonverbalen Verhaltensweisen der „Beschuldigtenvernehmung“ zugewiesen sind.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

nicht kennt, so bleibt namentlich der erhoffte „überraschte Gesichtsausdruck“ aus. Die Zweifel an seiner Mittäterschaft sind bestärkt.64 Im Schrifttum65 werden „Experimente, Versuche oder Rekonstruktionen“, ohne speziellen Bezug auf nonverbale Verhaltensweisen, nur in Gestalt förmlicher Beweisaufnahme als zulässig erachtet und dies ist auf Experiment-Konstellationen zur Hervorrufung nonverbaler Verhaltensweisen freilich übertragbar. Ausweislich obiger Erwägungen ist in diesen Fällen nicht von einer Unaufgesuchtheit auszugehen. Werden seitens des Gerichts Experimente durchgeführt, die darauf abzielen, nonverbale Verhaltensweisen bei bestimmten Personen zu provozieren, so stellen sich die dann getroffenen Wahrnehmungen gerade als aufgesucht dar. Werden dem Angeklagten etwa Fotos des Tatopfers vorgelegt, um dessen „mimische Veränderungen“ zu beobachten (oder ein Versuch wie im Beispielsfall durchgeführt), so besteht letztlich ein struktureller Gleichlauf zur (verbalen) Vernehmung des Angeklagten: Ersterenfalls wird eine nonverbale Reaktion erwartet, letzterenfalls eine Antwort, also eine verbale Reaktion. Beide Reaktionen sind aufgesucht, nur käme in letzterem Falle niemand auf die Idee, auf eine förmliche Erhebung zu verzichten und etwa eine informatorische Befragung des Angeklagten durchzuführen,66 würde doch unstreitig auf das Institut der förmlichen Angeklagtenvernehmung nach §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO verwiesen werden. Dieser Gleichlauf im Vorgehen der Informationsgewinnung – verbal oder nonverbal, aber aufgesucht – muss einen Gleichlauf in der Rechtsfolge nach sich ziehen, und zwar dergestalt, dass in beiden Fällen – vermöge der „Aufgesuchtheit“ – eine förmliche Beweiserhebung erforderlich und mithin statthaft ist. In derartigen Experiment-Konstellationen handelt es sich gerade nicht um zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen, sondern um gezielt aufgesuchte Tatsachen – meist Indizien67 – mit Auswirkungen auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch nach § 267 StPO, sodass eine Erhebung im Wege förmlicher Beweisaufnahme notwendig ist oder (mit anderen Worten) jene Experiment-Konstellationen eben in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattzufinden haben.68 Damit ist freilich

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Nach dieser Konstellation wäre es auch denkbar, nonverbale Verhaltensweisen analog bei anderen Verfahrensbeteiligten zu provozieren. 65 Vgl. Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 16. 66 Vgl. zur Unzulässigkeit der Umgehung der förmlichen Vernehmung durch informatorische Befragungen BGH, StV 1994, S. 526 f. sowie Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 59. 67 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. II. 68 Welches Institut für die Beweiserhebung sodann „zu verwenden“ ist – ob etwa eine Vernehmung oder eine Augenscheinseinnahme – ist damit noch nicht gesagt und wird an späterer Stelle ausführliche Klärung erfahren. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. Denkbar ist auch, dass ein Experiment der „Verwendung“ mehrerer Beweisinstitute bedarf. Vgl. Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/WidmaierStPO, § 244, Rn. 16.

A. Beweisbedürftigkeit

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noch keine Aussage über die generelle strafprozessuale Zulässigkeit von (auch genannten) Experiment-Konstellationen getroffen; dies sei an späterer Stelle erörtert.69

V. Nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung Unbeachtet blieb bisher die Konstellation, dass nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung auftreten, also zwar noch innerhalb des Sitzungssaales, aber eben außerhalb des Zentralgeschehens der Hauptverhandlung. So hatte etwa das Landgericht Leipzig70 aus der Beobachtung des Verhaltens zweier Zuschauer (und weiteren Umständen) auf die Fehlerhaftigkeit der Aussage einer im Zeugenstand befindlichen Person geschlossen, und exemplarisch wäre hier der „vorwurfsvolle Blick“ der Ehegattin des Angeklagten aus dem Zuschauerraum zu nennen. Ohne dass dies in Judikatur71 oder Schrifttum72 ernsthaft gefordert werden würde, ist für derartige Vorgänge – deren Beweiswert sehr gering sein dürfte – analog obiger Ausführungen eine förmliche Beweiserhebung im Grundsatze unstatthaft. Der Großteil jener sich ereignenden nonverbalen Verhaltensweisen wird auch hier – wie etwa der „vorwurfsvolle Blick“ – zufällig auftreten, sodass jene einerseits der unmittelbaren gerichtlichen Wahrnehmung zugänglich und andererseits unaufgesucht sind, also keinen tauglichen Gegenstand der Beweiserhebung bilden.73 Anders wäre hier mit Experiment-Konstellationen zu verfahren. Jene führen – wie erwähnt – zu aufgesuchten Wahrnehmungen und hätten daher wiederum stets in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattzufinden. Unabhängig davon, dass sich aber de facto ohnehin keine Konstellationen werden finden lassen, in denen es für das Tatgericht überhaupt angezeigt wäre, nonverbale Reaktionen eines Zuschauers zu 69 Vgl. hierzu die Ausführungen im Rahmen des Dritten Kapitels betreffend „Erhebungsund Verwertbarkeitsschranken“. 70 LG Leipzig [unveröffentlicht] – aufgehoben durch BGH, NStZ 1995, S. 609, weil (im Ergebnis) ein Verstoß gegen § 261 StPO gegeben gewesen sei. 71 Vgl. BGH, NStZ 1995, S. 609. Der Bundesgerichtshof beschäftigt sich in dieser Entscheidung mit der Frage, ob derartige Verhaltensweisen zum Inbegriff der mündlichen Verhandlung wurden und sieht hierfür lediglich eine Einführung in die Hauptverhandlung als erforderlich an, was dergestalt geschehen könne, dass den Verfahrensbeteiligten (nur) Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird. Ebenso bei BGH, StV 2007, S. 26. 72 Vgl. Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 16; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57. Im Schrifttum verhält es sich ähnlich: Die Frage der Einbeziehung in die mündliche Verhandlung wird diskutiert, gleichwohl aber die förmliche Beweiserhebung nicht für erforderlich gehalten. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 begründet die fehlende Beweisbedürftigkeit mit der „Offenkundigkeit“ jener Verhaltensweisen. 73 Ob diese zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen sodann auch eo ipso Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung sind, ist „erneut“ eine gesonderte Frage. Vgl. die folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 3.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

provozieren, wäre hier insoweit nur eine Erhebung in Gestalt des Augenscheinsbeweises denkbar. Für eine Erhebung in Gestalt des Zeugenbeweises wäre eine förmliche Zeugenvernehmung der in Rede stehenden Person notwendig und dafür müsste jene den Zeugenstand betreten, womit sie sich wiederum innerhalb des Zentralgeschehens der Hauptverhandlung befände.

VI. Zusammenfassung Rekapitulierend ist festzustellen, dass nonverbale Verhaltensweisen – sowie sie in der Hauptverhandlung aufzutreten vermögen – nur eingeschränkt tauglicher Gegenstand förmlicher Beweiserhebung sind. Ereignen sich nonverbale Reaktionen bei der förmlichen Beweiserhebung – also etwa das „spontane Erröten“ des Zeugen –, so sind jene bereits originärer Bestandteil der Beweiserhebung, sodass eine „erneute Erhebung“ unstatthaft wäre.74 Für die Konstellationen, dass sich nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme oder im Zuschauerraum ereignen, ist Folgendes festzustellen: Handelt es sich um zufällig auftretende nonverbale Reaktionen – etwa die „abwinkende Geste“ des Angeklagten auf Äußerungen des Zeugen während dessen Vernehmung –, so sind diese als unaufgesuchte Wahrnehmungen des Tatgerichts bereits aus dogmatischen Gründen kein tauglicher Gegenstand förmlicher Beweiserhebung;75 ebenso verhält es sich etwa beim „vorwurfsvollen Blick“ der Ehegattin des Angeklagten im Zuschauerraum.76 Dagegen gilt für Experiment-Konstellationen – etwa die Vorlage von Lichtbildern, um ein „In-Tränen-Ausbrechen“ „zu erhaschen“ –, dass jene, als vom Tatgericht aufgesuchte Wahrnehmungen, ausschließlich in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattfinden dürfen.77

74

Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. III. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 76 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. V. 77 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. Damit ist dann aber letztlich auch klar, dass jene im Ergebnis eben wiederum bei förmlicher Beweiserhebung auftreten müssen. Womit „man“ wieder bei erster Kategorie wäre. 75

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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B. Nonverbale Verhaltensweisen in der Dichotomie von (subjektivem) Personal- und Sachbeweis Im Jahre 1987 formulierte der Bundesgerichtshof78 in Bezug auf die „[nonverbalen] Reaktionsweisen der Prozessbeteiligten“ – unter Verweis auf Wimmer79 – (untechnisch) durchaus treffend: „In diesem Sinne [ist] die ganze Hauptverhandlung eine fortgesetzte Augenscheinseinnahme.“80

Denn tatsächlich bieten sich dem erkennenden Tatgericht die nonverbalen Verhaltensweisen der Verfahrensbeteiligten zur sensuellen Wahrnehmung dar, so wird das Tatgericht etwa das „spontane Erröten“ optisch-visuell beziehungsweise die „gesteigerte Stimmhöhe“ auditiv „bemerken“. Wenn nun Experiment-Konstellationen, zur Provokation nonverbaler Reaktionen, stets in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattzufinden haben, ist mit der Feststellung jener generell sensuellen Wahrnehmung aber keineswegs entschieden, vermöge welchen förmlichen Beweisinstituts das Tatgericht die „Erhebung“ etwa eines „überraschten Gesichtsausdrucks“ des Angeklagten „nach dem Vorlegen von Lichtbildern“ nun zu vollziehen hat.81 Bereits dem Wortsinne nach böte sich eine förmliche Augenscheinseinnahme in Gestalt der visuellen Wahrnehmung jenes „überraschten Gesichtsausdrucks“ an und das, obgleich kein Tatgericht je zweifeln und eine Vernehmung „annehmen würde“, sollte der Angeklagte das „Wiedererkennen“ mittels eines „einfachen (verbalen) Neins“ negieren, obwohl auch dieses auditiv wahrnehmbar wäre. Es liegt auf der Hand, dass sich die Entscheidung anhand der Abgrenzung zwischen subjektivem Personal- und Sachbeweis vollziehen wird, wobei – respektive als Vorfrage – auch die Aussagequalität nonverbaler Verhaltensweisen von Bedeutung sein dürfte.

78

BGHSt 35, S. 164 (166) unter Verweis auf Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). Wobei der Begriff der „Augenscheinseinnahme“ hier untechnisch zu verstehen ist und auf die sensuelle Wahrnehmung und Würdigung der Gesamtsituation abzielt. 79 Instruktiv zu nonverbalen Reaktionen in der Hauptverhandlung Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). 80 BGHSt 35, S. 164 (166). 81 Bei sogenannten Experiment-Konstellationen ist diese Frage von praktischer Bedeutung für die jeweiligen Tatgerichte: Nämlich das richtige Beweisinstitut zu „wählen“. Geht es um zufällig auftretende nonverbale Reaktionen ist – mangels Beweisbedürftigkeit – letztlich nur die Aussagequalität jener von Relevanz; und zwar als Vorfrage betreffend die Annahme etwaiger „Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken“ im Rahmen des Dritten Kapitels.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

I. Von der Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens Die Sachaufklärungsmaxime der Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO verpflichtet das Tatgericht, sämtliche entscheidungserheblichen Tatsachen zu erheben.82 Im Rahmen des förmlichen Beweisverfahrens sind dem Gericht seitens des Gesetzes vier Strengbeweisinstitute83 sowie das Institut der Angeklagtenvernehmung enumerativ zur Beweiserhebung zur Verfügung gestellt.84 Damit ist indes keine Aussage darüber getroffen, welches dieser Institute das Gericht für welche Beweiserhebung zu „verwenden“ hat. Dies steht keinesfalls zur Disposition des erkennenden Gerichts, hierbei handelt es sich vielmehr um eine materiell-rechtliche Entscheidung, welche durch das Gesetz selbst, respektive die Strafprozessordnung, „bereits“ entschieden ist.

1. Zur materiell-rechtlichen Zuweisung Im Grundsatze vermag das Gericht jede Beweiserhebung durchzuführen, welche es für die Sachaufklärung für geboten erachtet,85 ist insoweit also hinsichtlich des „Ob“ der Erhebung unbeschränkt. Es darf sämtliche (auch ungewöhnliche) Erkenntnisquellen nutzen86 und folglich – vorbehaltlich etwaiger „Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken“87 – auch Experiment-Konstellationen zur Provokation nonverbaler Reaktionen durchführen. Indes muss ein jeder förmlicher Beweiserhebungsakt des Tatgerichts einem von der Strafprozessordnung vorgesehenen Beweisinstitut zuweisungsfähig sein, also in 82

Vgl. BGHSt 1, S. 94 (96); 32, S. 115 (124); Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 13; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 406; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1; Frister, in: SK-StPO, § 244, Rn. 12; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 28, 33a; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 49; Sättele, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 24; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 244, Rn. 11 f. 83 Vgl. BGH, NJW 1961, S. 1486 (1487); Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 179; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 35; Krause, Jura 1982, S. 225 (227); Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 18; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 35; Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, § 22, Rn. 2. 84 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2. 85 Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 406; Schmitt, in: Meyer-Goßner/SchmittStPO, § 244, Rn. 12. 86 Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302. Wobei sich gerade die folgende Bemerkung Dallmeyers für den Forschungsgegenstand noch als sehr treffend erweisen dürfte: „Tatsächlich lassen sich alle Beweisvorgänge, selbst wenn sie auf den ersten Blick aus dem Katalog der strafprozessualen Beweismittel herauszufallen scheinen, durchaus in ihn einordnen.“ 87 „Hierauf“ wird im Rahmen des Dritten Kapitels einzugehen sein.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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den Katalog der fünf förmlichen Beweisinstitute eingeordnet werden können,88 und gerade bei der „Erhebung“ nonverbaler Reaktionen geriert sich diese Einordnung – wie etwa bei dem „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten – regelmäßig als problematisch.89 Wenn die Strafprozessordnung mit den Instituten des Strengbeweisverfahrens und jenem der Angeklagtenvernehmung aber den Weg – also das „Wie“ – der förmlichen Erhebung von Tatsachen vorzugeben vermochte, ist das Gericht an diese legislatorische Entscheidung gebunden, vermag also nicht etwa neue Beweisinstitute zu „erfinden“.90 Dies ist logische Konsequenz einer positivrechtlichen Ausgestaltung der Beweisinstitute und schon vor dem Grundsatze der Gewaltenteilung geboten. Eine Zuweisungsentscheidung ist also betreffend Experiment-Konstellationen unabdingbar. 2. Von der Harmonie materiell-rechtlich zugewiesener und formal zu verwendender Beweisinstitute Diese Bindungswirkung an die Institute förmlicher Beweiserhebung bewirkt das Folgende. Ist ein Beweiserhebungsakt keinem der Beweisinstitute zuweisungsfähig, ist dieser a priori unzulässig;91 ist ein Beweiserhebungsakt einem Beweisinstitut zuweisungsfähig,92 so hat das Tatgericht diesen – als prozessuale Realisierung legislativer Vorgaben – auch im Wege des zugewiesenen Beweisinstituts durchzuführen. Es besteht demnach ein rechtliches Gebot der Harmonie zwischen dem materiellrechtlich zugewiesenen Beweisinstitut einerseits und dem seitens des Gerichts formal zu verwendenden Beweisinstituts andererseits.93 Exemplarisch darf also ein 88

Vgl. BGH, NJW 1961, S. 1486 (1487); Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302; Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Krehl, in: Karlsruher-KommentarStPO, § 244, Rn. 18, 23 ff.; Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 16; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 35, 40; Wenskat, Der richterliche Augenschein im deutschen Strafprozess, S. 12. In diese Richtung auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1004. 89 Was im Folgenden seine Erläuterung erfahren wird. Vgl. etwa die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff). Für Beispiele in der Judikatur, in welchen jene Zuweisung problematisch war: BGH, NJW 1961, S. 1486 (1487); RGSt 40, S. 48 (50); OLG Braunschweig, GA 1965, S. 376 (367); OLG Düsseldorf, VRS 60, S. 122. 90 Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302. Was dem Richter in der Beweiswürdigung an Freiheit gegeben ist, ist ihm in der Art und Weise der Erhebung der zu würdigenden Beweise gerade nicht gegeben. 91 Vgl. Sättele, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 16. 92 Vgl. im Ansatz hierzu auch Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302. 93 Die Terminologie („Harmonie“) geht insoweit auf Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozess, S. 170 f. zurück, der jene in ähnlichem Zusammenhange verwendet. Dieser diskutiert vor dem Hintergrund der justizförmigen Einführung von Beweismitteln die Harmonie zwischen materieller und formeller Rolle der Beweismittel (sogenannte „Rollentauschproblematik“). Dabei geht es im Besonderen auch um die (materielle) Zuweisung von Beweiserhebungsakten zu bestimmten Beweisinstituten. Es handelt sich dabei gerade nicht um die

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Beweiserhebungsakt – wie die Provokation nonverbaler Reaktionen beim Angeklagten durch „Vorlage von Lichtbildern“ –, welcher materiell-rechtlich dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen ist, nur im Wege des Zeugenbeweises „stattfinden“.94 Aus jenem Gebote der Harmonie erwächst der erste Grund für die Notwendigkeit einer Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens; nur „nach“ einer Zuweisung vermag das Gericht im Einzelfall auch das „richtige“ Beweisinstitut zu verwenden.95 Der zweite Grund besteht in den „Nachwirkungen“ jener Zuweisungsentscheidung für die Annahme etwaiger Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken – etwa § 136a StPO –, so wird sich die Zulässigkeit eines Beweiserhebungsaktes vielfach erst nach jener Zuweisung beurteilen lassen.96

II. Nonverbale Verhaltensweisen als Gegenstand des subjektiven Personalbeweises In medias res sei sogleich untersucht, inwieweit nonverbale Verhaltensweisen als Gegenstand des subjektiven Personalbeweises97 zu qualifizieren sind. Es geht also vorliegend um die Frage, „ob“ und „wann“ ein Beweiserhebungsakt (ExperimentKonstellation) – gerichtet auf „Provokation“ und Wahrnehmung etwa eines (erhofften) „überraschten Gesichtsausdrucks“ des Angeklagten oder bloß „gestischer Unruhe“ des Zeugen – dem Institut der Angeklagtenvernehmung beziehungsweise

Konstellation einer (unzulässigen) Beweissurrogation: Letztere erfasst Fälle, in denen eine Beweiserhebung durch eine andere Beweiserhebung (unzulässigerweise) ersetzt, also surrogiert wird. Die hier in Rede stehende Konstellation erfasst indes Fälle, in denen eine Beweiserhebung zwar durchgeführt wird, jedoch möglicherweise im Wege des „falschen“ Instituts. 94 Dies ist nicht zu verwechseln mit der Konstellation, dass eine Beweiserhebung durch eine andere Beweiserhebung ersetzt werden soll. Dies ist zulässig, sofern die Strafprozessordnung – exemplarisch § 250 StPO – es nicht untersagt und unter Umständen vor dem Hintergrund der Sachaufklärungsmaxime, § 244 Abs. 2 StPO, geboten. 95 In diese Richtung auch Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 18, welcher in expressis verbis von einer „Zuordnung“ spricht. Vgl. ferner Eb. Schmidt, Lehrkommentar-StPO Nachtrag, S. 392. 96 Vgl. Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 206 f. Vorwegnehmend mag es beispielsweise für die Zulässigkeit eines Beweiserhebungsaktes vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit von Bedeutung sein, dass nonverbale Verhaltensweisen „Aussagecharakter“ haben (können). 97 „Klassischerweise“ werden lediglich der Zeugen- und Sachverständigenbeweis als „subjektiver Personalbeweis“ bezeichnet. Vgl. Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 1. Nach hier vertretener Auffassung (vgl. Zweites Kapitel A. I., Fn. 13) ist indes richtigerweise auch der Angeklagte als Beweismittel anzusehen, da es auch seine Aussage ist, die im Rahmen der Beweiswürdigung gewürdigt wird. Folglich erscheint es nur konsequent das Institut der Angeklagtenvernehmung dann auch unter dem Topos des subjektiven Personalbeweises „zu behandeln“. So in etwa auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2312.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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jenem des Zeugenbeweises zugewiesen ist,98 wobei es von maßgeblicher Bedeutung sein dürfte, ob jene nonverbalen Reaktionen als „Aussage“99 qualifiziert werden können. Ergänzend sei untersucht, „ob“ bei bestimmten Experiment-Konstellationen die Hinzuziehung eines Sachverständigen100 (auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie) erforderlich sein könnte, entsprechende Beweiserhebungsakte also quasi dem Institut des Sachverständigenbeweises zugewiesen sein könnten. 1. Institut des Zeugenbeweises Nach tradierter Definition des Reichsgerichts101 ist der Zeuge eine Beweisperson, welche in einer Strafsache vor dem Richter, ohne Partei zu sein, ihre Wahrnehmungen über Tatsachen durch Aussage kundgeben soll.102 Neben der „Erkenntnis“, dass Wahrnehmungen über Tatsachen realiter auch nonverbal kundgetan werden können, erhellen weder obige Definition noch das Regelungsregime der §§ 48 ff., 69 StPO in expressis verbis, inwieweit „nonverbale Verhaltensweisen“103 jenem Institute des Zeugenbeweises zugewiesen sind. Somit erscheint eine nähere Betrachtung des Regelungsgehaltes des Instituts des Zeugenbeweises sachdienlich, respektive in jenem nach „Hinweisen“ für die Relevanz „des Nonverbalen“ innerhalb dieses Institutes „zu fahnden“.

98 „Zwischen“ dem Institut der Angeklagtenvernehmung und jenem des Zeugenbeweises ergeben sich – bezogen auf den Forschungsgegenstand – schon rein praktisch keine Abgrenzungsschwierigkeiten. In der Hauptverhandlung ist nämlich „klar“, wer der Angeklagte ist und so auch, ob von diesem oder einem Zeugen nonverbale Reaktionen in Experiment-Konstellationen „abprovoziert“ werden. 99 Wenngleich die Frage nach der Zuweisung in expressis verbis bisher wenig Beachtung erfahren hat, vermochte sich innerhalb des Schrifttums betreffend die Aussagequalität nonverbaler Reaktionen – wie etwa einem „spontanen Erröten“ – durchaus eine Art „Streitstand“ herauszubilden. Vgl. an dieser Stelle zunächst statt vieler nur Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips, S. 294 [Fn. 751]. 100 Der Sachverständige ist ebenso ein Beweismittel des Personalbeweises. Vgl. Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 2; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, Vor § 72, Rn. 1. 101 RGSt 52, S. 289. 102 Vgl. ferner zu dieser Definition BGHSt 22, S. 347 (348); Bader, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Vor § 48, Rn. 1; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 181; Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 48, Rn. 8; Maier/Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor § 48, Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, Vor § 48, Rn. 1; Rogall, in: SKStPO, Vor § 48, Rn. 11; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 26, Rn. 1; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 3 f. 103 „Genau genommen“ freilich der Beweiserhebungsakt, gerichtet auf die Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen. Was aus Gründen der „Einfachheit“ im Folgenden indes häufig wie vorbezeichnet firmiert.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

a) Zum Regelungsgehalt des Instituts des Zeugenbeweises Der Regelungsgehalt einer Rechtsnorm – und somit dessen „wahre Bedeutung“ – wird durch Auslegung ermittelt.104 Vorliegend ist es indes nicht der Regelungsgehalt einer einzelnen Norm, „der von Interesse ist“, sondern der des Instituts des Zeugenbeweises, welches – als existent präsumiert – von der Strafprozessordnung in einem Normenkonvolut eine positiv-rechtliche Ausgestaltung erfahren hat, sodass die Ermittlung des Regelungsgehaltes methodisch „wiederum“ nur durch Auslegung jenes Normenkonvoluts erfolgen kann.105 aa) Grammatische Auslegung Bei grammatischer Betrachtung des Normtextes – §§ 48 ff. StPO – erhellt sich eine multiple Verwendung des Begriffs „Vernehmung“ sowie von – in syntaktischem Zusammenhang stehenden – Begrifflichkeiten, welche das Institut des Zeugenbeweises ausgestalten. So sind es die Begriffe „Vernehmung“ und „Aussage“ innerhalb der §§ 48 ff. StPO, die vermöge ihrer systematischen Stellung im Sechsten Abschnitt und sodann ihrer sprachlichen (Sach-)Nähe zum Institut des Zeugenbeweises näher zu beleuchten sind; und dies im Zusammenspiel der Vorschrift des § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach der Zeuge zu veranlassen sei, das ihm vom Gegenstand seiner Vernehmung Bekannte im Zusammenhang anzugeben. Die Strafprozessordnung enthält realiter keine (Legal-)Definition der „Vernehmung“ oder der „Aussage“ und bestimmt nicht in expressis verbis, was Bestandteil jener ist. Der Ausdruck „vernehmen“ erfasst, entsprechend des allgemeinen Sprachgebrauchs, das Erhalten von Kenntnis von „Etwas“, also ein „In-ErfahrungBringen“. Eingedenk des fachlichen Sprachgebrauchs ist es der Prozessstoff, den es in Erfahrung zu bringen gilt.106 Bezogen auf § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO und unter Verweis auf den syntaktischen Zusammenhang, gilt es zu ermitteln, was dem Zeugen vom Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist.107 Die substantivische Verwendung seitens des Gesetzestextes deutet, recht „vage“, einen Institutscharakter im Sinne 104

Vgl. BVerfG, NJW 1973, S. 1491 (1494); Kudlich/Christensen, JA 2004, S. 74 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 313 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 612; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 717; Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 292 f.; Schäfers, JuS 2015, S. 875 (876); Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 29; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 34. 105 Dies geschieht anhand der vier klassischen Auslegungsmethoden. Vgl. hierzu: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320 ff.; Möllers, ZfPW 2019, S. 94 (104); Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 613 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 702; Schroth, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 257 ff. 106 Vgl. Deutsches Rechtslexikon, zu „Vernehmung“, S. 4522. 107 Zunächst ist dem Zeugen der „Gegenstand der Untersuchung“ zu bezeichnen, also die in Rede stehende prozessuale Tat, § 69 Abs. 1 Satz 2 StPO. Sodann erst ist dem Zeugen zu verdeutlichen, zu welchem Beweisthema er sich äußern soll, was also konkret „Gegenstand seiner Vernehmung“ ist, § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO. Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 69, Rn. 8.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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eines formalen Rahmens an, in welchem die Kenntniserlangung zu erfolgen habe.108 Der Begriff „Vernehmung“ indiziert ferner im Zusammenhang mit der Formulierung des § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO eine Finalität,109 dass der Zeuge zur Angabe des ihm Bekannten „zu veranlassen“ sei; es wird deutlich, dass jener Vorschrift ein aktives Hinwirken auf den Informationserhalt zu Grunde liegt.110 Die Art und Weise, wie der Zeuge das ihm Bekannte „anzugeben“ habe, offenbart der Wortlaut für sich nur „höchst ansatzweise“. Die Begriffe „Vernehmung“ und „anzugeben“ deuten eine Mündlichkeit an.111 Unter Hinzuziehung systematischer und teleologischer Erwägungen, wonach es bei der Zeugenvernehmung um die Übermittlung von Gedankeninhalten im Rahmen der mündlichen Verhandlung geht, lässt die Betrachtung des Wortlautes den Schluss zu, dass es eine – „wie auch immer geartete“ – kommunikative Art der Informationsübermittlung sein muss. Eindeutiger lässt sich dies für den Begriff „Aussage“, wie dieser in § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO verwendet wird, beurteilen. Nach allgemeinem und fachlichem Sprachgebrauch112 wird eine „Aussage“ als mündliche Äußerung verstanden, also primär als eine verbale Redeeinheit.113 bb) Systematische Auslegung Das Institut des Zeugenbeweises ist eines der (vier) fünf (Streng-)Beweismittel,114 welches die Strafprozessordnung für das formalisierte Beweisverfahren vorgibt und einem – eine prozessuale Determiniertheit indizierendem – umfassenden Regelungsregime unterwirft.115 So wird die besondere Förmlichkeit dessen schon vermöge der näheren Ausgestaltung des Ablaufs der Vernehmung – respektive durch die §§ 48 ff., 68, 69 StPO – ersichtlich, welche zum Ausdruck bringt, dass das Institut des Zeugenbeweises zugleich Bestandteil und Realisierung eines justizförmigen Verfahrens ist.

108

Vgl. Deutsches Rechtslexikon, zu „Vernehmung“, S. 4522. Vgl. Deutsches Rechtslexikon, zu „Vernehmung“, S. 4522. 110 Dies wird durch die Existenz der Zwangsmittel des § 70 StPO bestärkt. 111 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, zu „Vernehmung“ und „Verhör“, S. 244. 112 Der fachliche Sprachgebrauch erscheint hier vorrangig, da der Normadressat der hier relevanten Vorschriften der Rechtsanwender selbst – das Gericht – ist. 113 Vgl. Deutsches Rechtslexikon, zu „Aussage“, S. 445. So im Ergebnis auch Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 3, § 69, Rn. 14. Dies annehmend auch Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 61. 114 Vgl. statt vieler Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 48, Rn. 8 sowie Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 3. 115 Vgl. BGH NJW 1961, S. 1486 (1487); Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 17; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 179; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 302; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 35; Krause, Jura 1982, S. 225 (227); Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 18; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Trüg/Habetha, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 35; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 22, Rn. 2. 109

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Die Systematik erhellt, dass der Regelfall der Vernehmung die richterliche Vernehmung des Zeugen ist.116 Dem ist immanent, dass die „dort“ durchgeführte Befragung in einem offenen Dialog stattfindet. Der Richter tritt in amtlicher Eigenschaft dem zu Vernehmenden gegenüber und gibt jedenfalls konkludent zu erkennen, dass es sich um eine Befragung im Rahmen eines Strafverfahrens handelt. Wie Schumann117 richtig konstatiert, besteht bei der richterlichen Vernehmung für den Vernommenen eine entsprechende „Situationsklarheit“ hinsichtlich jenen Zwecks der Unterredung, was dem Zeugenbeweis einen förmlichen Charakter als Teil eines justizförmigen Verfahrens zuweist.118 Hinsichtlich einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft oder Beamte des Polizeidienstes119 verweist das Gesetz mit § 163a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StPO auf eben jene Vorschriften der richterlichen Vernehmung und überträgt mithin auch das Merkmal der Situationsklarheit auf jene nur hilfsweise erfolgende Vernehmung. Nach der Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Zeuge zu dem Termin seiner Vernehmung „vor dem Richter zu erscheinen“, also persönlich anwesend zu sein. Diese Regelung macht nur Sinn, wenn der Zeuge – den Sonderfall des § 186 GVG ausgenommen120 – auch mündlich zu vernehmen ist, also nach § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO das ihm vom Gegenstand seiner Vernehmung Bekannte mittels kommunikativen Aktes zu übermitteln hat. Die Systematik erhellt hier eine Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege einer Vis à vis-Kommunikation.121 Dass dies primär verbal zu geschehen hat, steht außer Frage, indes offenbaren die §§ 58a, 58b StPO,122 dass es nicht ausschließlich auf die verbal (sondern auch nonverbal) übermittelten Gedankeninhalte ankommen kann (muss), ansonsten wäre die Normierung der Aufzeichnung und Übertragung der Vernehmung in Bild und Ton sinnentleert. Dies zeigt sich ebenso in der Vorschrift des § 247a Abs. 1 Satz 3 StPO.123 Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass das Gesetz von einer Informationsübermittlung mittels kommunikativen Aktes ausgeht. 116

So im Ergebnis auch Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 48, Rn. 8. Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 176 f. 118 Nach Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 177 f. sei diese Erkenntnis indes das Ergebnis einer historischen Auslegung. Dies ist richtig, nur streitet auch die Gesetzessystematik für einen förmlichen Charakter des der Strafprozessordnung zugrundeliegenden Vernehmungsverständnisses. 119 Dass dies in der Praxis nicht bloß hilfsweise erfolgt, sondern vielmehr zum Regelfall wurde, vermag nicht den Ausgangspunkt der systematischen Auslegung zu beeinflussen; insoweit ist stets vom gesetzlichen Regelfall auszugehen. 120 Die Vorschrift des § 186 GVG regelt die Vernehmung einer hör- oder sprachbehinderten Person. 121 Vgl. Schumann, Verhör, Befragung, Vernehmung, S. 177. 122 Die Vorschriften der §§ 58a, 58b StPO regeln die Aufzeichnung der Zeugenvernehmung beziehungsweise die Durchführung jener im Wege der Bild und Ton Übertragung. 123 Die Vorschrift des § 247a Abs. 1 Satz 3 StPO regelt die Bild und Ton Übertragung der Zeugenaussage in das Sitzungszimmer. Aus der systematischen Stellung ergibt sich bereits, dass für die Hauptverhandlung diese Vorschrift lex specialis gegenüber § 58a StPO ist. Vgl. hierzu Maier, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 58a, Rn. 19. 117

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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Die den deutschen Strafprozess konstituierenden Prozessmaximen – der Unmittelbar- und Mündlichkeit124 – bestätigen „obigen Verdacht“, dass auch das Nonverbale „einmal“ relevant sein könnte. Ist unter Beachtung dieser Maximen – respektive § 250 Satz 1 StPO – eine Zeugenvernehmung durchzuführen, so liegt es nahe, dass diese im Wege einer Vis à vis-Kommunikation zu erfolgen hat, denn nur so kann eine mündliche Erörterung des Prozessstoffes im Rahmen der Hauptverhandlung sichergestellt werden. Obgleich die Mündlichkeit dem Wortsinne nach eher mit Verbalem konnotiert ist, so sprechen die Vorschriften des §§ 48 ff. StPO mit den Prozessmaximen im Zusammenhang betrachtet eine andere Sprache. Hier wird deutlich, dass es nicht nur auf das gesprochene Wort selbst ankommt, sondern auch auf die persönliche Anwesenheit des Zeugen, um den Verfahrensbeteiligten, respektive dem Tatgericht, einen unmittelbaren Eindruck auch von der Person des Zeugen zu gewähren.125 cc) Historisch-genetische Auslegung Der Normtext des geregelten Sachbereichs – respektive §§ 48 ff. StPO – beruht im Wesentlichen auf den Grundsätzen des (Streng-)Beweisverfahrens, wie es bereits der Reichsstrafprozessordnung zugrunde lag.126 Der „Zeuge“ als Beweismittel in seiner heutigen Ausprägung – und nennen wir es hier das Institut des Zeugenbeweises – blickt auf eine Rechtstradition zurück, welche ihren Beginn in den Anfängen des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens sucht.127 Dies gilt im Besonderen für das im Wortsinn angedeutete und von der Gesetzessystematik bestätigte Verständnis einer förmlichen und (heute „nur“ im Regelfall) richterlichen (Zeugen-)Vernehmung. Die Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahre 1532 – dem Prinzip der Suche nach der materiellen Wahrheit verpflichtet128 – sah mit der Vorschrift des Art. 65 CCC129 vor, dass der Zeuge sein Wissen über den Untersuchungsgegenstand und die Herkunft dieses Wissens anzugeben habe.130 Dass dies in dem seinerzeit vorherrschenden Inquisitionsverfahren vor dem Richter zu geschehen hatte, offenbart einerseits die Systematik jenes Gesetzeswerkes und war zudem selbstverständlich, denn Institutionen der Strafverfolgung, wie eine Staatsanwaltschaft, 124

Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 23 f.; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 64, 65 f.; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 250, Rn. 2 f.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46, Rn. 1, 3 f.; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 18, Rn. 25 f. 125 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 65. 126 Vgl. die Vorschriften der §§ 48 ff. RStPO. 127 Vgl. Ignor, Die Geschichte des Strafprozesses in Deutschland, S. 62. 128 Ignor, Die Geschichte des Strafprozesses in Deutschland, S. 60 f. 129 Art. 65 CCC: „Jtem die zeugen sollenn sagen von jrem selbs eigen waren wissenn mit antzeigung jrs wissens gruntlicher vrsach. So sy aber vonn frembden hören sagenn wurden, das soll nit genugsam geacht werden.“ 130 Vgl. hierzu auch Schumann, Vernehmung, Verhör, Befragung, S. 72 f.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

sollten erst hunderte Jahre später entstehen.131 Entsprechend lag auch den Preußischen Criminalordnungen von 1717 und 1805 das Verständnis einer ausschließlich richterlichen Zeugenvernehmung zu Grunde.132 Diese Vernehmung war einer strikten Formgebundenheit unterworfen, wie sie dem Geiste des Inquisitionsverfahrens mit seinen Beweisregeln entsprach.133 Es war schlicht nur die Konstellation der Vernehmung denkbar, in welcher der inquirierende Richter „als Institution“, dem Zeugen zur Vernehmung offen gegenübertrat und zwar mit der Aufforderung, ihm sein Wissen im Wege der Vis à vis-Kommunikation zu offenbaren.134 Im Geheimen stattfindende Aushorchungen oder eine von der gesetzlich vorgesehenen Art abweichende Durchführung der Vernehmung war, nach damaligem Verständnis, mit der Würde der Rechtspflege schlicht nicht in Einklang zu bringen.135 Das Vernehmungsverständnis war also ein solches förmlicher Art, gerichtet auf Wissenserlangung. Mit der Reichsstrafprozessordnung erfuhr der Deutsche Strafprozess eine vollständig neue Prägung: Dieser „neue Strafprozess“ war den Maximen der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit verpflichtet und schließlich wurde – als Gegensatz zu den Beweisregeln – die konzeptionelle Idee einer freien richterlichen Beweiswürdigung realisiert.136 Insoweit wurde die Formstrenge des Inquisitionsverfahrens für die Ebene der Beweiswürdigung überwunden, innerhalb des (Streng-) Beweisverfahrens wurde die wesentliche Förmlichkeit für die Ebene der Beweiserhebung indes beibehalten.137 Und dies vermag nicht zu verwundern, denn die Reichsstrafprozessordnung entstand ganz im Geiste der aufklärerischen Gedanken des modernen Rechtsstaates, wie diese sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt 131

Die Institution der Staatsanwaltschaft wurde erst durch das „Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen“ vom 17. Juli 1846 eingeführt. Vgl. hierzu Schumann, Vernehmung, Verhör, Befragung, S. 135. 132 Letztlich kann die Preußische Criminalordnung von 1805 als letztes Gesetz angesehen werden, welches seiner Struktur nach auf den Grundsätzen des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren beruhte. Wenngleich schon hier wesentliche Ideen der Aufklärung umgesetzt wurden. 133 Insbesondere die strikten Beweisregeln, also wann eine Tatsache unwiderlegbar als bewiesen gilt, waren charakterisierend für das Inquisitionsverfahren und offenbaren die Gegensätzlichkeit zum heutigen Grundsatz einer freien richterlichen Beweiswürdigung. 134 Vgl. Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 177 f. 135 Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren I, S. 342; Radbruch, Grenzen der Kriminalpolizei, S. 121 (125); Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 179. 136 Vgl. hierzu die Vorschrift des § 260 RStPO. Diese Entwicklungen begannen indes deutlich früher. So fanden die Elemente der Mündlichkeit und Öffentlichkeit bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive Einzug in die Strafprozessordnungen der deutschen Partikularstaaten. Vgl. Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 86 ff. Vgl. ferner die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I., Fn. 11 f. 137 Auch das Prinzip der (nunmehr „nur“ im Regelfall) richterlichen Zeugenvernehmung wurde der Reichsstrafprozessordnung sowie der Strafprozessordnung zugrunde gelegt. Vgl. §§ 48 ff. RStPO und §§ 48 ff. StPO.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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hatten. Einer dieser Gedanken war die Formgebundenheit der Rechtspflege. Gerade das Strafverfahren138 war aufgrund des Subordinationsverhältnisses in den feudalen Strukturen des Obrigkeitsstaates besonders anfällig für Machtmissbrauch gewesen.139 So war es „erneut“ die Formgebundenheit, durch welche das RechtePflichten-Verhältnis zwischen Staat und Bürger speziell für das Strafverfahren besichert werden sollte.140 Ein Gedanke, der bis heute seine Gültigkeit aufweist: Grundrechtsschutz durch Verfahren. Wortsinn und Gesetzessystematik hatten erhellt, dass das Institut des Zeugenbeweises auf den Informationserhalt im Wege kommunikativen Aktes gerichtet sein muss, wobei auch die Gesetzesmaterialien zur Reichsstrafprozessordnung sowie jene zur Strafprozessordnung keine Präzisierung jenes kommunikativen Aktes erlauben; die Rolle nonverbaler Verhaltensweisen verbleibt hier ebenso uneindeutig. Der „Blick“ in einige Vorgängergesetze aus der Zeit des Inquisitionsverfahrens gewährt indes ein „Mehr“ an Erkenntnis: So sah die Preußische Criminalordnung aus dem Jahre 1717 vor,141 dass der Richter bereits im Rahmen der Generalinquisition auf „Gebehrden und Gesicht“ des Befragten sowie „eintretende Veränderungen“ Acht zu geben habe und es war eine Protokollierungsverpflichtung normiert.142 Besonders in den Regelungen über den Zeugenbeweis war vorgesehen, dass der Richter „Gebehrden und Mienenspiel“ des Zeugen – in der Konfrontationssituation mit dem Inquisiten – zu protokollieren hatte. Im Besonderen werden hier nonverbale Verhaltensweisen wie „Erröten, Erblassen oder Zittern“ genannt.143 Ähnlich verhält es 138 Freilich insbesondere betreffend die Beschuldigtenvernehmung, wie es die Entartungen des Inquisitionsverfahrens offenbart hatten. 139 Vgl. Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 178 f., welche hier auf die asymmetrische Kommunikationsstruktur und die damit einhergehenden Gefahren des Machtmissbrauchs verweist. 140 Vgl. Schumann, Verhör, Vernehmung, Befragung, S. 179. 141 Sofern Vorschriften der prCrimO 1717 oder der prCrimO 1805 genannt wurden, sei darauf hingewiesen, dass das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren von einer Trennung zwischen sogenannter Generalinquisition und Spezialinquisition ausging. Während Erstere einen vorgelagerten Verfahrensabschnitt beschreibt, welcher allgemein dazu diente, die Tat zu ermitteln, beschreibt Letztere den Verfahrensabschnitt, welcher sich mit dem konkreten Verdächtigen befasste, dem sogenannten Inquisit. Während der Generalinquisition konnte auch ein Verdächtiger als Zeuge vernommen werden – wenngleich dem dann keine Beweiskraft zukam –, dies lässt sich bereits § 15 prCrimO 1717 entnehmen. 142 Vgl. Cap. III § XV prCrimO 1717: „Ob auch wohl dem Richter bey der General Inquisition frey stehet, einen jeden, und also auch denjenigen, welchen Er der That halber in Verdacht hat, als einen Zeugen vorzufordern, und denselbsen über seine Wissenschaft zu befragen; So muß dennoch der Richter, schweren Mein-Eyd zu vermeyden, diesen mit keinem Eyde belegen, sondern es bey obigen gemeinen und dergleichen Fragstücken bewenden lassen, inzwischen aber auf der verdächtigen Person Gebehrden, Gesicht und dabey vorkommenden Veränderung fleissig acht haben, und solches alles, wiewohl dennoch mit behöriger Behutsamkeit, verzeichnen lassen.“ 143 Vgl. Cap. V § XXI prCrimO 1717: „Wo aber dieses nicht verfangen will, müssen die Zeugen mit dem Inquisito, so fern solches füglich geschehen kann, controntiret werden, damit sie ihm die Wahrheit unter Augen sagen, und zwar soll allemahl nur ein einzeler Zeuge auf-

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

sich mit der Preußischen Criminalordnung aus dem Jahre 1805. Auch „dort“ war der Richter angehalten, bei Zeugen, welche Anlass zum Verdacht der Lüge boten, genaue Beobachtung anzustellen, ob bei bestimmten Fragen oder Situationen „nonverbale Reaktionen des Zeugen“ zu vernehmen sind.144 Der Sinn dieser „Gebehrdenprotokolle“ bestand darin, dem die Entscheidung obliegenden Richterkollegium, an welches die Akten versendet wurden, ein Abbild der jeweiligen Interaktionssituation der Vernehmung zu verschaffen.145 Dies offenbart, dass neben den verbal übermittelten Informationen, dem unmittelbaren Eindruck des Vernommenen, dessen Erscheinungsbild, aber eben auch dessen nonverbalen Reaktionen eine nicht unwesentliche Bedeutung beigemessen wurde. Interessanterweise ist seit der Reichsstrafprozessordnung keine derartige positivrechtliche Ausgestaltung – „Gebehrdenprotokolle“ – mehr vorhanden, was den Gedanken aufwerfen könnte, dass der Gesetzgeber nonverbalen Verhaltensweisen fortan keine Bedeutung zumesse. Es verhält sich indes konträr! Die Gesetzgebungsmaterialien zur Reichsstrafprozessordnung diskutieren diese „vermeintliche Abkehr“ nicht ansatzweise. Dieses Schweigen ist indes nur ideengeschichtlich konsequent. So sind es die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, welche der historische Gesetzgeber mit der Reichsstrafprozessordnung für das gesamte Deutsche Reich in das Strafverfahren etablieren wollte, um die erkannten Schwächen des Inquisitionsverfahrens – die bisher fehlende Unmittelbarkeit des entscheidenden Spruchkörpers – zu beseitigen und dem erkennenden Gericht „fortan“ einen unmittelbaren Eindruck von den Beweismitteln zu verschaffen. Während im Inquisitionsverfahren ein Bedürfnis bestand, die seitens des Inquirenten wahrgenommenen nonverbalen Reaktionen an das Richterkollegium zu übermitteln, bedurfte es dem im Rahmen des neuen Strafprozesses – „vermöge“ § 260 RStPO – nicht mehr. Der Spruchkörper hatte fortan einen – eigenen – unmittelbaren Eindruck geführet werden, da diesem seine Antwort auf die Articul nochmahls vorzulesen, und zugleich von dem Richter derselbe zu befragen: Ob Er diese seine Aussage, vermöge geleisteten Eydes, vor Wahr halte? Hingegen ist der Inquisit von dem Richter zu befragen: Ob Er dieser Aussage des Zeugen, oder der Person des Zeugen selbst, etwas beständiges zu opponiren habe? Dabey die Gebehrden und Minen des Inquisiten, auch der Zeugen, auch der Zeugen, fleißig in diesem Fall aufzuzeichnen, wie sie sich gestellet, ob sie errötet, erblast oder gezittert haben und vergleichen, wie auch, ob sie beständig einer dem andern contradiciret werden, und soll dieser Mühe, das Gericht, um die Wahrheit so viel möglich zu erforschen, sich nicht verdriessen lassen.“ 144 Vgl. § 326 prCrimO 1805: „Desgleichen muß der Inquirent, wenn besonders die Zeugen ihrer persönlichen Qualität nach verdächtig sind, genau Acht geben, bei welchen Umständen oder Fragen der Zeuge stockt und anstößt, oder unbeständig, furchtsam und verwirrt antwortet, ihn darüber zur Rede stellen, und zur aufrichtigen Anzeige der Wahrheit alles Ernstes ermahnen.“ 145 Vgl. Schumann, Vernehmung, Verhör, Befragung, S. 108 f. Vgl. als Beispiel für derartige Gebärdenprotokolle die Ausführungen bei Niehaus, Mord, Geständnis, Widerruf, S. 53, 55. Dieser liefert eine umfassende Kommentierung des Verhörprotokolls einer Strafsache aus dem Jahre 1787 in Konstanz. Für jenen Fall galt zwar die Constitutio Criminalis Theresiana aus dem Jahre 1769, was die Protokollierungspflichten betrifft, verhält es sich indes gleich.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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auf die Beweismittel. So ist es nur logisch, dass „seit“ der Reichsstrafprozessordnung keine Protokollpflichten betreffend nonverbale Reaktionen mehr existent waren. Wenn nun bereits in den vorherigen (Inquisitions-)Strafprozessordnungen eine Bedeutung nonverbaler Reaktionen des Zeugen anerkannt war146 – und mit der Reichsstrafprozessordnung die Schwächen des Inquisitionsverfahrens überwunden werden sollten –, so hat der historische Gesetzgeber damit wohl kaum beabsichtigt, das Beurteilungsniveau von Zeugenaussagen sukzessive abzusenken. Vielmehr sollte das Tatgericht nun in personam die Beweise – respektive die Zeugenaussage – würdigen können. Es entspricht also daher den Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers, dass diese Beurteilung mindestens so umfassend erfolgt, wie zu Zeiten des Inquisitionsverfahrens, also nonverbale Reaktionen im Rahmen des Zeugenbeweises „weiterhin“ von Bedeutung sein können. dd) Objektiv-teleologische Auslegung Ziel des Strafverfahrens ist die prozessordnungsgemäße, Rechtsfrieden bewirkende, materiell richtige Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten.147 Das Beweisverfahren dient der Ermittlung des wahren Sachverhalts, also der materiellen Wahrheit.148 So ist das Institut des Zeugenbeweises – als Instrumentarium dieses Beweisverfahrens – (mittelbar) demselben Ziel verschrieben. Dieser wahre Sachverhalt ist typischerweise ein solcher der Vergangenheit, respektive das historische Tatgeschehen, oder ein solcher der Gegenwart.149 Mit der Vorschrift des § 69 Abs. 1 StPO ist der Zweck des Zeugenbeweises bereits verschriftlicht. So gilt es, das dem Zeugen „Bekannte“ vom Gegenstand seiner Vernehmung in Erfahrung zu bringen. Es ist also das Wissen des Zeugen über jenen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt, welches es im Rahmen der Beweiserhebung zu erlangen gilt.150 Prä146 Und genannte Protokollierungspflichten nonverbaler Verhaltensweisen lassen dies als logischen Schluss zu. 147 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3. Vgl. hierzu ferner Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, Einl., Rn. 4; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 3 ff.; Dölling, in: Festschrift für Beulke, S. 679; Fischer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Einl., Rn. 3; Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, § 1, Rn. 4 ff.; Kudlich, in: MünchenerKommentar-StPO, Einl., Rn. 11; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, Einl., Rn. 4; Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, § 3, Rn. 1. 148 Vgl. BVerfGE 57, S. 250 (275); 63, S. 45 (61); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, S. 2 f.; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 28. Dies folgt aus dem materiellen Schuldprinzip als spezieller Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips: Ohne materielle Wahrheit ist das Schuldprinzip nicht zu verwirklichen. Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15, Rn. 6; Sättele, in: Satzger/Widmaier/Schluckebier-StPO, § 244, Rn. 24. 149 Vgl. RGSt 47, S. 100 (104 f.); 52, S. 289; BGHSt 22, S. 347 (348); Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 336; Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 48, Rn. 10; Maier/Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor § 48, Rn. 3: Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 15. 150 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 164 und ferner in diese Richtung auch Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 26, Rn. 57.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

gnanter formuliert: Zweck des Instituts des Zeugenbeweises ist der Wissenszugriff betreffend den Verfahrensgegenstand. Der Normkomplex der §§ 48 ff. StPO regelt das Verfahren betreffend den Zeugenbeweis,151 mithin dessen Ablauf sowie die Art und Weise der Durchführung. Hierbei handelt es sich um notwendige Regelungen eines Instituts, welches neben dem Wissenszugriff auch dem Ziel der Prozessordnungsgemäßheit verschrieben ist. Die Analyse der Strukturen des geregelten Sachbereichs – §§ 48 ff. StPO – offenbart, losgelöst von der gesetzgeberischen Intention, dass dem Institut des Zeugenbeweises ein förmlicher Charakter zugewiesen ist. Vor diesem Hintergrund kann nur ein solches Verständnis vom Zeugenbeweis sachgemäß sein, welches einerseits dem Primat des Wissenszugriffs maximale Geltung verleiht, andererseits aber auch der Prozessordnungsgemäßheit Rechnung trägt. Daraus folgt – als erste Erkenntnis –, dass der Wissenszugriff notwendigerweise Grenzen unterworfen sein muss, respektive nicht um jeden Preis erfolgen darf.152 Die Grenze ist die Prozessordnungsgemäßheit des Wissenszugriffs selbst, das heißt der Wissenszugriff hat unter Beachtung des förmlichen Charakters des Zeugenbeweises zu erfolgen. Daraus folgt ferner – e contrario als zweite Erkenntnis –, dass der Wissenszugriff unter Beachtung dieser Grenzen, so effektiv153 wie möglich zu erfolgen hat. Der Zeugenbeweis ist dergestalt „zu führen“, dass der Zweck des Wissenszugriffs bestmöglich erreicht wird, also das Wissen des Zeugen bestmöglich „abgeschöpft wird“. Die Art und Weise dieser „Abschöpfung“ muss – bei Prozessordnungsgemäßheit – unbeachtlich sein, solange sie geeignet ist, den Zweck der vollumfänglichen Kenntniserlangung zu fördern. Die Strukturen der §§ 48 ff. StPO erhellen zwar nicht unmittelbar, dass der kommunikative Akt jener Wissensabschöpfung auch Nonverbales inkludiert, sodann aber, dass der Zweck des Zeugenbeweises auf „maximalen Informationsgewinn“ ausgerichtet ist. Wenn nonverbale Verhaltensweisen – wie etwa ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – nun im Einzelfall geeignet sein sollten, einen Einblick in das Wissen des Zeugen betreffend den Verfahrensgegenstand zu gewähren – quasi ein maius gegenüber „nur“ Verbalem –, so verwirklichte deren „Erhebung“ auch unmittelbar den Zweck des Zeugenbeweises selbst, in anderen Worten: Besteht die Möglichkeit vermöge nonverbaler Reaktionen des Zeugen an dessen Wissen be-

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Die Vorschriften der §§ 48 ff. StPO geben die Form vor, welche einzuhalten ist, wenn ein Zeuge im Strengbeweisverfahren vernommen wird. Im Freibeweisverfahren gelten diese Vorschriften nur, sofern diese subjektiv-öffentliche Rechte des Zeugen zum Inhalt haben. Vgl. Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 48, Rn. 8. 152 Was namentlich bereits der Verweis in § 69 Abs. 3 StPO auf § 136a StPO verdeutlicht. 153 Dies resultiert zudem aus der Stoffsammlungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO, wonach das Gericht, um einer möglichst breiten und zuverlässigen Tatsachengrundlage willen, zu umfassender Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel verpflichtet ist. Vgl. BVerfGE 86, S. 288 (317); Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 28; Sättele, in: Satzger/Widmaier/Schluckebier-StPO, § 244, Rn. 24.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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treffend den Verfahrensgegenstand zu gelangen, so gebietet der Zweck dessen „Erhebung“. b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Institut des Zeugenbeweises Damit ist indes noch nicht geklärt, „wann“ eine Experiment-Konstellation – gerichtet auf die Wahrnehmung („erhoffter“) nonverbaler Reaktionen – materiellrechtlich dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen ist. Die beweisrechtliche Relevanz erfährt das Institut des Zeugenbeweises durch die Zeugenvernehmung und diese „wiederum ihre“ durch die Aussage des Zeugen. Es wird also abzugrenzen sein, ob eine nonverbale Verhaltensweise – etwa ein „spontanes Erröten“ oder ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – „Aussagequalität“ aufweist und mithin materiell eine Zugehörigkeit zum Institut des Zeugenbeweises begründet ist oder den Regelungen des Augenscheinsbeweises unterworfen ist;154 was sich vermöge sensueller Wahrnehmungsmöglichkeit ebenso anböte.155, 156 aa) „Nonverbalität“ als Kategorie Die „Aussage“ des Zeugen besteht üblicherweise aus verbalen Äußerungen zum Verfahrensgegenstand.157 So geht die Strafprozessordnung beim Institut des Zeugenbeweises im Regelfall von einer mündlichen Übermittlung von Gedankeninhalten aus;158 was nonverbale Verhaltensweisen – wie ein bloß „spontanes Erröten“ – a priori exkludierte. Dies begründet indes noch keine eigene Kategorie nonverbaler Verhaltensweisen neben „der Aussage“. So findet sich mit der Vorschrift des § 186 GVG eine Regelung, die betreffend hör- und sprachgeschädigte Personen – auch Zeugen – eine 154 Die Frage der Zuweisung zum Augenscheinsbeweis sei an späterer Stelle diskutiert. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. 155 „Untechnisch“ wäre eine Augenscheinseinnahme durch das Tatgericht stets möglich. 156 Eine weitere – oder besser gesagt: „sechste“ – Möglichkeit der Zuweisung sieht die Strafprozessordnung im Rahmen des förmlichen Beweisverfahrens de lege lata nicht vor. Anders wird im US-amerikanischen Schrifttum für Konstellationen des sogenannten „mind reading“ eine Zuweisung zum Personal- oder Sachbeweis für problematisch erachtet und die Etablierung einer neuen „Kategorie“ diskutiert. Vgl. hierzu ausdrücklich und ferner zu dem Ganzen Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 106. Eine Zuweisung ist also zwingend, anderenfalls wäre der Beweiserhebungsakt schon a priori unzulässig. Vgl. Sättele, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 244, Rn. 16 und die obigen Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 157 Vgl. RGSt 37, S. 330 (332); Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 69, Rn. 4 f.; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 13, § 69, Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 69, Rn. 4; Senge, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 69, Rn. 3. Vgl. auch Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61, welcher insoweit von „kleinsten Redeeinheiten“ spricht und ferner auch Wenskat, Der richterliche Augenschein im Strafprozess, S. 25. 158 Das hatte bereits die Auslegung des Instituts des Zeugenbeweises ergeben. Vgl. hierzu die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Verständigung auf schriftlichem Wege oder mit Hilfe einer die Verständigung ermöglichenden Person zulässt. Letzterenfalls kommt auch in der Hauptverhandlung die Hinzuziehung eines Sprachmittlers in Gestalt eines Gebärdendolmetschers in Betracht.159 In diesen Konstellationen findet die Übermittlung von Gedankeninhalten also partiell – nämlich zwischen Zeuge und Sprachmittler – gerade nonverbal statt, ohne dass man auf die Idee käme, die Aussagequalität dieser Äußerungen (des Zeugen) in Frage zu stellen.160 Die Existenz dieser Vorschrift erhellt, dass das Gesetz eo ipso die Möglichkeit nonverbaler „Aussagen“ vorsieht. Das bloße Faktum der Nonverbalität einer Äußerung vermag folglich die Einordnung jener als Aussage nicht zu konterkarieren. bb) Von „Aussagesurrogaten“ und „Ausdruckserscheinungen“ Von Relevanz erscheint hier prima facie die natürliche Zusammengehörigkeit verbaler und nonverbaler Verhaltensweisen. Menschliche Kommunikation besteht, wie konstatiert,161 nicht exklusiv aus verbalen Äußerungen einer Person. Die Übermittlung von Gedankeninhalten realisiert sich vielmehr im Wege eines natürlichen – partiell unbewussten162 – Zusammenspiels verbaler und nonverbaler Komponenten, wobei jenen nonverbalen Komponenten freilich die Besonderheit eines partiell uneindeutigen Erklärungswertes weit mehr immanent ist, als jenen verbaler Natur. Die Missdeutungswahrscheinlichkeit ist eben schlicht höher. Nonverbale Verhaltensweisen mit eindeutigem Erklärungsgehalt163 – wie „Nicken“ oder „Kopfschütteln“ – werden in Judikatur164 und Schrifttum165 ohne nähere 159 Vgl. Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 186 GVG, Rn. 4; Og˘ lakcıog˘ lu, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 186 GVG, Rn. 11; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 186 GVG, Rn. 1, 3. 160 Vgl. hierzu die Ausführungen von Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 307; Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 186 GVG, Rn. 3 f. In diesem Sinne auch zu verstehen Rogall, in: SK-StPO, § 69, Rn. 14; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/WidmaierStPO, § 186 GVG, Rn. 1, 3. 161 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 162 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. 163 Diese Differenzierung anhand der Eindeutigkeit im Erklärungsgehalt geht wohl auf Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61 zurück. Die Bezeichnung als „eindeutig“ ist terminologisch etwas unsauber. Freilich sind kommunikative Sender-Empfänger-Disparitäten innerhalb der Kommunikation sowie kulturelle Unterschiede auszublenden, um den Begriff der „Eindeutigkeit“ sinnvoll verwenden zu können. 164 BGH, NStZ 1988, S. 85. In dieser Entscheidung werden das „Kopfnicken“ und „Kopfschütteln“ seitens des Bundesgerichtshofs ausdrücklich als Bestandteil der Sachaussage qualifiziert. 165 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294. Bosch diskutiert die Frage der Zuordnung nonverbaler Verhaltensweisen als Aussage an dieser Stelle indes nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund einer etwaigen Unverwertbarkeit resultierend aus dem nemo teneturPrinzip und bringt weitere eigene Argumente vor, welche jedoch erst an späterer Stelle dis-

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Begründung als (eigene) „Aussage im Rechtssinne“ eingeordnet. Jene zeichnen sich im Grundsatze durch ihren Substitutivcharakter aus,166 da sie aufgrund ihres eindeutigen Erklärungsgehaltes partiell die verbale Kommunikation ersetzen.167 Terminologisch hat sich hier die Bezeichnung „Aussagesurrogate“ herausgebildet.168 Eine über die Feststellung der Eindeutigkeit des Erklärungsgehaltes hinausgehende Begründung für diese Einordnung erfolgt im Ergebnis nicht. So vermag indes die bloße Feststellung dessen kein materiell-rechtliches Argument für die Zusprache von Aussagequalität zu liefern, freilich aber auch kein solches dagegen.169 Die Frage der (Un-)Eindeutigkeit von „Etwas“ ist zudem kein Spezifikum der Beweiserhebung, an welches bestimmte Rechtsfolgen – wie eine Zuweisung zu einem Institut des förmlichen Beweisverfahrens – geknüpft wären, sondern vielmehr eine ubiquitär bestehende Schwierigkeit im Rahmen der Beweisverwertung. Nonverbale Verhaltensweisen ohne eindeutigen Erklärungsgehalt – wie etwa „Erröten“, „Blinzeln“ oder „Erbleichen“ – werden von Judikatur170 und Schrifttum171 kutiert werden sollen. Ferner in diesem Sinne zu verstehen Diemer, in: Karlsruher-KommentarStPO, § 186 GVG, Rn. 3. 166 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. Das „Nicken“ wäre etwa als klassisches „Emblem“ zu qualifizieren. 167 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 168 Vgl. zu dieser Terminologie auch Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61. 169 Exemplarisch ist bei einer auf Tonband aufgezeichneten „Stimmprobe“ auch eine „Eindeutigkeit“ im Erklärungswert gegeben, so ist der verbal übermittelte Text – welcher die Probe darstellt – eben „eindeutig“. Dies wird aber von Judikatur und Schrifttum indes dem Sachbeweis, respektive der Augenscheinseinnahme zugewiesen. Vgl. BGHSt 14, S. 339 (441); 27, S. 135; 36, S. 167 (172); Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 12; Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 86, Rn. 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO, § 86, Rn. 11; Trück, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 86, Rn. 19. 170 Im Rahmen der ersten Lügendetektorentscheidung konstatierte der Bundesgerichtshof die Zugehörigkeit mittels eines Polygraphen erlangter Informationen zur „Aussage“ (im Original in Anführungszeichen) und stellte sogleich einen Verstoß gegen § 136a StPO fest, was systematisch die Einordnung als Aussage durch den Bundesgerichtshof bestätigt. In syntaktischem Zusammenhang spricht der Bundesgerichtshof von „Ausdrucksvorgänge[n] […], die in der Hauptverhandlung in üblicherweise hervortreten“, womit zweifellos jene nonverbalen Verhaltensweisen wie beispielsweise „Erröten“ gemeint sind. Es liegt mithin nahe, dass der Bundesgerichtshof auch insoweit von Aussagequalität ausgeht. Vgl. BGHSt 5, S. 332 (335 f.). Im Rahmen der zweiten Lügendetektorentscheidung revidierte der Bundesgerichtshof die Annahme eines Verstoßes gegen § 136a StPO, erneut wird aber im Zusammenhang zu dieser Vorschrift von jenen „Ausdrucksvorgänge[n]“ (namentlich unter anderem „starke Schweißbildung“ sowie „Erröten“) gesprochen, sodass zuvor Gesagtes gelten muss. Vgl. BGHSt 44, S. 308 (316 f.). Demgegenüber kritisch (ausdrücklich bezugnehmend auf die Mimik) schon RGSt 33, S. 403 (404). 171 Hanack, JR 1989, S. 255 (256); Wenskat, Der richterliche Augenschein im Strafprozess, S. 23. Im Ergebnis so auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294. Wenngleich Bosch, a. a. O., [Fn. 751] eine Unterscheidung zwischen Aussagesurrogaten und Ausdruckserscheinungen als „gekünstelt“ und „nicht sachgerecht“ ablehnt. Vgl. ferner auch Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 146, wenngleich mit der Einschränkung, dass dies nur gelte, sofern es sich um Aussagen oder Aussagesurrogate handelt, womit Rogall eine Unterscheidung zu

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

überwiegend als „notwendiger Bestandteil der Aussage“ angesehen und mithin als Teil der Vernehmung eingeordnet. Gegen diese Zuweisung ist weit mehr Widerspruch erhoben worden.172 Jene Verhaltensweisen zeichnen sich zuvörderst durch ihren Supportivcharakter aus. Sie unterstützen in begleitender Form verbale Kommunikation; mangels eindeutigen Erklärungsgehaltes sind diese ungeeignet, verbale Kommunikation zu substituieren.173 Terminologisch hat sich hier die Bezeichnung „Ausdrucksbewegungen“ herausgebildet.174 Anders als „zuvor“,175 erfolgt die Einordnung nonverbaler Verhaltensweisen ohne eindeutigen Erklärungswert basierend auf verschiedenen Begründungen: Einerseits wird auf ein „faktisches Näheverhältnis“ abgestellt, wonach es sich bei jenen Verhaltensweisen um „unselbstständige Begleiterscheinungen“ handle, welche notwendiger Bestandteil der ansonsten verbal erbrachten Aussage seien.176 Andererseits wird auf die „fehlende Aufgesuchtheit“ jener Verhaltensweisen verwiesen, woraus sich die Einordnung als Aussage ergäbe.177 Dass diese nonverbalen Reaktionen – wie etwa ein „spontanes Erröten“ – realiter eine „faktische Nähe“ zu verbalen Äußerungen aufweisen, ist phänomenologisch eine richtige Feststellung.178 Es verbleibt indes bei einer solchen; ein materiellrechtliches Argument für die Zusprache von Aussagequalität ergibt sich hieraus schlicht nicht. Eine faktische Nähe läge auch vor, wenn exemplarisch während einer Zeugenvernehmung eine nähere Betrachtung des Aussehens des Zeugen – etwa seiner „entstellenden Narbenbildung“ – erfolgte, obschon auch bei dieser – typischerweise dem Sachbeweis zugewiesenen – Konstellation niemand ernstlich in dem „Sich-Betrachten-lassen“ eine „Aussage“ erblicken dürfte.179 bloßen Feststellungen der äußeren Beschaffenheit annimmt, was im Ergebnis überzeugend sein dürfte. 172 Vgl. Haas, GA 1997, S. 368 (369); Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61, welcher jedoch einer Begründung dessen schuldig bleibt. 173 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. Das „Erröten“ wäre etwa als „AffektDarstellung“ zu qualifizieren. 174 Vgl. zu dieser Terminologie Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 61 und ferner Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 146, welcher den Begriff „beredete Ausdrucksbewegungen“ verwendet. 175 Also bei nonverbalen Verhaltensweisen mit eindeutigem Erklärungswert. 176 Vgl. Wenskat, Der Augenscheinsbeweis im Strafprozess, S. 23. Entscheidendes Argument ist für Wenskat, dass es sich gerade um einen unselbstständigen Bestandteil der Aussage handle. 177 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 146 und insbesondere Wenskat, Der Augenscheinsbeweis im Strafprozess, S. 23 unter Verweis auf BGHSt 5, S. 354 (356); 18, S. 51 (54 f.). Dies erscheint merkwürdig, denn der Bundesgerichtshof erwähnt zwar das Merkmal der „Aufgesuchtheit“, erhebt jenes aber keinesfalls zum Zuweisungskriterium. 178 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. „Affekt-Darstellungen“ treten häufig im Zusammenhang mit verbaler Kommunikation auf. 179 Insoweit erscheinen folgende Ausführungen des Bundesgerichtshofs bei Dallinger, MDR 1974, S. 365 (368) doch sehr befremdlich: „Das Betrachten der äußeren Erscheinung und, jedenfalls soweit sie sich offen darbietet, der Körperbeschaffenheit eines Angeklagten ist

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Ebenso vermag das Kriterium einer „fehlenden Aufgesuchtheit“ keine Einordnung jener Verhaltensweisen als Aussage zu begründen. Prima facie darf dies dergestalt verstanden werden, dass Ausdruckserscheinungen mangels Finalität des aufsuchenden Organs – etwa seitens des Tatgerichts – nicht erwartet würden. Das Tatgericht rechne nicht mit dem Auftreten derartiger Verhaltensweisen oder „arbeite eben nicht final daraufhin“, dass jene in zur Wahrnehmung fähiger Weise auftreten; insoweit seien diese Beobachtungen also „unaufgesucht“.180 Dies erscheint aus mehreren Gründen wenig überzeugend. In der Judikatur181 und partiell auch im Schrifttum182 wird nonverbalen Verhaltensweisen – mit einer gewissen „Beharrlichkeit“ – eine nicht unwesentliche Bedeutung für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von (Zeugen-)Aussagen zugesprochen. Einmal abgesehen davon, dass dies ausweislich aktueller Forschungsergebnisse in dieser Pauschalität höchst fraglich erscheint,183 ist es doch „merkwürdig“, dass dann jene nonverbalen Reaktionen „unaufgesucht“ sein sollen. Tatsächlich verpflichtete doch die Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO – bei entsprechender Bedeutung für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung – vielmehr zur „Aufsuchung“ jener, respektive dazu, sich als Tatgericht nicht ab initio einer Kenntnisnahme solcher zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen zu verschließen. Im Besonderen offenbart sich die Ungeeignetheit jenes Abgrenzungskriterium, wenn es sich um nonverbale Reaktionen handelt, welche im Rahmen von Experiment-Konstellationen, um des „Erhaschens“ ihrer Wahrnehmung Willen, evoziert wurden;184 denn hier ist die Wahrnehmung offenkundig durch das Tatgericht „aufgesucht“. verfahrensrechtlich keine Augenscheinseinnahme, sondern Teil der Vernehmung.“ Die Feststellung, dass das „sich offen Darbietende“ kein Gegenstand einer Augenscheinseinnahme sei, mag richtig sein, aber nicht, weil dies schon Bestandteil der Vernehmung ist, sondern weil eine Beweiserhebung per se nicht erforderlich ist, sofern die Beweistatsache dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung als unmittelbarer Eindruck – im Sinne einer „unaufgesuchten“ Information – zur Verfügung steht. Vgl. die obigen Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). Vgl. indes – dies richtig bewertend – OLG Hamm, MDR 1974, S. 1036: „Die Ansicht der Rechtsbeschwerde, das Aussehen der Zeugin gehöre zur ihrer ,Aussage‘ (im Original in Anführungszeichen) geht fehl.“ 180 In diese Richtung sind die Ausführungen von Geppert, Jura 1996, S. 307 (308) jedenfalls zu interpretieren. 181 BGHSt 5, S. 354 (356); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205); RGSt 39, S. 303 (305). Zumindest die Bedeutung für die richterliche Überzeugungsbildung anerkennend BGHSt 18, S. 51 (55) sowie RGSt 33, S. 403 (404). Vgl. ferner die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb), Fn. 216. 182 Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340); Schorn, JR 1954, S. 298 (299) und Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). Ähnlich auch Nestler, HRRS 2016, S. 126 (134). Vgl. ferner die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb), Fn. 217. 183 Vgl. dazu die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3) (a). 184 Für derartige Experiment-Konstellationen erkennt Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 148 eine „Aufgesuchtheit“ an und lehnt entsprechend eine Zuweisung zur Vernehmung, also zum Institut des Zeugenbeweises, ab. Hier sei daher eine Zuweisung zum Augenscheinsbeweis gegeben, was unrichtig ist, wie es die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) dd) noch zeigen werden.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Auch eine „fehlende Aufgesuchtheit“ jener nonverbalen Reaktionen unterstellt, folgt daraus keine Zuweisung zum Institut des Zeugenbeweises. Jedes Beweismittel dient dazu, einen Beweis zu erbringen.185 Schon die Auswahlentscheidung des Gerichts selbst, sich eines bestimmten Beweismittels zu bedienen, ist von der übergeordneten Finalität geprägt, „etwas“ zu beweisen. Damit ist ein jedes Beweismittel entsprechend obigen Verständnisses per se ein aufgesuchtes Beweismittel, nämlich aufgesucht, eine Tatsache zu beweisen. „Wenn“ und „soweit“ sich nonverbale Verhaltensweisen ohne eigenständigen Erklärungswert bei einer förmlichen Vernehmung ereignen und im Einzelfall vom Tatgericht „nicht aufgesucht“ sein sollten, so ist dennoch mit der prozessualen Entscheidung für den Zeugenbeweis (also den konkreten Zeugen zu vernehmen) denklogisch auch die nachgelagerte Entscheidung (mit)getroffen, alle Informationen „aufzusuchen“, welche der Zeuge über den Verfahrensgegenstand zu liefern fähig ist und dies nicht a priori beschränkt auf verbal übermittelte Informationen. Mit anderen Worten: Natürlich „will“ das Tatgericht bei einer Zeugenvernehmung auch das „spontane Erröten“ bemerken. Von Geppert186 wird dies in die Kategorie eines „unselbstständigen Augenscheins“ eingeordnet. Das Wahrgenommene – also etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Zeugen – sei nicht „erstrebter Primärzweck“, sondern lediglich im Zusammenhang mit der Erhebung eines anderen Beweismittels (mit)erfolgt,187 woraus resultiere, dass sich die Erhebung nach den Regeln des jeweiligen Hauptbeweismittels richte.188 Das bedeutete aber, dass die Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen, die innerhalb einer förmlichen Vernehmungssituation auftreten, stets dem Institut des Zeugenbeweises (als Hauptbeweismittel) zugewiesen wären. Das vermag nicht zu überzeugen. Die Widersprüchlichkeit dessen offenbart sich, wenn nonverbale Reaktionen außerhalb einer förmlichen Vernehmungssituation auftreten. Dann sei die Wahrnehmung derer nämlich dem Augenscheinsbeweis zugewiesen.189 Also auf einmal doch „aufgesucht“?190 Das Kriterium der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ ist ungeeignet, eine Zuweisung zum Institut des Zeugenbeweises zu begründen. Dass dieses dennoch mit der Re185

Vgl. bereits in unmissverständlicher Klarheit RGSt 39, S. 303 (304). Geppert, Jura 1996, S. 307 f. 187 Geppert, Jura 1996, S. 307 (308). 188 Geppert, Jura 1996, S. 307 (308) [Fn. 11] unter anderem unter Verweis auf Alsberg/ Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess [5. Auflage 1983], S. 223 f. Das erscheint „merkwürdig“, da eine derartige „Hauptbeweismittel-Regel“, wie sie von Geppert postuliert wird, an jener Fundstelle nicht im Geringsten erwähnt wird. Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess [5. Auflage 1983], S. 222 f. [!] sprechen sich lediglich dafür aus, dass es bei „Wahrnehmungen bei der Vernehmung“ keiner förmlichen Augenscheinseinnahme bedürfe. 189 Geppert, Jura 1996, S. 307 (309). 190 Systemwidrig ist auch, dass damit die Zuweisungsentscheidung zu den Beweisinstituten ipso facto zur Disposition des Gerichts stünde: Unterließe das Tatgericht prozessual eine förmliche Vernehmung, so wären sämtliche wahrgenommenen nonverbalen Verhaltensweisen also dem Augenscheinsbeweis zugewiesen. 186

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gelmäßigkeit einer ungeliebten Jahreszeit bemüht wird, scheint der Fehlinterpretation einer bereits erwähnten191 Entscheidung des Reichsgerichts192 geschuldet. Das Reichsgericht qualifizierte zwar sehr wohl das Mienenspiel sowie die Gebärden eines Zeugen als „nicht aufgesuchte Wahrnehmungen“,193 allerdings mit einer gänzlich anderen – als der tradiert unterstellten – Schlussfolgerung. So bewirke der Umstand der fehlenden Aufgesuchtheit jener Verhaltensweisen, dass diese im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden können, ohne über den Weg förmlicher Beweiserhebung – respektive einer Augenscheinseinnahme – „Einbezug“ gefunden zu haben.194 Dies folge bereits daraus, dass sämtliche förmlichen Beweismittel die Gemeinsamkeit aufwiesen, in der Absicht durchgeführt zu werden, dem Gericht einen Beweis zu beschaffen.195 Jene nonverbalen Verhaltensweisen wiesen nun aber die Besonderheit auf, dass diese zufällig – also „nicht aufgesucht“ – aufträten und entsprechend zufällig wahrgenommen würden, sodass die förmlichen Beweismittel ihrer Natur nach „hierauf“ schon keine Anwendung finden könnten.196 So folgerte das Reichsgericht aus einer „fehlenden Aufgesuchtheit“ gerade keine Zuweisung zum Institut des Zeugenbeweis, sondern begründete hiermit die fehlende Notwendigkeit einer Beweiserhebung per se (respektive in Gestalt der Augenscheinseinnahme).197 Dies ist ein gravierender Unterschied, so schließt sich nämlich der Kreis, dass die „(fehlende) Aufgesuchtheit“ lediglich die Frage der Beweisbedürftigkeit betrifft.198 cc) Anwendbarkeit trotz partiell „fehlender Gewillkürtheit“ Sodann ist es die partiell „fehlende Gewillkürtheit“ nonverbaler Reaktionen, welche sich bei der Frage nach „Aussagequalität“ zum Problem geriert. Als Zeugenaussage ist die (üblicherweise verbale) Äußerung des Zeugen zum Verfahrensgegenstand zu verstehen, welche im Grundsatz bewusst abgegeben und willentlich

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Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb) sowie unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) dd). 192 RGSt 39, S. 303 ff. Sämtliche Schrifttumsquellen, welche das Merkmal der „Aufgesuchtheit“ erwähnen, verweisen auf die genannte Entscheidung. 193 RGSt 39, S. 303 (304). 194 RGSt 39, S. 303 (304). Das Reichsgericht verweist schlicht darauf, dass diese – auch ohne förmliche Beweiserhebung – zum „Inbegriff“ der mündlichen Verhandlung gehörten. 195 RGSt 39, S. 303 (304). 196 RGSt 39, S. 303 (305). Dies erscheint in jener Pauschalität höchst fraglich, sind Fälle denkbar, in denen es dem Tatgericht gerade auf die Wahrnehmung dieser Verhaltensweisen ankommt. Zudem spricht das Reichsgericht den Wahrnehmungen jener „gerade wegen ihrer Unmittelbarkeit […] eine besondere Überzeugungskraft“ zu. Dennoch von „fehlender Aufgesuchtheit“ zu sprechen, erscheint widersprüchlich. Jedenfalls ist aber bei ExperimentKonstellationen eine „Aufgesuchtheit“ gegeben. 197 RGSt 39, S. 303 (304). 198 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

gesteuert wird.199 Nonverbalen Verhaltensweisen sind diese Topoi der „Bewusstheit“ und „Willensgesteuertheit“ indes nur partiell immanent; man denke etwa an ein „Erröten“ oder „Erbleichen“, welches nur unkontrolliert auftreten kann.200 Eine generelle Zuweisung dieser Verhaltensweisen zum Sachbeweis folgt daraus indes ebenso wenig.201 Die apodiktische Feststellung seitens Haas202, dass nicht als „Aussage im Rechtssinne“ qualifiziert werden könne, was nicht bewusst entäußert werde, erscheint ebenso pauschal wie inhaltlich verfehlt. Der Strafprozessordnung lassen sich schlicht keine Anhaltspunkte entnehmen, dass „Bewusstheit“ und „Willensgesteuertheit“ konstituierend für die Annahme von Aussagequalität seien, im Gegenteil. Zu Recht verweist Seiterle203 auf die Vorschrift des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach das Gesetz den Einsatz von „Hypnose“204 sowie die „Verabreichung von Mitteln“205 zur Erlangung von Äußerungen untersagt. Schon aufgrund der systematischen Stellung der Vorschrift des § 136a StPO – und deren insoweit eindeutige Bezugnahme auf § 136 StPO –, ist erkennbar, dass das Gesetz unter Einsatz derartiger Methoden erlangte Äußerungen dogmatisch als Bestandteil der Vernehmung qualifiziert.206 Dies offenbart eine Betrachtung der Vorschrift des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO, welche auf „unter Anwendung dieser Mittel zustande gekommene Aussagen“ verweist. In Fällen der Hypnose oder bei Verabreichung von Mitteln im Sinne des § 136a Abs. 1 StPO findet die Äußerung der vernommenen Person aber gerade unbewusst und nicht willensgesteuert statt. Es ist vielmehr Sinn und Zweck derartiger (verbotener) Maßnahmen, dem Vernommenen gegen dessen Willen Informationen „zu entlocken“. Wenn die Strafprozessordnung in diesen Fällen dogmatisch die Aussagequalität bejaht, kann für nonverbale Verhaltensweisen jedenfalls nicht vermöge „fehlender Gewillkürtheit“ Gegenteiliges gelten. Die Einstufung als 199 Vgl. hierzu Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 55 sowie Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 106. Beide beziehen sich hier auf die Beschuldigteneinlassung, dies muss aber für den Zeugen ebenso gelten. 200 Vgl. Bahrs, Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis, S. 79 sowie die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 2. zur Kontrollierbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen. 201 Wie Seiterle, Hirnbild und Lügendetektion, S. 106 dies richtigerweise bemerkt. So auch Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 55. 202 Haas, Der Beschuldigte als Augenscheinsobjekt, S. 368 f. Nach Haas ergäbe sich dies aus einem „semantischen“ Gesichtspunkt. 203 Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 106. 204 Hypnose ist die Einwirkung auf eine Person mit dem Ziel der Einengung des Bewusstseins auf eine gewünschte Vorstellungsrichtung. Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 44 sowie Pauckstadt-Maihold, in: Kleinknecht/Müller/ Reitberger-StPO, § 136a, Rn. 16. 205 Die Verabreichung von Mitteln erfasst die Zuführung von festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffen in den Körper einer Person und insbesondere sogenannte Wahrheitsseren. Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 29 sowie PauckstadtMaihold, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, § 136a, Rn. 11. 206 Dass indes ein Beweisverwertungsverbot eingreift, ist dogmatisch eine andere Frage. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B.

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Aussage im Rechtssinne lässt sich dadurch also nicht negieren. Es kann aber auch nicht e contrario gefolgert werden, dass „fehlende Gewillkürtheit“ für eine Einstufung als Aussage spräche.207 Ein Zuweisungskriterium ergibt sich nicht. dd) Ein kommunikationswissenschaftlicher Ansatz Interessant ist sodann ein von Groth208 vertretener Ansatz, wonach der Abgrenzungstopos zwischen Personal- und Sachbeweis im Merkmal der „Kommunikation“ zu erblicken sei. So sei Aussagequalität und damit eine Zuweisung zum Zeugenbeweis anzunehmen, wenn der in Rede stehenden Beweismethode ein „kommunikativer Gehalt“ immanent sei,209 und zwar unabhängig von einer etwaigen „fehlenden Gewillkürtheit“. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die – von Groth richtig verortete – Problematik der partiell fehlenden Gewillkürtheit jener nonverbalen Verhaltensweisen und obige Erkenntnis, dass diese einer Zusprache von Aussagequalität nicht entgegensteht.210 Wenn die Strafprozessordnung partiell nun verbalen wie auch nonverbalen Verhaltensweisen Aussagequalität zuspricht, so könne dies nach Groth nur darauf zurückzuführen sein, dass eine übergeordnete Kategorie existiere, welche per se zur Annahme von Aussagequalität führe.211 Diese Kategorie will Groth mit folgendem Ergebnis in dem Merkmal der „Kommunikation“ gefunden haben:212 Was Kommunikation ist, hat Aussagequalität! Dem ist – zu Recht – Widerspruch entgegengebracht worden,213 denn was prima facie als saubere und einfache Abgrenzung zwischen Personal- und Sachbeweis erscheint, ist ipso facto lediglich eine Verlagerung der Problematik. „Jetzt“ wäre nämlich zu klären, was unter „Kommunikation“ zu verstehen ist. Diesbezüglich verweist Groth auf einen vermeintlichen Erkenntnisstand in den Kommunikationswissenschaften, wonach jedes zwischenmenschliche Verhalten als Kommunikation zu begreifen sei.214 Das credo jenes Ansatzes ist: In einer zwischenmenschlichen 207

Vgl. hierzu bereits Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 107. Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56. 209 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56. 210 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56. Diesbezüglich bedient sich auch Groth der Systematik der Vorschrift des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO. 211 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56 f. 212 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56 f. 213 Kritisch insbesondere Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 108 f. 214 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 23 f. unter Bezugnahme auf die Forschungen von Watzlawick. Insoweit bemerkt Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 109, dass Groth andere Stimmen aus den Kommunikationswissenschaften unerwähnt lässt. Die Kritik Seiterles geht primär dahin, dass der Ansatz, man könne „nicht nicht kommunizieren“ durchaus auf Widerspruch gestoßen sei und Signale, welche nicht an einen Interaktionspartner gerichtet seien, eben auch nicht als „Kommunikation“ zu begreifen wären. Was letztlich bedeutete, dass unwillkürliche Verhaltensweisen (die eben nicht bewusst an Interaktionspartner gerichtet sind) keine Kommunikationsqualität aufwiesen und mithin – 208

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Situation kann man schlicht „nicht nicht kommunizieren“.215 Nach diesem Verständnis wäre jedem menschlichen Verhalten Mitteilungscharakter immanent und zwar unabhängig davon, ob es sich um Sprechen, Schweigen, Handeln oder NichtHandeln handelt; stets wäre von „Kommunikation“ auszugehen216 und dies gerade auch bei „fehlender Gewillkürtheit“,217 womit folgerichtig in jeder zwischenmenschlichen Situation Aussagequalität anzunehmen wäre, mithin die Tauglichkeit als Abgrenzungskriterium sukzessive geschmälert würde. Merkwürdig erscheint, dass Groth das Kommunikationselement hier als Abgrenzungskriterium zum Sachbeweis, respektive als Zuweisungskriterium zum Zeugenbeweis, heranziehen will. Man bedenke nämlich, dass in der Hauptverhandlung „Nicht-zwischenmenschliche-Situationen“ schwer vorstellbar sind. Wenn nun entsprechend Groths Verweisung auf Watzlawicks Kommunikationslehre jedem menschlichen Verhalten Mitteilungscharakter beiwohne, so existierte in der mündlichen Verhandlung keine Situation, in welcher es an „Kommunikation“ fehlen könnte. Selbst die Betrachtung etwa einer „entstellenden Narbenbildung“ ist außerhalb zwischenmenschlicher Situationen nicht wirklich denkbar;218 so wäre zwar nicht der Beweiserhebungsakt der Betrachtung selbst, wohl aber die Gesamtsituation, in welcher jene stattfindet,219 „kommunikationsbehaftet“ und mithin als „Aussage“ einzustufen. Dann fällt es aber ersichtlich schwer, zwischen „Aussage“ und „Sachbeweis“ abzugrenzen. Obschon die Strafprozessordnung keinerlei Anhaltspunkte für eine „Kommunikations-Determiniertheit“ jener Zuweisungsentscheidung offenbart, resultiert die Ungeeignetheit jenes Kriteriums primär aus dessen mangelnder Bestimmtheit. Wenn nach Groth die Annahme von Aussagequalität davon abhängig sei, dass „Kommunikation“ vorläge und sodann auf die Kommunikationswissenschaften verwiesen

entgegen Groths Ausführungen – bei fehlender Gewillkürtheit per se doch keine „Aussagequalität“ vorliegen könne. Einer darüber hinaus gehenden Darstellung jenes Streitstandes in den Kommunikationswissenschaften bedarf es nicht, bezogen auf die vorliegende Untersuchung würde dies keinen gesonderten Erkenntnisgewinn begründen. 215 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation [1. Auflage 1969], S. 50 f. und die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 216 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 23. 217 Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56 f. 218 In diesem Sinne merkt Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 108 an, dass auch die Abgabe einer Speichelprobe Mitteilungscharakter habe, weil eben notwendigerweise eine zwischenmenschliche Situation existent sei. Weiterhin verweist Seiterle an dieser Stelle auf eine Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Court – Schmerber v. California, 384 U.S. 757 (1966), S. 761 – in welcher das Gericht eine Mindermeinung verwarf, wonach ein Bluttest kommunikativer Natur sei und mithin Aussagequalität aufwiese. Dies wäre erforderlich gewesen, damit – entsprechend deutscher Terminologie – der Schutzbereich des Fünften Verfassungszusatzes eröffnet gewesen wäre. 219 Die körperliche Untersuchung selbst wäre nicht „kommunikationsbehaftet“, ihre Durchführung in der Gesamtheit aber eben schon.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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wird,220 so vermag dies letztlich nur als „dynamische Verweisung“ in die Kommunikationswissenschaften verstanden werden. Die Zuweisungsfrage zu den Beweisinstituten wäre mithin durch eine fachfremde und im Wandel befindliche (Kommunikations-)Wissenschaft bedingt: Wenn Kommunikation, dann Aussage. Dies ist prima facie unschädlich, so ist etwa der grammatischen Auslegung ein Rückgriff auf die Sprachwissenschaften immanent. Problematisch ist vorliegend indes, dass das Verweisungsziel mit einer „fehlenden Greifbarkeit“ für den Rechtsanwender belastet ist. So existiert keine gefestigte herrschende Auffassung was als „Kommunikation“ zu verstehen ist, sodass in der Folge auch für den Rechtsanwender – also das Tatgericht – regelmäßig „unsicher bleiben“ müsste, ob der vorliegende Beweiserhebungsakt nun auf den Erhalt einer „Aussage“ oder eines „Sachbeweises“ gerichtet ist.221 Vor dem Hintergrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden222 objektiv-rechtlichen Gebots hinreichender Normbestimmtheit223 erscheint eine derartige „Ungewissheit“ nicht haltbar.224 ee) Wissenszugriff als Zuweisungskriterium Die Auslegung des Instituts des Zeugenbeweises vermochte die ratio legis dessen zu offenbaren: Der Erhalt des Wissens des Zeugen vom Verfahrensgegenstand.225 Methodisch erscheint es daher richtig, diesen Primärzweck in das Zentrum der vorliegenden Abgrenzungsentscheidung zu stellen, respektive diese Abgrenzung also von der Frage abhängig zu machen, ob mit dem in Rede stehenden Beweiserhebungsakt – Experiment-Konstellation – Wissen „erhoben“ wird.226

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Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, S. 56, 22 f. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Abgrenzung in Grenzfällen eben „oft“ unklar ist, da es sich hierbei um eine Rechtsfrage handelt und eine solche kann niemals „unklar“, allenfalls nicht „richtig erkannt“ sein. 222 Vgl. Sachs, in: Sachs-GG, Art. 20, Rn. 126; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/StarkGG, Art. 20, Rn. 289. 223 Die Vorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht anwendbar, da vorliegend nicht die Bestimmtheit von Straftatbeständen im Raume steht. Der aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Grundsatz des „nullum crimen, nulla poena sine lege certa“ dient seinem Sinngehalt nach dazu, dem Einzelnen die Grenze des straffreien Raumes klar vor Augen zu führen. Vgl. statt vieler Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Stark-GG, Art. 103, Rn. 141. 224 Zumal hier eine gewisse „Ausprägungsstrenge“ jenes Gebotes besteht, da sich die Zusprache von Aussagequalität als Vorfrage etwaiger Verwertungsverbote geriert. Ein Beweisverwertungsverbot verdrängt die materielle Wahrheit und beschränkt mithin den (eigentlich) existenten Strafanspruch des Staates zu Gunsten subjekt-öffentlicher Rechte. Alles was auch nur mittelbar diese Beschränkung vollzieht, bedarf auch aus objektiv-rechtlichen Gründen hinreichender Bestimmtheit. 225 Vgl. die obigen Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a). 226 Im Ergebnis so auch Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (319), welcher dies jedoch im Zusammenhang zur Beschuldigtenvernehmung untersucht. Dem zustimmend Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 112. 221

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

Eine derartige Abgrenzung, abhängig vom Gegenstand der Beweiserhebung, wurde in anderer Sache bereits von Frister227 aufgeworfen, wobei sich das entscheidende Argument für dieses Abgrenzungskriterium aus der Bedeutung der Aussagefreiheit ergäbe.228 Hier folgt Frister dem Verständnis von Reiß229, wonach die Aussagefreiheit als Abkehr von dem Gedanken des Inquisitionsprozesses zu verstehen sei, dessen Fokus auf die – auch zwangsweise – „Nutzbarmachung“ des Beschuldigtenwissens gerichtet war, woraus sich schließlich ergäbe, dass ein Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten gegen dessen Willen generell unzulässig sei. Aus diesem Verständnis der Aussagefreiheit folgt für Frister, dass es das Kriterium des Wissenszugriffs sein muss, welches über die Einordnung als (erlaubter zwangsweiser) Sachbeweis oder (verbotene zwangsweise) Vernehmungsmethode zu befinden habe,230 und somit, übertragen auf vorliegende Streitfrage, auch darüber, „wann“ ein Beweiserhebungsakt dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen ist. Jene Ausführungen zur (Un-)Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen mögen allesamt „(un-)zutreffend“ sein,231 nur sind diese schlicht nicht von Belang für die Frage, ob ein Beweiserhebungsakt betreffend eine nonverbale Reaktion dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen ist. Die Feststellung, ob die Verwertung von „Etwas“ – etwa ein „spontanes Erröten“ – rechtlich zulässig ist oder nicht, vermag keine logische Konsequenz für die Zuweisung zu einem bestimmten förmlichen Beweisinstitut zu begründen. Exemplifiziert an der Aussagefreiheit bedeutet dies: Nur weil die Berücksichtigung eines „Errötens“ bei der Beweiswürdigung im Einzelfall mit der Aussagefreiheit kollidieren sollte, ist nicht gesagt, dass „hierfür“ ein Beweiserhebungsakt in Gestalt des Zeugenbeweises (nicht) vorgesehen war.232 Die argumentatio wäre schlicht „falsch herum“ aufgebaut. Die Frage der Zuweisung eines potenziellen Beweiserhebungsaktes zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens ist insoweit eigenständige Vorfrage und nicht nachgelagerte Konsequenz. Tatsächlich folgt die Abgrenzung anhand des Merkmals „Wissen“ – losgelöst von der Aussagefreiheit – einzig als logische Konsequenz aus der ratio legis des Instituts 227

Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 ff. Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (319). 229 Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 177 ff. Nach Reiß ist der Beschuldigte nicht verpflichtet, gegen seinen Willen ein Zugriff auf sein Wissen zu dulden. Dies gelte auch, wenn der Beschuldigte dabei zu keiner aktiven Mitwirkung gezwungen ist. Was hier keiner weiteren Diskussion bedarf, sei an späterer Stelle umfassend erläutert. Vgl. hierzu aber die noch folgenden Ausführungen unter D. III. 1. b) cc). 230 Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (319). Vgl. auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 202 ff., welcher an dieser Stelle die Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen beim Beschuldigten untersucht und nur en passant die Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens erwähnt. Für die Abgrenzung zwischen Personal- und Sachbeweis sei aber auch nach Verrel der Gegenstand „Wissen“ maßgeblich. 231 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. 232 Dass ein unverwertbares Beweismittel als solches schon gar nicht erhoben werden darf, sei dahingestellt. 228

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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des Zeugenbeweises. Wenn die Auslegung jenes Instituts ergeben hatte, dass der Primärzweck des Zeugenbeweises in dem Zugriff auf das Wissen der Zeugenperson betreffend den Verfahrensgegenstand zu erblicken ist, so folgt aus einem argumentum e contrario, dass ein Beweiserhebungsakt – der auf die unmittelbare Erlangung des Wissens einer Person (die nicht Angeklagter ist)233 abzielt – nach der gesetzgeberischen Konzeption eben auch in Gestalt des Zeugenbeweises zu vollziehen ist. Das „Wissen“ ist eine im menschlichen Gedächtnis oder Gehirn irgendwie vorhandene Information; unabhängig davon, ob diese im „Bewussten“ oder „Unbewussten“ der Person verortet ist.234 Im Einklang mit den Strukturen des geregelten Sachbereichs sind es die vorhandenen Informationen der jeweiligen Untersuchungsperson, welche den Verfahrensgegenstand, also die angeklagte(n) prozessuale(n) Tat(en), betreffen.235 Abstrahiert ist es also der Zugriffsgegenstand236, der über die Zuweisung zu dem Institut des Zeugenbeweises zu bestimmen vermag.237 Ist der in Rede stehende Beweiserhebungsakt also auf den Zugriff des Wissens einer Person (die nicht Angeklagter ist) gerichtet, so ist – entsprechend dieser Lehre vom Zugriffsgegenstand – diese „Erhebung“ dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen.238 ff) Die tatgerichtliche Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen als Wissenszugriff In Konstellationen verbaler Entäußerungen ist im Grundsatze „schnell“ beurteilt, ob es sich bei der jeweiligen Information per definitionem um „Wissen“ handelt und ebenso, ob mit dem jeweiligen Beweiserhebungsakt ein Zugriff auf dieses Wissen stattfindet. Mithin ist die Zuweisungsfrage unproblematisch und daher in Judikatur und Schrifttum ersichtlich nicht diskutiert worden. Im Falle nonverbaler Verhaltensweisen ist dies ipso facto weit weniger evident. Ein „Kopfnicken“ des Zeugen auf die Frage, ob er den Beschuldigten etwa einst am Orte des mutmaßlichen Raubgeschehens gesehen habe, ist noch leicht zuzuweisen. So wird hier vermöge des

233 Insoweit überlagert die formale (Angeklagten-)Stellung die materielle Zuweisungsentscheidung. Oder in anderen Worten: „Wo“ auf das Wissen des Angeklagten zugegriffen wird, entspricht es eben nicht der gesetzgeberischen Intention, dass dies im Wege des Instituts des Zeugenbeweises geschieht. Vgl. zur „Übertragbarkeit“ des Wissenszugriffsmerkmals „auf den Angeklagten“ die noch folgenden Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 2. 234 Vgl. Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 112. 235 Vgl. Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 112. 236 Diesen Begriff verwendend auch Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 112. 237 Obgleich in anderem Zusammenhang, will auch Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 112 anhand dieses Kriteriums verfahren. 238 Dieses von Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (319) in anderer Sache entwickelte Kriterium des „Wissenszugriffs“ sei insoweit zur generellen Methode „fortentwickelt“. Vgl. zur Anwendbarkeit jener Methode auf die anderen Institute des förmlichen Beweisverfahrens die folgenden Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ee).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

„Emblems“239 des (im westlichen Kulturkreis bejahenden) „Kopfnickens“, nach Aufforderung zur Antwort, die Kenntnis des Zeugen über einen Umstand in der Vergangenheit nonverbal übermittelt. Der Beweiserhebungsakt wäre also auf den Zugriff des Wissens des Zeugen gerichtet. Schwieriger wird es bereits, wenn ein Zeuge bei verbaler Beantwortung jener Frage beginnt, eine „gesteigerte gestische Unruhe“ aufzuweisen, also etwa „mit den Gliedmaßen zu wackeln“. Einerseits mag dies als Ausdruck von Nervosität gedeutet werden,240 möglicherweise beruhend darauf, dass seiner verbalen Entäußerung der Erlebnisbezug fehlt, jener sich also bei einer „Lüge“ ertappt fühlt. In dieser Deutungsvariante – übertragbar auf sämtliche „Lügensymptome“ – gäbe die Erkenntnis des fehlenden Erlebnisbezugs mittelbar Aufschluss darüber, dass der Zeuge den (verwandten) Angeklagten tatsächlich am Tatort gesehen habe. Der Beweiserhebungsakt – vertypt in der Wahrnehmung jener nonverbalen Reaktion – griffe also, wenn auch nur mittelbar, auf Wissen des Zeugen vom Verfahrensgegenstand zu, nämlich auf „Tatwissen“241. Andererseits mag die „gesteigerte gestische Unruhe“ indes auch als Krankheitssymptom des sogenannten „Restless-Legs-Syndrom“242 gedeutet werden. Mit dieser Deutungsvariante wäre der Beweiserhebungsakt auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines (pathologischen) Zustandes fokussiert und mithin nicht auf Wissen, sodass jener auch nicht dem Institut des Zeugenbeweises zugewiesen wäre.243 (1) Von Deutungsoptionen und Zuweisungsproblemen Es offenbart sich bei nonverbalen Verhaltensweisen also eine Bestimmungsproblematik aufgrund vielfältiger Deutungsoptionen, so ist nicht stets a priori bestimmbar, ob nun der jeweilige Beweiserhebungsakt auf „Wissen“ zugreifen wird. Bei zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen – wie etwa eines „spontanen Errötens“ – in der Hauptverhandlung, wird die fehlende Bestimmbarkeit besonders deutlich. Wenn der (zufällige) Wahrnehmungsvorgang den Beweiserhebungsakt darstellt, ist es für das Tatgericht unmöglich, ex ante ex situatione zu bestimmen, ob diese (sich gerade vollziehende) Wahrnehmung im Ergebnis einen Wissenszugriff begründen wird. Die Entscheidung, ob mit der Wahrnehmung auf „Wissen“ oder 239 Ein „Emblem“ insoweit, als die verbale Entäußerung ersetzt wird. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 240 Ob diese Deutungsvariante nun richtig ist, ist eine andere Frage. In der Praxis ist aber in der Tat ein „Lügenstereotyp“ des sogenannten „Zappelphilipps“ scheinbar herrschend. Vgl. die „überprüfenden“ Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 241 Diese Terminologie hat ihren Ursprung in der Diskussion um die Zulässigkeit eines Lügendetektors im Strafverfahren. Dort stehen sich der sogenannte „Tatwissenstest“ und der „Kontrollfragentest“ gegenüber. 242 Bei dem sogenannten „Restless-Legs-Syndrom“ (Syndrom der ruhelosen Beine) handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, welche symptomatisch zu einem gestörten Bewegungsdrang in den Beinen und Füßen führt. Vgl. Trenkwalder, Restless Legs Syndrom, S. 2, 34 ff. 243 Wie sich noch zeigen wird, wäre jene Beweiserhebung dann dem Augenscheinsbeweis zugewiesen. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ff).

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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„etwas anderes“ zugegriffen wird, geriert sich hier notwendigerweise als eine ex post-Bewertung, welche dogmatisch erst auf der Ebene der Beweiswürdigung stattfindet.244 Für zufällig auftretende nonverbale Reaktionen ist dies aber unschädlich, denn – mangels Beweisbedürftigkeit jener (vermöge „Unaufgesuchtheit“) – bedarf es hier ohnehin keiner Erhebung in Gestalt eines Instituts des förmlichen Beweisverfahrens.245 Bei Experiment-Konstellationen realisiert sich indes die praktische Relevanz dieser Zuweisungsfrage und hier verhält es sich anders. Jedem förmlichen Beweiserhebungsakt ist eine beschränkte Antizipation des Beweisergebnisses immanent; jener wird „durchgeführt“, eine Tatsache zu beweisen. Die zu beweisende Tatsache wird denklogisch stets eine gewisse Vorbestimmtheit durch das Tatgericht erfahren;246 was auch schlicht notwendig ist, um das richtige Beweisinstitut zu ermitteln. Da Experiment-Konstellationen stets in Gestalt eines förmlichen Beweiserhebungsaktes stattzufinden haben,247 ist hier stets eine ex ante-Bestimmbarkeit gegeben. Rekurrierend auf den eingangs erwähnten Beispielsfall „umgekehrter Rekognition“ (der freilich auch mit dem Zeugen „gespielt“ werden kann) ist der Beweiserhebungsakt auf die „Prüfung“ des „Wiedererkennens eines Drittens“ gerichtet, indem ex ante bereits auf eine „mimische Wiedererkennens-Reaktion“ „spekuliert“ wird. Dann steht aber ex ante auch fest, dass mit dem Erhebungsakt ein Wissenszugriff intendiert ist. Eine „derartige“ Experiment-Konstellation müsste also in Gestalt des Instituts des Zeugenbeweises erfolgen.248 244

Soll diese Zuweisungsentscheidung indes als „Vorfrage“ für das „Eingreifen“ etwaiger Beweisverwertungsverbote fruchtbar gemacht werden, so genügt eine gesicherte ex post-Zuweisung. Auf der Beweiswürdigungsebene wird das Tatgericht den wahrgenommenen nonverbalen Reaktionen einen Bedeutungsgehalt „zusprechen“ (im Sinne einer Deutungsannahme). Damit wird ex post deutlich, ob ein Wissenszugriff gegeben ist oder nicht. So kann in Abhängigkeit der jeweiligen Deutungsannahme (exemplarisch und wahlweise „Lügensymptom“ oder „Krankheitssymptom“) und unter Heranziehung der Lehre vom Zugriffsgegenstand exakt bestimmt werden, ob der jeweilige „Beweiserhebungsakt“ auf Erhalt einer „Aussage“ gerichtet war. Nur in diesem Falle könnte exemplarisch die Schranke des § 136a StPO überhaupt eingreifen. Vgl. insoweit die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. I. 245 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). 246 Eine derartige Beweisantizipation, welche logischerweise eine vorweggenommene Beweiswürdigung beinhaltet, ist nur in engen Grenzen zulässig. Die Grenzen sind durch die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gesetzt und innerhalb dieser Grenzen ist eine Beweisantizipation schlicht notwendig. Ansonsten könnte das Gericht nicht beurteilen, ob ein Beweisantrag inhaltlich auf eine unzulässige Beweiserhebung gerichtet ist. Vgl. Becker, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 244, Rn. 183, 185. 247 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 248 Wenn nonverbale Reaktionen beim Angeklagten „erhascht“ werden sollen, hat dies dann in Gestalt des Instituts der Angeklagtenvernehmung zu geschehen. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 2. Ob derartigen „Versuchen“ (beim Zeugen oder auch beim Angeklagten) – denen freilich der Makel einer gewissen „Trickserei“ anhaftet – Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken entgegenstehen, sei im Rahmen des Dritten Kapitels untersucht und so insbesondere auch, wie sich dies im Hinblick auf § 136a StPO oder allgemein beim schweigenden Angeklagten verhält.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

(2) Vom unmittelbaren und mittelbaren Wissenszugriff Losgelöst von der Differenzierung zwischen zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen und solchen, die in Experiment-Konstellationen gezielt „abprovoziert“ werden, ist auf eine „erste Kategorie“ nonverbaler Reaktionen zu erkennen, mit welcher sich das Wissen einer Person unmittelbar offenbart. Hier ist etwa das obige Beispiel der „umgekehrten Rekognition“ zu nennen, in welchem eben der „überraschte Gesichtsausdruck“ ein Wiedererkennen vermuten ließ. Der Umstand der „Wissensentäußerung“ ist es, welcher diesen nonverbalen Reaktionen die Qualität einer Aussage verleiht. Als „zweite Kategorie“ sind nonverbale Reaktionen zu nennen, vermöge derer ein (vermeintlicher)249 Rückschluss auf den Erlebnisbezug einer verbalen Entäußerung möglich scheint (sogenannte „Lügensymptome“). Hier wäre etwa an das „spontane Erröten“ des (Alibi-)Zeugen zu denken, welchem gerade die Widersprüche seiner verbalen Entäußerung vorgehalten werden. Jenes geriert sich – vermöge der Deutungsannahme als „Lügensymptom“ – als mittelbare Preisgabe von Wissen betreffend den Verfahrensgegenstand, sodass jene Reaktionen als Aussage im Rechtssinne zu qualifizieren sind. gg) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung Eingedenk des obig erwähnten Gebotes der Harmonie zwischen materiellrechtlicher Zuweisung und prozessualer Realisierung, hat das Tatgericht den Beweiserhebungsakt einer Experiment-Konstellation in der Hauptverhandlung – so jener ex ante einen Wissenszugriff bei einer anderen Person als dem Angeklagten bezweckt – in Gestalt des Instituts des Zeugenbeweises zu vollziehen. Das Tatgericht hat also prozessual eine Zeugenvernehmung durchzuführen, in deren Rahmen sodann die Experiment-Konstellation, also der „Provokationsakt“ und etwa die Wahrnehmung des „überraschten Gesichtsausdrucks“, stattzufinden hat. Der Zeugenbeweis, erfährt als förmliches Beweisinstitut seine beweisrechtliche Relevanz erst mit Durchführung der (Zeugen-)Vernehmung, betreffend derer die Strafprozessordnung von einem förmlichen Vernehmungsverständnis ausgeht.250 249 Dass jene Rückschlüsse häufig fehlerhaft sein dürften, weil etwa eine erhebliche Diskrepanz zwischen vermuteten Lügenstereotypen und empirisch belegten Korrelationen nonverbaler Reaktionen mit „Lügen“ existent sind, ist eine andere Frage und wirkt sich nicht auf die Annahme von Aussagequalität aus. Vgl. dazu die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 250 So richtigerweise die herrschende Auffassung in Judikatur und Schrifttum: BGHSt 40, S. 211 (213); 42, S. 139 (145); 52, S. 11 (15); 55, S. 138 (143); Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 115; Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 6; Fincke, ZStW 1983, S. 918 (948); Kramer, Grundlagen des Strafverfahrensrechts, Rn. 28a; Kudlich, JuS 1997, S. 696 (699); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 162; ders. In: SK-StPO, § 136, Rn. 14; ders., JZ 1987, S. 847, (850); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 4; SternbergLieben, Jura 1995, S. 299 (306); Verrel, NStZ 1997, S. 415 (416). Vgl. zur Gegenansicht, welche ausgehend von einem funktional-materiellen Verständnis, jede Art der dem Staat zu-

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Danach sei eine Vernehmung jede innerprozessuale Veranlassung der Aussageperson – Zeuge oder Angeklagter –251 zur bewussten Abgabe sach- oder prozessrelevanter Informationen seitens eines amtlich tätigen Strafverfolgungsorgans.252 Für den Beweiserhebungsakt der Experiment-Konstellation bedeutet das, dass sowohl der Provokationsakt – etwa die „Vorlage von Lichtbildern“ – als auch der Wahrnehmungsakt – etwa die Beobachtung des „In-Tränen-Ausbrechens“ – räumlichtemporär zwischen Beginn der Befragung zur Person, § 68 Abs. 1 Satz 1 StPO,253 und Abschluss der Vernehmung zur Sache, § 69 StPO,254 stattzufinden haben. 2. Institut der Angeklagtenvernehmung Für das Institut der Angeklagtenvernehmung zeichnet sich eine „Übertragbarkeit“ jener Erkenntnisse ab. Sowie die Annahme von „Aussagequalität“ durch die Wissenspreisgabe betreffend den Verfahrensgegenstand, also die Übermittlung von Gedankeninhalten, bedingt ist,255 gilt freilich auch hier, dass nonverbale Reaktionen des Angeklagten – wie etwa jener „überraschte Gesichtsausdruck“ – im Falle einer Wissenspreisgabe als Aussage im Rechtssinne zu qualifizieren sind.256 Wenn sich die Zuweisung eines Beweiserhebungsaktes (Experiment-Konstellation) zum Institut des Zeugenbeweises anhand der Lehre vom Zugriffsgegenstand zu entscheiden hat und jene für den Fall eines Wissenszugriffs bei einer anderen Person als jener des Angeklagten bejaht wurde, so deutet sich insoweit ein Gleichlauf bei der Zuweisung zum Institut der Angeklagtenvernehmung an. Der dogmatische Ursprung jenes Wissenszugriffs-Kriteriums war in der ratio legis des Zeugenbeweises erblickt worden, da nämlich dessen Primärzweck im Erhalt des Wissens des Zeugen vom Verfahrensgegenstand besteht.257 Vermöge dessen soll sich jener Gleichlauf ergeben, denn auch das Institut der Angeklagtenvernehmung bezweckt – ebenso „der materechenbare Veranlassung zur Informationspreisgabe als Gegenstand einer Vernehmung im prozessualen Sinne qualifiziert und damit fälschlicherweise den Merkmalen der „Situationsklarheit“ und „Justizförmigkeit“ nicht hinreichend Rechnung trägt: LG Stuttgart, NStZ 1985, S. 568; Bernsmann, StV 1997, S. 116 f.; Dencker, StV 1994, S. 667 (674 f.); Gusy, StV 1995, S. 449 (450); Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136, Rn. 23 ff.; Seebode, JR 1988, S. 428. 251 Die Strafprozessordnung geht von einem einheitlichen Verständnis der Vernehmung aus, unabhängig, ob es sich um eine solche des Angeklagten oder eine solche des Zeugen handelt. Vgl. hierzu Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 162. 252 Vgl. zu dieser Definition Rogall, in: SK-StPO, § 136, Rn. 14 sowie ders., in: SK-StPO, Vor § 48, Rn. 162. 253 Vgl. Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 68, Rn. 1. 254 Also vor der Entscheidung über die Vereidigung. 255 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) aa) und ee). 256 Ob diese „Art der Aussage“ sodann geeignet ist, eine „Beredtheit des (Total-)Schweigens“ herbeizuführen, ist eine andere Frage. Vgl. hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) ee). 257 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

riellen Wahrheit dienend“ – einen Zugriff auf das Wissen des Angeklagten betreffend den Verfahrensgegenstand.258 Somit kann auch hier obiges argumentum e contrario „bedient werden“, dass ein auf den Erhalt dieses Wissens abzielender Beweiserhebungsakt materiell-rechtlich diesem Institut der Angeklagtenvernehmung zugewiesen ist. Dabei ist unschädlich, dass die Angeklagtenvernehmung – in Gestalt einer „Ranggleichheit im Zwecke“ – auch die Realisierung rechtlichen Gehörs im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG verfolgt;259 die dogmatische Sinnhaftigkeit des gewählten Zuweisungskriteriums vermag dies jedenfalls nicht zu konterkarieren. So gilt auch hier: Verfolgt das Tatgericht mit einem Beweiserhebungsakt einen Zugriff auf das Wissen des Angeklagten, so hat dieser Beweiserhebungsakt in Gestalt des Instituts der Angeklagtenvernehmung stattzufinden. Soll also im Rahmen einer Experiment-Konstellation beim Angeklagten etwa die (erhoffte) „mimische Reaktion“ des „Wiedererkennens der (Raubopfer-)Zeugin“ oder ein „In-Tränen-Ausbrechen“ provoziert und wahrgenommen werden, so hat dies in ihrer Gesamtheit – „analog“ den Ausführungen zum Zeugenbeweis260 – „im Kleide“ der förmlichen Angeklagtenvernehmung zu geschehen.261 3. Institut des Sachverständigenbeweises Daneben erscheint es auch möglich, dass bestimmte Beweiserhebungsakte, respektive die „dort“ auftretenden nonverbalen Reaktionen, die Tatgerichte vor gewisse Schwierigkeiten stellen. Bei „Mikroexpressionen“, aber auch bei anderen nonverbalen Reaktionen – etwa eines „häufigen Blinzelns“ – könnte sich ein Tatgericht vor Wahrnehmungs- und Deutungsprobleme gestellt sehen. Insoweit sei

258 So richtigerweise auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 163 sowie Rogall, in: SK-StPO, § 136, Rn. 18. Vgl. zur Gegenansicht, welche in der Beschuldigtenvernehmung lediglich die Realisierung von (rechtlichem) Gehör sieht, Degener, GA 1992, S. 443 (457 f., 459); Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 66. 259 Erst seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist eine Kodifizierung rechtlichen Gehörs in dieser Form existent, sodass der Zweck der Gewährung rechtlichen Gehörs dem bereits vorkonstitutionell existenten Institut der Angeklagtenvernehmung erst nachträglich hinzutreten konnte. Es sei denn, man würde diese Zwecksetzung bereits in den Reformbestrebungen zur Reichsstrafprozessordnung erblicken, „wofür“ zumindest das sukzessive Anerkenntnis einer Subjektstellung des Angeklagten „seit“ dem Zeitalter der Aufklärung streitet. 260 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) gg). 261 Es muss daher für den Angeklagten, entsprechend dem förmlichen Vernehmungsverständnis, eine Situationsklarheit bezüglich dessen bestehen, das heißt jenem muss bewusst sein, dass ein „gegen ihn“ gerichteter Informationserhebungsakt vollzogen wird. Praktisch genügte obgleich etwa die Frage: „Haben Sie die Person auf dem Foto schon einmal gesehen?“ Damit wäre für den Angeklagten schon erkennbar, dass eine Information von ihm erhoben werden soll. Nicht erforderlich ist indes, dass dem Angeklagten bewusst ist, dass es dem Tatgericht in Wirklichkeit überhaupt nicht auf die verbale Antwort, denn die nonverbale Reaktion ankommt. Inwieweit hier eine Täuschungsproblematik bestehen könnte, sei an späterer Stelle erläutert. Vgl. hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 2.

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untersucht, „bei welchen“ Beweiserhebungsakten (Experiment-Konstellationen) eine Zuweisung zum Institut des Sachverständigenbeweises in Betracht kommt. a) Regelungsgehalt des Sachverständigenbeweises „Erneut“ erscheint es hilfreich, den Regelungsgehalt des Instituts des Sachverständigenbeweises näher zu beleuchten und auf diesem Wege nach „Verbindungen“ dieses Instituts zu nonverbalen Reaktionen in der Hauptverhandlung „zu fahnden“. aa) Grammatische Auslegung Nach allgemeinem und fachlichem Sprachgebrauch erfasst der Begriff des „Sachverständigen“, wie dieser im Siebten Abschnitt der Strafprozessordnung verwendet wird, eine Person mit besonderer Sachkunde,262 also eine solche mit besonderem überdurchschnittlichem Erfahrungs- oder Kenntnisstand; wobei der „rein fachliche“ Sprachgebrauch ein gegenüber dem bestellenden Organ erhöhten Erfahrungs- oder Kenntnisstand andeutet.263 Im Vordergrund steht das zu erstellende Gutachten, §§ 75 ff. StPO, für welches der Sachverständige einen vorgefundenen Sachverhalt zu „begutachten“ hat. Das bedeutet, im Sinne fachlichen Sprachgebrauchs, Tatsachenfeststellungen für das zu erstellende Gutachten zu treffen, zu welchen dieser vermöge seiner besonderen Sachkunde in der Lage ist.264 Dass dies auch Feststellungen in Gestalt der Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen beim Menschen inkludiert, liegt nahe.265 So verweist die Vorschrift des § 81 StPO etwa auf die Verbringung des Beschuldigten in ein psychiatrisches Krankenhaus mit dem Zweck der dortigen „Beobachtung“, was a minore ad maius vermuten lässt, dass die Beobachtung von Personen im Allgemeinen vorgesehen sein könnte.266 Der Begriff „Beobachtung“ indiziert aufmerksame Wahrnehmungen, flankiert mit der Erwar262

Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, zu: „Sachverständiger“, S. 48. Vgl. Brockhaus Studienlexikon Recht, zu „Sachverständiger“, S. 974; Deutsches Rechtslexikon, zu „Sachverständiger im gerichtlichen Verfahren“, S. 3656 f. Im Ergebnis vgl. auch Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 363; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1501; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 2; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 7. 264 Brockhaus Studienlexikon Recht, zu „Sachverständiger“, S. 974. Deutsches Rechtslexikon, zu „Sachverständiger im gerichtlichen Verfahren“, S. 3656. Im Ergebnis vgl. auch Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 83. 265 Bei Feststellungen, die gerade aufgrund besonderer Sachkunde möglich sind, handelt es sich in juristischer Terminologie um sogenannte Befundtatsachen. Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 370; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1501; Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Vor § 72, Rn. 4; Krause, in: Löwe/RosenbergStPO, Vor § 72, Rn. 9; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 83; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO, Vor § 72, Rn. 5. 266 Freilich erfasst die Eingriffsgrundlage des § 81 StPO nur die Verbringung des Beschuldigten in eine solche Einrichtung. Für die Beobachtung kann ein derartiges Ausnahmeverhältnis nicht erblickt werden. 263

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

tung, dass Veränderungen am Wahrnehmungsobjekt bemerkt werden.267 Im fachlichen Sprachgebrauch verhält es sich so, dass die „Beobachtung“ primär schwer (nur vermöge Sachkunde) wahrnehmbare Vorgänge erfasst sind, womit etwa auch schwer wahrnehmbare nonverbale Reaktionen erfasst wären. bb) Systematische Auslegung Unter den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens nimmt jenes des Sachverständigenbeweises eine Art „Sonderrolle“ ein. So ist vorbehaltlich der gesetzlich geregelten Anwendungsbereiche, ein Rückgriff auf den Sachverständigen(beweis) nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO nur angezeigt, wenn der Kenntnis- oder Erfahrungsstand des Gerichts nicht ausreichend ist.268 Für eine Beweiserhebung ist der Sachverständigenbeweises daher nur dann „vorgesehen“, wenn dies entweder explizit durch die Strafprozessordnung angeordnet ist (exemplarisch: §§ 81e, 81f Abs. 1 Satz 1 StPO) oder es im Einzelfall die fehlende Sachkunde eines Strafverfolgungsorgans zu überwinden gilt. Insoweit erscheint es angelegt, dass ein Sachverständiger theoretisch auch zur Feststellung oder sachkundlichen Unterstützung bei der Bewertung nonverbaler Reaktionen herangezogen werden könnte. Die Vorschriften der §§ 80 Abs. 2, 81 Abs. 2 StPO offenbaren,269 dass der Gesetzgeber durchaus die Möglichkeit im Blick hatte, dem Sachverständigen einen unmittelbaren Eindruck von Zeugen und Angeklagten zu vermitteln, wenn diesem etwa das „Beiwohnen“ an einer Vernehmung gestattet wird. Hier könnten sodann etwa auch nonverbale Reaktionen des Zeugen oder Angeklagten „registriert“ werden. cc) Historisch-genetische Auslegung Die Analyse der Gesetzesmaterialien und die Betrachtung der Entstehungshistorie vermochten insoweit indes keinen näheren Aufschluss zu gewähren. Im Besonderen finden sich auch in den Materialien zur Entstehung der §§ 80, 81 RStPO keine Anhaltspunkte dafür, dass der historische Gesetzgeber spezifisch nonverbale Reaktionen „hierbei“ im Blick gehabt hätte.270

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Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, zu: „Beobachtung“, S. 102. Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 20. Insoweit erscheint eine Bezeichnung als nachgelagertes Beweisinstitut terminologisch überzeugend, wofür auch der Umstand streitet, dass der Regelungsgehalt maßgeblich über die Verweisungsvorschrift des § 72 StPO bestimmt wird. 269 Vgl. zum Befugnisnorm-Charakter der Vorschrift des § 80 Abs. 2 StPO die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (bb). 270 Vgl. Protokolle der Kommission (Erste Lesung) bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 618, 620. 268

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dd) Objektiv-teleologische Auslegung Als Institut des förmlichen Beweisverfahrens übergeordnet der Ermittlung des wahren Sachverhalts verschrieben, ist der Primärzweck des Instituts des Sachverständigenbeweises in der Überwindung eines Sachkundemangels verortet.271 Die „Zuziehung“ eines Sachverständigen ist also (nur) „dort“ angezeigt, „wo“ es dem Tatgericht auf einem bestimmten Wissenschaftsgebiet an (für die Entscheidungsfindung relevanter) Sachkunde fehlt.272 Ausgehend von dieser „Funktionszuweisung“ existieren für den Sachverständigen kategorial drei Aufgabenbereiche: Erstens die Mitteilung von Erfahrungssätzen, das heißt, der Sachverständige informiert das Gericht über Sätze der jeweiligen Wissenschaft oder Kunst, was sich neben der bloßen Mitteilung auf dessen Verwendungsweise und etwaige Hintergrundannahmen erstrecken kann.273 Zweitens das Ziehen von Schlussfolgerungen kraft Sachkunde über feststehende Tatsachen, das heißt, der Sachverständige zeigt – durch seine Sachkunde ermöglicht – die jeweils einschlägige Schlussregel dem Gericht auf und wendet diese sodann auf den konkreten Einzelfall an.274 Drittens die Mitteilung von Befundtatsachen, das heißt, der Sachverständige ermittelt selbst beweiserhebliche Tatsachen, welche nur aufgrund besonderer Sachkunde ermittelbar sind, und teilt diese dem Gericht mit.275 Der Sinn und Zweck bleibt indes stets gleich: Sachkunde einsetzen, wo Sachkunde fehlt. b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Sachverständigenbeweis Damit ist aber noch nicht geklärt, „wann“ (und „ob“ überhaupt) Beweiserhebungsakte (Experiment-Konstellationen), gerichtet auf die Provokation und Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung, materiell-rechtlich dem 271 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 14. Vgl. ferner Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 197; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 363; Detter, NStZ 1998, S. 57 (57 f., 59); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1500; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 2; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 27, Rn. 1; Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 27. 272 Vgl. Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 2. Vgl. zur Terminologie der „Zuziehung“ RiStBV Nr. 69 Satz 1. 273 Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 371; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1501; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 8; Trück, in: MünchenerKommentar-StPO, § 72, Rn. 4 sowie Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 81. 274 Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 372; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1501; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 10; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, Vor § 72, Rn. 7; Senge, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Vor § 72, Rn. 3 sowie Rogall, in: SK-StPO, Vor, § 72, Rn. 82. 275 Vgl. Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 370; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1501; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 9; Neubeck, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, Vor § 72, Rn. 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/SchmittStPO, Vor § 72, Rn. 5; Senge, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Vor § 72, Rn. 2 sowie Rogall, in: SK-StPO, Vor, § 72, Rn. 83.

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Institut des Sachverständigenbeweises zugewiesen sind oder, in anderen Worten, (ergänzend) unter „Zuziehung“ eines Sachverständigen erfolgen müssen.276 aa) Ausgangspunkt: Sachkundemangel Eingedenk der ratio legis des Instituts des Sachverständigenbeweises – also der „Überwindung eines Sachkundemangels“ – kann die „Zuziehung“ eines Sachverständigen bezogen auf in Rede stehende nonverbale Reaktionen – wie etwa ein „Erröten“ oder „Erbleichen“ – nur in Betracht kommen, „wo“ dem Tatgericht tatsächlich die erforderliche Sachkunde fehlt.277 Zunächst ist es die „Wahrnehmungsebene“, auf welcher eine fehlende tatgerichtliche Sachkunde die „Zuziehung“ eines Sachverständigen gebieten kann. Dies ist der Fall, wenn dem Gericht schon die Fähigkeit zur Wahrnehmung („Erhebung“) spezifischer nonverbaler Reaktionen fehlt. Insoweit ist etwa denkbar, dass die sensuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten der Richter nicht hinreichend „ausgebildet“ oder „trainiert“ sind, um auch kurzzeitige beziehungsweise nur geringe „mimische Veränderungen“ oder „gestische Erscheinungen“ zu bemerken. Ist jenen nonverbalen Reaktionen eine Relevanz für die Entscheidungsfindung beizumessen, so wäre hier die „Zuziehung“ eines Sachverständigen zur „Erhebung“ jener als Befundtatsachen angezeigt. Ebenso könnte eine fehlende tatgerichtliche Sachkunde auf der „Deutungsebene“ virulent werden, wenn das Tatgericht nicht selbst in der Lage sein sollte, die in der Hauptverhandlung registrierten nonverbalen Reaktion – etwa ein „Erröten“ oder eine „gestische Unruhe“ – richtig zu deuten. Hier könnte die „Zuziehung“ eines Sachverständigen angezeigt sein, dem Tatgericht entweder abstraktes Wissen betreffend die Deutung nonverbaler Reaktionen zu vermitteln oder „Hilfestellung“ bei der Deutung konkreter (in der Hauptverhandlung aufgetretener) nonverbaler Reaktionen zu leisten.

276 Während die förmlichen Beweisinstitute des Zeugenbeweises und der Angeklagtenvernehmung einerseits und jenes der Augenscheinseinnahme andererseits in einem Exklusivitätsverhältnis stehen, also ein Beweiserhebungsakt dogmatisch nur einem dieser Institute zugewiesen werden kann (und jene daher auch untereinander „abzugrenzen“ sind), steht das Institut des Sachverständigenbeweises quasi außerhalb dieses Exklusivitätsverhältnisses. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Werden dem Angeklagten etwa Lichtbilder des mutmaßlichen (Raub-)Opfers vorgelegt, um ein (erhofftes) „In-Tränen-Ausbrechen“ zu provozieren (woraus vielleicht eine Tatbeteiligung gefolgert werden soll), so ist dieser Beweiserhebungsakt (Experiment-Konstellation), vermöge Wissenszugriff, dem Institut der Angeklagtenvernehmung zugewiesen. Für das Institut des Sachverständigenbeweises bleibt aber dennoch insoweit „Raum“, als jener seitens des Tatgerichts quasi ergänzend „zugezogen“ werden könnte, dieses bei der „richtigen Bewertung“ des „In-Tränen-Ausbrechens“ (oder anderer nonverbaler Reaktionen) sodann durch entsprechende Sachkundevermittlung unterstützen könnte. 277 Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 197; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 363; Detter, NStZ 1998, S. 57 (57 f., 59); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1500; Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 72, Rn. 2; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 14; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 27, Rn. 1; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 27.

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bb) Eine Einzelfallentscheidung Inwieweit bezogen auf konkrete Beweiserhebungsakte bei den Tatgerichten de facto ein solcher Sachkundemangel auf der „Wahrnehmungs-“ oder „Deutungsebene“ vorhanden ist,278 und ferner den („erhofften“) nonverbalen Reaktionen eine Bedeutung für die Entscheidungsfindung zukommt, ist denknotwendig eine Frage des Einzelfalles. Folglich ist eine pauschalierte Beantwortung unmöglich, sodass nur eine „Falltypenbildung“ – im Sinne einer annährungsweisen Lösung – möglich erscheint. (1) „Alltagsübliche“ nonverbale Verhaltensweisen Ereignen sich in der Hauptverhandlung nonverbale Reaktionen, so handelt es sich hierbei überwiegend um solche „alltagsüblicher Natur“. Zu nennen sind etwa: das „zustimmende Nicken“, das „verlegene Erröten“, der „überraschte Gesichtsausdruck“ oder schlicht die „gestische Unruhe“. Für derartige Reaktionen besteht ersichtlich weder auf der Wahrnehmungs- noch auf der Deutungsebene das Problem mangelnder Sachkunde. Namentlich ist gewiss auch ein Laie auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie – und ebenso ein jedes „nicht besonders trainiertes“ Tatgericht – in der Lage, vermöge eigener Sinnesorgane und Lebenserfahrung, jene nonverbalen Reaktionen zu registrieren und grundsätzlich „richtig“ zu deuten. So ist ein jedes Tatgericht freilich befähigt, einen „überraschten Gesichtsausdruck“ als solchen wahrzunehmen und darin richtigerweise „die Überraschung“ über einen bestimmten Umstand zu erblicken.279 (2) Von „Mikroexpressionen“ und „Lügensymptomen“ Eine Ausnahme besteht hier prima facie für erwähnte „Mikroexpressionen“, für welche an obiger Stelle konstatiert wurde, dass eine Wahrnehmung jener nur vermöge technischer Hilfe oder durch besonders geschulte Personen möglich sei.280 Diese äußerst kurzzeitigen „mimischen Reaktionen“, denen partiell eine Relevanz für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beigemessen wird, werden von den überwiegenden Tatgerichten, mangels hinreichender Befähigung, nicht registriert werden können.281 Somit wird hier ein Sachkundedefizit auf der Wahrnehmungsebene bestehen. „Interessanterweise“ löst dies vorliegend aber keine Pflicht zur „Zuziehung“ eines Sachverständigen aus, denn das setzte eine beweisrechtliche Relevanz jener 278

Im Rahmen eines Kollegialgerichts ist es ausreichend, wenn einer oder mehrere Richter über eine ausreichende Sachkunde verfügen. Vgl. hierzu statt vieler Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 20. 279 Wobei auch ein „überraschter Gesichtsausdruck“ unterschiedliche Ursachen haben kann. Das ist dann eine Frage der Beweiswürdigung. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. a). 280 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel A. II., Fn. 24. 281 Eine derartige „Schulung“ ist in der deutschen Juristenausbildung nicht vorgesehen und – wie sich zeigen wird – auch nicht erforderlich.

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Mikroexpressionen voraus. Wie schon die konjunktivische Formulierung indiziert, sind derartige Mikroexpressionen – wie auch andere nonverbale Reaktionen – für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung nach aktuellem Stand der Wissenschaft aber von derartig geringer Bedeutung, dass der jenen zukommende Beweiswert nahezu „gleich Null“ ist.282 „Wenn dem so ist“, so bedarf es aber weder auf der Wahrnehmungsebene der „Zuziehung“ eines Sachverständigen – etwa Mikroexpressionen als Befundtatsachen zu registrieren –283 noch auf der Deutungsebene sachkundlicher „Unterstützung“ – etwa jene oder andere nonverbale Reaktionen als Täuschungsindikatoren „richtig zu deuten“ –; wenn nonverbale Reaktionen sich ohnehin nicht eignen, „Lügen aufzudecken“, so bedarf es auch keines Sachverständigen, der das Tatgericht darüber informiert.284, 285 (3) Medizinische Indikation (Schuldfähigkeitsbegutachtung) Anders wird es sich wohl betreffend solcher Beweiserhebungsakte verhalten, die auf die Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen gerichtet sind, welche ihrerseits potenziell Rückschlüsse auf medizinisch-psychologische beziehungsweise medizinisch-physiologische Zustände erlauben könnten. Eingangs wurde insoweit etwa darauf verwiesen, dass eine „gesteigerte gestische Unruhe“ auch Symptom des sogenannten „Restless-Legs-Syndrom“ oder die „reduzierte Bewegungsvariabilität“ Hinweis für eine Depression sein könnte.286 282 Dies wird erst an späterer Stelle eine Erläuterung erfahren. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 283 Dies könnte etwa durch die Anwesenheit eines Sachverständigen bei der Angeklagtenoder Zeugenvernehmung geschehen (§ 80 Abs. 2 StPO), sodass jener die Mikroexpressionen sodann wahrnehmen könnte. Vgl. betreffend die Zulässigkeit dessen die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (bb). 284 Und dies „erst recht“ vor dem Hintergrund des Folgenden: Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagepersonen ist Bestandteil der Beweiswürdigung und insoweit originäre Aufgabe des Tatgerichts, welche gerade nicht an Sachverständige delegiert werden darf. So ist auch die Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Grundsatze vom Tatgericht selbst vorzunehmen (insoweit besteht im Grundsatze auch eine hinreichende Sachkunde). Vgl. hierzu auch Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261 StPO, Rn. 40. Nur wenn nach der spezifischen Eigenart und besonderen Gestaltung des Einzelfalles dem Tatgericht die notwendige Sachkunde fehlen sollte, darf die Glaubhaftigkeitsbeurteilung unter Hinzuziehung eines Sachverständigen erfolgen. Dies wird etwa typischerweise bei „Aussage gegen AussageKonstellationen“ in Sexualdelikten bei Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen angenommen. Vgl. hierzu ebenso Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261 StPO, Rn. 40 m. w. N. 285 Vielleicht wäre es aber nicht schlecht, wenn ein Sachverständiger den Tatgerichten in ihrer Gesamtheit mitteilen könnte, dass nonverbale Verhaltensweisen eben keine tauglichen Täuschungsindikatoren darstellen. Hier bestehen nämlich „besorgniserregende“ Disparitäten zwischen Laienannahmen (auch unter Tatrichtern) und aktuellen empirischen Befunden. Vgl. hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3) (b). 286 Vgl. die obigen Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. und Erstes Kapitel B. III. 5.

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Hier ist ein Bereich betroffen, in welchem den Tatgerichten regelmäßig die erforderliche Sachkunde – möglicherweise schon auf der Wahrnehmungsebene – zur „richtigen Deutung“ (Deutungsebene) derartiger Verhaltensweisen fehlen dürfte. Sollte jenen pathologischen Zuständen eine Bedeutung für die Entscheidung zukommen – etwa für Schuldfähigkeit –, so dürfte die Zuziehung eines Sachverständigen geboten sein. cc) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung Obgleich „anlässlich“ nonverbaler Reaktionen also nur äußerst selten die Zuziehung eines Sachverständigen geboten sein dürfte, ist für diese wenigen Fälle die materiell-rechtliche Zuweisung zum Institut des Sachverständigenbeweises – „wiederum“ entsprechend obigen Gebotes der Harmonie287 – prozessual vom Tatgericht umzusetzen. Rechtspraktisch hat das Tatgericht einen Sachverständigen (wohl primär auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie) zu „beauftragen“, wodurch dessen Statuserwerb begründet wird,288 und ferner diesem im Sinne pflichtgemäßer Ermessensausübung, die „Erstellung seines Gutachtens“ zu ermöglichen. Anlässlich der Wahrnehmung und Deutung nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung böte sich hier die Möglichkeit der Anwesenheit in der Hauptverhandlung nach § 80 Abs. 2 StPO an.289

III. Nonverbale Verhaltensweisen als Gegenstand des Sachbeweises Nachdem mit der Lehre vom Zugriffsgegenstand – respektive dem Kriterium des Wissenszugriffs – eine taugliche „Regel“ aufgestellt werden konnte, „wann“ ein Beweiserhebungsakt dem subjektiven Personalbeweis zugewiesen ist, sei nun untersucht, in welchen Fällen eine Experiment-Konstellation, gerichtet auf Provokation und Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen, Gegenstand des Sachbeweises ist. 1. Institut des Augenscheinsbeweises Mit den Vorschriften der §§ 86, 225, 244 Abs. 5 Satz 1 StPO ist eine positivrechtliche Ausgestaltung des Instituts des Augenscheinsbeweises existent, wenngleich die Strafprozessordnung einer gesetzlichen Definition dessen schuldig

287

Vgl. die obigen Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 2. Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 32. 289 Wobei der Sachverständige nicht selbst eine Vernehmung durchzuführen befugt ist, sondern lediglich ergänzende Fragen stellen darf. Vgl. hierzu Bosch, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, § 80, Rn. 2. Vgl. ferner die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (bb). 288

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bleibt.290 Nach tradiertem Verständnis291 ist als Augenscheinseinnahme zu qualifizieren, dass sich ein Organ der Strafrechtspflege die Wahrnehmung einer Person, einer Sache, einer Örtlichkeit oder eines Vorganges mit dem Ziel verschafft, beweiserhebliche Tatsachenfeststellungen zur Existenz des Objekts, seiner Beschaffenheit oder seinen raum-zeitlichen Beziehungen zu treffen. So wäre die optisch-visuelle oder auch auditive Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung – wie etwa die des „spontanen Errötens“ – per definitionem bereits per se als Augenscheinseinnahme zu begreifen, handelt es sich doch um einen sensuellen Wahrnehmungsvorgang des Tatgerichts; nur konterkarierte dies die obige Zuweisungsentscheidung „im Falle des Wissenszugriffs“.292 a) Auslegung des Instituts des Augenscheinsbeweises „Auch hier“ könnte eine nähere Betrachtung des Regelungsgehaltes des Instituts des Augenscheinsbeweises „wertvolle Anhaltspunkte“ für jene Zuweisung gewähren. Methodisch hat dies „erneut“ im Wege der Auslegung des entsprechenden Normkomplexes zu erfolgen. aa) Grammatische Auslegung Bei grammatischer Betrachtung des Normtextes sind es die Begriffe „Augenschein“ und „Einnahme“, wie jene in § 86 StPO verwendet werden, welche es zu untersuchen gilt. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist der Begriff des „Augenscheins“ mit visueller Wahrnehmung konnotiert, erfasst also Wahrnehmungen von „Etwas“ mit dem Sinnesorgan Auge,293 wobei jener nach fachspezifischem Sprachgebrauch jede sinnliche Wahrnehmung – also auch Riechen, Schmecken, Hören oder Fühlen – inkludiert.294 Die „Einnahme“ dessen vermag nach dem Wortsinne allenfalls eine gewisse Finalität anzudeuten, dass es sich etwa um eine Art „geplante und beabsichtigte“ Wahrnehmung handelt.295 Das „wahrgenommene Etwas“ könnte bei grammatischer Betrachtung demnach auch eine menschliche 290 Die Strafprozessordnung setzt die Existenz des Instituts des Augenscheinsbeweises voraus. Vgl. statt vieler Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 136 f. 291 Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 204; Bosch, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, § 86, Rn. 2; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 140; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 28, Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 86, Rn. 2; Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 33. 292 Es ergäbe sich ein gegenläufiges Ergebnis, welches jedenfalls mit der ratio legis des Instituts des Zeugenbeweises und derjenigen des Instituts der Angeklagtenvernehmung nicht vereinbar wäre. Ist doch für den „Wissenszugriff“ eindeutig eine entsprechende materiellrechtliche Zuweisung konstatiert worden. 293 Vgl. Geppert, Jura 1996, S. 307 (308). 294 Vgl. Brockhaus Studienlexikon Recht, zu „Augenschein“, S. 121 sowie Deutsches Rechtslexikon, zu „Augenschein“, S. 385. 295 Wobei dies stark „vom Ergebnis her“ gedacht ist.

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nonverbale Reaktion – wie ein „Erröten“ oder „Stottern“ – sein, werden solche doch optisch-visuell oder auditiv registriert. bb) Systematische Auslegung Wie die Vorschriften der §§ 86, 225 und 244 Abs. 5 Satz 1 StPO erhellen, kennt die Strafprozessordnung – beweisrechtlich – ausschließlich die richterliche Augenscheinseinnahme. Eingedenk ihres Charakters als Strengbeweisinstitut296 deutet dies im Zusammenhang mit der Protokollierungsverpflichtung in § 86 StPO auf eine gewisse Förmlichkeit hin. Interessant ist aber besonders das systematische Verhältnis der förmlichen Beweisinstitute zueinander. Es existieren für unterschiedliche Beweiserhebungsakte unterschiedliche förmliche Beweisinstitute,297 sodass etwa Beweiserhebungsakte, die auf einen Wissenszugriff „abzielen“, dem Institut des Zeugenbeweises oder jenem der Angeklagtenvernehmung zugewiesen sind. Dem Institut des Augenscheinsbeweises muss dann aber ein davon abweichender Regelungsgehalt zugrunde liegen, respektive können Beweiserhebungsakte mit Wissenszugriff nicht „doppelt“ zugewiesen sein, so sind nämlich Rechtsnormen und auch Normenkomplexe (wie die förmlichen Beweisinstitute) stets so auszulegen, dass ihnen „zueinander“ ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt.298 Der wesentliche Unterschied gegenüber den anderen Instituten des förmlichen Beweisverfahrens besteht beim Augenscheinsbeweis in der Unmittelbarkeit der Informationsgewinnung. Während Zeuge, Angeklagter, Sachverständiger und Urkunde nur mittelbar auf die Überzeugungsbildung des Gerichts einwirken (können),299 ergibt sich im Falle des Augenscheinsbeweises eine Überwindung dieser Mittelbarkeit.300 Die Führung des Augenscheinsbeweises bezweckt und gewährt dem erkennenden Gericht zuvörderst einen unmittelbaren (eigenen) Eindruck vom Beweismittel.301 Dann kann dem In296 Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 179, 437; Geppert, Jura 1996, S. 307 (308); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24, Rn. 2; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 22, Rn. 2. 297 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 298 Dieser Gedanke folgt aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz: Sind von der Legislative mehrere Rechtssätze erlassen worden, so ist davon auszugehen, dass dies bewusst, nämlich vermöge eines Differenzierungswillens, geschah. Diese Entscheidung ist seitens des Rechtsanwenders „zu respektieren“, namentlich in der Auslegung zu berücksichtigen, da auf diesem Wege der gesetzgeberischen Entscheidung optimal Geltung verschafft wird. 299 Beim Zeugen ist das „Wirkmittel“ die Zeugenaussage; beim Angeklagten ist das „Wirkmittel“ die Angeklagteneinlassung; beim Sachverständigen ist das „Wirkmittel“ das Sachverständigengutachten; bei der Urkunde ist das „Wirkmittel“ die verschriftlichte Gedankenerklärung. 300 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2222 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 875; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 140. 301 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2222 und ferner auch Kohler, GA 1913, S. 212 (215).

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stitut des Augenscheinsbeweises aber kein Beweiserhebungsakt zugewiesen sein, der die „Inanspruchnahme“ einer irgendwie gearteten Mittelbarkeit bedingt – also etwa die relevante Tatsache nur mittelbar „über“ das Wissen eines Dritten erlangbar macht –, sondern nur ein solcher, der unmittelbar – quasi ohne Zwischenschritt – auf die für den Verfahrensgegenstand relevante Information zugreift. Vermöge dieser Systematik erscheint der maßgebliche Regelungsgehalt darin verortet, dass dem Tatgericht mit der Augenscheinseinnahme eine unmittelbare, sinnliche Wahrnehmung über Zustände eingeräumt sein soll.302 Diese „Zustandswahrnehmung“ präzisierend, liefert die Vorschrift des § 87 StPO den entscheidenden Anhaltspunkt: Wenn der menschliche Körper als solcher insoweit schon taugliches Objekt einer Augenscheinseinnahme sein kann, so muss a maiore ad minus auch die einzelne nonverbale Reaktion des menschlichen Körpers tauglicher Gegenstand des Augenscheinsbeweises sein können. cc) Historisch-genetische Auslegung Anders als betreffend das Institut des Zeugenbeweises und jenes der Angeklagtenvernehmung vermochten hier weder die Analyse der Gesetzesmaterialien noch die Betrachtung der Entstehungshistorie näheren Aufschluss über den Regelungsgehalt des Augenscheinsbeweises – respektive betreffend nonverbale Reaktionen – zu gewähren. Im Besonderen findet sich auch in den Materialien zu § 86 RStPO kein Verweis bezogen (etwa) auf die Augenscheinseinnahme spezifisch nonverbaler Verhaltensweisen.303 dd) Objektiv-teleologische Auslegung Als ein Institut des förmlichen Beweisverfahrens dient der Augenscheinsbeweis „übergeordnet“ der Ermittlung des wahren Sachverhalts, also der materiellen Wahrheit.304 Die primäre Zwecksetzung besteht indes darin, beweiserhebliche Tatsachenfeststellungen zur Existenz eines Objekts, seiner Beschaffenheit oder seinen raum-zeitlichen Beziehungen zu treffen.305 Dem entspricht es freilich, den Augenscheinsbeweis nicht nur im Wege optisch-visueller Wahrnehmungen zu führen, 302

Im Sinne einer Negativabgrenzung – wie sie etwa von Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 33 vertreten wird – sind „Zustände“ per definitionem nur, was nicht erstens im Wege eines Wissenszugriffs, zweitens im Wege der Betrachtung verschriftlichen Gedankeninhalts oder drittens nur mit besonderer Sachkunde feststellbar ist. 303 Vgl. Protokolle der Kommission (Erste Lesung) bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 620. Im Rahmen der Ersten Lesung „firmierte“ der spätere § 86 RStPO noch als § 77 RStPO. 304 Vgl. BVerfGE 57, S. 250 (275); 63, S. 45 (61); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2 f.; Krehl, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 244, Rn. 28. 305 RGSt 47, S. 235 (237); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 140; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 86, Rn. 2.

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sondern auch sinnliche Wahrnehmungen durch Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen zuzulassen, wobei „alles“ als Augenscheinsobjekt in Betracht kommt, sofern sich die Möglichkeit beweiserheblicher Feststellungen darbietet.306 Sieht man nun Personen, Örtlichkeiten, Sachen oder Vorgänge sämtlich als taugliche Augenscheinsobjekte an,307 so ist es eingedenk obiger Zwecksetzung konsequent und geboten, dass auch nonverbale Reaktionen von Personen seitens des Tatgerichts in Augenschein genommen werden. Denn „wo“ sich die Möglichkeit eines originären Eindrucks „über ein Beweismittel“ bietet, verpflichtet zudem schon die Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO zur vollständigen – hier sodann unmittelbaren – Ausschöpfung.308 Dieser – bezweckte – (qualitative) Vorteil einer originären Wahrnehmung durch das Tatgericht realisiert sich indes nur, wenn die sensuelle Wahrnehmung auf Tatsachen gerichtet ist, die dem Wahrnehmungsobjekt unmittelbar anhaften, es also um die Existenz oder Beschaffenheit – oder übergeordnet: einen „Zustand“ – geht. b) Von der materiell-rechtlichen Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises Damit ist betreffend nonverbale Reaktionen indes noch kein praxistauglicher Abgrenzungstopos zwischen subjektivem Personal- und Sachbeweis gefunden. Es bedarf insoweit einer klaren Feststellung, „wann“ eine Experiment-Konstellation – gerichtet auf die Wahrnehmung („erhoffter“) nonverbaler Reaktionen – materiellrechtlich dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen ist. aa) Vom Vorrang sensueller Wahrnehmung Eingedenk obiger Definition des Augenscheinsbeweises309 wäre prima facie die materiell-rechtliche Zuweisung schnell entschieden, denn sämtliche nonverbalen Reaktionen in der Hauptverhandlung – sowohl eine „gestische Unruhe“ als auch ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – bieten sich dem Tatgericht zur sensuellen Wahrnehmung dar. In diese Richtung will etwa Rogall310 sogenannte „Ausdrucks306 Vgl. BGHSt 18, S. 51 (53); Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 204; Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 1; Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 392; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2220; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 875; Neubeck, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, Vor § 72, Rn. 17; Rogall, in: SKStPO, Vor § 72, Rn. 140; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 28, Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 86, Rn. 1; Trück, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 86, Rn. 4; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 33. Vgl. auch Krause, in: Löwe/RosenbergStPO, § 86, Rn. 9. 307 Vgl. RGSt 47, S. 235 (237); Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 2; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 140; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 86, Rn. 2; Trück, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 86, Rn. 16. 308 Vgl. RGSt 40, S. 189; 51, S. 20; 57, S. 322; 58, S. 80; BGH, NJW 1960, S. 2154 (2156). 309 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. 310 Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 33.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

bewegungen“ wie „Erröten“, „Erbleichen“, „Stottern“, „Weinen“, „Zittern“ et cetera pauschal als Gegenstand des Augenscheinsbeweises qualifizieren, welche „interessanterweise“ die Gemeinsamkeit aufweisen, dass jene sämtlich entweder schon nicht der physischen Steuerbarkeit unterliegen, jedenfalls aber unbewusst auftreten. Es scheint, dass hier von Rogall die Aussagequalität mittels „unausgesprochenen Verweises“ auf die fehlende Gewillkürtheit – fälschlicherweise – negiert und sodann nolens volens die Zugehörigkeit zum Augenscheinsbeweis postuliert wird. Dem kann in dieser Pauschalität nicht zugestimmt werden, so ist es für den Einzelfall denkbar, dass mit dem konkreten Beweiserhebungsakt – und der sich vollziehenden Wahrnehmung etwa des „Stotterns“ – ein mittelbarer Wissenszugriff bewirkt wird (etwa bei der Deutungsannahme eines „Lügensymptoms“). Mit anderen Worten: Es ist dogmatisch unmöglich einer spezifischen nonverbalen Reaktion – „Erbleichen“ oder auch „gestischer Unruhe“ – generell „Aussagequalität“ zu attestieren und folglich auch jenen generell eine Zuweisung zum subjektiven Personal- oder Sachbeweis „aufzuoktroyieren“. „Das“ ist stets eine Frage des Einzelfalles. bb) Ansatz der Negativzuweisung Das Verdikt einer stetig gebotenen Einzelfallentscheidung anerkennend, hat sich in Teilen des Schrifttums311 eine Art „Negativzuweisung“ herausgebildet. Demnach sei ein Beweiserhebungsakt, gerichtet auf die Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen, im Grundsatze zwar dem Zeugenbeweis oder Angeklagtenvernehmung zugewiesen, fehlt es indes an einer förmlichen Vernehmung, so ergäbe sich eine Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises.312 In diesem Sinne konstatiert Eisenberg313, dass es – unabhängig von anderen Kriterien – „jedenfalls“ der Erhebung des Augenscheinsbeweises bedürfe, wenn eine Vernehmung der Beweisperson unterbleibt. Weshalb in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs314 verwiesen wird,315 verbleibt unklar. Die in Rede stehende Entscheidung trifft lediglich eine Feststellung dahingehend, dass die „äußere Erscheinung des Zeugen“ auch im Falle des Berufens auf § 52 StPO in der Urteilsfindung berücksichtigt werden dürfe. Eine Zuweisung von Beweiser-

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Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 421 a. E.; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313a sowie Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25 f. 312 Etwa weil sich der Angeklagte auf sein Schweigerecht beruft oder der Zeuge auf § 52 StPO. So zumindest die „Idee“ Dallmeyers, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 421 a. E. Vgl. dagegen indes die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel C. 313 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313a, welcher mit dem Begriff „Vernehmung“ sowohl die Beschuldigten- als auch die Zeugenvernehmung meint. 314 BGH, GA 1965, S. 108. 315 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313a [Fn. 78], welcher die Entscheidung als „insoweit unzutreffend“ bezeichnet.

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hebungsakten zu bestimmten Instituten förmlicher Beweiserhebung wird indes mit keinem Worte erwähnt.316 Ähnliches liest sich bei Dallmeyer317, dass es sich etwa um eine Augenscheinseinnahme handle, wenn der Zeuge die Aussage befugt verweigert oder der Angeklagte die Einlassung ablehnt und schweigt. An dieser Stelle wird sodann auf eine Entscheidung des Oberlandesgericht Hamm318 verwiesen, welcher lediglich die – richtige – Feststellung zu entnehmen war, dass das „[bloße] Aussehen eines Zeugen nicht Bestandteil der Aussage“ sei. Eine darüber hinaus gehende Erkenntnis, etwa, dass die Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen abstrakt generell oder nur im Falle des Fehlens einer förmlichen Vernehmung, dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen wären, lässt sich der Entscheidung indes nicht entnehmen. Dies gilt selbst dann, wenn man – unrichtigerweise – von der Formulierung „Aussehen des Zeugen“ auch nonverbale Verhaltensweisen erfasst sehen wollte. Ebenso verhält es sich mit einer hier zitierten Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen319 sowie einer solchen des Bundesgerichtshofs320. Auch Krause321 begreift nonverbale Verhaltensweisen im Grundsatz als dem Institut des Zeugenbeweises oder dem der Angeklagtenvernehmung zugehörig, sieht diese aber jedenfalls für Konstellationen, in denen eine Vernehmung „nicht stattfindet“, als Gegenstand des Augenscheinsbeweises an. In dieser Form ist die „Negativzuweisung“ als Abgrenzungskriterium schlicht ungeeignet und führt in der Sache zu falschen Ergebnissen. Es scheint, als beruhe jene auf einer dogmatischen Fehlinterpretation. So wird die Frage nach dem Gegenstand des Augenscheinsbeweises in Teilen des Schrifttums322 dergestalt beantwortet, dass jede Beweiserhebung, die nicht Zeugen-, Sachverständigen- oder Urkundenbeweis, eben eine solche des Augenscheinsbeweises sei; es wird also eine Art 316 In Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2312, 2313a erhebt dieser durchaus den Anspruch eine Zuweisung nonverbaler Verhaltensweisen („spontane körperliche Reaktionen“) zu den Instituten förmlicher Beweiserhebung vorzunehmen. In BGH, GA 1965, S. 108 ist von einer derartigen Zuweisung indes keine Rede. Letztlich wird hier von Eisenberg die Frage der Zuweisung mit jener der Beweisbedürftigkeit verwechselt beziehungsweise vermengt. 317 Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 421 a. E. 318 OLG Hamm, MDR 1974, S. 1036. 319 HansOLG, Bremen, MDR 1970, S. 165. Gegenstand der Entscheidung ist primär die Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Berufungsinstanz. Diese könne nach Ansicht des Senats sinnvoll sein, „wenn und soweit seine äußere Erscheinung zum Gegenstand der Augenscheinseinnahme gemacht werden soll, […]“. Dass hiermit auch Beweiserhebungsakte, gerichtet auf Provokation und Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen, gemeint sind, ist indes nicht ersichtlich. Im Übrigen wäre dies auch unbeachtlich, da es nicht für eine „Negativzuweisung“ spräche. 320 BGHSt 34, S. 39 ff. 321 Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25 f. 322 So etwa Bosch, in: Satzger/Widmaier/Schluckebier-StPO, § 86, Rn. 1 sowie Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 33. Kritisch indes Wenskat, Der richterliche Augenschein im deutschen Strafprozess, S. 43.

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„Subsidiaritätsregel“ aufgestellt. Davon abgesehen, dass einer Negativdefinition stets eine gewisse stilistische Schönheit verwehrt bleibt, ist dies in der Sache durchaus nicht verkehrt. Problematisch ist nur, dass jene Auffassung im Schrifttum scheinbar zum Anlass für die hier „vorliegende“ „Negativzuweisung“ genommen wird. Die Subsidiaritätsregel bezüglich des Gegenstandes des Augenscheinsbeweises beruht aber auf (richtigen) materiell-rechtlichen Erwägungen,323 während die obig von Eisenberg324 und Dallmeyer325 proklamierte „Negativzuweisung“ durch die prozessuale Umsetzung des Gerichts bedingt wäre. Unterlässt das Tatgericht die „Durchführung“ einer förmlichen Vernehmung des Angeklagten oder des Zeugen, findet eine solche also „nicht statt“, so wäre der Beweiserhebungsakt, gerichtet auf die Provokation und Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen, nach dieser Auffassung „mit mal“ dem Augenscheinsbeweis zugewiesen. Dies kann nicht überzeugen. Eingedenk der Erwägungen zur gebotenen Harmonie materiell-rechtlicher Zuweisung und formal-prozessualer Realisierung, ist die Entscheidung der Zuweisung eines Beweiserhebungsaktes zu den Instituten förmlicher Beweisaufnahme als solche durch das Gesetz bestimmt. Seitens des jeweiligen Tatgerichts ist „das“ nicht disponibel. In anderen Worten: Es obliegt zwar dem Tatgericht zu entscheiden, welchen Beweiserhebungsakt es durchführt, indes nicht mit welchem Institut des förmlichen Beweisverfahrens dies zu geschehen hat. Obiger Ansatz der „Negativzuweisung“ würde jenes „Kompetenzgefüge“ zwischen Legislativentscheidung und Rechtsanwendung zur Makulatur erklären. Das „bloße Fehlen“ einer förmlichen Vernehmung vermag folglich keine Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises zu begründen. cc) „Hervortretensoffenheit“ und „Interpretationsklarheit“ Neben jener „Erkenntnis“ ist es erneut Eisenberg326, welcher einen interessanten Ansatz aufwirft und insoweit auf die Interpretationsebene des Beobachters abstellen will. Demnach sei die Abgrenzung der Zuweisung zwischen Vernehmung und Augenschein danach vorzunehmen, ob die Wahrnehmung für alle Verfahrensbeteiligten „ohne besondere Konzentration möglich“ ist und ferner eine „Interpretationseinheitlichkeit“ besteht.327 Der Wahrnehmungsakt einer nonverbalen Verhaltensweise sei nur dann dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen, wenn entweder die Wahrnehmung jener nicht für alle Verfahrensbeteiligten gewährleistet 323 So setzt eine Augenscheinseinnahme nach Bosch, in: Satzger/Widmaier/SchluckebierStPO, § 86, Rn. 1, negativ voraus, „dass eine Beweisaufnahme vorliegt, die nicht den genannten spezialgesetzlich geregelten Kategorien [also den anderen Beweisinstituten] zugeordnet werden kann.“ 324 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313a. 325 Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 421 a. E. 326 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313. 327 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313.

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ist oder die Möglichkeit einer unterschiedlichen Interpretation besteht.328 Auch Hanack329 scheint diesem Ansatz zugeneigt, wonach die „Evidenz [der Bedeutung]“ ausgehend vom Betrachter maßgebliches Abgrenzungskriterium sei. Dieser Ansatz ist prima facie insoweit als positiv zu bewerten, als jener den Wahrnehmungs- und Interpretationsdisparitäten bei der „Deutung“ nonverbaler Verhaltensweisen Rechnung trägt. Speziell vor dem Hintergrund der Gewährleistung rechtlichen Gehörs durch die Vorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG ergeben sich beim Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung durchaus Probleme. So droht etwa bei fehlender Wahrnehmung jener Verhaltensweisen durch den Angeklagten eine Rechtsverkürzung.330 Im Schrifttum331 vermochte sich dieser Ansatz nicht durchzusetzen, denn tatsächlich erwächst „daraus“ kein materiell-rechtliches Kriterium für die in Rede stehende Zuweisungsproblematik. Nonverbale Verhaltensweisen gerieren sich in ihrem Auftreten realiter als stetig situative Besonderheit oder soll etwa ein „spontanes Erröten“ der Zeugin stets für alle Verfahrensbeteiligten wahrnehmbar und von jenen einheitlich als Anzeichen von Scham interpretiert werden? Es ist de facto nicht möglich, ex ante ex situatione weder die generelle Hervortretensoffenheit noch die Interpretationseinheitlichkeit zu konstatieren. „Höchstens“ könnte das Tatgericht noch eine Prognoseentscheidung betreffend die Hervortretensoffenheit treffen, für die Interpretationseinheitlichkeit wäre auch das indes unstatthaft, weil es vor dem Hintergrund der vielfältigen Deutungsoptionen als Willkür, denn als Prognose verkäme. Ist die ex ante-Bestimmung (vor dem Beweiserhebungsakt) aber praktisch nicht möglich, so müsste bei folgerichtiger Anwendung dieses Ansatzes eine Zuweisung stets zum Institut des Augenscheinsbeweises erfolgen.332 Hinzukommt, dass dieser Ansatz von Eisenberg333 einem Widerspruch unterliegt. Der Augenscheinsbeweis dient der Feststellung beweiserheblicher Tatsachen im Wege sinnlicher Wahrnehmung.334 Insoweit ist der Gedanke prima facie nicht 328

Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313. Hanack, JR 1989, S. 255 (256). 330 Dies dahingehend, dass der Angeklagte aufgrund der fehlenden Wahrnehmung der Ausübungsmöglichkeit seines Anspruchs auf rechtliches Gehört verlustig zu gehen droht. Vgl. ferner betreffend etwaige „Abhilfemöglichkeiten“ die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. c). 331 Ablehnend insbesondere Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 147 [Fn. 771] und wohl auch Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25 [Fn. 85]. 332 Ein Ergebnis, was auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2312 nicht favorisieren würde, sieht dieser doch nonverbale Verhaltensweisen im Grundsatz als zum Zeugenbeweis beziehungsweise der Angeklagtenvernehmung zugehörig an. Das könnte indes auch dem Umstand geschuldet sein, dass Eisenberg wohl primär von der Konstellation des Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen bei der Zeugen- beziehungsweise Angeklagtenvernehmung ausgegangen ist. 333 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313. 334 Vgl. BGHSt 18, S. 51 (53); Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 204; Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 1, Dallmeyer, in: Der Beweisantrag im 329

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

fernliegend, dass es der förmlichen Erhebung des Augenscheinsbeweises nicht bedürfe, sofern die in Rede stehende nonverbale Verhaltensweise durch das Gericht (oder alle Verfahrensbeteiligten) ohnehin „unmittelbar wahrnehmbar“ ist. Daraus folgt aber kein Kriterium, anhand dessen die Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens entschieden werden könnte, denn was für das Tatgericht in der Hauptverhandlung ohnehin schon „unmittelbar wahrnehmbar“ ist, ist nach allgemeinen Grundsätzen überhaupt nicht beweisbedürftig.335 Nicht nur eine Augenscheinseinnahme, sondern eine förmliche Beweiserhebung als solche wäre obsolet. Hinzu kommt, dass die Merkmale der „Hervortretensoffenheit“ und „Interpretationsklarheit“ sämtlich „anhand solcher Fälle“ entwickelt wurden, in welchen sich nonverbale Reaktionen zufällig in der Hauptverhandlung ereigneten (Experiment-Konstellationen werden insoweit nicht erwähnt). Für jene Fälle wurde obig indes bereits die fehlende Beweisbedürftigkeit konstatiert.336 So ist zu besorgen, dass Zuweisungs- und Beweisbedürftigkeitsfragen sinnwidrig „vermengt“ werden. dd) Von der Fehlinterpretation des Kriteriums „fehlender Aufgesuchtheit“ Die „Geschichte“ wiederholt sich, wenn auch anders: Während für den subjektiven Personalbeweis konstatiert wurde, dass dem Kriterium der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ keine gesonderte Relevanz beizumessen ist, respektive daraus keine Implikationen betreffend die Zuweisungsentscheidung erwachsen,337 verhält sich dies für das Institut des Augenscheinsbeweises prima facie anders. Die Judikatur338 und das überwiegende Schrifttum339 sehen in der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ den entscheidenden Grund, weshalb die Beobachtung nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung nicht im Wege des Augenscheinsbeweises zu geschehen habe. Den Anfang begründete eine bereits erwähnte Entscheidung des Reichsgerichts340, in welcher die Wahrnehmungen von Veränderungen des „Mienenspiels“ und der „Gebärden“ einer Person (auf bestimmte Fragen) als „unwillkürlich entstandene Eindrücke“ firmierten, welche vom Gericht „nicht aufgesucht“ worden seien. Seitens des Bundesgerichtshofs341 wurde diese Terminologie „beStrafprozess, Rn. 392; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2220; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 875; Trück, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 86, Rn. 4; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 21, Rn. 33. 335 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. 336 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). 337 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb). 338 RGSt 39, S. 303 (305); BGHSt 5, S. 354 (356). 339 Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 14; Dallmeyer, in: Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 420; Hanack, JR 1989, S. 255 (256); Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25. Kritisch dazu Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2313. 340 RGSt 39, S. 303 ff. 341 BGHSt 5, S. 354 (356). Diese Entscheidung erging indes zu einem völlig anderen Thema, so hatte sich der Senat mit der Problematik eines blinden Richters zu befassen, während

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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stätigt“ und auf nonverbale Verhaltensweisen wie „Erbleichen“ oder „Erröten“ erweitert, und zwar unter dem Hinweis, dass jene „gelegentlich für die Entscheidung über die Wahrheit oder Unwahrheit von Tatsachen von Bedeutung sein könnten“.342 Damit war der Grundstein gelegt. In der Folge stellt Hanack343 fest, dass der Augenscheinsbeweis als „aufgesuchtes Beweismittel“ stets eine spezielle Beobachtung mit dem Ziel erfordere, spezifische Fehlerquellen auszuschalten. Bei der Beobachtung von „Erbleichen“, „Erröten“, „Mienenspiel“ oder „anderen Gebärden“ sei sodann auch nach Krause344 von sogenannten „nicht aufgesuchten Wahrnehmungen“ auszugehen, und mithin eine Augenscheinseinnahme unstatthaft. Auch Dallmeyer345 sieht in der „fehlenden Aufgesuchtheit“ den entscheidenden Anknüpfungspunkt, weshalb die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen im Grundsatze nicht einer Augenscheinseinnahme zugewiesen werden könne. „Ungünstigerweise“ wird durch diesen Ansatz der verfehlte Eindruck erweckt, es handele sich bei dem Kriterium der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ um ein solches zur Abgrenzung zwischen subjektivem Personal- und Sachbeweis.346 Das wäre aus genannten Gründen indes schlicht falsch.347 Diese Unklarheit vermeidend konstatiert Bosch348, dass die Beobachtung des „Mienenspiels und bestimmter Körperreaktionen“ wegen fehlender Aufgesuchtheit nicht Gegenstand des Augenscheinsbeweises sei und verweist zugleich auf die richtige Konsequenz, dass diese Wahrnehmungen lediglich „ohne Weiteres“ – also ohne gesonderte förmliche Beweiserhebung – dem Urteil zu Grunde gelegt werden dürften.349 Richtig ist indes, dass sämtliche Institute des förmlichen Beweisverfahrens eine Gemeinsamkeit aufweisen: Dass die „verwendeten“ Beweismittel dem Tatgericht in das „Sonderproblem“ der Augenscheinseinnahme durch einen blinden Richter nicht gegenständlich war. 342 Vgl. zu jener, in dieser Pauschalität „übereilten“, Einschätzung die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 343 Hanack, JR 1989, S. 255 (256). 344 Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25. Anzumerken ist, dass Krause diese Aussage nur für den Fall trifft, dass sich diese nonverbalen Verhaltensweisen – bei – einer förmlichen Vernehmung des Zeugen oder Angeklagten zeigen. 345 Dallmeyer, in: Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 420. 346 Vgl. Hanack, JR 1989, S. 255 (256); Krause, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 86, Rn. 25. Insoweit auch missverständlich Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 146, welcher zwar dem Kriterium der „Aufgesuchtheit“ nicht folgt, dieses aber missverständlich wiedergibt, sodass der Eindruck jener fehlerhaften Abgrenzungsannahme entsteht. 347 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb). 348 Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 14. Missverständlich erscheint indes, weshalb Bosch an dieser Stelle auf die Entscheidung des BGH, MDR 1974, S. 365 (368) verweist. Hierdurch wird nämlich „wieder“ der Eindruck erweckt, die „(fehlende) Aufgesuchtheit“ diene als Abgrenzungskriterium. 349 „Das trifft es auf den Punkt“: Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 86, Rn. 14 bestätigt obiges Verständnis, wonach das Kriterium der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ die Beweisbedürftigkeit betrifft und gerade nicht der Zuweisung dient.

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

der Absicht „vorgeführt werden“, einen Beweis zu erbringen350 und insoweit sind jene auch aufgesucht. Beim Institut des Augenscheinsbeweises ist das Beweismittel der Gegenstand, welcher – vermöge der „ihm“ innewohnenden Eigenschaften – über eine Tatsache Beweis erbringen soll.351 Demnach ist es also das Augenscheinsobjekt, welches aufgesucht sein muss, also etwa der „errötende“ oder „erbleichende“ Mensch. Aber das Augenscheinsobjekt muss eben a priori (also vor dem Beweiserhebungsakt) bestimmt sein, ansonsten ist es strukturell unmöglich, den Entschluss zu fassen, an diesem Objekt förmlich Wahrnehmungen zu treffen. Insoweit liefert das Kriterium der „(fehlenden) Aufgesuchtheit“ durchaus wesentliche Implikationen: Ist das Augenscheinsobjekt – bei welchem sich die nonverbale Reaktion ereignet – unaufgesucht, so vermag dieses technisch nicht mehr in Augenschein genommen zu werden; aber eben monokausal vermöge des dogmatischen Ausschlusses einer förmlichen Beweiserhebung (und „das“ völlig unabhängig von der in Rede stehenden Zuweisungsfrage). ee) Rückgriff auf die konzeptionelle Idee des Zugriffsgegenstandes Im Ergebnis wird man sich „wiederholt“352 der Lehre vom Zugriffsgegenstand zu bedienen haben, die Abgrenzung zwischen subjektivem Personal- und Sachbeweis, respektive die Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises final – und praxistauglich – zu entscheiden. Die Auslegung des Instituts des Augenscheinsbeweises vermochte auch hier die ratio legis dessen „zu enttarnen“: So ist Primärzweck der Augenscheinseinnahme, die originäre Zustandsbeurteilung eines „Objektes“ durch das Tatgericht, im Wege sinnlicher Wahrnehmung, jenem unmittelbar anhaftende Tatsachen festzustellen.353 Beseelt von der Idee, obig entwickelte „Zugriffsgegenstandserwägung“ auch für das Institut des Augenscheinsbeweises „fruchtbar zu machen“, bedarf es einer Präzisierung dessen, „worauf“ beim Augenscheinsbeweis zugegriffen werden soll. Es muss quasi das Korrelat zum „Wissen“ beim subjektiven Personalbeweis gefunden werden. Dies ist beim Sachbeweis, respektive beim Institut des Augenscheinsbeweises, ein „Zustand“, so ist es nämlich „komprimiert formuliert“ der Zustand eines „Gegenstandes“ (oder eines Menschen), derer das Strafverfolgungsorgan, namentlich das Tatgericht in der Hauptverhandlung, bei der Augenscheinseinnahme habhaft werden will. Anders formuliert: Geriert sich ein Beweiserhebungsakt (nicht als Wissens-) als Zustandszugriff, so ist jener materiell-rechtlich dem Institut des Augenscheinsbeweise zugewiesen. In der Dichotomie von subjektivem Personal- und Sachbeweis ist das zuweisungskonstituierende Begriffspaar also: Wissenszugriff „versus“ Zustandszugriff. 350 351 352 353

Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). Vgl. RGSt 39, S. 303 (304) sowie statt vieler Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 136. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) und Zweites Kapitel B. II. 2. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. a).

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

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ff) Die Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen als Zustandszugriff Ein Beweiserhebungsakt in Gestalt einer Experiment-Konstellation, gerichtet auf die Provokation und Wahrnehmung einer nonverbalen Reaktion (beim Angeklagten, Zeugen oder einem Dritten in der Hauptverhandlung), ist also dann dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen, „sobald“ sich mit jenem ein Zustandszugriff realisiert. Das ist etwa der Fall, wenn das Tatgericht den Angeklagten in der Hauptverhandlung fragt, ob dieser das (Verkehrs-)Unfallgeschehen auf einem im Gerichtssaal vorhandenen „Whiteboard“ skizzieren könne, „obgleich“ das Gericht tatsächlich nur einen Blick auf die vermutete „Linkshänder-Eigenschaft“ des Angeklagten „zu erhaschen“ gedenkt. Hier ist der tatgerichtliche Beweiserhebungsakt gerade auf die originäre Wahrnehmung einer Personeneigenschaft, namentlich also eines Zustandes gerichtet. In diese Kategorie fällt ferner etwa auch ein von Miebach354 entlehnter Fall, „wonach“ das Tatgericht in der Hauptverhandlung ein „Grinsen“ des Angeklagten provozierte, um auf diesem Wege einen Vergleich mit dem als Lichtbild vorhandenen „Grinsen“ des Täters des (Raub-)Überfalls ziehen zu können. Der Beweiserhebungsakt des Tatgerichts war „auch hier“ ex ante ex situatione ersichtlich auf die „Habhaftwerdung“ einer mimischen Reaktion als Eigenschaft der Person (Zustand) gerichtet und verfolgte nicht etwa das Ziel, in dem „erhofften“ „Grinsen“ eine erfreute Reaktion im Sinne einer nachträglichen Billigung der Tatfolgen (Wissenszugriff) zu erblicken.355, 356 Für zufällig auftretende nonverbale Reaktionen – wie häufig357 etwa ein „spontanes Erröten“ – fehlt es an einer solchen ex ante-Bestimmbarkeit. Das ist aber „erneut“358 unschädlich, da es vermöge ihrer „fehlenden Aufgesuchtheit“ schon keiner Erhebung in Gestalt des förmlichen Beweisverfahrens und mithin auch keiner Zuweisung zu dessen Instituten bedarf. Für Experiment-Konstellationen ist eine solche ex ante-Bestimmbarkeit, wie obig gezeigt, gegeben und diese sind im Falle des Zustandszugriffs materiell-rechtlich dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen.

354 Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 16. 8. 2012 – 3 StR 322/12 [unveröffentlicht]. 355 Darin könnte sodann womöglich ein Indiz für eine Tatbeteiligung erblickt werden, wobei das natürlich eine Frage des Einzelfalles ist. 356 Ergänzend wäre es auch als Zustandszugriff einzustufen, wenn das Gericht etwa eine „gesteigerte gestische Unruhe“ gezielt wahrzunehmen sucht, um Anhaltspunkten für einen pathologischen Zustand („Restless-Legs-Syndrom“) habhaft zu werden. 357 Theoretisch ist auch denkbar, dass ein derartiges „Erröten“ bei einem Angeklagten oder Zeugen gezielt im Wege einer Experiment-Konstellation provoziert und sodann wahrgenommen wird. 358 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) (1).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

gg) Konsequenzen dieser Zuweisungsentscheidung „Wiederum“ entsprechend jenen Gebotes der Harmonie zwischen materiellrechtlicher Zuweisung und prozessualer Realisierung, hat das Tatgericht den Beweiserhebungsakt einer Experiment-Konstellation – im Falle eines Zustandszugriffs – sodann in Gestalt des Instituts des Augenscheinsbeweises zu vollziehen. Das Tatgericht hat also prozessual eine Augenscheinseinnahme durchzuführen, in welche die Experiment-Konstellation – also „Provokations-“ und „Wahrnehmungsakt“ (etwa das „Grinsen“ des Angeklagten „zur Vergleichsbetrachtung“) – quasi „eingebettet“ sein muss. Und „wiederum“ gilt: Ein Beweiserhebungsakt in Gestalt eines anderen Instituts des förmlichen Beweisverfahrens ist dem Tatgericht verwehrt.359 2. Institut des Urkundenbeweises Wenngleich aus Gründen einer systematischen Vollständigkeit auch das Institut des Urkundenbeweises erwähnt sei, so verbleibt es bei der Feststellung, dass hier keine für den Forschungsgegenstand relevanten Aspekte zu erblicken sind.

IV. Zusammenfassung Sowie nonverbale Verhaltensweisen – wie etwa ein „spontanes Erröten“ oder ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – der Dichotomie von subjektivem Personal- und Sachbeweis „zugeführt“ werden sollten, war die Frage nach der Aussagequalität jener als klärungsbedürftige (Vor-)Frage „angekündigt“ worden.360 Nun verhält es sich so, dass eine nonverbale Verhaltensweise nur als Aussage im Rechtssinne qualifiziert werden kann, wenn mit jener eine Übermittlung von Gedankeninhalten (Wissen) geschieht.361 Wird im Wege einer Experiment-Konstellation eine nonverbale Reaktion beim Angeklagten, Zeugen oder bei einem Dritten in der Hauptverhandlung – final zur tatgerichtlichen Wahrnehmung – provoziert, so hat jener Beweiserhebungsakt, schon eingedenk obiger Erwägungen,362 in Gestalt eines Instituts des förmlichen Beweisverfahrens stattzufinden. In Gestalt welchen Instituts dies zu geschehen hat, ist be-

359 Spezifisch für das Institut des Augenscheinsbeweises sei indessen darauf hingewiesen, dass eine Ersetzung des Beweiserhebungsaktes durch ein anderes Beweisinstitut im Grundsatze möglich ist. Vgl. OLG Hamm, VRS 34 (1968), S. 61. Das betrifft indes eine andere Frage, namentlich jene der Beweissurrogation, welche nicht Gegenstand dieser Abhandlung ist. 360 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. 361 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) (2) und Zweites Kapitel B. II. 2. 362 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2.

B. Subjektiver Personal- und Sachbeweis

105

dingt durch den jeweiligen Zugriffsgegenstand („Lehre vom Zugriffsgegenstand“).363 Ist der tatgerichtliche Beweiserhebungsakt ex ante ex situatione (bei „gewisser“ Antizipation des Beweisergebnisses)364 auf einen Wissenszugriff gerichtet, so ist jener materiell-rechtlich dem Institut des Zeugenbeweises oder jenem der Angeklagtenvernehmung zugewiesen365 – also Gegenstand des subjektiven Personalbeweises – und die Experiment-Konstellation ist seitens des Tatgerichts in Gestalt einer förmlichen Vernehmung „durchzuführen“.366 So verhält es sich, wenn beim Angeklagten etwa eine „Wiedererkennens-Reaktion“ des vermeintlichen (Raub-)Opfers in Gestalt eines (erhofften) „überraschten Gesichtsausdrucks“ provoziert werden soll („umgekehrte Rekognition“);367 hier soll ein „Wiedererkennen“ und damit (Tat-) Wissen wahrgenommen werden. Ist der Beweiserhebungsakt indes (nur) auf einen Zustandszugriff gerichtet, so ist jener materiell-rechtlich dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen368 – also Gegenstand des Sachbeweises – und die Experiment-Konstellation ist „wiederum“ in Gestalt einer förmlichen Augenscheinseinnahme „durchzuführen“.369 Diese Konstellation liegt vor, wenn etwa der Zeuge gebeten wird, eine „Skizze“ vom vermeintlichen Tatgeschehen an einem „Whiteboard“ anzufertigen, tatsächlich das Gericht aber nur die „Linkshänder-Eigenschaft“ überprüft wissen will; hier wird nicht auf Wissen, denn eine dem menschlichen Körper bloß anhaftende Eigenschaft zugegriffen. Nur in den wenigsten Fällen wird ein Beweiserhebungsakt, gerichtet auf Provokation und Wahrnehmung nonverbaler Reaktionen, der Zuziehung eines Sachverständigen bedürften und insoweit eine „Zuweisung“ zum Institut des Sachver363

Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ee). Mit der „Lehre vom Zugriffsgegenstand“ konnte sodann eine über den Forschungsgegenstand nonverbaler Verhaltensweisen hinausgehende taugliche Methode zur Zuweisung von Beweiserhebungsakten zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens etabliert werden. 364 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) (1), Fn. 246. 365 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) (2) und Zweites Kapitel B. II. 2. Das bestimmt sich denknotwendig danach, ob nonverbale Reaktionen beim Angeklagten oder bei einem Dritten provoziert und wahrgenommen werden sollen. 366 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) gg). Dies folgt aus dem „Gebot der Harmonie“ zwischen materiell-rechtlich (legislativ) zugewiesenem und prozessual (seitens des Tatgerichts) zu realisierendem Beweisinstitut. Vgl. zu diesem „Gebot der Harmonie“ die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 2. 367 Vgl. hierzu insbesondere den „kuriosen“ Beispielsfall unter Zweites Kapitel A. IV. 2. Ob derartige „Experimente“ strafprozessual beziehungsweise verfassungsrechtlich zulässig sind, ist sodann Gegenstand des Dritten Kapitels. 368 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ff). Unabhängig vom Forschungsgegenstand dieser Abhandlung wäre etwa die Betrachtung einer „am Körper befindlichen Narbe“ beim Zeugen dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen, da sich der Beweiserhebungsakt eben auch hier als Zustandszugriff gerierte. Dies könnte etwa für die Beurteilung der Schwere einer Entstellung im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 Var. 1 StGB von Bedeutung sein. 369 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) gg).

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2. Kap.: Formale Anforderungen an die Beweiserhebung

ständigenbeweises statthaft sein. Betreffend „allgemeinübliche“ nonverbale Reaktionen – wie etwa einem „überraschten Gesichtsausdruck“ – wird das jeweilige Tatgericht regelmäßig selbst zur Wahrnehmung und Deutung jener befähigt sein.370 Bei „Mikroexpressionen“ und der Bewertung sonstiger nonverbaler Reaktionen als „Täuschungsindikatoren“ könnte dies zwar partiell anders beurteilt werden, nur ist jenen ein derart geringer Beweiswert für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung immanent, dass schon aus diesem Grunde die Bestellung eines Sachverständigen für jene Konstellationen obsolet bleibt.371 „Nur“ soweit nonverbale Reaktionen Anhaltspunkte für pathologische Zustände (etwa eine „Depression“) bieten – und diese sodann für die Entscheidung bedeutsam sein könnten –, erscheint die „Zuziehung“ eines Sachverständigen geboten.372

370 371 372

Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 3. b) bb) (1). Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 3. b) bb) (2). Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 3. b) bb) (3).

Drittes Kapitel

Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken Im Zuge seines „Ersten-Lügendetektor-Judikats“ im Jahre 1954 hatte sich der Bundesgerichtshof 1 – in Abgrenzung zum Unzulässigkeitspostulat der Polygraphenanwendung – zu folgender, lakonisch anmutenden, Formulierung hinreißen lassen: „Das Gericht darf hiernach bewußte und unbewußte Ausdrucksvorgänge beim Angeklagten [und Zeugen]2, die in der Hauptverhandlung in üblicher Weise hervortreten, bei der Beweiswürdigung mit Vorsicht, Zurückhaltung und Menschenkenntnis berücksichtigen.“3

Mit jenen „bewußten und unbewußten Ausdrucksvorgängen“, die in „üblicher Weise“ hervortreten, ist – terminologisch – auf den Forschungsgegenstand verwiesen: Nämlich auf jene nonverbalen Verhaltensweisen, die bereits vermöge der menschlichen Sinnesorgane wahrnehmbar sind und nicht erst mittels „technischer Hilfe“ wahrnehmbar werden. Wie der Bundesgerichtshof die grundsätzliche4 Verwertbarkeit jener nur en passant konstatiert hat, so ist diese Thematik auch im Schrifttum5 nur höchst beiläufig – stets im Schatten des Polygraphen – diskutiert worden, was weder Präzision noch einen finalen Meinungsstand hervorzubringen vermochte.6 Unbeschadet eines zufälligen Auftretens oder einer Experiment-Konstellation begründet die „Erhebung“ und Verwertung nonverbaler Entäußerungen im Gerichtssaal einen – vielleicht erzwungenen, jedenfalls heimlichen – Informationseingriff, der eine Selbstbelastung virulent werden lässt. Eingedenk dieser Topoi sind es – neben weiteren (Neben-)Aspekten7 – primär § 136a StPO, der nemo tenetur1

BGHSt 5, S. 332 ff. Seitens des Verfassers vorwegnehmend eingefügt, da ein „Gleichlauf“ indiziert scheint. 3 BGHSt 5, S. 332 (335). 4 In BGHSt 5, S. 332 (335) ist dies aber eben nur grundsätzlich und nicht etwa in expressis verbis auch für die Konstellation des (berechtigt) schweigenden Angeklagten (oder Zeugen) konstatiert worden. Ein Umstand, der im Schrifttum häufig übersehen worden ist. 5 So etwa bei Frister, ZStW 106 (1994), S. 312 (322) und Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (669). Eingehend indes Schneider, NStZ 2017, S. 126 (130 f.) und Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 198 ff. 6 Zu Unrecht von einem herrschenden Meinungsstand, bezogen auf eine generelle Verwertbarkeit (auch beim schweigenden Angeklagten) ausgehend indes Günther, GA 1978, S. 193 (196). 7 So wird kursorisch auch auf den Gedanken der Justizförmigkeit des Verfahrens einzugehen sein und ferner auch zu untersuchen sein, ob nicht bereits formale Erhebungsschranken 2

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Grundsatz, §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie der Fair trial-Grundsatz derer sich der Prüfungsmaßstab erschöpft.

A. Die Justizförmigkeit des Verfahrens als Schranke für „ungewöhnliche“ Beweiserhebungen? Die interpersonale Informationsübermittlung – genannt: „Kommunikation“ – erschöpft sich selbstredend auch in der Hauptverhandlung dem Schwerpunkte nach in solcher verbaler Natur.8 Daraus erwächst indes noch kein argumentum e contrario, dass die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen oder solcher, die in Experiment-Konstellationen final „provoziert“ wurden, irgendwelchen Schranken unterläge. Im Gegenteil: Sofern jenen nonverbalen Verhaltensweisen – etwa für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung oder als relevantes Nachtatverhalten9 – im Einzelfall eine Bedeutung für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch zuzumessen ist, gebieten die Vorschriften der §§ 244 Abs. 2, 261 StPO prima facie vielmehr deren „Erhebung“ und Verwertung.

I. Ausgangspunkt: §§ 244 Abs. 2, 261 StPO Betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen – wie etwa dem spontanen „abfälligen Lachen des Angeklagten“ oder dem „Erröten des Zeugen“ – entspricht dies, also deren grundsätzliche Verwertbarkeit, auch dem herrschenden Verständnis in Judikatur10 und Schrifttum11. Insoweit ist anerkannt, dass Verwertbetreffend Experiment-Konstellationen existieren, wie sie bereits angedeutet wurden. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 2. 8 Wie dies auch außerhalb des Gerichtssaals der Fall ist. 9 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. II. und Drittes Kapitel F. III. 3., Fn. 647. 10 BGHSt 5, S. 332 (335); BGHSt 44, S. 308 (316 f.) und e contrario BGH, StV 1993, S. 458. 11 Im Grundsatz von einer Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen bei Angeklagten und Zeugen ausgehend: Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196); Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 40; Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (669); Prittwitz, MDR 1982, S. 886 (893); Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 175; Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253); Seibert, NJW 1965, S. 1706 [Fn. 4]; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 68; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199. Wohl auch Schluckebier, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27. Und ferner auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98; Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Schmitt, in:

A. Justizförmigkeit des Verfahrens

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barkeitsschranken nur in bestimmten, hier noch konkretisierungsbedürftigen, Einzelfällen eingreifen würden.12 Bei Experiment-Konstellationen ist das Meinungsbild betreffend deren Zulässigkeit weniger eindeutig. Jene Fallgruppe wird in Judikatur und Schrifttum13 nahezu überhaupt nicht – und wenn, eben nur en passant zum Polygraphen – diskutiert, sodass exemplarisch erneut auf den bei Haas14 genannten Beispielsfall der „umgekehrten Rekognition“ verwiesen sei. Partiell wird seitens des Schrifttums indes die Durchführung derartiger „Experimente“ bereits a priori für unzulässig erklärt, so verweist etwa Walder15 betreffend einen ähnlich gelagerten Beispielsfall16 darauf, dass psychologische Experimente, die der Provokation von Ausdrucksbewegungen dienten, von der deutschen Strafprozessordnung nicht vorgesehen und folglich unzulässig seien.17 Das geriert sich letztlich als ein Einwand fehlender Justizförmigkeit.

Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16. Ablehnend indes Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I Grundgesetz, S. 55 ff., 59. Nahezu sämtliche Autoren thematisieren dies nur für nonverbale Verhaltensweisen beim Angeklagten. Für Zeugen gilt dies indes ebenso. 12 Ein anderer Ausgangspunkt – als deren grundsätzliche Verwertbarkeit – würde in der Tat höchst seltsam anmuten. So verweist etwa Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 255 zu Recht darauf, dass nonverbale Verhaltensweisen schlicht notwendiger Bestandteil menschlicher Kommunikation seien und auch die metaphysischen Ausführungen betreffend das Verhältnis verbaler zu nonverbaler Kommunikation an obiger Stelle bestätigen dies. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. Warum sollte nun gerade im Gerichtssaal versucht werden, „künstlich“ eine gesonderte Interaktionssituation (unter Ausblendung nonverbaler Elemente) herbeizuführen. Vgl. zu jenen Einzelfällen – namentlich dem (berechtigten) Schweigen des Angeklagten (oder Zeugen) die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b). sowie Drittes Kapitel E. II. 13 Auf derartige Experiment-Konstellationen Bezug nehmend etwa Haas, GA 1997, S. 368 sowie Rogall, in: SK-StPO, Vor § 72, Rn. 148. 14 Haas, GA 1997, S. 368. 15 Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 223. 16 Von Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 222 wird auf folgendes Beispiel verwiesen: „Ein nicht-geständiger Beschuldigter steht im dringenden Verdacht, einen größeren Geldbetrag gestohlen und irgendwo in einer Stadt versteckt zu haben. Die betreffende Stadt sei in Bezirke oder Kreise eingeteilt, die der Beschuldigte kenne. Der Vernehmende könnte nun, um das Versteck aufzudecken, unter genauem Beobachten fragen: ,Liegt das Versteck im Stadtkreis 1? Liegt es im Stadtkreis 2? Im Kreis 3?‘ usw., wobei er [oder ein sachverständiger Dritter] mit dem unwahrscheinlichsten Stadtkreis beginnen würde. Einige Beschuldigte würden nun, wenn man sich der kritischen Frage näherte, verschiedene Ausdrucksbewegungen zeigen, etwa ein langsames, immer stärkeres Verkrampfen der Finger bis zum Vorhalt, der ,einschlägt‘, nach diesem Vorhalt aber eine Lösung des Verkrampftseins.“ 17 So verweist Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 223 namentlich darauf, dass ein derartiges Vorgehen ein „Experimentieren“ und kein „Vernehmen“ sei. Damit ist dogmatisch die Frage angesprochen, ob das Institut der Angeklagtenvernehmung eine taugliche Rechtsgrundlage für „bestimmte Experimente“ begründet. Dies wird noch zu diskutieren sein. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (1).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

II. „Ungewöhnliches“ als notwendigerweise „Justiz(un)förmiges“? Richtigerweise ist der Begriff der „Justizförmigkeit“ lediglich als übergeordneter Topos für die allgemeine Ordnungsgemäßheit des Verfahrens, also der Einhaltung sämtlicher Verfahrensvorschriften zu verstehen,18 jener erfasst als Konvolut schlicht sämtliche subjektiv-öffentlichen Rechte sowie objektiv-rechtlichen Prinzipien betreffend das Strafverfahren. Wenn in der Hauptverhandlung nonverbale Reaktionen bei Angeklagten oder Zeugen final „provoziert“ werden, sind jene Experiment-Konstellationen sicher von einer gewissen Kuriosität beseelt und man wird Walder19 insoweit zustimmen müssen, dass die Strafprozessordnung in expressis verbis keine positiv-rechtliche Gestattung derer normiert. Das ist aber auch schlicht nicht erforderlich, so begründet die fehlende gesetzliche Ausgestaltung einer spezifischen gerichtlichen Beweiserhebung nicht deren Unzulässigkeit. Indessen liegt der Strafprozessordnung ein Verständnis zugrunde, wonach dem erkennenden Gericht grundsätzlich eine Freiheit in der Wahl der Beweiserhebungen zukommt, solange die Beweiserhebung – auch in Gestalt einer Experiment-Konstellation (mag sie noch so „ungewöhnlich“ sein) – einem der Institute des förmlichen Beweisverfahrens zugewiesen werden kann20 und damit kein Verstoß gegen spezifische Vorschriften oder ungeschriebene Prinzipien des Strafprozess- oder Verfassungsrechts bewirkt ist.

III. Zusammenfassung Eine Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranke betreffend nonverbale Verhaltensweisen – respektive ein Verbot „kurioser“ Experiment-Konstellationen – vermag folglich nicht mit dem metaphysischen Postulat einer „Kuriosität“ oder einer 18 Diesem Verständnis folgend Bruns, MDR 1989, S. 177 (179 f.); Magnus, JA 2017, S. 326 (330); Kröpil, JuS 2005, S. 509 (510); Liemersdorf, MDR 1989, S. 204 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 2, § 55, Rn. 36; Strate, JZ 1989, S. 176 ff.; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 3, Rn. 5. Vgl. ferner Eschelbach, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, Vor § 226, Rn. 4. Dass die Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten unter Einhaltung sämtlicher Verfahrensvorschriften zu geschehen hat, folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip in seiner formellen Ausprägung. Auch wenn die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO das Gebot materieller Wahrheitsermittlung postuliert, sind der Wahrheitsermittlung im heutigen (reformierten) Strafprozess – anders als noch zu Zeiten des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens – strenge Grenzen gesetzt. So ist der wahre Sachverhalt gerade nicht um jeden Preis zu ermitteln. Vgl. Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 33. Ziel des Strafverfahrens ist eben die materiell-richtige, justizförmige und Rechtsfrieden bewirkende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten. Vgl. Kröpil, JuS 2005, S. 509 (510) sowie Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3. 19 Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 223. 20 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 1. So wurde etwa aufgezeigt, dass eine Zuweisung von Experiment-Konstellationen betreffend die Provokation nonverbaler Verhaltensweisen durchaus möglich ist.

B. § 136a StPO

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„fehlenden Justizförmigkeit“ begründet zu werden. Vielmehr bedürfte es, schon vermöge der Wertungen des § 244 Abs. 2 StPO, eines Verstoßes gegen spezifische Vorschriften oder ungeschriebene Prinzipien des Strafprozess- oder Verfassungsrechts, was im Folgenden untersucht sei.

B. Die Schranke des § 136a StPO Prima facie sei die Zulässigkeit der Erhebung sowie Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen daher anhand des § 136a StPO beurteilt. Die Vorschrift wurde im Jahre 1950 durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz in die Strafprozessordnung eingeführt21 und sollte fortan wesentlichen Verfassungsprinzipien im Strafprozess Geltung verschaffen. Ungeachtet der Verweise auf einen bloß deklaratorischen Charakter der Vorschrift im Schrifttum,22 handelt es sich um eine legislative Entscheidung, welche vor dem Hintergrund der Unrechtserfahrungen während des Dritten Reichs nur zu verständlich (und notwendig) erscheint – und letztlich jenes Abkehr-Postulat des Grundgesetzes einfachgesetzlich positiviert.23 Daneben waren es neue „technische“ Möglichkeiten im Besonderen in den Vereinigten Staaten, wie etwa die Narkoanalyse, welche aufgrund erheblicher ethischer Bedenken den Katalog des § 136a Abs. 1 S. 1 StPO beeinflusst haben.24 Die Vorschrift des § 136a StPO ist damit zunächst eine Vorschrift der Würde. Als solche ist § 136a StPO primär als „Ausformung“25 der (individuellen) Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG zu verstehen,26 und sekundär als Besicherung der (überindividuellen) Staatswürde, dergestalt, dass ansehensschädliche

21

Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. 09. 1950, BGBl. I, S. 455, 629. Vgl. etwa Bader, JZ 1951, S. 123. Dies ist richtig, so war schon ab der Reichsstrafprozessordnung von 1877 einhellige Auffassung, dass jene in § 136a StPO genannten Methoden unzulässig seien, wobei die Zeit des Dritten Reichs eine Zäsur bildete. Vgl. zu dem Ganzen Degener, GA 1992, S. 443 (453 ff.). 23 So eindeutig auch die Ausführungen des Abgeordneten Greve zu § 136a StPO: „Wenn wir uns entschlossen haben, die Bestimmung des § 136a in die Strafprozeßordnung aufzunehmen, dann einmal deswegen, weil wir es aus allgemein menschlichen Gründen für notwendig hielten, etwas Derartiges gesetzlich zu fixieren, zum anderen aber auch, weil wir aus der hinter uns liegenden Erfahrung keine andere Möglichkeit sahen, um Wiederholungen zu vermeiden.“ Vgl. Plenarprotokoll 01/79 vom 26. 07. 1950, S. 2833 (2882). 24 Vgl. erneut Plenarprotokoll 01/79 vom 26. 07. 1950, S. 2833 (2882) und ferner Otto, GA 1970, S. 289 (294). 25 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 3. 26 So jedenfalls das herrschende Verständnis in Judikatur und Schrifttum: BVerfG, NStZ 1984, S. 82; BGHSt 5, S. 332 (333); Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 1; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 625; Krack, NStZ 2002, S. 120 (124); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 17; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 1; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 3. 22

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Vernehmungsmethoden für unzulässig erklärt werden.27 Dass jener Hintergrund Konsequenzen für das Verständnis der Vorschrift zeitigt, ist nur logisch.28 Daneben sind es auch das nemo tenetur-Prinzip, der Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, respektive das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welche durch § 136a StPO eine (lediglich) partielle Besicherung – in Gestalt eines Rechtsreflexes – erfahren haben.29

I. Beschränkung auf Beweiserhebungen zur Erlangung von „Aussagen“ oder „Aussagesurrogaten“ Richtigerweise kann die Verwertbarkeitsschranke des § 136a StPO nur eingreifen, wenn die Vorschrift, betreffend die Art und Weise wie sich nonverbale Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ereignen, entsprechend ihrer systematischen Stellung überhaupt Anwendung findet. Die Vorschrift schützt die Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit30 von Angeklagten und Zeugen (und Sachverständigen) vor Einwirkungen im Wege der von § 136a Abs. 1 S. 1 StPO katalogisierten Mittel.31 Ausweislich des Wortlautes – „Aussagen“ in § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO – sowie der systematischen Verortung im Zehnten Abschnitt gilt dieser Schutz nur für und im Rahmen von Vernehmungen,32 wobei auch hier – in einheitlicher Rechtsauslegung – von einem förmlichen Ver27 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 4 sowie ferner Joerden, JuS 1993, S. 927, welcher auf die bezweckte Gewährleistung einer integren, rechtsstaatlichen Strafrechtspflege verweist. Vgl. auch Merten, in: Festschrift für Isensee, S. 123 (130 f.). 28 Daraus folgt indes gerade nicht die Notwendigkeit eines generell extensiven Verständnisses des § 136a StPO, vielmehr gebietet sich eine Rückbesinnung auf die wesentlichen legislativen Ideen. 29 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 3, welcher § 136a StPO (neben dem Würdeaspekt) ferner als „Kernvorschrift zum Schutz der Aussagefreiheit“ und mithin als „Ergänzung“ zu § 136 StPO verstanden sehen will. 30 Vgl. Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 1. 31 In den von § 136a StPO geschützten Personenkreis fallen der Beschuldigte (§ 136a StPO), Zeugen (§ 69 Abs. 3 StPO) sowie Sachverständige (§§ 72, 69 Abs. 3 StPO). Normadressat sind der Richter (§ 136a StPO) die Staatsanwaltschaft (§ 163a Abs. 3 Satz 2 StPO) sowie die Polizei (§ 163a Abs. 4 Satz 2 StPO). 32 Vgl. BGHSt 34, S. 362 (363); 34, S. 365 (369); H. Schumann, JZ 1986, S. 66 (67); Kramer, Jura 1988, S. 520 (521 f.); Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 22; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 4. Ob die Vorschrift darüber hinaus auch in vernehmungsähnlichen Situationen (analoge) Anwendung findet – wie dies etwa von Kühl, StV 1986, S. 187 (188) und Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 81 gefordert wird – ist für die vorliegende Bearbeitung nicht relevant. So dürften in Rede stehende ExperimentKonstellationen (wenn jene auf Wissen zugreifen) ohnehin nur im Rahmen förmlicher (Angeklagten- oder Zeugen-)Vernehmung stattfinden. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) gg) und Zweites Kapitel B. II. 2.

B. § 136a StPO

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nehmungsverständnis auszugehen ist.33 Diese Prämisse – „Vernehmung“ – ist indes nur erfüllt, wenn das, was durch hypothetische Verwendung der nach § 136a StPO unzulässigen Mittel erlangt wird, auch Aussagequalität aufweist. In anderen Worten: Die Vorschrift des § 136a StPO untersagt den Einsatz der katalogisierten Mittel nur zur Erreichung von Aussagen, nicht aber von Sachbeweisen.34 Diese Unterscheidung ist erheblich, denn so vermag § 136a StPO nur dann die Unverwertbarkeit zu begründen, wenn die jeweilige Beweiserhebung dem Institut der Angeklagtenvernehmung beziehungsweise jenem der Zeugenvernehmung zuzuweisen ist. Für die Beobachtung in der Hauptverhandlung auftretender nonverbaler Verhaltensweisen von Angeklagten oder Zeugen ist eine derartige Zuweisung nur einschlägig, wenn sich mit der Beobachtung zugleich ein Wissenszugriff realisiert, wie etwa bei genannten „Lügensymptomen“.35

II. Zur Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen vor dem Hintergrund des § 136a StPO Betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ist bereits fraglich, ob die Verwertung jener den Anwendungsbereich der Vorschrift des § 136a StPO berührt. So bedarf es nach (richtiger) herrschender Auffassung36 eines bewussten Einsatzes der in § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO katalogisierten Methoden seitens eines Strafverfolgungsorgans zur Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit. Soweit innerhalb des Schrifttums37 Versuche zu erblicken sind, etwa auch fahrlässiges Vorgehen einzubeziehen, ist dies nicht überzeugend. „Erneut“ lassen Systematik – Aufzählung unzulässiger Maßnahmen in § 136a Abs. 1 S. 1 StPO – sowie historische Genese erkennen, dass nicht das „Ob“ der Beeinträchtigung 33 Vgl. BGHSt 40, S. 211 (213); 52, S. 15 f.; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 4. Anders Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 659. 34 Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a StPO, Rn. 59 a. E., welcher exemplarisch auf den Brechmitteleinsatz gegen den Willen des Beschuldigten verweist und richtigerweise zugleich konstatiert, dass (zumindest) § 136a StPO hierauf keine Anwendung finden kann. Das begründet keine e contrario-Zulässigkeit jener Mittel zur Sachbeweiserlangung, die Unzulässigkeit kann sich indes aus anderen Vorschriften beziehungsweise ungeschriebenen Prinzipien des Strafprozess- beziehungsweise Verfassungsrechts ergeben. 35 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) und Zweites Kapitel B. II. 2. 36 Für die Notwendigkeit eines bewussten Einsatzes [sämtlich primär bezogen auf das Merkmal der „Täuschung“] BGHSt 31, S. 395 (400); 35, S. 328 (329); 37, S. 48 (53); Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 19; Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 58, 59 f.; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 13. Vgl. ferner auch Kramer, Jura 1988, S. 520 (522). 37 So etwa Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 664a für das Merkmal (fahrlässiger) „Täuschungen“. Sowie ferner Gleß, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 50; Puppe, GA 1978, S. 289 (295); Ransiek, StV 1994, S. 343 (345 f.); Schuhr, in: Münchener-KommentarStPO, § 136a, Rn. 23 und schließlich auch OLG Bremen, NJW 1967, S. 2022 (2023).

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der Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit, sondern gerade die Art und Weise, also das „Wie“ jener Beeinträchtigung im Vordergrund steht; es soll ein besonders verwerfliches Vorgehen verhindert werden, sodass Anknüpfung der Verbotsregelung vielmehr der „Handlungsunwert“ des jeweiligen Vorgehens sein muss.38 Treten nonverbale Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung indes nur zufällig auf, sind jene also nicht etwa im Rahmen von Experiment-Konstellationen final provoziert worden, so fehlt es namentlich am „bewussten Einsatz“ einer nach § 136a StPO verbotenen Methode. Eingedenk des Umstandes, dass die menschliche Kommunikation generell aus verbalen wie auch nonverbalen Elementen besteht39 und phänomenologisch jeder Fragestellung (auch in der Vernehmungssituation) partiell eine Provokation nonverbaler Verhaltensweisen immanent ist, wird man richtigerweise nur solche „Provokationsakte“ erfasst sehen können, welche über diesen Regelfall hinausgehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiserhebung – ihrem Schwerpunkte (der Vorwerfbarkeit) nach – der Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen dient; was einschlägig ist, wenn mit dem Vorgehen ersichtlich keine verbalen Information – „klassische“ Antworten – vom Angeklagten oder Zeugen erwartet werden. Exemplarisch wird dies beim „Vorlegen von Lichtbildern“ (um des „Erhaschens“ der mimischen Reaktion willen) oder im Falle der „umgekehrten Rekognition“ anzunehmen sein. Die Diskussion um die Verwertbarkeit beobachteter nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ist mithin vor der Vorschrift des § 136a StPO nur insoweit „lohnend“, als jene in ExperimentKonstellationen final provoziert werden.

III. Von sogenannten Experiment-Konstellationen als verbotene Maßnahmen nach § 136a Abs. 1 StPO Steht nun ein Verbot von Experiment-Konstellationen zur Provokation nonverbaler Verhaltensweisen bei Angeklagten oder Zeugen in Rede, so gilt es prima facie ein jenes Vorgehen in der Hauptverhandlung am Katalog des § 136a Abs. 1 StPO zu messen.

38 Dies trifft in Besonderem Maße für das Merkmal der „Täuschung“ zu, denn hier wird (bei Missachtung) ersichtlich nicht die Würde des Einzelnen verletzt, sondern die Staatswürde. Die Staatswürde gerät aber unabhängig des Erfolgs der Beeinträchtigung der Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit in Verruf, der Justiz „unwürdig“ ist vielmehr schon das bloße Vorgehen. Anders ausdrücklich Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 664a, welcher insoweit auf den „Erfolgsunwert“ abstellen will. 39 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II.

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1. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „körperlicher Eingriff“ nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO Nach herrschender Auffassung40 begründet eine Maßnahme einen „körperlichen Eingriff“ nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO, wenn jene die körperliche Unversehrtheit oder das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt. Eine zu nonverbalen Verhaltensweisen bei der Auskunftsperson führende Provokationshandlung ist indes – innerhalb denkbarer Konstellationen – niemals von Invasivität geprägt, vermag mithin keinen körperlichen Eingriff zu begründen. So hat der Bundesgerichtshof richtigerweise nicht einmal betreffend die Frage der Zulässigkeit eines Polygraphen einen körperlichen Eingriff nach § 136a Abs. 1 StPO auch nur diskutiert;41 was gegenüber der „Lügendetektion“ basierend auf der reinen Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen jedenfalls ein maius begründete. 2. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „Täuschung“ nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO Konstitutiv für das „Gelingen“ jener Experiment-Konstellationen ist die Heimlichkeit im Vorgehen; weiß die „Versuchsperson“, dass nonverbale Verhaltensweisen bei ihr provoziert werden sollen, so ist freilich die Brauchbarkeit dahin.42 Denkbar erscheint mithin eine Subsumtion genannter Provokationshandlungen unter das Merkmal der „Täuschung“ in § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO, in welchem als unbestimmter Rechtsbegriff das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und effektiver (listreicher) Strafverfolgung zum Ausdruck kommt, was erwartungsgemäß zur Herausbildung einer umfassenden Kasuistik in Judikatur und Schrifttum geführt hat.43 Ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch wäre prima facie ein sehr weitgehendes – jede fehlerhafte Wahrnehmung inkludierendes44 – Begriffsverständnis indiziert, welches auch durch Heranziehung des fachsprachlichen Gebrauchs nur wenig Einschränkungen erführe.45 Tatsächlich zeichnen Systematik und historische Genese ein anderes – weit restriktiveres – Bild: Bei normativer Vergleichsbetrach40 Erbs, NJW 1951, S. 386 (387); Eschelbach, Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 28; Gleß, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 28; Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 48; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 9; Schuhr, in: MünchenerKommentar-StPO, § 136a, Rn. 30. Nach Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 14 genügt jede „Veränderung der körperlichen Konstitution“. 41 BGHSt 44, S. 308 ff. Dies ebenso richtigerweise bemerkend Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 116 f. 42 So würde der Betroffene wohl häufig versuchen, seine nonverbalen Entäußerungen zu kontrollieren. Auch wenn dies nicht gelänge, so wären doch die Ergebnisse verfälscht. 43 Vgl. statt vieler die Ausführungen von Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 56 ff. 44 So bereits Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 59. 45 Vgl. etwa das sehr extensive Täuschungsverständnis bei § 263 StGB.

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tung mit den anderen in § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO katalogisierten Methoden ergäbe sich ein Missverhältnis. Während jenen schon abstrakt – also ungeachtet ihres konkreten „Einsatzes“ – ein verwerfliches Eingriffsniveau immanent ist, vermag im Falle der Täuschung nur dann ein vergleichbares Eingriffsniveau erreicht zu werden, wenn diese eine gewisse Schwere erreicht.46 Zieht man nun den Zeitgeist der Entstehung heran – Abkehrentscheidung, ethische Bedenken – so streitet dies in der Gesamtheit für ein restriktives Täuschungsverständnis.47 a) Grundlegung Entsprechend der herrschenden Auffassung bedarf es für die Annahme einer „Täuschung“ nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO der (bewussten)48 Entstellung der Wahrheit im Sinne einer Irreführung.49 Diese Irreführung kann im Wege ausdrücklicher Erklärungen, aber auch durch schlüssiges Verhalten oder pflichtwidriges Unterlassen begangen werden,50 wobei als Gegenstand einer Täuschung sowohl Tatsachen als auch Rechtsfragen in Betracht kommen.51 Übertragen auf in Rede stehende Experiment-Konstellationen präfiguriert sich Folgendes: Schreitet ein Strafverfolgungsorgan – etwa der Richter in der Hauptverhandlung – zur Provokation nonverbaler Verhaltensweisen – etwa im Beispielsfalle der „umgekehrten Rekognition“ –, so könnte sich dies bei näherer Betrachtung als konkludente Täuschung über Tatsachen erweisen. Sowohl bei objektiver Betrachtung52 als auch aus Sicht des Betroffenen53 unterliegt dieser einem situativen Irrtum. Jener hat (notwendigerweise) – und in der Qualität eines 46

Vgl. BGHSt 42, S. 139 (149). So in überwiegender Auffassung BGHSt 42, S. 139 (149); Erbs, NJW 1951, S. 386 (388); Otto, GA 1970, S. 289 (294); Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 59; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 24; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 12. Kritisch demgegenüber etwa Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 655, 664 ff., welcher sich gerade gegen die „Bewusstheit“ zu wenden scheint. Ferner Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 35. 48 Vgl. BGHSt 31, S. 395 (400); 35, S. 328 (329); 37, S. 48 (53); Diemer, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 136a, Rn. 19; Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 58, 59 f.; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 13. 49 BGHSt 31, S. 395 (400); 35, S. 328 (329); 37, S. 48 (53); Diemer, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 136a, Rn. 19; Gleß, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 41. Nach Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 59 ist die „Täuschung“ als vorsätzliche „Irreleitung eines Anderen“ zu verstehen. 50 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 662 ff.; Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 60. 51 Vgl. Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 19; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 656, 658; Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 34; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 38. 52 Nach Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 63 sei für die Frage des Vorliegens einer Täuschung eine objektive (wohl ex post) Betrachtung angezeigt. 53 Nach BGHSt 35, S. 328 (330) sei hier auf den Empfängerhorizot – ex ante ex situatione – abzustellen. Vgl. ferner Achenbach, StV 1989, S. 515 (516). 47

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sachgedanklichen Mitbewusstseins – keine Kenntnis über die Provokationsintention; er irrt schlicht über die „(Nicht-)Existenz“ der Experiment-Konstellation.54 Nun ist es zwar richtig, dass der taugliche Täuschungsgegenstand neben Tatsachen auch innere Willensrichtungen – etwa die (wahren) Absichten des jeweiligen Strafverfolgungsorgans – inkludiert55 und sich die vorliegende Konstellation damit als konkludente Täuschung über innere Tatsachen darstellen könnte. Dies kann aber nicht bedeuten, dass jeder Irrtum des Betroffenen über jene Absichten gleichsam generell die Unzulässigkeit der jeweiligen Ermittlungsmaßnahme nach § 136a StPO nach sich zöge. b) Abgrenzung: Täuschung und kriminalistische List Die (wohl noch56) herrschende Auffassung57 versucht – beseelt von erwähntem, restriktivem Verständnis – eine Abgrenzung zwischen verbotener Täuschung und erlaubter kriminalistischer List vorzunehmen. So sei gerade nicht schon jedes „listige“ Vorgehen, sondern lediglich die bewusste Irreführung in Gestalt einer Lüge, also einer wahrheitswidrigen Behauptung, erfasst.58 In solcher Abstraktheit ist jene Differenzierung unpräzise und wenig hilfreich. So scheint eine Einordnung in die bereits erwähnte Kasuistik lohnend. Erste Anhaltspunkte liefert eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs59 aus dem Jahre 1990, dort wurde dem Beschuldigten (ausdrücklich) mitgeteilt, dass in einer „Vermisstensache“ ermittelt werde, obwohl die Polizei – bereits der Leiche fündig – ein Tötungsdelikt annahm. Der Bundesgerichtshof sah den Verstoß gegen das Täuschungsverbot darin, dass der Angeklagte „bewusst über den Sinn der Vernehmung in die Irre geführt“ wurde.60 Jener Sinn bestand scheinbar in der Aufklärung einer Vermisstensache, 54 So geht etwa der Vernommene gerade davon aus, dass seitens des Vernehmenden Fragen an ihn gerichtet werden und der Vernehmende in seinem Vorgehen auf verbale Antworten abziele; nicht aber lediglich nonverbale Reaktionen zu „erhaschen“ gedenkt. Dass ein bloßes „Nichtwissen“ für sich genommen nicht ausreichen kann, eine Täuschung nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO zu begründen, sei an späterer Stelle noch näher erläutert. 55 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 62. Im Ergebnis auch BGHSt 37, S. 48 (52 f.). 56 Im Schrifttum mehren sich Gegenstimmen, die jene Abgrenzung ablehnen. So etwa Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 34; Gleß, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 39; Puppe, GA 1978, S. 289 (298); Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 209; ders., in: SK-StPO, § 136a, Rn. 56 ff.; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 40. Kritisch wohl auch Bloy, JR 1990, S. 165 (166 f.) sowie Dencker, StV 1994, S. 667 (676). 57 BGHSt 35, S. 328 (329 f.); 37, S. 48 (52); Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 20; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 24; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 15; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 9, Rn. 15; Wollweber, NStZ 1998, S. 311. 58 BGHSt 35, S. 328 (329 f.). 59 BGHSt 37, S. 48 ff. 60 BGHSt 37, S. 48 (53).

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tatsächlich in der Aufklärung eines Tötungsdeliktes. In Provokationsfällen besteht der Sinn vermeintlich im Erhalt verbaler Antworten des Vernommenen, tatsächlich in der Beobachtung provozierter nonverbaler Verhaltensweisen – scheinbar eine Parallele. Instruktiv formulierte der Bundesgerichtshof indes, dass der Angeklagte „nicht nur [zulässigerweise] über einzelne Tatsachen im Unklaren gelassen“ worden sei, womit jener auf ein „erlaubtes Verschweigen von Tatsachen“ Bezug nimmt.61 Es scheint dem Bundesgerichtshof weniger auf den Umstand der Irreführung, sondern vielmehr auf den Weg jener anzukommen. Die ausdrückliche Lüge ist das Problem, nicht das (bewusste) Verschweigen oder schlüssige Handeln.62 Demnach wäre die „bloß“ heimliche Wissensabschöpfung – wie sie bei in Rede stehenden Provokationsfällen eben stattfindet – mangels ausdrücklicher Lüge nicht als Täuschung qualifizierbar. In diese Lesart lässt sich prima facie auch die Hörfallen-Entscheidung des Großen Senats63 einordnen, welcher die Veranlassung einer Privatperson zu einem das Ermittlungsinteresse nicht aufdeckenden Gespräch mit dem Verdächtigen nicht als Täuschung im Sinne des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO qualifizierte. Die Vernehmung als einen offenen Vorgang anerkennend, konstatierte der Große Senat, dass daraus kein generelles Verbot sonstiger Befragungen des Beschuldigten „ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht“ folge.64 Wenngleich hier die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 136a StPO – mangels Vernehmungssituation – höchst fraglich erschien, ergibt sich dennoch Folgendes: Sei der Polizei eine dergestalt erfolgende – listige – Wissensabschöpfung außerhalb der förmlichen Vernehmung erlaubt, so scheint dies einerseits für heimliche Wissensabschöpfungen innerhalb förmlicher richterlicher Vernehmungen im Rahmen der Hauptverhandlung per argumentum a maiore ad minus gelten zu müssen;65 zumal die Ermittlungsabsicht in vorliegend untersuchten Provokationsfällen abstrakt offengelegt ist, nur wird verschwiegen, dass lediglich nonverbale Aussagen provoziert werden sollen. Tatsächlich wird nur die „Wissensabschöpfungsabsicht“ betreffend nonverbale Verhaltensweisen verschwiegen, nicht aber die generell jeder Vernehmung innewohnende „Wissensabschöpfungsabsicht“. Bei normativer Gesamtbetrachtung begründet dies einen erheblichen Unterschied, so weiß der förmlich Vernommene positiv, dass jemand versucht, seines Wissens habhaft zu werden. Andererseits besteht die ratio legis des § 136a StPO gerade darin, innerhalb der Vernehmung vor Beeinträchtigungen zu schützen, was obigen Erst-Recht-Schluss eher entkräftete. 61

BGHSt 37, S. 48 (53). In diese Richtung auch Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 21. Dagegen verlangt Gleß, in: Löwe/Rosenberg, § 136a, Rn. 43, dass die Strafverfolgungsbehörden mit ihrer Darstellung des Sachverhalts dem Beschuldigten die Möglichkeit einzuräumen hätten, die Ermittlungshypothese zu hinterfragen. 63 BGHSt 42, S. 139 ff. 64 BGHSt 42, S. 139 (150). Und das auch völlig zu Recht. 65 Und Experiment-Konstellationen müssen als „aufgesuchte“ Beweiserhebungen stets im Wege förmlicher Beweiserhebung erfolgen. Ist ein Wissenszugriff intendiert, so hat jener – entsprechend der Lehre vom Zugriffsgegenstand – eben in Gestalt des Beweisinstituts der Angeklagten- oder Zeugenvernehmung stattzufinden. 62

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Der einer heimlichen Wissensabschöpfung denknotwendig anhaftende Umstand des Verschweigens der wahren Absicht scheint wiederum jener zu sein, in welchem klassischerweise die „kriminalistische List“ erblickt wird. Dies stünde zumindest im Einklang mit der Systematik der Strafprozessordnung. So wäre es vor dem Hintergrund der Existenz der Vorschriften betreffend die Wohnraum- oder Telekommunikationsüberwachung (§§ 100a ff. StPO) nur schwer begründbar, heimliche Wissensabschöpfung stets mit Täuschungsqualität konnotiert zu sehen66 – dort realisiert sich ebenso eine Wissensabschöpfung ohne den Willen des Betroffenen. Weit deutlicher wird dies bei vergleichender Betrachtung des Einsatzes verdeckter Ermittler (§ 110a Abs. 2 StPO): Jene schreiten im Wege legendierten Tätigwerdens regelmäßig zur (heimlichen) Wissensabschöpfung bei Beschuldigten oder Zeugen; und zwar dergestalt, dass bewusst (konkludent) auf das Vorstellungsbild der Betroffenen eingewirkt wird. Das gesetzlich ausdrücklich Vorgesehene kann indes – wie Rogall67 richtig konstatiert – nicht zugleich dem Verdikt der verbotenen Täuschung anheimfallen. So hat auch der Bundesgerichtshof68 in tradierter Judikatur das Verschweigen des amtlichen Auftrags des verdeckt Ermittelnden niemals als Täuschung qualifiziert.69 Wenn es auch der Provokation nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung an einer positiv-rechtlichen Gestattung in expressis verbis fehlt, so stellt sich die hier stattfindende heimliche Wissensabschöpfung lediglich als Ausnutzung eines bestehenden Irrtums dar; nämlich, dass der Betroffene die Möglichkeit der gezielten Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen nicht in Betracht zieht. Tatsächlich vertraut der Betroffene damit zwar auf eine in Wirklichkeit nicht bestehende (innere) Tatsachenlage – dass eine derartige Provokation/Beobachtung nicht intendiert sei – jenes Vertrauen ist aber nicht schutzwürdig! Der Strafprozessordnung lässt sich schlicht kein Vertrauenstatbestand genereller Irrtumsfreiheit entnehmen,70 wonach etwa ein Angeklagter oder Zeuge Anspruch auf Kenntnis der „wahren“ Ermittlungsabsichten hätte.71 Dies ist schlicht die notwendige Konsequenz genannter 66

Vgl. BGHSt 33, S. 217 (223); BGHSt 39, S. 335 (346 f.). Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 68. Vgl. ferner Pawlik, GA 1998, S. 378 (384). Kritisch betreffend die Konstellation, dass der verdeckte Ermittler mit „gesteigerter Intensität“ Selbstbelastungen des Betroffenen „entlockt“ Meyer-Mews, NJW 2007, S. 3142 f. 68 So in einheitlicher Judikatur BGHSt 33, S. 217 (223); 39, S. 335 (346 f., 349); 44, S. 129 (133); 52, S. 11 (16) und wohl auch BGHSt 42, S. 139 (149, 151). 69 Und das auch vor Inkrafttreten des § 110a StPO durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. Juli 1992, BGBl. I, S. 1302. Vgl. insoweit BGH, GA 1975, S. 333 (334); BGH, GA 1981, S. 89 f. und ferner BVerfG, NJW 1992, S. 168. 70 Dies gilt nur insoweit, als die Strafprozessordnung – etwa im Wege von Belehrungsvorschriften – die Beseitigung eines potenziellen Irrtums verlangt. 71 So hielt es BGHSt 39, S. 335 (349) nicht einmal für schutzwürdig, dass ein Betroffener auf die „Mithöreinrichtungs-Freiheit“ des Telefongeräts seines Gesprächspartners vertraute. Die Vorschrift des § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO ist insoweit eine „Ausnahmevorschrift“, dass dem Beschuldigten kein Irrtum über die ihm zur Last gelegte Tat verbleiben darf. 67

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systematischer Anhaltspunkte und ferner würde ein solcher Anspruch realisieren, was die Verfechter jener Täuschung-List-Abgrenzung befürchten: eine Lähmung der Strafrechtspflege.72 Damit stellt sich die heimliche Wissensabschöpfung als zulässiges Verschweigen innerer Tatsachen dar; welchem nach einhelliger Auffassung des Bundesgerichtshofs73 keine Täuschungsqualität inne wohnt. Anders verhielte es sich im Falle des Hinzutretens weiterer rechtlich missbilligter Mittel in Gestalt des Vorspiegelns falscher innerer Tatsachen74 – etwa (plakativ), dass dem Angeklagten ausdrücklich erklärt würde, sein nonverbales Verhalten „interessiere hier überhaupt nicht“. Ohne sein Heil generell in jener Abgrenzung suchen zu wollen,75 ist die heimliche Wissensabschöpfung im Wege der Provokation nonverbaler Verhaltensweisen – bei Angeklagten wie auch Zeugen – wohl als kriminalistische List, denn als Täuschung zu qualifizieren.76 c) Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit Jedenfalls müsste vermöge der Durchführung in Rede stehender ExperimentKonstellationen eine Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit stattfinden; deren Schutz innerhalb von Vernehmungssituationen ist nämlich gerade ratio legis des § 136a StPO.

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Wenngleich Letzteres lediglich ein rechtspraktisches Argument ist. BGHSt 39, S. 335 (348); 40, S. 66 (70 ff.). 74 Vgl. BGHSt 39, S. 335 (347). Die Entscheidung BGHSt 40, S. 66 (70 ff.) ist insoweit interessant, als es um die Täuschungsqualität folgenden Vorgehens ging: Während der polizeilichen Befragung des Beschuldigten verschaffte die Polizei dem mutmaßlichen Tatopfer gezielt zum Zwecke des etwaigen Wiedererkennens der Stimme des Täters die Möglichkeit des Zuhörens. Einmal davon abgesehen, dass das erstrebte Ziel im Erhalt einer Stimmprobe – also eines Sachbeweises – besteht und die Vorschrift des § 136a Abs. 1 StPO schon deshalb keine Anwendung finden kann, ist die Begründung bedeutsam. So sei allein in dem Umstand, dass der Beschuldigte nicht über die intendierte Möglichkeit des Mithörens zur Stimmerkennung informiert wurde (also wohl sachgedanklich irrte), noch keine Täuschung zu sehen. Anders sei dies, würde jenem (ausdrücklich oder konkludent) die Vertrautheit des Gesprächs vorgespiegelt. Vgl. zu einer anderen „Interpretation“ jener Entscheidung Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 20. Konsequenterweise kann dann auch in der heimlichen Aufzeichnung der Stimme – wie es BGHSt 34, S. 39 zugrunde lag – keine Täuschung erblickt werden. Erstens ist § 136a StPO – solange es um die Stimme selbst (Sachbeweis) und nicht deren Inhalt geht – nicht anwendbar und zweitens fehlt es – bei bloß heimlichem Vorgehen – an der Täuschungsqualität. Anders Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 676. 75 Denn die noch folgende Kritik erscheint durchaus fundiert. 76 Ein Ergebnis, welches man – eingedenk der ratio legis des § 136a StPO – aber auch guten Gewissens ablehnen könnte. 73

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aa) Kausale Beeinträchtigung durch Provokationsverhalten Schon ausweislich des Wortsinnes vermag ein Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden nur dann dem Verdikt des § 136a Abs. 1 StPO anheimzufallen, wenn jenes zu einer Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit des Betroffenen führt;77 die Entschließungs- und Betätigungsfreiheit dürfe gerade keine Beeinträchtigung im Wege der katalogisierten Maßnahmen erfahren. Die Willensentschließungsfreiheit ist beeinträchtigt, wenn der Betroffene nicht mehr frei, also unbeeinflusst, über das „Ob“ und „Wie“ seiner Aussage disponieren kann; die Willensbetätigungsfreiheit, wenn der Betroffene betreffend die Ausführung jener Entschlüsse keine Verhaltensfreiheit mehr genießt.78 Diese Beeinträchtigung müsste zudem durch das als Täuschung qualifizierte Verhalten „ausgelöst“ worden sein.79 So geht die Vorschrift des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO ersichtlich von einem Kausalnexus zwischen katalogisiertem verbotenem Vorgehen und der Beeinträchtigung aus. Das mit dem Vorgehen bewirkte Handlungsunrecht zieht die Rechtsfolge des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO nur nach sich, wenn eine Verknüpfung mit genannter Beeinträchtigung besteht. Nun ist für die bewusste Provokation nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung Folgendes festzustellen: Realisiert sich etwa der Beispielsfall „umgekehrter Rekognition“ oder werden dem Angeklagten, zur Beobachtung seiner nonverbalen Reaktionen, Lichtbilder oder Videoaufzeichnungen „vorgelegt“, so wird – wie auch in den überwiegenden Fällen – eine kausale Beeinträchtigung schon der Willensentschließungsfreiheit gegeben sein. Wie schon im Rahmen des Ersten Kapitels erläutert,80 ereignet sich ein erheblicher Anteil nonverbaler Verhaltensweisen unbewusst oder die Entäußerung ist bereits per se der physischen Steuerbarkeit entzogen. Werden derartige Verhaltensweisen in Experiment-Konstellationen final „provoziert“, so ist der Provokationsakt phänomenologisch auch kausal für die jeweiligen nonverbalen Entäußerungen; die Entäußerung ist gerade der willensabhängigen Kontrolle des Betroffenen entzogen. Dann ist jener aber logischerweise nicht unbeeinflusst betreffend das „Ob“ und erst recht nicht betreffend das „Wie“ seiner (nonverbalen) Aussage.81 77 Wofür – außerhalb von Minimaleinflüssen – indes eine Vermutung besteht. Vgl. hierzu Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 19. 78 Vgl. Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 8; Gleß, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 18; Hillenkamp, JZ 2015, S. 391 (400); Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 36; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 5. Vgl. ferner Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 16. 79 Ob in Rede stehende Experiment-Konstellationen Täuschungsqualität aufweisen, wurde – bisher – bewusst offengelassen. 80 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 81 Wenn man anerkennt, dass auch unbewusste und physisch nicht steuerbare nonverbale Entäußerungen – im Falle des Wissenszugriffs – Aussagequalität aufweisen, so ist die Annahme der Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit logische Konsequenz, sofern jene Entäußerungen vermöge einer Experiment-Konstellation final „provoziert“ werden.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Dabei ist es ferner unbeachtlich, ob jene nonverbalen Verhaltensweisen offen hervortreten oder nur im Wege „technischer“ oder menschlich-fachkundiger82 Möglichkeiten einer Wahrnehmung zugänglich sind. Wenn der Bundesgerichtshof83 im Rahmen der Ersten-Lügendetektor-Entscheidung die bei Verwendung eines Polygraphen gemessenen Körpervorgänge (etwa Blutdruck, Atmungslänge) als „willensunabhängige, unbewußte, mit den Fragen wechselnde Körpervorgänge“ qualifizierte und darin eine Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit sah,84 ist dies richtig; denn wie auch bei vorliegend in Rede stehenden Provokationsakten erfolgt die überwiegende Zahl der „Entäußerungen“ des Betroffenen nicht bewusst. Soweit nun aber der Bundesgerichtshof85 – wie auch Teile des Schrifttums86 – die Zulässigkeit der Verwertung vor dem Hintergrund des § 136a Abs. 1 StPO anhand des Merkmals des „offen Hervortretens“ beurteilen will, ist dem zu widersprechen. Die Frage, ob „Etwas“ „offen hervortritt“ – womit der Bundesgerichtshof ersichtlich auf Wahrnehmbarkeit ohne technische Hilfe Bezug nimmt – hat keinerlei Auswirkungen darauf, ob erstens in dem jeweiligen Vorgehen seitens der Strafverfolgungsorgane eine Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit zu erblicken ist oder zweitens, jene Beeinträchtigung zulässig ist. Führt die Provokationhandlung zum Hervortreten unbewusster oder per se schon physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen, so begründet dies – unabhängig etwaiger (technischer oder menschlicher) Wahrnehmungsschwierigkeiten – eine Beeinträchtigung der Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit. An einer (kausalen) Beeinträchtigung fehlt es lediglich, sofern es sich um bewusste nonverbale Verhaltensweisen handelt, die – quasi – losgelöst von jenen Provokationshandlungen auftreten;87 hier verbleiben Willensentschließung- und -betätigungsfreiheit vollständig zur Disposition des Betroffenen. bb) Die Schwere der Beeinträchtigung als normatives Abgrenzungskriterium In strikter Abkehr von der obig erwähnten Abgrenzung zwischen verbotener Täuschung und erlaubter kriminalistischer List, finden sich im „neueren“ Schrifttum88 Stimmen, wonach die Schwere der Beeinträchtigung der Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit maßgeblich sei. Anerkennend, dass richtigerweise 82

Namentlich käme eine Betrachtung des Vernommenen durch einen Sachverständigen auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie in Betracht. 83 BGHSt 5, S. 332 ff. 84 BGHSt 5, S. 332 (335). 85 BGHSt 5, S. 332 (335 f.). 86 So etwa Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 33. 87 Etwa ein bewusstes „(bejahendes) Kopfnicken“. 88 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 64, 56 f. Ferner auch Gleß, in: Löwe-Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 18, 39 sowie Puppe, GA 1978, S. 289 f. Kritisch indes Beulke, StV 1990, S. 180 (182) und ebenso Rieß, JA 1980, S. 293 (296).

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jedes Handeln seitens der Strafverfolgungsorgane – so etwa schon die Durchführung der Hauptverhandlung selbst – irgendwie geartete Auswirkungen auf die Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit haben89 und folglich kein absoluter Schutz von § 136a StPO intendiert sein könne,90 sei ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO anzunehmen, sofern bei normativer Betrachtung neben dem Täuschungsverhalten (was dann auch „bloße“ List erfasste) eine erhebliche Beeinträchtigung gegeben ist.91 Die Erheblichkeit bemesse sich – etwa nach Rogall92 – danach, ob die Entscheidung des (durchschnittlich) Betroffenen von einer nachhaltigen Reduktion des Verhaltensspielraums beeinträchtigt ist. Wenngleich zu bedenken gilt, dass jener quantitative Ansatz ebenso kein Mehr an Präzision zu gewähren vermag93 – denn es gilt noch immer zu bestimmen, wann eine solche Reduktion gegeben ist – so scheint doch (erneut) eine Einordnung vorliegender Provokationskonstellationen in die Fallkasuistik hilfreich. Es bedürfte zumindest eines Richtwertes, „wann“ eine Überschreitung jener Erheblichkeitsschwelle gegeben ist. So verweist Rogall94 insoweit – als „noch“ zulässig – auf jenen im Schrifttum diskutierten „MetzgereiFall“95, in welchem ein Polizist nach dem Einbruch in eine Metzgerei den von ihm Verdächtigten in dessen Haus aufsuchte und zwar in Begleitung des Hundes des Metzgers; der Verdächtige dachte – wie intendiert – es handele sich um einen PolizeiSpürhund, welcher sein Haus als Haus des Einbrechers „erschnüffelt habe“ und gestand daraufhin. Der Grund für die Zulässigkeit jenes zweifellos konkludenten Täuschungsmanövers sei in dem Umstand zu erblicken, dass ein Schweigen oder Leugnen des Betroffenen „hier nicht per se sinnlos gewesen wäre“ und es daher an der Erheblichkeit der Beeinträchtigung fehle.96 Sähe man nun hierin die Grenze des noch Zulässigen, so wäre mit der Provokation nonverbaler Verhaltensweisen der Rubikon jedenfalls überschritten, denn „ein Schweigen oder Leugnen“ (oder besser: 89 So ist doch offensichtlich, dass die öffentliche Hauptverhandlung für Zeugen und erst recht für Angeklagte eine außergewöhnliche Situation darstellt, welche Emotionen – etwa Furcht – auszulösen geeignet ist. Jene Emotionen werden sich auch und gerade in den nonverbalen Verhaltensweisen der Betroffenen widerspiegeln. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 90 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 5. 91 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 64. In diese Richtung wohl auch Gleß, in: Löwe-Rosenberg-StPO, § 136a, Rn. 18, 39, welcher darauf verweist, dass sich gerade auch die „feineren Methoden der Täuschung […] im Einzelfall [womit letztlich die bloße ,List‘ gemeint ist] besonders nachhaltig auf die Willensfreiheit auswirken können“. 92 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 65 und 36. 93 Letztlich wird die kritisierte Abgrenzung zwischen Täuschung und List nur auf eine nachgelagerte Ebene verlagert. „Jetzt“ sei nicht mehr qualitativ zwischen erlaubter und verbotener Handlung, sondern quantitativ zwischen erlaubtem und verbotenem „Erfolg“ unterschieden. 94 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 66. 95 Vgl. hierzu Puppe, GA 1978, S. 289 (290 f.). 96 Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 66.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

ein bewusstes Verhalten) ist hier nicht bloß sinnlos, sondern – betreffend unbewusste oder physisch nicht steuerbare Verhaltensweisen – schlicht unmöglich, der Verhaltensspielraum ist quasi – vermöge der Naturgesetzlichkeiten – auf Null reduziert. Mit Parallelen aufweisender argumentatio wird seitens des Schrifttums97 auf die „Zellengenossen-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs98 verwiesen und die „dort“ von der Polizei veranlasste Aushorchung durch einen instruierten Mitgefangenen als unzulässige Täuschung eingestuft. Aufgrund der Haftsituation sei es dem Betroffenen nicht möglich, sich der Einwirkung durch den Mitgefangenen zu entziehen; mithin sei dessen Verhaltensspielraum – der Aushorchung (nicht) zu widerstehen – signifikant geschmälert, sodass folglich eine erhebliche Beeinträchtigung anzunehmen sei.99 „Interessant“ ist betreffend die Verweisung auf jene Entscheidung, dass seitens des Bundesgerichtshofs mit keinem Worte eine Täuschung erwähnt wird;100 jener sieht in dem polizeilichen Vorgehen zwar einen (nicht weiter präzisierten) Verstoß gegen §§ 136a, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO, spricht ferner aber von einer „Zwangswirkung auf den Gefangenen, die vom Strafverfahrensrecht nicht mehr gedeckt und deshalb [wohl nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO] unzulässig [sei]“.101 Wenn jene Entscheidung nun Einzug in die „Täuschungskasuistik“ erhält, ist dies insoweit vertretbar, als die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Einstufung als Zwang (und nicht als Täuschung) durchaus Fragen aufwirft. Nicht vertretbar ist indes, dass die Frage des Vorliegens einer Täuschung nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO durch das Vorliegen von Zwang bedingt sein sollte; dies scheint im Schrifttum aber zu geschehen: „Reduktion des Verhaltensspielraums“. In diese Richtung lesen sich auch die Ausführungen von Puppe102, wonach eine erhebliche Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit (und damit eine Täuschung) vom Vorliegen einer psychischen Zwangslage abhängig sei. Wollte man nun tatsächlich jene Zwangswirkung (etwa durch die Untersuchungshaft – wie es der Bundesgerichtshof103 ausführt – oder anders) zum entscheidenden Kriterium erheben, so könnte in der Provokation nonverbaler Verhaltensweisen prima facie freilich eine Täuschung gesehen werden; denn werden in der Hauptverhandlung unbewusste oder physisch nicht steuerbare nonverbale Verhal-

97 So etwa Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 27; Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 67 sowie Verrel, in: Festschrift für Puppe, S. 1629 (1641). 98 BGHSt 34, S. 362. 99 So etwa Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 67. 100 BGHSt 34, S. 362 ff. 101 BGHSt 34, S. 362 (364). 102 Puppe, GA 1978, S. 289 (305), welche insoweit vom Erfordernis „starker, die Entschließung unmittelbar beherrschender Affekte“ spricht. 103 BGHSt 34, S. 363 f.

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tensweisen provoziert, so kann sich der Betroffene – ob Angeklagter oder Zeuge – dem de facto nicht entziehen, sodass eine Zwangslage bestünde.104 d) Unvermeidbarer Zugriff als „Täuschungsaliud“ Aber gerade der Umstand, dass sich jene in Experiment-Konstellationen provozierten nonverbalen Verhaltensweisen „in ihrem Löwenanteil“ unbewusst oder physisch nicht steuerbar entäußern, soll sich vorliegend zum Problem gerieren, respektive die Annahme einer „Täuschung“ negieren. Am Anfang steht der Gedanke, dass die in § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO katalogisierten verbotenen Methoden in zwei Gruppen kategorisierbar sind: Während in den Varianten „Misshandlung“, „Ermüdung“, „körperlicher Eingriff“ sowie „Quälerei“ die Beeinträchtigung der Willensentschließungs- oder -betätigungsfreiheit ihrer Struktur folgend stets einen Selbstschädigungscharakter aufweist, kommt den Varianten der „Verabreichung von Mitteln“ sowie der „Hypnose“ ein Fremdschädigungscharakter zu. Geschieht etwa eine „Misshandlung“, so obliegt es technisch dem Betroffenen, diese zu erdulden und sich nicht „aussageartig“ zu entschließen oder zu betätigen; die Entscheidung verbleibt bei jenem. Geschieht hingegen die „Verabreichung von Mitteln“ – womit der Gesetzgeber ersichtlich auf die Narkoanalyse abzielte105 – so verbleibt keine Entscheidung, sich „aussageartig“ zu entschließen oder zu betätigen; dem Betroffenen wird die Wahl – Erduldung oder Aussage – abgenommen, denn jener kann die Wissenspreisgabe schlicht physisch nicht verhindern (unterstellt: Wahrheitsdrogen funktionierten wirklich). Anhand einer nur zu „klassischen“ materiell-strafrechtlichen Dichotomie formuliert, geriert sich der Wissenszugriff in Fällen der Misshandlung, Ermüdung, des körperlichen Eingriffs sowie der Quälerei quasi als ein Geben („des Wissens“), in Fällen der Verabreichung von Mitteln sowie der Hypnose indes als ein Nehmen. Bereits nach allgemein-sprachlichem Verständnis impliziert der Begriff „Täuschung“ das Hervorrufen einer Fehlvorstellung über einen Sachverhalt und ebenso verhält es sich in der juristischen Fachsprache. Wenn auch den Erwägungen des historischen Gesetzgebers keine Hinweise betreffend einer vorausgesetzten Funktionsweise einer Täuschung entnommen werden konnten,106 so gewährt doch der im Wortsinn angedeutete Umstand einer „Fehlvorstellung“ einen erstens Anhaltspunkt.

104 Dieser Umstand wird zudem an späterer Stelle im Rahmen der Ausführungen zum nemo tenetur-Grundsatz noch eine besondere Relevanz erfahren. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. 105 Vgl. Plenarprotokoll 01/79 vom 26. 07. 1950, S. 2833 (2882) sowie Otto, GA 1970, S. 289 (294). 106 So offenbarten weder die Drucksachen noch die Protokolle diesbezüglich Hilfreiches. Vgl. BT-Drucks. 01/530, 01/1138, 01/1246, 01/1262, jeweils passim sowie Plenarprotokoll 01/79 vom 26. 07. 1950, S. 2833 (2882).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Das Erfordernis einer Fehlvorstellung (also eines Irrtums107) könnte auf einen notwendigen Zwischenschritt hindeuten, nämlich auf jenen Entscheidungsakt des Betroffenen („auszusagen“). Freilich ist jene Entscheidung beeinflusst – nämlich durch die Fehlvorstellung – eine „Entscheidung“ verbleibt es aber dennoch. Ein systematischer Vergleich zur Vorschrift des § 263 StGB bestätigt dies. Dort ist es die Vermögensverfügung aufgrund des Irrtums, welche das Vermögen schmälert; bei § 136a StPO ist es die Entscheidung des „Ob“ oder „Wie“ einer Aussage. In beiden Fällen ist es eine Selbstschädigung: Bei § 263 StGB gibt das Opfer den Vermögenswert, bei § 136a StPO gibt der Betroffene sein Wissen preis.108 Der im Wege einer Täuschung nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO „durchgeführte“ Wissenszugriff ist bei dogmatischer Betrachtung also bedingt durch eine Mitwirkungsoption des Betroffenen. Wenn der Betroffene die Wissenspreisgabe (etwa im Wege nonverbaler Verhaltensweisen)109 nicht zu kontrollieren vermag, so kann das darauf gerichtete Vorgehen nicht als „Täuschung“ in genanntem Sinne qualifiziert werden. Auch bei § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO ist – bei struktureller Betrachtung – das durch die „Täuschung“ Erlangte stets das Ergebnis einer Selbstschädigung,110 ansonsten ist das Vorgehen per definitionem eben keine Täuschung. Und so geriert es sich im Falle der Provokation nonverbaler Verhaltensweisen im Rahmen von Experiment-Konstellationen. So sind jene – wie im Ersten Kapitel erläutert111 – großteils unbewusster oder physisch nicht steuerbarer Natur. Wenn die „provozierten“ nonverbalen Verhaltensweisen (beziehungsweise das „Ob“ oder „Wie“ ihrer Entstehung) der menschlichen Kontrolle aber entzogen sind, so fehlt es folglich auch an einer irrtumsbedingten Preisgabeentscheidung. Der Wissenszugriff, welcher mit der Beobachtung

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Wenn Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 64 [Satz 3] der Maßgeblichkeit des Vorliegens eines Irrtums zunächst widerspricht, ist dies inkonsequent, sieht jener, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 65 [Sätze 1 und 2] doch für den Fall einer (misslungenen) Täuschung den fehlenden Irrtum beim Vernommenen gerade als den entscheidenden Grund für das denknotwendige Fehlen einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit an. Rogall ist zuzustimmen, dass ein Irrtum für die Annahme einer Täuschung nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO keinesfalls genügen kann, ein solcher ist aber als „Zwischenschritt“ notwendig, denn die Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit muss von jenem Irrtum getragen sein. 108 Auch in der Vorschrift des § 123 BGB lässt sich eine Parallele erblicken: Durch die Täuschungshandlung entsteht ein Irrtum und jener Irrtum führt zur Entscheidung der Abgabe einer (für den Betroffenen wirtschaftlich meist „ungünstigen“) Willenserklärung. Plakativ formuliert würde aber auch hier niemand ernstlich eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung erklären, wenn etwa die existente (schriftliche) Willenserklärung bloß gefälscht wäre (jene also nicht gegeben worden wäre). 109 Und es geht vorliegend nur um die Konstellation des Wissenszugriffs, denn nur bei Annahme von Aussagequalität ist überhaupt der „Anwendungsbereich“ des § 136a StPO eröffnet. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. I. 110 Eine Selbstschädigung insoweit, als das Erlangte gewöhnlich als Nachteil anzusehen sein wird. 111 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III.

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solcher Verhaltensweisen geschieht, ist dann kein Geben, sondern ein Nehmen und folglich keine Täuschung.112 3. Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als „Zwang“ nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO Indes sind Angeklagte und Zeugen seitens des Gerichts durchgeführten Experiment-Konstellationen „ausgeliefert“113, respektive sind jene – vermöge der situativen Gegebenheiten im Gerichtssaal – nur äußerst eingeschränkt in Lage, sich einer Beobachtung ihrer nonverbalen Entäußerungen wirksam zu entziehen. Daher könnte in jenen Provokationsakten ein unzulässiger „Zwang“ nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO zu erblicken sein. a) Provokationsakte als Offenbarungs- und Aussagezwang Ein „Zwang“ im Sinne der Vorschrift des § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO erfasst jede Art psychischen oder physischen Zwangs,114 welcher bewusst, also final, zur Herbeiführung einer Aussage eingesetzt wird.115 Anders als dem Merkmal der „Täuschung“ ist jenem des „Zwangs“ seiner Struktur nach gerade keine Beschränkung auf eine bestimmte Funktionsweise immanent, namentlich kann also auch ein Wissenszugriff in Gestalt eines „Nehmens“ darunter subsumiert werden; es handelt sich in der Gesamtheit um ein offeneres Tatbestandsmerkmal. Die Hauptverhandlung ist eine mündliche Verhandlung. Entsprechend besteht eine vollstreckbare Anwesenheitsverpflichtung für den Angeklagten und die geladenen Zeugen nach §§ 231 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO. Mithin sind jene – auch betreffend ihre nonverbalen Entäußerungen – der (visuellen) gerichtlichen

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Die Experiment-Konstellation begründet eine Einwirkung von „außen“ und „liefert“ insoweit den Aspekt der Fremdschädigung; was sich als „Nehmen“ geriert, kann nicht zugleich eine Selbstschädigung begründen, wie es für die Annahme der Täuschung notwendig wäre. Für den Fall, dass nonverbale Verhaltensweisen lediglich zufällig auftreten, wäre die Annahme einer Fremdschädigung wohl zu verneinen. Diese Frage stellt sich aber aus systematischen Gründen, denn § 136a StPO verlangt – wie gezeigt – einen bewussten Einsatz der in Abs. 1 katalogisierten Mittel, daran fehlt es jedenfalls, wenn ein Strafverfolgungsorgan nur „nebenher“ zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen wahrnimmt. 113 Vgl. hierzu auch die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. So wird dieser Umstand des „Ausgeliefertseins“ auch im Rahmen des nemo tenetur-Grundsatzes noch seine Relevanz beweisen. 114 Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 29. 115 Vgl. BGH, NStZ 2005, S. 517 (518); BGH, NJW 1990, S. 1188 f.; Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 29 und ferner auch BGHSt 5, S. 290 f. sowie Erbs, NJW 1951, S. 386 (388). Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 46. Anders Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 58.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Wahrnehmung „ausgesetzt“.116 Ein „Erröten“, „Erbleichen“ oder „Zittern“ oder etwa auch „gestische Entäußerungen“ werden nur schwerlich zu verbergen sein, zumal „wirksame Verhinderungsmaßnahmen“ seitens des Angeklagten oder Zeugen – etwa die vollständige Verschleierung des Gesichts – regelmäßig dem Verdikt der prozessualen Unzulässigkeit anheimfallen werden. Wenn nun – wie bereits konstatiert117 – der „Löwenanteil“ jener nonverbalen Verhaltensweisen aber mit der phänomenologischen Besonderheit eines unbewussten oder physisch nicht steuerbaren Auftretens behaftet ist – ihre Entäußerung also der Disposition entzogen ist – und gleichzeitig die gerichtliche Wahrnehmung jener nicht verhindert werden kann, so sind Angeklagte und Zeugen einem Offenbarungszwang ausgesetzt, und das gilt sowohl für die – hier nicht relevante – Konstellation des zufälligen Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen als auch für den Fall, dass jene im Rahmen von Experiment-Konstellationen gezielt provoziert werden. Soweit im Wege jener auch eine Übermittlung von Gedankeninhalten, namentlich Wissen, stattfindet – etwa der „verräterische Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim Wiedererkennen der Beute aus dem Raub – sind damit auch Aussagen oder Aussagesurrogate bewirkt, es besteht also ein Zwang zur Offenbarung von Aussagen und Aussagesurrogaten. Werden in der Hauptverhandlung seitens des Gerichts Experiment-Konstellationen durchgeführt und insoweit Aussagen provoziert (Wissenszugriff), so geriert sich dies mithin als Zwang nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO.118 b) Von der Rechtfertigung jenes Zwangs Ausweislich der Vorschrift des § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO ist Zwang nur zulässig, „soweit das Strafverfahrensrecht dies zulässt“,119 also eine entsprechende Rechtsgrundlage existent ist. Tatsächlich erlaubt die Strafprozessordnung an verschiedensten Stellen die Anwendung von Zwang; so etwa auch mit den Vorschriften der §§ 231 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO. Für eine Gestattungswirkung des (obigen) Offenbarungs- und Aussagezwangs ist indes maßgeblich, dass der jeweilige Zwang zu dem von der Rechtsgrundlage vorgesehenen Zweck angewendet wird.120

116 So bereits Arndt, NJW 1966, S. 869 (871). Vgl. ferner Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips, S. 294 sowie Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253). Wobei dies an späterer Stelle im Rahmen der Ausführungen zum nemo tenetur-Grundsatz noch nähere Betrachtung erfahren soll. 117 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 2. d). 118 Geschieht die Entäußerung unbewusst, ist es ein psychischer Zwang; geschieht jene physisch nicht steuerbar, so ist es ein physischer Zwang. 119 Was richtigerweise lediglich eine einfachgesetzliche Ausgestaltung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes darstellt. 120 Vgl. hierzu abstrakt Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a, Rn. 46.

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Letztlich handelt es sich um den gleichen Gedanken, welchen der Bundesgerichtshof121 seiner „Zellengenossen-Entscheidung“ zu Grunde legte. So sei bei einem Polizeispitzel, welcher gezielt (mit Aushorchungsabsicht) in die Zelle des Betroffen „verlegt“ werde, von einem Zwang nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO auszugehen,122 wobei die Unzulässigkeit aus der Zweckentfremdung des an sich erlaubten Zwangs der Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) resultiere.123 Die Erwägung ist, dass der Betroffene aufgrund der Untersuchungshaft-Situation nicht in der Lage sei, den Ausforschungsversuchen des Spitzels zu entgehen; es bestünde quasi eine „Drucksituation“. Deutlicher wird dies mit Heranziehung der „WahrsagerinnenEntscheidung“, in welcher der Bundesgerichtshof124 die situative Besonderheit der Haftsituation betonte und ferner eine staatliche Schutzpflicht konstituierte, den Beschuldigten in der Untersuchungshaft vor (massiver) Ausforschung durch Dritte (Mithäftlinge) zu schützen. In beiden Fällen gründen die Erwägungen des Bundesgerichtshofs maßgeblich auf dem besonderen Gewaltverhältnis, welchem der Beschuldigte in der Untersuchungshaft unterworfen ist. Bei vorliegend in Rede stehenden Experiment-Konstellationen ist es die, obig beschriebene, situative Besonderheit des „Ausgeliefertseins“, welche das „besondere Gewaltverhältnis“ begründet. Wie sich der Beschuldigte nicht der Ausforschung durch den Mithäftling entziehen konnte, so kann sich der Angeklagte oder Zeuge auch nicht der Ausforschung in der Hauptverhandlung durch Provokationsakte entziehen.125 Mithin bedürfte es nicht bloß einer Rechtsgrundlage, die – wie §§ 231 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO – das „Ausgeliefertsein“ in Gestalt der Anwesenheitsverpflichtung gestattet, sondern einer solchen, die – speziell – jenen „Aussagezwang“ gestattete.126

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BGHSt 34, S. 362 (363 f.). BGHSt 34, S. 362 (363 f.). 123 Eindeutig festlegen, wollte sich der Bundesgerichtshof wohl nicht, denn anders ist nicht erklärlich, weshalb zwar von „Zwang“ ausgegangen wird, gleichwohl aber lediglich § 136a StPO statt der präzisere § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO genannt wird. Im Schrifttum ist diese Entscheidung auf erhebliche Kritik gestoßen, so sei in genanntem Polizeispitzel-Einsatz vielmehr eine „Täuschung“ nach § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO, denn ein unzulässiger „Zwang“ nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO zu erblicken. 124 BGHSt 44, S. 129 (136 f.). 125 Ob jene der Ausforschung durch Ausübung des Schweigerechts zu entgehen vermögen, sei noch zu klären. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) sowie Drittes Kapitel E. II. 126 Die (partielle) Anwesenheitsverpflichtung des Angeklagten (Zeugen) begründet für sich genommen keine taugliche Rechtsgrundlage für jenen „Offenbarungs- oder Aussagezwang“ (bei Experiment-Konstellationen) denn weder die Vorschrift des § 231 Abs. 1 Satz 1 StPO noch jene der §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO deuten eine derartige (über den „Zwang zur Anwesenheit“ hinausgehende) Gestattungswirkung an, etwa jene Zwangssituation für erwähnte Experiment-Konstellationen „auszunutzen“. Eine solche Gestattungswirkung kann nur aus einer anderen – spezielleren – Rechtsgrundlage folgen. 122

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

aa) Die Vorschriften der §§ 81a, 81c StPO Mit den Vorschriften der §§ 81a, 81c StPO ist für die vorliegende Konstellation jedenfalls keine taugliche Rechtsgrundlage gefunden.127 Werden nonverbale Verhaltensweisen gezielt zum Zwecke des Wissenszugriffs provoziert, geschieht dies mit dem Ziel des Erhalts von Aussagen – und nur für diese Konstellation ist überhaupt ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO denkbar.128 Entgegen dem (offenen) Wortlaut in § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO – „Feststellung von Tatsachen“129 – sind die Vorschriften der §§ 81a, 81c StPO ausweislich ihrer systematischen Verortung im Siebten Abschnitt nur zur Erlangung von Sachbeweisen konzipiert, ermächtigen respektive zur „Gewinnung“ spezieller – nämlich besonders eingriffsintensiver – Augenscheinsbeweise. Es besteht also logischerweise ein Exklusivitätsverhältnis zwischen der Frage, welche Beweiserhebung vor dem Hintergrund des § 136a StPO verboten ist und welche nach §§ 81a, 81c StPO erlaubt ist:130 Eine nach §§ 81a, 81c StPO gestattete Beweiserhebung vermag bei dogmatischer Betrachtung niemals gegen § 136a StPO zu verstoßen;131 denn der Zwang im Sinne des § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO ist – der jeweiligen Konzeption folgend – auf den Erhalt von Aussagen (Wissenszugriff) gerichtet, jener im Sinne der §§ 81a, 81c StPO indes auf den Erhalt von Sachbeweisen (Zustandszugriff). Keinesfalls kann daher in §§ 81a, 81c StPO die Rechtfertigung erblickt werden, wenn mit der gezielten Provokation nonverbaler Verhaltensweisen letztlich Aussagen bei Angeklagten oder

127 Anders Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 33, welcher nonverbale Verhaltensweisen wie „Erröten“, „Erbleichen“, „Stottern“, „Weinen“ et cetera als Gegenstand des Augenscheinsbeweises ansieht und konsequenterweise in den Vorschriften der §§ 81a, 81c StPO die Rechtsgrundlage für dessen Erhebung erblickt. Wie gezeigt, vermag eine derart pauschale Zuweisung zum Institut des Augenscheinsbeweises nicht zu überzeugen (und mithin auch die Konsequenz nicht). Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff). 128 Ansonsten ist die Vorschrift des § 136a StPO per se nicht anwendbar. 129 Teilweise – etwa Berning, „Lügendetektion“ aus interdisziplinärer Sicht (Band 2), S. 234 f. sowie Prittwitz, MDR 1982, S. 886 (890) – wird die Auffassung vertreten, dass auch die Glaubwürdigkeit des Beschuldigten unter jenes Merkmal fiele. Würde die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen zur „Überprüfung“ der Glaubwürdigkeit eingesetzt (und im weiteren Sinne wird dies regelmäßig der Fall sein), so wäre es denkbar, jenes Vorgehen unter § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO (wenn beim Angeklagten) zu subsumieren. Richtigerweise hat sich die herrschende Meinung gegen ein derartiges Verständnis ausgesprochen. Vgl. hierzu BGHSt 5, S. 332 (336) und Dzendzalowski, Eine strafprozessual-kriminalistische Untersuchung zu den §§ 81a und 81c StPO, S. 20 sowie instruktiv bereits Krause, in: Löwe/RosenbergStPO, § 81a, Rn. 16. 130 So auch Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 162 [Fn. 303] unter Verweis auf BGHSt 24, S. 125 (129). 131 Eines Rückgriffs auf § 136a StPO bedarf es zudem aus materiellen Gründen nicht, so enthält § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO eine eigene Schranken-Schranke („wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist“); welche wohl zugleich als Verweisung auf den ohnehin geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstehen sein dürfte. Vgl. BVerfGE 17, S. 108 (113, 117).

B. § 136a StPO

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Zeugen provoziert werden (sollen); und dies ist bei einem Wissenszugriff nun einmal der Fall.132 bb) Die Vorschrift des § 238 StPO Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Vorschrift des § 238 Abs. 1 StPO. Demnach ist die Verhandlungsleitung dem Vorsitzenden zugewiesen, welcher jene selbst wahrzunehmen hat, das heißt gerade nicht zur Delegation an Dritte berechtigt ist.133 Im Besonderen gilt dies für die Vernehmung des Angeklagten sowie etwaiger Zeugen.134 Sollen in der Hauptverhandlung Experiment-Konstellationen durchgeführt werden – wie etwa die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen – so obliegt deren Durchführung – etwa die „Vorlage von Fotos“ um einer nonverbalen Reaktion Willen – ebenso dem Vorsitzenden.135 Dies ergibt sich bereits insoweit aus einem argumentum e contrario, als im Zweiten Kapitel konstatiert wurde, dass jene Experiment-Konstellationen stets „im Wege“ förmlicher Beweiserhebung stattzufinden haben.136 Die Vorschrift ist ihrem Charakter folgend eine Organisationsvorschrift137, die eben lediglich eine Zuständigkeitsregelung zugunsten des Vorsitzenden beinhaltet – es handelt sich nicht um eine Befugnisnorm. So gewährt § 238 Abs. 1 StPO dem Vorsitzenden gerade nicht, die Rechte der Verfahrensbeteiligten – über das in der Strafprozessordnung gesondert ausgewiesene Maß hinaus – einzuschränken.138 Dies folgt letztlich schon aus einem systematischen Gesichtspunkt: Wenn § 238 Abs. 2 StPO die Zuständigkeit des Gerichts anordnet, sofern eine Sachleitungsmaßnahme des Vorsitzenden als unzulässig – also ungerechtfertigt Rechtspositionen ein-

132 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) und Zweites Kapitel B. II. 2. Anders wohl Berning, „Lügendetektion“ aus interdisziplinärer Sicht (Band 2), S. 234 f., 279, wenn diese in § 81a StPO etwa die taugliche Rechtsgrundlage für die (zwangsweise, also unfreiwillige) Durchführung eines Lügendetektortests (in Gestalt des Tatwissentests) sehen will. Aber auch jene Auffassung kann nicht überzeugen, da gerade beim Tatwissentest ebenso ein Wissenszugriff stattfindet, dass Ergebnis sich also als Aussage geriert. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) und zu genannter Kritik bereits Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 162 [Fn. 298]. 133 Vgl. Arnoldi, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 7; Grube, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 238, Rn. 8; Schneider, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 5. 134 Vgl. Schneider, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 5. 135 Freilich verbleibt es im Belieben des Vorsitzenden, die physische Umsetzung etwa einem Justizbeamten zu übertragen. Darin wäre noch keine Delegation zu erblicken, da die Beweiserhebung selbst immer noch durch den Vorsitzenden stattfände. Vgl. hierzu etwa RGSt 27, S. 172 f. und Frister, in: SK-StPO, § 238, Rn. 15. 136 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 137 So wohl auch Schneider, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 6. 138 Vgl. Frister, in: SK-StPO, § 238, Rn. 11.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

schränkend139 – beanstandet wird, so wäre es wenig sinnvoll, in § 238 Abs. 1 StPO die Befugnis zur Einschränkung zu erblicken; die Überprüfung verbliebe als sinnentleerter Formalismus. cc) Die Institute der Vernehmung als Rechtsgrundlage – §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO Denkbar erscheint indes, dass jener Offenbarungs- und Aussagezwang möglicherweise im Ansatz – etwa im Institut der Vernehmung – bereits vorgesehen – quasi vertypt – ist. (1) Experiment-Konstellationen als „Vernehmung“? Soweit die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO die Existenz dieser „Wissenszugriffsinstitute“ regeln,140 sind jene auch Rechtsgrundlage für den erstrebten Wissenszugriff; und derer bedarf es schon vor dem Hintergrund des Vorbehalts des Gesetzes.141 Ausgenommen die Vorgabe, dass ein finaler Wissenszugriff – als „aufgesuchte“ Beweiserhebung – eben als Angeklagten- oder Zeugenvernehmung zu erfolgen hat, ist „der Weg“ des Wissenszugriffs von der Strafprozessordnung nicht näher präzisiert. Die Frage ist also, ob die hier in Rede stehenden Experiment-Konstellationen – und der insoweit bewirkte Offenbarungs- und Aussagezwang – von der Rechtsgrundlage der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO – noch erfasst sind. Bei quantitativer – letztlich verhaltenspsychologischer – Betrachtung besteht kein Unterschied zu anderen zulässigen Konstellationen „geschickten Vorgehens“. Wird etwa durch bestimmte Fragetechnik auf einen entlarvenden (verbalen) Versprecher des Vernommenen abgezielt, so ist dies nicht untersagt. Auch sind Fangfragen zu-

139 Richtigerweise unterscheidet die herrschende Meinung nicht (mehr) zwischen Verhandlungs- und Sachleitung, sondern knüpft die Möglichkeit der Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO an die Geltendmachung einer Beschwer (in Gestalt einer Rechtsverkürzung) des intervenierenden Prozessbeteiligten. Vgl. hierzu BGHSt 44, S. 82 (90); BGH, StV 2009, S. 680 (681); Arnoldi, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 18; Becker, in: Löwe/Rosenberg, § 238, Rn. 19 f.; Fuhrmann, GA 1963, S. 65 (72 f.); Grube, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 238, Rn. 18; Schneider, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 238, Rn. 8 f. Anders noch RGSt 54, S. 110 (112). 140 Im Rahmen des Zweiten Kapitels war festgestellt worden, dass sich der Regelungsgehalt sowohl des Instituts der Angeklagtenvernehmung als auch jener des Instituts des Zeugenbeweises in dem Wissenszugriff unter Beachtung des Primats der Justizförmigkeit erschöpft, wobei die Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO insoweit den maximalen (zulässigen) Wissenszugriff gebietet. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) und Zweites Kapitel B. II. 2. 141 Vgl. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 799 sowie Windthorst, in: Studienkommentar-GG, Art. 20, Rn. 133 ff., 139.

B. § 136a StPO

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lässig, mit dem Ziel, den Betroffenen gezielt in Widersprüche zu verwickeln.142 Sowohl bei Versprechern als auch bei unfreiwillig offenbarten Widersprüchen ist im Regelfall keine Täuschungsbedingtheit zu unterstellen und keinesfalls sind darauf gerichtete Handlungen als unzulässiger Zwang nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO anzusehen – obwohl jene Wissenspreisgaben situativ stets mit dem Merkmal der „Unbewusstheit“ belastet sein werden. Es bestünde – bei normativer Betrachtung – ein Gleichlauf betreffend die Eingriffsintensität. Zugegebenermaßen indiziert dies noch nicht die Zulässigkeit der Provokation unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen. Dies wird sich auf anderem – deduktivem – Wege zu erschließen haben. Prima facie ist auf die Erkenntnis verwiesen, dass die Strafprozessordnung selbst unbewusste oder physisch nicht steuerbare Entäußerungen als „Aussage“ im Rechtssinne einzustufen vorsieht,143 also den Wissenszugriff gerade nicht generell dem Topos der Freiwilligkeit oder Beherrschbarkeit unterwirft. Das Institut der Vernehmung ist nach tradiertem Verständnis vielmehr auf einen möglichst umfassenden und seiner Art und Weise nach freien Wissenszugriff ausgelegt,144 welcher im Grundsatze keine Beschränkungen kennt.145 So bleibt auch vor dem Hintergrund der Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO festzuhalten, dass von dem Institut der Vernehmung selbst stets auch die Erlangung unbewusster oder partiell nicht steuerbarer Wissenspreisgaben intendiert ist.146 Namentlich sind dann Lichtbildvorlagen bei Zeugen, mit dem Ziel, mimische Reaktionen zu „erhaschen“ oder Wiedererkennungsexperimente beim Angeklagten zulässig, wenn auch auf die Beobachtung nonverbaler Reaktionen abgezielt wird. Insoweit sind die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2, 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO taugliche Rechtsgrundlage für den – damit einhergehenden (wenngleich „geringen“) – Offenbarungs- und Aussagezwang.147

142 Vgl. Diemer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 136a, Rn. 20; Puppe, GA 1978, S. 289 (293); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 136a, Rn. 15 sämtlich feststellend, dass Fangfragen kein Täuschungsgehalt immanent sei. 143 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) cc). 144 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a). 145 Ausgenommen etwa ein Wissenszugriff im Wege der in § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO katalogisierten Methoden. 146 Letztlich konnte dies bereits zuvor im Rahmen der Auslegung festgestellt werden. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a). 147 Und jene Vorschriften „liefern“ sodann obig geforderte Gestattungswirkung, dass die (partielle) Anwesenheitsverpflichtung des Angeklagten (Zeugen) quasi für Experiment-Konstellationen „ausgenutzt“ werden darf. Vgl. hierzu die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b), Fn. 126.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

(2) Grenzen des „Vernehmens“ Freilich vermögen die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht jeden Zwang – wenn auch intentional zum Wissenszugriff eingesetzt – zu legitimieren. (a) Das Gebot förmlicher Beweiserhebung Die erste Schranke ergibt sich bereits aus dem Gebot förmlicher Beweiserhebung. So haben Experiment-Konstellationen („aufgesuchte“ Beweismittel) streng formalisiert in Gestalt des jeweils vorgesehenen Beweisinstituts stattzufinden;148 also bei einem Wissenszugriff entweder in Gestalt der Angeklagtenvernehmung oder der Zeugenvernehmung. Sowie die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO zum Wissenszugriff ermächtigen, so verlangen jene ebenso, dass dieser Zugriff im „Kleide der Vernehmung“ zu erfolgen hat; insoweit schließt sich der Kreis zu den Feststellungen im Zweiten Kapitel.149 (b) Vernehmung „versus“ technische Experimente Die zweite Schranke ist in dem Begriff „Vernehmung“ selbst angelegt. So erhellt der Wortsinn – ausweislich obiger Erwägungen – sowohl ein kommunikatives Element als auch einen Finalcharakter betreffend die Informationserlangung, gleichzeitig aber auch eine Begrenzungsfunktion dahingehend, dass die Informationserlangung eben nur im Wege eines „Vernehmens“ zulässig ist. Ein „Vernehmen“ im Wortsinne ist indes nur dort gegeben, wo sich die Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege einer menschlichen Vis à vis-Kommunikation ereignet.150 Der Wissenszugriff bei Experiment-Konstellationen ist demnach nicht von der Rechtsgrundlage der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO gedeckt, wenn sich jener nicht mehr als menschlicher Kommunikationsakt geriert. Die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen seitens des Gerichts bleibt damit – etwa auch für das Beispiel der „umgekehrten Rekognition“ – zulässig. Die Grenze ist indes dort erreicht, wo die Experiment-Konstellation von einer „Vernehmung“ zu einem „technischen Experiment“ mutiert. Hier „verlässt“ die Experiment-Konstellation den Boden dessen, was von den §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO – auch als vielleicht ungewöhnliches Vorgehen – gedeckt ist; es handelt sich dann begrifflich eben nicht mehr um ein

148 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. Anders, wenn nonverbale Verhaltensweisen zufällig auftreten. Hier ist eine förmliche Beweiserhebung dogmatisch ausgeschlossen. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). 149 So war bereits konstatiert worden, dass die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattzufinden hat. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 150 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) bb).

B. § 136a StPO

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„Vernehmen“.151 Präzisierend ist dies dann der Fall, wenn die provozierten nonverbalen Verhaltensweisen seitens des Gerichts nicht mehr mit den menschlichen Sinnesorganen wahrnehmungsfähig sind, so wäre dies nämlich konstitutiv für die Annahme eines menschlichen Kommunikationsaktes. Für die juristische Praxis ist mithin zu konstatieren, dass Experiment-Konstellationen insoweit von §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO erlaubt sind, als mit jenen die Beobachtung oder andersartige Wahrnehmung „allgemein üblicher“ – „offen hervortretender“ – nonverbaler Verhaltensweisen intendiert ist. (aa) Polygraphen, Wahrheitsdrogen, Gedankensensoren oder ähnliche Wissenszugriffsakte Etwas anderes gilt schließlich für „technische Experimente“. Zwar sind – weit eingriffsintensivere – darüber hinaus gehende Wissenszugriffsakte, wie etwa die unfreiwillige Polygraphenanwendung, Wahrheitsdrogen oder Ähnliches – gerade vermöge des Wissenszugriffs – dem Institut der Angeklagten- oder jenem der Zeugenvernehmung zugewiesen,152 nur stellt sich der dort wirkende „technische Aspekt“, namentlich etwa die Anwendung des Polygraphen, eben gerade nicht mehr als ein „vernehmen“ dar, sodass die §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht als Befugnisnorm zur Rechtfertigung des dortig wirkenden Offenbarungs- und Aussagezwangs in Betracht kommen.153 Das gilt – neben diesen offensichtlichen Fällen – aber auch für eine bloße „technische Sichtbarmachung“ nonverbaler Entäußerungen von Angeklagten oder Zeugen. Realiter böte sich etwa die audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung an, womit ex post eine Betrachtung von Veränderungen der Gesichtszüge bei bestimmten Fragen oder eben Provokationsakten möglich wäre; mithilfe eines „SlowMotion-Effektes“ wäre sogar für Laien (so auch für das jeweilige Gericht) die 151 Insoweit ist auch die zuvor kritisierte Aussage von Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 223, dass es sich eben nicht mehr um ein „Vernehmen“, sondern ein Experimentieren“ handle, nicht ganz unrichtig. 152 Es besteht ein dogmatischer Unterschied zwischen dem, was als „Wissenszugriffsakt“ (etwa auch der Polygraph) den Instituten der Angeklagten- beziehungsweise Zeugenvernehmung – nach der Lehre vom Zugriffsgegenstand – zugewiesen ist (dies folgt aus den Regelungen des förmlichen Beweisverfahrens) und der Frage, zu welchen „Wissenszugriffsakten“ die Strafverfolgungsbehörden (hier das Gericht) befugt sind. So sind die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO ihrem Rechtscharakter nach einerseits Organisationsvorschriften des förmlichen Beweisverfahrens, andererseits Befugnisnormen (und insoweit Rechtsgrundlage). 153 Dies steht auch nicht im Widerspruch zu obigen Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2., dass jede Beweiserhebung einer Zuweisung zu den förmlichen Beweisinstituten bedarf, respektive eine Beweiserhebung, welche auf Wissenszugriff gerichtet ist, dem Institut des Zeugenbeweises oder jenem der Angeklagtenvernehmung zugewiesen ist. Denn auch wenn es sich um Konstellationen handelt, in denen die Wahrnehmung lediglich unter Heranziehung technischer Hilfsmittel möglich ist, so ist die „Beweiserhebungshandlung“ – bei Wissenszugriff – zwar genannten Instituten dogmatisch zugewiesen, es fehlt nur eben de lege lata an einer entsprechenden Rechtsgrundlage für die „Durchführung“.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

„Sichtbarmachung“ von provozierten Mikroexpressionen realisierbar.154 Aber auch dies geht über eine menschliche Vis à vis-Kommunikation hinaus, ist also nicht mehr als ein „Vernehmen“ zu begreifen und folglich nicht von §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO gedeckt. Respektive rechtfertigt auch § 247a Abs. 1 Satz 4 StPO keine Zulässigkeitsannahme dessen. Die von der Vorschrift konstituierte Ermächtigung zur audiovisuellen Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen ist beschränkt auf Fälle, in denen die Unverfügbarkeit des Zeugen (besser: der Zeugenaussage) für eine weitere (zukünftige) Hauptverhandlung zu besorgen ist155 – eine Ermächtigung zur Aufzeichnung zum Zwecke der (technischen) „Sichtbarmachung“ bestimmter nonverbaler Verhaltensweisen ist damit nicht intendiert.156 (bb) Wissenszugriff durch einen beobachtenden Sachverständigen Daneben böte sich für die Fallgruppe besonders „schwer wahrnehmbarer“ nonverbaler Verhaltensweisen die gezielte – vielleicht auch permanente – Beobachtung des zu Entäußerungen „provozierten“ Angeklagten oder Zeugen durch einen Sachverständigen auf dem Gebiete der Verhaltenspsychologie an.157 Wenn auch Verrel158 in dieser Idee einen Rückfall in die Zeiten „inquisitorischer Gebärdenprotokolle“ zu besorgen sieht, sei dennoch untersucht, ob nicht die Vorschrift des § 80 Abs. 2 StPO eine taugliche Rechtsgrundlage darstellt, jenen darin liegenden – sodann zweifelsohne etwas invasiveren159 – Offenbarungs- und Aussagezwang zu rechtfertigen. In der Tat gestattet § 80 Abs. 2 StPO prima facie die Anwesenheit von Sachverständigen bei der Angeklagten- und Zeugenvernehmung im Gerichtssaal, und auch wenn die „Vernehmung“ originär eine solche des Gerichts 154

Diese könnten dann exemplarisch von einem Sachverständigen ausgewertet werden. Vgl. hierzu auch Frister, in: SK-StPO, § 247a, Rn. 69. 156 Dies liefe vielmehr auch den Erwägungen des historischen Gesetzgebers entgegen, dessen Hauptanliegen gerade in der Verbesserung des Zeugenschutzes bestand. Vgl. BTDrucks. 13/7165, S. 1 sowie die weitergehenden Ausführungen bei Frister, in: SK-StPO, § 247a, Rn. 1. Ähnlich verhält es sich für die Vorschrift des § 58a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO: Erstens ist die Vorschrift ausweislich ihrer Systematik für Vernehmungen (von Zeugen) in der Hauptverhandlung unanwendbar und zweitens bezweckt die Vorschrift, neben dem Opferschutz, in Verbindung mit § 255a StPO die „Bewahrung“ der Zeugenaussage für die spätere Hauptverhandlung. Das Gericht und auch die sonstigen Strafverfolgungsorgane werden gerade nicht ermächtigt auf dem Wege der Aufzeichnung und etwaigen Bearbeitung jener, nonverbale Verhaltensweisen sichtbar zu machen. 157 So könnte exemplarisch der Zeuge während seiner Vernehmung von einem Sachverständigen gezielt auf etwaige „Lügensymptome“ beobachtet werden oder, im Falle der Durchführung einer „umgekehrten Rekognition“, der Angeklagte seitens des Sachverständigen auf etwaige Auffälligkeiten nonverbaler Natur fokussiert werden. 158 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 205. 159 Die Beobachtung durch einen Sachverständigen auf dem Gebiete der Verhaltenspsychologie weist im Vergleich zu der Beobachtung durch das Gericht eine höhere Eingriffsintensität auf. So kann Ersterer – vermöge seiner Befähigung – de facto schlicht auf mehr „Informationen“ zugreifen, die ansonsten verborgen blieben. 155

B. § 136a StPO

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verbleiben muss,160 kann dem Sachverständigen gestattet werden, Fragen an den Angeklagten oder Zeugen zu richten. Denkbar wäre insoweit auch die Frage, ob „Sie, Herr Angeklagter, die Person auf dem gerade gezeigten Foto wiedererkennen?“, wobei der Fokus des Sachverständigen auf die nonverbalen Reaktionen gerichtet sein könnte (a priori bereits ein „verräterischer“ mimischer Ausdruck „erhofft“ ist). In Ermangelung eines dahingehenden Regelungsgehaltes in § 80 Abs. 2 StPO entscheidet das Gericht über das „Ob“ und die „Dauer“ der Anwesenheit, wie auch über das „Ob“ und die „Art“ von Fragen des Sachverständigen nach pflichtgemäßem Ermessen,161 wobei jenes einer Beschränkung durch die Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO ausgesetzt ist.162 Die ratio legis der Vorschrift des § 80 Abs. 2 StPO besteht darin, dem Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen zur Erstattung seines Gutachtens zu liefern,163 das können namentlich auch Befundtatsachen in Gestalt nonverbaler Verhaltensweisen sein. Wenn die Vorschrift ferner von „Vernehmungen“ und „Fragen“ spricht, so verhält es sich kongruent zu einem „Vernehmen“ im Sinne der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO. Mit anderen Worten ist dem Sachverständigen durch § 80 Abs. 2 StPO also – in entsprechenden Grenzen – der Wissenszugriff im Wege einer menschlichen Vis à vis-Kommunikation gestattet; und das kann eben auch in Gestalt von Experiment-Konstellationen stattfinden. Insoweit ist § 80 Abs. 2 StPO dann eine taugliche Rechtsgrundlage für den damit einhergehenden Offenbarungs- und Aussagezwang.164

160 Der Sachverständige darf die Vernehmung nicht selbst „führen“, dies ist (in der Hauptverhandlung) ureigenste Aufgabe des Gerichts. Vgl. hierzu BGHSt 13, S. 1; BGH, NJW 1951, S. 771; Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 80, Rn. 2; Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 80, Rn. 2. Vgl. ferner Fincke, ZStW 86 (1974), S. 656 (669). 161 Vgl. RGSt 52, S. 161; BGHSt 2, S. 25 f.; Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 80, Rn. 4. 162 Vgl. BGHSt 19, S. 367 (368); Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 80, Rn. 5. 163 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 80, Rn. 1. 164 Da das Gericht hierüber – im Lichte des § 244 Abs. 2 StPO – nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat, gilt aber auch, dass eine Beweiserhebung von nonverbalen Verhaltensweisen durch den Sachverständigen nur insoweit in Betracht kommt, als jene Beweiserhebung dem Institut des Sachverständigenbeweises auch zugewiesen ist. Das ist indes nur der Fall, wenn zu erwarten ist, dass mit der Experiment-Konstellation nonverbale Verhaltensweisen provoziert werden, auf die ein Zugriff nur vermöge besonderer Sachkunde möglich ist. Von der Annahme, dass § 80 Abs. 2 StPO eine taugliche Rechtsgrundlage für den erwähnten Offenbarungs- und Aussagezwang begründet, ist die Frage zu trennen, inwieweit eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch einen Sachverständigen (in dessen Nähe die vorliegende Konstellation freilich käme) vor dem Hintergrund der Vorschrift des § 261 StPO per se zulässig ist. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 3. b) bb) (2), Fn. 284.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

IV. Zusammenfassung Die Vorschrift des § 136a StPO steht der Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung im Grundsatze nicht entgegen. Betreffend die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung folgt dies bereits aus dem Umstand, dass jene Vorschrift nur auf finale Handlungen der Strafverfolgungsbehörden Anwendung findet.165 Findet im Rahmen von Experiment-Konstellationen eine gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen beim Angeklagten oder Zeugen statt, welche sich als Wissenszugriff geriert – etwa das Vorlegen von Fotos oder die „umgekehrte Rekognition“ – so begründet ein derartiges – notwendigerweise heimliches – Vorgehen keine Täuschung im Sinne des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO.166 Vermöge des Umstandes, dass sich die relevanten167 nonverbalen Verhaltensweisen unbewusst oder physisch nicht steuerbar entäußern, steht die Entäußerung nicht zur Disposition des „Provokationsopfers“, daher fehlt es an dem, für die Täuschung konstitutiven, Selbstschädigungsmoment.168 Richtigerweise geriert sich die Bewirkung dieser unfreiwilligen Wissensentäußerungen dogmatisch als Zwang im Sinne des § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO,169 so kann das „Provokationsopfer“ nämlich eine Preisgabe von Wissen, also eine Aussage – wiederum vermöge der Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit – nicht verhindern, sodass ein Offenbarungs- und Aussagezwang besteht.170 Indes handelt es sich hierbei um einen erlaubten Zwang, denn die Institute der Angeklagten- und Zeugenvernehmung nach §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO sind taugliche Rechtsgrundlage für derartige Experiment-Konstellationen.171 Das gilt aber nur insoweit, als jene „in Gestalt“ einer (förmlichen) Vernehmung durchgeführt werden.172 Namentlich sind nur solche Experiment-Konstellationen zulässig, in welchen sich die Provokation nonverbaler Verhaltensweisen noch als „vernehmen“ darstellt und nicht zu einem „technischen Experiment“ entartet, wobei die Grenze dort zu ziehen ist, wo die „provozierten“ nonverbalen Verhaltensweisen nicht mehr mit den menschlichen Sinnesorganen wahrnehmbar sind, es vielmehr technischer Hilfe bedürfte.173 Dies gilt auch, sofern

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Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. I. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 2. d). 167 Sofern sich nonverbale Verhaltensweisen bewusst entäußern, ist jedenfalls nicht zu erkennen, weshalb jene auf einer Täuschung basieren sollten. Derartige Fälle sind nicht denkbar. 168 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 2. d). 169 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. a). 170 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. a). 171 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b). 172 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc). 173 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b). 166

C. Formale Erhebungsschranken

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jene Experiment-Konstellationen (partiell) von einem Sachverständigen „durchgeführt“ werden, insoweit ist § 80 Abs. 2 StPO taugliche Rechtsgrundlage.174 Damit sei indes lediglich konstatiert, dass § 136a StPO einer Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung nicht entgegensteht. Ob diese Aussage auch vor dem Hintergrund anderer Vorschriften des Strafprozess- und Verfassungsrechts aufrechterhalten bleiben kann, ist Gegenstand des Folgenden.

C. Das Gebot förmlicher Beweiserhebung und formale Erhebungsschranken für Experiment-Konstellationen? Eingedenk der Feststellungen im Rahmen des Zweiten Kapitels, dass Experiment-Konstellationen als „aufgesuchte“ Beweiserhebungen stets im Rahmen der förmlichen Beweisinstitute stattzufinden haben175 – und namentlich auch das richtige Beweisinstitut zur Anwendung kommen muss176 –, erscheint es prima facie denkbar, in den Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO oder der Mitwirkungsfreiheit des Angeklagten oder in den „Zeugenrechten“ der §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO bereits formale Erhebungsschranken zu erblicken.

I. Institut der Angeklagten- und Zeugenvernehmung – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 & § 52 StPO Werden dem Angeklagten in der Hauptverhandlung etwa Lichtbildaufnahmen des „Mordopfers“ vorgelegt, mit dem Ziel, einen „verräterischen“ mimischen Ausdruck zu „erhaschen“, so wird sich dieser Provokationsakt als Wissenszugriff gerieren, sodass – vermöge der Lehre vom Zugriffsgegenstand177 – jene Experiment-Konstellation im Rahmen einer förmlichen Angeklagtenvernehmung stattzufinden hätte. Wenn sich der Angeklagte aber nun zur Ausübung seines Schweigerechts nach §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO entschließt, so ließe sich argumentieren, dass sich damit die Durchführung einer Angeklagtenvernehmung a priori verböte beziehungsweise ausgeschlossen wäre – womit jene Experiment-Konstellation schon aus formalen Gründen unzulässig wäre. Richtigerweise kann aber die „Ausübung“ der Rechte der §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 und § 52 StPO – bei dogmatischer Betrachtung – keinen Einfluss 174

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (bb). Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 176 Etwa beim Wissenszugriff das Institut der Angeklagten- oder Zeugenvernehmung. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 2. 177 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ee) und Zweites Kapitel B. II. 2. 175

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

auf die Frage des „(Nicht-)Vorliegens“ oder der „(Nicht-)Durchführbarkeit“ einer Vernehmung haben. Soll „Etwas“ – hier: nonverbale Verhaltensweisen – im Rahmen einer Vernehmung erhoben werden, so gebietet dies bloß die „Anwendung“ des förmlichen Rahmens dieses Beweisinstituts.178 So heißt es in § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO „bei Beginn der ersten Vernehmung“ und erst in Satz 2 wird auf die Belehrung betreffend das Schweigerecht verwiesen, was – vermöge der Systematik – erhellt, dass auch bei Totalschweigen dogmatisch noch eine „Vernehmung“ existent sein kann, nur wird es in jener vermutlich nicht zu bewussten Aussagen kommen. Die mithin maßgebliche Erkenntnis ist indes, dass damit trotz Ausübung des Rechts nach §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO die Durchführung einer ExperimentKonstellation – mit welchen ohnehin unbewusste oder physisch nicht steuerbare Entäußerungen provoziert werden sollen – „im formalen Kleide“ des Instituts der Angeklagtenvernehmung möglich bleibt. Wann eine Beweiserhebung im Wege des Instituts der Angeklagtenvernehmung beginnt und endet, steht formal nicht zur Disposition des Vernommenen.179 Dies ist eine Entscheidung die originär dem Vernehmenden zugewiesen – und ausweislich der Erwägungen des historischen Gesetzgebers180 – nicht durch die Ausübung des Schweigerechts bedingt ist. Richtigerweise muss dies – schon vermöge ihrer dogmatischen „Verwandtschaft“ – auch für das Institut des Zeugenbeweises gelten,181 sodass auch im Falle des berechtigten 178 So müsste das „Ob“ der Durchführung der Angeklagtenvernehmung als wesentliche Förmlichkeit etwa auch protokolliert werden. 179 Vgl. BGHSt 42, S. 170; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136, Rn. 30. Vgl. insbesondere BGH, NJW 2009, S. 3589 (3590), wo es heißt: „Weder die Strafprozessordnung noch der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz eines fairen Verfahrens verbieten es, eine Vernehmung im Anschluss an eine anfängliche Aussageverweigerung fortzusetzen, solange nicht mit verbotenen Mitteln auf die Willensfreiheit des zu Vernehmenden und die Durchsetzbarkeit seines Aussageverweigerungsrechts eingewirkt wird.“ 180 Vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Becker bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 704: „Zweifelhaft sei, [ob man] soweit gehen könne, daß man dem Richter den Angeklagten als Mittel zur Wahrheitserforschung ganz entziehen dürfe.“ Dies ebenso erwähnend Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 133 [Fn. 27], welcher indes die Auffassung vertritt, dass eine Vernehmung im Falle des Berufens auf das Schweigerecht abzubrechen sei. Dies basiert überwiegend darauf, dass Bosch insbesondere den „Fürsorgedanken“ – mit welchem die Weiterführung der Vernehmung trotz Schweigen häufig begründet wird – im Rahmen von polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen als bloße Makulatur begreift. Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 133 ff. Aus normativen Erwägungen heraus, ist Bosch sicher zuzustimmen, denn die Weiterführung der Vernehmung wird sich in der Tat höchst selten zu Gunsten des Beschuldigten auswirken. Dogmatisch ist ein „Weiterführungsverbot“ im Falle des Schweigens indes aus besagten Gründen abzulehnen. Eine Beschränkung von Beweiserhebungsakten (etwa ExperimentKonstellationen) könnte allenfalls aus dem materiellen Rechtsgehalt des Schweigerechts folgen, was an späterer Stelle noch zu diskutieren sein wird. Vgl. hierzu sodann die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b). 181 Auch die Entscheidung RGSt 33, S. 403 f. steht diesem Ergebnis nicht im Wege. Hier stand die Zuweisung von mimischen Darstellungen eines taubstummen Zeugen zu dessen Vernehmung in Rede, welcher auf diese Weise das seinerseits Wahrgenommene über den Verfahrensgegenstand auszudrücken versuchte. Das Reichsgericht verneinte eine Zuweisung

C. Formale Erhebungsschranken

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Berufens auf § 52 StPO eine Beweiserhebung „als Zeugenvernehmung“ möglich bleibt.

II. Institut des Augenscheinsbeweises – Mitwirkungsfreiheit des Angeklagten & § 81c Abs. 3 Satz 1 StPO Ebenso entsprechend gilt dies für Experiment-Konstellationen, welche – vermöge eines Zustandszugriffs – dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen sind. Sollen etwa gezielt nonverbale Entäußerungen des (Opfer-)Zeugen beobachtet werden, weil sich das Gericht daraus Rückschlüsse auf etwaige psychische Erkrankungen (als Tatfolgen) erhofft, so kann der formale Umstand des „Sichberufens“ auf § 81 Abs. 3 Satz 1 StPO – bei dogmatischer Betrachtung – einer förmlichen Beweiserhebung in Gestalt des Instituts des Augenscheinsbeweises nicht entgegenstehen. Dies gilt ebenso für eine Inaugenscheinnahme des Angeklagten im Gerichtssaal, wenn sich jener auf seine Mitwirkungsfreiheit beruft.182

III. Institut des Sachverständigenbeweises Auch das Institut des Sachverständigenbeweises kennt keine formalen Erhebungsschranken. Ob eine Beweiserhebung in Gestalt eines bestimmten förmlichen Beweisinstituts in der Hauptverhandlung „stattfindet“ oder nicht, entscheidet einzig das Gericht.

zur Vernehmung mit der Begründung, dass eine Vereidigung des Zeugen tatsächlich unmöglich war und mithin – nach damaliger Rechtslage – prozessual keine ordnungsgemäße Zeugenvernehmung stattfinden konnte. Der Fall wies nämlich die Besonderheit auf, dass der taubstumme „Zeuge“ weder dem Lesen und Schreiben noch der Gebärdensprache mächtig war und die Vorinstanz sich daher nicht in der Lage sah, diesen über den Eid zu belehren beziehungsweise ihm diesen abzunehmen. Die damalige Rechtslage sah im Grundsatze eine Vereidigung der Zeugen vor Gericht vor. Vgl. hierzu statt vieler Hall, in: Festschrift für Peters, S. 59. Dies wurde erst geändert durch Art. 4 der Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpen- und Donau-Reichsgaue vom 29. 5. 1943, RGBl. I, S. 341. Vgl. Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 48, [Entstehungsgeschichte]. Nach damaliger Rechtslage war – ohne vorherige Vereidigung – eine „Vernehmung“ rechtlich nicht möglich. Die Vereidigung war konstituierende Voraussetzung für die (dogmatische) Existenz einer „Vernehmung“ – ein aliud zur vorliegend untersuchten Konstellation. 182 Betreffend das Institut des Augenscheinsbeweises ist dieses Ergebnis auch eindeutig. So wird ersichtlich nicht vertreten, dass Angeklagte oder Zeugen die Möglichkeit hätten, „bestimmte“ Augenscheinseinnahmen seitens des Gerichts durch eine Ausübung bestimmter prozessualer Rechte zu unterbinden.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

IV. Zusammenfassung So begründen weder die Vorschriften der §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO oder die Mitwirkungsfreiheit des Angeklagten noch die Vorschriften der §§ 52, 81 Abs. 3 Satz 1 StPO in Verbindung mit dem Gebot förmlicher Beweiserhebung formale Erhebungsschranken. Mit anderen Worten vermag weder der Angeklagte noch der Zeuge mit der „bloßen Ausübung“ jener Rechte formell-rechtliche Grenzen für Experiment-Konstellationen zu begründen. Ob eine Erhebung von Beweisen in Form von Experiment-Konstellationen zulässig ist, kann sich – wie auch die Frage der Verwertbarkeit zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen – lediglich aus dem materiell-rechtlichen Gehalt der Rechtssätze der Strafprozessordnung oder jenen des Verfassungsrechts ergeben.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ und seine Ausprägungen in §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO und der Mitwirkungsfreiheit Nachdem die Vorschrift des § 136a StPO betreffend nonverbale Verhaltensweisen keine Schrankenqualität aufzuweisen vermochte, ist es im Folgenden der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“, welcher der Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung entgegenstehen könnte. Ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen, so ist der Gedanke an unfreiwillige Selbstbelastungen – etwa im Wege unbewusst oder physisch unkontrollierbarer „Lügensymptome“ – nicht fernliegend. Klärungsbedürftig wird sein, ob ExperimentKonstellationen – welchen partiell183 eine (erlaubte) Zwangswirkung nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO bescheinigt wurde184 – auch vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes zulässig sind und ferner ob möglicherweise schon die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen – etwa beim schweigenden Angeklagten185 – untersagt ist.

183 Soweit sich jene als Wissenszugriff gerieren, da anderenfalls § 136a StPO schlicht keine Anwendung fände. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. I. 184 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b). 185 Insbesondere zu diesem Gesichtspunkt hat sich im Schrifttum ein umfassender Streitstand entwickelt, welchen es aufzuarbeiten und zu bewerten gilt. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b).

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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I. Von der Genese, den Rechtsgrundlagen und der Rechtsnatur des nemo tenetur-Grundsatzes Die präzise Konturierung von Schutzgewährleistungen eines nicht unmittelbar niedergeschriebenen Rechtssatzes vermag – im Geiste des Positivismus – methodisch nur im Wege der Bestimmung von Rechtsgrundlage und Rechtsnatur zu erfolgen.186 Obligatorisch ist folglich – neben einer kursorischen Betrachtung der Genese – die Ermittlung von Rechtsgrundlage und Rechtsnatur des nemo teneturGrundsatzes in seiner heutigen Form. 1. Erste Ansätze im talmudischen und kanonischen Recht Die ersten Erwähnungen dieses – „altehrwürdigen“ – Grundsatzes gehen auf das talmudische (jüdische) Recht zurück187 – so heißt es im Talmud188: „Jeder steht sich nahe und macht sich selbst nicht zum Frevler“.189 Auch wenn die im Talmud enthaltenen Auslegungen primär auf der erst später niedergeschriebenen sogenannten „mündlichen Lehre“ beruhen, hat die hier zitierte Deutung ihren Ursprung im Fünften Buch Mose, Kapitel 17, Vers 6 – wo es heißt: „Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist, aber auf nur eines Zeugen Mund soll er [der Angeklagte] nicht sterben“.190 Die Parallelität zum nemo tenetur-Gedanken offenbare sich, wenn nun Vers 6 in Verbindung mit Vers 7 gelesen wird, so sind es nach Letzterem nämlich jene im Zitat genannten Zeugen, welche vorrangig die (Todes-) Strafe selbst zu vollstrecken hatten – e contrario könne damit nicht der Angeklagte gemeint sein.191 Diese Verse aus der Schrift lesen sich eher als Beweisregel, denn als 186 Wenn etwa Verrel, NStZ 1997, S. 361 (364) von einer „Überschätzung“ der Herleitung und grundrechtlichen Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes spricht, verbleibt dies unverständlich; gerade vor dem Hintergrund, dass in Experiment-Konstellationen eine (grundsätzlich erlaubte) Zwangswirkung erblickt wurde, ist es maßgeblich, die grundrechtliche Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes zu klären, denn nur auf diesem Wege vermag – deduktiv – beurteilt zu werden, ob generell jeder (Mitwirkungs-)Zwang oder nur bestimmte „Arten“ von (Mitwirkungs-)Zwang untersagt sind. 187 Vgl. insoweit die umfassenden Erläuterungen bei Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 67 ff., die auch für nachfolgende Ausführungen noch richtungsleitend gewesen sind. 188 Der Talmud ist eine Sammlung von jüdischen Religionsgesetzen für sämtliche Lebensbereiche, welche sich einerseits aus der Verschriftlichung der „mündlichen Lehre“ – der sogenannten Mischna – und andererseits aus deren Diskussion – der sogenannten Gemara – ergibt. Bei der „mündlichen Lehre“ handelt es sich – dem jüdischen Glauben nach – um das (mündliche) Wort Gottes, welches Mose neben der Torah von Gott am Sinai erhalten hat. 189 Talmud Synhedrin I Fol. 9 Col. b – abgedruckt bei Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Band 8, S. 495. 190 Vgl. zu dieser Annahme Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 67. 191 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 68. Zugleich kann darin auch eine frühe Ausprägung des Grundsatzes „nemo testis in re sua“ gesehen werden. Vgl. Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor §§ 133, Rn. 63 [Fn. 131].

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

nemo tenetur-Garantie, gleichwohl wurde in jenen seitens talmudischer Rechtsgelehrter die „Rechtfertigung“ erblickt, ein Geständnis – also eine Selbstbelastung – des Angeklagten (selbst in Verbindung mit einem weiteren Zeugen) generell als unzulässig zurückzuweisen.192 Die Existenz dessen wurde im talmudischen Recht mit Verweis auf weitere Quellen in der Schrift begründet193 und so sei konstatiert, dass damit bereits zu dieser frühen Zeit ein relativ extensiver – nämlich ein Geständnis ausschließender – nemo tenetur-Grundsatz als allgemeiner Rechtsgrundsatz existent war.194 Auch im kanonischen Recht, welchem in seinen Anfängen ein akkusatorisches Verfahren zugrunde lag,195 existierten ab dem 5. Jahrhundert Ansätze, welche den Schutz des Angeklagten vor Selbstüberführung proklamierten und so für einen – sehr umfassenden, mit dem heutigen Verständnis vergleichbaren – nemo teneturGrundsatz „eintraten“.196 Dies sollte sich ändern. Beseelt von den Ideen des Thomas von Aquin entwickelte sich ab dem 13. Jahrhundert die unbedingte Wahrheitspflicht des Angeklagten gegenüber dem Richter als ganz herrschende Doktrin kanonischen Rechts, wonach jener zur „reinen Wahrheit“ und somit auch zur Selbstbelastung verpflichtet war.197 Diese Verpflichtung zur wahren Aussage bestand indes nur betreffend die angeklagte Tat, zu weitergehenden (Selbst-)Offenbarungen war der Angeklagte ausdrücklich nicht gezwungen.198 Es entwickelte sich mithin ein ge-

192 Das Geständnis des Angeklagten unterlag damit – nach heutiger Diktion – einem Beweisverwertungsverbot. Dies galt indes lediglich in Strafsachen, während in Zivilsachen einem Geständnis ein erheblicher Beweiswert zukam. Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 68. 193 So schließt etwa das Fünfte Buch Mose Kapitel 24, Vers 16 die Zeugnispflicht gegenüber Angehörigen aus, was sodann a maiore ad minus auch für das Zeugnis (Geständnis) gegen sich selbst zu gelten habe. Vgl. Talmud Synhedrin 27 Fol. 27 Col. b und Fol. 28 Col. a [Fn. 127] – abgedruckt bei Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Band 8, S. 566. Dort wird auf „Dt. 24, 16“ verwiesen, also auf „Deuteronomium“, also auf das Fünfte Buch des Pentateuchs, was in evangelischen Bibelübersetzungen als das Fünfte Buch Mose bezeichnet wird. Vgl. hierzu ferner Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 69. Des Weiteren wird auf die fehlende Verfügungsbefugnis des Menschen über sein eigenes Leben verwiesen, denn nach Hesekiel Kapitel 18, Vers 4 gehöre der Mensch schlicht Gott und dürfe sich daher (zumindest, wenn sein Leben auf dem Spiel steht) nicht gegen sich selbst stellen – und erst Recht nicht dazu gezwungen werden. Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 69 [auch Fn. 19]. 194 Vgl. zur Annahme des Ursprungs in der Heiligen Schrift Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 69. 195 Vgl. Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 36. 196 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 70. 197 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 70 f. sowie Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 36. 198 Was nicht angeklagt war, musste indes nicht offenbart werden. Vgl. zu den unterschiedlichen Auffassungen betreffend die Einleitung des Strafverfahrens zwischen weltlichen und kirchlichen Gerichten Erdmann, Die Ausdehnung der strafprozessualen Garantien der USBundesverfassung auf den Strafprozeß der Einzelstaaten, S. 127.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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wandelter,199 jedoch weit restriktiverer nemo tenetur-Grundsatz, welcher mit dem Entstehen einer „neuen Verfahrensart“ schließlich zur Makulatur erklärt werden sollte. So wurde, ebenfalls ab dem 13. Jahrhundert, das bisherige Akkusationsverfahren – accusatio – durch das Inquisitionsverfahren – inquisitio – sukzessive abgelöst.200 Jener neue Verfahrenstypus beseitigte zwar die, sich als unbrauchbar erwiesenen, „Gottesurteile“ und „Reinigungseide“, etablierte indessen den „Offizialeid“ – de veritate dicenda – wonach der Beschuldigte schwören musste, die Fragen des Inquirenten wahrheitsgemäß zu beantworten.201 Diese Fragen waren indes auf keinen Anklagegegenstand beschränkt, sodass selbst die restriktivsten Ansätze eines nemo tenetur-Gedankens, lediglich das Unbekannte nicht offenbaren zu müssen, praktisch ohne Anwendungsbereich verblieben – eine Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten war im Inquisitionsverfahren des kanonischen Rechts ipso facto nicht existent.202 2. Die Entwicklung in Deutschland zum Verfassungsgewohnheitsrecht Ab dem späten 13. Jahrhundert setzte die Rezeption dieses – ursprünglich als innerkirchliches Straf- und Disziplinarverfahren ausgestalteten – Inquisitionsverfahrens durch weltliche Rechtsordnungen ein,203 wodurch sich jene „neue Verfahrensart“ in den kontinental-europäischen Staaten204 und somit auch in „Deutschland“205 ausbreitete. Die Gründe für jene Rezeption liegen in der erkannten „Kompatibilität“ des Inquisitionsverfahrens mit den überwiegend absolutistisch geprägten Staatsformen der damaligen Zeit; so erblickte die Obrigkeit schnell die Tauglichkeit dieses „neuen Strafverfahrens“, welches ohne Anklage auskam,206 zur Verfolgung politischer Gegner. Nachdem sodann auch im römischen Recht Nachweise für die Existenz jenes inquisitorischen Verfahrens gefunden wurden – in rei veritatem in-

199 Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 71 formuliert unter Verweis auf Levy, Origins of the fifth amendment, S. 96: „Licet ,nemo tenetur‘ seipsum prodere, tamen proditus per famam tenetur seipsum ostendere utrum possit suam innocentiam ostendere et seipsum purgare.“ Und jener verweist darauf, dass unter „prodere“ nur das „Offenbaren des Unbekannten“ [beides im Original in Anführungszeichen] verstanden wurde. 200 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 71; Walder, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 36 f. Vgl. ferner Eb. Schmidt, NJW 1969, S. 1137 (1138). 201 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 71 f. 202 Erst ab dem Jahre 1725 ist für das kanonische Recht ein Wandel erkennbar; so verbat Papst Benedikt XIII die Praxis des Offizialeides. 203 Vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, S. 7. 204 In England war ausgehend von der Magna Charta eine gänzlich andere Entwicklung zu erblicken. 205 Die Bezeichnung „Deutschland“ erfasst insoweit das Heilige Römische Reich bis 1806 sowie jene danach auf heutigem deutschem Gebiet existenten Partikularstaaten. 206 Die publica fama ersetzte die Anklage. Vgl. hierzu Meile, Die Beweislehre des kanonischen Prozesses, S. 15.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

quirere207 – war der Grundstein für die Anerkennung dieses Strafverfahrens innerhalb der weltlichen Gerichtsbarkeit gelegt. So basierten die strafrechtlichen Kodifizierungen innerhalb des deutschen Rechtsraumes auf jenem inquisitorischen Verfahren – etwa die Constitutio Criminalis Bambergensis aus dem Jahre 1507 sowie die Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahre 1532.208 Ein nemo tenetur-Gedanke war diesem – der unbedingten Wahrheitspflicht verschriebenen – Verfahren völlig fremd und jener Gedanke damit auch in Deutschland bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts unbekannt.209 Eine wesentliche Änderung brachte erst die Aufklärung und der damit einhergehende Wandel des Staatsverständnisses:210 So verschwand allmählich die Vorstellung, dass sich der Bürger dem Staat zu unterwerfen habe, und die Proklamierung der Freiheitsrechte des Einzelnen begann. Dies legte auch den Grundstein für das Bewusstsein und die sukzessive Zurückdrängung der Entartungen des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses in den deutschen Partikularstaaten und läutete schließlich dessen Ersetzung durch „reformierte“ Strafprozessordnungen ein – ein Vorgang, welcher eng mit der Bewusstseinsentstehung für eine Selbstbelastungsfreiheit verknüpft war.211 Maßgeblich beeinflusst durch die Rezeption des englischen Strafprozesses – in welchem nemo tenetur bereits als tradierter Grundsatz anerkannt war212 – und die Französische Revolution von 1830213 verschwand auch in Deutschland die (erzwingbare) Pflicht zur wahrheitsgemäßen Auskunft des Angeklagten:214 Im Entwurf der Bayerischen Strafprozessordnung von 1831 wird das 207

Vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, S. 50. Für die Constitutio Criminalis Carolina ist festzustellen, dass jene sowohl ein inquisitorisches als auch ein akkusatorisches Verfahren kannte, wobei auch Letzteres inquisitorische Elemente enthielt, sodass im Grundsatze durchaus von einem inquisitorischen Verfahren gesprochen werden kann. 209 Vgl. zu dieser Schlussfolgerung bereits Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 87. 210 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 89. 211 Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 100; Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 31. 212 Bereits im Jahre 1568 berief sich ein Gericht auf den Satz „nemo tenetur seipsum prodere“ [im Original in Anführungszeichen]. Mit der Abschaffung der sog. Prerogative Courts im Jahre 1641 entwickelte sich das Verfahren vor den (sodann ausschließlich existenten) sog. Common Law Courts sukzessive hin zur Anerkennung der Aussagefreiheit des Angeklagten, was maßgeblich durch eine Entscheidung des House of Lords zu Gunsten von John Lilburne aus dem Jahre 1646 unterstützt wurde, in welcher das House of Lords einen Verstoß gegen die Aussagefreiheit als einen solchen gegen „Law of the land and Magna Charta“ qualifizierte. Ab dem Jahre 1679 konnten sich fortan auch Zeugen auf den nemo tenetur-Grundsatz berufen. Ein Gesetz aus dem Jahre 1848 verpflichtete den Richter sodann, den Angeklagten auf sein Schweigerecht hinzuweisen. Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 77 ff., 79, 81 welcher John Lilburne als „Begründer unseres heutigen Nemo-tenetur-Prinzips“ bezeichnet. 213 Gemeint ist die Juli-Revolution von 1830, auch genannt: „Les Trois Glorieuses“. 214 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 94. 208

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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„Bewußtsein der Schuld“ als „trauriges Eigentum des Schuldigen“ bezeichnet und im Entwurf der Badischen Strafprozessordnung von 1835 heißt es, dass der Angeklagte im Falle des Schweigens „manche Verteidigungsgründe zu verlieren“ droht; was einen gewaltigen Fortschritt gegenüber einer erzwingbaren Mitwirkungspflicht begründete. Mit der Bürgerlichen Revolution von 1848 fand der Inquisitionsprozess sein Ende. So heißt es in Art. X § 179 der Verfassung vom 28. März 1849: „In Strafsachen gilt der Anklageprozess“215 – ein Ansatz, welcher sich mittlerweile auch in den Deutschen Partikularstaaten durchgesetzt hatte. Nun war zwar noch Uneinigkeit betreffend die konkrete Ausgestaltung jenes neuen Anklageprozesses vorherrschend,216 ein „reformiertes“ Verständnis der prozessualen Stellung des Angeklagten hatte sich aber bereits etabliert; so bestand Einigkeit, dass jede Zwangsausübung zur Erlangung einer Aussage unzulässig sei.217 Obgleich eine positiv-rechtliche Ausgestaltung jenes nemo tenetur-Gedankens – etwa in der Braunschweigischen Strafprozessordnung von 1849218 – die Ausnahme bleiben sollte und die dogmatische Verortung teilweise im Anklagegrundsatz selbst,219 teilweise in der Unschuldsvermutung (als Konsequenz der Beweispflicht des Anklägers) gesehen wurde,220 hatte sich nemo tenetur zur Zeit der Entstehung der Reichsjustizgesetze als anerkannte221 Maxime herausgebildet.222 In den Motiven zur Reichsstrafprozessordnung von 1877 heißt es, dass der Angeklagte nicht gezwungen werden soll, an seiner eigenen Überführung beizutragen. So wurde etwa in den Beratungen die Änderung beantragt, folgende Formulierung einzufügen: „Demnächst ist der Beschuldigte zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern

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Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 96. Die eine Ansicht favorisierte ein Anklageverfahren nach englischem Vorbild, also eine Kombination von Anklageverfahren und Verhandlungsgrundsatz, worin das Gericht lediglich die Aufgabe hatte, die vorgebrachten Beweise zu würdigen. Die andere Ansicht favorisierte ein Anklageverfahren nach französischem Vorbild, also eine Kombination von Anklageverfahren und Inquisitionsgrundsatz, wonach das Gericht nach Anklageerhebung eigene Untersuchungen von Amts wegen anstellte. Vgl. hierzu Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 99 [Fn. 349] sowie Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, S. 49 ff. 217 Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 99 sowie Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 146 f., welcher formuliert: „Sie stand als solche gar nicht mehr zur Diskussion.“ 218 Vgl. § 43 Braunschweigische StPO 1849: „In dem ersten Verhöre, welches mit dem Angeklagten in der Voruntersuchung angestellt wird, hat der Untersuchungsrichter demselben vor weiterer Verhandlung zu eröffnen, daß er zu keiner Antwort oder Erklärung auf die ihm vorzulegenden Fragen gehalten sei.“ Abgedruckt bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 704. 219 Vgl. die Ausführungen bei Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 100 sowie Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, S. 60. 220 So etwa Mittermaier, Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren, S. 287. 221 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 101 ff., 103. 222 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 94. 216

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

wolle“.223 Auch wurde gefordert, dass „der [bestehende] Grundsatz: „Nemo tenetur se accusare“ deutlich zum Ausdruck gebracht werden [müsse], [da] ja auch der Zeuge berechtigt [sei], aus Rücksichten der Pietät oder, um sich nicht selbst anklagen zu müssen, sich der Zeugenschaft zu entschlagen“.224 Zu Zeiten der Reichsstrafprozessordnung225 war der nemo tenetur-Grundsatz – dergestalt, „daß der Beschuldigte nicht verpflichtet sei, seinerseits zur Feststellung der Wahrheit beizutragen“226 – jedenfalls so herrschend als ein (dem einfachen Recht) übergeordnetes Rechtsprinzip anerkannt,227 dass jener – vermöge entsprechender Rechtsanwendungsübung228 – seiner Rechtsnatur nach als (seiner Zeit geltendes) Verfassungsgewohnheitsrecht qualifiziert werden kann. 3. Zur positiv-rechtlichen Neuverortung des nemo tenetur-Grundsatzes Bedeutsam für die Reichweitenbestimmung der Schutzbereichsgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes – dessen Fortbestehen präsumiert sei – sind indes nur die „aktuelle“ Rechtsnatur sowie die Rechtsgrundlagen jenes Grundsatzes. Insoweit sei zunächst konstatiert, dass die Vorschriften der Strafprozessordnung – respektive §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO und § 55 Abs. 1 Alt. 1 StPO – zwar von der Existenz jenes nemo tenetur-Grundsatzes ausgehen, jenen indes nicht positiv-rechtlich konstituieren.229 Letzteres offenbart sich für die Vorschrift des § 55 StPO schon aus dem Umstand, dass jene Vorschrift weit jünger ist als der Gedanke des „nemo tenetur se ipsum accusare“ existent.230 223 Protokolle der Kommission (Erste Lesung) bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 701. So bereits Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 101. 224 Protokolle der Kommission (Erste Lesung) bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 701. So bereits Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 101. 225 Wobei die Zeit zwischen 1933 und 1945 freilich auch für den nemo tenetur-Grundsatz eine gewisse Zäsur mit sich brachte. 226 Abgeordneter Schwarze, bei Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 701 f. So auch bereits Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 102. 227 In diese Richtung ferner auch Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 146 sowie Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 1. 228 In der Judikatur des Reichsgerichts wird die Existenz des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“ beziehungsweise einer „Selbstbelastungsfreiheit“ als selbstverständlich anerkannt. Vgl. RGSt 60, S. 101 (102 f.) oder RGSt 63, S. 233 (236 f.), wo es heißt: „In der Tat beruht auch jene Judikatur des Reichsgerichts nicht auf Erwägungen der erwähnten Art, sondern auf der Anerkennung des natürlichen Rechts jedes Straftäters zur Selbstverteidigung […]“. Einer gesonderten Erklärung betreffend die Existenz blieb das Reichsgericht schuldig. Der Grund hierfür wird in der Selbstverständlichkeit dessen zu erblicken sein. 229 Vgl. Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 136, Rn. 25. 230 So wurde die Vorschrift des § 55 StPO erst mit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. September 1950, BGBl. I, S. 455 eingeführt.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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a) Ableitung aus Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EMRK Auch in der völkerrechtlichen Vorschrift des Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR231 aus dem Jahre 1976 vermag allenfalls eine partielle Verortung des nemo teneturGedankens erblickt zu werden. Der Wortlaut – „Not to be compelled to testify against himself or to confess guilt“ – offenbart zwar, dass hierin die Schutzgewährleistung vor Zwang enthalten ist, „auszusagen“ oder sich „schuldig zu bekennen“, dies bleibt indes signifikant hinter dem zurück, was bei Entstehung der Reichsstrafprozessordnung als Verfassungsgewohnheitsrecht bereits anerkannt war. Eine generelle „Selbstbelastungsfreiheit“ – im Sinne einer Mitwirkungsfreiheit232 – wird von Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR nämlich nicht konstituiert.233 Ähnlich verhält es sich betreffend die Vorschriften der Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EMRK aus dem Jahre 1952. So entspricht es zwar einerseits der herrschenden Auffassung, dass der (mittlerweile) in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK normierte Fair trial-Grundsatz auch eine Selbstbelastungsfreiheit beinhaltet,234 andererseits aber auch, dass ein Verstoß gegen jenen Grundsatz erst gegeben ist, wenn sich das Strafverfahren in seiner Gesamtheit als unfair darstellt235 und entsprechend erst dann Rechtsfolgen zeitigt. Auch eingedenk des Umstandes, dass die Annahme einer solchen Verortung, die Selbstbelastungsfreiheit „gefährlich“ nahe an eine Abwä231 In Deutschland steht diese Vorschrift nach Art. 25 Abs. 1, 2 GG im Range eines – vermöge der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes qualifizierten – Bundesgesetzes. Bedenken bezüglich der Geltung unter anderem bei Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 25. 232 Etwa der Zwang zur Mitwirkung zur Erlangung von Sachbeweisen; wofür heutzutage exemplarisch auf die Mitwirkung bei einem Atemalkoholtest verwiesen werden könnte. 233 Dies bemerkend auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 25 f., welcher einer entsprechenden Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes ablehnend gegenübersteht. So bleibe der in Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR „garantierte Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung damit deutlich hinter dem in Deutschland innerstaatlich gewährleisteten Rechtsumfang zurück und kann nur als Argument für einen Minimalgehalt, nicht jedoch zur Bestimmung der Grenzen des nemo tenetur-Grundsatzes angeführt werden.“ Diese Feststellung ist zwar de facto absolut zutreffend, nur geriert sich die Annahme, dass deshalb die Rechtsgrundlage des „nemo tenetur“ nicht in Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR zu sehen wäre, als petitio principii. Denn die Rechtsgrundlage ist maßgeblich für die Schutzgewährleistungen und nicht Letztere für die Rechtsgrundlage. Eine positive Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes in Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR indes bejahend Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 116 ff., 124; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor § 133 ff., Rn. 75. 234 BVerfGE 56, S. 37 (45); EGMR, NJW 2002, S. 499 (501); EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3122); EGMR, NJW 2010, S. 213 f. (216); Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 27; Bottke, DAR 1980, S. 238 (240); Lohse/Jakobs, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 50; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 131; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 1. 235 BVerfGE 130, S. 1 (25 f.); 133, S. 168 (200); Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 27; Lohse/Jakobs, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 44. Vgl. auch Valerius, in: BeckOK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 16.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

gungsoffenheit brächte,236 dürften die in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK „enthaltenen“ Elemente einer Selbstbelastungsfreiheit strukturell hinter den Gewährleistungen dessen zurückbleiben, was bereits herrschend vorausgesetzt wurde. Obgleich die entstehungsgeschichtliche „Verwandtschaft“ anerkennend,237 vermag in der von Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährleisteten Unschuldsvermutung ebenso wenig die Rechtsgrundlage für den nemo tenetur-Grundsatz erblickt werden.238 Jene Maxime – den Angeklagten bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig „zu vermuten“ – ist vielmehr als Plädoyer an den Richter gegen jede „Vorverurteilungsgesinnung“ zu verstehen,239 welche sich dogmatisch auch aufrechterhalten lässt, wenn der Angeklagte innerhalb des Verfahrens zu Selbstbelastungen gezwungen würde. Das entscheidende Argument für eine Negation der Ableitung des nemo teneturGrundsatzes aus Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK ist indes ein solches rechtstheoretischer Natur: Wenn schon zu Zeiten der Reichsstrafprozessordnung ein Rechtssatz im Range von Verfassungsgewohnheitsrecht – genannt: „nemo tenetur se ipsum accusare“240 – mit den Schutzgewährleistungen einer „Selbstbelastungsfreiheit“ existent war, so kann jener Rechtssatz vor dem Hintergrund der Normenhierarchie keine positiv-rechtliche (ersetzende oder gar beschränkende241) Neuverortung durch Vorschriften des IPBPR oder die EMRK erfahren haben, jene Vorschriften bestehen im Rechtsraum der Bundesrepublik lediglich im Range eines Bundesgesetzes. In den Vorschriften der Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK könnte also nur insoweit die Grundlage des nemo tenetur-Grundsatzes erblickt werden, als jene Schutzgewährleistungen konstituieren, welche über den Umfang dessen – quasi „überschießend“ – hinausgehen, was als „Selbstbelastungsfreiheit“ schon zuvor verfassungsgewohnheitsrechtlich existent war. Das ist, entsprechend soeben erfolgter (kursorischer) Feststellungen, aber nicht ersichtlich.242

236 Der Schutz vor Selbstbelastung gelte nämlich gerade nicht absolut. Vgl. hierzu Gaede, in: Münchener-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 323; Lohse/Jakobs, in: KarlsruherKommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 50. 237 Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 93 m. w. N. 238 Anders Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 94 f.; Bottke, DAR 1980, S. 238 (240); Rüping, JR 1974, S. 135 (138). 239 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 110. Kritisch insbesondere Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 94 [Fn. 324]. 240 Wobei es auf die Terminologie nicht ankommt; maßgeblich ist lediglich der Umfang der konkreten Schutzgewährleistungen. 241 Anders etwa Puppe, GA 1978, S. 289 (299), welche aufgrund der Vorschrift des Art. 14 Abs. 3 Buchst. g) IPBPR den nemo tenetur-Grundsatz partiell begrenzt sehen will. 242 Einer genaueren Untersuchung bedurfte es nicht, denn es wird sich zeigen, dass der nemo tenetur-Grundsatz seine Verortung in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG hat und mithin aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Verfassungsidentitätsvorbehalts des Art. 79 Abs. 3 GG einer völkerrechtlichen Determinierung ohnehin entzogen ist.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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b) Ableitung aus den Rechtssätzen des Grundgesetzes Wenn der Grundsatz des nemo tenetur se ipsum accusare als Verfassungsgewohnheitsrecht anerkannt war,243 so stellt sich ab dem 24. Mai 1949 die Frage, ob sich durch Inkrafttreten des Grundgesetzes eine – sodann für erwähnte Reichweitenbestimmung maßgebliche – positiv-rechtliche „Überholung“ jenes Grundsatzes durch verfassungsrechtliche Normen ereignet hat. Methodisch ist der Weg vorgezeichnet: Es gilt die Schutzgewährleistungen relevanter Verfassungsnormen insoweit zu untersuchen,244 als jene den Gedanken einer Selbstbelastungsfreiheit beinhalten könnten – und mithin die (heutige) Rechtsgrundlage für einen nemo tenetur-Grundsatz darstellten. aa) Der nemo tenetur-Grundsatz als Ausfluss der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG Mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – ist dem pouvoir constituant eindrucksvoll die Realisierung einer „personalen Staatsidee“245 gelungen. In Abkehr vom barbarischen Kollektivismus des Dritten Reichs246 verdeutlicht die Menschenwürdegarantie nunmehr die Existenz des Staates „um des Menschen willen“ und stellt den Eigenwert des Menschen – flankiert durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG – als Höchstwertprädikat247 an die Spitze der Verfassung.248 Die als Grundrecht249 ausgestaltete Menschenwürdegarantie gilt unabwägbar und vermag dogmatisch keinem Menschen je entzogen werden.250 Aus „ihr“ resultiert als subjektiv-öffentliches Recht eine staatliche Schutzpflicht in Gestalt eines sozialen Wert- und Achtungsanspruchs. Im Bewusstsein der „exegetischen Sperrigkeit“251 des Würdebegriffs sind die Schutzgewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG am ehesten mit den Begriffen „Bewahrung der Selbstidentifikation“ sowie „Schutz des menschli-

243

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 2. Und insoweit freilich auch die Einschlägigkeit aus einer ex post-Betrachtung heraus zu präsumieren. 245 Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1, Rn. 1. 246 Die Entstehungsgeschichte, mit dem Verweis auf jene traurige Erinnerung sowie die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gebieten eine gewisse Restriktivität bei der Auslegung, welche die jüngere Judikatur teilweise vermissen lässt. 247 BVerfGE 45, S. 187 (227). Vgl. auch Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck-GG, Art. 1, Rn. 10. 248 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1, Rn. 1, 4. 249 Vgl. zum Grundrechtscharakter der Menschenwürde BVerfGE 15, S. 283 (286) und ferner dies voraussetzend BVerfGE 12, S. 113 (123); 109, S. 133 (149 f.). Ablehnend indes Dreier, in: Dreier-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 124 ff., 127. 250 Vgl. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke-GG, Art. 1, Rn. 7. 251 Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1, Rn. 33. 244

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

chen Eigenwertes“ zu umschreiben,252 wobei die (noch) herrschende Auffassung253 die Gewährleistungen – anhand der Objektformel254– vom Eingriff her zu bestimmen sucht: So verbiete es der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu degradieren oder ihn einer Behandlung zu unterziehen, welche seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt – womit der Maßstab für die folgende Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes gelegt sei. Wenn nun in jener Menschenwürdegarantie nach den Ansätzen des nemo tenetur zu „fahnden“ sei, so geriert sich jenes Vorgehen als die Suche nach dem „Unwürdigkeits-Element“ in einer zwangsweisen Selbstbelastung. Innerhalb der Judikatur255 erfolgt die „Rechtsgrundlagenbestimmung“ des nemo tenetur-Grundsatzes denkbar unpräzise: Es wird auf das Persönlichkeitsrecht, das Rechtsstaatsprinzip sowie den Grundsatz eines fairen Verfahrens abgestellt, wenngleich stets flankiert von einer „Verweisung“ auf die Menschenwürde.256 Ohne explizit die Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes (einzig) in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG zu konstatieren, formulierte das Bundesverfassungsgericht schon im „Ge-

252

Vgl. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke-GG, Art. 1, Rn. 7. BVerfGE 9, S. 89 (95); 27, S. 1 (6); 28, S. 386 (391); 45, S. 187 (228); 50, S. 166 (175); 87, S. 209 (228); 109, S. 133 (150); 115, S. 118 (153); 117, S. 71 (89); Herdegen, in: Maunz/ Dürig-GG, Art. 1, Rn. 36; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke-GG, Art. 1, Rn. 7; Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck-GG, Art. 1, Rn. 17. Ablehnend etwa Dreier, in: Dreier-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 55; Hoerster, JuS 1983, S. 93 (94). 254 Vgl. zur Entstehung der „Objektformel“ Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1, Rn. 36 m. w. N. 255 In BVerfGE 38, S. 105 (113) ist von einem „rechtsstaatlichen Grundsatz“ die Rede. In BVerfGE 56, S. 37 (43, 49) wird zunächst auf Quellen aus dem Schrifttum verwiesen, wonach die Selbstbelastungsfreiheit „eine durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG gebotene Wertentscheidung zugunsten des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten“ ist, um sogleich an anderer Stelle – neben dem Verweis auf die „Würde des Menschen“ – zu formulieren: „Insoweit gewährt Art. 2 Abs. 1 GG als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe einen Schutz, der alter und bewährter Rechtstradition entspricht.“ Sodann sei die Selbstbelastungsfreiheit nach BVerfGE 133, S. 168 (201) „notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung“ und zugleich „im Rechtsstaatsprinzip verankert“. Auch in BVerfG, NJW 2002, S. 1411 (1412) wird für die Unvereinbarkeit einer Aussagepflicht des Zeugen bei drohender Selbstbelastung zunächst auf die „Menschenwürde“ verwiesen, um an späterer Stelle, die Selbstbelastungsfreiheit als von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt zu bezeichnen. In BGHSt 38, S. 263 (266) heißt es: „Der Grundsatz, daß niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, also ein Schweigerecht hat, entspricht der Menschenwürde, schützt das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten und ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens.“ Nach BGHSt 58, S. 301 (304), sei die Selbstbelastungsfreiheit Bestandteil der „Grundprinzipien eines rechtstaatlichen Strafverfahrens“ und zudem „verfassungsrechtlich abgesichert durch die gemäß Art. 1, 2 Abs. 1 GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und […] gehört zum Kernbereich des von Art. 6 MRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren.“ 256 BVerfGE 38, S. 263 (266); 55, S. 144 (150); 56, S. 37 (43, 49); 95, S. 220 (241 f.); 133, S. 168 (201); BVerfG, NJW 2002, S. 1411 (1412). 253

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

153

meinschuldner-Beschluss“257, dass „ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen“ unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre258 und folgt dem bis heute.259 So müsse der Zwiespalt, in den ein solcher Zwang den Einzelnen führt, vor dem Hintergrund der Menschenwürde unterbleiben.260 Auch der Bundesgerichtshof261 verknüpft in ständiger Judikatur das Schweigerecht mit der Achtung vor der Menschenwürde. Während der Judikatur – den Menschenwürdebezug herrschend anerkennend262 – gewiss eine „verortungstechnische“ Unschärfe unterstellt werden kann und auch die Begründungen eher spartanisch anmuten,263 finden sich im Schrifttum264 indes einige Stimmen, welche sehr viel präziser für eine Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes unmittelbar aus der Menschenwürde plädieren. (1) Von naturrechtlichen Ansätzen und Zumutbarkeitserwägungen Als Ausgangspunkt werden vielfach naturrechtliche Erwägungen herangezogen. So widerspräche es den inneren psychologischen Grenzen des Selbsterhaltungstriebes, an der eigenen Verurteilung mitzuwirken,265 sodass ein hierauf gerichteter 257 258

(150). 259

BVerfGE 56, S. 37 ff. – „Gemeinschuldner-Beschluss“. BVerfGE 56, S. 37 (49). So auch schon zuvor BVerfGE 38, S. 105 (113 f.); 55, S. 144

BVerfGE 95, S. 220 (242); 113, S. 168 (201). BVerfGE 95, S. 220 (242). 261 BGHSt 38, S. 214 (220); 38, S. 263 (266); 58, S. 301 (304). 262 Hieran ändern auch Versuche des Schrifttums nichts, der Judikatur lakonisch eine (ausschließliche) „Verortungsannahme“ in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG zu unterstellen. In sämtlichen Entscheidungen findet sich ein Verweis auf die Menschenwürde, indes ohne, dass jene (oder andere Grundrechte oder Verfassungsprinzipien) – in expressis verbis – als unmittelbare Grundlage oder Ursprung bezeichnet worden wären. Die Intention für jene Verortung des „nemo tenetur se ipsum accusare“ in einem grundgesetzlichen „Normenkonvolut“ unter stetiger (mittelbarer) Bezugnahme auf die Menschenwürde, dürfte rechtspolitischem Opportunismus geschuldet sein. „Man will sich, um der Abwägungsfestigkeit willen, die (zukünftigen) Optionen offenhalten“ und nichts „taugte“ besser, als die (leidigen) Sphärenzuweisungen im Rahmen der Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts. 263 Es wird lediglich am Rande auf Kriterien wie den Selbsterhaltungstrieb und die Zumutbarkeit als Begründung für die Menschenwürderelevanz verwiesen. Vgl. etwa BGHSt 11, S. 356 oder BVerfGE 56, S. 37 (49). 264 Eb. Schmidt, NJW 1969, S. 1137 (1139); Habscheid, in: Festschrift für H. Peters, S. 840 (871); Kunert, MDR 1967, S. 539; Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur, S. 128; Welzel, JZ 1958, S. 494 (496). Wohl auch Stürner, NJW 1981, S. 1757, welcher zwar auf Art. 2 Abs. 1 GG verweist, allerdings auch die Menschenwürde als „wesentliches inhaltliches Kriterium“ sehen will. 265 Vgl. BGHSt 11, S. 353 (356), welcher im Zusammenhang mit „nemo tenetur“ vom „Recht auf Selbstschutz“ spricht. Vgl. ferner Eb. Schmidt, NJW 1969, S. 1137 (1139); Welzel, JZ 1958, S. 494 (496). In diese Richtung argumentierend auch Hassemer, in: Festschrift für Maihofer, S. 183 (184 f., 203 f.). Ähnlich auch Rüping, JR 1974, S. 135 (137 f.). So spricht Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (257) von einer „Negierung seiner Selbstzwecklichkeit“. 260

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

staatlicher Zwang – als eine Verkennung jenes „naturrechtlich Unverfügbaren“ – stets würdeverletzenden Charakter aufweise. Berechtigterweise ist diese argumentatio auf Kritik gestoßen,266 denn prima facie bedingt jene die Annahme der Existenz überpositiven Rechts und selbst wenn man dem folgen wollte,267 so ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG aus gutem Grunde nicht als „verfassungsrechtliche Einbruchstelle“ für naturrechtliche Vorstellungen anzusehen, denn damit wäre die Begriffsunterlegung der Menschenwürdegarantie einer überpositiven Normativität überantwortet, mithin der juristischen Hermeneutik entzogen.268 Wesensverwandt269 erscheinen jene Ansätze270, welche unter Verweis auf den Gedanken der (Un-)Zumutbarkeit, im Zwang zu Selbstbelastungen einen Würdeverstoß zu erblicken gedenken. So sei in jenen Konstellationen die Selbstbelastung, also das jedenfalls mittelbare Eingestehen des Tatunrechts, Resultat erheblicher – unzumutbarer – Selbstüberwindungskräfte.271 Nicht zu Unrecht verweist Bosch272 auf eine sodann – folgerichtig – anzunehmende Bedingtheit der Selbstbelastungsfreiheit vom jeweiligen Belastungsgrade (des Gezwungenen). Dessen weitere Argumentation, dass nemo tenetur auch im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenverfahrens Geltung beanspruche, bei einem geringen Bußgeld aber wohl kaum „unzumutbare Selbstüberwindungskräfte“ aufträten, lenkt den Fokus auf die richtige Problematik: (Un-)Zumutbarkeitserwägungen gerieren sich stets als Verhältnismäßigkeitserwägungen. Zieht man nun den Allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heran – wie ihn das Grundgesetz als notwendiges Korrelat zum Gesetzesvorbehalt als autonomen Rechtssatz mit Verfassungsrang anerkennt273 –, so stellt man fest, dass das „dortige Vorgehen“ im Sinne einer Güter- und Interessenabwägung strukturell ungeeignet ist, die Schutzgewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG zu konkretisieren. Die Frage nach der „Reichweite“ des sozialen Wert- und Achtungsanspruchs des Menschen steht in keinem irgendwie gearteten Kausalnexus zu 266 Vgl. insbesondere Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 32 ff. Ferner Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 145. 267 Was jedenfalls seitens des Verfassers abgelehnt wird. 268 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 19; ders., in: Festschrift für Isensee, S. 135 (136). Ferner Badura, JZ 1964, S. 337 (340 f.) und Nettesheim, AöR 130 (2005), S. 71 ff. (91). 269 Zu Recht erblickt Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 37 eine Verbundenheit zwischen Naturrechts- und Zumutbarkeitsansätzen. 270 Vgl. Günther, GA 1978, S. 193 (194); Ulsenheimer, GA 1972, S. 1 (14 f.); Verrel, NStZ 1997, S. 415 (417). Vgl. ferner Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur, S. 54. Auch in BVerfGE 56, S. 37 (49) wird auf die „Unzumutbarkeit“ Bezug genommen, dieser Gedanke indes nicht weiter erläutert. 271 Günther, GA 1978, S. 193 (194). 272 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 33. 273 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt insoweit aus den Grundrechten als jener als Grenze der Einschränkung grundrechtlich verbürgter Freiheitsrechte fungiert. Darüber hinaus folgt jener aus dem Rechtsstaatsprinzip. Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 20, Rn. 108 und ferner BVerfGE 7, S. 377 (404 ff.); 19, S. 342 ff. (349).

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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(quantitativen) Abwägungsgesichtspunkten274 – der personale Eigenwert des Menschen ist gerade nicht abwägbar. (2) Vom Zwang zur Selbstbelastung als unzulässige Objektivierung subjektiven Rechts Will man das Grundrecht der Menschenwürdegarantie richtigerweise aus sich selbst heraus positiv-rechtlich interpretieren,275 so wird sich die Reichweite der Schutzgewährleistungen methodisch als eine Wertungsfrage gerieren, welche mit einer Falltypenbildung nach Tatbestandsgruppen zu beantworten sein wird.276 Prima facie ist auf jene – erwähnte, herrschende277 – „Objektformel“ zu rekurrieren, welche nach dem Bundesverfassungsgericht eben zumindest die „Richtung“ eines Würdeverstoßes anzudeuten geeignet ist.278 Begibt man sich nun „auf die Suche“, inwieweit der Zwang, sich selbst zu belasten, den betroffenen Menschen als Objekt, respektive als vertretbare Größe herabwürdigt, so stößt man in Judikatur und Schrifttum unweigerlich auf einen „Instrumentalisierungs-Gedanken“: Den Mund des Betroffenen zwangsweise gegen ihn selbst sprechen zu lassen, konstituiere eine besondere Funktionalisierung des Menschen durch den Staat279 und degradiere jenen auf etwas „Untermenschliches“, nämlich ein Objekt. Das ist überzeugend, indes im Schrifttum häufig in toto missverstanden und in der Folge kritisiert worden. Am Anfang steht hier die vergleichende und zugleich fehlerhafte Verweisung auf die Eingriffsbefugnisse der Strafprozessordnung zur Erlangung von Sachbeweisen. So sei der Adressat der Maßnahmen nach §§ 81 ff. StPO stets „Objekt“ und werde insoweit – notwendigerweise zur „Passivität“ genötigt – für das Strafverfahren instrumentalisiert;280 womit sich zugleich der strukturelle Widerspruch zwischen verbotener passiver „Objektsmachung“ und dem herr274

quenz. 275

Bei Anerkennung des Unabwägbarkeitsdogmas des Art. 1 GG eine logische Konse-

Vgl. Schmidt-Jortzig, in: Festschrift für Isensee, S. 491 (496) sowie mit umfassender Darstellung Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 20. 276 Vgl. zu diesem Vorgehen Badura, JZ 1964, S. 337 (341) und ihm folgend sodann Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 143. 277 Vgl. BVerfGE 9, S. 89 (95); 27, S. 1 (6); 28, S. 386 (391); 45, S. 187 (228); 50, S. 166 (175); 87, S. 209 (228); 109, S. 133 (150); 115, S. 118 (153); 117, S. 71 (89); Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1, Rn. 36; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke-GG, Art. 1, Rn. 7; Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck-GG, Art. 1, Rn. 17. Ablehnend etwa Dreier, in: Dreier-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 55; Hoerster, JuS 1983, S. 93 (94). 278 BVerfGE 30, S. 1 (25 f.); 45, S. 187 (228). 279 Vgl. Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, S. 132; Rogall, in: SKStPO, Vor § 133, Rn. 132. 280 Vgl. Neumann, in: Festschrift für Wolff, S. 373 (381 ff.). Diese Argumentation findet sich auch bei Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 39 und Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I Grundgesetz, S. 79. Vgl. ferner auch Niese, ZStW 63 (1951), S. 199 (219).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

schenden281 Aktivitäts-/Passivitäts-Dogma des nemo tenetur-Grundsatzes offenbare.282 Der auch hier bestehende Zwang zur Duldung, also quasi zur Passivität, verbleibt logisch unbestreitbar, ist aber dennoch ein „Beigeschmack“, welcher jeder hoheitlichen Zwangsmaßnahme naturgemäß immanent ist. Für den Durchführungsmoment „blockiert“ eine solche Maßnahme die Ausübung einer konfligierenden Selbstentfaltung des Adressaten – indes verbleibt dessen personaler Eigenwert unberührt und dies gerade deshalb, weil die Selbstentfaltung „nur“ temporär zu seinen Lasten ausgeschaltet, nicht aber zu seinen Lasten gestaltet wird. Diese Unterscheidung liegt letztlich auch einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde, wonach die Veränderung der Haar- und Barttracht des Beschuldigten für eine Gegenüberstellung keinen Würdeverstoß begründet.283 Terminologisch ist der Beschuldigte hier freilich ein „künstlich[es] Schauobjekt“,284 nur handelt es sich dabei schlicht nicht um die Art von Objektivierung, welche von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, respektive der „Objektformel“, untersagt wäre. Daran ändert auch die „Einbeziehung“ der etwaigen Eingriffsschwere nichts. Freilich vermögen Maßnahmen nach §§ 81 ff. StPO – etwa die (unzulässige) Brechmittelvergabe285 oder Rückenmarkflüssigkeitsentnahme286 – ein Eingriffsniveau zu erreichen, welches bei normativer Betrachtung weit erheblicher erscheint als ein „bloß bußgeldbewehrter“ Mitwirkungszwang (etwa, unzulässigerweise, zur

281

Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. a). Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 40. 283 BVerfGE 47, S. 239 (247). Von Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 40 wird diese Entscheidung „herangezogen“, um die Ungeeignetheit der Objektformel zur Präzisierung des nemo tenetur-Grundsatzes aufzuzeigen, was auf eine zu formale (terminologisch fixierte) Betrachtungsweise zurückzuführen ist. Richtig ist indes, wenn jener darauf verweist, dass über „subjektive, auf den Zweck des staatlichen Handelns ausgerichtete Erwägungen [wie sie vom Bundesverfassungsgericht angestellt werden] letztlich doch eine, wenn auch verdeckte, Abwägung ermöglicht“ wird. 284 BVerfGE 47, S. 239 (245). Kritisch auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 40. 285 Die Unzulässigkeit der zwangsweisen Brechmittelvergabe ist mittlerweile überwiegend anerkannt, vgl. statt vieler Trück, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 81a, Rn. 17 m. w. N. In BVerfG, NStZ 2000, S. 96 [Nichtannahmebeschluss] heißt es, dass die Maßnahme „auch im Hinblick auf die durch Art. 1 I GG geschützte Menschenwürde und den in Art. 2 I i. V. mit 1 I GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet“, wobei Rixen, NStZ 2000, S. 381 (382) die Entscheidung – aufgrund der fehlenden Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG – zu Recht formal als „materiellverfassungsrechtliches Nullum“ sieht. In der „Jalloh-Entscheidung“ hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für den entschiedenen Fall den Einsatz von Brechmitteln als „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ qualifiziert, die Art. 3 EMRK verletze. Vgl. EGMR, NJW 2006, S. 3117 ff. (3223 f.). 286 Vgl. zur jedenfalls nicht generellen Unzulässigkeit einer Liquorentnahme BVerfGE 17, S. 108 (117 f.). 282

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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Atemalkoholkontrolle287). Nur kommt es darauf – für das Unberührtbleiben des personalen Eigenwertes jedenfalls – nicht an, so erfolgt die Grenzziehung hier grundsätzlich288 nicht entlang quantitativen – also (wieder) abwägungsdeterminierten – Mustern,289 wie exemplarisch die „Zwergenweitwurf-Problematik“ plakativ verdeutlicht.290 Rogall bringt es treffend auf den Punkt, wenn er formuliert: „Diese Meinung verkennt den prinzipiellen Unterschied, der zwischen der rechtmäßigen Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung einer rechtmäßigen Beweiserhebung (etwa nach §§ 81 ff.) und der erfolgreichen Instrumentalisierung des Beschuldigten zur Erbringung einer eigenen Überführungsleistung besteht.“291

Der Grund, weshalb (auch besonders eingriffsintensive) hoheitliche Zwangsmaßnahmen die Schutzgewährleistungen der Menschenwürde grundsätzlich292 unberührt lassen und mithin auch quantitative Ansätze – anhand des Belastungsgrades – versagen müssen, steht in strukturellem Zusammenhang mit einer weit ubiquitäreren Erwägung: So ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG im Vergleich zu den sonstigen Grundrechten in weit höherem Maße durch das Selbstverständnis des jeweiligen Normadressaten determiniert,293 was letztlich für demokratisch-legitimierte Rechtssätze – innerhalb eines parlamentarisch-repräsentativen „Systems“ – eine „Würdekonformitätsvermutung“ zu begründen hat.294 Dem potentiellen Normadressaten ist nämlich durch die Repräsentation die (mittelbare) Mitwirkung garantiert. Ohnehin ist mit Verneinung eines Würdeverstoßes (bei quantitativ hohem Belastungsgrade) keineswegs zugleich dessen Rechtmäßigkeit postuliert – jener könnte noch immer einen Verstoß gegen das Übermaßverbot begründen.

287 Anders wohl einzig Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 285, welcher eine erzwungene Mitwirkung zur Atemalkoholkontrolle nicht an „nemo tenetur“ scheitern lassen will. 288 Ausgenommen Evidenzfälle wie etwa Folter. 289 Das verkennt Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 40, wenn dieser in der Unterbringung des Beschuldigten nach § 81 StPO und der sodann folgenden Beobachtung durch einen Sachverständigen eine „deutlich“ stärkere Funktionalisierung erblicken will, als jene bei einer „als unzulässig empfundenen, mit § 95 I vergleichbaren Pflicht zur Herausgabe von Beweismitteln“ zu Tage träte. 290 Vgl. VG Neustadt, NVwZ 1993, S. 98 (99 f.) sowie Dreier, in: Dreier-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 152 mit weiteren Beispielen. 291 Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 132. Vgl. ferner ders., Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 141. 292 Ausgenommen sind „Maßnahmen“ wie Folter, welche aber auch nicht ernsthaft als Beweiserhebungsmaßnahme diskussionsfähig sind. 293 Vgl. zu diesem Gedanken in seiner Abstraktheit Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 45. 294 Letztlich folgt dies aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz in seiner Ausprägung als Respekt vor dem parlamentarischen Gesetzgeber.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Im Einklang mit der – die Objektformel konkretisierenden – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,295 wonach die „Verachtung des Personenwertes“ zum Ausdruck kommen müsse, sind für einen Würdeverstoß eben besondere qualitative Umstände zu verlangen.296 Bei einer erzwungenen Selbstbelastung im Strafverfahren gründet die Verachtung des Personenwertes spezifisch darin, dass dem Maßnahmeadressaten – in Gestaltung seiner Selbstentfaltung – ein Willensentschluss abgenötigt wird, welcher sich nach außen als ein solcher „seiner selbst gegen sich selbst“ darstellt.297 Die personale Selbstentfaltung des Adressaten – als Ausdruck des menschlichen Eigenwertes – wird eben, anders als bei bloßer Duldung, nicht lediglich ausgeschaltet, sondern funktionalisiert, in dem jene durch den hoheitlichen Zwang eine positive Gestaltung erfährt. Genau hierin ist die Verächtlichmachung als lediglich vertretbare Größe im Sinne erwähnter „Objektformel“ zu verstehen. Somit geriert sich jede Art hoheitlichen Zwanges, gerichtet auf (auch mittelbare298) Mitwirkung an der „eigenen Strafverfolgung“, als eine menschenunwürdige Objektivierung subjektiven Rechts, also als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG. bb) Von der Abwägungsfestigkeit des nemo tenetur-Grundsatzes als Konsequenz jener Verortung Die Menschenwürdegarantie – und mithin auch der in ihr verbürgte soziale Wertund Achtungsanspruch – ist ausweislich der Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG „unantastbar“. Dieser Verfassungsrechtssatz beansprucht absolute Geltung und kennt keine verfassungsimmanenten Schranken.299

295 BVerfGE 30, S. 1 (26). So heißt es dort wörtlich: „Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung‘ sein.“ 296 Auch Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 132 spricht insoweit vom Erfordernis „besonderer Umstände“ und wendet sich ersichtlich – wie schon obiges Zitat zeigt – gegen quantitative Ansätze entlang dem „äußeren“ Belastungsgrade. 297 So auch Kasiske, JuS 2014, S. 15 (17), welcher weitergehend formuliert, dass der Beschuldigte „dadurch nicht nur körperlich, sondern gerade auch als Persönlichkeit, die einem autonomen Willensentschluss fähig ist, für Verfahrenszwecke instrumentalisiert“ werde. Und genauso verhält es sich! 298 Wenn Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 39 [Fn. 65] betreffend die Verfassungsmäßigkeit des § 142 StGB auf die Argumentation in BVerfGE 16, S. 191 (194) verweist, wonach „die Rechtsordnung vom Betroffenen nur verlange, für die Folgen seines Versagens einzustehen“ und darin einen Gleichlauf zu anderen Formen eines Mitwirkungszwanges erblicken will, so ist ihm zuzustimmen. Konsequent (und richtig) wäre es, die Vorschrift des § 142 StGB als partiell – nämlich soweit die Vorstellungspflicht des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB reicht – verfassungswidrig einzustufen. So etwa auch Schünemann, DAR 1998, S. 424 (427). Vgl. zum Streitstand ferner Zopfs, in: Münchener-Kommentar-StGB, § 142, Rn. 63. 299 So die herrschende Meinung: BVerfGE 75, S. 369 (380); Herdegen, in: Maunz/DürigGG, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 73; Höfling, in: Sachs-GG, Art. 1, Rn. 10 f.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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Insoweit als aus der Menschenwürdegarantie Verbürgungen einer Selbstbelastungsfreiheit folgen, sind jene einer Güterabwägung – respektive zu Gunsten des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes einer effektiven Strafrechtspflege – entzogen, also abwägungsfest. Entsprechend obiger Feststellungen300 verbürgt die Menschenwürdegarantie einen Schutz vor „zwangsweiser Mitwirkung an der eigenen Strafverfolgung“ und zwar insoweit, als dem potenziellen Maßnahmeadressaten ein Willensentschluss abgenötigt wird, welcher sich nach außen als ein solcher „seiner selbst gegen sich selbst“ darstellt. Bei der Selbstbelastungsfreiheit – welche eben als Grundsatz des nemo tenetur se ipsum accusare firmiert – handelt es sich nach hier vertretener Auffassung mithin um einen unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden – und daher unabwägbaren – Rechtssatz von Verfassungsrang, welcher materiell-rechtlich den Charakter eines subjektiv-öffentlichen Abwehrrechts301 aufweist. cc) Zur (notwendigen) Subsidiarität weiterer Verortungsansätze Zu einem sehr ähnlichen Verständnis – betreffend die Abwägungsfestigkeit – gelangen überwiegend auch jene Ansätze, welche den nemo tenetur-Grundsatz im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG)302 zu verorten suchen. Auch wenn „jenes“ seitens des Grundgesetzes keinesfalls generell abwägungsfest ausgestaltet ist,303 wird die Abwägungsfestigkeit über Kernbereichs(Art. 1 GG) oder Wesensgehaltszuweisungen (Art. 19 Abs. 2 GG) des nemo tenetur300

Vgl. die obigen Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (2). So auch Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 135. 302 Für eine Verortung im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) plädieren Dingeldey, JA 1984, S. 407 (409); Jarass, in: Jarass/Pieroth-GG, Art. 2, Rn. 68 f.; Kühl, JuS 1986, S. 115 (117) sowie Seebode, JA 1980, S. 493 (496) und ähnlich bereits ders., MDR 1970, S. 185 f. Ähnlich spricht Kölbel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 308 ff., 313 betreffend die Verortung zwar von einem Grundrechtssauschnitt, sieht die schwerpunktmäßige Verortung indes im Persönlichkeitsrecht in der Ausprägung als Recht auf Privatheit wurzelnd. Nach Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 16 ist „nemo tenetur“ dem Kernbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuzuordnen, wobei auch jener auf das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verweist. Für eine Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes im Recht auf informationelle Selbstbestimmung (als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts) plädieren etwa Mahlstedt, Die verdeckte Befragung des Beschuldigten im Auftrag der Polizei, S. 87 ff. sowie Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 171 ff., 178, womit „nemo tenetur“ letztlich als Informationsbeherrschungsrecht verstanden wird. Zu Recht wendet Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 53 f. ein, dass „nemo tenetur“ eben nicht nur die Informationserlangung beschränkt, sondern dessen Art und Weise. Ansonsten sei nicht zu erklären, weshalb auf der einen Seite kein Zwang zu selbstbelastenden Angaben angewendet werden dürfe, auf der anderen Seite aber die Informationen heimlich im Wege der Telefonüberwachung beschafft werden dürften. 303 Für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gelten verfassungsimmanente Schranken, wobei dessen Kernbereich – nach herrschender Auffassung – aufgrund des Menschenwürdebezugs abwägungsfest ist. Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 158 und die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel F. II. 301

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Grundsatzes erreicht. Daneben finden sich indes auch Ansätze, welche den nemo tenetur-Grundsatz in der Gewissensfreiheit304, dem Rechtsstaatsprinzip305 oder anderen Rechtssätzen von Verfassungsrang306 verortet sehen wollen; sodann freilich aber ohne eine generelle Abwägungsfestigkeit. Nun muss prima facie konstatiert werden, dass diese sämtlichen Ansätze ein und denselben „ideengeschichtlichen“ Umstand unberücksichtigt lassen: Ausweislich der Genese war die ursprüngliche nemo tenetur-Idee (der Untersagung) der Mitwirkung des Beschuldigten an der eigenen Strafverfolgung verpflichtet, wobei das „se ipsum-Element“ im Fokus stand. Dieses „Sich gegen sich selbst stellen-Element“ weist aber gerade die Besonderheit auf, dass es ausschließlich durch die präsentierte Menschenwürdekonzeption strukturell hinreichend zum Ausdruck kommt. In anderen Worten: Die Menschenwürdegarantie ist – bei erzwungener Selbstbelastung – schlicht lex specialis gegenüber den anderen möglicherweise betroffenen Verfassungsrechtssätzen. Denn freilich konstituieren andere Verfassungsrechtssätze auch Schutzgewährleistungen, welche im Falle einer erzwungenen Selbstbelastung betroffen (oder verletzt) sein können, so etwa das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) betreffend die zwangsweise erlangte (selbstbelastende) Information oder der Fair trial-Grundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) betreffend die Art und Weise (oder des Mittels) der Informationserlangung. Die Frage ist damit, ob solche anderen oder weitergehenden Schutzgewährleistungen noch unter dem Topos des „nemo tenetur se ipsum accusare“ firmieren (sollten). (1) Ausgangspunkt: Konkurrenzverhältnis Soweit die aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Schutzgewährleistungen – vom Schutzniveau „her“ betrachtet – eine Parallelität zu anderen Verfassungsrechtssätzen aufweisen, verdrängt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG im Ergebnis sämtliche anderen Verfassungsrechtssätze.307 Hier ist es 304

Vgl. Seebode, JA 1980, S. 493 (496). In diese Richtung auch Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 150. 305 Vgl. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 72; H. Schneider, Jura 1990, S. 572 (575); ders., Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, S. 38 ff., 41. Spezieller Wolff, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 62, welcher für eine Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes aus dem Schuldprinzip als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips plädiert. Anders plädiert Eidam, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 367 für eine Verortung im Fair trial-Grundsatz – „Kernbereich eines fairen Verfahrens“ – und damit letztlich im Rechtsstaatsprinzip. 306 Vgl. Böse, GA 2002, S. 98 (120 ff., 127), so folge der nemo tenetur-Grundsatz aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. 307 Es ist zwar richtig, dass die besonderen Freiheitsrechte schon vermöge ihrer größeren Konkretisierungsdichte bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung grundsätzlich vorrangig heranzuziehen sind. Vgl. Höfling, in: Sachs-GG, Art. 1, Rn. 67. Nur handelt es sich bei der „Selbstbelastungsfreiheit“ um eine originäre Ausprägung der Schutzgewährleistungen der

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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sowohl aus dogmatischer Sicht als auch betreffend das Schutzniveau unbeachtlich, inwieweit bei einer erzwungenen Selbstbelastung auch andere – (partiell) abwägungsoffene – Verfassungsrechtssätze betroffenen sind. (2) Plädoyer für eine rechtsklare Konturierung des nemo tenetur-Grundsatzes Relevant wird dies, wenn erzwungene Selbstbelastungen in Rede stehen, welche von den Schutzgewährleistungen der Menschenwürdegarantie nicht erfasst werden,308 aber in die (potenziell extensiveren) Schutzgewährleistungen anderer Verfassungsrechtssätze – etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder den Fair trial-Grundsatz309 – eingreifen. Hier ist dogmatisch „Farbe zu bekennen“: Entweder man sieht den nemo tenetur-Grundsatz in einem Konvolut von Verfassungsrechtssätzen verortet und begreift (folgerichtig) unter dem Topos des nemo tenetur se ipsum accusare sämtliche Schutzgewährleistungen,310 wie sie einerseits (abwägungsfest) aus der Menschenwürde, andererseits (abwägungsoffen) aus anderen Verfassungsrechtssätzen folgen und irgendwie mit dem Begriff „Selbstbelastung“ konnotiert sind oder man plädiert für eine ausschließliche Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und fasst unter dem Topos des „nemo tenetur se ipsum accusare“ nur diejenigen Schutzgewährleistungen zusammen, welche unmittelbar aus der Menschenwürde folgen und entsprechend zwangsweise Selbstbelastungen – nach obigem Verständnis: „seiner selbst gegen sich selbst“311 – untersagen. Letzteres erscheint bei Weitem vorzugswürdig. Würde man unter dem Topos des nemo tenetur-Grundsatzes Schutzgewährleistungen „zusammenfassend betrachten“, die einerseits aus der unabwägbaren Menschenwürdegarantie folgen und andererseits solche, die weitergehenden Schutz gewährleisten, aber aus abwägbaren oder partiell abwägbaren anderen Verfassungsrechtssätzen resultieren, so wäre prima facie – im Geiste des in dubio pro libertate – ein extensiver nemo tenetur-Schutzbereich geschaffen, welcher – so die bedenkliche argumentatio – flexibler auf die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen des Informationszeitalters zu reagieren Menschenwürdegarantie, welche ausschließlich von jener hinreichend (in toto) erfasst werden. Im Falle eines Eingriffs, ist die Menschenwürdegarantie nicht „mitbetroffen“, sondern „primär betroffen“; vielmehr sind die übrigen Freiheitsrechte (partiell) lediglich „mitbetroffen“. Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ist insoweit nicht „letzte“, sondern „erste Verteidigungslinie“. 308 Weil jene Schutzgewährleistungen eben „relativ restriktiv“ sind. 309 Wie dies etwa für nonverbale Verhaltensweisen an späterer Stelle noch zu untersuchen sein wird. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel G. 310 Anders Neumann, in: Festschrift für Wolff, S. 373 (383), welcher den Grundsatz des „nemo tenetur“ se ipsum accusare nur als eine zusammenfassende Formulierung für eine Vielzahl rechtlicher Normen (Regeln und Prinzipien) begreifen will, die sich teils aus dem einfachen Gesetz (§§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), teils aus der Verfassung (insbesondere Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) und teils aus dem Völkerrecht (Art. 14 III IPBR) ergäben. 311 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (2).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

vermöchte. In Wahrheit wäre indes nur ein weiteres Abwägungsregime etabliert, welches – unter dem Deckmantel vermeintlich weitergehender Schutzgewährleistungen – „seine Kinder frisst“: Das „Mehr“ an Flexibilität ist nicht ernstlich bestreitbar, jene besteht schon insoweit, als fortan – quasi vorgelagert – zu prüfen wäre, ob die in Rede stehende Zwangsmaßnahme den abwägungsfesten oder -offenen Bereich des nemo tenetur-Grundsatzes betrifft. Damit ist aber schon das Problem angesprochen. Wie ein normativer Vergleich zu den Kernbereichskonzeptionen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts offenbart, bewirkt die „Etablierung“ von Verfassungsrechtssätzen mit multipler Grundgesetzverortung – einerseits abwägungsfest andererseits abwägungsoffen – nicht unbedingt mehr Rechtsschutz und sicher nicht mehr Rechtssicherheit. Im Gegenteil: Es fällt schlicht leichter innerhalb eines partiell abwägungsfesten Schutzbereichs eine Zuweisung zum abwägungsoffenen Bereich zu begründen, als die Zuweisung zu einem generell abwägungsfesten Bereich zu negieren – es leidet im Ergebnis nur die Rechtsklarheit, ohne dass bei einer Gesamtbetrachtung ein „Mehr“ an Schutzgewährleistungen gewährt wäre.312 Letztlich – und das ist der entscheidende Punkt – verkäme der nemo teneturGrundsatz damit (partiell) als spezielle Ausprägung des Übermaßverbotes. So wäre eine strukturelle Annährung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – und die „dort“ vorherrschende Abwägung – die notwendige Folge. Das erscheint aber für den nemo tenetur-Grundsatz – als Ausfluss der Menschenwürdegarantie – systemwidrig. Man sollte sich ohnehin davor hüten, die wenigen abwägungsfesten Verfassungsrechtssätze des Grundgesetzes – lediglich aufgrund der Schwierigkeit absoluter Definitionsfindung – einem vermeintlich speziellen Abwägungsregime zu überantworten.313 (3) Verortungsklarheit als Garant der Abwägungsfestigkeit Nun sollen die Aspekte einer „Selbstbelastungsfreiheit“ insoweit sie aus anderen Verfassungsrechtssätzen (als Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) potenziell folgen – auf dem hier vorgeschlagenen „Wege“ – freilich nicht eskamotiert werden,314 es sei vielmehr dafür plädiert, dass unter dem Topos des „nemo tenetur se ipsum accusare“ eben nur jene Aspekte der Selbstbelastungsfreiheit als firmierend angesehen werden, welche unmittelbar aus den Schutzgewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG resultieren, was zu einem restriktiven, aber (rechtsklaren) abwägungsfesten nemo tenetur-Ver312 Obgleich dieser sehr folgenorientierten argumentatio, muss damit im Einzelfall nicht zwangsläufig eine Rechtsverkürzung einhergehen. Zwar wird der nemo tenetur-„Anwendungsbereich“ a priori verkürzt, gleichwohl können in Rede stehende strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen aber an den Schutzgewährleistungen übriger Verfassungsrechtssätze weiterhin gemessen werden. Letztlich geht es hier um eine „Firmierungsfrage“, welche in nicht unerheblichem Zusammenhang zur Rechtsklarheit um die nemo tenetur-Maxime steht. 313 Das lässt sich insoweit auch der wohl herrschenden Meinung entgegenhalten, welche in der Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG lediglich eine spezielle Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erblicken will. Vgl. statt vieler Enders, in: BeckOK-GG, Art. 19, Rn. 30 m. w. N. 314 Denn das würde tatsächliche eine Schmälerung des Schutzniveaus konstituieren.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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ständnis führt315 – wie es schon zuvor einmal existent war. Ausgehend von diesem Verständnis sei im Folgenden beurteilt, ob und inwieweit der nemo teneturGrundsatz der Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung entgegensteht.

II. Nonverbale Verhaltensweisen und das tenetur-Element Der nemo tenetur-Grundsatz ist kein Rechtssatz, welcher den Betroffenen ubiquitär vor Selbstbelastungen schützte. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht316 im Gemeinschuldner-Beschluss in jenem Grundsatz (nur) ein Schutzinstrument gegen erzwungene Selbstbelastungen erkannt. Beseelt vom credo der Abwehr jeglicher finaler, auf Selbstbelastung gerichteter, hoheitlicher Zwangsausübung folgt die herrschende Meinung317 einem sehr extensiven Zwangsverständnis, worunter prima facie jeder unmittelbare oder bereits mittelbare Druck zur Selbstbelastung zu verstehen sei, sodass auch die Annahme von Rechtsnachteilen für den Fall einer verweigerten Selbstbelastung erfasst sei.318 Von geringer praktischer Relevanz, und im Folgenden daher auch nicht näher thematisiert, sind bewusst entäußerte nonverbale Verhaltensweisen, also jene die physisch steuerbar und bewusst im Rahmen der interpersonalen Kommunikation eingesetzt werden. Zu nennen sind hier etwa ein „bejahendes Kopfnicken“ oder ein mit den Fingern geformtes „O.K.-Zeichen“. Ausgenommen kuriose Fallgestaltungen, in welchem etwa ein Richter des Landgerichts Flensburg dem (schweigenden) Angeklagten ein „Kopfnicken“ oder „Kopfschütteln“ betreffend einzelner Tatvorwürfe nachdrücklich, im Sinne eines Insistierens, abverlangte,319 wird eine derartige hoheitliche Zwangsausübung, zum Zwecke der Hervorrufung solch freiwilliger Entäußerungen, realiter nicht vorkommen und anderenfalls unstreitig als Verstoß gegen „nemo tenetur“ zu begreifen sein. Das maßgebliche Problem ist vielmehr, dass nonverbale Verhaltensweisen partiell unbewusst und physisch nicht steuerbar entäußert werden und mithin – potenziell selbstbelastende Entäußerungen wie etwa ein spontanes „In-Tränen-Ausbrechen“ oder Erröten – nicht zur Disposition des Angeklagten oder des Zeugen stehen. Zunächst geriert sich dies als sozialübliches Phänomen, welches auch außerhalb von Gerichtssälen regelmäßig auftreten kann. Man wird aber freilich die situative Be315 Freilich bleibt es „unbenommen“, Verstöße gegen die „Selbstbelastungsfreiheit“, wie sie potenziell aus den Schutzgewährleistungen anderer Verfassungsrechtssätze folgen, auch an jenen zu messen. 316 BVerfGE 56, S. 37 ff. 317 Vgl. BGHSt 42, S. 139 (152 f.); 55, S. 138 (147); Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, § 136, Rn. 48; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 139; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 15 f. 318 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 139. 319 LG Flensburg [unveröffentlicht], zitiert nach BGH, NStZ 1998, S. 85.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

sonderheit des jeweils Betroffenen zu berücksichtigen haben, denn schon die Anwesenheit als Zeuge im Gerichtssaal – respektive die Vernehmung als Angeklagter – stellt für den „(juristischen) Laien“ durchaus eine außergewöhnliche Belastung dar, welche häufig mit Emotionen wie Nervosität, Stress oder Angst konnotiert sein wird. Bei normativer Gesamtbetrachtung besteht bereits eine Situation, in welcher das Hervortreten nonverbaler Verhaltensweisen in besonderem Maße befördert ist,320 und gerade in dieser Situation sind Angeklagte und Zeugen „gefangen“. Schon für die Kategorie des zufälligen Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung verhält es sich so, dass Angeklagte und Zeugen vermöge der vollstreckbaren Anwesenheitsverpflichtung im Gerichtssaal nach §§ 231 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO nicht in der Lage sind, sich dieser situativen Besonderheit zu entziehen.321 Jene sind vielmehr im Wege (mittelbar)322 hoheitlichen Zwanges der gerichtlichen Wahrnehmung ihrer nonverbalen Verhaltensweisen (schutzlos) „ausgeliefert“. Für die Kategorie, dass nonverbale Verhaltensweisen innerhalb von Experiment-Konstellationen gezielt, um der gerichtlichen Wahrnehmung willen, provoziert werden, tritt jener hoheitliche Zwang noch weit deutlicher zu Tage. Hier ist es einerseits die Anwesenheitsverpflichtung und andererseits der staatliche Provokationsakt, welcher den (hier unmittelbaren) Zwang begründet. „Bei“ einer streng am Wortlaut orientierten nemo tenetur-Betrachtung wäre von einer Zwangsausübung mithin auszugehen.

III. Nonverbale Verhaltensweisen und das se ipsum accusare-Element „Indirekt kann so manches zur Selbstüberführung dienen, und doch kann man es dem Menschen gebieten.“323

Dass nonverbale Verhaltensweisen – wie „Erröten“, „Erbleichen“, „Stottern“ oder „Weinen“ – Selbstbelastungen begründen können, ist nicht weiter streitig324 – und das obige Zitat insoweit treffend –, denn sobald aus deren Beobachtung nachteilige Schlüsse betreffend die Schuld- und Rechtsfolgenfrage des Angeklagten (und in 320 Dass die Entäußerung nonverbaler Verhaltensweisen in einem Kausalnexus zu bestimmten Emotionszuständen steht, wurde bereits dargelegt. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 321 Erstmalig diesen Gedanken erwähnend Arndt, NJW 1966, S. 869 (871). Vgl. ferner Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294 sowie Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253), welche diesen Gedanken im Hinblick auf den nemo tenetur-Grundsatz fortführen. 322 „Mittelbar“ insoweit, als die Wahrnehmung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen seitens des Gerichts nicht ex ante intendiert ist. 323 Zitiert nach Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253) unter Verweis auf eine nicht auffindbare Fundstelle bei Kohler. 324 Ein erstaunter Gesichtsausdruck des Angeklagten beim Wiedererkennen des Raubopfers wird nur schwerlich als etwas anderes als die Offenbarung von Tatwissen interpretiert werden können. Auch „Lügensymptome“ des Angeklagten während seiner Aussage werden nachteilige Auswirkungen auf die Schuld- und Rechtsfolgenfrage haben.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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seltenen Fällen des Zeugen) gezogen werden (können), geriert sich die Entäußerung jener Verhaltensweisen eben als „Selbstbelastung“. Die maßgebliche Frage ist vielmehr, ob jene Selbstbelastungen von den Schutzgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes erfasst werden und eine Verwertung mithin ausgeschlossen ist. Die herrschende Auffassung in Judikatur325 und Schrifttum326 bescheinigt der Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen im Grundsatze eine Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes, respektive der daraus folgenden Aussage- und Mitwirkungsfreiheit. Treten also Verhaltensweisen wie „Erröten“, „Erbleichen“, „Zittern“ oder „Stottern“ beim Angeklagten oder Zeugen auf,327 seien diese – den Fall des (berechtigen) Schweigens zunächst ausgenommen – auch unproblematisch verwertbar. 1. Ausprägung: Aussagefreiheit – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO Wesentliche Ausprägung des nemo tenetur-Grundsatzes ist die umfassende Aussagefreiheit des Angeklagten, wie jene von der Strafprozessordnung ausweislich des §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO vorausgesetzt wird: Einerseits verbietet sich ein Zwang zur Aussage, andererseits – als notwendiges Korrelat – dass aus einem Schweigen nachteilige Schlüsse auf die Schuld- und Rechtsfolgenfrage gezogen werden.328 325 BGHSt 5, S. 332 (335); BGHSt 44, S. 308 (316 f.) und e contrario wohl BGH, StV 1993, S. 458. 326 Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10 f.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196); Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 40; Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (669); Prittwitz, MDR 1982, S. 886 (893); Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 175; Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253); Seibert, NJW 1965, S. 1706 [Fn. 4]; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 68; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199. Wohl auch Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27. Ferner e contrario Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98; Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16. Ablehnend indes Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I Grundgesetz, S. 55 ff., 59. 327 Dies kann sowohl bei der förmlichen Beweiserhebung als auch am Rande der förmlichen Beweisaufnahme geschehen. Damit sei auf die zuvor verwendete Terminologie rekurriert. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. Verhaltensweisen, welche sich im Zuschauerraum der Hauptverhandlung ereignen, sind hier vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes praktisch nicht relevant. 328 Vgl. BGHSt 20, S. 281 (282); 25, S. 365 (368); 38, S. 302 (305); Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213; Dingeldey, JA 1984, S. 407 (413); Kohlhaas, NJW 1965, S. 2282 (2283); Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 77; Seibert, NJW 1965, S. 1706; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27; Stürner, NJW 1981, S. 1757 (1758);

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

a) Nonverbale Verhaltensweisen innerhalb der Dichotomie von „Aussage“ und „Schweigen“ Ausgangspunkt ist prima facie die Dichotomie zwischen „Aussage“ und „Schweigen“. Ausweislich vorheriger Erwägungen329 versteht die Strafprozessordnung unter einer „Aussage“ die Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege einer Vis à vis-Kommunikation, wobei die Wissensübermittlung das konstituierende Element ist. Rekapitulierend sind „Erröten“, „Erbleichen“ oder andere nonverbale Verhaltensweisen als Aussage zu qualifizieren, sofern sich ihre Wahrnehmung als Wissenszugriff geriert.330 Aufgrund der erwähnten jedenfalls mittelbaren Zwangswirkung – vermöge der Anwesenheitspflicht331 – bedarf jene „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ einer tieferen Begründung.332 Bereits dogmatisch verfehlt sind insoweit jene Ansätze333, welche die Beobachtung oder andersartige Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung als generell duldungspflichtige Augenscheinseinnahme qualifizieren und daraus die Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit folgern.334 Die erfolgten Ausführungen vermochten darzulegen, dass die Zuweisung zu Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 17. Die Verwertung würde für sich wiederum einen mittelbaren Aussagezwang begründen. So auch Stree, JZ 1966, S. 593 (596). 329 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) bb). 330 Jene Zuweisung vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes relativierend vor allem Neumann, in: Festschrift für Wolff, S. 373 (386). 331 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. und ferner auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 200. 332 So auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 201 [sowie Fn. 1184]. Auch Hamm, NJW 1999, S. 922 verweist auf die „Sorglosigkeit“, mit welcher die Strafjustiz betreffend nicht maschinell gemessener nonverbaler Verhaltensweisen eine Verwertbarkeit annimmt. Dies bedarf in der Tat einer Überprüfung. 333 Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 253. Sowie Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253), welcher die Verwertbarkeit als logische Konsequenz aus der Anwesenheitsverpflichtung ableiten will („unbedingt, ohne Rücksicht darauf, ob die Anwesenheit mittelbar zur Sachaufklärung und damit möglicherweise zur Selbstbelastung führen kann.“). Ebenso verweist Haas, GA 1997, S. 368 (369 f.) für Experiment-Konstellationen auf die Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes, da es sich um eine Augenscheinseinnahme handle. Auch bei Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 175 findet sich jene Argumentation; was ausweislich nachfolgender Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc) unverständlich erscheint, vertritt Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 178 doch einen ganz anderen Ansatz. 334 Kritisch insoweit auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 200, welcher richtigerweise darauf verweist, dass es sich insoweit um „unwillkürliche physiologische Reaktionen [handelt], die durch die Vernehmung und ganz allgemein durch die Situation der Hauptverhandlung, insbesondere aber durch die Beweisaufnahme beim Beschuldigten, ausgelöst werden“. Nicht überzeugend ist hingegen, dass dieser die Zuweisung zum objektiven Personal- oder Sachbeweis mit dem Argument (generell) negiert, es handle sich nicht lediglich um „eine vom Beschuldigten passiv hinzunehmende Wahrnehmung“. Die Aktivität/PassivitätFrage ist hierfür nicht maßgeblich, sondern der Zugriffsgegenstand und im Einzelfall kann die

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den Instituten förmlicher Beweiserhebung richtigerweise nur anhand der Lehre vom Zugriffsgegenstand erfolgen kann.335 Geriert sich die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen aber als Wissenszugriff – was in vielen Konstellationen (etwa bei „Lügensymptomen“) einschlägig ist – so handelt es sich eben dogmatisch nicht um eine Augenscheineinnahme, die Beweiserhebung ist vielmehr den Instituten der Angeklagten- oder Zeugenvernehmung zugewiesen.336 Weiterhin bleibt der Verweis auf die (lediglich) phänomenologische Gegebenheit, dass sich nonverbale Verhaltensweisen partiell unbewusst und physisch nicht steuerbar entäußern, insoweit ohne „Wirkung“. Wenn Haas337 – unabhängig von der Ausübung des Schweigerechts – „ungewollte[n] und [vom] Willen nicht beeinflußte[n] Reaktionen“ per se die Aussagequalität absprechen will, so steht dies schlicht im Widerspruch zu dem Verständnis der „Aussage“ wie es der Strafprozessordnung schon seit ihren Ursprüngen zu Grunde liegt. Erfasst ist – ausweislich obiger Feststellungen338 – schlicht jede Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege einer Vis à vis-Kommunikation“, ob nun bewusst oder nicht. Wenn nonverbale Verhaltensweisen des Angeklagten oder Zeugen nun bei Wissensübermittlung als Aussage einzustufen sind, so lässt sich aber nicht „wegargumentieren“, dass sowohl im Falle der gezielten Provokation nonverbaler Verhaltensweisen innerhalb sogenannter Experiment-Konstellationen als auch im Falle zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen eben eine (un-)mittelbare Zwangswirkung betreffend die Offenbarung unbewusster und physisch nicht steuerbarer Verhaltensweisen bestehen bleibt.339 Rein terminologisch müsste bei Verwertung also durchaus ein Verstoß gegen die Aussagefreiheit angenommen werden und zwar betreffend sämtliche unbewussten oder physisch nicht steuerbaren Verhaltensweisen.340 Will Peters341 die Beobachtung jener nonverbalen Verhaltensweisen – anders als die Anwendung eines Polygraphen – als einen „nebenher abfallende[n] Beobachtungsvorgang342“ bei einer Aussage qualifizieren, welcher nicht „Hauptziel und Kern Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen durchaus etwa dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen sein, nämlich, wenn die jeweilige Beobachtung exemplarisch ein Indiz für einen krankhaften Zustand liefert (Zustandszugriff). Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ff). 335 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ee). 336 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff) und Zweites Kapitel B. II. 2. 337 Haas, GA 1997, S. 368 (369). Zu Recht kritisch Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips, S. 294 [Fn. 751], welcher einwendet, dass nicht entscheidend sein könne, „ob mit einer Würdigung von Verhaltensweisen zugleich ,das Unbewußte‘ [im Original in Anführungszeichen] beim Beschuldigten erforscht wird“. 338 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) cc). 339 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. Ein Umstand, der vielfach verkannt wird. Auf den „ersten Blick“ müsste es sich also hier durchaus um unzulässigen Zwang handeln. 340 Das wird de facto aber kaum vertreten. In diese Richtung wohl lediglich Arndt, NJW 1966, S. 869 (871). 341 Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (677). 342 Hervorhebung durch den Verfasser.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

der Beobachtung“ sei, so geht diese argumentatio zumindest für Experiment-Konstellationen ins Leere. So sei etwa an die bei Haas343 präsentierte Konstellation der „umgekehrten Rekognition“ erinnert; hier ist die Beobachtung der (Wiedererkennens-)Reaktionen gerade Hauptziel. Die Beobachtung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen darf schon – im Falle der Annahme eines Beweiswertes344 – wegen der Sachaufklärungsmaxime des § 244 Abs. 2 StPO keinesfalls nur „nebenher abfallen“.345 Ebenso verhält es sich mit dem Verweis auf die angebliche Sozialadäquanz jener Verwertung.346 So wird etwa von Frister347 auf den Umstand hingewiesen, dass die Berücksichtigung des „offenen Ausdrucksverhaltens“ ein untrennbarer, den Beteiligten oft nicht bewusster, Bestandteil jeder zwischenmenschlichen Kommunikation sei und die Berücksichtigung daher schlicht „sozialadäquat“ sei. Auch nach Peters348 soll das „Maß des Zulässigen“ bei der Verwertungsfrage anhand des „allgemein Üblichen“ und „gesellschaftlich Gebräuchlichen“ bestimmt werden. Die Genese dieses Sozialadäquanz-Gedankens hat ihren Ursprung in der (als notwendig erachteten) Abgrenzung zwischen der Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen ei343

Haas, GA 1997, S. 368 (370). Vgl. ferner die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 344 Das wird noch zu untersuchen sein. Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4. 345 In diesem Sinne auf §§ 244 Abs. 2, 261 StPO verweisend auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 205 [Fn. 1208]. 346 BGHSt 5, S. 332 (335); Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (670). Wenig hilfreich erscheint auch der Hinweis von Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, S. 9, dass sich eine Berücksichtigung durch rechtliche Verbote ohnehin nicht verhindern ließe. Das ist ein Problem, welches generell jedem Beweisverwertungsverbot anhaftet. 347 Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321), welcher diese Problematik indes vor dem Hintergrund der Vorschrift des § 136a StPO diskutiert. Ausgangspunkt dieser Erwägungen war der Versuch Fristers zu begründen, weshalb auch die einverständliche Anwendung des Polygraphen von § 136a Abs.1 StPO untersagt sei. „In diesem Sinne“ folgt Frister einem (zu) weit gefasstem Verständnis der Aussagefreiheit, welches maßgeblich von den Wertungen der Vorschrift des § 136a StPO bestimmt sei und mithin unbewusste und physisch nicht steuerbare (Wissens-)Entäußerungen erfasse. Eine Verwertung jener Entäußerungen sei damit stets unzulässig, und zwar auch im Falle des Vorliegens eines Einverständnisses. Die Preisgabe derartiger Wissensentäußerungen sei der Disposition des Beschuldigten entzogen, sodass die Anwendung eines Polygraphen untersagt sei. Für „offenes Ausdrucksverhalten“ – also nonverbale Verhaltensweisen, welche ohne technische Hilfe wahrnehmbar sind – gelte dies aber nicht, da deren Berücksichtigung „sozialadäquat“ sei. Sich dem ausdrücklich anschließend Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 68. Kritisch indes Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 203, welcher zu Recht einwendet, dass dem nemo tenetur-Grundsatz somit lediglich in den Fällen ein eigenständiger Anwendungsbereich verbliebe, in denen Zwang zur aktiven Mitwirkung zur Erhebung von Sachbeweisen angewendet würde. Und in der Tat bestehen dogmatische Bedenken die „Loslösung“ der Aussagefreiheit vom nemo teneturGrundsatz zu „vollziehen“. Erstere würde schlicht ohne Rechtsgrundlage verbleiben, denn § 136a StPO kann gerade kein Recht entnommen werden, welches generell den Zugriff auf unbewusst oder physisch nicht steuerbar entäußertes Wissen verböte. 348 Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (670).

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nerseits und der Anwendung des Polygraphen andererseits. So hatte der Bundesgerichtshofs349 bereits in der Ersten Lügendetektor-Entscheidung die „bewußte[n] und unbewußte[n] Ausdrucksvorgänge beim Angeklagten, die in der Hauptverhandlung in ,üblicher Weise‘ hervortreten“, als verwertbar erachtet; unbewusste Ausdrucksvorgänge, die mithilfe des Polygraphen aufgezeichnet werden, indes nicht.350 Dass nonverbale Verhaltensweisen ein untrennbarer Bestandteil jeder zwischenmenschlichen Kommunikation seien, ist eine richtige Feststellung, nur erwächst daraus kein rechtliches Argument,351 ob jene von den Schutzgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes, respektive der Aussagefreiheit, umfasst werden.352 Ähnliches muss für die „Sozialadäquanz“ per se gelten. So mag es zwar noch gesellschaftlich üblich und mithin sozialadäquat sein, zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen – wie auch im sonstigen zwischenmenschlichen Bereich – „zu berücksichtigen“ (die Aussagefreiheit muss gerade keine „Besserstellung“ gewährleisten); aber spätestens bei Experiment-Konstellationen im Gerichtssaal versagt jene Argumentation, denn hier kann keinesfalls von gesellschaftlich üblichem Vorgehen gesprochen werden.353 Letztlich knüpft jener Sozialadäquanz-Gedanke an das jeweilige „Mittel“ an, welches zur Informationserlangung genutzt wird – einfache Beobachtung oder technische Hilfe. Das kann aber vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit nicht den Ausschlag geben, denn „nemo tenetur“ untersagt eine (bestimmte) Zwangsanwendung, unabhängig von der Frage, vermöge welchen „Mittels“ jener Zwang wirkt. Das Kriterium der Sozialadäquanz vermag somit allenfalls die Richtung anzudeuten.354 349

BGHSt 5, S. 332 (335). BGHSt 5, S. 332 (335). Dass dies widersprüchlich ist, ist eine andere Frage. Maßgeblich ist jedoch, dass der Bundesgerichtshof damit ebenso auf jene Sozialadäquanzerwägungen rekurriert. Letztlich wurden die Erwägungen betreffend die Sozialadäquanz mit der Zweiten Lügendetektor-Entscheidung aufrechterhalten, obwohl der Polygraph seitdem seitens des Bundesgerichtshofs nicht mehr als unzulässige Vernehmungsmethode nach § 136a Abs. 1 StPO eingestuft wird. Vgl. BGHSt 44, S. 308 (316 f.). Vgl. zur Widersprüchlichkeit dieser Annahme eingehend unter anderem Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I Grundgesetz, S. 55 ff., 59, welcher – jedenfalls konsequent – jede Art von unbewussten oder physisch nicht steuerbaren Entäußerungen einer Verwertung, wegen Art. 1 Abs. 1 GG, entzogen sieht. Ferner auch Hamm, NJW 1999, S. 922. 351 Zu Recht weist Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 205 darauf hin, dass dies nicht zu erklären vermag, weshalb der Staat mit Zwang – vermöge der Anwesenheitsverpflichtung – jene Informationen abschöpfen dürfe, nur, weil jener dabei ohne technische Hilfsmittel, etwa den Polygraphen, auskommt. 352 Wie es auch kein taugliches Kriterium betreffend die Zuweisung zu den Instituten des förmlichen Beweisverfahrens war. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) bb). 353 Auch bei zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen ließe sich auf die besondere – gerade gesellschaftlich unübliche – Situation der jeweils Betroffenen im Gerichtssaal verweisen. 354 Letztlich sieht sich das Kriterium der Sozialadäquanz im vorliegenden Kontext auch dogmatischen Bedenken ausgesetzt. Bei der Sozialadäquanz handelt es sich um ein materiellrechtliches, normatives Korrektiv im Rahmen der Auslegung, welches eine rechtskreiserwei350

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Die allgemein postulierte Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit wird sich indes – vermöge einer dogmatischen Erwägung – als zutreffend erweisen. Es ist zwar richtig, dass die Aussagefreiheit – als Ausfluss des nemo tenetur-Grundsatzes – nicht nur die Freiheit betreffend das „Ob“ einer Aussage, sondern auch jene betreffend das „Wie“ gewährt (und das letztlich betreffend die Art und Weise der Entäußerung bei jeder einzelnen Frage). In den überwiegenden Fällen bewusster verbaler oder auch nonverbaler Kommunikation „funktioniert“ die Ausübung dieses Rechts ohne Probleme; der Angeklagte (und sehr begrenzt der Zeuge) kann nach dem Gesetze die Entscheidung treffen, „ob“ er aussagt und „wie“ er aussagt und ist in der Freiheit dieser Entscheidung geschützt. Für die wenigen – hier aber relevanten – Fälle unbewusster oder physisch nicht steuerbarer Kommunikation bietet sich diese Ausübungsmöglichkeit aber de facto nicht an. Das Entäußern derartiger nonverbaler Verhaltensweisen steht schon seiner Natur nach nicht zur Disposition des Entäußernden; es ist schlicht nicht beherrschbar. Damit wirkt aber auch ein Verständnis der Aussagefreiheit strukturell widersprüchlich, welches die Freiheit betreffend unbewusste oder physisch nicht steuerbare Entäußerungen gewährte.355 Richtigerweise würde eine derartige Auslegung der Aussagefreiheit jener Schutzgewährleistungen attestieren, welche von keinem Betroffenen jemals realisierbar („inanspruchnehmbar“) wären.356 Die Aussagefreiheit würde partiell Schutzgewährleistungen ohne Anwendungsbereich gewähren, was der – aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz folgenden – Maxime widerspräche, dass Rechtssätze stets so auszulegen sind, dass ihnen ein (eigenständiger) Anwendungsbereich verbleibt; es ergäbe keinen Sinn, dass die Aussagefreiheit dem Aussagenden das Recht einräumte, über die Entäußerung nonverbaler Verhaltensweisen zu disponieren, wenn er es ohnehin (phänomenologisch) nicht vermag.357 Es ist mithin zu konstatieren – und insoweit soll die herrschende Auffassung Recht behalten – dass der Aussagefreiheit keine Schutzgewährleistungen immanent ternde Wirkung zur Vermeidung gesellschaftlich unerwünschter Ergebnisse aufweist. Vgl. Ruppert, Die Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 288 f. Vorliegend würde das Korrektiv der Sozialadäquanz aber rechtskreisverkürzend wirken. 355 Der Aussagende hat zwar vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit zweifelsohne die „Freiheit“ sich zur Aussage zu entschließen, aber eine solche „Freiheit“ kann nur insoweit bestehen als der Betroffene sich auch „entschließen“ kann (was bei unbewussten und physisch nicht steuerbaren nonverbalen Verhaltensweisen eben naturgesetzlich nicht möglich ist). 356 Dem könnte man eine zu „formalistische Betrachtung“ entgegenhalten und stattdessen vertreten, dass die Aussagefreiheit – oder übergeordnet der nemo tenetur-Grundsatz – die Verwertung derartiger, vermöge (un-)mittelbaren Zwangs entäußerter, unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen dennoch untersagen „will“. Letztlich wird die Qualität des Zwangs hier den Ausschlag zu geben haben. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. b). 357 Der Gedanke ist folgender: Eine Aussagefreiheit, welche dem Aussagenden die Freiheit „zuspricht“, selbst zu entscheiden, welche nonverbalen Verhaltensweisen er entäußern will, geht notwendigerweise partiell ins Leere. Sofern nämlich unbewusste oder physisch nicht steuerbare Verhaltensweisen in Rede stehen, kann er ipso facto nicht über ihre Entäußerung bestimmten.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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sind, welche die Erhebung oder Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen generell (also unabhängig von der Ausübung des Schweigerechts), um ihrer Unbewusstheit oder fehlenden physischen Steuerbarkeit wegen, untersagten. Die noch folgende Betrachtung der Qualität des in jenen Konstellationen wirkenden Zwanges, wird jenes Ergebnis „besser“ zu bestätigen wissen, als es die Betrachtung der Dichotomie von Aussage und Schweigen vermochte.358 „Bis jetzt“ steht die Aussagefreiheit der Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen mithin nicht entgegen. b) Zur Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen bei Ausübung des Schweigerechts – §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO Für die Konstellation des schweigenden Angeklagten zeichnet sich innerhalb der Judikatur359 ein (vermeintlich) unklares, innerhalb des Schrifttums hingegen ein gänzlich anderes Bild ab. Während eher vereinzelt360 auch hier die Verwertbarkeit vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes proklamiert wird, steht die überwiegende Auffassung361 auf dem Standpunkt, dass „nemo tenetur“, respektive die Aussagefreiheit, einer Verwertung – Ausnahmen vorbehalten362 – entgegenstehe. aa) Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. 06. 1993 – 5 StR 350/93 An den Anfang sei ein Beschluss des Bundesgerichtshofs363 aus dem Jahre 1993 gestellt, welcher zu vielfältigen Fehlinterpretationen innerhalb des Schrifttums 358

Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. b). Zu dieser Problematik bisher einzig BGH, StV 1993, S. 458 f. und nunmehr auch BGH, BeckRS 2019, S. 38149. 360 Günther, GA 1978, S. 193 (196); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 79; Seibert, NJW 1965, S. 1706 [Fn. 4]. In diesem Sinne wohl auch Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (342), welcher indes in (sehr) engen Grenzen auch die Verwertung des Schweigens für zulässig erachtete. Ferner nunmehr auch Schneider, NStZ 2017, S. 126 (131), der diese Thematik eben nicht nur en passant erwähnt, sondern jener wieder zu „Aktualität“ verholfen hat. 361 Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 68; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 208. So auch Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 77, wenn jener an vorheriger Stelle noch die Verwertbarkeit auch im Falle des Schweigens bejaht – ders., in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 16 – so geschieht dies wohl ausschließlich vor dem Hintergrund der Vorschrift des § 261 StPO und dem korrespondierenden extensiven Inbegriffsverständnis. 362 So werden etwa von Miebach, NStZ 2000, S. 234 (235) die Kriterien der „Eindeutigkeit“ und „Erheblichkeit“ der Entäußerungen genannt. Was es noch näher zu betrachten gilt. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc). Diese Kriterien begründen indes eine faktische Einengung derart, dass in den meisten Fällen eine Verwertbarkeit abgelehnt werden müsste. 363 BGH, Beschluss vom 24. 06. 1993 – 5 StR 350/93, StV 1993, S. 458 f. 359

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

führen sollte. Die Vorinstanz – das Landgericht Berlin – hatte einen Angeklagten wegen versuchter Vermittlung des Überlassens von Schusswaffen und Munition zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt; der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung zur Sache vollständig geschwiegen. Der Bundesgerichtshof gab der Sachrüge statt und wandte gegen die Beweisführung des Landgerichts Folgendes ein: „Das LG stützt seine Überzeugung vom Tathergang auch darauf, daß ,der Angekl., der den Gang der Hauptverhandlung, insbesondere die Beweisaufnahme mit lebhafter Mimik und Gestik trotz seines Schweigens begleitet hat, […] weder selbst noch durch seinen Verteidiger in Abrede gestellt (hat), die beiden Zeugen Ende August 1992 im Lokal ,B‘ miteinander bekanntgemacht zu haben‘. Bei dieser Beweisführung ist zu besorgen, daß das Schweigen des Angekl. zu seinem Nachteil verwertet worden ist […]. Einen anderen Inhalt kann der Senat der beanstandeten Wendung nicht entnehmen.“364

Diese Beweisführung (des Landgerichts) wirkt in der Tat sehr befremdlich, wie auch die tradierte Interpretation des Schrifttums365, dass der Bundesgerichtshof mit vorbezeichneter Entscheidung die Verwertbarkeit von Mimik und Gestik – und damit wohl nonverbalen Verhaltensweisen in toto – beim schweigenden Angeklagten negiert hätte. Ein derartiger Aussagegehalt ist der Entscheidung schlicht nicht zu entnehmen. Die Formulierung „bei dieser Beweisführung ist zu besorgen, […]“ bezieht sich ersichtlich darauf,366 dass das Landgericht aus dem Umstand des „fehlenden Inabredestellens“ durch den Angeklagten sowie dessen Verteidiger Anknüpfungspunkte für den Tathergang zog. Mit dem Schluss von dem fehlenden „Inabredestellen“ auf das „miteinander Bekanntmachen“ verfuhr das Landgericht – rechtswidrigerweise – nach dem „Grundsatze“ des „qui tacet consentire videtur“ und missachtete damit die Neutralitätswirkung des Schweigens – was freilich eine Verkürzung der Aussagefreiheit begründete. Eine weitergehende Feststellung betreffend die Unverwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen beim schweigenden Angeklagten lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen.

364

BGH, StV 1993, S. 458 f. Vgl. zu dieser unrichtigen Schlussfolgerung Kusch, NStZ 1994, S. 23 (24); Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 77; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/WidmaierStPO, § 261, Rn. 27; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16; Velten, in: SKStPO, § 261, Rn. 68; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199. Diese Fehlinterpretation wird zu einem gewissen Grade auch auf dem unglücklich gewählten redaktionellen Leitsatz beruhen: „Mimik und Gestik eines in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten dürfen bei der Beweiswürdigung nicht zu seinem Nachteil verwendet werden.“ Vgl. StV 1993, S. 458. 366 Anders – indes unrichtig – Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199: „Im zugrundeliegenden Fall meinte das Tatgericht nämlich, das nonverbale Prozeßverhalten des Angeklagten deswegen zu seinem Nachteil berücksichtigen zu können, weil weder er selbst noch sein Anwalt das Tatgeschehen in Abrede gestellt hatten. Der BGH vermochte dieser Verbindung zu Recht keinen anderen Sinn entnehmen als den einer unzulässigen Würdigung des Schweigens des Angeklagten.“ 365

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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bb) Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20. 11. 2019 – 2 StR 467/19 In diese Lesart reiht sich auch ein Beschluss des Bundesgerichtshofs367 aus dem Jahre 2019 ein. In diesem Falle hatte die Vorinstanz – Landgericht Schwerin368 – einen Angeklagten unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt; der Angeklagte hatte die Vorwürfe in Abrede gestellt und sich dahingehend eingelassen, „das mache er nicht, das sei verboten“, ansonsten aber geschwiegen. Den Urteilsgründen des Landgerichts zufolge habe er dazu „im Widerspruch“ während des Berichts des aussagepsychologischen Sachverständigen zu den Angaben der Geschädigten „versonnen lächelnd, offensichtlich in Erinnerungen schwelgend, jeweils zustimmend genickt und dies teilweise durch ein geäußertes ,ja‘ bestätigt“.369 Der Bundesgerichtshof gab auch hier der Sachrüge zum Teil statt und wandte gegen die Beweisführung des Landgerichts – welches in den Entäußerungen quasi ein Geständnis erblickte – unter anderem Folgendes ein: „Es kann dahinstehen, inwieweit auch nonverbales Verhalten eines ansonsten zu den Tatvorwürfen im Wesentlichen schweigenden Angeklagten, wovon hier nach den Urteilsgründen auszugehen ist, verwertet werden darf. Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird.“370

Die Formulierung „Es kann dahinstehen, inwieweit […]“ lässt erkennen, dass der Bundesgerichtshof explizit keine allgemeingültige Feststellung betreffend die Verwertbarkeit getroffen hat371 und ferner (ansatzweise) vermuten, dass auch beim schweigenden Angeklagten nonverbale Verhaltensweisen in Grenzen – daher „inwieweit“ – verwertbar und eben nicht generell unverwertbar – dann wohl „ob“ – seien. Interpretationsbedürftig ist indes, dass die „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ der nonverbalen Verhaltensweisen zu Voraussetzungen erhoben werden. Betreffend die darin liegende Bedeutung bieten sich zwei Lesarten an: Entweder man sieht die Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen des (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) grundsätzlich als von der Aussagefreiheit untersagt an und qualifiziert „eindeutige und erhebliche“ nonverbaler Verhaltensweisen als (verwertbare) Ausnahme hiervon – so unzutreffend überwiegend das Schrifttum372 – oder man versteht die Kriterien der „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ als „Verweisung“ auf 367

BGH, Beschluss vom 20. 11. 2019 – 2 StR 467/19, BeckRS 2019, S. 38149. LG Schwerin, BeckRS 2019, S. 38150, Rn. 103. 369 LG Schwerin, BeckRS 2019, S. 38150, Rn. 105. 370 BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 2, 6. 371 Es bestätigt zudem die vorherigen Ausführungen betreffend die Feststellung, dass auch von BGH, Beschluss vom 24. 06. 1993 – 5 StR 350/93 keine generelle Unverwertbarkeit konstatiert worden ist. Ansonsten hätte der Bundesgerichtshof in der neueren Entscheidung wohl auf die ältere Entscheidung betreffend diese Annahme verwiesen. 372 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc). 368

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

die (nachgelagerte) Beweiswürdigung, dahingehend, dass eben nur solche innerhalb der Würdigung einen Ausschlag zu geben vermögen. Der Bundesgerichtshof scheint Letzteres zu meinen, wenn dieser weitergehend formulierte: „Dies zugrunde gelegt, erweist sich die […] Begründung, warum im Verhalten des Angeklagten ein Geständnis […] zu sehen sei, als nicht tragfähig. Die nur sehr knapp dargestellte Verfahrenssituation […] lässt für sich genommen einen eindeutigen Schluss auf den Aussagegehalt der Mimik des Angeklagten nicht zu. Die Strafkammer teilt nicht mit, worauf konkret sie ihre Annahme gründet, der Angeklagte habe ,offensichtlich in Erinnerungen schwelgend‘ genickt. Die Möglichkeit, dass der […] Angeklagte […] allein durch die Tatschilderung zu einer ,versonnen lächelnden‘, ,schwelgenden‘ Mimik veranlasst worden sein könnte, hat das Landgericht nicht erkennbar in den Blick genommen und erörtert. Die von der Strafkammer für die Annahme einer ,Bestätigung‘ herangezogenen weiteren Spontanreaktionen des Angeklagten erweisen sich ebenfalls als nicht hinreichend tragfähig.“373

Ersichtlich wendet sich der Bundesgerichtshof damit gegen die Deutung jener nonverbalen Entäußerungen als Geständnis, da die Tatsachenfeststellungen – wie sie aus den Urteilsgründen deutlich werden – eine derartige Schlussfolgerung nicht stützten, weil die nonverbalen Entäußerungen hierfür nicht eindeutig genug seien. Das geriert sich zwar dogmatisch nicht als ein „Unterlaufen des Schweigerechts“, wie der Bundesgerichtshof ausführte, der Schluss von uneindeutigen Entäußerungen auf ein Geständnis ist aber durchaus geeignet, den Eindruck zu erwecken, dass ein (sonstiges) Schweigen negative Auswirkungen zeitigt; insoweit ist jener Verweis nicht ganz unberechtigt. Auch wendet sich der Bundesgerichtshof nicht generell gegen die Verwertung uneindeutiger und unerheblicher nonverbaler Verhaltensweisen, sondern nur gegen die Verwertung jener als eindeutige und erhebliche.374 Es werden im Ergebnis Beweiswürdigungs- und nicht -verwertungsprobleme diskutiert. Interessant und zugleich „verwirrend“ ist indes, dass der Bundesgerichtshof betreffend die „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ ausdrücklich auf eine Fundstelle im Schrifttum verweist,375 welche (wie auch das sonstige Schrifttum) eher im Sinne des gegenläufigen Verständnisses – obig: erstere Lesart – zu verstehen ist.376

373

BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 7. Auch aus uneindeutigen Haupttatsachen und Indizien dürfen Schlüsse gezogen werden, nur muss bei der Schlussziehung eben berücksichtigt werden, dass jene uneindeutig sind; respektive darf Uneindeutiges nicht als Eindeutiges in die Beweiswürdigung einfließen. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. a) und b). 375 BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6 mit Verweis auf Miebach, NStZ 2000, S. 234. 376 „Beides“ werden die nun folgenden Ausführungen offenbaren. 374

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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cc) Überleitung zu den Ansätzen des Schrifttums In der Tat existiert innerhalb des Schrifttums eine verbreitete Auffassung377 – wohl zurückgehend auf Dahs/Langkeit378 – welche auf die Vieldeutigkeit und den fehlenden Erklärungswert jener nonverbalen Verhaltensweisen verweist und deren Verwertbarkeit beim schweigenden Angeklagten (und folglich auch beim berechtigt schweigenden Zeugen) schließlich von der Eindeutigkeit und Erheblichkeit jener Entäußerungen abhängig machen will. So wird ausgeführt, dass durch die Bewertung einer „spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache“ – wörtlich so auch der Bundesgerichtshof379 – das Schweigerecht „nicht unterlaufen werden dürfte“.380 Innerhalb des Schrifttums werden diese Kriterien indes nicht – wie vom Bundesgerichtshof – als Frage oder Problem der Beweiswürdigung behandelt,381 sondern als notwendige Voraussetzung der Beweisverwertung angesehen und zwar dahingehend, dass beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) nonverbale Verhaltensweisen nur verwertbar seien,382 wenn jene auch eindeutig und erheblich in ihrer Entäußerungsweise sind.383 In diesem Falle könne nämlich unterstellt werden, jener wolle auf sein Schweigerecht verzichten384 oder, wie Rogall es wohl ausdrücken würde, „sich selbst zum Beweismittel machen“.385 Eine Wesensverwandtschaft besteht insoweit zu jenen Ansätzen386, die darauf abstellen, dass der (berechtigt) schweigende Angeklagte (Zeuge) durch sein Vorgehen – also das (sonstige)387 Schweigen – seine gesamte Persönlichkeit der Urteilsfindung entziehen wollte. Nach Roschmann388 wolle der schweigende Ange377

Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215); Keiser, StV 2000, S. 633 (635); Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27. 378 Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215). 379 Vgl. obiges Zitat. 380 Miebach, NStZ 2000, S. 234 (235). 381 Die Kriterien der „Eindeutigkeit“ und „Erheblichkeit“ ließen sich auch als „Mahnung“ an die Tatgerichte verstehen, der häufig bestehenden Uneindeutigkeit bei der Schlussziehung auch entsprechend Rechnung zu tragen. 382 Die jeweiligen Formulierungen des Schrifttums lassen nach Ansicht des Verfassers lediglich den Schluss zu, dass hierin ein formales Kriterium der Verwertbarkeit erblickt wird; was nicht überzeugend ist. 383 Vgl. etwa Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235). 384 Vgl. etwa Keiser, StV 2000, S. 633 (635 f.). 385 In Anlehnung an den Titel der Dissertation von Rogall. Vgl. ders., Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, [Titel]. 386 Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 120. Aber so auch bereits Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215) und ferner Miebach, in: MünchenerKommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235). 387 Insoweit „sonstig“, als ja noch (unbewusste und physisch nicht steuerbare) nonverbale Entäußerungen stattfinden. 388 Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 120.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

klagte überhaupt nicht – respektive nicht nonverbal – kommunizieren und, vermöge seines Schweigens, jegliche Verwertung seiner, auch unbewussten und physisch nicht steuerbaren, Entäußerungen verhindern; der schweigende Angeklagte sei damit ein rechtliches nullum.389 Die Verwertung einer unbewussten oder physisch nicht steuerbaren nonverbalen Entäußerung drohe sodann, dieses Recht zu unterlaufen.390 Dies kann nicht überzeugen. So erscheint die Qualifizierung des Angeklagten als rechtliches nullum schon vor dem Hintergrund seiner prozessrechtlichen Subjektstellung als systemwidrig,391 tatsächlich ist lediglich das Schweigen selbst das rechtliche nullum, nämlich jeglicher Wertung entzogen; phänomenologisch sind nonverbale Entäußerungen aber kein „Schweigen“.392 Es mag in den meisten Fällen auch richtig sein, dass der Angeklagte sich durch sein Schweigen tatsächlich als Person der Urteilsfindung entziehen „will“, etwa gerade, um der Verwertung nachteiliger (Spontan-)Entäußerungen quasi vorzubeugen. Nur ist dieser Umstand schlicht nicht relevant, denn die Frage der Verwertbarkeit ist nicht von dem Willen des Betroffenen abhängig, sondern – wie Schneider393 richtig bemerkt – durch den „Einzugsbereich des ihn schützenden Rechtsinstituts“ bedingt.394 Daraus ergibt sich also kein Argument, weshalb die Aussagefreiheit der Verwertung unbewusster oder 389 Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 120. Vgl. betreffend die Qualifizierung als rechtliches nullum auch Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.), welcher sich im Ergebnis indes für eine Verwertbarkeit (auch im Falle des Schweigens) ausspricht und zwar gerade vermöge der fehlenden Steuerbarkeit. 390 Miebach, NStZ 2000, S. 234 (235), welcher insoweit von einer „spontanen unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache“ spricht. Das deutet inhaltlich aber ersichtlich auf das Kriterium der „Unbewusstheit“ und jenes der „fehlenden Steuerbarkeit“ hin, denn zuvor formuliert Miebach, dass „nonverbales Verhalten eines sonst schweigenden Angeklagten (z. B. „abfälliges Lachen“, „Aufstöhnen“, „Handbewegungen“) verwertet werden dürfte“ und die genannten Verhaltensweisen sind realiter sämtlich solche steuerbarer und bewusster Natur. 391 Richtigerweise weist Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 79 daraufhin, dass der Angeklagte gerade nicht generell als Beweismittel ausscheide. Vgl. abstrakt zur „Subjektstellung“ des Angeklagten Krey/Heinrich, Deutsches Strafverfahrensrecht, Rn. 454. 392 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 393 Schneider, NStZ 2017, S. 126 (131). 394 Unverständlich erscheinen indes die weiteren Ausführungen Schneiders, wenn dieser betreffend Mimik und Gestik auf stets gewillkürte Aktivität verweist und jene daher auch beim vollumfänglich schweigenden Angeklagten verwerten will, sofern „sich diesem Verhalten ein intersubjektiv vermittelbarer Erklärungswert“ zuschreiben ließe. Vgl. Schneider, NStZ 2017, S. 126 (131). Erstens sind Mimik und Gestik keinesfalls generell als gewillkürte Aktivität zu qualifizieren; das wäre schlicht falsch. So ereignen sich gerade mimische Entäußerungen häufig unbewusst und physisch nicht steuerbar. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 2. und 4. Zweitens ist die von Schneider geforderte Voraussetzung, dass es sich (für die Annahme der Verwertbarkeit) um ein Verhalten mit einem „intersubjektiv vermittelbaren Erklärungswert“ handeln müsse, nichts anderes, als das zuvor bereits verworfene Kriterium der „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“, womit Schneider letztlich in dieselben Denkmuster verfällt, wie jene, die er zu kritisieren vermochte. Richtigerweise ist die Frage des „intersubjektiv vermittelten Erklärungswertes“ eine Frage des „Wie“ der Verwertung auf der Ebene der Beweiswürdigung, nicht aber eine solche des „Ob“ der Verwertung.

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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physisch nicht steuerbarer Verhaltensweisen beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) entgegenstehen sollte. In Teilen des Schrifttums395 glaubt man indes, dass der Aussagefreiheit generell eine Verfügungsbefugnis über das eigene Wissen immanent sei; was partiell der Ursprung jener Erwägungen sein dürfte, welche sich gegen eine Verwertbarkeit aussprechen.396 Ausgangspunkt ist ein Ansatz von Reiß397: Aus dem Umstand, dass die Strafprozessordnung beim Beschuldigten generell keine Zwangsanwendung zur Erreichung unvertretbarer Handlungen vorsieht,398 folgert Reiß, dass eine zwangsweise Inanspruchnahme des Beschuldigten als Wissensträger – vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit – ebenso generell unzulässig sein müsse.399 Die Entscheidung betreffend das „Ob“ eines Wissenszugriffs müsse also beim Beschuldigten verbleiben, was dann folglich auch für unbewusste oder physisch nicht steuerbare Wissensentäußerungen gelten müsste. So spricht Haas400 von einem „Verbot eines Ausforschungsbeweises des Unbewußten“ und auch Verrel401 verweist zwar auf den (richtigen) Umstand, dass „Entblößungen“ (Selbstbelastungen) durch unbewusste und physisch nicht steuerbare Verhaltensweisen zum allgemeinen Lebensrisiko zählten, welches dem Betroffenen im Strafprozess nicht abgenommen werden müsse, indes habe der Angeklagte durch die Ausübung des Schweigerechts die Befugnis, sich derart ungewollten Selbstbelastungen zu entziehen. Jenes allgemeine Lebensrisiko wird – bei Ausübung des Schweigerechts – für den Moment des Strafverfahrens dann quasi dispensiert. Wenn der Angeklagte sich zur Sache einlässt, so unterwerfe jener damit indes sein gesamtes Verhalten – also auch Unbewusstes 395 Primär Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 177 f., aber auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294. Ferner Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 204 ff., 207 f., welcher – fälschlicherweise – auf den Bundesgerichtshof verweist. So letztlich auch Frister, ZStW 106 (1994), S. 313 (321 f., 323 ff.), welcher betreffend unbewusste oder physisch nicht steuerbare Entäußerungen indes von einer Unverfügbarkeit ausgeht, konsequenterweise also auch betreffend solche nonverbalen Verhaltensweisen von einer Unverwertbarkeit ausgehen müsste, indes aber auf deren „Sozialadäquanz“ verweist. Vgl. Drittes Kapitel D. III. 1. a), Fn. 352. 396 Dies findet sich ebenso in der (erwähnten) Fehlinterpretation der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshof aus dem Jahre 1993 – BGH, StV 1993, S. 458 f. – wieder. 397 Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 177 f. 398 Und das ist in der Tat zutreffend. 399 Daraus folgerte Reiß – im Ergebnis zu Recht – dass sich die Abgrenzung zwischen Vernehmung und Sachbeweis anhand des Kriteriums des „Wissenszugriffs“ entscheidet. Vgl. Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 178. Nur ist dies bei dogmatischer Betrachtung eine „Vorfrage“ und keine Folgerung, welche sich in irgendeiner Weise aus dem nemo tenetur-Grundsatz, respektive der Aussagefreiheit, ergäbe. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) ee). 400 Haas, GA 1997, S. 368 (370). Zu Recht weist Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 202 [Fn. 1188] daraufhin, dass die Ausführungen bei Haas insoweit unklar verbleiben, als jener nicht abschließend zu klären vermag, weshalb die Ausforschung des Unbewussten in der präsentierten Experiment-Konstellation unzulässig sei. 401 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 207.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

oder physisch nicht Steuerbares – der richterlichen Beweiswürdigung.402 Auch nach Bosch403 seien nonverbale Verhaltensweisen beim schweigenden Angeklagten einer Verwertung entzogen, sofern jene „Aussagequalität“ aufwiesen, was davon abhängen soll, ob im Einzelfall eben Tatwissen preisgegeben werde.404 Obwohl – ausweislich obiger Erwägungen – phänomenologisch eine absolute Verfügungsbefugnis betreffend das eigene Wissen de facto nicht bestehen kann, soll in der Rechtsfolge, also betreffend die Verwertbarkeit jener Entäußerungen, de iure eine solche Verfügungsbefugnis „herbeigeführt werden“. Dabei wäre auch ein trennscharfes Abgrenzungskriterium405 zwischen – stets erlaubter – zwangsweiser Erhebung von Sachbeweisen und – hiernach stets verbotener – zwangsweiser „Erhebung“ von Wissen (also Aussagen) gefunden; wonach die Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) freilich insoweit untersagt wäre, als sich deren Beobachtung als Wissenszugriff gerierte.406 Dennoch leidet diese Auffassung an einer dogmatischen Unschärfe: Will man nicht in Abrede stellen, dass die Aussagefreiheit Ausfluss des nemo teneturGrundsatzes ist,407 so ist der Einzugsbereich dieses Rechtsinstituts auch durch den nemo tenetur-Grundsatz determiniert. Letzterer trifft – ausweislich obiger Erwägungen408 – indes lediglich eine Aussage dahingehend, dass ein solcher Zwang zur Selbstbelastung untersagt ist, welcher sich zugleich als Gestaltung der Selbstentfaltung geriert. Auch wenn dies für die vorliegende Verwertungsfrage noch zu beurteilen sein wird, so wird das dort gefundene Ergebnis jedenfalls nicht von dem „Gegenstand“ abhängig sein, auf den das jeweilige Vorgehen abzielt. Vor dem 402 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 207. In diesem Sinne sind auch bereits die Ausführungen von Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (342) zu verstehen. 403 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294. So formuliert ders., a. a. O., [Fn. 751], dass es „nicht der Stellung des Beschuldigten [entspreche], der selbst entscheiden kann, inwieweit er sein Tatwissen den Strafverfolgungsbehörden preisgeben möchte.“ 404 Unverständlich erscheint indes, dass Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 293 „Mimik und Gestik“ als hiervon ausgenommen betrachtet. Die Beobachtung jener sei verwertbar, da es sich um „aktive“ [im Original in Anführungszeichen] Ausdrucksgesten handle. Tatsächlich kann auch mittels Mimik und Gestik Tatwissen preisgegeben werden, man denke etwa an die Fallgruppe der „umgekehrten Rekognition“ und die dabei „erhoffte“ verräterische Mimik. Nun ließe sich unterstellen, dass Bosch in Wahrheit auch anhand der Kriterien „aktiv (bewusst)“ und „passiv (unbewusst, nicht physisch steuerbar)“ über die Zulässigkeit der Verwertung zu entscheiden gedenkt. Das muss aber vor dem Hintergrund widersprüchlich erscheinen, dass Bosch einerseits das Aktivitäts/Passivitäts-Dogma kritisiert und andererseits gerade von „bewußten, und damit unverwertbaren Äußerungen des Beschuldigten“ spricht. Vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294 [Fn. 750 a. E.]. 405 Nämlich deutlich weniger wertungsabhängig als etwa das Aktivitäts/Passivitäts-Dogma. 406 Gerierte sich die Beobachtung indes als Zustandszugriff, so bliebe zumindest die Aussagefreiheit hiernach unbetroffen; was etwa der Fall wäre, wenn nonverbale Verhaltensweisen Anhaltspunkte für eine psycho-somatische Störung böten. 407 Dies lassen lediglich die Ausführungen von Frister, ZStW 106 (1994), S. 312 (319) vermuten. 408 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1.

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Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes können sowohl Beweiserhebungen, die auf die Erlangung von „Wissen“ (Vernehmungsmethode) abzielen, als auch solche, die auf die Erlangung von „Zuständen“ (Sachbeweis) abzielen, unzulässig oder eben zulässig sein. Tatsächlich unterlag der Begründer jener erörterten Auffassung – Reiß – wohl einem strukturellen Irrtum. Er ging schlicht davon aus, dass ein Wissenszugriff stets nur „über“ eine Gestaltung der Selbstentfaltung möglich wäre, also stets die Mitwirkung des Betroffenen erfordere; dann wäre jener Auffassung in ihrer Trennschärfe zuzustimmen. Das ist phänomenologisch jedoch unrichtig. Zwar wird Reiß für den überwiegenden Anteil menschlicher Kommunikation Recht behalten – solche ist typischerweise nicht ohne Mitwirkung „erlangbar“ – für nonverbale Verhaltensweisen verhält es sich indes konträr; hier ereignet sich der überwiegende Anteil menschlicher Entäußerungen gerade unbewusst oder physisch nicht steuerbar (also wohl ohne Mitwirkung des Betroffenen). In diesen Konstellationen ebenso eine Gestaltung der Selbstentfaltung anzunehmen, erschiene doch sehr merkwürdig. Dann kann aber der „Gegenstand“ – „Wissen“ – höchstens in der Regel, nicht aber stets den Ausschlag über eine Verwertbarkeit vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit geben. Im Ergebnis abzulehnen sind ferner jene Ansätze,409 welche unbewusste und physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen als unselbstständige Begleitumstände des Schweigens zu qualifizieren versuchen. So will etwa Keiser410 jene Verhaltensweisen im Falle des Schweigens als „Annex“ hierzu begreifen, womit eine Verwertung vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit unterbleiben müsse. Die argumentatio von Keiser basiert im Wesentlichen auf der (richtigen) Annahme, dass im Zweifel davonauszugehen sei, dass der Angeklagte von seinem Recht, sich nicht zur Sache einlassen zu müssen, Gebrauch machen will.411 Vor diesem Hintergrund dürfe dem Angeklagten kein entgegenstehender Wille – also sich einlassen zu wollen – „unterstellt“ werden;412 mit der Folge, dass nonverbale Verhaltensweisen vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit nur dann verwertbar seien, wenn jenen ein Erklärungswert in eine bestimmte Beweisrichtung immanent sei (und zwar dahingehend, dass der Angeklagte sich einlassen wolle).413 Dann ist es nur folgerichtig, dass Keiser jenen Erklärungswert durch die „Eindeutigkeit“ jener nonverbalen Verhaltensweisen in ihrer Entäußerungsform bedingt sieht.414 Tatsächlich basieren aber auch diese 409 Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 161 f. [Fn. 298]. So auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199. In diese Richtung auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16, welcher Mimik und Gestik dem Schweigen gleichgestellt sehen will. Ebenso Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27. 410 Keiser, StV 2000, S. 633 (636). 411 Keiser, StV 2000, S. 633 (635). 412 Keiser, StV 2000, S. 633 (635). 413 Keiser, StV 2000, S. 633 (636). 414 Keiser, StV 2000, S. 633 (636). Wobei sich jene – unter dem Deckmantel eines vermeintlich anderen Ausgangspunktes – schließlich der Auffassung von Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215) anschließt.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Erwägungen auf dem verfehlten Grundgedanken, dass die Verwertbarkeit zur Disposition des (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) stünde, denn nur insoweit als die Entscheidung über die Verwertbarkeit beim Betroffenen läge, gerierte sich die (vermeintliche) Determinante „eindeutiger Erklärungswert“ tatsächlich als eine solche – ansonsten ist es schlicht irrelevant, ob die Entäußerung im Einzelfall aus der Sicht des Betroffenen als „Einlassung“ gewollt war. Vermöge obiger Ausführungen ist dies irrelevant.415 dd) Die Aussagefreiheit als Freiheit zur bewussten Aussage Nach dem zuvor Gesagten vermag also weder der Zugriffsgegenstand („Wissen“ oder „Zustand“) noch das Zugriffsmittel („menschliche Beobachtung“ oder „technische Mittel“) über die Zulässigkeit einer Beweiserhebung oder -verwertung vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes, respektive der Aussagefreiheit zu entscheiden. Indes konnte gezeigt werden, dass die Aussagefreiheit wohl nur insoweit uneinschränkbaren Schutz entfaltet, als es sich um bewusste Aussagen handelt. Unbewusste oder physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen wären damit sowohl im Allgemeinen als auch im Falle des (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) verwertbar;416 und zwar sowohl für den Fall des zufälligen Auftretens jener Verhaltensweisen als auch für den Fall der gezielten Provokation jener innerhalb von Experiment-Konstellationen, dies vermöge der Erkenntnis, dass die Beobachtung jener zwar durch (un-)mittelbaren Zwang bewirkt wird, jener Zwang aber keine Gestaltung der Selbstentfaltung bewirkt, weil der Angeklagte (oder Zeuge) jene Entäußerungen eben nicht bewusst tätigt. Ein (zugegeben) streitiges Ergebnis, welches noch eines präziseren Beweises bedarf. ee) „Beredetes“ Schweigen durch nonverbale Verhaltensweisen? – zugleich eine Einordnung in die Kategorien von vollständigem und teilweisem Schweigen Versteht man die Aussagefreiheit richtigerweise nur als Freiheit zur bewussten Aussage, so stellt sich die Folgefrage, ob ein schweigender Angeklagter, welcher unbewusste oder physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen entäußert, damit „noch immer“ als vollständig schweigend gilt. 415 Letztlich werden hier zwei Fragen miteinander vermengt. Einerseits: „Ob“ die Erhebung und Verwertung unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen vor dem Hintergrund der Aussagefreiheit untersagt sind; und das sind sie – weder allgemein noch beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten oder Zeugen – nicht. Andererseits: „Wie“ unbewusste oder physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen in die Dichotomie von vollständigem und teilweisem Schweigen zu implementieren sind. 416 Ausdrücklich zustimmend, gerade wegen der Unbewusstheit wohl einzig Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.), welcher indes einer näheren Begründung schuldig bleibt. Dieser Gedanke wird an späterer Stelle noch fortzuführen sein. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. b) und c).

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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Als im Rechtssinne vollständig schweigend – Totalschweigen – ist der Angeklagte solange anzusehen, wie er sich nicht zur Sache eingelassen hat, wobei weder ein bloß pauschales Bestreiten417 noch die Wahrnehmung der Rechte der §§ 257 Abs. 1, 258 Abs. 1 StPO418 diesen „Zustand“ zu beseitigen geeignet sind.419 Demgegenüber gilt der Angeklagte als teilweise schweigend, sofern er sich nur partiell zur Sache eingelassen hat, also etwa auf einzelne Fragen nicht antwortet oder bestimmte Punkte einfach übergeht; nach (noch) herrschender Auffassung420 – Lehre vom Teilschweigen – dürfe dieser Umstand, der „nur teilweisen Einlassung“, im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, das Schweigen insoweit also auch zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden. Wenn nun auch unbewusste und physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen, im Falle einer Wissensübermittlung, als Aussage einzustufen sind,421 so ließe sich prima facie argumentieren, dass ein (ansonsten) vollständiges Schweigen durch derartige Entäußerungen beredet sei; was die Rechtsfolgen des teilweisen Schweigens nach sich zöge. Das wäre ein groteskes Ergebnis, denn so bliebe realiter kein Raum mehr für ein vollständiges Schweigen;422 es sind schlicht keine Hauptverhandlungen denkbar, innerhalb derer das Gericht keine irgendwie gearteten nonverbalen Verhaltensweisen des Angeklagten registriert. Genau hierin dürfte auch die Befürchtung des Bundesgerichtshofs gelegen haben, wenn jener in der zweiten obig zitierten Entscheidung formulierte: „Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird.“423

Die „Sorge“, dass das „Schweigerecht des Angeklagten unterlaufen [werde]“, könnte namentlich so zu interpretieren sein, dass der Bundesgerichtshof lediglich klargestellt wissen wollte, dass vermöge „unreflektierter und […] unklarer Körpersprache“ jedenfalls nicht die Rechtswirkungen des Totalschweigens beseitigt, 417 Vgl. BGHSt 34, S. 324 (326); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 200; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27; Schneider, Jura 1990, S. 572 (581). 418 Die §§ 257 Abs. 1, 258 Abs. 1 StPO sind vorliegend insoweit von Relevanz, als dem Angeklagten bei der Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen seitens des Gerichts in bestimmten Konstellationen die dort genannten Erklärungsrechte zustehen. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. c). 419 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 200. 420 BGHSt 20, S. 298 (300); 32, S. 145; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 495; Kasiske, JuS 2014, S. 15 (20); Miebach, NStZ 2000, S. 234 (236); Rieß, JA 1980, S. 293 (295); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 33. 421 Und dies konnte festgestellt werden. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ee) und ff). 422 Und zwar unabhängig von dem Umstand, dass ein vollständiges Schweigen in der Rechtspraxis ohnehin nur höchst selten vorkommt. Vgl. Rieß, JA 1980, S. 293 (295); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 200. 423 BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

respektive jene des Teilschweigens herbeigeführt werden können, was überzeugend wäre. Für diese Interpretation spricht zudem, dass sich der Bundesgerichtshof424 in der ersten obig zitierten Entscheidung aus dem Jahre 1993 mit jener Konstellation zu befassen hatte. So hatte nämlich das Landgericht Berlin das fehlende Inabredestellen des Tatvorwurfs durch den schweigenden Angeklagten als Schuldindiz verwertet; was schon sehr nahe in die Richtung der Annahme eines Teilschweigens geht, denn das Landgericht sah sich gerade vermöge des Umstandes, dass der Angeklagte „die Beweisaufnahme mit lebhafter Mimik und Gestik trotz seines Schweigens begleitet hat“, zu dieser Wertung des Schweigens befugt. Wenn nun einst Dahs/Langkeit425 einer „Verwertbarkeitsannahme“ – betreffend nonverbale Verhaltensweisen beim schweigenden Angeklagten – Abgrenzungsprobleme zur Lehre vom Teilschweigen zu attestieren versuchten, so ist jenen zu erwidern, dass es sich hierbei schlicht um Fragestellungen handelt, die nicht notwendigerweise innerhalb eines Kausalnexus zu beantworten sind. Die Verwertbarkeit unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen wurde auch für den Fall des schweigenden Angeklagten positiv beantwortet.426 Die Entäußerung unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen begründet aber keinesfalls eine „Beredtheit“ des Totalschweigens und damit auch nicht, dass, entsprechend der Lehre vom Teilschweigen, das sonstige Schweigen (unter bestimmten Voraussetzungen427) verwertet werden dürfte.428 Hierfür bedürfte es vielmehr einer Entäußerung, welche ohne begründete Zweifel, einen Willensakt „zur Einlassung“ erkennen lässt. Dies kann im Wege einer verbalen oder auch nonverbalen Entäußerung geschehen. Maßgeblich ist indes, dass es sich um eine bewusste Entäußerung handelt, welcher ein eindeutiger Erklärungswert immanent ist, sich einlassen zu wollen;429 was etwa in Gestalt eines zustimmenden Kopfnickens auf eine Frage des Vorsitzenden geschehen könnte. Denn richtigerweise ist im Zweifel davon auszugehen, dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht

424

BGH, StV 1993, S. 458 f. Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215). 426 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) dd). 427 Vgl. hierzu etwa Miebach, NStZ 2000, S. 234 (235 ff.). 428 Zu dieser Problematik gelangt man bereits nicht, wenn man die Lehre vom Teilschweigen – respektive die „dortige“ Annahme der Verwertbarkeit des teilweisen Schweigens – generell als verfassungswidrig einzustufen gedenkt. Hierfür sprechen in der Tat gute Argumente, welche indes nicht Gegenstand dieser Abhandlung sein sollen. Vgl. stattdessen Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 206 ff. sowie Kühl, JuS 1986, S. 115 (120); Park, StV 2001, S. 589 (591); Rüping, JR 1974, S. 135 (138); Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 83. 429 Insoweit scheint sich das Kriterium des „eindeutigen Erklärungswertes“, welches sich etwa bei Schneider, NStZ 2017, S. 126 (131) findet, durchaus „fruchtbar“ machen zu lassen. Auch das im Schrifttum vielfach genannte Kriterium der „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ sowie der Umstand, dass der schweigende Angeklagte „seine Person einer Verwertung entziehen will“, erscheinen vor dem Hintergrund des hier präsentierten Ansatzes durchaus sachdienlich. 425

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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„Gebrauch machen“ will. Durch das hier präsentierte Verständnis wird dieser Grundsatz aber nicht unterlaufen. 2. Ausprägung: Mitwirkungsfreiheit Wurde die Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen in der Vergangenheit fast ausschließlich anhand der Aussagefreiheit beurteilt, so ist dies zunächst insoweit nicht verwunderlich, als jene Verhaltensweisen seitens des Schrifttums430 überwiegend – für den Fall des Wissenszugriffs auch berechtigterweise – als Aussagen oder Aussagesurrogate qualifiziert wurden. Es wurde indes gezeigt, dass nonverbale Verhaltensweisen auch Anhaltspunkte für psychische oder physische pathologische Zustände „zu liefern“ vermögen.431 In diesen Fällen geriert sich die Entäußerung aber nicht als Aussage, sondern die Beobachtung vielmehr als Zustandszugriff und mithin als Sachbeweiserhebung.432 Der nemo tenetur-Grundsatz gewährt dem Einzelnen aber nicht bloß eine Aussagefreiheit, sondern vielmehr eine generelle Mitwirkungsfreiheit, nicht an der eigenen Strafverfolgung mitwirken zu müssen433 und zwar ganz gleich auf welche Art und Weise. Wenn die wohl überwiegende Auffassung434 Aussage- und Mitwirkungsfreiheit als ein „Nebeneinander“ von Ausprägungen des nemo teneturGrundsatzes begreift – Zwang zur Erlangung von Aussagen einerseits, Zwang zur Erlangung von Sachbeweisen andererseits –, ist das zwar nicht falsch, dogmatisch aber eher unpräzise. Richtigerweise ist die Aussagefreiheit nur ein Spezialfall der Mitwirkungsfreiheit, so wird dem Einzelnen garantiert, nicht „im Wege einer Aussage“ mitwirken zu müssen. Damit kann die Verwertbarkeit sämtlicher nonverbaler Verhaltensweisen vor dem Topos der Mitwirkungsfreiheit diskutiert werden, und zwar unabhängig davon, ob sich mit deren Beobachtung ein Wissens- oder Zustandszugriff ereignet. a) Nonverbale Selbstbelastungen unter dem Aktivitäts/Passivitäts-Dogma Nun ist aber nicht jeder Mitwirkungszwang im Strafverfahren vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes ipso iure untersagt. Die herrschende Auffas-

430

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc). Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 5. 432 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ff). 433 Vgl. BVerfGE 56, S. 37 (42, 49); BGHSt 40, S. 66 (71 f.); 42, S. 139 (152 f.); 45, S. 367 (368); 49, S. 57 (58); Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 277; Eisenberg, NStZ 1994, S. 598 (599); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 73; ders., Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 60. 434 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 277; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 73; Wolff, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 92 ff. 431

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

sung in Judikatur435 und Schrifttum436 sucht das Maß des Zulässigen anhand des sogenannten Aktivitäts/Passivitäts-Dogmas zu beurteilen. Danach sei ein staatlicher Zwang nur insoweit unzulässig, als jener dem Betroffenen aktive Selbstbelastungshandlungen abnötigt, wohingegen sich die Abnötigung passiver Duldungen als unproblematisch gestalte.437 Dem Einzelnen ist vermöge des nemo tenetur-Grundsatzes das Recht zugestanden, jede Art der aktiven Mitwirkung zu verweigern, sofern diese in irgendeiner Form geeignet wäre, die „eigene“ Strafverfolgung zu fördern. Mithin ist dem Staat eine korrespondierende Pflicht auferlegt, „Zwang“ zu unterlassen, welcher in seiner Qualität aktive Mitwirkungen befördert. Wenn nun festgestellt wurde, dass sich die Beobachtung sowohl zufällig auftretender als auch in Experiment-Konstellationen provozierter nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung stets als (un)mittelbare Zwangsanwendung geriert,438 muss folglich die Qualität der hierbei abgenötigten „Mitwirkungshandlungen“ in den Fokus gestellt werden. Das Urteil über jene Qualität ist prima facie schnell gefunden: Ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen unbewusst oder für den Einzelnen physisch nicht steuerbar – und phänomenologisch ist dies für den Großteil der Entäußerungen eben zutreffend439 – so geriert sich der abgenötigte Preisgabeakt (selbstbelastend oder nicht) denklogisch niemals als aktive Mitwirkung. Denn richtigerweise ist eine aktive Mitwirkung nur dort möglich, wo sich der Wille des Einzelnen zu einem (aktiven) Tätigwerden entschließen kann (oder – abgenötigt – entschließen muss);440 steht der 435 BVerfGE 56, S. 42 f., welches insoweit von „passiven Verhaltenspflichten“ spricht. BGHSt 24, S. 125 (129); 34, S. 39 (45 f.); 49, S. 56 (58). 436 Kasiske, JuS 2014, S. 15 (17 f.); Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 142; Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor § 133, Rn. 91 f. Kritisch indes Bosch, Aspekte des nemotenetur-Prinzips, S. 279, wonach die Abgrenzung im Grenzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes versage. So sei es „willkürlich“, dem Betroffenen stets eher Zwang zur Duldung zuzumuten, als eine Pflicht zu aktivem Verhalten. Beurteilte man das Maß des Zulässigen anhand der Eingriffsintensität – wie etwa partiell auch Bosch – so wäre diese Kritik durchaus berechtigt; nur spielt die Eingriffsintensität ausweislich der präsentierten verfassungsrechtlichen Implikationen schlicht keine Rolle. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (1). Wenn Wolfslast, NStZ 1987, S. 103 (104) darauf verweist, dass die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen den jeweils belastenden Auswirkungen auf den Beschuldigten nicht hinreichend gerecht wird („qualitativer Unterschied […] nicht besteht“), so ist dem entgegenzuhalten, dass – neben der Unbeachtlichkeit des Belastungsgrades – es bei „nemo tenetur“, anders als beim Tun und Unterlassen, gerade nicht auf die jeweilige Ernergieaufwendung in eine bestimmte Richtung ankommt, sondern vielmehr auf die davon unabhängige Frage der Gestaltung einer Selbstentfaltung. 437 Schuhr, in: Münchener-Kommentar-StPO, Vor § 133, Rn. 92. Anders Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (249), der auch bloße Duldungspflichten vor dem Hintergrund der Selbstbelastungsfreiheit als unzulässig betrachtet. 438 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. 439 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 440 Vgl. Eb. Schmidt, NJW 1962, S. 664 (665) und ferner Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 142; ders., Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 55 f.

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Preisgabeakt aber schon nicht zur Disposition des Einzelnen, so kann technisch nicht von einer Entschließung die Rede sein. Das gilt einerseits für die Konstellation, dass sich die Beobachtung als Zustandszugriff geriert – also etwa, wenn die in der Hauptverhandlung entäußerte Verhaltensweise Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung offenbart. Der Angeklagte ist hier jedenfalls vermöge der Anwesenheitsverpflichtung dem staatlichen Zugriffsakt – der Beobachtung – zwangsweise ausgesetzt;441 aber der Zwang wirkt eben lediglich dergestalt, dass ihm die Duldung dessen abgenötigt wird. Die Beobachtung wäre in derartigen Konstellationen dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen.442 Ein Zugriff auf den Beschuldigten im Rahmen des objektiven Personalbeweises ist aber vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes, respektive der Mitwirkungsfreiheit, kaum ernstlich abgelehnt worden.443 Vielmehr werden die Eingriffsbefugnisse der §§ 81, 81a ff. StPO als argumentum ex lege für die Aktivitäts/Passivitäts-Doktrin bemüht.444 Die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen reiht sich – bei normativer Betrachtung – insoweit nahezu nahtlos in die paradigmisch genannten Befugnisse nach §§ 81 ff. StPO ein; geschieht die Beobachtung etwa während einer stationären Unterbringung nach § 81 StPO, findet sich sogar eine explizite Rechtsgrundlage. Andererseits gelten diese Feststellungen auch, wenn sich die Beobachtung als Wissenszugriff geriert – also etwa, wenn die entäußerte Verhaltensweise als „Lügensymptom“ qualifiziert werden kann oder exemplarisch der erstaunte Gesichtsausdruck des Angeklagten im Falle der „umgekehrten Rekognition“ wahrgenommen wird. Steht ein Zwang zur Erlangung einer Aussage in Rede, so wurde die Qualität jenes Zwanges in der Vergangenheit indes kaum näher betrachtet und nur höchst selten445 unter den Gesichtspunkten von Aktivität und Passivität diskutiert. Dies basiert auf der tradierten Annahme, dass eine Aussage (oder ein Aussagesurrogat) eben generell nur vermöge einer aktiven Mitwirkung „erlangbar“ wäre, und im Grundsatz stimmt das freilich auch. Die „klassisch-verbale Aussage“ ist stets vom bewussten Willen des Aussagenden abhängig; jeder hierauf gerichtete Zwang hätte 441

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. III. 1. b) ff). 443 So aber Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (249), welcher jeden Untersuchungszwang gegen den Beschuldigten für unzulässig erachtet. 444 Vgl. BGHSt 34, S. 39 (45 f.); Rieß, JA 1980, S. 293 (294 f.); Seebode, JA 1980, S. 493 (494); Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 54 ff. In diese Richtung auch Eb. Schmidt, NJW 1962, S. 664 f. Dagegen indes Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips, S. 285 ff., welcher in den Eingriffsbefugnissen der §§ 81 ff. StPO durchaus Aspekte erblicken will, die gegen eine Abgrenzung anhand der Aktivitäts/Passivitäts-Doktrin sprechen. Kritisch auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 233. Tatsächlich ist diese argumentatio dogmatischen Bedenken ausgesetzt: Ein Rechtssatz von Verfassungsrang kann schon aus Gründen der Normenhierarchie niemals durch Bundesrecht ausgelegt werden. 445 Erwähnungen finden sich indes bei Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (322) und Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 15, 257 f. 442

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also – im Grundsatze – die Qualität etwas Aktives abzunötigen.446 Nur für unbewusste oder physisch nicht steuerbare Verhaltensweisen gilt dies eben nicht. Ein hierauf gerichteter Zwang vermag strukturell nur eine passive Duldung abzunötigen. b) Wissens- und Zustandszugriff als solche im Wege von „vis absoluta“ Wohl gleichsam verhält es sich, wollte man stattdessen – mit Teilen des Schrifttums447 – das Maß des Zulässigen anhand des vis absoluta/vis compulsivaDualismus zu bestimmen versuchen. Danach sei zwar auch die Qualität des Zwanges maßgeblich, aber nicht dergestalt, dass die Art des abgenötigten Verhaltens über die Zulässigkeit bestimmte, sondern die Art der Zwangswirkung auf die Willensbildung des Einzelnen den Ausschlag gäbe.448 Danach verbietet „nemo tenetur“ lediglich die Einwirkung – im Wege von vis compulsiva – auf die menschliche Willensbildung, nicht aber die Ausschaltung – im Wege von vis absoluta – jener zu Strafverfolgungszwecken. Dem zwangsweisen Wissens- oder Zustandszugriff seitens des Staates – wie er sich bei der Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ereignet – ist de facto eine Wirkungsweise immanent, welche die Betätigung des Willens des Einzelnen unberührt lässt; vermöge der Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerungsfähigkeit, erfolgt der Zugriff unabhängig vom Willen des Betroffenen. Darin besteht auch der Unterschied zu einem – richtigerweise – als unzulässig erachteten „Insistierens“, die dortige „Druckausübung“ gerierte sich demgegenüber gerade als Versuch den Willen des Betroffenen zu einer „klassisch verbalen Aussage“ zu betätigen. Das ist vorliegend nicht der Fall. Der Wissens- oder Zustandszugriff geriert sich damit zwar terminologisch nicht als Ausschaltung eines bestehenden Willens, sondern als ein „Vorgehen“, welches – ausgehend vom Zeitpunkte der Einwirkung und vermöge der Anwesenheitsverpflichtung – a priori die Bildung eines entgegenstehenden Willens (zur „Nichtpreisgabe“ nonverbaler Entäußerungen) verhindert. Nur sind bei normativer Betrachtung die „a priori-Verhinderung“ und die „a posteriori-Ausschaltung“ schlicht gleichwertig.449 In beiden Fällen wird der Wille nicht betätigt, sodass die Zwangseinwirkung auf die Willensbildung als vis absoluta zu qualifizieren ist. Das gilt 446

In diesem Sinne formuliert etwa Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, S. 127: „Wie, wenn nicht durch den Einsatz von Folter, soll die Stimme einer Person hörbar gemacht werden, die sich weigert, etwas zu sagen?“ 447 Grünwald, JZ 1981, S. 423 (428) sowie kritisch Weßlau, StV 1997, S. 341 (343); dies., ZStW 110 (1998), S. 1 (31). Dagegen Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 212 ff. sowie bereits zuvor auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 280 f. 448 Vgl. Grünwald, JZ 1981, S. 423 (428) und ferner zur Darstellung auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 212, welcher dies indes ablehnt. 449 Genau genommen wirkt jedenfalls der durch die Anwesenheitspflicht vermittelte Zwang nicht willensbeugend, sondern willensüberwindend (sei es nun einen Willen zu überwinden, der (noch) nicht gebildet ist oder einen Willen terminologisch auszuschalten).

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sowohl für den Fall, dass nonverbale Verhaltensweisen zufällig auftreten als auch für den Fall, dass jene im Rahmen von Experiment-Konstellationen gezielt provoziert werden. Damit ist letztlich konstatiert, dass eine Verwertung des „Erröten, Erbleichen, Stottern oder Zittern“ des (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) ebenso zulässig ist, wie auch Experimente der „umgekehrten Rekognition“. Wenn der materielle Grund für jenen Ansatz – von Grünwald450 – darin erblickt wird, dem Einzelnen die „Qual der Wahl“ zu ersparen, sich selbst „ans Messer liefern zu müssen“, so besteht hier in der Tat eine Kongruenz zu dem, was die Betrachtung von Rechtsgrundlage und Rechtsnatur – maßgeblich als Ausfluss der Menschenwürdekonzeption – zu Tage gefördert hatte: Die staatliche Gestaltung der Selbstentfaltung des Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verhindern.451 Dort wo die Willensbildung vollständig ausgeschlossen wird, also eine vom Willen überhaupt nicht abhängige Selbstbelastungsentäußerung geschieht, geriert sich die Selbstbelastung auch nicht als eine solche „seiner selbst gegen sich selbst“. Dem kann auch nicht – etwa von Bosch452 und Verrel453 – entgegengehalten werden, dass für den Betroffenen nicht die Art der Zwangswirkung, sondern der Inhalt der jeweils abgenötigten Handlungspflichten maßgeblich sei, da er in beiden Fällen zum unfreiwilligen Werkzeug seiner Überführung werde.454 Das verkennt, dass der Betroffene im Falle von vis compulsiva gezwungen wird, sich selbst in die Position des „Werkzeugs“ zu versetzen, im Fall von vis absoluta indes hineinversetzt wird. Letzterenfalls fehlt es aber an der bewussten Entscheidung hierzu; er muss sich mithin nicht gegen sich selbst wenden.455 Das gilt auch für die Annahme von Bosch456, dass der Anwendung von vis absoluta stets auch a priori ein willensbeeinflussendes Element immanent sei, dass der 450

Grünwald, JZ 1981, S. 423 (428). Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (2). 452 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 281. 453 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 213. 454 Vgl. so auch Neumann, in: Festschrift für Wolff, S. 373 (385) sowie Wolfslast, NStZ 1987, S. 103 (104). 455 Das ist im Übrigen auch der Grund, weshalb im Falle einer „Täuschung“ niemals die Mitwirkungsfreiheit beeinträchtigt werden kann; hier kommt dem Betroffenen – vermöge der Täuschung – schon gar nicht der Gedanke, dass er gegen sich selbst handelt. Insoweit kann auch nicht von einer Gestaltung der Selbstentfaltung gesprochen werden, sondern ebenso nur von einer Ausschaltung jener. 456 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 281 f. Der Betroffene wisse quasi, dass ihm keine Wahl bleibt, sodass er regelmäßig nicht die Anwendung von unmittelbarem Zwang in Gestalt von vis absoluta „abwarten“ wird. Insoweit verweist Bosch auf die – richtigerweise nicht für den Beschuldigten geltende – Editionspflicht des § 95 Abs. 1 StPO. So dürften die Strafverfolgungsbehörden zwar das Herausgabeverlangen nicht mit Zwangsmitteln durchsetzen, gleichwohl aber die Durchsuchung und Beschlagnahme androhen, was dann jedenfalls in Form von vis compulsiva auf die Entscheidungsfindung – Willensbildung – einwirke. So müsste, und damit will Bosch den (vermeintlichen) Widerspruch des vis absoluta/vis compulsiva-Dogmas aufdecken, „konsequenterweise“ auf die Androhung von „vis absoluta-Zwangsmaßnahmen“ 451

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Betroffene sich nämlich im Angesicht der drohenden Inanspruchnahme in Form von vis absoluta regelmäßig zur „freiwilligen“ (bewussten) Mitwirkungen gezwungen sehen wird; somit könne die Anwendung von vis compulsiva nicht generell ausgeschlossen werden. Für die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen geht diese argumentatio gänzlich ins Leere, denn auch wenn der Betroffene „erkennt“, dass jene im Wege von vis absoluta etwa gezielt provozierbar sind, so steht deren Entäußerung – vermöge der Unbewusstheit, fehlenden physischen Steuerbarkeit – „noch immer nicht“ zu seiner Disposition. Auch im Allgemeinen vermag damit nicht die Bestimmung des Zulässigen anhand der Kriterien von vis absoluta und vis compulsiva negiert zu werden, denn auch wenn dem Betroffenen das Damoklesschwert der „vis absoluta-Anwendung“ über dem Haupte schwebt (Androhung), so wird ihm nur das „Unvermeidliche“ vor Augen geführt. Ihm wird – bei normativer Betrachtung – zu keinem Zeitpunkt abgenötigt, sich gegen sich selbst zu stellen. Die Situation geriert sich vielmehr als eine Wahl zwischen zwei normativ gleichwertigen Übeln: Sich der vis compulsiva beugend selbst zu belasten oder im Wege von vis absoluta ohnehin „selbst belastet zu werden“. Entscheidet sich der Betroffene für Ersteres, so ist seine Entscheidung dennoch nicht conditio sine qua non für die Selbstbelastung (durch nonverbale Verhaltensweisen)457 – und darauf kommt es an. c) Die Offenbarung unbewusster und physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen als vertretbare Handlung Besonders deutlich wird dies, wenn man die Frage der „Unbedenklichkeit“ – wie etwa Schlauri458 – anhand der Dichotomie von vertretbaren und unvertretbaren Handlungen zu betrachten sucht.459 Geriert sich die Offenbarung des Beweisziels, also die abgenötigte Handlung als eine solche vertretbarer Natur, so kann der Wille des Betroffenen keiner verbotenen Gestaltung zur Selbstbelastung ausgesetzt (gewesen) sein. Ohne dies je in expressis verbis zum Ausdruck gebracht zu haben, folgt die Judikatur diesem Ansatz: So hatte etwa das Kammergericht Berlin460 keine Bedenken im Hinblick auf die Mitwirkungsfreiheit, wenn mittels Knebelketten und Ziehen an verzichtet werden. Das würde in der Tat mit dem Übermaßverbot kollidieren. Zustimmend zu dem Ganzen auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 214. 457 Was aber auf andere Selbstbelastungen („Mitwirkungen“) übertragbar ist, sofern der Betroffene nicht „die Qual der Wahl“ hat. So ist etwa – entgegen Bosch, Aspekte des nemotenetur-Prinzips, S. 40 – die Androhung von vis absoluta zur Erreichung einer Mitwirkung (etwa bei einer Gegenüberstellung) unbedenklich, weil jenes „Ziel“ ohnehin mit vis absoluta erreichbar (ersetzbar) wäre. 458 Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, S. 128 f. 459 Letztlich besteht hier ohnehin eine Kongruenz mit dem Aktivitäts-/Passivitäts-Dogma, denn sobald eine Handlung (selbstbelastende Offenbarung) vertretbar ist, kann jene auch mittels vis absoluta seitens der Strafverfolgungsbehörden ersetzt werden; wohingegen unvertretbare Handlungen stets des Einsatzes von vis compulsiva „bedürfen“. 460 Kammergericht Berlin, NJW 1979, S. 1668 (1669).

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den Haaren eine Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten ermöglicht wird und auch der Bundesgerichtshof461 sah es als unproblematisch an, den Beschuldigten durch Androhung unmittelbaren Zwanges aufzufordern, eine tatsimulierende Pose einzunehmen, um die Herstellung einer Vergleichsaufnahme zu ermöglichen. Letzterenfalls lässt sich phänomenologisch aber die Anwendung von vis compulsiva zur Abnötigung eines aktiven Mitwirkungsaktes kaum bestreiten. Maßgeblich ist indes, dass die Erreichung des Beweisziels – bei vertretbaren Handlungen – auch ohne einen Willensentschluss des Betroffenen erlangbar (gewesen) wäre, und in diesem Falle steht der Einzelne bei vorgelagerter vis compulsiva-Anwendung nicht schlechter, sondern bloß „anders“. Bei vertretbaren Handlungen besteht dogmatisch also eine Art beachtliche Reserveursache, welche die Kausalität der Willensentschließung zur Selbstbelastung unterbricht. Bei zufällig auftretenden oder auch im Rahmen von Experiment-Konstellationen gezielt provozierten nonverbalen Verhaltensweisen gibt es – vermöge der Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit – aber bereits keinen Willensentschluss. Die Offenbarung jener geriert sich – wenn überhaupt – nur aus normativen Gründen als vertretbare Handlung;462 etwas nicht „Existentes“ kann niemals „kausal werden“ für eine (etwaige damit realisierte) Selbstbelastung. d) Von der fehlenden Handlungsqualität jener Offenbarung Richtigerweise erschiene indes schon die Zusprache von Handlungsqualität als solcher in der Sache widersprüchlich, respektive die Einordnung in die genannten Kategorien ungeeignet. Verführe man etwa anhand den Kriterien der sozialen Handlungslehre,463 so mag in der Offenbarung nonverbaler Verhaltensweisen zwar noch eine „Sozialerheblichkeit“ erblickt werden, es fällt jedoch ersichtlich schwer, in etwas Unbewusstem oder physisch nicht Steuerbarem nonchalant ein „willkürliches Verhalten“464 zu erblicken.465 Aber auch diese „Einordnung“ ist letztlich obsolet, denn vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes ist es lediglich von Bedeutung, dass sich der Offenba461 BGH, NStZ 1993, S. 47, welcher in § 81b StPO die hierfür notwendige Rechtsgrundlage erblickte. Vgl. hierzu auch Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 216. 462 Wenn man eine Einordnung in jene Kategorien „erzwingen“ wollte. 463 Vgl. zur sozialen Handlungslehre: Eisele, in: Schönke/Schröder-StGB, Vorb. zu den §§ 13 ff., Rn. 33/34; Maihofer, in: Festschrift für Eb. Schmidt, S. 156 (178). 464 Eb. Schmidt, in: Festschrift für Engisch, S. 339 (340). Vgl. auch Engisch, in: Festschrift für Kohlrausch, S. 141 (161). 465 Eindeutig ist dies jedenfalls betreffend physisch nicht steuerbare nonverbale Verhaltensweisen. Betreffend jene (nur) unbewusster Natur – etwa ein „häufiges Blinzeln“ (was theoretisch, anders als ein „Erröten“ eben zumindest steuerbar ist) – wäre eine Subsumtion „unter die soziale Handlungslehre“ noch denkbar. So begreift etwa Maihofer, in: Festschrift für Eb. Schmidt, S. 156 (181) eine Handlung in diesem Sinne als „ein für Menschen beherrschbares Verhalten mit voraussehbarem sozialem Erfolg [Hervorhebung durch den Verfasser]“ und beherrschbar wäre dies jedenfalls (noch).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

rungsakt – jener hier in Rede stehenden (selbstbelastenden) nonverbalen Entäußerungen – nicht bewusst vollzieht, dem Betroffenen damit kein Entscheidungsspielraum und damit keine „Qual der Wahl“ verbleibt. Gesagtes gibt den Ausschlag, weshalb der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ in seinen Schutzgewährleistungen unbeeinträchtigt bleibt; es fehlt an der Realisierung des „seiner selbst gegen sich selbst“.466 e) Von der dogmatischen Unbeachtlichkeit des Zugriffsgegenstandes Die dogmatisch konsequente Fortführung der hier vertretenen „Unbedenklichkeit“ der Erhebung und Verwertung unbewusster oder physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen – auch beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten oder (Zeugen) – gebietet indes, dass etwa auch „absolut wirkende Psychopharmaka“467, „unfreiwillige Polygraphenanwendung“ und – wenn fortuna zukünftigen Beschuldigten übel gesonnen ist – auch „passive Gedankensensoren“468, welche die Wissensoffenbarung vertretbar machten, im Hinblick auf „nemo tenetur“ dem Verdikt der Verwertbarkeit anheimfallen müssen.469 Wohl auch aus Furcht vor dieser „letzten Konsequenz“ wenden Teile des Schrifttums470 ein, dass die Grenzziehung generell nicht anhand der Zwangsqualität, sondern anhand des Zugriffsgegenstandes (Wissen „versus“ Sachbeweis) erfolgen solle. Was zunächst auf den bereits erwähnten Ansatz von Reiß471 zurückzuführen ist – sodass obige „erste“ Kritik freilich fort gilt472 –, basiert im Wesentlichen auf der Vorstellung eines „Leib-Seele-Dualismus“.473 Schließlich führte dies nicht nur für 466 Damit schließt sich sodann der Kreis zu den Feststellungen im Rahmen der „Aussagefreiheit“. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) dd) und ee). Dort wurde bereits „vermutet“, dass vermöge der fehlenden Dispositionsmöglichkeit des Betroffenen, betreffend das „Ob“ der Entäußerung, jene unbewussten oder physisch nicht steuerbaren Verhaltensweisen nicht von den Schutzgewährleistungen der Aussagefreiheit umfasst sein können. 467 Darauf verweist etwa Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 15. 468 Vgl. zu diesem Beispiel bereits Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 258. 469 Für Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321) stellt sich diese Konsequenz indes nicht als notwendig dar. Jener verweist auf die „Sozialadäquanz“ des „offenen Ausdrucksverhaltens“. Zur Widersprüchlichkeit dessen vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. a), Fn. 354. 470 Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 793 (796); Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 92; Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 178; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254 ff., 284. So letztlich auch Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (318, 321). 471 Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 177 f. Vgl. ferner die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc), Fn. 399. 472 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc). 473 Vgl. zu diesem Begriff Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254 unter Verweis auf die Kritik von Neumann, in: Festschrift für Wolff, S. 373 (385).

D. Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“

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den „Bereich“ der Aussagefreiheit zu (erwähnten) anderen Schlussfolgerungen, sondern begründete vielmehr – für den nemo tenetur-Grundsatz in seiner dogmatischen „Gesamtheit“ – eine Trennung vom herrschenden Aktivitäts-/PassivitätsDogma. So sei die Zulässigkeit einer Beweiserhebung vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes fortan nicht mehr anhand der Zwangsqualität, sondern anhand des Zugriffsgegenstandes beurteilt, namentlich, ob sich die Beweiserhebung im Einzelfall als (zulässige) zwangsweise474 Sachbeweiserlangung oder (verbotene) zwangsweise Aussageerlangung gerierte. In diesem Sinne will Nothelfer475 nur solche zwangsweisen Beweiserhebungen zulassen, die auf die Erlangung einer „real existenten Information“ abzielen, da jene bereits eine Loslösung von der „geistigseelischen Sphäre“ erlangt hätten. Auch Jerouschek476 sieht nur die „Wahrung seiner ungebrochenen psychophysischen Integrität“ als vom nemo tenetur-Grundsatz geschützt an. Auch Verrel477 – der im Übrigen die wohl umfassendste Aufarbeitung dieser Auffassung geleistet hat – folgt einem entsprechend (beweis-)gegenstandsbezogenen nemo tenetur-Verständnis, wenn er namentlich zwischen der „Erfassung des Menschen in seinen körperlich-naturwissenschaftlichen Dimensionen“ und dem „Zugriff auf seinen Geist […] und das dort verborgene (Tat-)Wissen“ differenzieren will. Für die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung bliebe hiernach jedenfalls zu konstatieren, dass eine Verwertung nur möglich wäre, sofern sich die Beobachtung eben als Zustands- und nicht als Wissenszugriff qualifizieren ließe; damit wären indes ipso facto vielfältige nonverbale Entäußerungsformen oder Reaktionen des Angeklagten im Allgemeinen, wie exemplarisch „Lügensymptome“, generell der Verwertbarkeit entzogen. Das müsste – konsequenterweise – dann aber unabhängig von ihrer Entäußerungsform gelten, respektive kann es dann keine Rolle spielen, ob jene bereits mittels der menschlichen Sinnesorgane oder erst mit technischer Hilfe wahrnehmbar sind. Diesen Umstand verkennt Verrel478, wenn dieser betreffend „offen zu Tage tretenden Reaktionen“ von 474 Eine „Zwangswirkung“ wird auch hier gefordert. Vgl. etwa Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 261. Lediglich Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321 ff., 331) will auf ein „Zwangselement“ gänzlich verzichten und jede Art des Wissenszugriffs ohne den Willen des Beschuldigten ausschließen. 475 Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 92. 476 Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 793 (796). So formuliert jener: „Mit anderen Worten muß der Beschuldigte vor entwürdigenden Übergriffen, die ihn seiner Herrschaft über das „forum internum“ berauben, gefeit sein, soll er nicht seiner Subjektsqualität im Strafverfahren entkleidet werden.“ 477 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254 ff., 284. 478 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254 f. Noch weniger leuchtet ein, weshalb Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 255 [Fn. 1481] beim vollständig schweigenden Angeklagten sodann eine „Rückausnahme“ machen will und hier die Verwertbarkeit ablehnt. Auch dem vollständig schweigenden Angeklagten stünde das Wissen „auf die Stirn geschrieben“. Wenn Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 205 f. dies an vorheriger Stelle damit begründete, dass sich der Angeklagte im Falle einer Aussage zur Sache in Kenntnis des Risikos einer Verwertung nicht steuerbarer Körperreak-

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einer Verwertbarkeit ausgeht, weil hier dem Betroffenen das Wissen „bildlich gesprochen auf der Stirn geschrieben [stehe]“, wie es auch „in anderen Kommunikationssituationen nicht vom Beschuldigten kontrolliert werden könne“. Letztlich handelt es sich hierbei dogmatisch um Sozialadäquanzerwägungen, die schon entsprechend obiger argumentatio nicht zu überzeugen vermochten479 und „noch immer nicht“ vermögen. Das maßgebliche „dogmatische Problem“ dieser Auffassung ist indes ein anderes: Die Vorstellung des „Leib-Seele-Dualismus“ basiert auf der Annahme eines differenten Persönlichkeitsrechtsbezugs von Wissenserlangung und Sachbeweiserlangung.480 So sei das „Wissen“ des Einzelnen eine Information, die – anders als sein real-körperliches Dasein – mit der Eigentümlichkeit behaftet sei, der Betrachtung durch die Außenwelt grundsätzlich verschlossen zu sein, was eine Rückzugssphäre markiere.481 Diese Erwägungen sollen „für sich genommen“ nicht bestritten und somit (hier) nicht näher erläutert werden,482 nur ist der Persönlichkeitsrechtsbezug von „Informationen“ schlicht nicht konstitutiv für die Reichweitenbestimmung der Schutzgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes. Eingedenk vorheriger Feststellungen betreffend die Rechtsgrundlage in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und die Rechtsnatur untersagt jener die staatliche Gestaltung der Selbstentfaltung des Einzelnen: „Seiner selbst, gegen sich selbst“. Daraus folgt einerseits, dass das Maß des Zulässigen niemals unabhängig von der Wirkweise des Zwangs bestimmt werden kann, denn jene gibt gerade Aufschluss darüber, ob die Selbstentfaltung des Betroffenen im Einzelfall verbotenerweise eine „Gestaltung gegen sich selbst“ erfährt oder nicht. Andererseits würde die Abgrenzung anhand des Zugriffsgegenstandes eine Verkürzung der Schutzgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes „(um die Mitwirkungsfreiheit) auf die Aussagefreiheit“ begründen, denn bei konsequenter „Anwendung“ müssten mittels vis compulsiva erzwungene aktive Mitwirkungshandlungen insoweit zulässig sein, als damit Sachbeweise – etwa ein Atemalkoholtest – „erhoben werden“.483 Mit der verfassungsrechtlichen Verortung des nemo tenetur-Grundsatzes lässt sich eine derart schutzbereichsverkürzende Auffassung indes nicht vereinbaren – es bleibt mithin bei obig konstatierter Verwertbarkeit. tionen entschließt, auszusagen und sich ferner „an dieser Entscheidung auch festhalten lassen“ müsse, sei darauf verwiesen, dass die Frage der Verwertbarkeit nicht vom Willen des Betroffenen, sondern lediglich vom Einzugsbereich des Rechtsinstituts bedingt ist. 479 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. a). 480 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 257. 481 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 257 unter Verweis auf Volckart, Maßregelvollzug, S. 158, welcher insoweit von einem „unantastbaren Geheimbereich“ spricht. 482 Wenngleich dies im Rahmen der Ausführungen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG noch „nachzuholen“ sein wird. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. I. und II. 483 Vgl. zu dieser dann nur folgerichtigen Konsequenz indes nur Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 285.

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IV. Zusammenfassung Eingedenk vorheriger Ausführungen ist festzustellen, dass Erhebung und Verwertung potenziell selbstbelastender nonverbaler Verhaltensweisen von Angeklagten oder Zeugen vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes zulässig sind und dies auch, wenn der Angeklagte nach §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO (oder der Zeuge nach § 55 Abs. 1 Alt. 1 StPO) eine Aussage zur Sache verweigert.484 Zwar handelt es sich bei beobachtbaren nonverbalen Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung ipso facto überwiegend um unbewusste oder physisch nicht steuerbare Entäußerungen, sodass die Entäußerung jener nicht zur Disposition des Angeklagten oder Zeugen steht; und mithin kann sich weder der Angeklagte noch der Zeuge – jedenfalls vermöge der Anwesenheitsverpflichtung nach §§ 231 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO485 – der Beobachtung einer derartigen potenziell belastenden Entäußerung seitens des Gerichts entziehen,486 sodass terminologisch durchaus von einem Zwang zur Selbstbelastung gesprochen werden muss.487 Indes entfaltet der unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG folgende488 nemo tenetur-Grundsatz nur dahingehend Schutzgewährleistungen, dass jener die Instrumentalisierung des Einzelnen zu Strafverfolgungszwecken – „seiner selbst gegen sich selbst“ – untersagt; was originär eine Gestaltung der Selbstentfaltung des Einzelnen „erforderte“. Vermöge der Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit jener in Rede stehenden nonverbalen Entäußerungen steht die potenzielle Selbstbelastung aber schon nicht zur Disposition des Betroffenen,489 geriert sich namentlich also nicht als „Qual der Wahl“. Vielmehr handelt es sich bei derartigen (belastenden) Selbstoffenbarungen daher „allenfalls“ um solche vertretbarer Natur,490 deren Wahrnehmung der Betroffene normativ bloß zu dulden hat. Dabei ist es unbeachtlich, ob es sich um zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen handelt oder jene im Rahmen von Experiment-Konstellationen gezielt provoziert wurden. Der Betroffene ist stets einer „vis cui resisti non potest“, also einer Gewalt, derer er nicht widerstehen kann, ausgesetzt; eine bewusste „Wendung gegen sich selbst“ vermag darin niemals erblickt werden. 484 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) dd). Dem – ohne nähere Begründung – zustimmend zuletzt auch Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 40. 485 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. Bei Experiment-Konstellationen wird die Zwangswirkung durch die Anwesenheitsverpflichtung und – kumulativ – den Provokationsakt begründet. 486 Anders eben bei bewussten Entäußerungen, wobei jene in der Praxis nicht auf eine Zwangsanwendung zurückführbar sein werden. 487 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. 488 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) und cc). 489 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. a) und b). 490 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. c).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

E. Die Vorschriften der §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO Nachdem nun aus dem nemo tenetur-Grundsatz und seiner einfachgesetzlichen Ausprägung in §§ 243 Abs. 5 Satz 1, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO keine Schranken abzuleiten waren, sei im Folgenden untersucht, ob sich aus der Ausübung der Rechte der §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO Einschränkungen betreffend Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen ergeben. Exemplarisch hatte das Oberlandesgericht Köln491 etwa die Verwertbarkeit eines (zufällig auftretenden) „Zuzwinkerns“ einer sich auf § 52 StPO berufenden Zeugin in Richtung des Angeklagten zu beurteilen. Daneben erscheint es auch denkbar, mittels Abspielen einer Videoaufzeichnung, auf welcher ein etwaiges „Raubgeschehen“ zu erblicken sein könnte, gezielt (als Experiment-Konstellation) einen „vorwurfsvollen Blick“ der Zeugin in Richtung des angeklagten Ehegatten zu provozieren.

I. Schutzgehalt und verfassungsrechtliche Verortung Die Vorschrift des § 52 StPO gewährt bestimmten Angehörigen des Angeklagten ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht. Diese Art der Privilegierung war schon zu Zeiten des Römischen Rechts bekannt und zwar in der Form, dass gewisse Verwandte – als testes suspecti – generell nicht zum Zeugnis aufgerufen werden durften.492 Ausweislich der Erwägungen des historischen Gesetzgebers – betreffend die „Vorgängervorschrift“ des § 51 RStPO – sollte der speziellen Konfliktlage des Angehörigen Rechnung getragen werden, namentlich basierte dies auf dem Grundgedanken, dass man eher auf ein Beweismittel verzichten, als den Angehörigen der „Versuchung“ aussetzen wollte, einen Meineid493 zu leisten.494 491

OLG Köln, VRS 57 (1979), S. 425 f. Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 2 mit dem interessanten Hinweis, dass dies nicht im Falle sogenannter „crimina maiestatis“ – als Verbrechen gegen den Staat – gegolten habe. Eine derartige Beschränkung von subjektiven Rechten des Einzelnen zugunsten bestimmter Deliktsgruppen kannten auch spätere Rechtsordnungen; so waren zu Zeiten des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens Vergehen wie „Ketzerei“ oder „Häresie“ als crimen ex lege qualifiziert, womit die Dispensierung bestimmter Verfahrensrechte begründet wurde. Auch geschah die Abschaffung der Folter in den Preußischen Staaten zunächst mit der Ausnahme, dass jene beim Verdacht des „Hochverrats“ weiterhin angewendet werden durfte. 493 Wenngleich nach damaliger Rechtslage die Entscheidung über die, grundsätzlich obligatorische, Vereidigung des Zeugen im Falle eines Angehörigen-Zeugen im Ermessen des Gerichts lag. Vgl. § 57 Abs. 1 RStPO und auch der Angehörigen-Zeuge ein Recht zur Verweigerung der Eidesleistung hatte. Dennoch hätte sich im Falle des Bestehens einer Aussagepflicht die Eidesleistung „aufgedrängt“, schlicht um die eigene Glaubwürdigkeit „nicht zu gefährden“. 494 Vgl. Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 107 sowie bereits Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 5. Auch ist davon auszugehen, dass jene erwähnten Erwägungen des historischen Gesetzgebers der Reichsstrafprozessordnung fortgelten; so hat der 492

E. §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO

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Betreffend die ratio legis des § 52 StPO werden in Judikatur und Schrifttum erwartungsgemäß „dennoch“495 unterschiedlichste Auffassungen vertreten. So sei etwa objektiv-institutionell der Schutz des Familienfriedens intendiert.496 Dass hierin richtigerweise nicht die ratio legis der Vorschrift erblickt werden kann, offenbart indes bereits die Inkongruenz der Schutzgewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 GG mit dem in § 52 StPO genannten Personenkreis. Auch wenn man losgelöst vom Willen des historischen Gesetzgebers den Sinn der Vorschrift zu ermitteln suchte, so kann § 52 StPO nur insoweit den Schutz des Familienfriedens intendieren, als eine Überschneidung mit Art. 6 Abs. 1 GG besteht, also tatsächlich „Ehe“ oder „Familie“ betroffen sind. Darüber hinaus muss § 52 StPO einem anderen telos „verschrieben sein“.497 Ähnlich verhält es sich mit der Auffassung, wonach subjektiv-individuell der Schutz der familiären Privatsphäre498 bezweckt sei. So würde man der Vorschrift des § 52 StPO den Charakter eines Informationsverfügungsrechts zuschreiben. Darin kann aber schon bei systematischer Betrachtung nicht der telos erblickt werden, so gewährt § 52 StPO dem Zeugen partiell auch dann ein Zeugnisverweigerungsrecht, wenn die Vertrauensverhältnisse – bei lebensnaher Betrachtung – erloschen sein werden (etwa § 52 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 StPO).499 Teilweise wird auch argumentiert, dass die Vorschriften den Schutz der Wahrheitsfindung bezweckten.500 Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Vorschrift, welche die Frage von „Zeugnisabgabe“ oder „Zeugnisverweigerung“ zur Disposition des Zeugen stellt, offensichtlich in Kauf nimmt, dass der Zeuge auch die Option der falschen Zeugnisabgabe erwählen könnte. Hätte der Gesetzgeber tatsächlich den Schutz der Wahrheitsfindung – respektive die Verhinderung eines Meineids – intendiert, so wäre die Vorschrift wohl – in Anlehnung an ihre historischen „Vorgänger“ – dergestalt „ausgefallen“, dass der von § 52 StPO genannte Personenkreis stets (nicht disponibel) von der Zeugnisabgabe ausgeschlossen worden wäre. Bundesgesetzgeber bei den erfolgten (nur unwesentlichen) Änderungen des § 52 StPO kein abweichendes Verständnis erkennen lassen. 495 Statt sich auf die eindeutigen Erwägungen des historischen Gesetzgebers „rückzubesinnen“. 496 So Bosch, Jura 2012, S. 33; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1211; Neubeck, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, § 52, Rn. 1. Vgl. ferner Ignor/Berteau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 52, Rn. 1, welche den Familienfrieden lediglich „darüber hinaus“ als Schutzgegenstand anerkennen wollen. 497 Sofern tatsächlich Überschneidungen mit Art. 6 Abs. 1 StPO bestehen, werden „Ehe“ und „Familie“ ipso facto im Wege eines Rechtsreflexes „mitgeschützt“. Vgl. zu diesem letzten Gedanken bereits Zöller, in: Wolter (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 334. 498 So Hauser, der Zeugenbeweis im Strafprozeß mit Berücksichtigung des Zivilprozesses, S. 177 und Rengier, Die Zeugnisverweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht, S. 9, 11. 499 Vgl. zu diesem Argument bereits Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 11. Auch hierin kann richtigerweise nicht die ratio legis der Vorschrift erblickt werden. 500 So Michaelis, NJW 1969, S. 730. Letztlich aber auch BGHSt 10, S. 393 (394).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Richtigerweise ist indes, das zuvor Genannte mit den Erwägungen des historischen Gesetzgebers nicht in Einklang zu bringen,501 so sollte mit den Vorschriften offensichtlich eine (befürchtete) Pflichtenkollision aufgelöst,502 respektive ein „Gewissenszwiespalt“ beseitigt werden. Der Zeuge sollte nicht gezwungen sein, an der Überführung eines Angehörigen mitzuwirken, namentlich sollte jener nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder gegen „seine Nächsten“ auszusagen oder anderenfalls sich zum Meineid genötigt fühlen; die ratio besteht mithin in der Vermeidung dieses „inneren Zwiespaltes“.503 Wenn der historische Gesetzgeber aber gerade die Auflösung einer Pflichtenkollision in der Person des Zeugen „im Blick hatte“, so ist dies materiell als Ausgestaltung oder Neukonstituierung eines subjektivöffentlichen Rechts einzuordnen. Diese „Qual der Wahl“, welche dem Angehörigen erspart bleiben sollte, geht betreffend die argumentatio sehr nahe in Richtung dessen, was schon zur Zeit der Entstehung der Reichsstrafprozessordnung als „Selbstbelastungsfreiheit“ existent war.504 So wird die Vorschrift des § 52 StPO auch nach aktueller Rechtslage teilweise – etwa von Rogall505 – als unmittelbare Ausprägung des nemo tenetur-Grundsatzes verstanden.506 Das ist prima facie insoweit vertretbar, als die „inneren Selbstüberwindungskräfte“ bei einer Fremdbelastung besonders nahestehender Angehöriger im Einzelfall durchaus das Niveau einer Selbstbelastung zu erreichen vermögen. Indes sind es – ausweislich der hier vertretenen Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG – gerade keine quantitativen Belastungskriterien, nach welchen eine Beeinträchtigung der Schutzgewährleistungen des nemo tenetur-Grundsatzes zu bestimmen ist. Es kommt lediglich darauf an, ob sich bei – qualitativer Betrachtung – das hoheitliche Vorgehen als eine Gestaltung der Selbstentfaltung – „seiner selbst gegen sich selbst“ – geriert; und insoweit macht es eben einen Unterschied, ob die eigene Selbstentfaltung gegen „einen selbst“ oder „gegen einen anderen (Nahestehenden)“ gestaltet wird. Dennoch wird man die Nähe zu Art. 1 GG – schon aufgrund des Persönlichkeitsbezugs jenes „inneren Zwiespaltes“ – nicht gänzlich in Abrede stellen können. Die hier erzwungene Entscheidung – sich möglicherweise gegen den eigenen Angehörigen 501

Vgl. ferner erneut Hahn, Materialien zur Reichsstrafprozessordnung Bd. 3 Abt. 1, S. 107. Dort heißt es in den Motiven: „Die Bestimmung, dass kein Zeuge eine Auskunft zu geben brauche, durch welche er sich selbst einer strafbaren Handlung beschuldigen würde, ist das nothwendige Korrelat des Grundsatzes, daß ein Beschuldigter nicht zu einer Aussage wider sich selbst gezwungen werden dürfe.“ Es ist zudem auch nicht ersichtlich, dass sich der Bundesgesetzgeber mit der Vorschrift des § 52 StPO von den einstigen Motiven zu § 51 RStPO „abgewandt“ hätte. 502 So bereits Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 9. 503 Vgl. zum „Gewissenszwiespalt“ auch Geppert, Jura 1991, S. 134. 504 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 2. 505 Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 8. 506 Interessanterweise hatte das Reichsgericht diesen Zusammenhang bereits im Jahre 1880 hergestellt. So heißt es in RGSt 1, S. 207 (208): „Offenbar will das Gesetz niemanden in die widernatürliche Zwangslage bringen, gegen sich selbst als Angeklagten oder entgegen seinen, durch bestehende wie bestandene Ehe, nahe Verwandtschaft oder Schwägerschaft begründeten, Interessen und Gefühlen nachteilige Aussagen abzulegen.“

E. §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO

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wenden zu müssen – ist dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung zwischen Individuen zugewiesen. So ist die Vorschrift des § 52 StPO – mit der herrschenden Auffassung507 – als Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG zu begreifen. Eine gestaltende Einwirkung auf eine diesen Bereich betreffende (Fremdbelastungs-)Entscheidung ist dem Staat daher (ebenso)508 absolut untersagt.509 In diesem Lichte ist die Vorschrift auch zu interpretieren, so gilt es den Zeugen vor jenem „inneren Zwiespalt“ zu bewahren. Betreffend die Vorschrift des § 81c Abs. 3 Satz 1 StPO verhält es sich gänzlich anders. Die „Untersuchung“ kann als lediglich „passiv“ zu duldende Maßnahme ohnehin niemals einen „inneren Zwiespalt“ beim Zeugen hervorrufen. Es erscheint richtig, wenn Rogall510 diesbezüglich von einem „noble[n] Instrument strafprozessualer Selbstbeschränkung“ spricht; verfassungsrechtlich – geschweige denn vor dem Hintergrund des Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG – „geschuldet“ ist die Existenz dieses Untersuchungsverweigerungsrechts jedenfalls nicht.

II. Rechtswirkungen der Zeugnisverweigerung nach § 52 StPO bei Ausübung Mit der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 52 StPO wird der Zeuge von der Aussagepflicht entbunden, jener darf damit nicht mehr zu einer Sachaussage verpflichtet werden.511 Namentlich ist jegliche Anwendung von „Zwang“ – respektive im Wege der Maßnahmen des § 70 StPO – mit dem Ziel der Aussageerlangung unzulässig.512 Der zeugnisverweigernde Zeuge steht damit dogmatisch dem schweigenden Angeklagten gleich. Notwendiges Korrelat jenes 507 Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 52, Rn. 1. So auch Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 1. Ebenso verweist BGHSt 27, S. 231 f. darauf, dass es die Zwangslage zu vermeiden gelte. In diesem Sinne auch Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 8. Dass jener im Ergebnis ebenso eine Verortung in Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG präferiert, ist darauf zurückzuführen, dass jener den nemo tenetur-Grundsatz – abweichend vom hier vertretenen Verständnis – ebenso als Persönlichkeitsrecht begreift (wenngleich mit einem „äußerst starken“ Menschenwürdebezug). 508 Wie schon die Einwirkung auf den Bereich der (Selbstbelastungs-)Entscheidung vom nemo tenetur-Grundsatz untersagt ist. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (2). 509 Im Ergebnis ergeben sich daher keine Unterschiede, ob man die Vorschrift des § 52 StPO als Ausfluss des nemo tenetur-Grundsatzes begreift und jene damit aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 StPO ableitet oder eben (direkt) aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG und (partiell) die Kernbereichszugehörigkeit bejaht. 510 Rogall, in: SK-StPO, § 81c, Rn. 40. 511 Vgl. Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 52, Rn. 2; Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 52; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 23. 512 Vgl. Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 52, Rn. 38.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

„Zwangsverbotes“ ist, dass aus dem berechtigten513 Schweigen zur Sache keine negativen Rückschlüsse auf die Schuld- und Rechtsfolgenfrage des Angeklagten folgen dürfen, ansonsten könnte der Zeuge nicht selbstbestimmt über die Ausübung des Rechts nach § 52 StPO disponieren,514 wäre also wiederum jenem „inneren Zwiespalt“ ausgesetzt, den die Vorschrift gerade zu vermeiden sucht. 1. Nonverbale Verhaltensweisen und der „Zwang zur Aussage“ Ausweislich der Erwägungen zur „Dichotomie von Aussage und Schweigen“ im Rahmen der nemo tenetur-Diskussion515 sind auch nonverbale Entäußerungen des Zeugen als Aussagen oder Aussagesurrogate zu qualifizieren, sofern sich deren Beobachtung oder andersartige Wahrnehmung als Wissenszugriff geriert. Damit ist prima facie zu konstatieren, dass betreffend die Entäußerung unbewusster und physisch nicht steuerbarer nonverbaler Verhaltensweisen (wie beim Angeklagten)516 eine mittelbare Zwangswirkung besteht,517 denn vermöge der Anwesenheitsverpflichtung nach §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO kann sich auch der Zeuge einer Beobachtung durch das Gericht – und damit einer solchen seiner nonverbalen Entäußerungen – nicht entziehen. 2. Verwertungsverbot betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen? „Scheinbar gänzlich in diesem Sinne“ hat das Oberlandesgericht Köln518 schon die Verwertbarkeit des (bewussten) „Zuzwinkerns“ einer Zeugin in Richtung des 513

Anders verhält es sich im Falle unberechtigten Schweigens. Vgl. Bader, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 52, Rn. 45. 514 Vgl. BGHSt 22, S. 113 f.; 32, S. 140 (141 f.); Bader, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 45; Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 52, Rn. 2; Gercke, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 35; Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 52, Rn. 40; Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 56; Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 59; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 25. Anders – eine Verwertung zu Lasten des Angeklagten bejahend – noch RGSt 55, S. 20; BGHSt 2, S. 351 (353); 6, S. 279 (280). Dies wird heute nicht mehr ernsthaft vertreten. 515 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. a). 516 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 517 „Erneut“ sind bewusste nonverbale Verhaltensweisen nicht weiter relevant, da jene auf einem freiverantwortlichen Willensentschluss basieren werden und daher nicht vermöge der Anwesenheitsverpflichtung hervorgerufen sind. Andere „Zwangswirkungen“ – etwa den Zeugen unter Androhung der Mittel des § 70 StPO aufzufordern, auf bestimmte Fragen jeweils mit einem „Kopfnicken“ zu antworten – sind praktisch schlicht nicht relevant. Vgl. hierzu eine kuriose Entscheidung des LG Flensburg [unveröffentlicht], zitiert nach BGH, NStZ 1998, S. 85 und die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. II. 518 OLG Köln, VRS 57 (1979), S. 425 f. Die Vorinstanz hatte in folgendem Geschehen ein Indiz für die Fahrereigenschaft des Angeklagten erblickt: Die Zeugin hatte nach Betreten des Gerichtssaals (vor ihrer förmlichen Vernehmung als Zeugin) dem Angeklagten lächelnd zu-

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Angeklagten abgelehnt; mit der Begründung, dass sich jene Zeugin (im Anschluss) auf § 52 StPO berufen habe und im Falle der Verwertung ihr „Verhalten zur Verurteilung beitragen würde und [sie] somit in den persönlichen Gewissenskonflikt gebracht würde, den [ihr] das Aussageverweigerungsrecht ersparen will.“519 Innerhalb des Schrifttums520 wird die Verwertbarkeit solcher – zufällig auftretender – nonverbaler Verhaltensweisen betreffend § 52 StPO mit unterschiedlicher „Präzision“ diskutiert, im Ergebnis aber abgelehnt. So wird überwiegend – etwa von Güntge521 und Schmitt522 – die Berücksichtigung des gesamten „äußeren Verhaltens“ in der Hauptverhandlung generell für unzulässig erachtet und dies – teilweise unter Bezugnahme auf die erwähnte Entscheidung des Oberlandesgericht Köln523 – als notwendige Rechtsfolge des Berufens auf § 52 StPO deklariert.524 Das soll sich nicht nur im Ergebnis als unrichtig erweisen, sondern ist in dieser Pauschalität zudem widersprüchlich, so vertreten nämlich dieselben Autoren, dass die Möglichkeit der Durchführung einer förmlichen Augenscheinseinnahme von den Rechtswirkungen des Berufens auf § 52 StPO unberührt bliebe.525 Letzterem ist zuzustimmen,526 nur kann dann – als logische Konsequenz eines deduktiven gezwinkert und – nach gerichtlichem Vorhalt dessen – auffällig verlegen reagiert. Bei ihrer Vernehmung hatte sich jene sodann auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Dabei übersieht das OLG Köln bereits, dass jenes (bewusste) „Zuzwinkern“ – entsprechend den Ausführungen in Drittes Kapitel E., Fn. 517 – eben nicht „gerichtlich veranlasst“ ist, respektive nicht auf eine mittelbare Zwangswirkung zurückzuführen ist, sodass § 52 StPO in diesem Beispiel jedenfalls nicht „eingreifen“ kann. 519 OLG Köln, VRS 57 (1979), S. 425 (426). Interessant ist die folgende Begründung des OLG Köln: „Wenn das Verhalten der Zeugin […] dahin zu deuten wäre, dass sie dem betroffenen zu erkennen geben wollte, sie werde ihn vor einer Verurteilung bewahren, so würde dies nur etwas über ihre Absicht, die Aussage zu verweigern, und den Zweck ihrer Aussageverweigerung besagen. Dies kann aber ebenso wenig als belastendes Indiz gewertet werden, wie wenn die Zeugin bei ihrer Aussageverweigerung ausdrücklich dem Gericht erklärt hätte, sie wolle die Aussage verweigern, um ihren Schwiegersohn nicht belasten zu müssen.“ 520 Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 848; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO, § 52, Rn. 23. 521 Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 848. 522 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 23. 523 OLG Köln, VRS 57 (1979), S. 425 f. Vgl. etwa Schmitt, in: Meyer-Goßner/SchmittStPO, § 52, Rn. 23. Diese Bezugnahme ist insoweit von Interesse, als damit klar wird, dass das Schrifttum unter „äußerem Verhalten“ gerade auch nonverbale Verhaltensweisen versteht – ansonsten ergäbe es keinen Sinn, auf eine Entscheidung zu verweisen, welche ein „Zuzwinkern“ thematisiert. 524 Gercke, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 35; Ignor/Bertheau, in: Löwe/ Rosenberg, § 52, Rn. 24; Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 52. 525 Vgl. Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 848 sowie Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 23 – und das sogar an derselben Stelle. 526 So auch OLG Hamm, MDR 1974, S. 1036. Anders indes Rogall, MDR 1975, S. 813. Nach BGH, GA 1965, S. 108 f. sei eine Verwertung des „äußeren Erscheinungsbildes“ sogar ohne förmliche Augenscheinseinnahme zulässig. Das wird man indes richtigerweise danach zu beurteilen haben, ob sich jene Betrachtung im Einzelfall als „(nicht-)aufgesuchte Wahrnehmung“ qualifizieren lässt. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Schlusses – die Berücksichtigung des „äußeren Verhaltens“ nicht in toto unzulässig sein; sofern sich deren Beobachtung nämlich als Zustandszugriff gerierte, wäre die Beweiserhebung gerade dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen. Diesen Widerspruch vermeidend, wird das „äußere Verhalten“ des Zeugen teilweise nur insoweit als unverwertbar erachtet, als daraus – wie Rogall527 formuliert – „Rückschlüsse auf sein Wissen gezogen werden sollen“. Diese Auffassung ist von besonderem Interesse, da mit dem von Rogall528 vorgeschlagenen Vorbehalt des Wissenszugriffs „erneut“ der Zugriffsgegenstand über die Zulässigkeit der Verwertung disponieren darf. De facto wäre damit im Rahmen des § 52 StPO dasselbe Differenzierungskriterium gewählt, welches Reiß, Verrel und weitere Autoren zur Beurteilung der Zulässigkeit von Beweiserhebungen beim schweigenden Angeklagten vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes „bemühen wollten“529 – nämlich der Zugriffsgegenstand: (verbotene) Aussage oder (zulässiger) Sachbeweis.530 Dass dieses Kriterium im Rahmen des nemo tenetur-Grundsatzes kein solches „tauglicher Natur“ darzustellen vermochte, wurde bereits hinreichend dargelegt.531 So soll es sich – wie noch zu erläutern wäre – auch hier verhalten. Aus einem anderen Blickwinkel erscheint es aber prima facie durchaus konsequent, dass das Schrifttum von einem Verwertungsverbot zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen im Falle eines Wissenszugriffs ausgeht; denn schlicht mit derselben Häufigkeit wie jenes postuliert wird, wird der Vorschrift des § 52 StPO (bei Ausübung) auch die Begründung eines „Vernehmungsverbots“ angedichtet. So wird herrschend davon ausgegangen, dass mit dem Berufen auf § 52 StPO die Vernehmung als solche – nach §§ 244 Abs. 3 Satz 2, 245 Abs. 2 Satz 2 StPO – „unzulässig“ sei,532 respektive im Falle des Berufens daher abgebrochen werden müsse.533 Dem kann in dieser Absolutheit nicht zugestimmt werden. Dogmatisch ist

527 Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 58 „ebenso“ unter Verweis auf OLG Köln, VRS 57 (1979), S. 425 f. 528 Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 58. 529 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc) und 2. d). 530 Und ebenso „interessanterweise“ hatte Rogall, in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 132 dieses Kriterium im Rahmen des nemo tenetur-Grundsatzes noch als untauglich abgelehnt. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. b) aa) (2). Dass dies nun bei § 52 StPO maßgeblich sein soll, erscheint „merkwürdig“, zumal Rogall sowohl die Aussagefreiheit des Angeklagten als auch das Zeugnisverweigerungsrecht des Zeugen als aus „nemo tenetur“ resultierend begreift. 531 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) cc) und 2. e). 532 Vgl. Bader, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 43; Güntge, in: Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 848; Neubeck, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, § 52, Rn. 40; Percic, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 52, Rn. 54 f.; Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 57. Teilweise wird auch von einem „ungeeigneten“ Beweismittel ausgegangen. Vgl. etwa BGHSt 21, S. 13 und zum Streitstand im Allgemeinen auch Percic, in: Münchener-KommentarStPO, § 52, Rn. 55 m. w. N. 533 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 52, Rn. 23.

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die „Existenz“ oder „Durchführung“ einer Vernehmung – wie bereits konstatiert534 – ohnehin ausschließlich vom Willen des Vernehmenden bedingt; so kann die „Unzulässigkeit“ der Vernehmung allenfalls als materielle Rechtsfolge aus § 52 StPO resultieren. Diese Annahme wäre aber nur dann zutreffend, wenn die Schutzgewährleistungen des § 52 StPO soweit reichten, dass sie den Zeugen vor jeder Wissenspreisgabe schützten, welche im Wege des Instituts des Zeugenbeweises potenziell stattfinden könnte.535 Ohne daraus die richtige Konsequenz zu ziehen, formuliert Rogall536 zutreffend, „dass der Zeuge [lediglich] im Umfang537 der Zeugnisverweigerung nicht (mehr) als Beweismittel zur Verfügung steh[e]“. Mit anderen Worten scheidet der Zeuge nur insoweit als personales Beweismittel aus, als die Schutzgewährleistungen des ihn schützenden Rechtsinstituts – hier: § 52 StPO – reichen. Wenn die Vorschrift des § 52 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht und als Korrelat eine Freiheit von „Aussagezwang“ gewährt,538 so ist damit letztlich ein Zwang zur Wissenspreisgabe untersagt. Die Anwesenheitsverpflichtung nach §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 Satz 3 StPO „liefert“ zwar jenen Zwang, gleichwohl muss dies aber vor dem Hintergrund der ratio legis des § 52 StPO betrachtet werden. Mit anderen Worten kann die Verwertung nur insoweit unzulässig sein, als der Zeuge mit der zwangsweisen Wissenspreisgabe in die Situation eines „inneren Zwiespaltes“ versetzt wird. Wenn das Gesetz einen „Aussagezwang“ des Zeugen – um des inneren Zwiespaltes Willen – ausschließt, „kalkuliert“ es im Grundsatze mit einem „Zwang“ zu bewussten (verbalen) Aussagen. Würde man jene etwa mit den Mitteln des § 70 StPO – sämtlich vis compulsiva – erzwingen, so wäre der Zeuge im „Zwiespalte gefangen“, nämlich den Angehörigen zu belasten oder eine Falschaussage zu tätigen539 – jener wäre im Ergebnis „vor die Wahl gestellt“. Da ist es prima facie (noch) konsequent, dass das Schrifttum im Falle der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 52 StPO den Zeugen als unzulässiges Beweismittel einstufen will.540 Vorliegend ist aber der Sonderkonstellation Rechnung zu tragen, dass jene nonverbalen Verhaltensweisen sich überwiegend unbewusst oder physisch nicht steuerbar entäußern und in diesem Falle der Zeuge gerade nicht vor „obiger Wahl“ steht, denn wie dies schon für die Gestaltung seiner Selbstentfaltung im Rahmen der Erwägungen zum nemo tenetur-Grundsatz konstatiert wurde,541 kann auch der Zeuge 534

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel C. I. Mit anderen Worten müsste die Vorschrift des § 52 StPO sämtliche unfreiwilligen Wissenspreisgaben erfassen. 536 Rogall, in: SK-StPO, § 52, Rn. 57. 537 Hervorhebung durch den Verfasser. 538 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel E. II. 539 Oder – als „dritte Option“ – die Zwangsmittel zu erdulden, wobei dies stets eine „Option“ bei der Anwendung von vis compulsiva ist. 540 Und dann wäre auch eine Beweiserhebung in Gestalt des Instituts des Zeugenbeweises – wenngleich dogmatisch noch möglich – rechtlich unzulässig und mithin abzubrechen. 541 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. b) und IV. 535

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

über die Entäußerung jener nonverbalen Verhaltensweisen schlicht nicht disponieren. Dann befindet er sich aber niemals in einem „inneren Zwiespalte“, denn jener realisiert sich nur dort, wo die Entscheidung der Entäußerung bei ihm selbst verbleibt. So wird auch im Rahmen des § 52 StPO virulent, dass jene unbewussten und physisch nicht steuerbaren Entäußerungen als vertretbare Handlungen zu qualifizieren sind und der mittelbar auf die Anwesenheitspflicht rückführbare „Zwang“ zur Duldung der Beobachtung eben „nur“ willensausschließend – in Gestalt von vis absoluta – wirkt.542 Diesen Umstand übersieht das Schrifttum, wenn es nicht bloß im Grundsatze, sondern stets „jeden Zwang zur Aussage“ als mit § 52 StPO für unvereinbar erklärt. Aus einem strikt an der ratio legis orientierten Verständnis folgt notwendigerweise, dass unbewusste oder physisch nicht steuerbare (verbale oder nonverbale) Entäußerungen nicht von den Schutzgewährleistungen des § 52 StPO umfasst sein können. Im Ergebnis sind daher – wie schon beim aussageverweigernden Angeklagten – auch beim zeugnisverweigernden Zeugen zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen verwertbar. Der materielle Rechtsgehalt der Vorschrift des § 52 StPO steht dem nicht entgegen.543 Jenes Verwertbarkeitspostulat gilt unbeschadet dessen, ob die nonverbalen Verhaltensweisen des sich auf § 52 StPO berufenden Zeugen nun – obige Kategorisierung fortführend – bei (dessen) förmlicher Beweiserhebung, am Rande der förmlichen Beweisaufnahme – etwa wenn der Zeuge wieder „als Nebenkläger platzgenommen hat“ – oder im Zuschauerraum der Hauptverhandlung auftreten; wobei Letzteres in Betracht kommt, wenn der Zeuge statt den Saal zu verlassen, nach seiner „Vernehmung“ eben im Zuschauerraum seinen Platz gefunden hat.544

3. Ein „Gleichlauf“ bei Experiment-Konstellationen Das gilt ebenso für nonverbale Verhaltensweisen, welche im Rahmen von Experiment-Konstellationen gezielt provoziert werden.545 Somit ist auch die eingangs erwähnte Fallgestaltung des Abspielens einer Video-Aufzeichnung – mit dem Ziel des „Erhaschens“ nonverbaler Reaktionen bei der Zeugin – zulässig. Jene Reaktionen werden sich zwar – wie auch in diesem Falle – häufig als Wissenspreisgabe gerieren, vermöge der Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit, wird der Zeuge indes auch hier nicht in einen „inneren Zwiespalt getrieben“, sodass der materielle Rechtsgehalt des § 52 StPO auch hier einer Verwertbarkeit nicht entge542

lassen.

Die Anwendung von vis compulsiva würde gerade den „inneren Zwiespalt“ entstehen

543 Auch wenn der Bundesgerichtshof dies nicht in expressis verbis formuliert, so kann BGH, GA 1965, S. 108 (109) durchaus eine dies bestätigende „Tendenz“ entnommen werden. 544 Hier wären dann die Voraussetzungen für eine Einbeziehung in den Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu beachten. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 3. wonach eben ein richterlicher Hinweis genügte. 545 Jene dürften dann nur in Gestalt des Instituts der Zeugenvernehmung, also als Vernehmung stattfinden. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ff).

E. §§ 52, 81c Abs. 3 Satz 1 StPO

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gensteht.546 Es besteht mithin ein Gleichlauf zu obig konstatierter Verwertbarkeit betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen.

III. Rechtswirkungen der Untersuchungsverweigerung nach §§ 81c Abs. 3 Satz 1, 52 StPO bei Ausübung Mit der Vorschrift des § 81c Abs. 3 Satz 1 StPO ist dem „Zeugen“ (als „andere Person“) das Recht eingeräumt, bestimmte Sachbeweiserhebungen betreffend seine Person zu verweigern. Notwendiges Korrelat ist auch hier, dass aus der berechtigten Verweigerung keine negativen Schlussfolgerungen auf die Schuld- und Rechtsfolgenfrage des Angeklagten gezogen werden dürfen.547 Richtigerweise bleibt die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung auch von dieser Vorschrift aber gänzlich unbetroffen. Sofern sich die Beobachtung als Zustandszugriff geriert – die entäußerte Verhaltensweise etwa Rückschlüsse auf eine Psychose zulässt –, ist die Beweiserhebung dem Institut des Augenscheinsbeweises zugewiesen. Aber weder die Beobachtung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen, noch die gezielte Provokation jener im Rahmen von Experiment-Konstellationen vermag jemals unter das Tatbestandsmerkmal der „Untersuchung“548 nach § 81c StPO subsumiert werden und ein darüber hinaus gehendes Verbot von Augenscheinseinnahmen im Gerichtssaal ist auch im Falle des Berufens auf § 81c Abs. 3 Satz 1 GG – zu Recht – nicht ernsthaft diskutiert.549

IV. Zusammenfassung Eingedenk vorheriger Feststellungen konstituiert die Vorschrift des § 52 StPO mithin keine – relevanten – Schranken betreffend die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen beim Zeugen. Beruft sich der Zeuge berechtigterweise auf das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO, so soll jener – entsprechend der ratio legis – vor der Situation eines 546

Wie bereits gezeigt, erwächst aus dem „bloßen Berufen“ auf § 52 StPO auch keine formale Erhebungsschranke, dergestalt, dass eine Vernehmung notwendigerweise abzubrechen wäre. Über Beginn und Ende einer Vernehmung entscheidet der Vernehmende und nicht der Vernommene. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel C. I. Maßgeblich ist einzig der materielle Rechtsgehalt des § 52 StPO. 547 Vgl. Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 81c, Rn. 10. 548 Eine „Untersuchung“ im Sinne des § 81c StPO ist jede Ermittlungshandlung, die den unbekleideten Körper zum Gegenstand hat. Vgl. Hadamitzky, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 81c, Rn. 3. 549 Vgl. OLG Hamm, MDR 1974, S. 1036 sowie Hadamitzky, in: Karlsruher-KommentarStPO, § 81c, Rn. 10.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

„inneren Zwiespaltes“ bewahrt werden.550 Realiter kann sich jener „innere Zwiespalt“ aber bereits vermöge der überwiegenden Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit jener nonverbalen Entäußerungen nicht realisieren, der Zeuge wird so schlicht niemals „vor der Wahl stehen“ den Angeklagten durch seine nonverbalen Verhaltensweisen zu belasten.551 Im Ergebnis sind daher sowohl zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen des Zeugen, als auch jene, die gezielt im Rahmen von Experiment-Konstellationen provoziert werden, verwertbar – und zwar unabhängig von der Frage, ob der Zeuge sich nun (berechtigterweise) auf § 52 StPO beruft oder nicht.552

F. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG Betreffend die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung wurde bisher überwiegend der „Weg“ des damit bewirkten Informationseingriffs553 untersucht,554 sodass nunmehr der Fokus auf die „Information“ selbst gerichtet sei. Dahingehend sei im Folgenden untersucht, ob und inwieweit das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG – oder dessen spezielle Ausprägungen – Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken begründen.

I. Die gerichtliche Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen als Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein aus den Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG folgendes Grundrecht,555 welches als unbenanntes Freiheitsrecht556 die Besicherung des passiven Elements der Persönlichkeitsentfaltung konstituiert. Erstmalig in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts557 aus dem Jahre 1969 „herausgear550

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel E. I. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel E. II. 2. und 3. 552 Somit besteht ein Gleichlauf zu den Feststellungen betreffend die Verwertbarkeit nonverbaler Verhaltensweisen des Angeklagten vor dem Hintergrund des nemo teneturGrundsatzes, respektive „dessen“ Aussage- und Mitwirkungsfreiheit. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. IV. 553 Vgl. zum Begriff des „Informationseingriffs“ bereits Degenhart, JuS 1992, S. 361 (363). 554 Dies war in dem „Prüfungsmaßstab“ der untersuchten Rechtssätze selbst angelegt, so spielt es exemplarisch vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes (nach der hier vertretenen Auffassung) eben schlicht keine Rolle, welche „Art“ von Information erhoben wird. 555 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 127. 556 Vgl. BVerfGE 27, S. 148 (153); 72, S. 155 (170); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/StarckGG, Art. 2, Rn. 14. 557 BVerfGE 27, S. 1 (6) – „Mikrozensus“. Andeutungen auch bereits in BVerfGE 6, S. 32 (36 f.). 551

F. Allgemeines Persönlichkeitsrecht

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beitet“, begründet Art. 2 Abs. 1 GG – flankiert von Art. 1 Abs. 1 GG als objektivrechtliche Interpretationsrichtlinie558 – den Schutz der Privats- und Persönlichkeitssphäre in Gestalt eines „Zustandsschutzes“ vor staatlichen Eingriffen, womit gerade die „Abschirmung“ eines privaten Bereichs intendiert ist.559 Diese Abschirmung geht soweit, als sie – im Sinne des in dubio pro libertate560 – jede Art der staatlichen Ausforschung der Privatsphäre erfasst.561 Das inkludiert etwa den Inhalt eines privaten Gesprächs, die Gedanken- und Gefühlswelt des einzelnen Individuums562 und – dann in der Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht563 – auch bereits die bloße Erhebung, Kenntnisnahme und Verwendung von individualisierten oder individualisierbaren Informationen.564

558

Der wesentliche, den genannten Freiheitsbereich konstituierende, Verfassungsrechtssatz bleibt dogmatisch Art. 2 Abs. 1 GG. Die Wertungen des Art. 1 Abs. 1 GG verlangen indes, dass bei – der „Interpretation“ des – Art. 2 Abs. 1 GG zwischen zwei verschiedenen Freiheitsbereichen abzugrenzen ist: Einerseits die Allgemeine Handlungsfreiheit, die einen aktiven Freiheitsbereich im Sinne von Ausübungsrechten gewährt und andererseits das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches als passiver Freiheitsbereich die „Unbetroffenheit“ in einem Zustand konstituiert. Vgl. Dreier, in: Dreier-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 69 m. w. N. 559 Vgl. Dreier, in: Dreier-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 70. Maßgeblich ist auch die „Entwicklungsoffenheit“ des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, was gerade keinen abschließenden Schutzbereich kennt, sondern vielmehr als ein „mit der Zeit gehendes“ Grundrecht zu verstehen ist und somit im Besonderen bei „neuartigen“ oder „neumodischen“ staatlichen Eingriffen (etwa bei technischen Überwachungsmaßnahmen) seine Relevanz beweist. Vgl. zu diesem Gedanken BVerfGE 54, S. 148 (153); 118, S. 168 (183); 120, S. 274 (303) und ferner Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 127. 560 Vgl. dazu, dass gerade bei Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG eine extensive Auslegung geboten ist Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 2, Rn. 11 ff. 561 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 151 ff. 562 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 153 f. und Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 2, Rn. 86, welcher auf die „Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung“ verweist. 563 Vgl. erstmalig BVerfGE 65, S. 1 ff. – „Volkszählungsurteil“. Vgl. ferner zum Charakter einer speziellen Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts statt vieler Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 173 f. Indes von einer weitgehenden Verselbstständigung ausgehend Dreier, in: Dreier-GG, § 2 Abs. 1, Rn. 70 und wohl auch Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 320. 564 Vgl. BVerfGE 65, S. 1 (43 ff.); 78, S. 77 (84 f.); 84, S. 239 (279); Di Fabio, in: Maunz/ Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 175 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 2, Rn. 114. So wird dem Einzelnen die Befugnis eingeräumt, grundsätzlich selbst zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Vgl. ferner Murswiek/ Rixen, in: Sachs-GG, Art. 2, Rn. 73.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

1. Die Durchführung von Experiment-Konstellationen als klassischer Eingriff Dem Strafverfahren ist naturgemäß eine besondere Sachnähe zum insoweit geschützten Freiheitsbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts immanent.565 Jenes in seiner Gesamtheit sowie auch die mündliche Hauptverhandlung selbst sind – ausweislich der Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO – der Sachverhaltserforschung verschrieben; was notwendigerweise mit strukturellen Eingriffen in die Privatsphäre und der Erhebung personenbezogener Daten verbunden ist.566 Werden in der Hauptverhandlung Experiment-Konstellationen durchgeführt, also gezielt nonverbale Verhaltensweisen bei Angeklagten oder Zeugen „provoziert“, so begründet dies eine unmittelbare und finale Beeinträchtigung des von Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Freiheitsbereichs.567 Geriert sich die „daran anschließende“ Beobachtung jener nonverbalen Entäußerungen als Wissenszugriff, so erhält das Gericht einen mittelbaren568 – freilich sehr begrenzten – Einblick in die Gedankenwelt des Betroffenen dergestalt, dass sich – etwa auf den Fall der „umgekehrten Rekognition“ verwiesen – (Tat-)Wissen offenbart, welches anderenfalls verborgen bliebe. Auch wenn die beobachteten Entäußerungen (nur) Rückschlüsse auf etwaige psychische oder physische pathologische Zustände gewähren (Zustandszugriff), so sind die dergestalt erhobenen Informationen personenbezogener Natur. Das begründet einen („klassischen“) Eingriff569 in die Schutzgewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts.570 565 Ausreichend erscheint insoweit bereits der Verweis auf die unzähligen Eingriffsbefugnisse – respektive §§ 100 ff. StPO – die auf die Erhebung personenbezogener Daten gerichtet sind und in besonderem Maße die Privatsphäre des Einzelnen betreffen. 566 Vgl. hierzu instruktiv Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 175 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 2, Rn. 91. 567 Schon jede zwangsweise Befragung begründet einen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht. Vgl. hierzu Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 176. 568 Deshalb nur „mittelbar“, weil erst die offenbarten Verhaltensweisen einen Rückschluss erlauben. Ein „unmittelbarer“ Einblick wäre nur mit „passiven Gedankensensoren“ möglich, die nach aktuellem Forschungsstand nicht existent sind. 569 Vgl. zum „klassischen“ Eingriffsbegriff: BVerfGE 105, S. 279 (299 f.) sowie Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 40. 570 Dem kann auch – jedenfalls vermöge der überwiegenden Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit jener nonverbalen Entäußerungen – nicht die „Freiwilligkeit“ oder das „Einverständnis“ betreffend jene Offenbarungen entgegengehalten werden. Die Frage des „Einverständnisses“ kommt darüber hinaus aus praktischen Gründen nicht in Betracht: Würde man dem Betroffenen vor der jeweiligen Experiment-Konstellation etwa mitteilen, dass man im Folgenden seine nonverbalen Reaktionen wahrzunehmen gedenkt, so könnte jener seine Entäußerungen „anpassen“ und die Aussagekraft jener Entäußerungen wäre beträchtlich geschmälert. Vgl. zur eingriffsausschließenden Wirkung eines etwaigen „Einverständnisses“ Jarass, NJW 1989, S. 857 (860). Ein „Einverständnis“ würde zudem bedeuten, dass der Betroffene kein Interesse an der Geheimhaltung der jeweiligen Informationen hat, damit wäre auch konstatiert, dass die Information dann nicht mehr zum Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung zu zählen wäre. Vgl. zum „Kernbereichsausschluss bei Offenbarungswille“ statt vieler BVerfGE 80, S. 367 (374).

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2. Die Beobachtung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen als mittelbar-faktische Beeinträchtigung Auch der Beobachtung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung können sich Angeklagte und Zeugen – vermöge ihrer Anwesenheitsverpflichtung – nicht entziehen und betreffend die vermittelten personenbezogenen Informationen gilt zuvor Gesagtes, sodass sich diese Art der „Beweiserhebung“ zumindest als mittelbar-faktische Beeinträchtigung571 des geschützten Freiheitsbereichs versteht.

II. Nonverbale Verhaltensweisen und die Kernbereichszugehörigkeit der vermittelten Informationen Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist indes nur im Rahmen der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet und unterliegt entsprechend dem einfachen Gesetzesvorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung,572 was indes nur insoweit von Relevanz ist, als jene nonverbalen Verhaltensweisen – respektive die damit vermittelten Informationen – nicht dem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung zugewiesen sind, sodass sich bereits a priori jegliche Abwägung verböte.573 Dieser Gedanke drängt sich insoweit auf, als die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen – ausweislich obiger Feststellungen574 – partiell eben Rückschlüsse auf Emotionszustände erlaubt und damit die Gedanken- und Gefühlswelt des jeweiligen Individuums eine unfreiwillige, wenn auch sehr mittelbare Betroffenheit erfährt.575 Ausgehend von den erhöhten Rechtfertigungsanforderungen aufgrund des Näheverhältnisses zu Art. 1 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht576 die soge-

571 Vgl. zum „modernen“ Eingriffsverständnis der sogenannten „mittelbar-faktischen“ Grundrechtsbeeinträchtigung BVerfGE 105, S. 279 (301) sowie Dreier, in: Dreier-GG, Vorbemerkungen vor Art. 1, Rn. 125 und Hobusch, JA 2019, S. 278 (279). 572 Vgl. Murswiek/Rixen, in: Sachs-GG, Art. 2, Rn. 103. Die übrigen „Varianten“ der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG sind betreffend das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht relevant, so sind vor dem Hintergrund der Schutzgewährleistungen nämlich schlicht keine Verstöße gegen das „Sittengesetz“ denkbar und wohl auch keine solchen gegen die „Rechte Dritter“. 573 Dann käme es auf das Bestehen einer Rechtsgrundlage schlicht nicht mehr an. Vgl. im Allgemeinen zur Abwägungsfestigkeit dieses „Kernbereichs“ statt vieler Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 2, Rn. 11 ff. 574 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 575 Das ist dieselbe argumentatio, mit welcher seitens der herrschenden Auffassung eine ohne oder gegen den Willen des Betroffenen erfolgende Anwendung des Polygraphen als Verstoß unter anderem gegen Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG begründet wird. Vgl. hierzu Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 92 ff. m. w. N. 576 BVerfGE 34, S. 205 (208 f.); 75, S. 369 (380); 80, S. 367 (373); 89, S. 69 (84).

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

nannte „Sphärentheorie“577 entwickelt, wonach das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG einen absoluten und unabwägbaren Schutz des „Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung“ – welcher auch als „Intimsphäre“578 firmiert – garantiert.579 Dem Einzelnen verbleibt damit ein – sehr begrenzter, aber absolut geschützter – Rückzugsraum, der anderen, respektive dem Staat, unabwägbar verschlossen bleibt.580 Es ist ein Bereich, in dem jener „sich selbst überlassen ist“ und ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Erwartungen „verkehren kann“,581 namentlich ein Bereich des „Zu-Sich-Selbst-Kommens“.582 Die Zugehörigkeit eines „Sachverhaltes“ zu dieser besonders geschützten Intimsphäre vermag richtigerweise nur anhand einer normativen Gesamtschau583 bestimmt zu werden, wobei einerseits die thematische Ausprägung des Sachverhaltes von Relevanz ist (etwa die Betroffenheit „persönlichster“ Informationen oder originär die Gedanken- und Gefühlswelt), andererseits aber auch der Grad der Beeinträchtigung des räumlichen Rückzugsbereichs maßgeblich ist (inwieweit der Betroffene etwa davon ausgeht, gerade nicht der „Beobachtung“ durch Dritte zu unterliegen)584 – wobei auch dies nicht ohne eine Einordnung in die Fallkasuistik auskommen kann. 1. Nonverbale Entäußerungen der Gedanken- und Gefühlswelt als thematische Ausprägung der Intimsphäre Betrachtet man prima facie ausschließlich die thematische Ausprägung der „Sachverhalte“, welche mit den nonverbalen Verhaltensweisen „übermittelt“ beziehungsweise für das Gericht im Wege der Beobachtung zugänglich werden, ist – ausweislich obiger Erwägungen585 – festzustellen, dass in jenen Entäußerungen 577 Vgl. BVerfGE 27, S. 344 (351). Vgl. hierzu für das Strafverfahren insbesondere Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 161 (176) sowie Küpper, JZ 1990, S. 416 (418). 578 Neben der „Intimsphäre“ sind es die „Privat- oder Geheimsphäre“ und der „Öffentlichkeitsbereich“. Vgl. Degenhart, JuS 1992, S. 361 (363 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 159 f. 579 So auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 158. 580 Vgl. Degenhart, JuS 1992, S. 361 (362 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 149. 581 Vgl. BVerfG, NJW 1995, S. 1477 sowie Dreier, in: Dreier-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 71. 582 Vgl. BVerfGE 120, S. 180 (199); 101, S. 361 (382 ff.) sowie Dreier, in: Dreier-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 71. 583 In diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof im Rahmen der „SelbstgesprächeEntscheidung“ – BGH, NJW 2012, S. 945 f. – judiziert: So sei die Zugehörigkeit zur Intimsphäre nur „durch Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfall[es] festzustellen“ (auch hier fiel der Begriff der „Kumulation“). 584 Die Kriterien der „thematischen Ausprägung“ und des „räumlichen Rückzugsbereichs“ werden vom Bundesverfassungsgericht allgemein zur „Sphärenzuordnung“ verwendet. Vgl. BVerfGE 120, S. 180 (199); 101, S. 361 (382 ff.). So kann anhand jener auch die Zuweisung zur Intimsphäre erfolgen, wobei es hier maßgeblich auf eine Gesamtschau ankommt. 585 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 5.

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partiell Symptome für physische oder psychische Erkrankungen erblickt werden können; teilweise sind etwa auch Rückschlüsse auf traumatische Erlebnisse oder Depressionen möglich. Das sind sämtlich „Sachverhalte“, die Dritten typischerweise, aber nicht generell verschlossen bleiben (sollen); eine gewisse Nähe zur Intimsphäre ist auch hier bereits angedeutet.586 Wenngleich nicht einzig der Wille des Betroffenen über die Zugehörigkeit zur Intimsphäre zu entscheiden vermag,587 so ist der höchstpersönliche Charakter einer „Information“ jedenfalls insoweit zu bejahen, als der Zugriff auf jene die Gedanken- und Gefühlswelt des Einzelnen berührt. Nonverbale Verhaltensweisen erlauben nun mal – mit gewissen Unsicherheiten588 – auch Rückschlüsse auf Emotion oder Wissen des Einzelnen (soweit etwa an die Fallgruppe der „umgekehrten Rekognition“ erinnert sei).589 Diese partiell unfreiwillige Preisgabe von Gefühlen und Gedankeninhalten – welche (mit einer gewissen Deutungsunsicherheit behaftet) auf unbewussten und physisch nicht steuerbaren nonverbalen Verhaltensweisen beruht – ist der maßgebliche Umstand, mit welchem die herrschende Auffassung im Schrifttum die Unzulässigkeit der unfreiwilligen Polygraphenanwendung vor dem Hintergrund des § 136a StPO (analog)590, der Menschenwürde591 oder des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts592 begründen will, und „interessanterweise“ war jener Umstand Ausgangspunkt der argumentatio von Verrel593, warum die Verwertung beobachteter nonverbaler Verhaltensweisen beim schweigenden Angeklagten gegen nemo tenetur verstoße. So hat das Kriterium der „unfreiwilligen Preisgabe von Gefühlen und Gedankeninhalten“ (fehlende Entschließungsfreiheit) bei der Prüfung unterschiedlichster Rechtssätze des Strafprozess- und Verfassungsrechts den Ausschlag gegeben, obgleich dies bei dogmatisch richtiger Verortung primär ein konstitutives Kriterium der „Intimsphären-Zugehörigkeit“ bei Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG ist (oder sein sollte). Die Gefühle und Gedankeninhalte des Einzelnen sind die wohl „innerste Ausprägung“ der Intimsphäre überhaupt, sodass ein zwangsweiser Zugriff auf jene – vor dem Hintergrund der thematischen Ausprägung – stets den Kernbereich beträfe. Es besteht prima facie ein normativer Gleichlauf zwischen unbewussten und physisch nicht steuerbaren nonverbalen Entäußerungen und den insoweit „übermittel586 Das steht zumindest im Einklang mit den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zur molekulargenetischen Untersuchung zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren, wo auch lediglich eine „Nähe“ aber keine Zugehörigkeit zur Intimsphäre angenommen wurde. Vgl. BVerfG, NJW 2001, S. 879 (880). 587 Vgl. BVerfGE 80, S. 367 (374). 588 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. a). 589 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. und Zweites Kapitel A. IV. 2. 590 Vgl. Frister, ZStW 106 (1994), S. 312 (323 ff., 331), welcher auch im Falle der Freiwilligkeit einen Verstoß gegen § 136a StPO annehmen will. Vgl. letztlich auch Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 235 ff. 591 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 92 sowie Starck, in: v. Mangoldt/Klein/StarckGG, Art. 1, Rn. 59. 592 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 162. 593 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 207.

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ten“ Gefühlen und Gedankeninhalten einerseits und jenen, die sich durch „unbewusste[s] laute[s] Denken“, bei Selbstgesprächen offenbaren, wie es der Bundesgerichtshof594 – andererseits – festgestellt hat. Soweit das Bundesverfassungsgericht595 in der Tagebuch-Entscheidung daneben auch die „Art und Intensität [mit welcher der Sachverhalt] aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt“ für maßgeblich erklärt und jene Gefühle und Gedankeninhalte, welche „in einem unmittelbaren Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen“ stehen, aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung a priori exkludieren will,596 kann dem nicht zugestimmt werden. Es ist zwar aus grundrechtsdogmatischer Sicht richtig, dass abwägungsfeste Verfassungsgewährleistungen im Sinne einer Gemeinwohlorientiertheit und im Lichte der Berührungspunkte mit den Rechtssphären Dritter auszulegen sind, weil jene sich in ihren Schutzgewährleistungen anderenfalls selbst nivellierten, nur zieht das Bundesverfassungsgericht die Grenze schlicht „zu scharf“, denn – wie es selbst ausführt – verlangt bereits das materielle Schuldprinzip als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, dass der Strafausspruch nicht ausschließlich auf Basis des äußeren Tatgeschehens ergeht, sondern vielmehr sämtliche Umstände, die für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch relevant sind, einbezogen werden.597 Dazu zählen aber gerade auch die Gefühls- und Gedankenwelt des „Täters“ im „Tatzeitpunkt“, was etwa psychische Besonderheiten, traumatische Erlebnisse et cetera inkludiert. Wenn nun jeder „Bezug [der Gedanken und Gefühlswelt] zu konkreten strafbaren Handlungen“ jene aus dem Kernbereich der persönlichen Lebensgestaltung ausschlösse, so wären die Kernbereichsgewährleistungen für das Strafverfahren schlechthin zur Makulatur erklärt.598 594

BGH, NJW 2012, S. 945 (946). BVerfGE 80, S. 367 ff. (374). 596 BVerfGE 80, S. 367 (375, insbesondere 377 f.). So formuliert BVerfGE 80, S. 367 (377) zunächst: „Der Inhalt der im März und Dezember 1984 entstandenen Schriftstücke [Tagebuchaufzeichnungen] weist […] insoweit eine psychische Fehlentwicklung ihres Verfassers aus, der zufolge er seit längerer Zeit einen Drang zur Begehung von Gewalt gegen Frauen verspürte, ein Verlangen, das zusehends übermächtig wurde und schließlich im Zusammentreffen mit einer die Tat begünstigenden Situation diese auslöste. Bei dieser Sachlage sind die Schriftstücke in einen engen Zusammenhang zu der Straftat gerückt, deren der Beschwerdeführer beschuldigt wird, legen sie doch, indem sie die wachsende Geneigtheit des Beschwerdeführers zu einer Gewalttat gegen eine Frau und seine Auseinandersetzung mit dieser seelischen Spannungslage wiedergeben, die Wurzel der Tat selbst bloß.“ Ferner heißt es in BVerfGE 80, S. 367 (377): „Bereits diese enge Verknüpfung zwischen dem Inhalt der Aufzeichnungen und dem Verdacht der außerordentlich schwerwiegenden strafbaren Handlung verbietet ihre Zuordnung zu dem absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung, der jedem staatlichen Zugriff entzogen ist.“ Sich gegen diese argumentatio wendend das Sondervotum der „abweichenden Richter“ („Vier zu Vier“-Entscheidung) unter BVerfGE 80, S. 367 (382). Kritischer diesbezüglich ebenso scheinbar BVerfGE 109, S. 279 (319) und ebenso Degenhart, JuS 1992, S. 361 (363). 597 BVerfGE 80, S. 367 ff. (378 f.). 598 Ein Gedanke, der bereits dem Sondervotum im Rahmen der („Vier-zu-Vier“-)TagebuchEntscheidung zu entnehmen ist. So heißt es in BVerfGE 80, S. 367 (383) ferner: „Der im 595

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2. Von der Zuweisung zum räumlichen Rückzugsbereich der Intimsphäre Nun kann die Zuweisung „nonverbaler Gefühls- und Gedankenentäußerungen“ zur Intimsphäre aber eingedenk der thematischen Ausprägung nicht isoliert beurteilt werden, es kommt vielmehr kumulativ darauf an, inwieweit der „Sachverhalt“ eine Verwobenheit mit dem räumlichen Rückzugsbereich des Einzelnen aufweist. Die Frage ist, „ob“ und „in welcher Form“ eine „Loslösung“ der Gefühle und Gedanken „aus dem Inneren“ stattgefunden hat. So hat das Bundesverfassungsgericht599 betreffend in einem Tagebuch verschriftlichte Gedankenentäußerungen judiziert, dass dieser „Sachverhalt“ – nach Auffassung des Verfassers zwar thematisch der Intimsphäre zugehörig600 – gerade vermöge der schriftlichen Niederlegung durch den Betroffenen „aus dem von ihm beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben“ wurde. Betreffend den Zugriff auf die Gefühls- und Gedankenwelt eines Individuums scheint sich für Maßnahmen des Strafverfahrens folgender – hier entwickelter – „Dreiklang“ anzubieten, den Grad der Verwobenheit mit dem räumlichen Rückzugsbereich präzise zu beurteilen. Erstens ist entscheidend, dass sich die staatliche Ausforschungsmaßnahme – etwa die Beobachtung „provozierter“ nonverbaler Entäußerungen – nicht als unmittelbarer Zugriff auf die Gefühls- und Gedankenwelt geriert, denn hier fände ein Zugriff auf die innere Psyche statt, ohne dass überhaupt eine Loslösung eingetreten wäre. Kategorial ist zunächst das – von Verrel601 genannte – Beispiel „passiver Gedankensensoren“ zu nennen und ferner wären „Gedankenscanner“ oder der Einsatz eines „telepathischen Sachverständigen“602 hier einzuordnen, deren Anwendung – obgleich ihrer physischen „Nicht-Existenz“ – freilich unzulässig wäre.603 Bei der sensuellen Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen findet der Zugriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt indes nur im Wege einer Schlussziehung, basierend auf losgelösten (nonverbalen) körperlichen Ver-

Strafverfahren unzulängliche Kernbereich muß vielmehr aus sich heraus, vom Personenhaften her, bestimmt werden; wirken auf seine Bestimmung angenommene Erfordernisse des Schuldprinzips ein, so instrumentalisiert das Schuldprinzip die Menschenwürde [oder besser: den Menschenwürdekern des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der den Kernbereich abbildet]“. 599 BVerfGE 80, S. 367 (376). 600 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel F. II. 1. In BVerfGE 80, S. 367 ff. (374) wurde dies mit dem Verweis auf den Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen anders beurteilt. 601 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 258. 602 Hier sei etwa in „Star Trek-Manier“ an einen „Sachverständigen“ vom Planeten „Betazed“ zu denken. 603 Zum einen wegen des Eingriffs in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, zum anderen, weil eine Anwendung unzulässigen Zwangs nach § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO begründet wäre.

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haltensweisen, statt; der Zugriff geriert sich also als ein solcher mittelbarer Natur (was im Übrigen auch für den Polygraphen gilt604). Zweitens ist erheblich, dass die Gedanken und Gefühle den menschlichen Körper – in einer Art physischen Manifestation – verlassen haben. Dies ist primär in der Tagebuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts605 mit dem „Verschriftlichungsmoment“ zum Ausdruck gekommen und liefert zudem die Begründung dafür, dass Gedanken, die sich in einem „Zwiegespräch“ offenbaren, typischerweise eine Loslösung dergestalt erfahren, dass jene nicht mehr vom Kernbereich erfasst sind.606 Haben sich die Gedanken bereits in physisch real wahrnehmbaren Körpervorgängen – außerhalb des Körpers – „verselbstständigt“, ist damit sukzessive eine Distanz zum „Innersten“, nämlich der Gedanken- und Gefühlswelt, hergestellt; und diese Distanz markiert die geringere Invasivität der Beeinträchtigung des räumlichen Rückzugsbereichs. An dieser Stelle kommt in gewisser Weise jener „Leib-SeeleDualismus“ zum Tragen, welcher von Jerouschek607, Nothhelfer608 und partiell auch von Verrel609 „bei“ „nemo tenetur“ proklamiert wurde und sich „dort“ als dogmatisch nicht haltbar erwiesen hatte:610 So ist es vor dem Hintergrund der Betroffenheit des räumlichen Rückzugsbereichs – und damit für die Intimsphärenzuweisung – durchaus relevant, ob eine „Information“ vermöge ihrer Verkörperung bereits Teil der Umwelt geworden ist. Respektive begründete auch Verrel611 die Differenzierung zwischen der zwangsweisen Inanspruchnahme des Menschen in seiner körperlichnaturwissenschaftlichen Dimension einerseits und seiner geistigen Dimension andererseits damit, dass es der geistige Bereich sei, „der seine intellektuelle Individualität ausmach[e] und gemeinhin als persönlichkeitskonstitutiv612 angesehen [werde]“. Nur hat Verrel613 hieraus – mit seinem Differenzierungspostulat betreffend „nemo tenetur“ – den falschen Schluss gezogen; dies gibt richtigerweise den Ausschlag bei der Frage der Kernbereichszugehörigkeit.614 Daher ist auch zu konstatieren, dass Gedanken und Gefühle, welche im Wege nonverbaler Verhaltensweisen 604 Auch ein Polygraph vermag nach dem aktuellen Stand der Technik keinen unmittelbaren Zugriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt zu gewähren. Vgl. zu dessen Funktionsweise Nestler, JA 2017, S. 10 (14) sowie Viertes Kapitel F. II. 2., Fn. 631. 605 BVerfGE 80, S. 367 ff. (376). 606 Vgl. hierzu etwa BGH, NJW 2012, S. 945 (946) sowie ferner BVerfGE 109, S. 279 (319). 607 Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 793 (796). 608 Nothhelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 92. 609 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254, 284 f. 610 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 2. e). 611 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 257. 612 Seitens des Verfassers hervorgehoben. 613 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 254, 257, 284 f. 614 Auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 294 spricht betreffend nonverbale Verhaltensweisen von „Persönlichkeitsentäußerungen“, welche „von der Aussagefreiheit des Beschuldigten mitumfaßt sein [müssten], sofern sie aufgrund des durch sie preisgegebenen Tatwissens, an Stelle einer entsprechenden Aussage im Urteil verwertet werden könn[t]en“.

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hervortreten – also den Bereich des „Körperinneren“ verlassen, sich namentlich „loslösen“ –, obgleich ihrer thematischen Ausprägung, im Grundsatze nicht mehr dem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung zugewiesen sind, da jene eben aus dem räumlichen Rückzugsbereich hervorgetreten sind.615 Nichts anderes gilt, wenn der Sachverständige jene nonverbalen Entäußerungen beobachtet (und hierzu möglicherweise gezielt eingesetzt war) oder die nonverbalen Entäußerungen (nachträglich) im Wege einer Videoaufzeichnung und anschließender Bearbeitung sichtbar gemacht werden.616 Eine andere Beurteilung könnte – drittens – höchstens aus den örtlichen Gegebenheiten der Entäußerung resultieren. So hat der Bundesgerichtshof617 bei Selbstgesprächen zu Recht auf die „Flüchtigkeit“ des gesprochenen Wortes in einem Moment des (vermuteten) Alleinseins abgestellt und hieraus eine Kernbereichszugehörigkeit gefolgert. Soweit jener für Selbstgespräche konstatiert, dass „dortige“ verbale Entäußerungen nicht auf Verständlichkeit angelegt und ferner durch unwillkürlich auftretende Bewusstseinsinhalte geprägt seien,618 besteht zwar eine Parallele zu unbewussten nonverbalen Entäußerungen im Gerichtssaal. Wenn auch in beiden Fällen das „Unbewusste aus dem Betroffenen spricht“, so besteht der strukturelle Unterschied aber darin, dass der Betroffene sich im Gerichtssaal nicht „alleine wähnt“, jener erahnt zumindest, dass seine (auch nonverbalen) Entäußerungen in toto für die gerichtliche Entscheidungsfindung bedeutsam sein könnten. Daher vermag die Örtlichkeit der Entäußerung vorliegend keine besondere Zurückgezogenheit zu begründen und folglich den räumlichen Rückzugsbereich nicht zu modifizieren. Eingedenk einer normativen Gesamtbetrachtung können Gedanken- und Gefühlsentäußerungen im Wege nonverbaler Verhaltensweisen im Gerichtssaal mithin nicht dem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung zugewiesen werden.

615 Damit ist eindeutig, weshalb die Polygraphenanwendung gegen oder ohne den Willen des Betroffenen einen Eingriff in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung begründet. Hier werden nämlich (auch) Informationen erhoben, welche den Bereich des Körperinneren nicht verlassen haben, wie etwa der psychogalvanische Hautwiderstand, der Blutdruck oder die Pulsfrequenz. Vgl. hierzu statt vieler Nestler, JA 2017, S. 10 (14) m. w. N. 616 Das es letzterenfalls an einer Rechtsgrundlage fehlt, ist eine andere Frage. Dies wurde bereits im Rahmen des § 136a StPO konstatiert. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (aa) und die sogleich folgenden Ausführungen. Dieses zweite Kriterium der „physischen Manifestation“ ist nicht losgelöst (für sich selbst) zu betrachten, sondern vielmehr nur kumulativ mit dem sogleich (im nächsten Absatz des Haupttextes) folgenden Kriterium der „örtlichen Gegebenheiten der Entäußerung“ geeignet, eine „Aussage“ betreffend die Verwobenheit mit dem räumlichen Rückzugsbereich, respektive betreffend die Zugehörigkeit zur Intimsphäre zu treffen. Anderenfalls liefe man „Gefahr“, dass realiter nichts mehr der Intimsphäre zuzurechnen wäre, denn ohne „Gedankenscanner“ ist ein Zugriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt ohnehin niemals möglich, wenn es nicht zu einer physischen Manifestation käme. 617 BGH, NJW 2012, S. 945 (946). 618 BGH, NJW 2012, S. 945 (946).

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III. Rechtfertigung des „Informationszugriffs“ Unbenommen, ob sich die Beobachtung nonverbaler Verhaltensweisen im Gerichtssaal nun als Wissens- oder Zustandszugriff geriert, bedarf der hiermit bewirkte Eingriff in die Schutzgewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts – respektive der „Informationszugriff“ – einer Rechtsgrundlage619 und darf zudem nicht gegen das Übermaßverbot620 verstoßen. 1. Rechtsgrundlage für die Erhebung nonverbaler Verhaltensweisen in Experiment-Konstellationen Werden nonverbale Verhaltensweisen beim Angeklagten oder Zeugen im Rahmen von Experiment-Konstellationen final „provoziert“, so hat diese Beweiserhebung – ausweislich der Erwägungen im Zweiten Kapitel – in Gestalt des richtigen förmlichen Beweisinstituts zu geschehen.621 Ist ein Wissenszugriff seitens des Gerichts intendiert, sind die Institute der Angeklagten- (§§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO) und Zeugenvernehmung (§§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO) einerseits strafprozessual – im Charakter von „Organisationsnormen“ – die richtigen Beweisinstitute, andererseits sind jene Institute zugleich auch Rechtsgrundlage für die jeweiligen Beweiserhebungen. Insoweit sind die §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO ihrem Charakter nach jeweils auch Befugnisnorm.622 Sie ermächtigen zur Angeklagten- und Zeugenvernehmung und mithin sowohl zu dem damit typischerweise einhergehenden „Zwang“ – wie dies im Zuge der Ausführungen zu § 136a StPO konstatiert wurde623 – als auch zu den damit einhergehenden Eingriffen in die Schutzgewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts.624 Dies ermächtigt aber eingedenk des Wort619 Vgl. im Allgemeinen zum Vorbehalt des Gesetzes Grzeszick, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 20, Rn. 75 ff. Vgl. zum einfachen Gesetzesvorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung statt vieler Murswiek/Rixen, in: Sachs-GG, Art. 2, Rn. 103, 107, welche zu Recht darauf verweisen, dass die gesetzliche Grundlage vor dem Hintergrund der Bedeutung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts hinreichend bestimmt gefasst sein müsse. So auch BVerfGE 65, S. 1 (44, 46). 620 Zudem muss sowohl die Rechtsgrundlage selbst als auch ihre Anwendung im Einzelfall den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit genügen. Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 157. 621 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 622 Vgl. zu dem Gedanken, §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO als Befugnisnormen zu betrachten, auch Rogall, in: SK-StPO, § 136a, Rn. 92, welcher untersucht, ob in §§ 136, 80 StPO die gesetzliche Grundlage für die Anwendung eines Polygraphen und den damit einhergehenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht gesehen werden könne, was im Ergebnis – „mit“ Rogall – (für den Polygraphen) zu verneinen sein wird. 623 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (1). 624 Dass diese „Rechtsgrundlagen-Qualität“ der §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2, 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO sowie jene der „noch folgenden“ § 80 Abs. 2 Var. 2 StPO und § 86 StPO innerhalb des Schrifttums bisher kaum Erwähnung gefunden hat, ist darauf zurückzuführen,

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lautes nur zu einem „Vernehmen“, also zu einer Beweiserhebung, bei welcher sich die Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege einer menschlichen Vis à visKommunikation ereignet und namentlich nicht zu einem irgendwie gearteten „technischen Experimentieren“.625 Die Grenze verläuft „dort“, wo die entäußerten nonverbalen Verhaltensweisen nicht mehr mit den menschlichen Sinnesorganen (des Richters) wahrnehmungsfähig sind, sondern sich deren Beobachtung vielmehr als eine „technische Sichtbarmachung“ gerieren würde. Für erwähnte ExperimentKonstellationen wie etwa die Fallgruppe der „umgekehrten Rekognition“ oder das „Vorlegen von Lichtbildern“ (um der nonverbalen Reaktionen willen) sind die §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 und §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO mithin taugliche Rechtsgrundlage.626 Nicht zulässig wäre etwa eine visuelle Aufzeichnung mit anschließender technischer Aufbereitung zur „Sichtbarmachung“ jeglicher nonverbaler Reaktionen. Dies beträfe zwar nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung,627 wäre aber schlicht nicht mehr von der Rechtsgrundlage gedeckt.628 Soll die Wahrnehmung jener nonverbalen Verhaltensweisen durch einen Sachverständigen stattfinden, so ermächtigt § 80 Abs. 2 Var. 2 StPO zu jenem Vorgehen; wobei auch hier eine „technische Sichtbarmachung“ untersagt bleibt.629 Ist seitens des Gerichts hingegen ein Zustandszugriff intendiert, so ist das Institut des Augenscheinsbeweises (§ 86 StPO) das richtige Beweisinstitut und jenes ist zugleich auch Rechtsgrundlage für die jeweiligen Beweiserhebungen. Der § 86 StPO ist seinem Charakter nach insoweit „wiederum“ Befugnisnorm und ermächtigt zur Augenscheinseinnahme wie zu den damit einhergehenden Eingriffen in die Schutzgewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dies ermächtigt aber – „erneut“ eingedenk des Wortlautes – nur zu sinnlichen Wahrnehmungen von Zuständen des „Seiens“ und wiederum nicht zu „technischen Sichtbarmachungen“. Damit wäre etwa eine Experiment-Konstellation, die final auf die Beobachtung von dass ohne die damit einhergehenden typischen Eingriffe in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Strafprozess schlicht nicht durchführbar wäre. Die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen sowie deren Verwertung erreicht indes ein höheres Eingriffsniveau, sodass eine diesbezügliche Untersuchung durchaus anzeigt scheint. Die §§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2, 48, 69 Abs. 1 Satz 1, § 80 Abs. 2 Var. 2, § 86 StPO entfalten insoweit also wieder eine „Gestattungswirkung“, dem zur (partiellen) Anwesenheit verpflichteten Angeklagten (Zeugen) „nonverbale Offenbarungen“ „abzunötigen“. Vgl. hierzu und zu der Feststellung, dass nicht die Anwesenheitsverpflichtung selbst diese Gestattung „leisten kann“, bereits die Ausführungen unter B. III. 3. b) aa), Fn. 126. 625 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) (2) (b) (aa). 626 Unterstellt es ist ein Wissenszugriff intendiert. 627 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. II. 628 Sofern dem eine weitgehende Austauschbarkeit von „technischer Messung“ und „Beobachtung mit den menschlichen Sinnesorganen“ entgegengehalten werden sollte, sei darauf verwiesen, dass die Eingriffsintensität schlicht eine andere ist. 629 Denkbar – und freilich zulässig – erscheint aber, einen Sachverständigen zu bestellen, welcher über besondere Kenntnisse im Bereich der Verhaltenspsychologie verfügt und daher nonverbale Reaktionen signifikant besser wird wahrnehmen können als das Gericht.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

Krankheitssymptomen in Form von nonverbalen Entäußerungen gerichtet ist, ebenso zulässig.630 2. Rechtsgrundlage für die Erhebung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen Sofern nonverbale Verhaltensweisen zufällig auftreten – was ausweislich der Kategorien des Zweiten Kapitels bei förmlicher Beweiserhebung, am Rande förmlicher Beweisaufnahme oder im Zuschauerraum der Hauptverhandlung geschehen kann631 –, sind jene entweder schon ipso iure Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung oder § 244 Abs. 2 StPO verpflichtet das Gericht zur Einbeziehung jener in den „Inbegriff“,632 sofern sich – in den Grenzen des Antizipationsverbotes633 – eine Beweisrelevanz vermuten lässt. Eine Beweiserhebung im technischen Sinne kann darin schon vermöge der „fehlenden Aufgesuchtheit“ jener zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen nicht erblickt werden.634 Die gerichtliche – sensuelle – Wahrnehmung ereignet sich vielmehr als ein (nebenher ablaufender) notwendiger – de facto unvermeidlicher – Vorgang innerhalb des Gesamtgeschehens der Hauptverhandlung. Diese „Quasi-Beweiserhebung“, respektive die Wahrnehmung des Gesamtgeschehens der mündlichen Verhandlung in ihren sämtlichen Facetten, ist indes seitens der Sachaufklärungsmaxime in § 244 Abs. 2 StPO verlangt, seitens der Vorschrift des § 261 StPO in Gestalt ihrer Vorwirkungen auf die Beweiserhebungsebene635 vorausgesetzt und letztlich „systemcharakterisierend“ für den deutschen (reformierten) Strafprozess. Mithin kann auch in genanntem Konvolut – respektive in § 261 StPO selbst – zugleich die notwendige Rechtsgrundlage zur Wahrnehmung („Quasi-Erhebung“) jener zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen erblickt werden. Sowie § 261 StPO das Gericht einerseits verpflichtet, nach freier Überzeugung – erschöpfend – aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu entscheiden,636 so ermächtigt § 261 StPO andererseits zu den damit (manchmal) notwendigerweise einhergehenden Eingriffen in subjektiv-öffentliche Rechte Dritter und folglich zu solchen in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des jeweils Betroffenen. Auf anderem Wege wäre das Gebot einer erschöpfenden Würdigung des Inbegriffs „denkbar“ unerfüllbar. Es besteht also auch insoweit eine taugliche Rechtsgrund630

So wurde etwa festgestellt, dass eine „reduzierte Bewegungsvariabilität“ das Symptom einer Depression sein kann. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 5. 631 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. III. IV. und V. 632 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 1., 2. und 3. 633 Vgl. zum Beweisantizipationsverbot Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 1. 634 Vgl. zum Kriterium der „Aufgesuchtheit“ eines Beweismittels die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 1. c). 635 Vgl. zu den Vorwirkungen des § 261 StPO auf die Ebene der Beweiserhebung die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. 2. 636 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I.

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lage – mit § 261 StPO im Charakter einer (insoweit) Befugnisnorm637 – jene zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen zu „erheben“ und in der Folge auch zu verwerten. 3. Die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen im Einzelfall vor dem Hintergrund des Übermaßverbotes Die Erhebung und Verwertung nonverbaler Verhaltensweisen seitens des Gerichts – sei es nun die Durchführung von Experiment-Konstellationen oder die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen – werden im Regelfall einer legitimen Zielsetzung folgen.638 So dient das damit verbundene staatliche (gerichtliche) Ausforschungsinteresse einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren und damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Aufklärung von Straftaten.639 „Obgleich“ sind das Allgemeininteresse einer effektiven Strafverfolgung und das Individualinteresse des Schutzes der Privatsphäre des Einzelnen einem gerechten Ausgleich zuzuführen,640 respektive muss die Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Dringlichkeit der rechtfertigenden Gründe stehen.641 Betreffend die Beeinträchtigungsschwere ist zu konstatieren, dass sich die in Rede stehenden nonverbalen Reaktionen (des Angeklagten oder Zeugen) – etwa ein „Erröten“ oder „Erbleichen“ – in einer „gesprächsüblichen“ Art offenbaren. Es werden schlicht solche Reaktionen „erhoben“ und verwertet, die jeder interperso637 Vgl. zum „Befugnisnormcharakter“ der Vorschrift des § 261 StPO etwa Nickl, Das Schweigen des Beschuldigten und seine Bedeutung für die Beweiswürdigung, S. 51. 638 Vgl. im Allgemeinen zur Voraussetzung eines legitimen Zwecks Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 20, Rn. 181 sowie Grzeszick, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 20, Rn. 107, 111. 639 Inwieweit die Beobachtung oder andersartige Wahrnehmung nonverbaler Verhaltensweisen tatsächlich geeignet ist, der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren zu dienen, wird noch im Rahmen des Vierten Kapitels zu klären sein. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4. und II. 2. b) bb). Festzustellen ist indes schon hier, dass eine (evidente) Ungeeignetheit jedenfalls insoweit abzulehnen ist, als jene Experiment-Konstellationen oder auch zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen geeignet sind, der subjektiven Überzeugung des Richters im Einzelfall „zu dienen“. Wie dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative betreffend die Wahl eines geeigneten Mittels eingeräumt ist, so ist auch dem Richter, ausweislich seiner subjektiven Überzeugungsbildung, eine korrespondierende Freiheit betreffend die Entscheidung über die Geeignetheit eines Beweismittels eingeräumt (sofern Naturgesetzlichkeiten und Denkgesetze nicht entgegenstehen). Vgl. im Allgemeinen zur Voraussetzung eines geeigneten Mittels Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 20, Rn. 182. Ob etwa die Durchführung von Experiment-Konstellationen oder die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen erforderlich ist, ist eine Frage des Einzelfalles und kann nicht pauschal beantwortet werden. Vgl. im Allgemeinen zur Voraussetzung der Erforderlichkeit Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 20, Rn. 183. 640 Vgl. Degenhart, JuS 1992, S. 361 (364) sowie Di Fabio, in: Maunz/Dürig-GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 151. 641 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 20, Rn. 184.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

nalen Vis à vis-Kommunikation – auch außerhalb von Gerichtssälen – phänomenologisch notwendigerweise immanent sind, was namentlich der Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen, aber auch solchen, die in Experiment-Konstellationen „provoziert“ wurden, prima facie eine geringe Eingriffsintensität bescheinigt. Auch wenn jene partiell Rückschlüsse auf die Gedanken- und Gefühlswelt des Einzelnen erlauben, so treten die nonverbalen Reaktionen „offen hervor“, sodass – vermöge der Wahrnehmungsoption mit den menschlichen Sinnesorganen für „Jedermann“ – ein gesteigerter Sozialbezug jener Gedanken- und Gefühlsentäußerungen begründet ist, wobei eine „schrankenlose Durchleuchtung persönlicher Verhältnisse“642 namentlich nicht zu besorgen ist. Diese Entäußerungen sind vielmehr in einer Sphäre verortet, welche der „Außenwelt“ und dem Zugang Dritter ohnehin – gerade vermöge ihrer Unbewusstheit und physischen Steuerbarkeit – partiell geöffnet und nicht im Grundsatze verschlossen ist. Es resultiert vielmehr aus der menschlich-physischen Eigenart, nicht generell vor unbewussten (Selbst-)Offenbarungen geschützt zu sein; insoweit ist die argumentatio von Frister643 – auf die „Sozialadäquanz“ jener Berücksichtigung zu verweisen – in der Tat durchgreifend. Der gesteigerte Sozialbezug ergibt sich ferner maßgeblich daraus, dass der Einzelne nicht in einem „Moment des Alleinseins“ – einem quasi strukturellen Rückzugsbereich der Vertrautheit betroffen ist – sondern konträr zur Selbstgespräche-Entscheidung des Bundesgerichtshofs644 an einem Orte maximaler Öffentlichkeit „ausgeforscht“ wird, wo jener ohnehin eine ständige Beobachtung zu besorgen hat.645 Dem stehen in besonderem Maße Belange einer effektiven Strafverfolgung entgegen. So stehen die Offenbarungen der Gedanken- und Gefühlswelt regelmäßig im Zusammenhang mit konkreten Straftaten646 (etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ beim Wiedererkennen des Raubopfers). Die nonverbalen Reaktionen können etwa Anknüpfungspunkt einer Glaubhaftigkeitsbeurteilung sein oder – in engen Grenzen647 – als relevantes Nachtatverhalten nach § 46 StGB (etwa ein 642

Habscheid, in: Festschrift für H. Peters, S. 840 (871) unter Verweis auf BVerwGE 14, S. 21 (25). 643 Frister, ZStW 106 (1994), S. 312 (321). 644 BGH, NJW 2012, S. 945 (946). Der Bundesgerichtshof hatte betreffend die Kernbereichszugehörigkeit maßgeblich auf die „Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation“ in Verbindung mit der „Flüchtigkeit“ des gesprochenen Wortes abgestellt. 645 Dies gilt einerseits für zufällig auftretende Entäußerungen, andererseits aber im Besonderen für Experiment-Konstellationen, denn die Strafprozessordnung sieht gerade vor, dass jene nur in Gestalt förmlicher Beweiserhebung stattfinden dürfen, sodass der jeweils Betroffene bereits Kenntnis davon hat, sich in einem Moment situativer Ausforschung zu befinden (weil jener etwa weiß, sich in einer „Vernehmung“ zu befinden). 646 Anderenfalls fehlte es für deren „Erhebung“ und Verwertung bereits an einem legitimen Ziel. 647 Dabei gilt stets zu bedenken, dass die nonverbalen Verhaltensweisen des Angeklagten auch „Bestandteil“ seines Verteidigungsverhaltens in der Hauptverhandlung sein könnten und jenes nicht zu seinen Lasten gewertet werden darf. Vgl. Miebach/Maier, in: Münchener-

F. Allgemeines Persönlichkeitsrecht

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„schadenfrohes Lachen“ oder „abfällige Gesten“) den Rechtsfolgenausspruch beeinflussen. Wenn das Bundesverfassungsgericht648 bei strafprozessualen Ausforschungsmaßnahmen mit Persönlichkeitsrechtsrelevanz zu Recht einen hohen Verdachtsgrad verlangt, so steht dies einer Erhebung und Verwertung nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung schon insoweit nicht entgegen, als mit dem Eröffnungsbeschluss nach § 203 StPO jedenfalls eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit durch einen Richter festgestellt wurde.649 Eingedenk einer normativen Gesamtbetrachtung ist nicht zuletzt bedeutsam, dass die Verwertung, sowohl zufällig auftretender nonverbaler Reaktionen als auch solcher, die innerhalb von Experiment-Konstellationen „provoziert“ wurden, ein Eingriffsniveau erreicht, welches strukturell hinter nahezu sämtlichen anderen strafprozessualen Ausforschungsmaßnahmen mit Persönlichkeitsrechtsrelevanz zurückbleibt. Der räumliche Rückzugsbereich und mithin die „Privatheit“ als solche werden signifikant geringer tangiert, als dies etwa bei den Maßnahmen der §§ 100a ff. StPO der Fall ist. Vor diesem Hintergrund ist auch der Einwand Verrels650, in der (permanenten) Beobachtung des offenen Ausdrucksverhaltens einen Rückfall in die Zeiten „inquisitorischer Gebärdenprotokolle“ zu erblicken, nicht durchgreifend.651 Ein derartiges Vorgehen mag gewiss kurios anmuten – und möglicherweise auch nicht sinnvoll sein –, es beeinträchtigte die Schutzgewährleistungen des Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG aber dennoch in geringerem Maße, als andere tradierte heimliche Ausforschungsmaßnahmen.

IV. Zusammenfassung So sei abschließend zwar konstatiert, dass sowohl die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen wie auch die „Erhebung“ und Verwertung solcher in Experiment-Konstellationen regelmäßig einen Eingriff in die Schutzgewährleistungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts begründen.652 Gleichwohl ist Kommentar-StGB, § 46, Rn. 250. Eine Ausnahme sei nach BGH, NStZ 2014, S. 511 (512) einschlägig, „wenn es [das Verhalten] eindeutig die Grenzen angemessener Verteidigung überschreitet und Rückschlüsse auf eine rechtsfeindliche Haltung zulässt“. So hat es BGH, BeckRS 2003, S. 10356 etwa für zulässig erachtet, die „erfreute Reaktion [des Angeklagten] auf die Mitteilung, die Geschädigte sei wegen der Gefahr einer Selbsttötung in ein Krankenhaus aufgenommen“ als strafschärfende missbilligende Einstellung zu werten. 648 BVerfGE 44, S. 353 (356). Vgl. ferner Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1, Rn. 159. 649 Maßgeblich ist, dass eine Verurteilung „hinreichend wahrscheinlich“ ist. Vgl. hierzu Schneider, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 203, Rn. 7 sowie Wenske, in: MünchenerKommentar-StPO, § 203, Rn. 8, 10. 650 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 205. 651 Zudem waren es im Übrigen auch nicht die Gebärdenprotokolle, welche gemessen an heutigen Verfassungsrechtssätzen, die – unbestrittene – besondere „Verwerflichkeit“ jenes inquisitorischen Verfahrens konstituierten (diese Ausprägung war sicher die „harmloseste“). 652 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. I. 1. und 2.

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

jener Eingriff aber von den Instituten der förmlichen Beweisaufnahme (§§ 243 Abs. 5 Satz 2, 136 Abs. 2 StPO; §§ 48, 69 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 80 Abs. 2 Var. 2 StPO; 86 StPO)653 sowie dem Inbegriffsverständnis (§ 261 StPO)654 erfasst, sodass in jenen Vorschriften insoweit eine Rechtsgrundlage zu erblicken ist, als nur eine Beobachtung und Wahrnehmung – vermöge der menschlichen Sinnesorgane – stattfindet und jenes Vorgehen gerade nicht in eine technische „Sichtbarmachung“ umschlägt. Insoweit ist, vor dem Hintergrund einer effektiven Strafverfolgung, von einer verhältnismäßigen655 Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Angeklagten und Zeugen auszugehen.

G. Das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG Nachdem die bisherig untersuchten Rechtssätze keine Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken zu begründen vermochten, bleibt zu beurteilen, ob schließlich das Recht auf ein faires Verfahren – Fair trial-Grundsatz – betreffend nonverbale Verhaltensweisen irgendwelche Schranken vorsieht. Namentlich wird zu klären sein, ob etwa die gezielte Provokation nonverbaler Verhaltensweisen innerhalb von Experiment-Konstellationen zu unterbleiben hat.656

I. Ausgangspunkt: Subjektiv-öffentliches Recht des Angeklagten Die Garantie des „Fair trial“ ist notwendige Konsequenz der grundlegenden Wertentscheidungen der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG657 und hat mit der Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 EMRK eine positiv-rechtliche Ausgestaltung erfahren. Dem Angeklagten658 wird – auch als subjektiv-öffentliches Recht659 – ein faires Verfahren garantiert,660 wobei die ratio legis primär in der Gewährleistung einer substantiierten 653

Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. III. 1. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. III. 2. 655 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel F. III. 3. 656 Bei zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen erscheint dies derart abwegig, dass es keiner weiteren Diskussion bedarf. 657 Vgl. BVerfGE 26, S. 66 (71); 38, S. 105 (111); 46, S. 202 (208, 210); Fischer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Einleitung, Rn. 111; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11, Rn. 4. 658 Das Recht auf ein faires Verfahren gilt demnach nicht für Zeugen. Vgl. hierzu Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 14. 659 Vgl. BGHSt 46, S. 93 (95 f.); Gaede, in: Münchener Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 3. Der Fair trial-Grundsatz ist zugleich indes auch objektiv-rechtliches Prinzip. 660 Vgl. Gaede, in: Münchener Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 3. 654

G. Das Recht auf ein faires Verfahren

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(aktiven) Teilhabe des Angeklagten an dem gegen ihn geführten Strafverfahren zu sehen ist.661 Die maßgeblich durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „geprägten“ Schutzgewährleistungen umfassen neben den speziellen Rechten und Prinzipien des Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK auch unbenannte (Freiheits-)Rechte des Angeklagten, welche – wie auch der Fair trial-Grundsatz in seiner Gesamtheit – „Mindeststandards“ des Strafprozesses markieren,662 die einerseits vermöge des Gebotes völkerrechtsfreundlicher Auslegung das nationale (Strafprozess-)Recht (mittelbar) beeinflussen,663 andererseits dogmatisch unmittelbar als „Auffangtatbestand“ fungieren.664

II. Experiment-Konstellationen beim Angeklagten als Verstoß gegen das „Instrumentalisierungsverbot“ Die beschworene „aktive Teilhabe“ des Angeklagten im Strafverfahren scheint in Frage gestellt, wenn bei jenem unbewusste oder physisch nicht steuerbare, nonverbale Verhaltensweisen durch Experiment-Konstellationen gezielt provoziert werden. Ein derartiges Vorgehen geriert sich durchaus als eine gewisse „Instrumentalisierung“ des Einzelnen, die zwar in ihrer Qualität freilich keine verbotene Objektivierung subjektiven Rechts im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG zu begründen vermag,665 wohl aber vor dem Hintergrund des „Fair trial“ betreffend die Subjektstellung Bedenken bereiten könnte.

661

Vgl. Gaede, in: Münchener Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 98 f. Vgl. Fischer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Einleitung, Rn. 111; Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 11. 663 Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, welcher im Wege innerstaatlicher „Transformation“ durch Bundesgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG unmittelbar-anwendbarer Bestandteil des nationalen Rechts geworden ist (vgl. Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. Oktober 2010, BGBl. II, S. 1198). Vgl. hierzu BVerfGE 111, S. 307 (317). Vermöge der im Grundgesetz verankerten Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Rechts und dem Leitgedanken des Grundgesetzes auf Schutz der Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG) ist das nationale Recht (grundsätzlich auch das Grundgesetz selbst) konventionskonform auszulegen. Vgl. hierzu BVerfGE 74, S. 358 (370); 82, S. 106 (120); 128, S. 326 (367) sowie Gaede, in: Münchener-Kommentar-StPO, Art. 1 EMRK, Rn. 7. Aus der Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG folgt (in Verbindung mit Art. 32 EMRK) die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die ratio der – grundsätzlich nur inter partes geltenden – Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ zu berücksichtigen. Vgl. BVerfGE 111, S. 307 (323) sowie Gaede, in: MünchenerKommentar-StPO, Art. 1 EMRK, Rn. 10. 664 Vgl. Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 10. 665 Und daher erfährt Art. 1 Abs. 1 GG – über dessen nemo tenetur-Ausprägung hinaus – auch keine gesonderte Erwähnung. 662

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3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

1. „Selbstbelastungsfreiheit“ und „Instrumentalisierungsverbot“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK Es entspricht insoweit der herrschenden Auffassung666, dass der Fair trialGrundsatz als unbenanntes Recht auch eine „Selbstbelastungsfreiheit“ des Angeklagten enthält, die jedoch – ausweislich obiger Ausführungen667 – im Grundsatze geringere Schutzgewährleistungen statuiert als der nemo tenetur-Grundsatz, wie jener bereits aus dem Grundgesetz folgt. Daher ist die „Untersuchung“ der Zulässigkeit von Experiment-Konstellationen anhand des Fair trial-Grundsatzes nur insoweit „lohnend“, als aus jenem – ausnahmsweise – eine „Selbstbelastungsfreiheit“ mit weitergehenden Schutzgewährleistungen folgen sollte. 2. Die vermeintlich „extensive Lösung“ des EGMR und Experiment-Konstellationen Im Ausgangspunkt geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte668 von einem umfassenden Verbot aus, dem Angeklagten eine Selbstüberführungsleistung – in Gestalt einer Aussage oder einer sonstigen Mitwirkung – abzunötigen, wobei jener in Grundzügen anhand des Aktivitäts/Passivitäts-Dogmas verfährt.669 So bleibe die Selbstbelastungsfreiheit – soweit sie aus dem Fair trial-Grundsatz folgt – insoweit unbetroffen, als ein hoheitlicher Zugriff auf Beweise stattfindet, die eine vom Willen des Angeklagten unabhängige Existenz aufweisen.670 Vor dem Hintergrund dieser tradierten Judikatur wäre die Provokation nonverbaler Verhaltensweisen innerhalb von Experiment-Konstellationen unproblematisch als zulässig aufzufassen; soweit nämlich eine Zwangswirkung besteht, entäußern sich jene Verhaltensweisen unbewusst oder physisch nicht steuerbar, sodass der Zugriff unabhängig vom Willen des Betroffenen geschieht. Seit der „Jalloh-Entscheidung“671 scheint der Gerichtshof indes nicht mehr ausschließlich anhand des Instrumentalisierungskriteriums der „Willensunabhängigkeit“ judizieren zu wollen,672 so hat jener – betreffend das zwangsweise Verabreichen eines Brechmittel-Präparats – danach differenziert, ob der Zwang auf Beweismittel gerichtet ist, welche auf „normale Körperfunktionen“ rückführbar sind, oder der 666

Vgl. EGMR, NJW 2002, S. 499 (501); Gaede, in: Münchener Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 318 ff.; Fischer, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, Einleitung, Rn. 113; Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 179 ff. 667 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. I. 3. a). 668 EGMR, NJW 2002, S. 499 (501); EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3123). 669 Vgl. zu dieser Schlussfolgerung auch Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 190, 193. 670 EGMR, NJW 2002, S. 499 (501). Diese argumentatio erinnert an die Differenzierung zwischen vertretbaren und unvertretbaren Handlungen. 671 EGMR, NJW 2006, S. 3117 ff. – „Jalloh-Entscheidung“. 672 Wobei auch EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3124) zunächst darauf abstellt.

G. Das Recht auf ein faires Verfahren

223

Zwang „pathologische Reaktionen in seinem Organismus“ (wie etwa das „Erbrechen“) auszulösen geeignet ist.673 Unbeschadet dessen, dass jene argumentatio aus dogmatischen Gründen nicht sachgerecht erscheint – so sie nämlich die Schutzgewährleistungen der „Selbstbelastungsfreiheit“ aus Art. 6 EMRK mit jenen des Art. 3 EMRK vermengt674 –, verbleibt auch bei einer „Prüfung anhand dieses Maßstabes“ die Provokation nonverbaler Verhaltensweisen als unbedenklich. Werden im Rahmen von Experiment-Konstellationen nonverbale Verhaltensweisen gezielt „provoziert“, so werden zwar unbewusste und physisch nicht steuerbare Entäußerungen bewirkt, „pathologische Reaktionen“ werden phänomenologisch indes niemals bewirkt.675 Der hoheitliche Provokationsakt ist – in den hier in Rede stehenden Fällen wie etwa der „umgekehrten Rekognition“ (Wissenszugriff) – auf die Hervorrufung „offen hervortretender“ nonverbaler Entäußerungen gerichtet, wie jene „üblicherweise“ in einer interpersonalen Kommunikation aufzutreten pflegen. Selbst wenn die nonverbalen Entäußerungen Rückschlüsse auf pathologische Zustände liefern (Zustandszugriff), so werden die „pathologischen Zustände“ nur im Wege einer Schlussziehung wahrgenommen, nicht aber hoheitlich bewirkt. Somit ergeben sich aus der „Selbstbelastungsfreiheit“, wie sie aus Art. 6 EMRK folgt, – auch nach den Maßstäben des Gerichtshofs – weder für die Durchführung von Experiment-Konstellationen noch im Wege eines argumentum a maiore ad minus für die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen irgendwelche Schranken.676

673 EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3124). Andeutungen dessen lassen sich auch bereits der Entscheidung EGMR, NJW 2002, S. 499 (501) – „J. B./Schweiz“ – entnehmen, wenn jener formuliert: „Das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen, setzt insbesondere voraus, dass die Behörden versuchen müssen, ihre Behauptungen zu beweisen, ohne auf Beweise zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druck gegen den Willen der ,angeklagten Person‘ erlangt sind.“ 674 Vgl. EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3123 f.). Anders indes eine „starke Auffassung“ im Schrifttum „um“ Gaede, in: Münchener-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 321, welcher zwar grundsätzlich auch anhand der „Mitwirkungs-/Duldungs-Dichotomie“ verfährt, indes im Falle einer „prozesssubjektszerstörende[n] [Art. 3 EMRK verletzenden] Gewalt“ dennoch einen Verstoß gegen den „Selbstbezichtigungsaspekt“ in Art. 6 EMRK anzunehmen gedenkt. 675 Dem würde wohl auch Gaede, in: Münchener-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 321 zustimmen. So dürfte in genannten Experiment-Konstellationen wohl kaum eine „prozesssubjektszerstörende Gewalt“ erblickt werden können, müsste die Provokationssituation doch einer „unmenschliche[n] oder erniedrigende[n] Behandlung“ nach Art. 3 EMRK (wie einst die Brechmittelanwendung) zumindest „nahekommen“. 676 Anders könnte dies wiederum zu beurteilen sein, wenn jene Experiment-Konstellationen in (erwähnte) „technische Experimente“ umschlagen. Wobei dies nicht weiter beachtlich ist, da sich hier – wie bereits unter Drittes Kapitel F. III. 1. festgestellt – schon nach nationalem Recht eine Unzulässigkeit ergäbe und somit die Vorschrift des Art. 6 EMRK in ihrer Ausprägung als Fair trial-Grundsatz nicht mehr zum Tragen käme.

224

3. Kap.: Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken

III. Die Schranken-Schranke der „Gesamtfairness“ Zudem erforderte die Annahme eines Verstoß gegen den Fair trial-Grundsatz nach herrschender Auffassung677, dass das (Straf-)Verfahren in seiner Gesamtheit als unfair einzustufen ist. Für die Durchführung von Experiment-Konstellationen, wie sie im Rahmen dieser Abhandlung untersucht wurden, sind derartige Wirkungen jedenfalls nicht ersichtlich, wenngleich damit gewiss nicht jedes staatliche Handeln im Zusammenhang mit Experiment-Konstellationen a priori für unbedenklich erklärt werden soll. Denkbar (unzulässig) wäre es etwa, dem Angeklagten ausdrücklich die Unbeachtlichkeit seiner nonverbalen Reaktionen mitzuteilen und diese dennoch zu verwerten. Im Grundsatze begründen Experiment-Konstellationen – wie etwa die „umgekehrte Rekognition“ oder das Vorlegen von Lichtbildern – aber kein unfaires Vorgehen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Gerade bei Einbeziehung der „Gesamtumstände“ ist festzustellen, dass das Beeinträchtigungsniveau des Angeklagten auch im Falle „erzwungener“ Experiment-Konstellationen sukzessive hinter dem zurückbleibt, was „üblicherweise“ im Rahmen des „Fair trial“ für ohnehin zulässig erachtet wird.

IV. Zusammenfassung Mithin sind auch eingedenk des Fair trial-Grundsatzes weder der „Einsatz“ von Experiment-Konstellationen zur Provokation, sinnlich wahrnehmbarer, nonverbaler Verhaltensweisen noch die Verwertung zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen Schranken unterworfen.678 Es bleibt vielmehr bei den obigen Konstatierungen,679 dass es sich jeweils um von der Strafprozessordnung vorgesehene Zwangswirkungen handelt, welche im Einzelfall zulässige Selbstbelastungen des Angeklagten oder Zeugen zu begründen vermögen.

677

EGMR, NJW 2006, S. 3117 (3122); Gaede, in: Münchener Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 2; Meye, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 10; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 36. 678 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel G. II. 2. und III. 679 Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel B. III. 3. b) cc) und F. III. 1. und 2.

Viertes Kapitel

Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung „Dagegen steht nichts im Wege, das thatsächliche Gebaren eines Menschen vor den Richtern als einen Beweisbehelf anzusehen, der unter Umständen wichtiger und überzeugender sein kann als der Redefluß manches beeidigten Zeugen.“1

Dieses Zitat des Reichsgerichts aus dem Jahre 1900 konstatiert in gewisser Weise sehr treffend, was mittlerweile herrschende Auffassung in Judikatur2 und Schrifttum3 sein dürfte: Das Anerkenntnis, dass nonverbale Verhaltensweisen im Gerichtssaal eine Relevanz für die gerichtliche Entscheidungsfindung de facto aufweisen und – vorbehaltlich gewisser Schranken4 – auch de iure aufweisen dürfen. 1

RGSt 33, S. 403 (404). Eine grundsätzliche Relevanz im Sinne eines Einflusses auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch anerkennend: RGSt 33, S. 403 (404). So auch RGSt 37, S. 212 (213); 39, S. 303 (305) und ebenso BGHSt 5, S. 332 (335 f.); 5, S. 354 (355 f.); 18, S. 51 (54 f.); 45, S. 334 (355, 360 f.); BGH, NJW 1988, S. 1333 (1334); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205 f.). 3 Im Schrifttum ist dies partiell in expressis verbis anerkannt. So etwa von Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337, 342; Schorn, JR 1954, S. 298 (299) sowie Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). Über jene „älteren Quellen“ hinausgehend, wird die Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen für die Beweiswürdigung, jedenfalls betreffend das „Ob“ jener, mittlerweile ebenso – konkludent – anerkannt und zwar insoweit, als potenzielle Verwertbarkeitsschranken diskutiert werden: Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10 f.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196); Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Velten, in: SKStPO, § 261, Rn. 57, 59, 68. Besonders umfassend – auch mit konkreten Beispielen – Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199 und passim. „Zuletzt“ – konkret betreffend „Mimik und Gestik“ – auch Schneider, NStZ 2017, S. 126 (130 f.). Anders ersichtlich nur Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I Grundgesetz, S. 55 ff., 59, welcher generell eine Verwertbarkeit – unbewusster, nicht steuerbarer – nonverbaler Reaktionen ablehnt, sodass auch kein Raum für eine Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigung zurückbleibt. 4 Das wären primär die bereits erörterten Verwertbarkeitsschranken, wobei sich im Schrifttum eben die – verfehlte – Auffassung durchgesetzt hat, dass die Verwertung nonverbaler Reaktionen beim schweigenden Angeklagten mit dem nemo tenetur-Grundsatz kollidiere. Bei Annahme eines Verwertungsverbotes dürften jene nonverbalen Reaktionen keine Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigung entfalten. Sekundär dürften aber auch – wie unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) bb) „angekündigt“ – die Kriterien der „Eindeutigkeit und Erheblichkeit (nonverbaler Reaktionen)“ im Rahmen der Beweiswürdigung eine Rolle spielen und möglicherweise zu einer Art „Schranke“ erwachsen. 2

226

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Nachdem betreffend etwaige Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken lediglich deren „Nichtexistenz“ konstatiert werden konnte,5 drängen sich für die Ebene der Beweiswürdigung zwei Fragestellungen auf. Einerseits erscheint klärungsbedürftig, unter welchen Voraussetzungen nonverbale Entäußerungen im Gerichtssaal überhaupt zum Bestandteil der Entscheidungsgrundlage werden; so ist schon zu erahnen, dass ein „vorwurfsvoller Blick“ der Ehegattin im Zuschauerraum in Richtung des Angeklagten vor dem Inbegriffsverständnis anders zu beurteilen sein dürfte, als ein „spontan abfälliges Lachen“ des Angeklagten während seiner Vernehmung. Andererseits soll sich die Mehrdeutigkeit nonverbaler Entäußerungen zum Problem gerieren, respektive wird dieser Umstand in die freie richterliche Beweiswürdigung „hineinzuwirken“ haben; so vermag ein „überraschter Gesichtsausdruck“ des Angeklagten oder ein „spontanes Erröten“ des Zeugen möglicherweise andere Ursachen haben als das Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin oder die Wahrheitswidrigkeit seiner Aussage und das jeweilige Tatgericht wird dem Rechnung zu tragen haben.

A. Nonverbale Verhaltensweisen als Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung Die Vorschrift des § 261 StPO verpflichtet das Gericht – zugleich als Ausdruck eines Leitgedankens der Strafprozessordnung – über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Die Entscheidungsgrundlage sei also der „Inbegriff der Verhandlung“. Im Geiste des Wortsinnes – welcher schon etwas „Allumfassendes“ vermuten lässt – formuliert das Schrifttum quasi einhellig: „Zum Inbegriff der Verhandlung gehöre das gesamte Vorkommen in der mündlichen Verhandlung vom Aufruf der Sache bis einschließlich des letzten Wortes des Angeklagten.“6

Nachdem die Erkenntnisse des Dritten Kapitels nunmehr keine Erhebungs- oder Verwertbarkeitsschranken hervorzubringen vermochten, wären nonverbale Verhaltensweisen – so sie sich denn in der mündlichen Verhandlung „ereignen“ – prima facie somit auch stets als „Bestandteil des Inbegriffs“, namentlich als solcher der Entscheidungsgrundlage, anzusehen. Ob dem in dieser Pauschalität zugestimmt werden kann, wird einerseits vom Inbegriffsverständnis bedingt sein und sich andererseits vor dem Hintergrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu beurteilen

5

So im Wesentlichen das Ergebnis des Dritten Kapitels. Dieses Zitat findet sich in jeweils leicht abgewandelter Weise etwa bei Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, 261, Rn. 12; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 16; Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 15; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 3; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 5; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 47. 6

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

227

haben: Denn wie verhält es sich etwa, wenn das Gericht zufällig auftretende7 nonverbale Reaktionen im Zuschauerraum verwerten will, die der Verteidigung unbemerkt geblieben sind? Auch wird zu eruieren sein, ob dem Angeklagten Erklärungsrechte zuzugestehen sind, sofern seinen nonverbalen Reaktionen – etwa bei Experiment-Konstellationen – seitens des Gerichts eine Entscheidungsrelevanz beigemessen wird.

I. Ausgangspunkt: Inbegriff der mündlichen Verhandlung Während im ursprünglichen Preußischen Strafverfahren8 – ganz im Geiste des geheimen, schriftlichen Inquisitionsverfahrens – noch der Grundsatz „quod non legitur, non creditur“ vorherrschend war,9 entstanden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Code d’instruction criminelle10 in den deutschen Partikularstaaten verschiedenste „reformierte“ Strafprozessordnungen, welche mehr oder weniger die aufklärerischen Gedanken eines mündlichen, öffentlichen Strafprozesses verwirklichten.11 Den Abschluss fanden diese Bemühungen in den 7

Die Differenzierung zwischen zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen und solchen, die im Wege sogenannter Experiment-Konstellationen final provoziert werden, soll auch im nun folgenden Kapitel fortgeführt werden. Ebenso wird „wieder“ zwischen bei förmlicher Beweiserhebung, am Rande förmlicher Beweisaufnahme und im Zuschauerraum der Hauptverhandlung auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen zu unterscheiden sein. Vgl. diesbezüglich die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. III., IV. und V. 8 Das Preußische Strafverfahren sei hier stellvertretend für die Strafrechtspraxis in anderen deutschen Partikularstaaten der damaligen Zeit, also vor Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1877, genannt. 9 Sowohl die Preußische Criminalordnung von 1717 als auch jene aus dem Jahre 1804 beruhen noch auf dem Grundgedanken des gemeinen schriftlichen Inquisitionsverfahrens, wonach eine Entscheidung ausschließlich nach Lage der Akten zu fassen war. Vgl. hierzu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 269, 271 f. 10 Der französische Einfluss auf die Reformgesetze ist offensichtlich: So galt das französische Recht und damit auch der Code d’instruction criminelle nach den Befreiungskriegen unter anderem in den Preußischen Rheinlanden fort. Vgl. hierzu Rüping, GA 1992, S. 147 f.; Schmidt, Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung, S. 47; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, S. 281. 11 Exemplarisch sei zunächst die Strafprozeßordnung für das Königreich Württemberg aus dem Jahre 1843 genannt, welche in Fällen einiger Schwere ein sogenanntes mündliches Schlussverfahren vorsah. Von größerer Bedeutung war ferner die Strafprozeßordnung für das Großherzogtum Baden aus dem Jahre 1845, welche zur Rekonstruktion des Aktenmaterials im Rahmen einer mündlichen Verhandlung verpflichtete sowie das Preußische Gesetz über den Strafprozeß aus dem Jahre 1846, welches den erkennenden Richter bereits anwies, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Zuletzt sei noch das Bayrische Gesetz aus dem Jahre 1848 genannt, welches ebenso die Ideen einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung verwirklichte. Vgl. hierzu Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, S. 280 ff. sowie Rüping/ Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 86 ff. und ferner auch Mittermaier, Die Mündlichkeit, S. 126 ff. und passim.

228

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Reichsjustizgesetzen vom 1. Februar 1877. So wurde mit der Reichsstrafprozessordnung12 – exemplarisch § 260 RStPO – für das gesamte Deutsche Reich ein Strafverfahren etabliert, welches den Grundsätzen eines mündlichen und öffentlichen Verfahrens verpflichtet war.13 Nach der nahezu wortgleichen Vorschrift des § 261 StPO heißt es noch heute: Das Gericht habe über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Der Begriff des „Inbegriffs“ – namentlich der Wortsinn – indiziert, dass die Verhandlung selbst die absolute Verkörperung dessen sei, was Grundlage der Überzeugungsbildung sein soll. Relevanz für die Urteilsfindung hat demnach nur, was zum Bestandteil dieser Verhandlung wurde.14 Die Vorschrift begründet also eine Beschränkung der Grundlage der Entscheidungsfindung auf eine bestimmte Erkenntnisquelle, respektive die Hauptverhandlung selbst.15 Dieses Verständnis im Sinne einer Beschränkungsfunktion steht jedenfalls im Gleichlauf mit der Konzeption des historischen Gesetzgebers, welcher die mündliche Verhandlung als Gegenstück zum überkommenden Aktenprozess des Inquisitionsverfahrens verstanden haben wollte. Nur folgerichtig ist es also, die Hauptverhandlung als die einzig maßgebliche Erkenntnisquelle anzusehen.16 1. Der Inbegriff als Ausdruck systemleitender Prozessgrundsätze Das Primat des Inbegriffs der Verhandlung als Erkenntnisquelle der Entscheidungsfindung verwirklicht einerseits die Idee eines mündlichen Verfahrens, ande12

Reichsstrafprozessordnung vom 1. Februar 1877, RGBl. S. 253. Im ersten Entwurf der Reichsstrafprozessordnung hieß es in § 220 RStPO (später dann als § 260 RStPO verabschiedet und in Kraft getreten): „Ueber das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Hauptverhandlung geschöpften Ueberzeugung“. Der Grundsatz eines mündlichen Verfahrens und darauf gestützter freier richterlicher Beweiswürdigung war um 1877 schon derart vorherrschend und für den Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung daher derart selbst verständlich, dass es in den Motiven § 220 RStPO nur noch heißt: „Der Grundsatz der freien Beweißwuerdigung bedarf gegenwaertig nicht mehr der Rechtfertigung; er liegt allen in neuerer Zeit ergangenen deutschen Strafprozeßordnungen zu Grunde“. Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Band 36: 1874/75, S. 113, 187. 14 Der Begriff des „Inbegriffs“ wird also als eine Verkörperung von „Etwas“ verstanden beziehungsweise erfasst die Bestandteile von „Etwas“ (hier der Verhandlung). Vgl. hierzu Deutsches Rechtswörterbuch, zu: „Inbegriff“, S. 208. 15 Ausdrücklich von einer derartigen Beschränkungsfunktion sprechend auch: Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 3; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 1, 3; Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 26. Letztere bezeichnet dies überzeugend als „normative Beschränkung des Gegenstandes der Beweiswürdigung“. 16 Dies ist zwar weder den Gesetzgebungsmaterialien zur Reichsstrafprozessordnung noch jenen zur Strafprozessordnung zu entnehmen, indes folgt dies aus der Betrachtung der Genese der Reichsstrafprozessordnung als abschließendes Gesamtwerk, welches die aufklärerischen Ideen jener Zeit in sich vereinigte. 13

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

229

rerseits bewirkt dieses die Absicherung und Ausgestaltung weiterer, den heutigen Strafprozess prägender, auch in der Verfassung verorteter Prinzipien17 – was im Folgenden kursorisch betrachtet sei. Dass sich die Vorschrift des § 261 StPO mit ihrer Formulierung „Verhandlung“ auf eine mündlich ausgestaltete Hauptverhandlung bezieht, ist offensichtlich und ergibt sich bereits aus dem historischen Kontext der Norm sowie der Systematik der Strafprozessordnung selbst.18 Im Rahmen der Entscheidungsfindung darf und muss also nur berücksichtigt werden, was sich innerhalb dieser mündlichen Verhandlung ereignet hat, respektive dort vorgetragen und erörtert wurde.19 Strukturell nahe steht dem der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, welcher in formeller Hinsicht ein Selbstwahrnehmungsgebot und in materieller Hinsicht ein Beweissurrogationsverbot statuiert:20 Das erkennende Gericht wird damit einerseits verpflichtet, die Beweisaufnahme selbst durchzuführen und andererseits – sofern möglich – die Tatsachen aus der unmittelbarsten Erkenntnisquelle zu schöpfen, also das dem Ursprung der zu beweisenden Tatsache am nächsten stehende Beweismittel zu nutzen (das sogenannte unmittelbarste Beweismittel).21 Die Durchführung der Hauptverhandlung ist quasi die Realisierung jenes Gebotes der Selbstwahrnehmung, während es für die Garantie des Ausbleibens jener unerwünschten Beweissurrogation weiterer prozessualer Vorschriften bedurfte.22 Eine ähnliche Funktion ist der Vorschrift des § 261 StPO in Bezug zur Öffentlichkeitsmaxime zuzusprechen. Diese – verfassungsrechtlich fundiert und in § 169 GVG einfachgesetzlich realisiert23 – bezweckt bei normativer Betrachtung 17 Diese Differenzierung zwischen Verwirklichung einerseits und Absicherungsfunktion andererseits erscheint aus systematischen Gründen gerechtfertigt. So steht die Vorschrift des § 261 StPO in einem schlicht direkterem Verhältnis zur Idee eines mündlichen und unmittelbaren Verfahrens und entfaltet betreffend weiterer Prozessgrundsätze nur eine (unverzichtbare) unterstützende Funktion. 18 Vgl. §§ 226, 231, 243, 249, 257, 258 StPO und ferner zu diesem Verständnis statt vieler Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46, Rn. 1. 19 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46, Rn. 1. Im Besonderen wird die folgende Bearbeitung zeigen, dass das bloße „Sich-Ereignen“ in der mündlichen Verhandlung nicht stets genügt, sondern auch kumulativ eine Erörterung erforderlich werden kann. 20 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46, Rn. 3 f. 21 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46, Rn. 3 f. 22 Insoweit ist der Ursprung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nur partiell in § 261 StPO zu sehen und zwar nur hinsichtlich jenes formellen Gebotes, das materielle Verbot der Beweissurrogation ist exemplarisch durch § 250 StPO realisiert. Eine Beweissurrogation ist aber nicht generell untersagt, so kann etwa die Durchführung des Augenscheinsbeweises durch Erhebungen in Gestalt anderer Beweisinstitute durchaus surrogiert werden. 23 Die Öffentlichkeitsmaxime ist demokratisches und rechtsstaatliches Gebot: Die Ausübung von Staatsgewalt bedarf Legitimation, sie muss dem Urteil der Wähler zugänglich sein; insoweit realisiert die Öffentlichkeitsmaxime die Rückbindung der Staatsgewalt an die Wahlentscheidung, ist insoweit also demokratisches Gebot. Die Ausübung von in Grundrechte eingreifender Staatsgewalt muss wirksamer, also staatsexterner Kontrolle unterliegen; für den Angeklagten realisiert sich diese Kontrolle gerade durch die Öffentlichkeit der Verhandlung,

230

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

primär die Kontrolle der Strafjustiz im Interesse des Angeklagten einerseits und im öffentlichen Interesse andererseits.24 Die mündliche Verhandlung selbst ist gerade der Ort jener öffentlichen Kontrolle; wenngleich der bloße Umstand der Durchführung eines öffentlichen Verfahrens noch nicht geeignet ist, die faktische Kontrollierbarkeit herbeizuführen. Erst die durch § 261 StPO erreichte Beschränkung der Entscheidungsfindung auf den Inhalt der mündlichen Verhandlung verhindert die Auslagerung entscheidungsrelevanter Umstände und damit den Entzug dieser Umstände aus der öffentlichen Kontrolle. Mithin wird also jene Kontrollfunktion unmittelbar besichert. Ferner wird der kontradiktorische Charakter des Strafprozesses durch die Vorschrift des § 261 StPO realisiert. Die Struktur der gesamten Hauptverhandlung basiert auf der Idee, dass die richterliche Meinungsbildung aufgrund der kontradiktorischen Erörterung der jeweiligen Beweisergebnisse zu erfolgen habe, so wird ein direkter und unverfälschter Eindruck auf die jeweiligen Beweise erreicht. Gerade besteht auch die Möglichkeit, einen Blick auf Spontanreaktionen und Verhaltensweisen der Verfahrensbeteiligten „zu erhaschen“.25 Wenn nun § 261 StPO die Entscheidungsfindung auf den Inhalt der mündlichen Verhandlung begrenzt, wo sich räumlich die kontradiktorische Erörterung abspielt, wird sichergestellt, dass nur und gerade Grundlage der Überzeugungsbildung wird, was grundsätzlich auf die gewünschte Art und Weise festgestellt wurde, die Kontradiktorietät also abgesichert.26 Im Verhältnis zum rechtlichen Gehör ist Ähnliches angezeigt. Das in Art. 103 Abs. 1 GG kodifizierte Recht auf rechtliches Gehör enthält – in seiner Dimension als subjektiv-öffentliches Recht27 – Schutzgewährleistungen in drei wesentlichen Ausprägungen: Ein Informationsrecht der Verfahrensbeteiligten gegenüber dem Gericht betreffend aller entscheidungsrelevanten Umstände, ein Äußerungsrecht bezogen auf jene entscheidungsrelevanten Umstände sowie, damit korrespondie-

insoweit ist die Öffentlichkeitsmaxime rechtsstaatliches Gebot. Vgl. hierzu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 47, Rn. 1; Velten, in: SK-StPO, Vor § 169 GVG, Rn. 8 f., 11; Wickern, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 169 GVG, Rn. 3. 24 Bezüglich der Kontrollfunktion als Primärzweck vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 169 GVG, Rn. 17; Wickern, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 169 GVG, Rn. 3. Demgegenüber begreift Lesch, StraFo 2014, S. 354 f. den Primärzweck in einer Art Rechtfertigung der Entscheidung vor der Öffentlichkeit. Als weitere Zwecke werden die Informationsfunktion der Verfahrensöffentlichkeit sowie die Gewährleistung des Sicherheitsgefühls der Bürger genannt. Vgl. hierzu Wickern, in: Löwe/Rosenberg-StPO, Vor § 169 GVG, Rn. 4 f. 25 In diese Richtung bereits BGHSt 3, S. 384 (385). Vgl. zum kontradiktorischen Charakter der Hauptverhandlung Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 15. 26 Vgl. Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 15; Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 26. 27 Dogmatisch ist Art. 103 Abs. 1 GG einerseits subjektiv-öffentliches Recht und insoweit Ausdruck der Menschenwürde, andererseits objektiv-rechtliches Prinzip und insoweit Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Vgl. BVerfGE 9, S. 89 (95); 39, S. 156 (168); 55, S. 1 (6); 70, S. 180 (188); 107, S. 395 (409); Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 103 Abs. 1, Rn. 13 f.

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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rend, eine Kenntnisnahme- und Berücksichtigungspflicht des Gerichts.28 Dem Betroffenen steht damit das Recht zu, sich zu allen entscheidungsrelevanten Tat- und Rechtsfragen zu informieren und ferner sich diesbezüglich zu äußern. Das Gericht hat die Pflicht, jene Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen und ferner bei der Entscheidungsfindung in gebotenem Maße zu berücksichtigen. So ist gewährleistet, dass der Betroffene im Rahmen einer seine subjektiven Rechte betreffenden Entscheidung Einfluss auf das Verfahren und das jeweilige Ergebnis zu nehmen vermag und nicht als bloßes Objekt richterlicher Entscheidungsfindung verkommt.29 Zu Ende gedacht darf also bereits qua Verfassung nur das Gegenstand der Entscheidungsfindung sein, bezüglich dessen die Verfahrensbeteiligten de facto auch Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.30 Bei den Schutzgewährleistungen des Art. 103 Abs. 1 GG handelt es sich um solche normgeprägter Natur, welche die Eigenart aufweisen, einen Ausgestaltungsauftrag an den Gesetzgeber zu enthalten: Der Gesetzgeber hat also Regelungen zu erlassen, die geeignet sind, die Zielsetzungen des Art. 103 Abs. 1 GG wirksam zu realisieren;31 was mit Schaffung der jeweiligen Prozessordnungen auch geschehen ist.32 Wenn nun die Vorschrift des § 261 StPO die Grundlage der Entscheidungsfindung des Gerichts auf die mündliche Verhandlung begrenzt, so werden die Schutzgewährleistungen des Art. 103 Abs. 1 GG zumindest dahingehend realisiert, als den Verfahrensbeteiligten ein Forum für jene zu gewährleistende Information und Stellungnahme geboten wird,33 was freilich nicht bedeuten soll, dass im Rahmen der mündlichen Verhandlung das Recht auf rechtliches Gehör stets ausreichend gewährleistet ist. Nur ist eben für Art. 103 Abs. 1 GG ein Ausübungsrahmen in besonderem Maße geschaffen: Die mündliche Verhandlung geriert sich damit als Bühne rechtlichen Gehörs und verwirklicht insoweit das Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 1 GG.34

28

BVerfGE 7, S. 53 (57); 98, S. 218 (263); 107, S. 395 (409); Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck-GG, Art. 103, Rn. 28 f., 36, 52; Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 103 I, Rn. 20; Windthorst, in: Studienkommentar-GG, Art. 103, Rn. 8. 29 Vgl. hierzu BVerfGE 9, S. 89 (95); 39, S. 156 (168); 107, S. 395 (409). Die Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GG zeigt sich hier besonders deutlich. 30 Zu dieser Schlussfolgerung BVerfGE 70, S. 180 (189); 89, S. 381 (392); 101, S. 106 (129) sowie Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103, Rn. 39; Windthorst, in: Studienkommentar-GG, Art. 103, Rn. 8. 31 BVerfGE 9, S. 89 (95 f.); 89, S. 28 (35); 119, S. 292 (296); Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck-GG, Art. 103, Rn. 8; Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 103, Rn. 27; Windthorst, in: Studienkommentar-GG, Art. 103, Rn. 4. 32 Oder bezüglich der vorkonstitutionellen Strafprozessordnung schon geschehen war. 33 In diese Richtung argumentierend auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 44, Rn. 1. 34 Im Ergebnis so auch: Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 3.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

2. Die Vorschrift des § 261 StPO – partiell auch eine Regelung der Beweiserhebung Mit der Realisierung und Ausgestaltung wesentlicher Prozessmaximen seitens der Vorschrift des § 261 StPO,35 erscheint es gerechtfertigt, in dieser nicht lediglich eine Regelung der Beweiswürdigung zu erblicken, vielmehr sind jener erhebliche Vorwirkungen auf die Beweiserhebung immanent.36 Beabsichtigt ein erkennendes Gericht, bestimmte Tatsachen im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, so ist dies de iure nur möglich, sofern jene dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zugehörig sind; was keine faktische, sondern eine normativ-rechtliche Frage ist. Insoweit lässt sich in § 261 StPO ein Stufenverhältnis erblicken: Einerseits, was gehört zum Inbegriff der Verhandlung, andererseits, wie darf dies vom Gericht gewürdigt werden. Sofern auf der ersten Stufe zu beurteilen ist, was zum Inbegriff der Verhandlung gehört, ist dies bei systematischer (Stufen-)Betrachtung eine Frage der Beweiserhebung. 3. Zur Reichweitenbestimmung des Inbegriffsgebots Die Vorschrift des § 261 StPO beschränkt die Entscheidungsgrundlage auf den Inbegriff der Hauptverhandlung.37 Der ratio des § 261 StPO folgend,38 hat das Gericht aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Dieses Inbegriffsgebot39 begründet eine Filterfunktion und untersagt es dem Gericht, Wissen der Urteilsfindung zugrunde zu legen, welches nicht „durch“ und „in“ der mündlichen Verhandlung gewonnen wurde.40 Sämtliches – Haupttatsachen und Indizien – muss prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt werden, also in der mündlichen Verhandlung vorkommen und darüber hinaus auch verwertbar41 sein. Der Inbegriff erfasst „alles“, was vom Aufruf zur Sache (§ 243 Abs. 1 StPO) bis einschließlich des letzten Wortes des Angeklagten (§ 258 Abs. 3 StPO) in der mündlichen Verhandlung vorgekommen ist,42 wobei jenes „Vorkommen“ (normativ35

Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 46 und dies., in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 26. Vgl. ferner auch Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 3. 36 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 46. 37 Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 26. 38 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. 1. 39 Vgl. zu diesem Begriff ausdrücklich Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 48 ff., 56. 40 Vgl. BGHSt 19, S. 193 (195 f.). 41 Erhebungs- und Verwertbarkeitsschranken sind betreffend nonverbale Verhaltensweisen nicht ersichtlich, sodass diesem „Punkt“ keine weitere Relevanz zukommt. Vgl. die Erkenntnisse des Dritten Kapitels. 42 Vgl. BGH, StraFo 2010, S. 71; Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 15; Schmidt, Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung, S. 75. Nicht mehr erfasst sind gezeigte nonverbale Verhaltensweisen etwa während der Urteilsbegründung.

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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rechtliche Frage!) stets unter den Topoi der Prozessordnungsgemäßheit und der Prozessmaximen absichernden Funktion der Vorschrift des § 261 StPO auszulegen ist.43 Im Grundsatze erfasst der Inbegriff das Gesamtgeschehen innerhalb des genannten temporär-räumlichen Rahmens, sodass sämtliche Vorgänge der mündlichen Verhandlung zum Bestandteil der Entscheidungsgrundlage werden;44 was vor dem Hintergrund der konzeptionellen Idee einer mündlichen Verhandlung, als originäre und unmittelbare Entscheidungsgrundlage, eine nur logische Konsequenz ist.

II. Die Inbegriffszugehörigkeit nonverbaler Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung Vor diesem Hintergrund erscheint es richtig, dass Judikatur45 und Schrifttum46 betreffend nonverbale Verhaltensweisen – respektive Mimik und Gestik – im Grundsatze eine Zugehörigkeit zum Inbegriff annehmen. Ereignen sich bei anwesenden Personen in der Hauptverhandlung nonverbale Reaktionen, begründet dies zwar noch kein pauschaliertes Zugehörigkeitspostulat, wohl aber eine starke Indizwirkung. Soll dem Gericht ein möglichst originärer und unverfälschter Gesamteindruck zur Verfügung stehen, so wäre etwa ein „Verlegenheit offenbarendes Erröten“ des Zeugen geradezu paradigmisch.

43 Vgl. zu diesem absichernden Charakter des § 261 StPO die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. 1. 44 Vgl. BVerfG, DAR 1992, S. 253; BGHSt 11, S. 74 (76 f.); BGH, NStZ 1998, S. 212; BGH, StraFo 2010, S. 71; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 10; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 39; Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 15. 45 Als „Vorfrage“ quasi sämtlich vorausgesetzt, wenn schon eine Relevanz im Rahmen der Beweiswürdigung angenommen wird (Relevanz für die Beweiswürdigung kann nur haben, was zum Inbegriff gehört): RGSt 33, S. 403 (404); RGSt 37, S. 212 (213); 39, S. 303 (305); BGHSt 5, S. 332 (335 f.); 5, S. 354 (355 f.); 18, S. 51 (54 f.); 45, S. 334 (355, 360 f.); BGH, NJW 1988, S. 1333 (1334); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205 f.). 46 Ausdrücklich die grundsätzliche Zugehörigkeit nonverbaler Reaktionen (Verhaltensweisen) – teilweise wörtlich: „Mimik und Gestik“ – zum Inbegriff bejahend: Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 10; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 40; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 7; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57 f., 68. Ferner auch Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5. Die Zugehörigkeit letztlich konkludent annehmend: Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10 f.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196); Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (669); Prittwitz, MDR 1982, S. 886 (893); Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 175; Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16; Seibert, NJW 1965, S. 1706 [Fn. 4]; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

1. Nonverbale Verhaltensweisen bei förmlicher Beweiserhebung Die Zugehörigkeit zum Inbegriff ist jedenfalls insoweit unproblematisch, als die in Rede stehende nonverbale Verhaltensweise – etwa ein „abfälliges Lachen“ des Angeklagten – im Wege förmlicher Beweisaufnahme – also bei dieser – „erhoben“ und somit ihre Einbeziehung vollzogen wurde. So indiziert die ordnungsgemäße förmliche Beweisaufnahme einer Haupttatsache oder eines Indizes stets besagtes „Vorkommen“ in der mündlichen Verhandlung, bewirkt also eo ipso die Inbegriffszugehörigkeit.47 a) Zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen Für die Konstellation eines zufälligen Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen bei der förmlichen Beweisaufnahme, wurde festgestellt, dass jene damit – als „unaufgesuchte Wahrnehmungen“ – originärer Bestandteil des Beweiserhebungsvorganges selbst sind.48 So ist etwa betreffend das „spontane Erröten“ eines Zeugen während seiner Vernehmung oder einer „abfälligen Geste“ des Angeklagten während seiner Vernehmung eine Inbegriffszugehörigkeit ohne Weiteres gegeben, und jene nonverbalen Verhaltensweisen sind damit auch Bestandteil der Entscheidungsgrundlage. Eines gesonderten gerichtlichen Hinweises, dass jene nonverbalen Verhaltensweisen im Urteil Berücksichtigung finden könnten, bedarf es „hierfür“ nicht. Sowohl für den Zeugen als auch für den Angeklagten ist im Sinne einer Parallelwertung in der Laiensphäre ersichtlich, dass seine verbalen Antworten – während der Vernehmung (also bei förmlicher Beweiserhebung) – das Gericht in der Urteilsfindung zu beeinflussen geeignet sein könnten. Der Betroffene findet sich in einer üblichen Situation interpersonaler Vis à vis-Kommunikation wieder und sieht sich zudem im Fokus der Betrachtung. Für nonverbale „Antworten“ – seien sie auch partiell unbewusst oder physisch nicht steuerbar – ist von derselben Ersichtlichkeit auszugehen. Auch dem juristischen Laien ist bewusst, oder muss zumindest bewusst sein, dass sein Verhalten – etwa ein „unbeabsichtigter Versprecher“ oder die „Art des Auftretens“ – für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch bedeutsam sein könnte und das inkludiert freilich auch dessen nonverbales Verhalten. Gerade der Anspruch auf rechtliches Gehör ist mithin hinreichend gewährleistet; so könnte etwa der Angeklagte durchaus seinen spontanen „gestischen Ausfall“ durch eine kurze Erklärung „richtig stellen“.

47 Dies ist nur logisch: So sind bei ordnungsgemäßer Erhebung im Wege der förmlichen Beweisinstitute stets auch die Grundsätze der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, Kontradiktorietät eingehalten und das Recht auf rechtliches Gehör gewahrt. Es gilt also: Was strengbeweislich erhoben ist, ist auch Bestandteil des Inbegriffs der mündlichen Verhandlung. 48 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. III.

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b) Nonverbale Verhaltensweisen in Experiment-Konstellationen „Vielschichtiger“ ist die Frage der Zugehörigkeit nonverbaler Verhaltensweisen, welche in Experiment-Konstellationen gezielt provoziert wurden; hier sei etwa an den Beispielsfall „umgekehrter Rekognition“ erinnert. Für jene Konstellation wurde zwar – als „aufgesuchte Wahrnehmung“ – festgestellt, dass stets ein Bedürfnis förmlicher Beweisaufnahme besteht oder (mit anderen Worten) der Provokationsund Wahrnehmungsvorgang jener nonverbalen Verhaltensweisen – etwa des „überraschten Gesichtsausdrucks“ beim Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin – eben in Gestalt förmlicher Beweisaufnahme stattzufinden habe.49 Entsprechend obiger Diktion indizierte dies „wiederum“ die Inbegriffszugehörigkeit, denn was förmlich erhoben wurde, ist eo ipso Bestandteil der Entscheidungsgrundlage. Nur sind hiermit die Kriterien der Zuweisungsentscheidung noch nicht hinreichend berücksichtigt, denn das erkennende Gericht hat die Experiment-Konstellation nicht nur in Gestalt eines, sondern in Gestalt des richtigen Beweisinstituts zu bewirken,50 sodass es bei einem Wissenszugriff – wie bei der „umgekehrten Rekognition“ – etwa einer Erhebung in Gestalt der Zeugen- oder Angeklagtenvernehmung bedürfte.51 Findet die Experiment-Konstellation prozessual ohne (also außerhalb) förmliche(r) Beweisaufnahme statt, so ist die Beweiserhebung nicht ordnungsgemäß – respektive unter Verstoß gegen die Grundsätze des formalisierten Beweisverfahrens – durchgeführt worden. Die provozierten und sodann wahrgenommenen nonverbalen Verhaltensweisen – etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ – wären dann folglich nicht Bestandteil der Entscheidungsgrundlage geworden. Hier „schlägt“ der normativ-rechtliche Charakter des Inbegriffsverständnisses das faktische „Vorkommen“ in der mündlichen Verhandlung. Ebenso verhält es sich, wenn das Gericht die Experiment-Konstellation (zwar im Wege förmlicher Beweisaufnahme) indes in Gestalt des falschen Beweisinstituts vollzieht; also etwa den provozierten „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten (Wissenszugriff) im Wege des Augenscheinsbeweises „erhebt“. Solche nonverbalen Verhaltensweisen sind zwar bei temporär-räumlicher Betrachtung in der mündlichen Verhandlung „vorgekommen“ und haben sich dem Gericht zur unmittelbaren Wahrnehmung geboten. Dennoch setzt sich auch hier der Topos der „Prozessordnungsgemäßheit“ (normativ-rechtlicher Charakter) durch,52 da ansonsten bei struktureller Betrachtung eine vollständige Aufgabe jenes Vorranges förmlicher Beweisaufnahme drohte. Es käme auch niemand auf die Idee, eine förmlich „in 49

Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. I. 2. 51 Freilich davon abhängig, ob auf das Wissen des Angeklagten oder auf das Wissen einer dritten Person zugegriffen werden soll. 52 Letztlich beruht dies auf Wechselwirkungen zwischen dem was nach § 244 StPO eines förmlichen Beweises bedarf (und in welcher Gestalt dieser Beweis zu führen ist) und dem was nach § 261 StPO dem Inbegriff zugehörig ist und daher zum Bestandteil der Entscheidungsgrundlage wird. 50

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Augenschein genommene“ (verbale) Zeugenaussage als Bestandteil der Entscheidungsgrundlage anzusehen, was bei rechtsfolgenorientierter Betrachtung aber keinen Unterschied machte. Werden Experiment-Konstellationen – der Zuweisungsentscheidung zuwider („Lehre vom Zugriffsgegenstand“) – in Gestalt des falschen Beweisinstituts erhoben, sind diese also a priori schon nicht Bestandteil der Entscheidungsgrundlage.53 Das Gericht dürfte jene nonverbalen Verhaltensweisen in diesem Falle folglich nicht verwerten,54 denn die Beweiswürdigung hat sich eben nur auf das zu erstrecken, was Bestandteil der Entscheidungsgrundlage geworden ist. 2. Nonverbale Verhaltensweisen am Rande förmlicher Beweisaufnahme Noch nicht geklärt – und auch im Schrifttum55 ersichtlich nur en passant erwähnt – ist die Inbegriffszugehörigkeit nonverbaler Verhaltensweisen, so sich jene denn am Rande der förmlichen Beweisaufnahme ereignen. Erfasst sind etwa ein „Erröten“ des Angeklagten während der Sachverständigenvernehmung, die Befragung einer (Opfer-)Zeugin durch den Angeklagten, bei welcher Letzterer ein „hämisches Grinsen“ zeigt, oder ein „spontanes Erbleichen“ des Zeugen, welcher nach seiner Vernehmung wieder seinen Platz als Nebenkläger eingenommen hatte. De iure sind hier jedenfalls nur zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen zu thematisieren, da Experiment-Konstellationen ohnehin in Gestalt förmlicher Beweiserhebung zu erfolgen haben. a) Ausgangslage: „Fokus-Problematik“ Sofern nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme auftreten, bietet sich dem Gericht einerseits ein unmittelbarer Eindruck des Geschehens, andererseits ist damit nicht gewährleistet, dass auch den anderen Verfahrensbeteiligten, respektive dem Angeklagten, jener unmittelbare Eindruck „zur Verfügung steht“, namentlich jene die nonverbalen Reaktionen – etwa das „spontane 53

Als anderer Ansatz wäre denkbar, in derartigen Fällen zwar die Zugehörigkeit zum Inbegriff anzunehmen, sodann aber ein unselbstständiges Beweisverwertungsverbot, resultierend aus der eben fehlerhaften Beweiserhebung zu „konstruieren“. Aufgrund der „Filterfunktion“ des Inbegriffsgebotes erscheint eine Verortung an dieser Stelle indes dogmatisch überzeugender. 54 Die Rüge, dass das Tatgericht im Rahmen der Urteilsfindung Tatsachen verwendet hat, welche nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind, kann mit der Inbegriffsrüge als Verfahrensrüge geltend gemacht werden. Vgl. hierzu BGH, NStZ 2010, S. 409 sowie Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 48. 55 Diese Konstellation – am Rande – präzise abgrenzend zu der Konstellation – im Zuschauerraum – wohl einzig Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57: „Als problematischer Bereich bleibt also der Rückgriff auf das Verhalten und die Äußerungen von Zeugen und Prozessbeteiligten außerhalb der formellen Beweisaufnahme, aber innerhalb der Hauptverhandlung.“ Ferner auch Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5, wobei unklar bleibt, ob tatsächlich die vorliegende Konstellation gemeint ist.

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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Erröten“ – überhaupt bemerkt haben; was ein Problem betreffend die Kontradiktorietät und den Anspruch auf rechtliches Gehör zu begründen vermag. Ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen bei förmlicher Beweiserhebung, so ist schon aufgrund der prozessualen Förmlichkeiten – Strengbeweis – gewährleistet, dass der Fokus der Verfahrensbeteiligten auf die jeweils „durchgeführte“ Beweiserhebung gerichtet ist:56 Das „spontane Erröten“ des Zeugen oder der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten bei ihrer förmlichen Vernehmung werden schon vermöge des Fokus’ auf jenes förmliche Geschehen von den übrigen Beteiligten regelmäßig wahrgenommen werden (oder die Wahrnehmung dessen zumindest weit wahrscheinlicher).57 Im Besonderen könnte der Angeklagte aufgrund der förmlichen Beweiserhebung seine Rechte nach § 240 Abs. 2 Satz 1 StPO und § 257 Abs. 1 StPO geltend machen; und so etwa eine Erklärung zu dem „verdächtigen Stottern“ des (Belastungs-)Zeugen abgeben. Insoweit sind die kontradiktorische Erörterung der jeweiligen Beweisergebnisse und der Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklagten hinreichend gewährleistet. b) Rechtsverkürzung durch unmittelbare Wahrnehmungsmöglichkeiten Gänzlich anders verhält es sich bei nonverbalen Verhaltensweisen am Rande förmlicher Beweisaufnahme. Hier besteht schlicht eine weit höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese – mangels Fokus der Verfahrensbeteiligten – für jene unbemerkt verbleiben; was – sowohl betreffend „eigene“ nonverbale Entäußerungen als auch betreffend jene von Dritten – mit den Maximen der Kontradiktorietät und des rechtlichen Gehörs konfligiert. Besonders bedenklich erscheint es, wenn sich beim Angeklagten nonverbale Verhaltensweisen am Rande (außerhalb seiner förmlichen Vernehmung) ereignen und jene (nur) vom Gericht bemerkt werden; so sei exemplarisch „wieder einmal“ der zufällig auftretende „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten genannt, wenn die (Raubopfer-)Zeugin den Gerichtssaal betritt.58 Partiell wird der Angeklagte schon betreffend den Umstand des „Sich-Ereignens“ jener (eigenen) nonverbalen Reaktionen im Unklaren verbleiben. So ist etwa denkbar, dass dem Angeklagten sein „überraschter mimischer Ausdruck“ (als ohnehin wohl unbewusste Reaktion) überhaupt nicht aufgefallen ist. Umso mehr gilt dies für ein etwaiges „verdächtiges Erröten“ des Angeklagten oder einen spontanen mimischen Ausfall im Sinne eines „Sichertapptfühlens“, wenn der Zeuge gerade „das Alibi platzen ließ“.59 Auch dürfte sich die – noch erörterungsbedürftige – Ei56 Oder zumindest gerichtet sein sollte. Wenn der Angeklagte „seinen Fokus“ nicht auf die (gerade „laufende“) Vernehmung des (Belastungs-)Zeugen richtet, ist das insoweit unschädlich. 57 Oder anders formuliert: Wird der Fokus nicht auf die jeweils stattfindende Beweiserhebung gerichtet, ist das einzig das Problem der jeweiligen Prozessbeteiligten, für welche die (nonverbale) Verhaltensweise unbemerkt bleibt. 58 Dies muss nicht zwangsläufig im Rahmen einer Experiment-Konstellation geschehen. 59 Dies sind nur einige ausgewählte (denkbare) Beispiele zufällig auftretender nonverbaler Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme. Bei Experiment-Konstellationen

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

genart der strukturellen Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen zum Problem gerieren, denn es wird nicht immer ein „ganz herrschender“ Konsens betreffend die Bedeutung einer bestimmten nonverbalen Reaktion bestehen. Dem Angeklagten ist aber schon a priori die Möglichkeit der „Richtigstellung“ verwehrt, hat jener nämlich keine Kenntnis betreffend die Entäußerung, so kann er etwa sein „Erröten“ auch nicht erklären. Dieses Informationsdefizit60 ist das Problem. So besteht nämlich die Gefahr, dass Indizien – mit einer nicht unerheblichen Bedeutung für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch61 – verwertet werden, ohne dass dem Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt ist, zu jenen „Stellung zu nehmen“. Im Ergebnis wird regelmäßig keine einheitliche Kenntnis der Verfahrensbeteiligten über die in Rede stehenden „Informationen“ – nonverbale Verhaltensweisen – bestehen; und zwar entweder aufgrund partiell fehlender Wahrnehmung oder indifferenter Deutung.62 Dieses Informationsdefizit beeinträchtigt einerseits die Kontradiktorietät des Verfahrens. Andererseits wird die materielle Ausübungsgrundlage des Rechts auf rechtliches Gehör der Prozessbeteiligten, respektive des Angeklagten, signifikant verkürzt, denn ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen zur Wahrnehmung des Gerichts, ohne, dass den Prozessbeteiligten dies zur Kenntnis gebracht wäre, so wären diese – respektive der Angeklagte – nicht in der Lage, sich diesbezüglich Gehör zu verschaffen, sei es in der Kommentierung oder Erklärung jener Verhaltensweisen.63 besteht diese „Unklarheit“ in einem weit niedrigeren Maße, denn jene dürfen ohnehin nur bei förmlicher Beweiserhebung „stattfinden“ und dann ist (sollte) auch der Fokus der Verfahrensbeteiligten auf die gerade stattfindende förmliche Beweiserhebung gerichtet (sein). „Errötet“ der Angeklagte bei seiner Vernehmung, besteht zwar auch die Möglichkeit, dass jenem der Umstand des „Errötens“ nicht auffällt, dabei handelt es sich dann aber um ein typisches Phänomen interpersonaler Vis à vis-Kommunikation und der Angeklagte weiß in jener Situation, dass er im Fokus des Geschehens steht und sein gesamtes Verhalten von Bedeutung sein kann. 60 Vgl. hierzu „erneut“ BVerfGE 89, S. 28 (35). Die Vorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass den Verfahrensbeteiligten, und besonders dem Angeklagten, die Möglichkeit eingeräumt ist, sich über die entscheidungsrelevanten Tatsachen und Indizien Kenntnis zu verschaffen. 61 Dass jenen nonverbalen Verhaltensweisen seitens der Gerichte eine nicht unerhebliche Bedeutung beigemessen wird, ergibt sich schon unmittelbar aus den Formulierungen der einschlägigen Judikate. Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4. 62 Das erinnert in gewisser Weise an den Problemkreis betreffend allgemeinkundiges Wissen und die Frage, inwieweit es „dort“ einer Einführung in die mündliche Verhandlung bedarf. Letztlich wird „dort“ nur auf eine Einführung in die mündliche Verhandlung verzichtet, sofern alle Verfahrensbeteiligten gleichermaßen und selbstverständlich Kenntnis von jenem Wissen haben, wenn also von einem vergleichbaren (einheitlichen) Kenntnisstand ausgegangen werden kann. Vgl. statt vieler Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 50. Das Problem „indifferenter Deutung“ kann ebenso bei anderen „Informationen“ – etwa verbalen Aussagen – auftreten, nur tritt es bei nonverbalen Verhaltensweisen eben besonders deutlich zu Tage. 63 Denkbar wäre exemplarisch, dass der Angeklagte sein „Erröten“ kommentieren wird wollen. Ein Gedanke, der gerade vor dem Hintergrund der vielfachen Deutungsoptionen nonverbaler Verhaltensweisen für seine Verteidigung durchaus relevant erscheint. Ohne eine

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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Nun entspricht es aber gerade der ratio der Vorschrift des § 261 StPO – sowie dem Sinngehalt des deutschen (reformierten) Strafprozesses in seiner Gesamtheit –, dass die gerichtliche Entscheidungsfindung auf einem unverfälschten, originären Eindruck des gesamten Verfahrensstoffes beruht. Es erscheint vor diesem Hintergrund geboten, dass auch nonverbale Verhaltensweisen, sofern sie sich am Rande der förmlichen Beweisaufnahme ereignen, Bestandteil der Entscheidungsgrundlage werden und nicht a priori exkludiert sind. Dies entspricht – für nonverbale Reaktionen des Angeklagten – letztlich auch der ratio der Vorschrift des § 231 Abs. 1 Satz 1 StPO. So „verfolgt“ die (dauerhafte) Anwesenheitspflicht des Angeklagten64 zwar – primär – die Besicherung rechtlichen Gehörs, dient – sekundär – aber auch der materiellen Wahrheitsermittlung;65 dem Gericht soll es gerade möglich sein, sich einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten (auch außerhalb seiner Vernehmung) verschaffen zu können.66 Bei jenen zufällig auftretenden nonverbalen Reaktionen dürfte sich, auch vermöge ihrer partiellen Unbewusstheit und fehlenden physischen Steuerbarkeit, ein besonders „unverfälschtes Bild“ ergeben, dass dem Gericht nicht entzogen sein soll. c) Abhilfe durch Hinweispflichten Dieser Zielkonflikt zwischen der Gefahr von Informationsdefiziten auf der einen und dem Gebot eines unverfälschten Gesamteindrucks auf der anderen Seite könnte durch die Etablierung von „Hinweispflichten“ einem gerechten Ausgleich zugeführt werden. In Judikatur67 und Schrifttum68 sind derartige „Hinweispflichten“ als tradierte Option anerkannt, eine Erörterung in der mündlichen Verhandlung zu ermöglichen und auf diesem Wege eine Einbeziehung zu erreichen. Information über die Wahrnehmung ist indes keine Kommentierung möglich. Vgl. zur Verknüpfung des aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Informations- mit dem Äußerungsrecht BVerfGE 89, S. 28 (35). 64 Und freilich ein dauerhaftes Anwesenheitsrecht, welches zudem auch aus dem Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, dem Recht auf ein faires Verfahren, Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 EMRK und aus dem Menschenrechtscharakter, Art. 14 Abs. 3 Buchst. d IPBPR, folgt. Vgl. hierzu BGHSt 26, S. 84 (90); Arnoldi, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 230, Rn. 2. 65 Vgl. BGHSt 19, S. 144 (147); 55, S. 87 (89); Arnoldi, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 230, Rn. 2; Bung, HRRS 2010, S. 50; Gaede, GA 2008, S. 394 ff.; Gmel, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 230, Rn. 1; Grube, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 230, Rn. 2. Diente die Vorschrift nur der Besicherung rechtlichen Gehörs, wäre ein Recht, denn eine Pflicht zur Anwesenheit ersichtlich ausreichend. 66 Vgl. Grube, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 230, Rn. 2. 67 Vgl. BVerfGE 10, S. 177 (183); RGSt 16, S. 327 (328); 28, S. 171 (172); BGH, NStZ 1995, S. 609. Vgl. bezogen auf „[nonverbales] Verhaltens“ speziell auch OLG Jena, StV 2007, S. 26. 68 Vgl. Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 25; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 48, 61.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Dieser Gedanke scheint auf das Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme übertragbar; zumindest sind hier Informationsdefizite mit kohärenter Folge zu besorgen. Ein verfassungskonformes Inbegriffsverständnis verlangt jedenfalls, jene Informationsdefizite zu beseitigen.69 So wäre ein richterlicher Hinweis, dass bei einem Verfahrensbeteiligten eine nonverbale Verhaltensweise – etwa ein „erfreutes Grinsen“ des Angeklagten – seitens des Gerichts wahrgenommen wurde, geeignet, einerseits die Kontradiktorietät herzustellen und andererseits der Ausübung rechtlichen Gehörs eine „Bühne zu bieten“. Freilich kann dies nicht bedeuten, dass das Auftreten einer jeden nonverbale Verhaltensweise – etwa jedes „Erröten“ oder „Lachen“ am Rande der förmlichen Beweisaufnahme – eine richterliche Hinweispflicht auslöste. Notwendige Konsequenz wäre eine nachhaltige Beeinträchtigung des geordneten Verfahrensablaufs, und zudem kann von den Verfahrensbeteiligten (auch vom Angeklagten) durchaus ein gewisses Mindestmaß an Fokussierung auf das prozessuale Gesamtgeschehen (räumlich innerhalb des „unmittelbaren“ Verhandlungsgeschehens)70 erwartet werden.71 Anders ist es indes zu beurteilen, wenn das Gericht solche nonverbalen Verhaltensweisen wahrnimmt, welchen es offensichtlich eine Relevanz für die spätere Beweiswürdigung beizumessen gedenkt. Denkbar erscheint dies etwa, wenn – entsprechend obigen72 Beispielsfalles „umgekehrter Rekognition“ – die mimischen Veränderungen des Angeklagten den Rückschluss auf ein Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin „ermöglichen“ und das Gericht quasi schon im Moment des Wahrnehmens von einer besonderen Relevanz für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch ausgeht (etwa weil der Angeklagte zuvor stets beharrlich die „Bekanntschaft“ mit der Zeugin geleugnet hatte). Wenn einer nonverbalen Verhaltensweise ihre Entscheidungsrelevanz schon „auf die Stirn geschrieben“ steht, so hat das Gericht sicherzustellen, dass die „Erörterung“ betreffend das Auftreten und die „Deutung“ in der Verhandlung geschehen kann. In Fällen einer antizipierbaren Entscheidungsrelevanz wäre die Verkürzung der Ausübungsmöglichkeiten rechtlichen Gehörs und die Beschränkung der Kontradiktorietät anderenfalls unerträglich; ein richterlicher Hinweis ist daher strikt geboten. Des Weiteren erscheint in der Sache ein Ansatz von Velten73 von besonderem Interesse, wonach die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschriften der §§ 240, 257 StPO auf sämtliches Prozessverhalten verlangt wird. Ob Velten unter 69

Entweder werden die Informationspflichten unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitet oder jene folgen aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 261 StPO, respektive des Inbegriffsverständnisses. Vgl. zu dieser dogmatischen Frage BVerfGE 9, S. 89 (96). 70 Auf den Zuschauerraum wird demgegenüber kein derartiges Mindestmaß an Fokussierung erwartet werden können. 71 Der juristische Laie wird seinen Fokus ohnehin auf das prozessuale Gesamtgeschehen richten, so weiß jener doch überhaupt nicht um die Eigenarten der förmlichen Beweisaufnahme, sodass dies grundsätzlich gewährleistet sein dürfte. 72 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. IV. 2. 73 Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58.

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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„Prozessverhalten“ auch jene in Rede stehenden nonverbalen Verhaltensweisen – wie etwa ein „abfälliges Lachen“ am Rande förmlicher Beweisaufnahme – verstanden wissen wollte,74 kann dahinstehen. Jedenfalls erscheint es zur Wahrung der Kontradiktorietät und des rechtlichen Gehörs angemessen, „auch hier“ dem Angeklagten – kumulativ zum richterlichen Hinweis – die Rechte der §§ 240, 257 StPO analog zuzusprechen, sofern eine antizipierbare Entscheidungsrelevanz gegeben ist. Das Frage- und Erklärungsrecht könnte dann seitens des Angeklagten dem richterlichen Hinweis temporär nachgelagert ausgeübt werden und würde jenem – etwa bei „Deutungsunklarheiten“ – die Möglichkeit einer „Richtigstellung“ verschaffen. So könnte jener etwa erklären, weshalb er gerade „so überrascht geschaut habe“. „Wann“ eine antizipierbare Entscheidungsrelevanz anzunehmen ist, muss als Frage des Einzelfalles verbleiben und entzieht sich mithin einer pauschalen Beantwortung; dies ist stets durch das jeweilige Tatgericht – in pflichtgemäßer Ermessensausübung – selbst zu beurteilen. Was die Fehlerhaftigkeit jener Ermessensausübung betrifft, besteht die Möglichkeit einer ex post-Kontrolle durch das Revisionsgericht anhand der Urteilsgründe und des Sitzungsprotokolls: Spätestens mit Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe wird für das Revisionsgericht erkennbar, ob die jeweils in Rede stehende nonverbale Verhaltensweise – also etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten oder das „Erröten“ des Zeugen – zu einem tragenden Entscheidungsgrund wurde.75 In diesem Falle hätte das Tatgericht die nonverbale Verhaltensweise am Rande sodann „im Wege“ eines richterlichen Hinweises in den Inbegriff der mündlichen Verhandlung einbeziehen müssen. Diese Tatsache des Erteilens eines richterlichen Hinweises, zum Zwecke der Erörterung in der mündlichen Verhandlung, ist als wesentliche Förmlichkeit nach § 273 Abs. 1 Satz 1 StPO protokollierungspflichtig.76 Nach richtiger Ansicht besteht nämlich im Grundsatze eine Kongruenz zwischen Erörterungs- und Protokollierungspflicht.77 74

Die Darstellung von Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 58 f. ist insoweit nicht eindeutig. Es sollte zumindest aus den Urteilsgründen hervorgehen. Gerade bei nonverbalen Verhaltensweisen besteht aufgrund der Deutungsvielfalt das „Risiko“, dass die Tatgerichte – um diesen Umstand (und die Gefahr einer Kassation der Entscheidung) wissend – dem Revisionsgericht „keinen reinen Wein einschenken“, das Auftreten nonverbaler Verhaltensweisen in den Urteilsgründen „verschweigen“ und jene Verhaltensweisen „quasi en passant einfließen lassen“. Letztlich sind dies nur „Vermutungen“ des Verfassers. Es erscheint aber dennoch „merkwürdig“, dass nur verhältnismäßig wenige Entscheidungen zu finden waren, in welchen nonverbale Verhaltensweisen tatsächlich eine Rolle spielten (zumindest, wenn man von den Urteilsgründen ausgeht). Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4. 76 Nach § 273 Abs. 1 Satz 1 StPO muss das Sitzungsprotokoll nur die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten wiedergeben. Davon sind solche „Vorgänge“ erfasst, welche für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens von Bedeutung sein können. Vgl. Güntge, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 273, Rn. 4; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 273, Rn. 6. 77 So Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 273, Rn. 8 von einer grundsätzlichen Kongruenz ausgehend. Diese Frage – respektive, ob ein Eintrag im Protokoll betreffend die Erörterung gerichtskundiger Tatsachen erforderlich ist – ist umstritten. So plädieren OLG 75

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

3. Nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung Ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung – also etwa die „verdächtige mimische Reaktion“ im Zuschauerraum –, so wird seitens Judikatur78 und Schrifttum79 – richtigerweise – eine Inbegriffszugehörigkeit zunächst abgelehnt.

Frankfurt am Main, StV 1989, S. 97 (98); OLG München, NJW 2010, S. 1826 (1827); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 273, Rn. 7 und wohl auch Peglau, in: BeckOK-StPO, § 273, Rn. 13 f. für eine Protokollierungspflicht, während BGHSt 36, S. 354 (insbesondere 356) und Valerius, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 273, Rn. 20 jene ablehnen. Maßgeblich für die Annahme einer Protokollierungspflicht streitet, dass damit in Verbindung mit § 274 StPO – (der hier wohl überwiegend relevanten negativen) Beweiskraft des Protokolls – eine nicht unerhebliche „Disziplinierung“ der Tatgerichte einhergehen dürfte, „Erörterungsbedürftiges“ auch tatsächlich zu erörtern (was betreffend nonverbale Reaktionen am Rande von besonderer Relevanz ist). Vor dem Hintergrund der ratio legis des § 273 StPO – Nachprüfbarkeit der Gesetzmäßigkeit der Hauptverhandlung durch das Revisionsgericht – und den „hohen Gütern“ der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens sowie des rechtlichen Gehörs erscheint dies richtig und geboten. Vgl. zur ratio legis des § 273 StPO statt vieler Güntge, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 273, Rn. 1. Fehlt es an einem richterlichen Hinweis, so fehlt es an einer Einbeziehung jener nonverbalen Verhaltensweise in den Inbegriff der mündlichen Verhandlung. Jene ist dann nicht Bestandteil der Entscheidungsgrundlage geworden und darf folglich nicht im Rahmen der Beweiswürdigung verwertet werden. Geschieht dies dennoch, so ist die Entscheidung mit der Inbegriffsrüge als Verfahrensrüge angreifbar. Die Ausübung des Fragerechts nach § 240 StPO (und auch jene des Fragerechts nach § 240 StPO analog bei nonverbalen Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme) ist hingegen nicht protokollierungspflichtig. Vgl. zu § 240 StPO (direkt) statt vieler Valerius, in: MünchenerKommentar-StPO, § 273, Rn. 21. Indes protokollierungspflichtig ist die Aufforderung zur Stellungnahme nach § 257 StPO analog, wenn dem Angeklagten etwa die Möglichkeit eingeräumt wird, seine nonverbale Reaktion – etwa „abfälliges Lachen“ – zu erklären. Hier genügt indes, die allgemeine Feststellung im Sitzungsprotokoll, dass § 257 Abs. 1 StPO beachtet wurde. Vgl. hierzu BGH, NStZ 1995, S. 560 f. sowie Valerius, in: Münchener-KommentarStPO, § 273, Rn. 17. Letzteres ist – auch für vorliegende Konstellationen – ausreichend. Wenn der Angeklagte einmal belehrt wurde, dass ihm ein solches Erklärungsrecht nach jeder Beweiserhebung zu stehe, so wird jener auch bei einem richterlichen Hinweis betreffend eine nonverbale Reaktion am Rande „wissen“, von seinem Recht „erneut“ Gebrauch machen zu dürfen. Mithin ist dessen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG genüge getan, namentlich eine hinreichende „Bühne“ zu Ausübung dessen „bereitgestellt“. Fehlt es an einer notwendigen Aufforderung zur Stellungnahme, so ist die Entscheidung mit der Rüge der Verletzung des § 257 Abs. 1 StPO angreifbar. Diese Rüge ist der Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) dann vorrangig. Vgl. zum Verhältnis zur Inbegriffsrüge OLG München, NJW 2010, S. 1826 (1827). 78 BGH, NStZ 1995, S. 609 sowie OLG Jena, StV 2007, S. 26. Letzterenfalls war es das Verhalten der Mutter des Angeklagten im Zuschauerraum, welche die Nebenklägerin durch ihr (wohl überwiegend nonverbales) Verhalten vehement als „Lügnerin“ darstellte, woraus die Vorinstanz schloss, dass innerhalb der Familie noch keinerlei „Aufarbeitung“ der Taten des Angeklagten stattgefunden hatte. 79 Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 16; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 7; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 6c; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57.

A. Inbegriff der mündlichen Verhandlung

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Das ist überzeugend, denn gerade mit dem „Ereignen“ räumlich außerhalb des „unmittelbaren Verhandlungsgeschehens“ realisiert sich in besonderem Maße die obig erwähnte80 Problematik der fehlenden Fokussierung der Verfahrensbeteiligten auf jene etwaig auftretenden nonverbalen Reaktionen im Zuschauerraum. Die Verfahrensbeteiligten – respektive der Angeklagte – werden ihr Augenmerk regelmäßig (nur) auf die Geschehnisse in dem „Dreieck“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagten gerichtet haben, während dem Gericht – vermöge der Sitzordnung in deutschen Gerichtssälen – oftmals ein ungehinderter Blick (Frontalsicht) auf den Zuschauerraum eingeräumt sein wird. Für die Verfahrensbeteiligten besteht hier noch weit mehr als im Falle des Auftretens nonverbaler Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme ein Informationsdefizit betreffend den Umstand des „Sich-Ereignens“ jener nonverbalen Verhaltensweisen. In anderen Worten: Es ist schlicht (noch) unwahrscheinlich(er), dass sämtliche Verfahrensbeteiligten, namentlich der Angeklagte, nonverbale Reaktionen im Zuschauerraum überhaupt wahrnehmen. Je „mehr“ sich aber die jeweils in Rede stehende Information – etwa ein „überraschter Gesichtsausdruck“ – sukzessive vom „unmittelbaren Verhandlungsgeschehen („Dreieck“)“ entzieht, um so mehr bedarf es der (Wieder-)Herstellung der Kontradiktorietät und der Gewährleistung rechtlichen Gehörs. Während bei nonverbalen Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme noch von einem „Vorkommen“ in der mündlichen Verhandlung gesprochen werden konnte (räumlich innerhalb des „unmittelbaren“ Verhandlungsgeschehens), so ist betreffend nonverbale Verhaltensweisen im Zuschauerraum schon ipso facto ein derartiges „Vorkommen“ nicht gegeben (räumlich außerhalb des „unmittelbaren“ Verhandlungsgeschehens). Möchte das Gericht solche nonverbalen Verhaltensweisen dennoch verwerten, hat es „vorgelagert“ eine Einbeziehung jener in den Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu erreichen. Vermöge des fehlenden „Vorkommens“, bedarf es hierfür theoretisch stets – und zwar nicht nur im Falle einer antizipierbaren Entscheidungsrelevanz81 – eines richterlichen Hinweises82, 83 und – a maiore ad minus zu 80

Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. a). Das Kriterium der „antizipierbaren Entscheidungsrelevanz“ ist hier nur mittelbar von Bedeutung, denn im Grundsatze sind jene Verhaltensweisen hier eben nicht Bestandteil des Inbegriffs, wenngleich das Gericht eine Einbeziehung auch nur beabsichtigen dürfte – und vor dem Hintergrund der Sachaufklärungsmaxime (§ 244 Abs. 2 StPO) müsste –, wenn es von einer Entscheidungsrelevanz ausgeht. Faktisch wird das Gericht aber auch bei nonverbalen Verhaltensweisen im Zuschauerraum nur in den Fällen einer antizipierbaren Entscheidungsrelevanz eine Einbeziehung jener überhaupt zu erreichen versuchen, sodass sich im Ergebnis ein Gleichlauf zu nonverbalen Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme ergibt. 82 Vgl. BGH, NStZ 1995, S. 609; OLG Jena, StV 2007, S. 26; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 40 sowie Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 16; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 6c. 83 Ein richterlicher Hinweis ist aber gerade „ausreichend“, respektive bedarf es keiner förmlichen Beweisaufnahme betreffend die wahrgenommenen nonverbalen Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung. Dies folgt aus dem Umstand, dass es sich hierbei um sogenannte „unaufgesuchte“ Wahrnehmungen des Tatgerichts handeln wird, über welche eine 81

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

nonverbalen Reaktionen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme – „erneut“ richtigerweise eines „Zugestehens“ der Erklärungsrechte der §§ 240, 257 StPO analog.84

III. Zusammenfassung Treten nonverbale Verhaltensweisen bei der förmlichen Beweiserhebung auf – wie etwa das „spontane Erröten“ des Zeugen während seiner Vernehmung –, so sind jene quasi der Beweiserhebung inkorporiert85 und damit eo ipso Bestandteil der Entscheidungsgrundlage. Das gilt einerseits für zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen, andererseits auch für jene, die in Experiment-Konstellationen gezielt provoziert wurden. Letzterenfalls gilt dies indes nur, sofern jene nonverbalen Verhaltensweisen auch in Gestalt des richtigen Beweisinstituts – Lehre vom Zugriffsgegenstand86 – erhoben wurden;87 so also etwa bei einem Wissenszugriff in Gestalt der Angeklagtenvernehmung oder des Zeugenbeweises. Ereignen sich nonverbale Verhaltensweisen am Rande der förmlichen Beweisaufnahme – etwa der „vorwurfsvolle Blick“ des Angeklagten als die „in Bedrängnis geratene“ Zeugin während ihrer Vernehmung das Alibi „platzen lässt“ – so sind jene im Grundsatze zwar ebenso Bestandteil der Entscheidungsgrundlage,88 da es der ratio legis des § 261 StPO entspricht, das „Gesamtgeschehen“ („Vorkommen“) der mündlichen Verhandlung in die Beweiswürdigung einzubeziehen.89 Will das Gericht indes jene Verhaltensweisen zu tragenden Erwägungen des Urteils machen – lässt sich also eine besondere Relevanz für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch erkennen (antizipierbare Entscheidungsrelevanz)90 – so bedarf es zur Gewährleistung förmliche Beweisausnahme generell unstatthaft ist. Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. V. Hier offenbart sich gerade die partiell bestehende Inhomogenität zwischen dem, was nach § 261 StPO seine Einbeziehung „sucht“ (wofür „aus der Sicht“ des § 261 StPO durchaus die förmliche Beweisaufnahme denkbar erscheint) und dem, was nach den Regelungen des Strengbeweisverfahrens – respektive § 244 StPO – einer förmlichen Beweiserhebung „fähig ist“ (unaufgesuchte Wahrnehmungen sind es jedenfalls nicht). 84 Vgl. zu der „Gewährung“ der Rechte aus §§ 240, 257 StPO analog die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. c). Ohne auf §§ 240, 257 StPO (analog) Bezug zu nehmen, insoweit treffend zur Sache auch OLG Jena, StV 2007, S. 26: „Es ist grundsätzlich unzulässig, solche Umstände bei der Entscheidung zu verwerten, wenn dem Angekl. nicht die Möglichkeit gegeben worden ist, dazu Stellung zu nehmen.“ Auch Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 16 verlangt in diesen „Konstellationen“, dass den Verfahrensbeteiligten gerade die Möglichkeit der Stellungnahme eingeräumt werden müsse. 85 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 1. 86 Vgl. grundlegend zur hier entwickelten „Lehre vom Zugriffsgegenstand“ die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. b) ee). 87 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 1. b). 88 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. 89 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. 90 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. c).

B. Freie Beweiswürdigung

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der Kontradiktorietät und des rechtlichen Gehörs einerseits eines richterlichen Hinweises (der Einbeziehung) und andererseits sind dem Angeklagten die Rechte der §§ 240, 257 StPO analog „zuzugestehen“.91 Sofern jene nonverbalen Verhaltensweisen im Zuschauerraum der Hauptverhandlung auftreten – etwa das „verdächtige Nicken“ der Ehegattin des Angeklagten – sind jene im Grundsatze nicht Bestandteil der Entscheidungsgrundlage.92 Vermöge der räumlichen Trennung zum „unmittelbaren Verhandlungsgeschehen“ fehlt es bereits (begrifflich) an einem „Vorkommen“ in der mündlichen Verhandlung und mithin an der Inbegriffszugehörigkeit. Will das Gericht solche nonverbalen Reaktionen aus dem Zuschauerraum verwerten – und dies wird ipso facto (ebenso) nur bei vermuteter Entscheidungsrelevanz der Fall sein –, bedarf es stets einer Einbeziehung in die mündliche Verhandlung in Gestalt eines richterlichen Hinweises und „ebenso“ sind dem Angeklagten die Rechte der §§ 240, 257 StPO analog „zuzugestehen“.93

B. Aspekte im Rahmen der freien Beweiswürdigung In Judikatur94 und Schrifttum95 scheint man sich einig, dass nonverbalen Verhaltensweisen in der Hauptverhandlung – respektive solchen des Angeklagten – eine nicht unwesentliche Bedeutung im Rahmen der Entscheidungsfindung zuzusprechen

91

Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 2. c). Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 3. 93 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. 3. 94 RGSt 33, S. 403 (404). So auch RGSt 37, S. 212 (213); 39, S. 303 (305) und ebenso BGHSt 5, S. 332 (335 f.); 5, S. 354 (355 f.); 18, S. 51 (54 f.); 35, S. 164 (166 ff.); 45, S. 334 (355, 360 f.); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205 f.); BGH, BeckRS 2003, S. 10356; BGH, BeckRS 2005, S. 1982. 95 Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340); Fezer, NStZ 1987, S. 335 (336); Schorn, JR 1954, S. 298 (299); Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). Eine Bedeutung für die Beweiswürdigung – zumindest konkludent – annehmend: Bauer, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 10 f.; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, S. 9; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 98; Frister, ZStW 106 (1994), S. 303 (321); Günther, GA 1978, S. 193 (196); Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 5; Keiser, StV 2000, S. 633 (636); Kleinknecht, JR 1966, S. 270; Kühl, JuS 1986, S. 115 (118 a. E.); Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 193; ders., NStZ 2000, S. 234 (235); Miebach/Maier, in: Münchener-Kommentar-StGB, § 46, S. 250; Ott, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 261, Rn. 40; Peters, ZStW 87 (1975), S. 663 (669); Prittwitz, MDR 1982, S. 886 (893); Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 175; Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozess, S. 123; Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (253); Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 27; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 16; Seibert, NJW 1965, S. 1706 [Fn. 4]; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 57, 59, 68; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 199. 92

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

ist. So hatte etwa das Landgericht Landshut96 im Jahre 2002 die Mimik und Gestik anlässlich einer „demütigenden Befragung“ durch den Angeklagten sowie dessen „erfreute Reaktion“ auf die Suizidgefahr der Geschädigten(-zeugin) als strafschärfend gewertet. Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen und – wie folgt – judiziert: „Wenn das LG ein solches Verhalten als Ausdruck einer zu mißbilligenden Einstellung wertet, die eine Strafschärfung rechtfertigt, ist dies frei von Rechtsfehlern.“97

Die abstrakte Annahme einer de facto-Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen für die Beweiswürdigung sei im Folgenden nicht näher in Frage gestellt, sondern eher en passant bestätigt; dass der bei Tatfolgenschilderungen der (Opfer-)Zeugin – etwa einer entstellenden Narbenbildung – „stetig freudig lachende“ Angeklagte betreffend des Strafmaßes wohl eher Nachteile zu erwarten haben dürfte, vermag ein Jeder zu erahnen.98 Neben der „Bestätigung“, dass auch de iure die Schlussziehung aus nonverbalen Verhaltensweisen – etwa „abfälliges Lachen“ als Ausdruck der Verachtung – mit den Grundsätzen einer freien Beweiswürdigung im Einklang steht,99 sei der Fokus sodann auf denkbare Schwierigkeiten bei der Verwertung im Einzelfall gerichtet, respektive auf solche betreffend die Problemkreise der „Plausibilität“ und „Methodik“, wobei die Tauglichkeit nonverbaler Reaktionen zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung100 einer Aussage eine kursorische Erwähnung finden soll.

I. Ausgangspunkt: Die Freiheit tatrichterlicher Überzeugungsbildung Erkenntnistheoretische Basis der tatgerichtlichen Entscheidung ist einzig das Prozessgeschehen – „Inbegriff“ –, wohingegen der materielle Strafanspruch des Staates vermöge des bewirkten Tatgeschehens entsteht, sodass Letzteres unmittelbarer Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit ist.101 Die Beweiswürdigung ist der Vor96 LG Landshut, Urteil vom 19. Dezember 2002 – KLs 18 Js 29522/00, zitiert nach BGH, BeckRS 2003, S. 10356. Vgl. zur Abgrenzung zu zulässigem Verteidigungsverhalten Drittes Kapitel F. III. 3., Fn. 647. 97 BGH, BeckRS 2003, S. 10356 sowie zustimmend Miebach/Maier, in: MünchenerKommentar-StGB, § 46, S. 250. 98 Ebenso wie de facto Zweifel betreffend die Glaubhaftigkeit einer „alibigewährenden“ Aussage des Zeugen zu Gunsten des angeklagten Ehegatten aufkommen dürften, wenn jener nur bei diesen Fragen „ins Stottern gerät“ und ihm der mimische Ausdruck des „Sichertapptfühlens“ auf die Stirn geschrieben steht. 99 Dies ist im Grundsatze auch ersichtlich nie ernsthaft bestritten worden. 100 Der Begriff „Glaubwürdigkeit“ bezeichnet die individuelle Zuverlässigkeit der Aussageperson (ob es sich etwa um einen „notorischen Lügner“ handelt). Der Begriff „Glaubhaftigkeit“ bezieht sich alleinig auf die konkrete Aussage und die Frage, ob jene eben der Wahrheit entspricht. 101 Vgl. Mengler, Die lückenhafte Beweiswürdigung im tatgerichtlichen Urteil, S. 13; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 4; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 1 sowie die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I.

B. Freie Beweiswürdigung

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gang der Überzeugungsbildung, aus dem (bekannten) Prozessgeschehen im Wege der Schlussziehung das (unbekannte) Tatgeschehen – respektive die unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsachen – zu ermitteln.102 In Abkehr von der Legalbeweistheorie des gemeinen Rechts existieren im heutigen Strafprozess – betreffend diese Überzeugungsbildung – grundsätzlich keine Beweisregeln,103 namentlich trifft das Gesetz keine Regelungen betreffend den Wert eines Beweismittels oder des konkreten Beweismaßes.104 Die Beweiswürdigung ist „ureigene Aufgabe“ des Tatrichters105 und dieser entscheidet im Sinne der Vorschrift des § 261 StPO nach seiner freien Überzeugung. 1. Die Würdigung nonverbaler Verhaltensweisen als ein partiell intuitiver Vorgang Die Überzeugungsbildung geriert sich als ein Wahrscheinlichkeitsurteil, basierend auf ontologischen Erkenntnissen106 einerseits – etwa die Wahrnehmung der Aussage des Zeugen, den Angeklagten bei der „Abgabe des tödlichen Schusses“ gesehen zu haben – und nomologischen Erkenntnissen (logisch-analytischen Erwägungen, Wahrscheinlichkeitsannahmen und Erfahrungswissen) andererseits,107 dass etwa der Zeuge den Angeklagten nicht kenne und daher eine höhere Wahrscheinlichkeit für dessen Glaubhaftigkeit streite. Dieser Vorgang der menschlichen Überzeugungsbildung ist denklogisch ein solcher subjektiver Natur108 und realisiert insoweit gerade den Grundgedanken des reformierten Strafprozesses, nämlich die Abkehr von objektiven Beweisregeln.109 Die Überzeugungsbildung ist ein menschlich-psychologischer Erkenntnisprozess, welcher nur partiell bewusst ab102

Vgl. Mengler, Die lückenhafte Beweiswürdigung im tatgerichtlichen Urteil, S. 13 sowie Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 3. 103 Vgl. BGHSt 29, S. 18 (20); Julius/Beckemper, in: Heidelberger-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 8; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 91; Ott, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 261, Rn. 49; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 13; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 2a, 3, 11; Velten, in: SKStPO, Vor § 261, Rn. 5 sowie die obigen (kursorischen) Ausführungen zur Entstehungsgeschichte unter Viertes Kapitel A. I. 104 Vgl. Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 49; Miebach, in: MünchenerKommentar-StPO, § 261, Rn. 92; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 13 und ferner Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 11. 105 Vgl. BGHSt 3, S. 52 ff.; Fischer, NStZ 1994, S. 1; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 3; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 5. 106 „Ontologische Erkenntnisse“ sind solche, die das Gericht selbst unmittelbar „wahrnimmt“: Die Aussage des Zeugen oder etwa die Beschaffenheit der Tatwaffe (die vom Gericht in Augenschein genommen wird). 107 Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 3 f. sowie § 261, Rn. 3. 108 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 2 und ferner auch Miebach, in: MünchenerKommentar-StPO, § 261, Rn. 51 („innere Stellungnahme des Richters“). 109 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

läuft;110 so wird der Tatrichter häufig schlicht nicht wissen, weshalb er die Aussage des Zeugen für glaubhaft hält. Vielfach geriert sich die Überzeugungsbildung als ein – nicht steuerbarer, kommunizierbarer oder kontrollierbarer – intuitiver Prozess111 und zwar sowohl betreffend ontologische als auch nomologische Erkenntnisse.112 Das gilt in besonderem Maße für nonverbale Verhaltensweisen im Gerichtssaal. So ist schon für die ontologische Ebene zu konstatieren, dass einerseits die Wahrnehmung einer jeden Information – etwa eines „verdächtigen Errötens“ des Angeklagten – in der mündlichen Verhandlung durch das Gericht schon nicht garantiert werden kann (es besteht schlicht die Möglichkeit des „Übersehens“),113 andererseits wird etwa der „mimisch vermittelte Ausdruck der Ängstlichkeit“114 des Zeugen seitens des Gerichts zwar regelmäßig wahrgenommen werden, nur wird sich diese Wahrnehmung häufig nicht bewusst vollziehen (es wird lediglich ein „Eindruck“ zurückbleiben). „Deutlicher“ zu Tage tritt dieser intuitive Prozess auf der nomologischen Ebene, also bei der Analyse des zuvor Wahrgenommenen (ontologischen Wissens) und der anschließenden Hypothesenbildung, respektive bei der Schlussziehung. Dieser kognitive Prozess des Tatrichters basiert wesentlich auf dessen eigener Lebenserfahrung.115 So wird der Tatrichter häufig nicht zu einer bewussten Reflexion in der Lage sein, insoweit „anzugeben“,116 weshalb er etwa dem Zeugen bei seiner Sachaussage eine „gewisse Unsicherheit“ attestiert oder die von der Verteidigung „präsentierte Erklärung“ für die Anwesenheit des Angeklagten am Ort des Raubgeschehens für weniger überzeugend erachtet. Bei der Deutung nonverbaler Verhaltensweisen ist es die obig erwähnte117 „Decodierung nonverbaler Signale auf der Empfängerseite“, welche in einem noch erheblicheren Maße einer intuitiven Schlussziehung überantwortet ist. Es ereignen sich in einer interpersonalen Kommunikationssituation, wie der Hauptverhandlung, stets eine Vielzahl nonverbaler Signale – „Erröten“, „Erbleichen“, „gestische Insichgewandtheit“ –, welche überwiegend nicht singulär, sondern in Gestalt eines Gesamteindrucks auf den Empfänger einwirken.118 So wird das Tatgericht zwar selten 110

Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 5. Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 5. Vgl. ferner Fincke, GA 1973, S. 266 (269 f.), Stuckenberg, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger-StPO, § 261, Rn. 23 sowie ausdrücklich Frister, in: Festschrift für Grünwald, S. 169 (175 f., 179). 112 Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 5. 113 Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 5. Namentlich spricht auch Velten, in: SKStPO, Vor § 261, Rn. 5 von „Gestik und Mimik eines Zeugen“. 114 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 2. 115 Vgl. Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 51 sowie Velten, in: SKStPO, Vor § 261, Rn. 5. Es sind hier keine „wissenschaftlichen Erfahrungssätze“, sondern vielmehr die, aus der Alltagserfahrung resultierenden, eigenen Erfahrungssätze. 116 Vgl. Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 5. 117 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. 118 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. 111

B. Freie Beweiswürdigung

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eine einzelne „beleidigende Geste“ des Angeklagten bewusst-analytisch (als Nachtatverhalten) zu seinen Lasten werten. Überwiegend wird es jedoch vermöge des Gesamteindrucks der Summe aller nonverbalen Signale innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts – etwa der Zeugenvernehmung – zu einer unbewussten Wertung, also Schlussziehung veranlasst sein,119 weshalb es etwa die „gestische Unruhe“ als „Unsicherheit“ deutet und dies (unbewusst) in einen Kausalnexus zu möglicher Unwahrhaftigkeit setzt.120 Der psychologische Erkenntnisprozess der tatgerichtlichen Überzeugungsbildung vollzieht sich betreffend nonverbale Verhaltensweisen also noch weit weniger bewusst-analytisch, denn unbewusster (als dies im Allgemeinen ohnehin schon der Fall ist). Ausweislich obiger Erkenntnis, dass die Übertragung von Emotionszuständen zu 93 Prozent nonverbal stattfindet,121 ist die Beweiswürdigung der Tatgerichte – bezogen auf die Deutung nonverbaler Reaktionen – also durch eine „erhebliche Unbewusstheit“ und „Subjektivität“ determiniert. In der Tat könnten so zwei Gerichte betreffend dieselbe nonverbale Reaktion – etwa ein „spontanes Erröten“ – zu unterschiedlichen „Deutungen“ gelangen; und dies ebenso frei von Rechtsfehlern, wie jene auch betreffend dieselbe prozessuale Tat zu unterschiedlichen Ergebnissen (Schuldspruch „versus“ Freispruch) kommen könnten („nicht unbedingt sollten“). Was in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren – gerade für den juristischen Laien – prima facie „grotesk“ anmuten mag, ist letztlich notwendige Kehrseite jener erwähnten Abkehrentscheidung von der Legalbeweistheorie des gemeinen Rechts. Letztere hatte sich mit ihren objektiven Beweisregeln – verdeutlicht vermöge ihrer „inquisitorischen Entartungen“ – als unbrauchbar für ein schuldangemessenes Strafen erwiesen und wurde zu Recht durch das Prinzip der freien subjektiven Beweiswürdigung abgelöst. Damit ist das Strafverfahren keineswegs per se der Irrationalität überantwortet, so existieren objektive – noch zu erörternde122 – Grenzen jener subjektiven Überzeugungsbildung. Im Grundsatze bleibt jene aber geprägt von „Subjektivität“ und einer „erheblichen Unbewusstheit“, in welche sich die Deutung nonverbaler Verhaltensweisen konsequent einfügt.

119 Zumal erst die „Gesamteindruckswahrnehmung“ auf der Empfängerseite die Individuenspezifität der Signale des Senders „auszugleichen“ geeignet ist und so eine interpersonale nonverbale Kommunikation möglich wird. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. Wenngleich dies kein rechtliches Argument gegen ein Verwertungsverbot wäre, so ist darin „dennoch“ der Grund zu erblicken, warum de facto ein Verwertungsverbot betreffend nonverbale Verhaltensweisen „nicht durchsetzbar wäre“. Was sich unbewusst vollzieht, kann nur schwer – partiell vielleicht noch im Wege gesteigerter Selbstreflexion – ausgeblendet werden. 120 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 121 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. 122 Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

2. Zur Würdigungspflicht nonverbaler Verhaltensweisen als Konsequenz der Unmittelbarkeitsmaxime und des rechtlichen Gehörs Des Weiteren verpflichtet die Vorschrift des § 261 StPO das Tatgericht zu einer erschöpfenden Beweiswürdigung, das heißt, sämtliche Informationen – die Bestandteil des Inbegriffs geworden sind – in die Überzeugungsbildung einfließen zu lassen;123 was, in Anbetracht erwähnter „93 Prozent-Regel“124, ipso facto in erheblichem Maße stets auch nonverbale Verhaltensweisen sein werden. Soweit es sich um bewusst wahrgenommene nonverbale Verhaltensweisen und ferner bewusst-analytische Schlussziehungen handelt – wie dies sowohl bei Experiment-Konstellationen als auch bei zufällig auftretenden nonverbalen Verhaltensweisen der Fall sein kann125 –, ist dieses Ausschöpfungsgebot seitens des Tatgerichts ohne Weiteres „direkt (bewusst) erfüllbar“. So hat auf diesem Wege etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin in der Überzeugungsbildung seine Berücksichtigung zu erfahren. Anders verhält es sich bei unbewusst wahrgenommenen nonverbalen Verhaltensweisen und unbewussten Schlussziehungen betreffend jene Verhaltensweisen; hier kann sich auch die Berücksichtigung im Rahmen der Überzeugungsbildung nur unbewusst vollziehen und nichts anderes vom Gesetz verlangt werden. Es entspricht aber der ratio legis der Vorschrift des § 261 StPO, dass sich das Tatgericht nicht a priori einer Berücksichtigung jener verschließen darf (sofern dies vermöge der partiellen Unbewusstheit der Überzeugungsbildung überhaupt möglich sein sollte). Das Tatgericht muss sich seiner Würdigungspflicht betreffend nonverbale Verhaltensweisen vielmehr – selbstreflektierend – „annehmen“. Dies folgt (zwar) einerseits aus dem Gebote erschöpfender Beweiswürdigung (§ 261 StPO), andererseits (primär bereits) aus dem Konvolut jener übergeordneten Prinzipien der Unmittelbarkeit sowie des rechtlichen Gehörs126 (in deren Lichte die Vorschrift des § 261 StPO „wiederum“ auszulegen ist)127. Zu Recht verweist der Bundesgerichtshof128 auf den „sehend-verstehenden Austausch“,129 welchen das Gesetz im Straf123

BGHSt 25, S. 365 (367); Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 93; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 56; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, § 261, Rn. 14, 16; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 46. Vgl. zur Inbegriffszugehörigkeit nonverbaler Verhaltensweisen die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. und III. 124 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 125 Freilich kann auch die Wahrnehmung – ontologische Erkenntnis – und Schlussziehung – nomologische Erkenntnis – betreffend zufällig auftretende nonverbale Verhaltensweisen bewusst beziehungsweise bewusst-analytisch verlaufen. So etwa bei einer „beleidigenden Geste“ des Angeklagten in Richtung der (Opfer-)Zeugin. 126 Wobei es sich betreffend die Rechtsnatur des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht um ein (objektiv-rechtliches) Prinzip, denn um ein subjektiv-öffenliches Recht handelt. 127 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. 1. 128 BGHSt 35, S. 164 ff. 129 BGHSt 35, S. 164 (168) unter Verweis auf Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672).

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prozess voraussetze sowie darauf, dass „optische und akustische Eindrücke“ von den Verfahrensbeteiligten für das Tatgericht unverzichtbar seien.130 So war die Gewährleistung eines unmittelbaren Eindrucks der Beweismittel für das Tatgericht – zur „Qualitätssicherung“ der Entscheidungsfindung – einer der wesentlichsten Fortschritte des reformierten Strafprozesses, wie jener mit der Reichsstrafprozessordnung von 1877 in den deutschen Rechtsraum Einzug erhalten hatte.131 Die Würdigung der – gerade unbewussten und physisch nicht steuerbaren – nonverbalen Verhaltensweisen der Verfahrensbeteiligten (und möglicherweise jenen aus dem Zuschauerraum) ist als Realisierung dessen zu begreifen. Denn in Abkehr vom schriftlichen Verfahren des gemeinen Rechts würdigt das Tatgericht mithin „maximal Unmittelbares“; es bietet sich ein „unverfälschter“ und vor allem „lebensnaher“ Eindruck der (möglicherweise) entscheidungserheblichen Informationen zur Würdigung an.132 Wenn der Bundesgerichtshof133 konstatiert, dass ein Angeklagter regelmäßig erwarten wird, dass der Richter ihn nicht nur „anhört“, sondern „ansieht“, betrifft dies letztlich die Dimension rechtlichen Gehörs. Ausweislich des erheblichen Anteils nonverbaler Verhaltensweisen am menschlichen Kommunikationsprozess und vermöge der Gewährleistungen des Art. 103 Abs. 1 GG – welcher eine „Auseinandersetzungspflicht“ betreffend das Vorbringen konstituiert134 – erscheint eine Pflicht zur Würdigung nonverbaler Verhaltensweisen des Angeklagten auch aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu folgen. „Treffend“ ist insoweit die folgende Vermutung des Bundesgerichtshofs135: „Deshalb wird ein Angeklagter oftmals hoffen, daß ein Richter ihn auch ohne Worte auf Grund seines Mienenspiels und seiner Gesten versteht.“

So ist in der Tat zu bedenken, dass nicht jeder Mensch seine Gedanken und Gefühle verbal auszudrücken befähigt ist,136 gleichwohl aber obig ein Kausalnexus zwischen nonverbalen Signalen und Emotionszuständen festgestellt werden konnte.137 Dann betrifft die „Auseinandersetzungspflicht“ aus Art. 103 Abs. 1 GG aber denknotwendig auch die nonverbalen Signale. Es folgt also aus dem Gebote er130

BGHSt 35, S. 164 (169). Und mit „akustisch“ ist offensichtlich nicht der Inhalt verbaler Aussagen gemeint. 131 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. I. 132 Was die „Gebärdenprotokolle“ zu Zeiten des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens zu gewährleisten suchten, wird nun durch den „unmittelbaren Eindruck“ des Tatgerichts in der Hauptverhandlung („weit besser“) erreicht. 133 BGHSt 35, S. 164 (167). 134 Vgl. BVerfGE 7, S. 53 (57); 98, S. 218 (263); 107, S. 395 (409); Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103, Rn. 28 f., 36, 52; Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art. 103 I, Rn. 20; Windthorst, in: Studienkommentar-GG, Art. 103, Rn. 8. 135 BGHSt 35, S. 164 (168). 136 So auch bereits BGHSt 35, S. 164 (167 f.). 137 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

schöpfender Beweiswürdigung – „aufgeladen“ vermöge der Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie der Unmittelbarkeitsmaxime –, dass dem Tatgericht eine Würdigungspflicht betreffend sämtliche nonverbale Verhaltensweisen obliegt, welche Bestandteil der mündlichen Verhandlung geworden sind.138 3. Zum Gebote der Gewährleistung tatgerichtlicher Wahrnehmungsmöglichkeit Im Sinne einer konsequenten Fortführung jener Würdigungspflicht betreffend nonverbale Verhaltensweisen darf das Tatgericht indes nicht an einer Würdigung und – vorgelagert – einer physischen Wahrnehmung jener nonverbalen Verhaltensweisen a priori gehindert sein. Anlässlich der Problematik eines „blinden Richters“ formulierte der Bundesgerichtshof das Folgende: „Auch von der Haltung und den Reaktionsweisen der Prozeßbeteiligten, vor allem des Angeklagten, [muss der Tatrichter] durch aufmerksame Beobachtung Eindrücke gewinnen können [!], die möglicherweise für seine Beweiswürdigung bedeutsam werden können.“139

Zu Recht geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass ein Tatgericht stets in der Lage sein muss, auch (nonverbale) Reaktionsweisen wahrzunehmen. Namentlich folgt „erneut“ aus der Vorschrift des § 261 StPO, der Unmittelbarkeitsmaxime sowie partiell aus Art. 103 Abs. 1 GG, dass im Grundsatze weder in der Sphäre des Tatgerichts noch in jener der Verfahrensbeteiligten wesentliche Hindernisse für die Wahrnehmungsmöglichkeit nonverbaler Verhaltensweisen begründet sein dürfen. Dieses Gebot der Gewährleistung einer – auch nonverbalen – Vis à vis-Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten fußt auf dem Grundgedanken des historischen Gesetzgebers140 betreffend die Vorstellung eines reformierten unmittelbaren Strafprozesses und erfuhr „kürzlich“ seine „erneute“ Bestätigung durch den Bundesgesetzgeber, welcher betreffend die Einführung des § 176 Abs. 2 GVG141 in seinen Erwägungsgründen formulierte: „Die offene, auch nonverbale Kommunikation ist zudem ein zentrales Element von Gerichtsverhandlungen.“142

Die Möglichkeit einer sensuellen Wahrnehmung143 etwaiger nonverbaler Verhaltensweisen – im Sinne einer „maximalen Unmittelbarkeit“ – muss für die 138

Vgl. zur Inbegriffszugehörigkeit die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. und III. BGHSt 35, S. 164 (166) unter Verweis auf Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340). 140 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel B. II. 1. a) bb) und Viertes Kapitel A. I. 141 Eingeführt wurde die Vorschrift des § 176 Abs. 2 GVG durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019, BGBl. I, S. 2121. Das „Ziel“ war offenkundig die Beseitigung „rechtspraktischer Unsicherheiten“ im Zusammenhang mit der Gesichtsverschleierung muslimischer Zeuginnen. 142 BT-Drs. 19/14747, S. 44. 143 So spricht Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340) etwa von der „Prästierung höchster Aufmerksamkeit und Anspannung aller [Hervorhebung im Original] Sinne“. 139

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mündliche Verhandlung vor einer Tatsacheninstanz grundsätzlich gewährleistet sein; namentlich muss das Gericht sowohl zu auditiven wie optisch-visuellen Wahrnehmungen befähigt sein. Daraus folgt einerseits, dass nicht schon die Sitzverteilung im Gerichtssaal einer Wahrnehmung hinderlich sein darf; so muss etwa sichergestellt sein, dass sowohl das Gericht als auch der Angeklagte144 den Zeugen während seiner Vernehmung (auch) visuell wahrnehmen können. Auch dürfen in der Person des Richters keine wesentlichen145 Wahrnehmungsdefizite angelegt sein; so wäre etwa die Besetzung eines (Kollegial-)Gerichts mit einem „blinden Richter“ unzulässig.146 Andererseits hat der Vorsitzende durch „geeignete Maßnahmen“ nach § 176 Abs. 1 GVG sicherzustellen, dass auch seitens der Verfahrensbeteiligten die auditive und optisch-visuelle Kommunikation im Gerichtssaal keine unzulässige Beeinträchtigung erfährt; unzulässig wäre nach § 176 Abs. 2 GVG etwa eine schon teilweise Verhüllung des Gesichts (sei es nun ein „Gesichtsschleier“147 oder eine „sonstige (Atemschutz-)Maske“148). Die Strafprozessordnung basiert auf dem Prinzip eines „sehend-verstehenden Austausches“149 und dieses haben die Tatgerichte „umzu144 Dies folgt (für den Angeklagten) auch aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK. So soll dem Angeklagten mit dem Frage- beziehungsweise Konfrontationsrecht gerade die „Examinierung des Belastungszeugen“ gestattet sein und jenem somit eine „Überprüfung“ der belastenden Aussage ermöglicht werden. Vgl. Gaede, in: Münchener-Kommentar-StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 242. Diese Möglichkeit ist indes beeinträchtigt, wenn dem Angeklagten (oder dem Gericht) die Wahrnehmungsmöglichkeiten betreffend etwaiger Reaktionen des Zeugen beschnitten wären. 145 „Unwesentliche“ Beeinträchtigungen – wie etwa eine übliche (ausgleichsfähige) Sehschwäche – bleiben unschädlich. Bedenklich erscheint es indes, wenn es in BGHSt 5, S. 354 (356) heißt: „Nicht wenige Richter sind zu kurzsichtig, als daß sie den Gesichtsausdruck eines Angeklagten oder Zeugen beobachten könnten.“ Richtig ist es indes, wenn es in BGHSt 35, S. 164 (167) unter Verweis auf Fezer, NStZ 1987, S. 335 (336) heißt: „Das Erfordernis [ist] formal zu verstehen.“ Es ist in der Tat nicht bedeutsam, ob im Einzelfall eine optisch visuelle Wahrnehmung tatsächlich stattgefunden hat. 146 Während die Mitwirkung eines blinden Richters ursprünglich nur für unzulässig erachtet wurde, sofern es in der Hauptverhandlung zu einer Augenscheinseinnahme komme – etwa BGHSt 4, S. 191 ff. (194); 5, S. 354 ff. –, geht die mittlerweile wohl überwiegende Auffassung richterweise von einem generellen Mitwirkungsverbot in der einer Tatsacheninstanz aus. Vgl. BVerfG, NJW 2004, S. 2150 (2151) unter Bezugnahme auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz sowie BGHSt 35, S. 164 (166 ff.) und zuvor dies bereits andeutend BGHSt 34, S. 236 (237). Vgl. ferner Eb. Schmidt, JZ 1070, S. 337 (340); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 338, Rn. 11. Anders indes Reichenbach, NJW 2004, S. 3160 (3162) und passim sowie Schulze, MDR 1995, S. 670 (671). Die Zulässigkeit der Mitwirkung eines blinden Richters in einer Berufungsstrafkammer annehmend OLG Zweibrücken, NJW 1992, S. 2437 ff. 147 Vgl. zu dieser Problematik – auch im Hinblick auf die notwendige Abwägung mit Art. 4 GG – statt vieler Nestler, HRRS 2016, S. 126 (131 ff. und passim). Mit der Vorschrift des § 176 Abs. 2 GVG hat der Gesetzgeber diese Abwägung bewusst zu Gunsten einer effektiven Strafverfolgung aufgelöst – BT-Drucks. 19/14747, S. 43 f. – und damit diesen auch schon zuvor von Nestler „geforderten“ Vorrang bestätigt. 148 Die Konstellation der „Atemschutzmaske“ hat insoweit praktische Relevanz, als im Zuge der Corona-Pandemie im Jahre 2020 auch die Gerichte entsprechende (Gesundheits-) Schutzmaßnahmen umzusetzen hatten. 149 BGHSt 35, S. 164 (168) unter Verweis auf Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672).

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

setzen“, ohne sich der gesetzgeberisch antizipierten (wohl überschätzten)150 Relevanz nonverbaler Verhaltensweisen zu verschließen. 4. Die materielle Bedeutung nonverbaler Verhaltensweisen in der tatgerichtlichen Spruchpraxis Wenn Eb. Schmidt151 einst auch den visuellen Eindrücken des Tatrichters eine „maßgebend[e] Bedeutung“ für die Beweiswürdigung zumaß, so entspricht dies einerseits der tradierten „Vermutung“ in Judikatur152 und Schrifttum153 und andererseits offenbar der „Rechtswirklichkeit“. Erst im Jahre 2003 hatte das Landgericht Halle154 das Verhalten des Angeklagten in der mündlichen Verhandlung als „erschütternd und abstoßend“ bezeichnet und jenes als (negatives) Nachtatverhalten im Sinne des § 46 StGB zu dessen Lasten gewertet; „Anknüpfungspunkt“ jener Schlussfolgerung war: „Ein hämische[s] und triumphierende[s] Grinsen [des Angeklagten].“155

Die Art der Beweisführung des Landgerichts steht quasi nahtlos im Einklang mit den sonstigen Judikaten156, welche im Rahmen dieser Abhandlung en passant erwähnt wurden und auch die genannten (hypothetischen) Fallbeispiele des Verfassers dürften dem Leser das „Offenkundige“ verdeutlicht haben: Wenn 93 Prozent der menschlichen Informationsübermittlung betreffend Emotionszustände aus nonverbalen Signalen bestehen und ausweislich der Erkenntnisse des Ersten Kapitels nonverbale Signale – respektive Mimik und Gestik – einen „Einblick“ in die Gefühlsund Emotionswelt des Menschen (und mithin Rückschlüsse auf konkrete Gedankengänge) gewähren,157 so ist dem Fachkundigen wie auch dem „juristischen Laien“ 150 Gerade betreffend die Relevanz für eine etwaige Glaubhaftigkeitsbeurteilung scheint es, als überschätze der Gesetzgeber die sich aus nonverbalen Reaktionen tatsächlich ergebenden Möglichkeiten. Vgl. die noch folgenden Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 151 Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340). 152 BGHSt 35, S. 164 (167). 153 Schorn, JR 1954, S. 298 (299); Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672). 154 LG Halle, Urteil vom 25. 03. 2003, zitiert nach BGH, BeckRS 2005, S. 1982. Die Revision des Angeklagten gegen die Entscheidung des Landgerichts war insoweit erfolgreich, als der gesamte Strafausspruch aufgehoben wurde. Indes „störte“ sich der Bundesgerichtshof ausdrücklich nicht daran, dass jene nonverbalen Verhaltensweisen als Nachtatverhalten gewertet wurden. 155 LG Halle, Urteil vom 25. 03. 2003, zitiert nach BGH, BeckRS 2005, S. 1982. 156 Vgl. etwa BGHSt 35, S. 164 (166); BGH, StV 1993, S. 458 f.; BGH, Beschluss vom 20. 11. 2019 – 2 StR 467/19 [unveröffentlicht]; LG Landshut, Urteil vom 19. Dezember 2002 – KLs 18 Js 29522/00, zitiert nach BGH, BeckRS 2003, S. 10356 und ferner auch RGSt 33, S. 403 (404); RGSt 37, S. 212 (213); 39, S. 303 (305) und ebenso BGHSt 5, S. 332 (335 f.); 5, S. 354 (355 f.); 18, S. 51 (54 f.); 45, S. 334 (355, 360 f.); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205 f.); BGH, BeckRS 2003, S. 10356; BGH, BeckRS 2005, S. 1982. 157 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. II. und III.

B. Freie Beweiswürdigung

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verdeutlicht, dass nonverbale Verhaltensweisen im Gerichtssaal einen erheblichen Einfluss auf die tatgerichtliche Spruchpraxis haben (müssen). a) Zur „(Nicht-)Antizipierbarkeit“ tatrichterlicher Schlussziehung Wenn die Beweiswürdigung – respektive die Feststellung des „wahren“ Tatgeschehens – „ureigene Aufgabe des Tatrichters“ ist und der Vorgang menschlicher Überzeugungsbildung von „Subjektivität“ und „bewusster Unbewusstheit“beseelt ist,158 so liegt es auf der Hand, dass der eine Richter aus dem „erschrockenen Gesichtsausdruck“ des Angeklagten ein „Wiedererkennen der entstellten (Raubopfer-) Zeugin“ folgern wird, während ein anderer darin nur die „Schockiertheit um der Entstellung wegen“ erblicken wird. Mit anderen Worten: Es ist unmöglich vorherzusehen, welche Schlussfolgerung welcher Tatrichter aus welcher nonverbalen Verhaltensweise zieht.159 b) Zwischenergebnis: Die materielle Bedeutung als Frage des Einzelfalles Daher entzieht sich das – rein faktische – „Ob“ der Bedeutung und das „Ausmaß“ der konkreten nonverbalen Verhaltensweise auf den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch einer pauschalen Feststellung. Die Schlussfolgerungen des Tatrichters – etwa betreffend das „Erröten eines Zeugen“ – lassen sich nicht a priori bestimmen, sondern gerieren sich naturgemäß als Frage des Einzelfalles.160

II. Die Grenzen der Freiheit tatrichterlicher Überzeugungsbildung speziell bei nonverbalen Verhaltensweisen Diese Schlussfolgerungen des Tatgerichts – etwa im „spontanen Erröten“ des Zeugen einen Mangel an Glaubhaftigkeit zu erblicken – sind vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar. Es gilt ein „Rekonstruktionsverbot“161 der mündlichen Verhandlung, was einerseits daraus folgt, dass eine wirkliche Rekonstruktion de facto kaum möglich ist162 und andererseits de iure die Grundsätze der Mündlichkeit 158

Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 1. Und dies ist mithin niemals Ziel der vorliegenden Abhandlung gewesen. Vgl. abstrakt zu dem Gedankengang Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 91. 160 Allenfalls könnte anhand empirischer Untersuchungen – näherungsweise – versucht werden, bestimmte Schlussfolgerungen bei bestimmten nonverbalen Verhaltensweisen festzustellen. Dies kann seitens der vorliegenden Abhandlung nicht geleistet werden. 161 Vgl. BGHSt 29, S. 18 (21); BGH, NStZ 2013, S. 98; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 48, insbesondere 417; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 191. 162 Vgl. zu dieser richtigen Annahme auch Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 14. Dem Revisionsgericht stehen das Protokoll der mündlichen Ver159

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

und Unmittelbarkeit anderenfalls zur Makulatur erklärt wären; das Verfahren verkäme als „Aktenprozess“ vor dem Revisionsgericht. Gleichwohl darf das Tatgericht nicht willkürlich entscheiden, vielmehr muss die Beweiswürdigung – genauer: der subjektive Vorgang der Überzeugungsbildung – auf einem objektivierbaren rationalen Erkenntnisvorgang beruhen;163 und darin besteht der Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts. Vom Geltungsanspruch des Tatgerichts her betrachtet, muss jenes ein aus seiner Sicht „richtiges Urteil“ fällen, welches es nicht nur gegen den Angeklagten, sondern gegen sich selbst gelten lassen müsste.164 Die Überzeugungsbildung muss auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruhen.165 1. Die Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen als Ausgangspunkt für Plausibilitätsdefizite Es muss folglich verstandesmäßig einsehbar sein, weshalb das Tatgericht etwa in einem „erschrockenen Gesichtsausdruck“ des Angeklagten in concreto ein „Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin“ erblickt, namentlich nicht ein anderer (nicht belastender) Umstand als ursächlich unterstellt wird. Bei der Plausibilitäts(über)prüfung nimmt das Revisionsgericht – ohne die Hauptverhandlung zu „rekonstruieren“ – eine eigene Beurteilung der Beweislage auf Basis der Entscheidungsgründe und des Sitzungsprotokolls vor.166 Heuristisches Kriterium ist, ob dem Revisionsgericht die Entscheidung des Tatgerichts auf dieser Basis möglich erscheint, es namentlich selbst zu dieser Entscheidung hätte kommen können.167 a) Das spezifische Problem der Deutungsvielfalt Ausweislich der Feststellungen im Rahmen des Ersten Kapitels, ist nonverbalen Verhaltensweisen eine strukturelle Mehrdeutigkeit immanent;168 namentlich ist deren materieller Bedeutungsgehalt – relativ im Verhältnis zu verbalen Verhalhandlung sowie die schriftlichen Urteilsgründe „zur Verfügung“, wodurch jenem ein „eigener unmittelbarer Blick“ auf die Beweise verwehrt bleibt. 163 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45, Rn. 43; Schluckebier, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 14 f. 164 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 7. 165 Vgl. Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 95; Ott, in: KarlsruherKommentar-StPO, § 261, Rn. 62; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 15; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 2; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 29, Rn. 3. 166 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45, Rn. 44. 167 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45, Rn. 44; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 32; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 29, Rn. 3. 168 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III.

B. Freie Beweiswürdigung

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tensweisen – weit uneindeutiger, also auch seitens des Wahrnehmenden schwerer „richtig“ zu deuten. Im Falle einer „beleidigenden Geste“ des Angeklagten in Richtung des potenziellen (Belastungs-)Zeugen dürften sich dem Tatgericht „noch“ wenig andere Deutungsannahmen als der Wunsch nach Verächtlichmachung des Zeugen, aufdrängen. Hier kommt – bezogen auf die erwähnte „Sender-Empfänger-Systematik“ – die Individuenspezifität beim Ausdrucksprozess des Senders nicht wirklich zur Geltung.169 In anderen Worten: Dem Tatgericht wird die richtige Deutung leichtfallen. Bei einem „spontanen Erröten“ des Zeugen wird es schon schwieriger. Ein Tatgericht wird hierin zwar – plausibel – den Ausdruck von Scham erblicken dürfen, nicht aber ohne Mühen schlussfolgern können, ob sich jener von der Frage nur „peinlich berührt fühlte“ oder gar sein „Lügenkonstrukt zusammenbrechen sah“. Das Problem des Auffindens der richtigen Deutungsannahme wird sich für die Tatgerichte bei nonverbalen Verhaltensweisen gerade insoweit zum Problem gerieren, als deren Sender – etwa der „errötende Zeuge“ – nur sehr kurzzeitig, namentlich für die mündliche Verhandlung, als Wahrnehmungsobjekt zur Verfügung steht. Dem Gericht fehlt also stets eine „Vergleichsbetrachtung“ zu dessen sonstigem nonverbalen Benehmen.170 Gerade die nonverbale Kommunikation zwischen Individuen basiert aber wesentlich auf einer Vertrautheit in der „Sender-Empfänger-Beziehung“,171 so wird etwa der Ehegatte der Zeugin freilich weit bessere Chancen haben, die nonverbalen Signale richtig zu deuten, als das Tatgericht.172 Bei nonverbalen Verhaltensweisen besteht – im Verhältnis zu verbalen „Antworten“ – schlicht ein wesentlich erhöhtes Risiko von Fehldeutungen. b) Das „Restriktivitätsgebot“ der Judikatur und das Kriterium einer „nur möglichen Schlussziehung“ aus nonverbalen Verhaltensweisen Erwartungsgemäß ist jenes Fehldeutungsrisiko betreffend nonverbale Reaktionen von der Judikatur173 nicht unbemerkt geblieben. So hat der Bundesgerichtshof bereits im Rahmen seiner Ersten-Lügendetektor-Entscheidung betreffend „bewußte und unbewußte Ausdrucksvorgänge“ konstatiert: „[Jene dürfen] bei der Beweiswürdigung mit Vorsicht, Zurückhaltung und Menschenkenntnis berücksichtig[t] [werden].“174

169

Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. Auf ein für die Erfassung des „normalen Verhaltenshabitus“ „[zu] kurze[n] Zeitintervall“ verweisend ebenso L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 63. 171 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. 172 Ferner sind hier auch kulturelle Unterschiede – insbesondere betreffend die „Verwendung“ von Gesten – problematisch. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 4. 173 BGHSt 5, S. 332 (335 f.). 174 BGHSt 5, S. 332 (335 f.). 170

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Von den Tatgerichten dürfte dies allenfalls als bloße „Mahnung zur Zurückhaltung“ verstanden worden sein. Jedenfalls ergeben sich daraus keine Leitlinien betreffend den Vorgang tatgerichtlicher Überzeugungsbildung. Interessant ist insoweit vielmehr die – obig bereits zitierte – Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2019, in welcher jener in expressis verbis betreffend nonverbales Verhalten des Angeklagten formulierte: „Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird.“175

Wie bereits im Rahmen des Dritten Kapitels unter den Topoi etwaiger Verwertbarkeitsschranken kursorisch festgestellt,176 sind jene Kriterien der „Eindeutigkeit“ und „Erheblichkeit“ als Verweisung auf die Beweiswürdigungsebene zu verstehen. Prima facie dürften damit – wörtlich verstanden – bei den Tatgerichten nur solche nonverbalen Verhaltensweisen als Indiz in die Beweiswürdigung einfließen, welche einerseits eine „Eindeutigkeit“ betreffend ihres Erklärungswertes und andererseits eine „Erheblichkeit“ betreffend ihres Auftretens aufweisen, „was“ letzterenfalls wohl eine Art „Entäußerungsschwere“ verlangte (etwa ein „deutliches Lachen“). Tatsächlich würde ein derartiges Verständnis jener Kriterien eine faktische Exklusion nonverbaler Verhaltensweisen aus der Beweiswürdigung bewirken und dies vermöge des phänomenologischen Faktums der nahezu generellen Mehrdeutigkeit jener. Es wird sich schlicht keine nonverbale Verhaltensweise „finden lassen“, deren Auftreten – im Sinne einer absoluten Gewissheit – nur eine Deutungsoption zu lässt. Dieses Ergebnis kann ersichtlich vom Bundesgerichtshof nicht gewollt sein. So ist in Judikatur177 und Schrifttum178 herrschend anerkannt, dass die tatgerichtlichen Schlussfolgerungen – so auch Deutungen nonverbaler Verhaltensweisen – nicht zwingend, sondern lediglich möglich sein müssen. Es entspricht namentlich dem Wesen der gerichtlichen Erkenntnistätigkeit, respektive der subjektiven Überzeugungsbildung, dass jene regelmäßig objektiv möglichen (abstrakten) Zweifeln ausgesetzt bleibt.179 Wenn an obiger Stelle konstatiert wurde, dass die Entscheidung „so zwingend“ sein müsse, dass das Tatgericht diese gegen sich selbst gelten lassen müsste,180 so ist damit nicht gemeint, dass jede andere theoretische Erklärung – im Sinne einer absoluten Gewissheit – zwingend ausgeschlossen sein müsse, sondern vielmehr, dass das Tatgericht anderen Erklärungsmöglichkeiten (als 175

BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 6. Vgl. die Ausführungen unter Drittes Kapitel D. III. 1. b) bb). 177 BGHSt 26, S. 56 (63); 44, S. 153 (159 f.). 178 Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 15; Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 60; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 77. Vgl. auch Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 58 und e contrario Rn. 44. 179 Vgl. Miebach, in: Münchener-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 60; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 6 und ferner auch Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 57. 180 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 176

B. Freie Beweiswürdigung

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dem angeklagten Lebenssachverhalt) – im Sinne einer relativen (subjektiven) Gewissheit – „keinerlei praktische Bedeutung mehr beimisst“.181 Wenn das Tatgericht nun in der mündlichen Verhandlung etwa einen „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten registriert, so hat es – im Sinne einer lückenlosen (willkürfreien) Beweiswürdigung – selbstreflektierend zu erörtern, weshalb es daraus auf das „Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin“ und letztlich die Täterschaft des Angeklagten schließt und namentlich andere Erklärungsmöglichkeiten (für die „Überraschung“) nicht oder weit weniger in Betracht kommen. Nur wenn dies gelingt, stellt sich die Schlussziehung für das Tatgericht – und damit letztlich auch für das Revisionsgericht als die (einzig) plausible – daher: „eindeutige“ – Schlussziehung dar und jenes müsste diese Schlussziehung auch gegen sich selbst gelten lassen. c) Anforderungen an die Tatgerichte betreffend nonverbale Verhaltensweisen Das dürfte der Bundesgerichtshof182 im Sinn gehabt haben, als jener auf die einst von Dahs/Langkeit183 proklamierten Kriterien der „Eindeutigkeit“ und „Erheblichkeit“ rekurrierte und in obig zitierter Entscheidung die Beweiswürdigung des Landgerichts Schwerin – respektive dessen Deutung der nonverbalen Signale des Angeklagten als Geständnis – mit den folgenden Worten rügte: „Die nur sehr knapp dargestellte Verfahrenssituation […] lässt für sich genommen einen eindeutigen Schluss auf den Aussagegehalt der Mimik des Angeklagten nicht zu. Die Strafkammer teilt nicht mit, worauf konkret sie ihre Annahme gründet, der Angeklagte habe ,offensichtlich in Erinnerungen schwelgend‘ genickt. Die Möglichkeit, dass der […] Angeklagte […] allein durch die Tatschilderung zu einer ,versonnen lächelnden‘, ,schwelgenden‘ Mimik veranlasst worden sein könnte, hat das Landgericht nicht erkennbar in den Blick genommen und erörtert.“184

Wenn der Bundesgerichtshof einen „eindeutigen Schluss auf den Aussagegehalt der Mimik“ verlangt, entspräche es nicht der richtigen Lesart, darin die Forderung nach einem zwingenden – jeden abstrakten Zweifel ausschließenden – Schluss zu erblicken. Bei materieller Betrachtung rügt jener vielmehr erstens, dass die seitens des Tatgerichts dargestellte Verfahrenssituation („sehr knapp“) auch andere Deutungen der Mimik zuließe als die vom Tatgericht präferierte Deutung (als „Geständnis“) und – maßgeblich – zweitens, dass das Tatgericht jene anderen Deutungsoptionen nicht erörtert habe. Dem ist zuzustimmen. So ist den Tatgerichten die Verpflichtung zugewiesen, sämtliche sich aufdrängende Deutungsmöglichkeiten –

181 Vgl. Frister, in: Festschrift für Grünwald, S. 169 (185) und ferner Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 6. 182 BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 7. 183 Dahs/Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (215). 184 BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 7.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

konkreter Zweifel – in den Blick zu nehmen,185 zu erörtern und dies in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen. aa) Darlegungspflicht in den Urteilsgründen betreffend nonverbale Verhaltensweisen Die Vorschrift des § 267 StPO verpflichtet das Tatgericht, das mündlich verkündete Urteil schriftlich zu begründen; wobei die ratio legis einerseits darin besteht, die rational verstandesmäßig einsehbare Tatsachengrundlage zu dokumentieren und die Verfahrensbeteiligten mithin von der Richtigkeit der Entscheidung zu überzeugen und andererseits darin, die Eigenkontrolle des Tatgerichts im Sinne einer Selbstreflexion zu besichern.186 Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO ist das Tatgericht „lediglich“ zur Angabe der für erwiesen erachteten (Haupt-)Tatsachen verpflichtet, während die Angabe von Indizien nach § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO in das Ermessen des Tatgerichts gestellt ist. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Angabe nonverbaler Verhaltensweisen – welche primär (nur) als Indizien zu qualifizieren sind187 – in den Urteilsgründen obsolet wäre. Sowohl vor dem Hintergrund des telos des § 267 StPO als auch vermöge der „dogmatischen Nachwirkungen“ des § 261 StPO – Plausibilitätserfordernis – müssen die für die Entscheidung tragenden Indizien – und so auch als „tragend“ qualifizierte nonverbale Reaktionen – in den Entscheidungsgründen eine Verschriftlichung erfahren.188 Konkret bedeutet dies für die Tatgerichte, dass etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim vermuteten Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin seinen Niederschlag in den Entscheidungsgründen zu finden hat, sofern das Tatgericht daraus eben die Täterschaft des Angeklagten folgert, denn hier lässt sich nicht leugnen, dass jene nonverbale Reaktion tragend für die Entscheidung war. Das gilt freilich ebenso, wenn etwa aus einem „spontanen Stottern“ des einzigen (Belastungs-)Zeugen ein Mangel an Glaubhaftigkeit gefolgert wird oder die „abwertende (beleidigende) Geste“ des Angeklagten als relevantes Nachtatverhalten Anknüpfungspunkt für eine Strafschärfung ist.

185 Zu Recht weist Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 17 a. E. darauf hin, dass je schwächer ein Indiz sei, desto eher zu erwägen sei, ob auch andere Deutungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Nonverbale Verhaltensweisen werden häufig als ein „besonders schwaches Indiz“ einzustufen sein, und zwar gerade vermöge ihrer strukturellen Mehrdeutigkeit in Verbindung mit der mangelnden Vertrautheit der Kommunikationsbeziehung vor Gericht. Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 1. 186 Vgl. Kuckein/Bartel, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 267 StPO, Rn. 1; Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 267, Rn. 1, 5. Vgl. zum Gedanken der Selbstreflexion Velten, in: SKStPO, Vor § 261, Rn. 7. 187 Vgl. die Ausführungen unter Zweites Kapitel A. II. 188 Vgl. zu dem Gedanken, dass die Vorschrift des § 261 StPO zur Darlegung der tragenden Indizien und deren Würdigung in den Urteilsgründen verpflichtet: Güntge, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 17.

B. Freie Beweiswürdigung

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Daraus folgt indes nicht, dass die Tatgerichte nun angehalten seien, sämtliche – tragenden – nonverbalen Reaktionen der Verfahrensbeteiligten – namentlich jene des Angeklagten oder jene der Zeugen – in den Entscheidungsgründen nur „aufzulisten“, erforderlich ist weiterhin, dass anhand der Entscheidungsgründe der Vorgang der Überzeugungsbildung vom Revisionsgericht nachvollzogen werden kann.189 So hat in den Urteilsgründen eine Auseinandersetzung mit allen – konkret naheliegenden190 – Deutungsoptionen jener nonverbalen Reaktionen zu erfolgen, namentlich sind „für“ und „gegen“ den Angeklagten sprechende Deutungsoptionen zu erörtern.191 Konkret bedeutet das für das Tatgericht, dass jenes etwa beim „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten in den Urteilsgründen darzulegen hat, warum es dies als ein Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin deutet und weshalb andere Erklärungen nicht oder weniger wahrscheinlich seien. Das gilt etwa ebenso für ein „spontanes Erröten“ des (Entlastungs-)Zeugen oder ein „versonnenes Nicken“ des Angeklagten. Zieht das Tatgericht hieraus negative (oder positive) Schlüsse für den Angeklagten, so hat es darzulegen, warum es nicht der für den Angeklagten „günstigen“ („ungünstigen“) Deutungsoption folgt; ist das „versonnene Nicken“ als Zustimmung zu den Äußerungen des (Belastungs-)Zeugen – quasi als „Geständnis analog“ – zu begreifen oder ist jener in Gedanken „ganz wo anders“ und entsprechend zum „Nicken“ veranlasst gewesen.192 Es muss mithin aus den Urteilsgründen hervorgehen, dass sich das Tatgericht mit sämtlichen vernünftigerweise in Betracht kommenden – konkret naheliegenden – Deutungsoptionen „auseinandergesetzt“ hat.193 189

Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 267, Rn. 33 f. Nicht erforderlich ist indes, dass sämtliche – theoretisch denkbare – Deutungsoptionen erörtert werden. Vgl. ferner BGH, NStZ 1983, S. 357 (358); BGH, NStZ 2010, S. 102 (103); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 2. 191 Vgl. BGHSt 12, S. 311 (316) sowie Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 34. 192 Hierin bestand namentlich auch das von BGH, BeckRS 2019, S. 38149, Rn. 7 erkannte Plausibilitätsdefizit betreffend die Entscheidung des Landgerichts Schwerin; namentlich hätte das Landgericht andere Deutungsoptionen erörtern müssen. Vgl. insoweit das eingangs erwähnte Zitat unter Viertes Kapitel B. II. 1. c). Betreffend die konkreten tatgerichtlichen Darlegungspflichten besteht eine Vergleichbarkeit zu jenen bei der Auslegung mehrdeutiger – potenziell ehrverletzender – Äußerungen: Auch hier wäre es nach BVerfG, NJW 1995, S. 3303 (3305) rechtsfehlerhaft, „wenn ein [Tat-]Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung [nach § 185 StGB] führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen [und entsprechend dargelegt] zu haben“. Was betreffend potenziell ehrverletzender Äußerungen auch vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 1 GG geboten ist, folgt letztlich ebenso (bereits) aus § 261 StPO und denen sich daraus ergebenden Anforderungen an einen objektiv-rationalen Erkenntnisvorgang. Vgl. auch Sinn, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StGB, § 185, Rn. 10. 193 Vgl. instruktiv BGHSt 12, S. 311 (315 f.). Fehlt es an einer Erörterung konkret naheliegender (weiterer) Deutungsoptionen betreffend eine in Rede stehende nonverbale Reaktion – und ergibt sich dies bereits unmittelbar aus den Urteilsgründen (wie etwa in der obig zitierten Entscheidung BGH, BeckRS 2019, S. 38149) so ist diese Entscheidung des Tatgerichts revisionsrechtlich mit der Darstellungsrüge als Sachrüge angreifbar, denn hier fehlt es erkennbar an einer Ausschöpfung des Beweismittels und dies ist als sachlich rechtlicher Fehler zu qualifi190

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

bb) Einstellung nonverbaler Indizien in die Gesamtschau Daneben hat das Tatgericht nonverbale Verhaltensweisen – als einzelne Beweisergebnisse – nicht lediglich isoliert, sondern jene in einer Gesamtschau – aller Beweisergebnisse – erschöpfend zu würdigen.194 So wäre es etwa rechtsfehlerhaft, nonverbale Verhaltensweisen unter Verweis auf eine nur mögliche nicht aber zwingende Deutungsoption oder wegen Deutungsschwierigkeiten a priori auszuklammern.195 Diese sind als „Indizien“ vielmehr mit dem ihnen zukommenden Beweiswert in eine Gesamtwürdigung „einzustellen“.196 Dass hierbei Unsicherheiten „verbleiben“, das Tatgericht respektive der „falschen“ Deutungsoption folgen und jene in der Gesamtwürdigung „durchschlagen“ könnte, ist für den Einzelfall zwar bedauerlich, liegt aber in der Natur der Sache begründet. Die Überzeugungsbildung des Tatrichters ist schlicht nicht objektiv frei von Fehlern.

zieren. Vgl. BGH, NJW 2008, S. 2792 (2793); Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 208; Velten, in: SK-StPO, § 267, Rn. 34. Anders verhält es sich nur, wenn sich der Mangel an tatgerichtlicher Erörterung – einer nonverbalen Reaktion – nicht aus den Urteilsgründen selbst ergibt, sondern jener seine Grundlage in Umständen außerhalb des Urteils – etwa im Protokoll – hat. Hier ist revisionsrechtlich mit der Inbegriffsrüge als Verfahrensrüge zu beanstanden, dass das Tatgericht das in die Hauptverhandlung („laut“ Protokoll) eingeführte Beweismaterial nicht erschöpfend gewürdigt hat. Denkbar wäre insoweit zwar, dass anlässlich der Darstellung der „wesentlichen Ergebnisse“ einer Vernehmung nach § 273 Abs. 2 Satz 1 StPO auch „interessante“ nonverbale Reaktionen, etwa des Angeklagten, (mit-)protokolliert werden. Nur ist die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO auf die Feststellung beschränkt, dass die Vernehmung stattgefunden hat. Für den Inhalt nach § 273 Abs. 2 Satz 1 StPO ist es gerade nicht beweiskräftig; hier ist das Rekonstruktionsverbot für das Revisionsgericht vorrangig. Vgl. BGHSt 38, S. 14 (16); Greger, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 273, Rn. 19; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 273, Rn. 17. Gegenläufig verhält es sich indes, wenn eine nonverbale Reaktion – etwa ein „spontanes Erröten“ – des Angeklagten (Zeugen oder Zuschauers) als ein „Vorgang der Hauptverhandlung“ nach § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO protokolliert wird, denn mit der Protokollierung nach Abs. 3 lässt sich gerade der Gegenbeweis gegen die Urteilsgründe führen. Vgl. BGHSt 38, S. 14 (16); Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO, § 273, Rn. 36 und § 274, Rn. 10. Die letztere Konstellation erscheint für die Praxis denkbar, namentlich, dass eine nonverbale Reaktion besondere Bedeutung für die Beweiswürdigung vermuten lässt und daher die Protokollierungsvoraussetzung des Abs. 3 – „Kommt es auf die Feststellung […] an.“ – erfüllt. Auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/SchmittStPO, § 273, Rn. 19 und Greger, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 273, Rn. 21 sprechen in expressis verbis bei „Erröten, Erbleichen, Mimik, Gestik“ beziehungsweise „Mimik“ von Vorgängen im Rahmen der Hauptverhandlung im Sinne des § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO. 194 Vgl. BGH, NJW 1980, S. 2423; BGH, NStZ 2010, S. 102 (103); BGH, NStZ 2001, S. 491 (492); BGH, StV 1994, S. 6; Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 60; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 15; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 29, Rn. 4. 195 Vgl. BGH, NStZ 1983, S. 357 (358); BGH, StV 1994, S. 6; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 34. Vgl. ferner BGHSt 44, S. 153 (159 f.). 196 Vgl. Miebach, in: MüKo-StPO, § 261, Rn. 95; Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 15.

B. Freie Beweiswürdigung

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cc) Nonverbale Verhaltensweisen und der Grundsatz des „in dubio pro reo“ Das bedeutet aber ebenso wenig, dass nun bei jeder nonverbalen Verhaltensweise – als einzelnem Beweisergebnis – seitens des Tatgerichts stets der „tätergünstigsten“ Deutungsoption zu folgen wäre. Richtigerweise findet der in dubio pro reo-Grundsatz erst „dort“ Anwendung, wo das Tatgericht nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung – non liquet – vom Vorliegen einer unmittelbar entscheidungsrelevanten Tatsache gewinnen konnte.197 „Ausreichend“ ist, dass das Tatgericht – wenn auch im Einzelfall zu einer unwahrscheinlichen198 – jedenfalls zu einer plausiblen Deutung jener nonverbalen Verhaltensweisen gelangt, welche sodann in den Urteilsgründen zum Ausdruck zu kommen hat. 2. Ausgesuchte „Fehlertypen“ bei der Würdigung nonverbaler Verhaltensweisen als Methodendefizite Ferner muss der Vorgang der tatrichterlichen Überzeugungsbildung frei von methodischen Fehlern sein, respektive darf darin kein Verstoß gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Naturgesetze enthalten sein.199 So wäre es etwa fehlerhaft, in einem „spontanen Erröten“ des Angeklagten stets ein Schuldeingeständnis betreffend die angeklagte Tat zu erblicken, da ein solcher Erfahrungssatz schlicht nicht existent ist. Das Revisionsgericht prüft hier anhand der Urteilsgründe,200 ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts methodische Fehler aufweist.201 a) Verstoß gegen Denkgesetze Ein Verstoß gegen Denkgesetze oder die Gesetze der Logik liegt vor, wenn der die Überzeugungsbildung stützende Argumentationsgang des Tatgerichts bereits aus formalen Gründen falsch ist.202 Das betrifft Widersprüche, Zirkelschlüsse und rein gedanklich bereits unmögliche Schlussfolgerungen.203 Bei der Deutung nonverbaler 197

Vgl. Güntge, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 53 sowie Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 85. 198 Nur weil eine Deutungsannahme im Einzelfall höchst unwahrscheinlich ist, ist sie noch nicht rechtsfehlerhaft. Vgl. hierzu abstrakt BGH, NStZ 2001, S. 491 (492). 199 Vgl. BGH, NStZ 2010, S. 102 (103); Miebach, in: MüKo-StPO, § 261, Rn. 95; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45, Rn. 49 f.; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier-StPO, § 261, Rn. 19; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 40 ff.; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 28, Rn. 2. 200 Und gegebenenfalls unter Heranziehung des Sitzungsprotokolls, wobei jenes eher weniger methodische Fehler zu offenbaren geeignet ist. 201 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 40. 202 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 41. 203 Vgl. Ott, in: Karlsruher-Kommentar-StPO, § 261, Rn. 8 („Pflicht zur Rationalität der Gedankenführung“) sowie Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 19; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 41; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 29, Rn. 2.

264

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Verhaltensweisen besteht ein gesteigertes Risiko, dass die (deutenden) Tatgerichte einem Logikfehler der Kategorie der sogenannten Repräsentativitätsheuristik unterliegen.204 Hat ein Tatgericht etwa „für sich“ den allgemeinen Erfahrungssatz festgestellt, dass in Fällen, in denen eine Falschaussage bekannt wurde, der Zeuge zuvor in seiner Vernehmung „spontan errötete“, so liegt es nahe, dass dasselbe Tatgericht vermöge eines argumentum e contrario aus einem „spontanen Erröten“ in anderen Fällen eine geminderte Glaubhaftigkeit folgern könnte. Tatsächlich handelte es sich aber um einen falschen Umkehrschluss. So mag zwar das „Erröten“ typisch für eine „Lüge“ sein, es kann aber jedenfalls nicht in einem Umkehrschluss als diagnostisch angesehen werden, denn dies ließe unbeachtet, dass ein „Erröten“ außerhalb von „Lügen“ viel häufiger (aus anderen Gründen) vorkommt. Gerade vermöge der (obig beschriebenen) besonderen Intuitivität der Deutung nonverbaler Verhaltensweisen besteht zudem das Risiko sogenannter Rückschaufehler,205 namentlich, dass sich das Tatgericht vom vermuteten Ergebnis der Beweiswürdigung schon im Rahmen der Deutung der einzelnen nonverbalen Verhaltensweise unterbewusst lenken lässt. Mit anderen Worten: Ist die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage „erschüttert“, so wirkt ein „spontanes Erröten“ des Zeugen noch weit „verdächtiger“, obwohl dieser Zusammenhang entsprechend den Gesetzen der Logik nicht besteht. Während sich Fehler der Kategorie der sogenannten Repräsentativitätsheuristik regelmäßig in den Entscheidungsgründen offenbaren dürften, wird dies im Falle sogenannter Rückschaufehler regelmäßig nicht der Fall sein. b) Verstoß gegen wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze und Naturgesetze Daneben ist das Tatgericht an wissenschaftlich belegte Erfahrungssätze206 und Naturgesetzlichkeiten207 gebunden, namentlich endet die Freiheit der Beweiswürdigung dort, „wo“ jene bestehen.208

204

Vgl. zu dieser Fallgruppe Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 15a. Vgl. zu dieser Fallgruppe Velten, in: SK-StPO, Vor § 261, Rn. 15a. 206 Erfahrungssätze sind statistisch belegbare Relationen zwischen zwei Ergebnissen oder Eigenschaften und Ereignissen. Diese können wissenschaftlich belegt sein oder nur die Erfahrungen eines einzelnen Individuums betreffen. Vgl. hierzu Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42. 207 Naturgesetze beschreiben Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen oder Eigenschaften und Ereignissen. Vgl. hierzu Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42. 208 Vgl. BGHSt 10, S. 208 (211); Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 20. Das gilt auch, wenn das Tatgericht den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht selbst nachvollziehen kann. 205

B. Freie Beweiswürdigung

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aa) Der einem wissenschaftlich gesicherten Erfahrungssatz zuwiderlaufende Schluss Es ist methodisch fehlerhaft, einen Schluss zu ziehen, welcher einem wissenschaftlichen Erfahrungssatz zuwiderläuft,209 sofern jene wissenschaftliche Erkenntnis unangefochten und gesichert ist210 und ihr damit eine jeden Gegenbeweis ausschließende Beweiskraft zukommt.211 So etwa, wenn das Tatgericht aus einem „spontanen Erröten“ des Zeugen den Schluss mangelnder Glaubhaftigkeit zöge, gleichzeitig aber ein gegenläufiger wissenschaftlich unangefochtener Erfahrungssatz existent wäre, der besagte, dass ein Zusammenhang zwischen „Erröten“ und mangelnder Glaubhaftigkeit (in jeder Situation) zwingend ausgeschlossen sei. Bereits an dieser Stelle kann festgestellt werden, dass insoweit ein wissenschaftlicher Erfahrungssatz nicht besteht und das ist nahezu paradigmisch für die Deutung nonverbaler Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit. Freilich existieren – wie im Ersten Kapitel gezeigt212 – etwa wissenschaftlich belegte Zusammenhänge zwischen mimischen Ausdruckserscheinungen und Emotionszuständen (etwa der „Erschrockenheit“) und so auch betreffend andere nonverbale Reaktionen,213 welche insoweit bindend sind.214 Nur ist die – für das Tatgericht relevante – „nächste (Deutungs-)Ebene“, etwa die Schlussziehung von der „plötzlichen Erschrockenheit“ des Angeklagten auf das Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin, in der Regel nicht wissenschaftlich belegt, sodass folglich ein geringer „Anwendungsbereich“ möglicher entgegenstehender wissenschaftlich belegter Erfahrungssätze besteht.215 Mit anderen Worten: Es werden sich kaum Konstellationen ergeben, in denen die tatgerichtliche Deutung einer nonverbalen Verhaltensweise – etwa eines „erschrockenen Gesichtsausdrucks“ – anhand eines wissenschaftlich belegten Erfahrungssatzes verläuft, geschweige denn jenem zuwiderlaufen könnte, weil entsprechende Deutungsannahmen regelmäßig eben nur auf persönlichen (nicht wissenschaftlich gesicherten) Erfahrungssätzen beruhen. Es existiert etwa bei einem „spontanen Erröten“ nun mal weder eine zwingende Deutungsannahme noch eine bezifferbare Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Deutungsannahme.

209

Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42. Vgl. BGHSt 29, S. 18 (21); Sander, in: Löwe/Rosenberg-StPO, § 261, Rn. 51 f.; Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 20; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt-StPO, § 261, Rn. 2. 211 Vgl. BGHSt 10, S. 208 (211). 212 Vgl. die Ausführungen unter Erstes Kapitel B. III. 213 Namentlich existieren etwa umfassende Untersuchungen, wonach bestimmte mimische Ausdruckserscheinungen bestimmte Emotionszustände abbilden. 214 Das Tatgericht kann mithin nicht etwa die mimische Ausdruckserscheinung der „Erschrockenheit“ als „Freude“ deuten, weil insoweit eben ein wissenschaftlich belegter – gegenläufiger – Zusammenhang besteht. 215 Es gibt – erwartungsgemäß – schlicht keine empirischen Untersuchungen, in wie vielen Fällen etwa der „erschrockene Gesichtsausdruck“ eines Angeklagten in Zusammenhang mit einem „Wiedererkennen einer anderen Person“ steht (und das wäre auch nicht sachdienlich). 210

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

bb) Exkurs: Nonverbale Verhaltensweisen im Bereich der „Glaubhaftigkeitsdiagnostik“ Für die Konstellation der tatgerichtlichen Deutung nonverbaler Verhaltensweisen als sogenannte „Lügensymptome“ scheint eine gesonderte Betrachtung indiziert. Die Judikatur216 und Teile des (juristischen) Schrifttums217 erblicken in jenen nonverbalen Verhaltensweisen – neben der allgemeinen Relevanz für die Beweiswürdigung – respektive eine solche für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung. So formulierte der Bundesgerichtshof im Jahre 2000 etwa das Folgende: „Vielmehr kann der Eindruck, den ein möglicher Entlastungszeuge bei seiner Vernehmung – verbal durch seine Aussage und nonverbal durch sein Auftreten – vermittelt, für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage und damit mittelbar für die Beurteilung der Schuldfrage von Bedeutung sein.“218

Die Annahme eines derartigen Zusammenhangs nonverbaler Verhaltensweisen mit der Erkennung von „Lügen“ lag ferner den Erwägungen des Bundesgesetzgebers219 zugrunde, welcher anlässlich der Einführung des § 176 Abs. 2 GVG in ex216

BGHSt 45, S. 354 (360); BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205). In BGHSt 5, S. 354 (356) heißt es: „[So können] Umstände, wie z. B. der äußere Eindruck, das Erbleichen oder Erröten, das Mienenspiel oder die Gebärden eines Angeklagten oder Zeugen, gelegentlich für die Entscheidung über Wahrheit oder Unwahrheit von Tatsachen von Bedeutung sein.“ In BGHSt 35, S. 164 (167) heißt es sodann unter Verweis auf Fezer, NStZ 1987, S. 335 (336): „Die Beurteilung der Aussage [des Angeklagten oder Zeugen] hängt nicht allein von ihrem Inhalt und der akustisch wahrnehmbaren Art und Weise ihrer Formulierungen ab.“ Mit „Beurteilung“ dürfte hier ersichtlich jene der Glaubhaftigkeit gemeint sein. 217 Eb. Schmidt, JZ 1970, S. 337 (340). Ferner heißt es bei Schorn, JR 1954, S. 298 (299): „Die Glaubwürdigkeit von Zeugen, namentlich von Kindern, wird durch die Art ihrer Aussagen, durch das persönliche Kennenlernen der Zeugen vor Gericht und durch ihr Reagieren auf richterliche Fragen wesentlich beeinflußt.“ In diese Richtung auch Wimmer, JZ 1953, S. 671 (672), der von einer „wichtige[n] Rolle für die Glaubwürdigkeit“ spricht. Dagegen Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1458 ff. 218 BGH, NJW 2000, S. 1204 (1205). 219 BT-Drs. 19/14747, S. 44. So heißt es wörtlich: „Im Rahmen der Beweiswürdigung kann es ebenfalls darauf ankommen, den Gesichtsausdruck eines Verfahrensbeteiligten zur Bewertung und gegebenenfalls Interpretation seiner Aussage heranzuziehen. Auch hierfür ist ein unverhülltes Gesicht die Voraussetzung. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person und damit verbunden auch der Glaubhaftigkeit einer Tatsachenbehauptung ist insbesondere dann, wenn die Person ihr Gesicht gänzlich verhüllt, nicht zuverlässig möglich. Die offene, auch nonverbale Kommunikation ist zudem ein zentrales Element von Gerichtsverhandlungen.“ Interessant ist sodann, dass der Gesetzeswortlaut der österreichischen Strafprozessordnung das Mienenspiel des Zeugen in direkten Zusammenhang mit dessen Glaubwürdigkeitsbeurteilung setzt. Vgl. § 162 öStPO: „Ist auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten, dass der Zeuge sich oder einen Dritten durch die Bekanntgabe des Namens und anderer Angaben zur Person (§ 161 Abs. 1) oder durch Beantwortung von Fragen, die Rückschlüsse darauf zulassen, einer ernsten Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit aussetzen würde, so kann ihm gestattet werden, solche Fragen nicht zu beantworten. In diesem Fall ist auch zulässig, dass der Zeuge seine äußere Erscheinung derart verändert, dass er nicht wiedererkannt werden kann. Es ist ihm jedoch nicht gestattet, sein Gesicht derart zu verhüllen, dass

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pressis verbis auf die Bedeutung der „nonverbale[n] Kommunikation“ für die Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung220 verwies und für den Fall einer Gesichtsverhüllung entsprechende Einschränkungen jener befürchtete. Diese apodiktische Annahme einer Korrelation zwischen nonverbalen Reaktionen und mangelnder Glaubhaftigkeit einer Aussage sei „auf die Probe gestellt“; respektive bietet sie Anlass, einen kursorischen Blick auf die einschlägigen wissenschaftlichen – empirischen221 – Erkenntnisse zu wagen und näher zu betrachten, inwieweit nonverbales Verhalten – etwa ein „häufiges Blinzeln“ des Zeugen – tatsächlich mit einer „Lüge“ korreliert.222 (1) Zur Entstehung der tradierten Korrelationsannahme in der juristischen Praxis Diese in der Judikatur bis dato tradierte Annahme einer Korrelation zwischen nonverbalen Verhaltensweisen und fehlender Glaubhaftigkeit vermag zwar ihrem Ursprunge nach nicht klar verortet zu werden, steht aber im Einklang mit den „Untersuchungsergebnissen“ eines – sich im deutschen Rechtsraume ab dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten – juristisch-praktischen Schrifttums.223 Neben den frühen Ansätzen von Mittermaier224 sind hier zunächst die – für jene Zeit „höchst respektablen“ – „Praxisberichte“ von Leonhardt225, einem Landgesein Mienenspiel nicht soweit wahrgenommen werden kann, als dies für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit seiner Aussage unerlässlich ist.“ 220 Vgl. Viertes Kapitel B., Fn. 100. 221 Vgl. für eine erste Übersicht denkbarer – beziehungsweise untersuchter – nonverbaler Verhaltensweisen schon an dieser Stelle die sehr übersichtliche Darstellung bei Sporer/ Köhnken, in: Volbert/Steller [Hrsg.], Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (355, 358). 222 Schon hier sei konstatiert, dass eine Deutung nonverbaler Verhaltensweisen als „Lügensymptom“ – das „Ob“ der Deutung – sich für die Tatgerichte nur dort verböte, wo eine wissenschaftlich belegte und gefestigte Erkenntnis bestünde, welche besagte, dass eine Korrelation zwischen nonverbalen Reaktionen und „Lügen“ stets zwingend ausgeschlossen sei. Daneben harrt die Darstellung der Gewährung von Implikationen betreffend den Beweiswert – das „Wie“ der Deutung – jener nonverbalen Reaktionen in Bezug auf etwaige „Lügensymptome“. 223 Hier sind im Wesentlichen zwei „Entwicklungslinien“ erkennbar: Zum einen die juristisch-praktischen Erkenntnisse (eben von „Praktikern“ wie etwa Richtern) und zum anderen die aussagepsychologischen Forschungen (eben von Psychologen). Vgl. hierzu und zu der noch folgenden Darstellung auch L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 59. 224 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Deutschen Strafprozeß, S. 314, 347. So heißt es etwa: „Unfehlbar wird ein Zeuge, der durch die Ruhe seines Benehmens, durch die Unbefangenheit, mit welcher er auf jede Frage antwortet, durch die Gleichförmigkeit der Angaben und die Klarheit der Aussagen beweisst, dass das Zeugniss das Produkt der sorgfältigen Beobachtung und der reinsten Wahrheitsliebe ist, eines höheren Grades von Glaubwürdigkeit sich erfreuen, als ein Zeuge, der entweder durch die Heftigkeit und Leidenschaft seines Benehmens, die Besorgniss erweckt, dass er nicht unpartheiisch ist, oder der durch die Heftigkeit, mit der er die einmal eingelernte Aussage ablegt, zeigt, dass er fremder Eingebung folgte, oder welcher durch sein beständiges Schwanken in den Aussagen, oder durch seine Verlegenheit beweisst, dass er entweder noch gehörig beobachtet habe, oder dass er nicht treu Alles, was er weiss, aussagen wolle.“

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

richtsdirektor, zu nennen, welcher ab dem Jahre 1931 die Entstehungsursachen für nonverbale Reaktionen von Aussagepersonen im Grundsatze in bestimmten Gefühlen erblickte:226 „Erlebnisgefühle“, „Grundgefühle (Unschuld-, Wahrheit- und Lügengefühl)“ und, für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung unbeachtliche, „Vorgangskonnexgefühle“, „Nebengefühle“ sowie „Sondergefühle“.227 So deuteten etwa ein „lebendiges Mienenspiel“ und „verdeutlichende Gesten“ symptomatisch auf einen gefühlsmäßigen Nachklang des tatsächlich Erlebten – „Erlebnisgefühl“ – hin, was für die Glaubhaftigkeit der Aussageperson spräche.228 Wenn die Aussageperson die Wahrheit spricht – „Unschulds- und Wahrheitsgefühl“ – so äußere sich dies in einem „freimütigen Wesen“; symptomatisch sei hier ein „offener Blick“, eine „lebhafte Sprechweise“, „ablehnende Gesten gegenüber dem Tatvorwurf“ sowie eine „laute Stimme“.229 Demgegenüber seien die klassischen Symptome einer Lüge – „Lügengefühl“ – etwa in einer „stotternden Sprechweise“, einer „ausdruckslosen Mimik“ oder einem „wechselhaften Erröten“ zu erblicken.230 Wenngleich auch Leonhardt unterschiedliche Entstehungsgründe für ein und dieselbe nonverbale Reaktion anerkennt, so sei es doch möglich, durch geschickte vernehmungstechnische Maßnahmen231 den richtigen Entstehungsgrund zu ermitteln und so zu einer hohen Wahrscheinlichkeit bei der „Lügenerkennung“ zu gelangen.232 Einen anderen Ansatz präsentiert Bahrs233, wonach der „Lügner“ nicht anhand einzelner Symptome – wie etwa einem „Erröten“ – erkennbar sei, sondern jener durch die Manipu225 Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1934, S. 114 ff.; ders., Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1931, S. 140 ff.; ders., Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1934, S. 96 ff.; ders., Zeitschrift für angewandte Psychologie 1934, S. 358 ff. 226 Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1934, S. 114 (115 f.). 227 Daneben kämen nach Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1934, S. 114 (116) als Entstehungsursachen für nonverbale Reaktionen namentlich die „physische Eigenart“, ein „besonderer körperlicher oder psychischer Zustand“ oder eine „Symptomfälschung“ in Betracht. 228 Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1931, S. 140 (148 f.). 229 Leonhardt, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1934, S. 96 (113); ders., Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1931, S. 140 (146 f.). 230 Leonhardt, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1934, S. 96 (113). Vgl. zudem ergänzend die umfassende Aufzählung sämtlicher – von Leonhardt angenommener – „Symptome“ bei L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 72. 231 Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1931, S. 140 (142 f.). Genannt sei etwa der „planmäßige Wechsel des Vernehmungsgegenstandes“, um zu ermitteln, ob die nonverbale Verhaltensweise möglicherweise auf einem „besonderen körperlichen oder psychischen Zustand“ beruht. In der Gesamtheit stellt sich die „Untersuchung“ Leonhardts eher als „Leitfanden für den Vernehmenden“ dar. 232 Leonhardt, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1934, S. 358 (390 ff., insbesondere 392). Dies ebenso (kritisch) bemerkend L. Schneider, Nonverbale Selbstbelastungen gegen sich selbst, S. 74 ff. [Fn. 106]. 233 Bahrs, Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis, S. 105, 77 f.

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lationsversuche seines äußeren Verhaltens entlarvt werden könne. In dem Bestreben ein möglichst glaubhaftes Szenario zu präsentieren, neige der Lügende zu Über- und Untertreibungen, welche sich etwa in Gestalt „ausladender Gesten“, „eindrucksvoller Stimmgebung (sehr laut oder sehr leise)“ oder „betonter Gebärden“ entäußerten.234 Da eine kurzzeitige „Manipulation“ weit leichter fiele, als das konsequente Aufrechterhalten jener, habe der Vernehmende nach einem „Rückfall“ in den gewöhnlichen habitus seiner selbst zu „fahnden“.235 Auch Bender/Nack236 lieferten im Jahre 1995 eine zusammenfassende Darstellung sogenannter „Zehn Warnsymptome der Körpersprache“. Jene verzichteten zwar (bewusst) auf die Firmierung jener als „Lügensymptome“ und mahnten zugleich zur Vorsicht, indes sei etwa im „Farbwechsel des Gesichts“, „Veränderung der Stimmlage“ sowie der „Pupillenerweiterung“ (möglicherweise) ein Indiz für Täuschung zu erblicken.237 In der Gesamtheit hat(te) sich hier eine Auffassung etabliert,238 die auf den „praktischen Erfahrungen“ von Juristen fußte, wonach – gewisse Unsicherheiten en passant anerkennend – spezifische nonverbale Reaktionen oder deren Veränderungen mit mangelnder Glaubhaftigkeit korrelierten; und jene scheint sich in der heutigen Judikatur eben nonchalant „verfestigt zu haben“, obgleich sich in jenem Schrifttum – respektive bei Bender/Nack/Treuer239 – (mittlerweile) eine „Überholtheit“ jener Auffassung andeutet. (2) Die Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Aussagepsychologie Partiell parallel zu jenen – de facto unbrauchbaren – „Erfahrungen“ in der juristischen Praxis hat sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein umfassender 234

Bahrs, Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis, S. 76 ff. Bahrs, Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis, S. 79. So heißt es: „[Es ist] im Gebiet der allgemeinen Verstellung leichter, sich zu einmaligen Gebärden, Mienen, Stimmgebungen, Blicken zu verstellen, als zu wiederkehrenden und dauernden.“ 236 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 209 ff. sowie 205 ff. 237 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 206, 209 f., 211. 238 In diesem Sinne auch Graßberger, Psychologie des Strafverfahrens, S. 131 f., welcher in der „Straffung der Halsmuskulatur“ sowie der „Arhythmie der Atmung“ jeweils „verräterische Anzeichen“, namentlich Symptome einer Lüge, zu erblicken gedenkt. Jener verweist aber ferner darauf, dass aus der so geäußerten Erregung keinesfalls generell der Rückschluss der Unwahrheit der Aussage gezogen werden könne. Für jene Erregung könne vielmehr auch die Aussagesituation vor Gericht ursächlich sein, weshalb es für die Vernehmung ratsam sei, „aus der Umwelt entspringende Quellen der Erregung“ auszuschalten. Eine überaus umfangreiche Darstellung sämtlicher Untersuchungen findet sich bei L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 59 ff., welche sich dem Verfasser als Ausgangspunkt anboten. 239 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellungen vor Gericht, Rn. 224, 227. So heißt es: „Schlicht fehlgeschlagen kann man nach derzeitigem Stand der Wissenschaft den Versuch betrachten, die Körpersprache unter forensischen Umständen für die Lügendetektion nutzbar zu machen: Es gibt sie eben nicht, die Nase des Pinocchio.“ Jene wollen – nunmehr – „nur noch“ in Veränderungen im nonverbalen Verhalten ein „Warnsignal“ erkennen, welches Anlass gäbe, „über die Ursachen dieser Veränderung nachzudenken“. 235

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Forschungsstand im Bereich der wissenschaftlichen Aussagepsychologie entwickelt. Zweifellos wird man Undeutsch240 als einen „Wegbereiter“241 jener aussagepsychologischen Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbegutachtung anzusehen haben, welcher zwar die „[Analyse der] Aussage selbst“ – also deren Inhalt – als den primären Anknüpfungspunkt zur Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage begreift,242 zumindest sekundär aber auch „[nonverbalen] Ausdruckserscheinungen“ eine Indizwirkung zuspricht.243 Wenngleich Undeutsch der Existenz von „Lügensymptomen“ a priori widerspricht, konstatiert jener dennoch, dass die „Lüge“ regelmäßig in einen Zustand der „Unsicherheit“, „[gestischen] Anspannung“ oder ein Moment der „Verstellungsabsicht“ eingebettet sei.244 Grundsätzlich korrelierten „Spannungserscheinungen“ mit bewusster Unwahrheit, während „Gelöstheits- und Lockerheitserscheinungen“ mit wahrheitskonformer Darstellung in Verbindung stünden.245 Ferner stellt auch Undeutsch – Bezug nehmend auf Nietzsches Zitat aus der Einleitenden Vorrede246 – auf das „Verstellen der Ausdruckserscheinungen“ seitens des Lügenden ab und darauf, dass jenes eben regelmäßig nur unvollständig gelänge, namentlich jener „mit dem Maule […] doch noch die Wahrheit [sage]“.247 Respektive sei eine „Verstellung“ des gefühlsgetragenen vokalen nonverbalen Verhaltens – wie etwa die Stimmhöhe – nur besonders schwer möglich, sodass etwa in einer „gepressten Stimme“, „besonders gleichmäßiger Tonhöhe und Lautstärke“ oder einem „farblosen und matten [Stimm-]Klang“ Indizien für eine unwahre Aussage zu erblicken seien, wohingegen eine „kräftige Stimme“ sowie eine „freie, 240 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 ff.; ders., in: Kube/Störzer/Brugger (Hrsg.), Wissenschaftliche Kriminalistik – Grundlagen und Perspektiven (Teilband 1), S. 389 ff. 241 Köhnken, Sprechverhalten und Glaubwürdigkeit, S. 45. So – auf Köhnken Bezug nehmend – auch L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 102. 242 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (125). So ist die inhaltliche Analyse der Aussage auch heute noch der absolute Schwerpunkt im Rahmen einer Glaubhaftigkeitsbeurteilung. Vgl. insoweit etwa BGH, StV 2013, S. 8 (9, insbesondere Leitsatz) sowie BGH, NStZ 2012, S. 110 (111) und hierzu im Schrifttum: Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S. 67 ff.; S. Niehaus, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 311 ff.; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 34d f. Dass dies hier nicht näher ausgeführt wird, ist dem Thema dieser Abhandlung geschuldet. 243 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (117). 244 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (117). 245 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (117). 246 Vgl. Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (118). 247 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (118).

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ungezwungene Sprechweise“ für eine wahre Aussage sprächen.248 Schließlich sei auch eine Disharmonie zwischen dem „Gefühlsausdruck [und] dem jeweiligen Inhalt der Erzählung“ Indiz für eine unwahre Aussage, dagegen spräche eine „ungesteuert[e], lebhaft[e]“ Erzählung für eine wahre Aussage.249 Demgegenüber stellt Arntzen250 weniger auf einzelne „(Lügen-)Symptome“, denn übergeordnet auf eine „Gefühlsbeteiligung“ als relevantes Glaubhaftigkeitskriterium ab. So ließen verschiedenartig – in der Mimik – zum Ausdruck kommende Gefühle die „Erlebnisbasis der Aussage“ erkennen.251 Es wird – ähnlich wie bereits bei Leonhardt252 – auf ein „gefühlsmäßiges Nachempfinden (emotionales Nacherleben)“ des Erlebten abgestellt (etwa „Überraschung“, „panische[r] Schrecken“ oder „Verzweiflung“).253 Im Falle eines fehlenden Erlebnisbezugs sei es indes nahezu unmöglich, ein derartiges „Nachempfinden“ künstlich vorzuspiegeln, respektive könne dies nicht konstant aufrechterhalten werden, sodass hier eher kurzzeitige „übersteigerte Gefühlsausdrücke“ aufträten, die wiederum eine „Verstellungsabsicht“ erkennen ließen.254 Gleichwohl gibt Arntzen zu bedenken, dass stets das Ausdrucksnaturell und die Gesamtpersönlichkeit der Aussagenden zu berücksichtigen sei,255 namentlich viele Zeugen per se nahezu keine nonverbalen „Begleitumstände“ zeigten (bei der psychologischen Exploration sei dies etwa nur bei zehn Prozent der Zeugen bemerkt worden)256 und das Kriterium daher nur sehr eingeschränkt als solches zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung geeignet sei.257 Weitaus valider sei indes das Kriterium einer „ungesteuerten Aussageweise“, also einer „lebhaft-impulsiv[en]“, „empathisch[en] und „gelöste[en]“ Darstellungsweise des Zeugen, welche von „regen mimischen […] auch […] pantomimischen Ausdruckserscheinungen“ und dem „unwillkürlichen [gestischen] Demonstrieren“ von Abläufen geprägt sei.258 Der aussagepsychologische – für eine Glaubhaftigkeit streitende – Beweiswert läge darin begründet, dass jene Aussageweise mit einer „innere[n] Vorbehaltlosigkeit“ korreliere, die nicht zuließe, dass der Zeuge eine Auswahl zwischen „Erlebnis- und Nichterlebnisinhalten“ träfe; der Aussagende 248 Undeutsch, in: Gottschaldt/Lersch/Sander/Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Band 11), S. 26 (118). 249 Undeutsch, in: Kube/Störzer/Brugger (Hrsg.), Wissenschaftliche Kriminalistik – Grundlagen und Perspektiven (Teilband 1), S. 389 (399). 250 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 68 ff. sowie bereits im Jahre 1970 ders., Psychologie der Zeugenaussage [1. Auflage 1970], S. 105 ff. 251 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 68. 252 Leonhardt, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1931, S. 140 (148 f.). 253 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 68. 254 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 68 f. 255 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 69. 256 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 70. 257 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 70. 258 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 70.

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

kontrolliere insoweit nicht – mittelbar –, was vorgebracht wird, sondern greife unkontrolliert – unmittelbar – auf „erlebnisfundierte Erinnerungen“ zurück.259 Obgleich Arntzen auf mögliche Fehlerquellen260 und gewisse Schwierigkeiten261 verweist, sei – gerade in Verbindung mit anderen (inhaltlichen) Glaubhaftigkeitskriterien – von einer erheblichen Bedeutung für die forensisch-psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung auszugehen.262 Wie die Arbeiten von Undeutsch und Arntzen nahezulegen vermochten, ist innerhalb der wissenschaftlichen Aussagepsychologie tatsächlich ebenso die Auffassung263 vorherrschend, dass nonverbale Verhaltensweisen – in begrenztem Maße – mit fehlender Glaubhaftigkeit von (Angeklagten- oder Zeugen-)Aussagen korrelierten. Während hier erwartungsgemäß weit deutlicher auf Unsicherheiten in der Deutung verwiesen, zur Vorsicht „gemahnt“ und weniger an einzelne nonverbale Signale angeknüpft wird,264 scheint es eher der nonverbale Gesamteindruck zu sein, auf den es – ergänzend (neben der weit relevanteren „Inhaltsanalyse“ von Aussagen) – bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ankäme. (3) Zu den Erkenntnissen neuerer empirischer Untersuchungen Diese „Tendenz zur Vorsicht“ scheint vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen noch weit mehr geboten, als dies in der aktuellen Judikatur – obgleich des „Restriktivitätsgebotes“265 – zum Ausdruck kommt, so vermögen jene (vielleicht) „Unerwartetes“ – jedenfalls „Bedenkliches“ – zu befördern. Der Beginn der experimentellen – empirischen – Forschung zur verhaltensorientierten Glaubhaftigkeitsbegutachtung dürfte in den Theorien von Ekman/Frie-

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Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 72 f. So sei etwa zu beachten, dass in Gerichtsverhandlungen – vermöge einer stets gewissen „angespannten Atmosphäre“ – ohnehin schon viel seltener eine „ungesteuerte – lockere – Aussageweise“ vorkommt, als dies ansonsten der Fall wäre. Vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 73. 261 Auch seien hier „wieder“ Ausdrucksnaturell und Gesamtpersönlichkeit zu beachten: So neigten etwa überdurchschnittlich intelligente oder besonders schüchterne Personen zu einer ohnehin geringeren „ungesteuerten Aussageweise“. Vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 74. 262 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 75. Jener verweist auf Folgendes: „So wurde das Merkmal der Ungesteuertheit in 100 bestätigten Aussagen bei uns 28 mal, in 74 als falsch erwiesenen Aussagen nur 3 mal angetroffen.“ 263 Vgl. ferner auch Mönkemöller, Psychologie und Psychopathologie der Aussage, S. 330. So sei gerade bei Kindern und Jugendlichen die „Unruhe in den Extremitäten“, das „Zwinkern mit den Augen“, die „Unsicherheit der Sprache“ sowie der „Wechsel der Gesichtsfarbe“ als verdächtiges – „Lüge“ indizierendes – Verhalten zu qualifizieren, wobei jener zugleich betont, dass es sich um „sehr unsichere“ Kriterien handle. 264 Anders war dies zunächst seitens des „juristisch-praktischen Schrifttums“ vertreten worden. Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (1). 265 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. b). 260

B. Freie Beweiswürdigung

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sen266 zu erblicken sein, wonach sich die „Lüge“ – ausgehend von einer unterstellten „Emotionsbezogenheit“ der Lügendetektion – anhand sogenannter „Täuschungs-“ und „Durchsickerungsanzeichen“ offenbare(n) (könne).267 Dabei geht es letztlich gar nicht um die Erkennung eines spezifischen „Lügensymptoms“, sondern vielmehr um die Aufdeckung „echter“ beziehungsweise „unechter (also vorgespielter)“ Emotionen durch Beobachtung nonverbaler Reaktionen – respektive sogenannter „micro facial expressions“ – beim Aussagenden.268 „Darauf aufbauende“ – primäre269 – empirische (Einzel-)Untersuchungen ab dem Jahre 1970, welche die Auftretenshäufigkeit bestimmter nonverbaler Reaktionen – etwa „vermehrten Blinzelns“ – bei wahren und unwahren Aussagen gegenüberstellten und so nach „Täuschungsanzeichen“ fahndeten, vermochten zunächst indes lediglich äußerst inkonsistente Befunde zu liefern.270 So berichteten etwa Cutrow/Parks/Lucas/Thomas271 von einer „abnehmenden Lidschlagfrequenz“ bei Täuschungen, während Hemsley/Doob272 erhebliche Zunahmen jener ermittelten und auch bei der „Sprechrate“ bemerkte Knapp273 Abnahmen im Falle einer Täuschung, während Motley274 Zunahmen verzeichnete. Ferner bemerkte Kraut275 ein erhöhtes Auftreten von „gestischen Verhaltensweisen (Illustratoren)“, wohingegen Ekman276 eine „reduzierte Gestik“ festgestellt hatte. Ersichtlich ergibt sich daraus für die gerichtliche Praxis kein taugliches „Arbeitsmaterial“; die Befunde sind schlicht zu inkonsistent und zu unübersichtlich, als sie Anknüpfungspunkt für sachdienliche Schlussfolgerungen sein 266 Vgl. Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88. Grundlegend auch Ekman/Friesen, Semiotica 1969, passim. 267 Vgl. Ekman/Friesen, Psychiatry 1969, S. 88 f. und passim sowie die Darstellung dessen bei L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 182 f.: „Täuschungsanzeichen“ – „deception clues“ – gäben preis, dass eine Täuschung stattfindet, nicht aber welche wahre Information verborgen bleibt. „Durchsickerungsanzeichen“ – „leakage clues“ – seien nonverbale Signale, die die zurückgehaltene wahre Information betreffen und diese verraten. Vgl. zu dieser Definition L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 183. 268 Indizien seien demnach etwa: Eine „Fragmentierung des Gesichtsausdrucks“ (da die mimische Darstellung vorgespielter Emotionen oft nicht spiegelbildlich gelänge), ein „Grundfrequenzanstieg in der Stimme“, eine „asynchrone Emotionsdarstellung zwischen den Verhaltenskanälen“ (da die unechte Emotion eben intentional vollzogen werden muss) sowie die „Abnahme illustrierender Gesten“ (vermöge fehlender Emotionsbeteiligung). Zurückgehend auf die Darstellung bei L. Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 184 ff. 269 „Primär“, weil auf Basis eigener Befunde analysiert wird. 270 Vgl. Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 29 und so auch zu der folgenden Darstellung in diesem Absatz. 271 Cutrow/Parks/Lucas/Thomas, Psychophysiology 9, S. 578 (584). Vgl. den „EBR-Wert“ („eyeblink-rate“) in der dortigen Tabelle. 272 Hemsley/Doob [unveröffentlicht], zitiert nach Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 29. 273 Knapp/Hart/Dennis, Human Communication Research 1, passim. 274 Motley, Western Speech 38, S. 81 (84). 275 Kraut, Journal of Communication 30, S. 209 (211 f.). Vgl. den Wert unter „Gesturing“ in der dortigen Tabelle. 276 Ekman, Annals of the New York Academy of Sciences 1981, S. 269 (272 a. E.).

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4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

könnten. Diese (Einzel-)Untersuchungen, respektive deren Befunde, sind in der Folge indes „erfreulicherweise“ – sekundären277 – (Meta-)Analysen278 unterzogen worden, was nichts anderes bedeutet, als dass die Befunde unterschiedlicher Studien – unter Berücksichtigung von Signifikanzniveau, Effektstärke und Stichprobengröße – eine Zusammenführung erfahren haben. Bei Sporer/Köhnken279 findet sich eine, im Folgenden abgedruckte, tabellarische280 Darstellung der Ergebnisse wiederum mehrerer (Meta-)Analysen,281 welche ihrerseits den aktuellen, empirischen Forschungsstand betreffend die Existenz (oft „vermeintlicher“) nonverbaler Täuschungsindikatoren wiedergeben und jene mit den (Laien-)Annahmen von Studierenden und Berufsgruppen in Verbindung setzen. Bei den angegebenen „rWerten“ handelt es sich um ein „Effektstärkemaß“, das analog einem Korrelationskoeffizienten interpretiert werden kann („wie stark“ also eine bestimmte nonverbale Reaktion mit einer Täuschung zusammenhängt). Ein positiver (negativer) „rWert“ deutet auf eine Zunahme (Abnahme) der jeweiligen nonverbalen Verhaltensweise bei einem Täuschungsverhalten des Aussagenden hin, wobei ein niedriger (hoher) Betrag des „r-Wertes“ (jrj) auf eine niedrige (hohe) Korrelation hindeutet.

277

„Sekundär“, weil auf Basis fremder Befunde analysiert wird. Der Begriff „Metaanalyse“ dürfte in diesem Zusammenhang insoweit auf Glass, Educational Researcher 5, S. 3 (7 und passim) zurückgehen und beschreibt ein Verfahren, bei welchem verschiedene (Einzel-)Untersuchungen – Primärdaten – aggregiert und einer inferenzstatistischen Sekundärprüfung unterzogen werden: So werden nicht nur die Befunddaten aus den (Einzel-)Untersuchungen selbst, sondern auch das jeweilige Signifikanzniveau, die Effektstärke sowie die jeweilige Stichprobengröße einbezogen. Vgl. Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 27. 279 Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (358). 280 Legende zur folgenden Tabelle: a Nicht untersucht. b Blickabwendung/umherirrender Blick wurden getrennt kodiert. c Anzahl der Wörter oder Dauer der Mitteilung. d Wenn Gesprächsdauer als Teil der Gesamtinteraktion operationalisiert wird, gibt es einen signifikanten Zusammenhang. * p < .05 (Der „p-Wert“ gibt die Signifikanz an. Also die Wahrscheinlichkeit, dass der gefundene Korrelationskoeffizient bei der Studie zufällig zustande gekommen ist (und es eben vielleicht gar keine Korrelation gibt). Bei p < 0.05 bedeutet das, dass die Wahrscheinlichkeit (für Zufall) bei unter fünf Prozent liegt. ** p < .01 (Also Wahrscheinlichkeit unter ein Prozent). 281 Es werden von Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (357 ff.) die folgenden Metaanalysen tabellarisch zusammengefasst und ausgewertet: Zuckerman/Driver, in: Siegman/Feldstein (Hrsg.), Multichannel Integrations of Nonverbal Behavior, S. 129 ff. (insbesondere 137); DePaulo/Lindsey/Malone/Muhlenbrock/ Charlton/Cooper, Psychological Bulletin 129, S. 74 ff.; Sporer/Schwandt, Psychology, Public Policy, and Law, S. 1 ff.; dies., Applied Cognitive Psychology 20, S. 421 ff. (insbesondere S. 430 f., 433 ff.); Zuckerman/DePaulo/Rosenthal, Advances in Experimental Social Psychology 14, S. 1 ff.; Köhnken, Glaubwürdigkeit: Empirische und theoretische Untersuchungen zu einem psychologischen Konstrukt, passim [unveröffentlichte Habilitationsschrift] – vgl. daher Köhnken, Glaubwürdigkeit, passim. 278

B. Freie Beweiswürdigung Variable

Zuckerman & Driver (1985)

DePaulo et al. (2003)

275

Sporer & Schwandt (2006, 2007) Gewichtetes mittleres r

Nonverbale Verhaltensweisen im Kopfbereich Blinzeln .24* .03 .00 Augenkontakt -.01 .00 -.01 Blickabwendung a .01/.03b .03 Kopfbewegungen -.09 -.01 .06 Nicken a .00 -.09* Lächeln -.04 .00 -.03 Nonverbale Verhaltensweisen im Körperbereich Adaptoren .17** .08* .02 Handbeweguna .00 -.19** gen Gesten -.06 -.07* .02 Bein-/Fußbewe-.01 -.04 -.07* gungen Körperbewegun-.01 .02 .01 gen Paraverbale Verhaltensweisen Länge der Nach-.09* -.01c,d -.04 richt Anzahl der a -.01c,d -.01 Wörter Sprechrate -.03 .03 .01 Gefüllte Pausen .26** .00 .04 Ungefüllte a .00 -.02 Pausen Stimmhöhe .32* .10* .10* Wiederholungen a .10* .08 Antwortlatenz -.01 .01 .11** Sprachfehler .11* .00 .04

Ungewichtetes mittleres r

ZuckerKöhnken man et al. (1988) (1981) Annahmen von StudierenBerufsden gruppen

.00 -.02 .02 .05 -.05 -.07*

.32 a .53 .29 a .15

.53 -.45 a .49 a .23

.07** -.18**

.84 a

.79 a

.02 -.05

.10 .67

.58 .56

.03

.56

.66

-.06*

.22

.15

.01

a

a

.01 .03 .02

.56 .54 a

.65 a a

.13* .11 .09** .06*

.43 a .32 .72

a .77 .79 .70

Betrachtete man nun etwa die (Meta-)Analyse von Zuckerman/Driver282 aus dem Jahre 1985 – welche die Befunde aus 45 empirischen (Einzel-)Untersuchungen zusammenfasst –, so fällt auf, dass Täuschungen („Lügen“) scheinbar verstärkt mit „häufigem Blinzeln“, „gesteigerten Adaptoren“ (also etwa „Sich-Kratzen“), „gefüllten (Rede-)Pausen“ („äh“, „ähm“) und „Sprachfehlern“ korrelieren, wobei 282 Zuckerman/Driver, in: Siegman/Feldstein (Hrsg.), Multichannel Integrations of Nonverbal Behavior, S. 129 ff. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 27.

276

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

Sporer/Schwandt283 eine „erhöhte Antwortlatenz“ und „vermehrte Handbewegungen“ im Falle einer Lüge ermittelten und DePaulo/Lindsey/Malone/Muhlenbrock/ Charlton/Cooper284 bei einer Lüge „häufige Wortwiederholungen“ bemerkten. Interessant ist zudem, dass lediglich betreffend die „Stimmhöhe“ (im Falle der Lüge) von sämtlichen Autoren gleichsam eine „Zunahme“ mit einer „gewissen Effektstärke“ festgestellt werden konnte. (a) Keine zuverlässigen Täuschungsindikatoren Ausweislich obiger Befundlage ist zu konstatieren, dass betreffend die überwiegenden Variablen nur äußerst geringe Effektstärken bei Täuschungen ermittelt werden konnten (überwiegend: jrj < 0.1) und zudem wiederum erhebliche Unterschiede zwischen den (primären wie sekundären) Untersuchungen erkennbar sind. Nähme man nun – trotz gewisser Bedenken285 – einmal jene (tabellarische) Darstellung „für bare Münze“, so zeichnet sich ipso facto folgendes Bild: Zuverlässige – geschweige denn zwingende – Indikatoren für eine Täuschung sind schlicht nicht existent.286 Bei der überwiegenden Mehrzahl denkbarer nonverbaler Reaktionen besteht eine, gleichwohl aber derart geringe, Korrelation zu etwaigem Täuschungsverhalten, dass jene als tauglicher Anknüpfungspunkt zur „Lügendetektion“ praktisch schon nicht in Frage kommen. Für die wenigen nonverbalen Reaktionen, bei denen sich überhaupt eine signifikante Korrelation gezeigt hatte – etwa: Zunahme bei den „Adaptoren“, Abnahme bei den „Handbewegungen“, Zunahme von „Sprechfehlern“ sowie Zunahme bei der „Stimmhöhe“ (!)287–, ist zu bemerken, dass 283 Sporer/Schwandt, Psychology, Public Policy, and Law, S. 1 ff.; dies., Applied Cognitive Psychology 20, S. 421 ff. 284 DePaulo/Lindsey/Malone/Muhlenbrock/Charlton/Cooper, Psychological Bulletin 129, S. 74 ff. 285 In diesem Zusammenhang verweist Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 29 auf allgemeine Bedenken bei einer solchen (sekundären) Metanalyse. So sei zu berücksichtigen, dass hier Unterschiede bei den experimentellen Prozeduren, Operationalisierungen und Stichprobenzusammensetzungen unberücksichtigt blieben. So könne – richtigerweise – das in der Metaanalyse gefundene Verhaltensmuster – etwa „Zunahme der Stimmhöhe“ – freilich nicht von jedem täuschenden Aussagenden „erwartet werden“. Vgl. zum Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen des Aussagenden auf etwaige nonverbale Verhaltenskorrelate ebenso Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 29. Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (360) weisen zudem daraufhin, dass es sich bei den „gefundenen Unterschieden“ in jenen nonverbalen Verhaltensweisen – wie sie in Metaanalysen zum Ausdruck kommen – nur um „Mittelwerte“ von „Mittelwerten“ handle. Die höheren „r-Werte“ können also durchaus auch so zustande gekommen sein, dass einige wenige Probanden sehr starke nonverbale Reaktionen (bei Täuschung) aufzeigten, während bei anderen schlicht keine Reaktionen auftraten. 286 Dies entspricht insoweit der herrschenden Auffassung in der aussagepsychologischen – empirischen – (Fach-)Wissenschaft. Vgl. statt vieler Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (359 ff.) m. w. N. 287 Vgl. zu weiteren nonverbalen Verhaltensweisen – für welche signifikante Korrelationen mit Täuschungen festgestellt wurden – ergänzend Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 43.

B. Freie Beweiswürdigung

277

in jenen Fällen deren Auftretens lediglich eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass jene im Einzelfall auch symptomatisch für eine Täuschung sind. So bedeutet „statistische Signifikanz“ letztlich nichts anderes, als dass ein festgestellter Unterschied (Auftreten bei „Lüge“ zwischen Auftreten bei „Wahrheit“) nicht zufällig aufgetreten sein kann; bei großen Stichproben können aber – wie Sporer/Köhnken288 zu Recht anmerken – bereits sehr kleine (für die Praxis irrelevante) Unterschiede signifikant werden. (b) Erhebliche und „beunruhigende“ Disparitäten mit „Laienannahmen“ Durchaus „beunruhigend“ erscheint, dass diese „Nichtexistenz zuverlässiger Täuschungsindikatoren“ offenbar nur unzureichend bis in die forensische Praxis „vorgedrungen“ ist.289 Wie die empirischen Untersuchungen von Köhnken290 betreffend die (Laien-)Annahmen einschlägiger Berufsgruppen – (Tat-)Richter inkludierend – offenbaren, sind hier nonverbale Verhaltenskorrelationen – respektive „Lügenstereotype“ – vorherrschend291, welche sich in dieser Form entweder überhaupt nicht oder nicht in der unterstellten Erheblichkeit („r-Wert“) wissenschaftlich belegen lassen. So hält sich etwa „hartnäckig“ die Vermutung, dass „Lügner“ verstärkt mit „rechtfertigenden Gesten“ arbeiteten, „Augenkontakt“ mieden oder gesteigerte Aktivität in den Bereichen der „Adaptoren“, der „Bein- und Fußbewegungen“ oder der „Körperbewegungen“ zeigten. Dabei vermochte jenes nahezu „klassische Lügenstereotyp“ des „Zappelphilipps“ (nervöser Gesamteindruck)292 ebenso wenig empirisch bestätigt werden, wie ein Richter die „Nase des Pinocchio“ bei einem Zeugen allenfalls an den griechischen Kalenden bemerken dürfte. Wenn die Judikatur und partiell auch der Bundesgesetzgeber derartige nonverbale Reaktionen – in concreto die Gesichtsmimik – als taugliche Kriterien zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage qualifizieren,293 so ist das in der Theorie (nur) „schlicht unsinnig“, gleichwohl evoziert jenes Postulat für die tatgerichtliche Praxis aber einen gefährlichen294 – Willkür befördernden – „Handlungsimpuls“: Die 288

(360). 289

Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353

Vgl. zu diesen Bedenken bereits Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1458. Köhnken, Glaubwürdigkeit: Empirische und theoretische Untersuchungen zu einem psychologischen Konstrukt, passim [unveröffentlichte Habilitationsschrift] – vgl. daher Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 47 ff. Vgl. so etwa die entsprechenden „r-Werte“ in der obigen Tabelle. 291 Dies feststellend auch Breuer/Sporer/Reinhard, Zeitschrift für Sozialpsychologie 36 (4), S. 189 ff. (193) und ebenso, dass dies für nahezu sämtliche einschlägigen Berufsgruppen gilt (Richter, Polizisten et cetera). Vgl. auch Vrij, Detecting Lies und Deceit, S. 133. 292 Vgl. zustimmend etwa auch Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 226; Köhnken, Glaubwürdigkeit, S. 50 sowie Sporer/Köhnken, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, S. 353 (361). 293 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb). 294 Auch Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 226 befürchten ebenso etwa „dramatische Fehleinschätzungen“. 290

278

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

„klassischen Lügenstereotypen“ wirken ohnehin schon ipso facto in den – partiell unbewussten – Vorgang der tatrichterlichen Beweiswürdigung (und so mittelbar auch in jede einzelne tatrichterliche Glaubhaftigkeitsbeurteilung) hinein. Da scheint es wenig hilfreich, nun auch noch den Fokus des jeweiligen Tatrichters auf die – bewusste – Berücksichtigung nonverbaler Reaktionen zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung zu lenken. Im Gegenteil: Eine höchstrichterliche Entscheidung – „zur Klarstellung der Nichtexistenz des Zappelphilipps“ – wäre sachdienlich, jene Fehlvorstellungen wirksam (für sämtliche Instanzen) zu beseitigen. (4) Zu den rechtlichen Konsequenzen Wesentlich für die Bewertung der rechtlichen Konsequenzen dessen ist nun prima facie die Feststellung, dass (derzeit) keine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis besteht, wonach eine Korrelation zwischen nonverbalen Verhaltensweisen und „Lügen“ stets zwingend ausgeschlossen wäre. In der Folge ist dann aber die potenzielle tatgerichtliche Deutung einer nonverbalen Reaktion – etwa eines „spontanen Errötens“ – als Indiz mangelnder Glaubhaftigkeit nicht stets a priori unzulässig.295 Es entspricht indes wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis, dass keine zuverlässigen – also zwingenden – (nonverbalen) „Lügensymptome“ existieren, sondern lediglich eine gewisse (geringe) Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine bestimmte nonverbale Reaktion im Einzelfall symptomatisch für mangelnde Glaubhaftigkeit ist.296 Das bedeutet aber, dass ein jedes Tatgericht eine jede denkbare nonverbale Reaktion stets nur mit dem Beweiswert einer möglichen – und nicht einer zwingenden – Deutungsannahme in die Beweiswürdigung einstellen darf. Obschon es nicht per se ausgeschlossen ist und dem Tatgericht respektive nicht verwehrt sein darf, in nonverbalen Reaktionen im Einzelfall – etwa einem „Erröten“ – ein Indiz für eine mangelnde Glaubhaftigkeit zu erblicken („Lügensymptom“), so ist dennoch zu beachten, dass es dem Tatgericht, vermöge jener geringen Wahrscheinlichkeit, kaum jemals gelingen dürfte, isoliert nur wegen jener nonverbalen Reaktion(en) – plausibel – die Unglaubhaftigkeit einer Aussage anzunehmen. Es spricht indes nichts dagegen, dass ein Tatgericht in einer „merkwürdigen nonverbalen Reaktion“ quasi (untechnisch) den „ersten Anschein“ einer „Lüge“ vermutet und sich so zu weitergehender Prüfung der Glaubhaftigkeit veranlasst sieht;297 295 „Wo“ ein zwingender gegenläufiger Erfahrungssatz nicht existent ist, kann eine Deutungsannahme denknotwendig auch nicht gegen einen solchen verstoßen. Was vor dem Hintergrund der empirischen Befunde „grotesk“ anmuten mag, ist nur die Konsequenz einer „gelebten“ freien richterlichen Beweiswürdigung. 296 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3). Es besteht aber gerade nur insoweit eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, dass („ob“) nur Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden können. Es besteht indes keine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, welche („wie“) Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine bestimmte nonverbale Verhaltensweise – etwa ein „Blinzeln“ – durch eine „Lüge“ ausgelöst wurde. 297 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 227 sprechen insoweit (bei Veränderungen im Bereich des nonverbalen Verhaltens) von einem ersten „Warnsignal“. Das scheint überzeugend.

B. Freie Beweiswürdigung

279

als „zuverlässige Lügenindikatoren“ taugen jene nonverbalen Reaktionen aber jedenfalls nicht. c) Zu Unrecht angenommene allgemeine Erfahrungssätze („Alltagserfahrung“) Dass sich die tatgerichtliche Deutung nonverbaler Reaktionen nun weder im Allgemeinen noch im Bereich der Glaubhaftigkeitsbegutachtung anhand wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse vollziehen kann (jene existieren eben schlicht nicht in tauglicher Form), bedeutet gleichwohl nicht, dass den Tatgerichten die Berücksichtigung etwa eines „überraschten Gesichtsausdrucks“ oder eines „spontanen Errötens“ untersagt wäre. Vielmehr entspricht es der ideengeschichtlichen Vorstellung des reformierten Strafprozesses, respektive des Primats der freien Beweiswürdigung, dass sich der Vorgang der tatrichterlichen Überzeugungsbildung im Regelfall als Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze – auch genannt: „Lebenserfahrung“298 – vollzieht299 und ipso facto nur im Ausnahmefall wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze zur Anwendung kommen (können).300 Es ist insoweit nicht nur nicht angreifbar, sondern geboten, dass der Tatrichter – basierend auf seiner „Alltagserfahrung“ – zu (nicht zwingenden) Deutungsannahmen mit Wahrscheinlichkeitscharakter gelangt.301 Für die Deutung nonverbaler Verhaltensweisen verhält es sich hier nicht anders, so können – und müssen – respektive etwa der „überraschte Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim Betreten des Gerichtssaals durch die (Raubopfer-)Zeugin oder das „verdächtige Erröten“ des Zeugen bei der „(Alibi-)Frage“ des verwandten Angeklagten als eines von vielen Indizien in die Würdigung eingestellt und mit – „obig verlangter Vorsicht“ – gedeutet werden. Namentlich ist zu untersuchen, ob die in jener Alltagserfahrung vertypte Wahrscheinlichkeitsaussage, gegebenenfalls unter Heranziehung weiterer (nonverbaler) Indizien, zur Gewissheit zu erstarken vermag.302

298 So spricht etwa Schluckebier, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 261, Rn. 21 von „Erfahrungssatz des täglichen Lebens“ beziehungsweise „Erfahrungssatz mit Wahrscheinlichkeitsurteil“. 299 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42 f. Hier gilt es zwei Konstellationen zu unterscheiden: Als Gegenstand der Beweiswürdigung in Bezug auf eine Haupttatsache (dass etwa der abgegebene Schuss kausal für den Tod war) müssen (Naturgesetze beziehungsweise) Erfahrungssätze wissenschaftlich unangefochten und gesichert sein. Als Mittel der Beweiswürdigung müssen Erfahrungssätze nicht wissenschaftlich unangefochten und gesichert sein, ansonsten wäre ein Indizienprozess überhaupt nicht möglich. 300 Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42. 301 Anderenfalls drohte dem Strafprozess eine vollständige Lähmung, denn wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze sind schlicht nicht ausreichend – für jede denkbare Schlussfolgerung – vorhanden und werden dies auch niemals sein können. 302 Das ist wiederum eine Frage des Einzelfalles.

280

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

aa) Das Problem evident-falscher Erfahrungssätze Auch wenn sich die Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze durch den Tatrichter in weitem Maße als intuitiv und nicht bewusst reflektiert geriert, dürfen jene nicht evident falsch sein,303 namentlich darf das Tatgericht keine Erfahrungssätze anwenden, welche überhaupt nicht existent sind. So existiert etwa kein Erfahrungssatz, wonach der „häufig blinzelnde“ Angeklagte generell vorsätzlich gehandelt hätte. Das ist aber auch derart offensichtlich „unsinnig“, dass solche Fehler bei den Tatgerichten – auch im Zusammenhang mit nonverbalen Reaktionen – aller Voraussicht nach nicht auftreten werden. bb) Das Problem der „Überverallgemeinerung“ Daneben besteht das wohl „größte Problem“ betreffend die Deutung nonverbaler Verhaltensweisen in jenem der „Überverallgemeinerung“.304 Zuvörderst bei Erfahrungssätzen deren Allgemeingültigkeit ohnehin zweifelhaft ist (was respektive für die Deutungsannahmen betreffend nonverbale Reaktionen gilt), besteht die Gefahr, dass das Tatgericht die eigenen Erfahrungen „verallgemeinert“, also eine nur eingeschränkt gültige Korrelation als ausnahmslos gültig anwendet.305 Wenn sich etwa bei einem Tatrichter der allgemeine Erfahrungssatz gebildet hat, dass „spontanes Erröten“ und „auffälliges Stottern“ bei einer bestimmten Frage mit fehlendem Erlebnisbezug („Lüge“) korrelieren,306 so ist dieser Erfahrungssatz nicht evident falsch und die Anwendung dessen im Grundsatze nicht angreifbar. Entscheidend ist nur, dass sich der Tatrichter über die eingeschränkte Gültigkeit jenes Erfahrungssatzes bewusst ist, jenen also als einen „nur eingeschränkt gültigen“ anwendet; nicht etwa – „überverallgemeinernd“ – bei einem „spontanen Erröten“ den fehlenden Erlebnisbezug als zwingende Folge begreift und in der Praxis entsprechende Deutungen vornimmt. Vor dem Hintergrund obiger307 empirischer Feststellungen betreffend vorherrschende (falsche) „Lügenstereotype“ – „gesteigerte gestische Aktivität“ et cetera – ist zu besorgen, dass jene Überverallgemeinerungen im Bereich der Deutung nonverbaler Reaktionen einen gesteigerten Einfluss auf die Beweiswürdigung haben könnten.308 Zwar nicht im Allgemeinen, aber zumindest für die Glaubhaftigkeits303

Vgl. Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 42. Letztlich handelt es sich hierbei um einen „Unterfall“ der Anwendung evident falscher Erfahrungssätze. 305 Vgl. zum Problem der „Überverallgemeinerung“: RGSt 70, S. 71 (72); Miebach, in: MüKo-StPO, § 261, Rn. 100; Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 43. 306 Etwa, weil sich der Tatrichter bei in der Vergangenheit „entlarvten Lügen“ erinnert, zuvor stets oder häufig derartige nonverbale Reaktionen bemerkt zu haben. 307 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3) (b). 308 Das ist partiell bereits in der Natur der Sache angelegt und „mitcharakterisierend“ für das System der freien Beweiswürdigung: Zu Recht verweist Velten, in: SK-StPO, § 261, Rn. 43 304

B. Freie Beweiswürdigung

281

beurteilung von Aussagen ist eben zu befürchten, dass Tatgerichte dazu neigen dürften, spezifische nonverbale Reaktionen als generell symptomatisch für Täuschungen zu erachten; und dies obwohl aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse lediglich äußerst geringe – praxisuntaugliche – Korrelationen zu belegen vermochten.

III. Zusammenfassung Sofern in der Hauptverhandlung nonverbale Verhaltensweisen – zufällig oder im Rahmen von Experiment-Konstellationen – auftreten, trifft das Tatgericht eine (unbeschränkte) Würdigungspflicht, resultierend aus dem Gebot der erschöpfenden Beweiswürdigung (§ 261 StPO), der Unmittelbarkeitsmaxime sowie dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).309 Neben der generellen Gewährleistung des „sehend-verstehenden Austausches“310 zwischen den Verfahrensbeteiligten hat das Tatgericht nonverbale Reaktionen – wie etwa den „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten – in die Beweiswürdigung einzustellen und namentlich jene „zu deuten“, obwohl unterschiedliche Deutungsannahmen sich aufzudrängen vermögen, respektive naturgemäß keine objektive Gewissheit betreffend die richtige Deutungsannahme bestehen kann.311 Obgleich in Judikatur und Schrifttum, partiell missverständlich, die – objektive – „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ nonverbaler Reaktionen als Verwertungskautel firmiert, vermag die (bestehende) strukturelle Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen richtigerweise nicht a priori jene aus der Beweiswürdigung exkludieren.312 Auch dem Wortsinne nach „uneindeutige und unerhebliche“ nonverbale Reaktionen können und müssen, sofern sie denn dem „Inbegriff angehören“,313 berücksichtigt werden. In der Tat „notwendig“ ist indes, dass sich die nonverbale Reaktion – subjektiv – für das Tatgericht als „eindeutig und erheblich“ geriert, was lediglich bedeutet, dass sich die jeweilige Deutungsannahme selbst als das Ergebnis eines rationalen Erdarauf, dass schon objektiv nicht bestimmt werden kann, „wie häufig Menschen lügen, die […] sich zu blamieren drohen“ und entsprechend etwa einen „mimischen Ausdruck von Scham“ zeigen. Mithin ist einem darauf bezogenen allgemeinen Erfahrungssatz auch keine spezifische Wahrscheinlichkeitsaussage zuordnungsfähig. Ohnehin könnte aber subjektiv nicht quantifiziert werden, mit welcher Wahrscheinlichkeitsannahme der Tatrichter jenen Erfahrungssatz in die Beweiswürdigung eingestellt hat. Dies kann jener überwiegend nicht einmal selbst quantifizieren, weil eben die „Bildung“ und „Anwendung“ jenes allgemeinen Erfahrungssatzes seinerseits überwiegend intuitiv verläuft. Der Tatrichter wird – plakativ formuliert – (vielleicht) wissen, dass ihm die Zeugenaussage, vermöge der nonverbalen Reaktionen, „komisch vorkam“, regelmäßig aber nicht, wie (quantifiziert) „komisch sie ihm vorkam“. 309 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 2. 310 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 3. 311 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. a). 312 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. a) und b). 313 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel A. II. und III.

282

4. Kap.: Zur Bedeutung in der Beweiswürdigung

kenntnisvorgangs zu präsentieren,314 sich namentlich plausibel und methodisch fehlerfrei zu vollziehen hat.315 So ist seitens des Tatgerichts zu erörtern, weshalb es einer bestimmten Deutungsoption – etwa dem „Wiedererkennen der (Raubopfer-) Zeugin“ – folgt und weshalb andere Deutungsoptionen (für den „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten) nicht in Betracht kommen („Plausibilitätserfordernis“). Ist jene nonverbale Reaktion zudem „tragend“ für die Entscheidung, so ist eine Benennung dieser selbst und eine Verschriftlichung jener Erörterung möglicher Deutungsoptionen in den Urteilsgründen erforderlich.316 Sowie das Tatgericht bei der Deutung nonverbaler Reaktionen nicht gegen Denkgesetze sowie wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse verstoßen und ferner keine evident falschen allgemeinen Erfahrungssätze anwenden darf („Methodenkontrolle“), konnte festgestellt werden, dass – erwartungsgemäß – weder im Allgemeinen, noch für die Sonderkonstellation sogenannter „Lügensymptome“ eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis betreffend die materielle Bedeutung spezifischer nonverbaler Reaktionen existent ist.317 Die Deutung nonverbaler Verhaltensweisen seitens des Tatgerichts geriert sich also denknotwendig als eine Einzelfallentscheidung, bei welcher der Deutungsannahme nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage unterlegt sein kann318 und bei welcher das Tatgericht zudem „größte Vorsicht“ – in Gestalt erhöhter Selbstreflexion – walten zu lassen hat. So besteht nicht nur allgemein das Risiko von Fehldeutungen, sondern auch ein erhöhtes Risiko zur „Überverallgemeinerung“ nonverbaler Reaktionen, respektive im Bereich der Glaubhaftigkeitsbeurteilung. Ein kursorischer Einblick in empirische Untersuchungen vermochte insoweit nicht nur lediglich äußerst geringe Korrelationen zwischen nonverbalen Reaktionen und „Lügen“ aufzudecken,319 sondern offenbarte vielmehr – beunruhigende – Disparitäten zu „Laienannahmen“, wonach scheinbar auch tradiert unter Tatrichtern „Lügenstereotypen“ vorherrschend seien.320

314

Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. b). Denn nur dann stellt sich die Deutungsannahme für das Tatgericht als „eindeutig und erheblich“ dar, respektive müsste es jene nur dann auch gegen sich selbst gelten lassen. Es besteht der Verdacht, dass dieses Kriterium der „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ tradiert falsch verstanden wurde, denn eine objektive „Eindeutigkeit und Erheblichkeit“ betreffend ein Indiz kann im System freier tatrichterlicher Beweiswürdigung denklogisch niemals bestehen. Und das ist auch keine Besonderheit bei nonverbalen Verhaltensweisen, sondern allgemeingültig. 316 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 1. c) aa). 317 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) aa) und bb). 318 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. I. 4. b). 319 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3) (a). 320 Vgl. die Ausführungen unter Viertes Kapitel B. II. 2. b) bb) (3) (b). 315

Fünftes Kapitel

Schlussbemerkung Im Zuge dieser Abhandlung vermochte sich – rekurrierend auf Judikate und „kuriose“ Beispielsfälle – ein Eindruck zu gewähren, dass nonverbale Verhaltensweisen in den Strafprozess „hineinwirken“ und auf welche Weise etwa ein „spontanes Erröten“, ein „flüchtiges Lächeln“ oder ein „überraschter Gesichtsausdruck“ die tatgerichtliche Spruchpraxis beeinflussen können. Neben dieser gewiss erwarteten Erkenntnis, bestand das erklärte Ziel zunächst in der dogmatischen „Einordnung“ jener nonverbalen Reaktionen in die Systematik des formalisierten Beweisverfahrens. In diesem Sinne konnte im Rahmen des Zweiten Kapitels aufgezeigt werden, dass nicht nur zufällig auftretende nonverbale Reaktionen – wie sie typischerweise im Gerichtssaal auftreten – als „unaufgesuchte“ Wahrnehmungen des Tatgerichts „ihren Platz“ im Beweissystem der Strafprozessordnung haben. Vielmehr wurde bewiesen, dass selbst die gezielte Provokation nonverbaler Reaktionen in Gestalt von Experiment-Konstellationen „möglich ist“ und respektive derart untypische Beweiserhebungsakte wie das „Vorlegen von Lichtbildern“ oder „Wiedererkennens-Experimente“ beim Angeklagten oder Zeugen mit den Regelungen des Beweisverfahrens in Einklang zu bringen sind, auch wenn schon a priori nur das „Erhaschen“ einer nonverbalen Reaktion intendiert sein sollte. Unwillkürliche nonverbale Reaktionen des Angeklagten, Zeugen oder auch jene eines Dritten im Gerichtssaal können, neben der Offenbarung von Emotionen, Gemütszuständen oder Gesinnungen, respektive auch (ungewollte) Rückschlüsse auf (Tat-)Wissen oder andere höchstpersönliche Informationen erlauben, welche als „nonverbale“ Selbst- oder Fremdbelastungen indizielle Bedeutung für den Schuldund Rechtsfolgenausspruch erlangen können und „häufig“ werden. Obschon de facto ein „überraschter Gesichtsausdruck“ des Angeklagten beim „Wiedererkennen der (Raubopfer-)Zeugin“ oder ein „nervöses Stottern“ des (Alibi-)Zeugen bei einem von menschlichen Richtern besetzten Tatgericht einen „Eindruck“ hinterlassen wird, konnte aufgezeigt werden, dass dieser „Eindruck“ auch de iure von der Strafprozessordnung „gefordert“ ist. Das Reichsgericht1 lag richtig, wenn es das „Nonverbale“ als einen Beweisbehelf qualifizierte, der „wichtiger und überzeugender sein [könne] als der Redefluß manches beeidigten Zeugen“. Dies aber nicht, weil der Erklärungsgehalt einer nonverbalen Reaktion so eindeutig wäre, sondern weil sich dem Tatgericht ein „besonders“ unmittelbarer und daher unverfälschter Blick auf die 1

RGSt 33, S. 403 (404).

284

5. Kap.: Schlussbemerkung

„Beweise“ gewährt, was nahezu mustergültig die ideengeschichtlichen Vorstellungen des reformierten Strafprozesses realisiert. Dass es „derselbe“ reformierte Strafprozess ist, welcher den gerechten Ausgleich zwischen den subjektiv-öffentlichen Rechten der Betroffenen, respektive jenen des Angeklagten, und einer effektiven Strafrechtspflege sucht, steht dem hier vertretenen generellen Verwertbarkeitspostulat jeglicher nonverbaler Reaktionen in der Hauptverhandlung nicht entgegen. Tatsächlich vermochte die Prüfung einschlägiger Rechtssätze des Verfassungs- und Strafprozessrechts die seitens des Schrifttums vorgebrachten Bedenken nicht zu bestätigen, sodass namentlich weder der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum accusare“ die Verwertbarkeit nonverbaler Reaktionen beim (berechtigt) schweigenden Angeklagten (Zeugen) untersagte, noch die Vorschrift § 136a StPO oder andere Rechtssätze ein „listiges Experimentieren“, um des „Erhaschens“ nonverbaler Reaktionen willen, verböten. Es wäre auch ein lebensfremdes Ergebnis gewesen, dem Tatgericht die Verwertung dieser unmittelbaren Wahrnehmungen zu versagen, gar eine „Ausblendung“ derer zu verlangen. Obschon die Verwertbarkeit dieser nonverbalen Reaktionen in der mündlichen Hauptverhandlung quasi „vertypt“ ist, konnte dies nicht über bestehende praktische Schwierigkeiten hinwegtäuschen: Vermöge ihrer strukturellen Mehrdeutigkeit haben die Tatgerichte im Rahmen der Beweiswürdigung auch „uneindeutige“ nonverbale Reaktionen zu deuten und in den Gesamtvorgang der Überzeugungsbildung einzustellen, wobei freilich stets ein (Rest-)Risiko von Fehldeutungen bestehen bleibt. Dies ist aber schlicht die Konsequenz des Primats einer freien tatrichterlichen Beweiswürdigung,2 welche man als notwendiges Übel des reformierten Strafprozesses wird akzeptieren müssen. Final versteht sich diese Abhandlung als Plädoyer und Mahnung: Es ist dem Tatgericht unter den Kautelen des Beweisverfahrens eben erlaubt, die materielle Wahrheit auch auf ungewöhnlichem, vielleicht „kuriosem“, Wege zu erforschen – und so im Einzelfall in jenem „überraschten Gesichtsausdruck“ des Angeklagten etwa ein Indiz für eine Tatbeteiligung zu erblicken –, nur darf es „Vorsicht und Selbstreflexion“ nicht missen lassen und namentlich nicht in Stereotype verfallen, wenn es die „Wahrheit“ in jenen nonverbalen Reaktionen zu finden glaubt.3

2

In diesem Sinne ließe sich die „Freie Beweiswürdigung“ sicher als die schlechteste aller „Verfahrenstypen“ bezeichnen, ausgenommen aller anderen, die je „erprobt“ worden sind. 3 Es existiert eben weder der „Freudsche Versprecher“ noch das Lügensymptom des „Zappelphilipps“.

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Sachwortverzeichnis Allgemeines Persönlichkeitsrecht 204, 108, 152, 159 ff., 192, 197, 206, 207, 214 ff., 220 Alltagserfahrung 279 Angeklagtenvernehmung 83 f., 40, 50, 54 ff., 93, 96 f., 134, 139 f., 244 Augenscheinsbeweis 91, 67, 72, 92, 97, 103, 130, 141, 203, 215, 235 Aussagefreiheit 165, 78, 167, 169 ff., 183, 192 Aussagequalität 53, 67 ff., 73 ff., 83, 96, 104, 113, 167, 178 – Ausdruckserscheinungen 68, 24 f., 71, 265, 270 – Aussagesurrogate 68 f., 112, 128, 183, 198 Befugnisnorm 214 f., 131, 135, 217 Beweiswürdigung 245 ff., 38, 62, 73, 78, 81, 174 f., 178, 181, 225 ff., 232, 236, 240, 252, 258 f., 263, 278 f., 281, 284 – Würdigungspflicht 250, 252, 281 Deutungsoptionen/-probleme 99, 282

261, 80, 84,

Eingriff 204 ff., 107, 115 f., 125, 152, 214 ff., 220 – Eingriffsintensität/-schwere/-niveau 130, 133, 135, 156 f., 218 f. – Eingriffsbefugnis 155, 185 Gebärdenprotokolle 23, 136, 219 Gebot der Harmonie 55 f., 82, 91, 98, 104 Glaubhaftigkeitsdiagnostik 266 Inbegriff der mündlichen Verhandlung 226 ff., 22, 216, 220, 232 ff., 241, 243, 250, 281 In dubio pro libertate 161, 205 In dubio pro reo 263

Informationelle Selbstbestimmung 112, 160 f.

205,

Kernbereich 207 ff., 197, 212 f. – Kernbereichskonzeption 159, 162 Leib-Seele-Dualismus 192 Lügenstereotype 277 f., 280, 282 Lügensymptome 266, 269, 273, 278, 282 Menschenwürde/-garantie 151 ff., 187, 209 – Objektformel 152, 155 f., 158 Methodendefizite 263 – Repräsentativitätsheuristik 264 – Rückschaufehler 264 – Überverallgemeinerung 280, 282 Mitwirkungsfreiheit 183 – Aktivitäts-/Passivitäts-Dogma 183 f., 156, 191, 222 – Gestaltung der Selbstentfaltung 196, 156, 158, 179 f., 187, 192 f., 201 Nachtatverhalten 254, 41, 108, 218, 249 Nemo tenetur-Grundsatz 142 ff., 107, 112, 161 ff., 183 ff., 189 ff., 196, 200 f., 209, 212, 222 – Tenetur-Element 163 f. – Se ipsum accusare-Element 164 ff. Nonverbale Verhaltensweisen 23 ff., 29 ff. – am Rande der förmlichen Beweisaufnahme 43 ff., 236 ff. – bei förmlicher Beweiserhebung 42, 234 ff. – Experiment-Konstellationen 49 ff., 54, 57, 81 ff., 100, 108 ff., 114 ff., 120, 128 f., 132, 134 f., 137 ff., 164, 167, 169, 180, 193, 202 ff., 206, 214 ff., 221, 224, 235, 244, 281, 283 – im Zuschauerraum der Hauptverhandlung 51 f., 242 ff.

306

Sachwortverzeichnis

– zufälliges Auftreten 43 ff., 71, 73, 80 ff., 100, 103, 108, 113 f., 128, 138, 142, 164, 167 ff., 180, 184, 187, 189, 193 f., 198, 202 ff., 207, 216, 227, 234, 250, 277 Plausibilitätsdefizite 256 Polygraph 135, 20, 23, 107, 109, 115, 122, 167, 169, 190, 209, 212 Recht auf ein faires Verfahren 108, 112, 149, 152, 160 f., 220 ff., 108, 149, 152, 160 f. – Gesamtfairness 224 Restriktivitätsgebot 257, 272 Sachbeweis 91, 70, 74 ff., 95 f., 101 f., 104 f., 113, 130, 155, 178 f., 183, 190 ff., 203 Sachverständigenbeweis 84 ff., 40, 57, 91, 141 Sehend-verstehender Austausch 250, 253, 281 Selbstbelastungsfreiheit 20, 145, 149 f., 159, 162 Selbstreflexion 260, 282, 284 Sender-Empfänger-System 30, 257 Strukturelle Mehrdeutigkeit nonverbaler Verhaltensweisen 256, 30, 226, 238, 258, 281, 284 Subjektiver Personalbeweis 56, 38, 91, 100, 102, 185

Tatwissen 80, 20, 178 Täuschung 115 ff., 127, 138 – Täuschungsaliud 125 f. Täuschungsindikatoren/-anzeichen 90, 106, 276 f. Totalschweigen 181 f., 140

273 f.,

Umgekehrte Rekognition 49, 81, 82, 105, 109, 114, 116, 121, 134, 168, 185, 187, 206, 209, 215, 223 f., 235, 240 Unaufgesuchte Wahrnehmungen 48 f., 52, 283 Verfassungsgewohnheitsrecht 145, 149 Verhaltenskanal/-kanäle 29, 24, 31 Wahrnehmungsmöglichkeit 237

252 f., 67, 88,

Zeugenbeweises 57 ff., 40, 52, 56, 67, 72 f., 76 ff., 93, 96 f., 105, 140, 201, 244 Zugriffsgegenstand 79, 83, 91, 102, 105, 139, 167, 180, 190 ff., 200, 236 – Wissenszugriff 77 ff., 81 ff., 91 ff., 102, 105, 113, 125 f., 130 ff., 166 f., 177 f., 183, 185, 191, 200, 206, 214, 223, 235, 244, – Zustandszugriff 102 f., 130, 141, 183, 186, 200, 203, 214 f. Zwang/Zwangswirkung 127 ff., 78, 124 f., 142, 152 ff., 163 f., 167, 169, 177, 180, 183, 193, 198, 201 f., 209, 212, 222 – Offenbarungs-/Aussagezwang 127, 132 f., 135 ff., 144, 167, 188 ff., 193, 218