Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess: Zur Macht des Faktischen [1 ed.] 9783428554973, 9783428154975

Urteilsabsprachen, das heißt Verständigungen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung über das Verfahrenser

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German Pages 418 Year 2021

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Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess: Zur Macht des Faktischen [1 ed.]
 9783428554973, 9783428154975

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 44

Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess Zur Macht des Faktischen

Von

Laura Meller

Duncker & Humblot · Berlin

LAURA MELLER

Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal Berater (amicus curiae) Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, Bogotá, Kolumbien

Band / Volume 44

Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess Zur Macht des Faktischen

Von

Laura Meller

Duncker & Humblot · Berlin

Unter Beteiligung des Göttinger Vereins zur Förderung der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie sowie ihrer praktischen Anwendung e. V.

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-15497-5 (Print) ISBN 978-3-428-55497-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Untersuchung lag der Juristischen Fakultät der Paris-­ Lodron-Universität Salzburg im Sommersemester 2016 als Dissertation vor. Für die Veröffentlichung konnten Gesetzesänderungen sowie Rechtsprechung und Literatur bis einschließlich April 2019 berücksichtigt werden. Neu ein­ gearbeitet wurden in Kapitel F der Gesetzesvorschlag zu einem „konsen­ sualen summarischen Verfahren“ von Assoz. Prof. Dr. Heidelinde Luef-Kölbl (F. I. 2. i)) und der „Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE ASR)“ eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (F. I. 2. j)). Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Univ.-Prof. Dr. Otto Lagodny, der mich das Strafprozessrecht stets durch „die Brille des tatsächlich Unschuldigen“ hat sehen lassen und zum Gelingen der Arbeit nachhaltig beigetragen hat. Herrn o. Univ.-Prof. Dr. Kurt Schmoller danke ich sehr für die Erstellung des Zweitgutachtens und seine hilfreichen Anmerkungen. Ferner bedanke ich mich bei Herrn Ass.-Prof. Dr. Christian Rosbaud, LL.M. (NYU) für seine wertvolle Kritik. Schließlich möchte ich Herrn Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos für die Aufnahme der Schrift in die Reihe „Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht“ danken. Februar 2020

Laura Meller

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abgrenzung der „Urteilsabsprache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Problematik der Urteilsabsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 25 28 30

B. Urteilsabsprachen in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Existenz von Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Mutmaßliche Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Überlastung und Überforderung der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 a) Überlastung der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 aa) Pensenberechnung nach der PAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 bb) Anstieg der Regelungsdichte des materiellen Strafrechts . . . 37 cc) Kompensierung durch die Diversion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 dd) Kompensierung durch das neue Mandatsverfahren? . . . . . . . 40 ee) Konfliktbereitschaft der Verteidigung in der Hauptverhandlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Überforderung der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Verfahrenspsychologische Aspekte: Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 c) Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 d) Angeklagter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 e) Gleichlauf der Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Opferschutz und Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Zunahme umfangreicher Großverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Einbettung konsensualer Verfahrenselemente in die StPO . . . . . . . . . 61 a) Diversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) „Große“ Kronzeugenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Wiedereinführung des Mandatsverfahrens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Funktionsverlust der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 IV. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

8 Inhaltsverzeichnis C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aktuelle Rechtsprechung des OGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ansichten im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Erörterung . . . . . . . . . . . . 2. Gegenwärtiger Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befürwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 72 75 75 78 79 79 82

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht . . . . . . 83 I. Kernprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Vereinbarkeit mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . 84 a) Erfüllung der richterlichen Aufklärungspflicht? . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Modifizierte Aufklärungspflicht bei Absprachegeständnis? . . . . . 87 aa) Geständnis im System der Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (1) Begriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (2) Historischer Überblick über die Funktion des Geständnisses in der strafprozessualen Beweisführung . . . . . . . . 89 (3) Geständnis im heutigen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Eigenständiger Beweiswert eines Absprachegeständnisses? . 93 (1) Qualität eines Geständnisses im konventionellen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 (a) Beweiswert eines „substantiierten“ Geständnisses . . 95 (b) Beweiswert eines „schlanken“ Geständnisses . . . . . 95 (2) Qualität eines Absprachegeständnisses . . . . . . . . . . . . . . 97 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Verzichtbarkeit eines eigenständigen Beweiswerts? . . . . . . . 100 (1) Unterschiede zwischen Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (a) Unterschiedliche Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (b) Unterschiedliche Qualität bei der Beweisaufnahme . 101 (aa) Einseitig geführte Ermittlungen im Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (bb) Möglichkeit abweichender Zeugenaussagen . . 106 (cc) Eingeschränkte Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Überzeugungsbildung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (3) Verfolgung eigener Interessen durch das Gericht . . . . . . 109 (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Alternative Wahrheitstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Kritik an der herrschenden Korrespondenztheorie . . . . . . . . 111

Inhaltsverzeichnis9 bb) Konsensustheorie als unterbreiteter Gegenvorschlag . . . . . . . (1) Wahrhaftigkeit der Verhandlungsteilnehmer . . . . . . . . . . (2) Verhandlungschancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit mit dem nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiwilligkeit eines Absprachegeständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Drucksituation im konventionellen Strafverfahren . . . . . . . . bb) Drucksituation bei Urteilsabsprache  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verbotene Vernehmungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Drohung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Urteilsabsprachen als neue Art der Folter? . . . . . . . . . . . . . . cc) Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils . . dd) Vorspiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das falsche Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . 1. Gebot des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtliches Gehör des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Recht auf Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Scheitern der Abspracheverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Legalitätsprinzip  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Grundsätze der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit . . 8. Freie richterliche Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Unschuldsvermutung und Neutralität des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . 10. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Probleme mit dem materiellen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absprachegeständnis als Strafmilderungsgrund? . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reumütiges Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wesentlicher Beitrag zur Wahrheitsfindung . . . . . . . . . . . . . . b) Aus Gründen des Opferschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Im Hinblick auf einen besseren Resozialisierungseffekt . . . . . . . 2. Grundsatz der Schuldangemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 114 115 116 118 119 119 120 121 125 126 126 128 131 134 135 135 138 139 139 140 142 143 144 145 146 148 149 153 154 154 155 155 158 160 161 162 164 165

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Grundsatzentscheidungen des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

10 Inhaltsverzeichnis 2. Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen . . . . . . . . 172 II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Vorlage für österreichische Rechtsprechungsleitlinien . . . . . . . . . . . . 174 2. Kritische Würdigung der BGH-Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Inhaltliche Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 bb) Mangelnde Praxiskenntnis des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen . . . . . 180 c) Richterliche Rechtsfortbildung durch den BGH . . . . . . . . . . . . . . 181 d) Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtspraxis . . . . . . . . . . . . 182 3. Kritische Würdigung der österreichischen Rechtsprechungsleit­ linien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Inhaltliche Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Richterliche Rechtsfortbildung durch den OGH . . . . . . . . . . . . . . 185 aa) Erforderliche Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 194 c) Mutmaßliche Auswirkungen auf die österreichische Strafrechts­ praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Legalisierung von Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Integration von Urteilsabsprachen in das Normalverfahren . . . . . . . . a) Vorbildfunktion des deutschen Verständigungsgesetzes . . . . . . . . aa) Normgefüge des deutschen Verständigungsgesetzes . . . . . . . bb) Kritische Würdigung der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einschreiten des BVerfG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vom BVerfG in Auftrag gegebenes Gutachten . . . . . . . . (2) Urteil des BVerfG vom 19.03.2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes . (b) Kein verfassungswidriges strukturelles Regelungs­ defizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kritische Würdigung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einführung eines Konsensprinzips  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Normgefüge des Gesetzesvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung des § 243a-E dStPO . . . . . . . . . . . . . . . (1) Konsensprinzip als neue Prozessmaxime . . . . . . . . . . . . (a) Argumente für ein Konsensprinzip . . . . . . . . . . . . . . (b) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sicherung einer freiwilligen Kooperation des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

196 196 198 198 199 200 204 205 206 207 210 210 214 215 216 216 216 217 218 219 221 221

Inhaltsverzeichnis11 2. Einführung von Sonderverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Verzicht auf Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Konnex aus „verfahrensbeendenden Absprachen“ und „abgekürztem Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 aa) Formulierungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 c) Das abgekürzte Verfahren im schweizerischen Strafprozess (Art.  358 ff. sStPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 d) Unterwerfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 e) Summarisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 f) Schuldinterlokut im summarischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 237 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 g) Strafbescheidsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 h) Das wiedereingeführte Mandatsverfahren (§ 491 öStPO) . . . . . . . 242 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 i) Konsensuales summarisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 j) Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE‑ASR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 aa) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (1) Verfahren mit abgekürzter Hauptverhandlung . . . . . . . . 253 (2) Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter  255 bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 (1) Verfahren mit abgekürzter Hauptverhandlung . . . . . . . . 258 (2) Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter  260 k) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Einführung eines rein adversatorischen Prozesstyps . . . . . . . . . . . . . 263 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Verbot von Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 III. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

12 Inhaltsverzeichnis G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Entlastung der Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Beschränkung des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Beschränkung der Opferrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Videodokumentation der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 d) Änderung des Bewertungssystems richterlicher Arbeit  . . . . . . . . 277 e) Erwirken von Geldmitteln zugunsten der Strafjustiz . . . . . . . . . . 277 2. Korrektur der Absprachen ermöglichenden Rahmenbedingungen . . . 279 a) Disqualifizierung eines rein taktisch motivierten Geständnisses . 280 b) Exkurs: Strikte Ablehnung des Geständnisses als Strafmilderungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 c) Transparentere Strafbemessungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 d) Sanktionsschere als verbotene Vernehmungsmethode  . . . . . . . . . 287 e) Kontrolle durch Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . 288 3. Personenbezogene Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Weitere Professionalisierung der Aus- und Fortbildung der Strafrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 b) Änderung der Zugangsvoraussetzungen für den Richterberuf . . . 292 c) Verbesserung der Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 aa) In der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 bb) Im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (1) Aufhebung der erheblichen Einschränkungen beim frühen Kontakt zwischen Beschuldigtem und Verteidigung  302 (2) Gewährung eines uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts und eines eigenen Beweisantragsrechts . . . . . . . . 306 (3) Erweiterte Benachrichtigungs‑, Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 (4) Videodokumentation von Vernehmungen . . . . . . . . . . . . 311 (5) Mitbestimmungsrecht bei der Auswahl des Sachverständigen und Teilnahmerecht an dessen Vornahme eines Augenscheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 (6) Stärkerer Ausbau der notwendigen Verteidigung . . . . . . 317 (7) Einspruchsmöglichkeiten bei der Verletzung subjektiver Rechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 (8) Verwendungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Strafbarkeit der beteiligten Berufsjuristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 aa) Mögliche Strafbarkeit der Justizjuristen . . . . . . . . . . . . . . . . 322 (1) Missbrauch der Amtsgewalt, § 302 öStGB . . . . . . . . . . . 322 (a) Objektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 (b) Subjektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 (2) Bestechung, § 304 öStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Inhaltsverzeichnis13 (3) Nötigung, § 105 öStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 bb) Mögliche Strafbarkeit der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 (1) Begünstigung, § 299 öStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 (2) Verletzung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses, § 122 Abs. 1 öStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 (3) Nötigung, § 105 öStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 e) Zivilrechtliche Anwaltshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 II. Ergebnis des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Internetquellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

Abkürzungsverzeichnis a. A.

andere/-r Ansicht

AB Anfragebeantwortung ABGB

Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch

abl. ablehnend ABl.

Amtsblatt der Europäischen Union

Abs. Absatz AE Alternativ-Entwurf AE-ASR

Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (im Literaturverzeichnis unter Bommer, Felix u. a.)

a. F.

alte Fassung

ALJ

Austrian Law Journal

Alt. Alternative Anm. Anmerkung AnwBl

Anwaltsblatt (Zeitschrift)

Art. Artikel AT

Allgemeiner Teil

ATA

Außergerichtlicher Tatausgleich

B-VG Bundes-Verfassungsgesetz BAZ Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft für Strafsachen, für die die Bezirksanwaltschaft zuständig ist BBl Bundesblatt BeamtVG

Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter des Bundes

BeckOK

Beck’scher Online-Kommentar (im Literaturverzeichnis unter Graf, Jürgen Peter)

Beschl. Beschluss BGH Bundesgerichtshof BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BlgNR

Beilage(-n) zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates

BMJ

Bundesministerium für Justiz

BMJV

Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz

BRAK Bundesrechtsanwaltskammer

Abkürzungsverzeichnis15 BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung BReg Bundesregierung Bs

Rechtsmittel in Strafsachen

BStGer

Bundesstrafgericht (Schweiz)

BT-Drs. Bundestagsdrucksache BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BvR

Registerzeichen bzw. Aktenzeichen des Bundesverfassungsgerichts

bzw. beziehungsweise CCC

Constitutio Criminalis Carolina

CCT

Constitutio Criminalis Theresiana

d. h.

das heißt

DAV

Deutscher Anwaltverein

dBGBl

deutsches Bundesgesetzblatt

ders. derselbe dies. dieselbe Diss. Dissertation DJT

Deutscher Juristentag

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

dStGB

deutsches Strafgesetzbuch

dStPO

deutsche Strafprozessordnung

E Entwurf e. V.

eingetragener Verein

E-StPRÄG

Entwurf zum Strafprozessrechtsänderungsgesetz

EBRV

Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage

ecolex

ecolex – Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht

Ed. Edition EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGStGB

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

Erläut Erläuterungen ErläutRV

Erläuterungen zur Regierungsvorlage

EStPO

Entwurf zur Strafprozessordnung

EU

Europäische Union

16 Abkürzungsverzeichnis EuGRZ

Europäische GRUNDRECHTE-Zeitschrift

EvBl

Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen in der ÖJZ

f. folgende ff. fortfolgende FG Festgabe FinStrG Finanzstrafgesetz Fn. Fußnote FS Festschrift GA

Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Zeitschrift)

GG Grundgesetz GGG Gerichtsgebührengesetz GP Gesetzgebungsperiode GS Gedächtnisschrift GVG Gerichtsverfassungsgesetz HK-GS

Gesamtes Strafrecht: StGB, StPO, Nebengesetze, Handkommentar (im Literaturverzeichnis unter Dölling, Dieter u. a.)

HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz i. d. F.

in der Fassung

i. S. d.

im Sinne des

i. V. m.

in Verbindung mit

insb. insbesondere JA

Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)

JAB Justizausschussbericht JAP

Juristische Ausbildung und Praxisvorbereitung (Zeitschrift)

JBl

Juristische Blätter (Zeitschrift)

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift)

JSt

Journal für Strafrecht (Zeitschrift)

JSt-NL

Journal für Strafrecht Newsletter

JURA

Juristische Ausbildung (Zeitschrift)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JZ Juristenzeitung KG Kammergericht KJ

Kritische Justiz (Zeitschrift)

KK-StPO

Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung (im Literaturverzeichnis unter Hannich, Rolf)

Abkürzungsverzeichnis17 KMR-StPO

Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur Strafprozessordnung krit. kritisch/-er LG Landgericht lit. litera LK-StGB Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (im Literaturverzeichnis unter Laufhütte, Heinrich Wilhelm u. a.) LR-StPO Löwe-Rosenberg, Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz m. w. N. mit weiteren Nachweisen ME Ministerialentwurf MiStra Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen MschKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NK Neue Kriminalpolitik (Zeitschrift) NK-StGB Nomos-Kommentar, Strafgesetzbuch (im Literaturverzeichnis unter Kindhäuser, Urs u. a.) Nr. Nummer NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-RR Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report NZWiSt Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht öBGBl österreichisches Bundesgesetzblatt OGH Oberster Gerichtshof OGHG OGH-Gesetz ÖJK Österreichische Juristenkommission ÖJT Österreichischer Juristentag ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung ÖJZ-LSK Österreichische Juristenzeitung Leitsatzkartei OLG Oberlandesgericht ÖRAK Österreichischer Rechtsanwaltskammertag ORF Österreichischer Rundfunk öStGB österreichisches Strafgesetzbuch öStPO österreichische Strafprozessordnung OWiG Ordnungswidrigkeitengesetz PAR Personalanforderungsrechnung PEUS Projekt zur wissenschaftlichen Evaluation der Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes 2004 RAO Rechtsanwaltsordnung

18 Abkürzungsverzeichnis RDG Richterdienstgesetz RIS-Justiz Rechtsinformationssystem-Justiz RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

RL Richtlinie Rn. Randnummer RPG Rechtspraktikantengesetz RS Rechtssatznummer Rspr. Rechtsprechung RStDG

Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz

RuP

Recht und Politik (Zeitschrift)

RV Regierungsvorlage RZ

Österreichische Richterzeitung

S. Satz/Seite SbgK-StGB

Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch (im Literaturverzeichnis unter Triffterer, Otto u. a.)

sen. senior SK-StPO

Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (im Literaturverzeichnis unter Wolter, Jürgen)

sKp

strafrechtliches Kompetenzpaket

SMG Suchtmittelgesetz SN Stellungnahme sog. sogenannte/-s SPG Sicherheitspolizeigesetz SR

Systematische Rechtssammlung

SSt

Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten

sStGB

schweizerisches Strafgesetzbuch

sStPO

schweizerische Strafprozessordnung

SSW-StGB

Satzger/Schluckebier/Widmaier, Kommentar zum Strafgesetzbuch

St

Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft für Strafsachen am Landes­ gericht

StA Staatsanwaltschaft StGB Strafgesetzbuch StGG Staatsgrundgesetz StPO Strafprozessordnung StPRÄG Strafprozessrechtsänderungsgesetz StPRefG Strafprozessreformgesetz StraFo

Strafverteidiger Forum (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis19 StRÄG Strafrechtsänderungsgesetz StRR StrafRechtsReport (Zeitschrift) StV Strafverteidiger (Zeitschrift) TilgG Tilgungsgesetz u. a. und andere U-Haftanordnung Untersuchungshaftanordnung Urt. Urteil v. vom/von VerstG-K Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren-Kommentar VfGH Verfassungsgerichtshof VfSlg Gesammelte Beschlüsse und Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs vgl. vergleiche Vor Vorbemerkungen Vorbl. Vorblatt VÖStV Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen WFA Wirkungsorientierte Folgenabschätzung wistra Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht WK-StGB Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch (im Literaturverzeichnis unter Höpfel, Frank u. a.) WK-StPO Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung (im Literaturverzeichnis unter Fuchs, Helmut u. a.) Z Ziffer z. B. zum Beispiel ZAP Zeitschrift für die Anwaltspraxis ZG Zeitschrift für Gesetzgebung ZIS Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zit. zitiert ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStrR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zust. zustimmend ZustG Zustellgesetz ZVR Zeitschrift für Verkehrsrecht ZWF Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzstrafrecht ZWH Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen

A. Einleitung Urteilsabsprachen stellen eines der meist umstrittenen Kapitel des gegenwärtigen Strafprozessrechts in Europa dar. In den kontinentaleuropäischen Ländern ist seit geraumer Zeit eine kontinuierliche Verbreitung der Urteilsabsprachenpraxis zu verzeichnen.1 So haben sich beispielsweise Italien, Portugal und Spanien bereits in den 1980er Jahren um eine gesetzliche Erfassung von Urteilsabsprachen bemüht, Frankreich folgte Ende der 1990er Jahre.2 In Deutschland ist im Jahre 2009 das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“3 in Kraft getreten. Zentrale Norm des deutschen Abspracheverfahrens ist § 257c dStPO, der Voraussetzungen und Grenzen von Urteilsabsprachen regelt; hinzu kommen Regelungen über die Transparenz durch Hinweise in der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4 dStPO) und deren Dokumentation (§ 273 Abs. 1a dStPO) als Mittel zur Vermeidung heimlicher Absprachen. Die Schweiz folgte im Jahre 2011 mit der Einführung eines sogenannten „abgekürzten Verfahrens“4 gemäß Art. 358 ff. sStPO. Unter Urteilsabsprachen sind Verständigungen zwischen den Verfahrensbeteiligten, also Tatgericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, zu verstehen, die im Rahmen des strafrechtlichen Hauptverfahrens stattfinden. Die Berufsjuristen einigen sich dabei über das Verfahrensergebnis und beeinflussen so unmittelbar das Strafurteil, denn sie nehmen einen Schuldspruch vorweg und legen dessen konkrete Rechtsfolgen fest.5 Abstrakt formuliert falle unter den Begriff „jede Einigung auf ein beiderseits zu befolgendes Verhaltensprogramm, nach der das Verhalten des einen Partners von dem anderen abhängig sein soll, der ‚Vorleistende‘ also seinen Verhaltensbeitrag im Blick auf die erwartete Gegenleistung, der ‚Nachleistende‘ den seinigen um der erbrachten Vorleistung Willen erbringt.“6

1  Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127 (129); Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (58); Orlandi, ÖJZ 2009, 404; Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (91). 2  Orlandi, ÖJZ 2009, 404. 3  Vom 29. Juli 2009, dBGBl I 2009, S. 2353 f. Im Folgenden auch Verständigungsgesetz genannt. 4  Die einheitliche Schweizer Strafprozessordnung v. 5. Oktober 2007, BBl 2007 6977 (SR 312.0) ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten. 5  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 2. 6  Niemöller, StV 1990, 34 (35).

22

A. Einleitung

I. Aufgabenstellung In der geltenden österreichischen Strafprozessordnung, die dem Instruk­ tionsgrundsatz bzw. der Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet ist,7 sind Urteilsabsprachen als strafprozessuales Erledigungsinstrument nicht vorgesehen.8 Der OGH hat vielmehr in seiner Grundsatzentscheidung vom 24.08.20049 mit aller Deutlichkeit festgestellt, dass eine Urteilsabsprache insbesondere „wegen des eklatanten Widerspruches zu den tragenden Grundprinzipien des österreichischen Strafverfahrensrechtes, namentlich jenem zur – ein Kontrahieren des Gerichtes mit (mutmaßlichen) Rechtsbrechern ausschließenden – Erforschung der materiellen Wahrheit, prinzipiell abzulehnen ist und die Beteiligten disziplinärer (§ 57 RDG) und strafrecht­ licher Verantwortlichkeit (§ 302 StGB) aussetzen kann […].“ An seiner Rechtsprechung hält der OGH in weiteren Entscheidungen fest und erklärt, dass Urteilsabsprachen der Strafprozessordnung fremd und gesetzwidrig seien10 und eine gleichwohl getroffene Urteilsabsprache einen Wiederaufnahmegrund nach § 353 Nr. 1 öStPO darstelle.11 Trotz dieses höchstgerichtlichen Verbots gehören Urteilsabsprachen nach Berichten aus der Praxis zum Alltagsgeschäft der österreichischen Justiz.12 Gesicherte Erkenntnisse über die Häufigkeit von Urteilen, die auf einer Absprache beruhen, liegen bislang zwar nicht vor.13 Es existieren jedoch, wie zu zeigen sein wird, mehrere Faktoren, die entsprechende Praxisberichte unter­mauern. Der typische Ablauf14 einer Urteilsabsprache gestaltet sich wie folgt: Außerhalb der Hauptverhandlung, sogar bereits vor ihrer Terminierung, nehmen die Berufsjuristen untereinander Kontakt auf, um die Verhandlungsbereitschaft des jeweils anderen zu erforschen.15 Die Initiative zu solchen 7  Moos,

Reinhard, RZ 2004, 56 (57). Strafprozessrecht, Rn. 53. 9  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127–128 = EvBl 2005/64, 275–276 = SSt 2004/66. 10  OGH 12.07.2006, 13 Os 70/06b. 11  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65) = EvBl 2010/76, 516–518 = SSt 2010/15. 12  Siehe etwa Schwaighofer, in: Pilgermair, Staatsanwaltschaft, 239 (263); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (127 f.); Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (764, 783); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (16); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 53. 13  Darauf verweisen auch Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (769); Medigovic, Vorarlberger Tage (2007), 95 (96). 14  Zu diesem Prototyp einer Urteilsabsprache auch unten, A. II. 15  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71); Essl, JSt 2010, 10 (12). 8  Seiler,



I. Aufgabenstellung23

Verhandlungen geht nicht zwangsläufig vom Gericht aus.16 Zu den unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlungsgesprächen wird der Angeklagte prinzipiell ebenso wenig zugelassen wie Schöffen oder Privatbeteiligte.17 Sie gelten in den Augen der Berufsjuristen als Inkonstante und dementsprechend als „Sand im Getriebe“18 der Urteilsabsprachen.19 Die Verteidigung verhandelt in der Regel mit Zustimmung des Angeklagten. Sie informiert den Angeklagten nachträglich über den Gesprächsinhalt und ersucht sein Einverständnis zu dem gefundenen Gesprächsergebnis. Kommt es zu einer Einigung, wird dem Angeklagten bzw. der Verteidigung vom Gericht als Gegenleistung für ein Geständnis eine konkrete, das heißt zahlenmäßig bestimmte Strafe zugesagt.20 Dem Angeklagten wird dabei kommuniziert, dass die zugesagte Strafe milder ausfällt als nach schulmäßiger Durchführung einer Hauptverhandlung. Der Angeklagte wird sich wirklichkeitsgetreu betrachtet nämlich nur unter dieser Voraussetzung auf ein solches Vorgehen einlassen, denn der Strafrabatt liefert ihm den eigentlichen, weil greifbaren Anreiz für eine Kooperationsbereitschaft.21 Ebenso wird die Verteidigung dem Angeklagten nur unter dieser Voraussetzung zu einer Kooperationsbereitschaft und dem damit verbundenen Verzicht auf die vollständige Durchführung einer Hauptverhandlung raten können.22 Im Vertrauen auf den Erhalt der zugesagten Strafmilderung tritt der Angeklagte dann in Vorleistung und legt in der Hauptverhandlung ein Geständnis ab.23 Das Geständnis besteht grundsätzlich in der bloßen Einräumung des Anklagevorwurfs, da nur auf diese Weise die größtmögliche Verfahrensabkürzung erreicht werden kann.24 Schöffen werden regelmäßig nicht über das Zustandekommen einer Urteilsabsprache aufgeklärt, in der Beratung aber von dem abgesprochenen Ergeb16  Danek,

15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71). 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71); vgl. auch Herrmann, JuS 1999, 1162 (1164). Der Privatbeteiligte gemäß §§ 65 Nr. 2, 67 öStPO entspricht im deutschen Strafprozess dem Nebenkläger gemäß §§ 395 ff. dStPO. 18  So Fischer, StraFo 2009, 177 (182) zur Rolle des Nebenklägers in der deutschen Urteilsabsprachenpraxis. 19  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 20  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 110. 21  Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17; Weigend, JZ 1990, 774 (778 Fn. 57): „Diese Strafmaßdifferenz ist der unverzichtbare Grundstein des Absprachensystems.“ Vgl. auch Weßlau, Konsensprinzip, S. 79; Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (187). Zur generellen Wichtigkeit der Strafhöhe im Vergleich zum Schuldspruch für den Angeklagten, Reichert, Intersubjektivität, S. 15. 22  Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187). 23  Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119; Wolfslast, NStZ 1990, 409 (415); Rönnau, Absprache, S. 37. 24  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 17  Danek,

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A. Einleitung

nis zu überzeugen versucht.25 Im Anschluss an die ordnungsgemäße Umsetzung der Absprache verzichten Angeklagter und Staatsanwaltschaft – wie grundsätzlich bereits in Vorgesprächen angedeutet – auf Rechtsmittel.26 Denn nur bei endgültiger Verfahrenserledigung können sich die Beteiligten auf den Bestand der gegenseitigen Zusagen verlassen. Dass eine Urteilsabsprache stattgefunden hat, wird in der österreichischen Hauptverhandlung nicht bekannt gegeben. Urteilsabsprachen sind informell und geheim. Entgegen § 13 Abs. 1 öStPO27 scheinen Urteile in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit heute somit nicht mehr aufgrund von Beweisen gefällt zu werden, die unmittelbar in die Hauptverhandlung eingeführt wurden. Vielmehr scheint sich das Ermittlungsverfahren zum heimlichen Zen­ trum des Strafverfahrens entwickelt zu haben.28 Zentrale Frage der Arbeit ist deshalb, wie das österreichische Recht mit dieser Sachlage verfahren soll. Es erfolgt eine Analyse der Möglichkeiten, die sich im Umgang mit informellen Urteilsabsprachen bieten. Zu sondieren ist namentlich, welche Schlussfolgerungen aus der in tatsächlicher Hinsicht zunächst entsprechend verlaufenen, dann aber durch Richterrecht und Gesetzgebungsakt abweichenden Rechtsentwicklung in Deutschland für die österreichische Diskussion zu ziehen sind.29 Ist sie Vorbild oder abschreckendes Exempel? Bei der Erörterung dieser Frage wird neben den beiden Grundsatzentscheidungen des BGH30 zum Themenkomplex der Urteilsabsprachen auch auf das in Deutschland im Jahre 2009 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“31 mitsamt dem dazu ergangenen Urteil des BVerfG32 aus dem Jahre 2013 einzugehen sein.33 Bereits im Regierungsprogramm für die 24. österreichische Gesetzgebungsperiode der Jahre 2008 bis 2013 ist niedergelegt, dass im Hauptver­ fahren Möglichkeiten zur Vermeidung aufwändiger Hauptverhandlungen geschaffen werden sollen, „insbesondere wenn der Beschuldigte Bereitschaft zeigt, die Verantwortung zu übernehmen und keine Gründe bestehen, an 25  Danek,

15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71). 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (123); ­Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (785). 27  § 13 Abs. 1 öStPO besagt: „Die Hauptverhandlung bildet den Schwerpunkt des Verfahrens. In ihr sind die Beweise aufzunehmen, auf Grund deren das Urteil zu fällen ist.“ 28  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (25 f.); Lagodny, JSt 2018, 358 (362 f.). 29  In diese Richtung auch Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (95). 30  BGHSt 43, 195–212; 50, 40–64. 31  Siehe Fn. 3. 32  BVerfGE 133, 168–241. 33  Siehe dazu unten, E. und F. I. 1. a). 26  Obetzhofer,



II. Abgrenzung der „Urteilsabsprache“25

seinem Geständnis zu zweifeln.“34 Diese Vorgaben sind nicht näher bestimmt und gewähren etwaigen Umsetzungen einen weiten Ermessensspielraum,35 der neben der Verständigung der Verfahrensbeteiligten auf ein Prozessergebnis auch ein durch Hinweise und Erörterungen über Sachfragen offenes, aber noch nicht ergebnisorientiertes Verhandeln oder vereinfachte Verfahrensformen unter Einschluss von Teilerledigungen des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen oder Strafverfügungsmöglichkeiten ohne Hauptverhandlung einschließt. Sie markieren jedoch auch in Österreich die Tendenz zur Konsensualisierung des Strafverfahrens. Konsens wird definiert als „kommunikative Übereinstimmung zwischen Menschen über Gegenstände aller Art“36. Ein Konsens setzt nicht zwingend eine Beteiligung an der Sachverhaltsfeststellung oder die Ablegung eines Geständnisses voraus, sondern lässt auch die Zustimmung zu einer bestimmten Verfahrenserledigung genügen.37 Formen kommunikativer Elemente zwischen den Verfahrensbeteiligten finden sich de lege lata etwa im Diversionsbereich nach §§ 198 ff. öStPO. Einen weiteren, bedeutenden Niederschlag konsensualer Elemente weist die „große“ Kronzeugenregelung in § 209a öStPO auf, die am 1. Januar 2011 mit dem strafrechtlichen Kompetenzpaket38 in Kraft getreten ist und durch das ­StPRÄG II 201639 mit Wirkung zum 1. Januar 2017 novelliert wurde. Zum 1. Januar 2015 wurde mit § 491 öStPO40 das schriftliche Mandatsverfahren in die Strafprozessordnung eingefügt, wonach auf Antrag der Staatsanwaltschaft Verfahren bei minderschweren Straftaten ohne mündliche Verhandlung mit einer Strafverfügung des Richters beendet werden können, wenn der Angeklagte keinen Einspruch einlegt. Der Zuwachs kommunikativer Elemente im österreichischen Strafprozess liegt somit weiterhin im Trend.

II. Abgrenzung der „Urteilsabsprache“ Es ist in der Diskussion um Urteilsabsprachen bisher nicht gelungen, sich auf eine gemeinsame Terminologie dieses Phänomens zu einigen.41 Beispiel34  Regierungsprogramm für die 24. GP 129 Punkt E.20. [abrufbar unter: http:// www.za1.at/media/regierungsprogramm_XXIV_Gesetzgebungsperiode.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 35  Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (95). 36  Hassemer, Winfried, in: Hamm-FS, 171. 37  Weßlau, Konsensprinzip, S. 14. 38  sKP 2010, öBGBl I 2010/108. 39  StPRÄG II 2016, öBGBl I 2016/121. 40  StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71. 41  Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86. Vgl. auch Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111.

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A. Einleitung

haft seien genannt: „Absprache“42, „Verständigung“43, „Vergleich“44, „Deal“45, „Handel“46, „plea bargaining“47. Der OGH spricht von „verfahrensbeendenden Prozessabsprachen“.48 Letztlich kann es aber nicht darauf ankommen, welche Bezeichnung man zur Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes verwendet.49 Die Urteilsabsprache ist als Untersuchungsgegenstand allerdings inhaltlich von anderen im Strafprozess vorkommenden Absprachen abzugrenzen. So kann etwa bei einer sogenannten „Prozessumfangsabsprache“ der Umfang des Verfahrens mittels Absprache erweitert oder begrenzt werden.50 Bei einer Urteilsabsprache erfolgt dagegen eine Einigung über den Rechtsfolgenbereich unter gedanklicher Antizipation des Schuldspruchs.51 Abzugrenzen sind des Weiteren bereits in der österreichischen Strafprozessordnung enthaltene Verständigungsmöglichkeiten.52 Solche prozessleitende Absprachen finden sich beispielsweise in §§ 246 Abs. 2, 252 Abs. 1 Nr. 4, 252 Abs. 2a öStPO. Rein verfahrensbezogene Absprachen, die lediglich den ordnungsgemäßen Gang des Verfahrens betreffen, zum Beispiel die Terminsbestimmung oder Strukturierung der Hauptverhandlung, scheiden ebenfalls aus dem Themenkomplex der Urteilsabsprachen aus.53 Sie dienen der organisatorischen Verfahrensgestaltung und haben im Allgemeinen keinen Einfluss auf das Prozessergebnis.54 Außer Betracht bleiben auch Gespräche aus dem 42  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70 f.); Moos, Reinhard, RZ 2004, 56; Ratz, ÖJZ 2009, 949. 43  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243; Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402. 44  Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.02 2015), § 2 Rn. 4. 45  Stuefer, JSt 2013, 245. 46  Tipold, Absprachen, 169 (189); Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70). 47  Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86; Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70); Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127 (129). 48  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127; RIS-Justiz RS0119311. 49  Vgl. Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (38); Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86. 50  Rönnau, Absprache, S. 32; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 3, 57 f., 60 f. 51  Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126; Oberhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 144. 52  Tipold, Absprachen, 169 (189); Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 59. 53  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65); Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110); ders., 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 80 (82); Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (57); Ratz, ÖJZ 2009, 949 (952); Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO (Onlineaktualisierung 1.02 2015), § 2 Rn. 4; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 3. 54  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65); Tipold, Absprachen, 169 (187); Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 57.



II. Abgrenzung der „Urteilsabsprache“27

zwischenmenschlichen Bereich, die lediglich zum achtungsvollen und kompetenten Auftreten der Verfahrensbeteiligten zählen.55 Nicht jedes Gespräch über den Stand des Verfahrens ist somit eine Urteilsabsprache. Diese Differenzierungen erscheinen notwendig, da es Stimmen gibt, die sich als Befürworter von Urteilsabsprachen sehen und unter Urteilsabsprachen solche eben beschriebenen Vorgänge verstehen.56 Solange verfahrensbezogene Absprachen die anderen Strafprozessrechtsprinzipien nicht verletzen, werden sie richtigerweise für mit dem geltenden Recht vereinbar gehalten.57 Nun sollen es aber gerade Absprachen über das Urteilsergebnis – die Urteilsabsprachen – sein, welche sich im österreichischen Strafprozess großer Beliebtheit erfreuen.58 Die in der Praxis häufigste Form einer Urteilsabsprache kennzeichnet sich dadurch, dass dem Angeklagten vom Gericht für sein Geständnis eine mildere Strafe zugesagt wird („Geständnis gegen mildere Strafe“).59 Sie lässt sich als Prototyp einer Urteilsabsprache bezeichnen.60 Die Popularität dieser Absprache erklärt sich daraus, dass das Gericht bei Vorliegen eines Geständnisses die Durchführung einer Beweisaufnahme für überflüssig erachten und dadurch eine größtmögliche Verfahrensverkürzung und erhebliche Arbeitsvereinfachung erreichen kann.61 Auch der OGH sah sich in seinen Entscheidungen mit eben diesem Prototyp einer Urteilsabsprache konfrontiert und zu einer grundsätzlichen Bemerkung über eine „Absprache zwischen Richter und Verteidiger über zahlenmäßig determinierte Auswirkungen des Aussageverhaltens des Angeklagten auf die über diesen zu verhängende Strafe“ veranlasst.62 Untersuchungsgegenstand der vorliegenden 55  Braun,

Stefan, Absprache, S. 7. diese Differenz verweisen etwa auch Burgstaller, 15.  ÖJT (2003), Band IV/2, 126; Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 135; Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (63); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132). 57  Tipold, Absprachen, 169 (187); Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126; Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (57). 58  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243. 59  Medigovic, Vorarlberger Tage (2007), 95 (98); dies., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (130); Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8; Moos, Reinhard, RZ 2004, 56: „Geständnis gegen Milde“. Schick, in: Miklau-FS, 451 (453), verwendet den Begriff der „Strafzumessungsabsprache“. 60  Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110) spricht von „Absprachen im ‚klassischen Stil‘ “; vgl. auch Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 92, 110; ders./ Hauer, Deutsches AnwBl 2006, 439 (442); Niemöller, StV 1990, 34 (35). 61  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56; Medigovic, 3. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2005), 126 (127–129); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (96 f.); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19 f.). 62  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127 (127 f.); RIS-Justiz RS0119311; zu den Entscheidungen unten, C. I. Ebenso lag den beiden Grundsatzurteilen des BGH aus den 56  Auf

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A. Einleitung

Arbeit sind daher Urteilsabsprachen verstanden als „Geständnis gegen mildere Strafe“.

III. Problematik der Urteilsabsprache Die Probleme, welche die Urteilsabsprachenpraxis bedingt, gestalten sich sehr komplex. Das zeigt bereits die Schwierigkeit, eine gemeinsame Terminologie dieses Phänomens zu finden. Die Urteilsabsprachenpraxis stößt vor allem auf enorme rechtliche Zulässigkeitsprobleme. Im österreichischen Schrifttum war in jüngerer Vergangenheit eine zunehmende Erörterung dieser Zulässigkeitsproblematik zu verzeichnen.63 Da Urteilsabsprachen erheblich zur Verkürzung des Verfahrens und daher zur Prozessökonomie beitragen können, ist das vermeintliche Einsparungspotenzial auf Seiten der Justiz nicht zuletzt für die Rechtspolitik reizvoll.64 In Zeiten von Ressourcenknappheit und Kostendruck im Personalbereich scheint sich eine neue Sichtweise auf das österreichische Strafverfahren zu entwickeln, bei der praktische Bedürfnisse wie die Entlastung der Justiz durch verfahrensökonomische Maßnahmen in den Fokus rücken.65 Ein haushaltspolitischer Druck zur Legalisierung von Urteilsabsprachen ist somit naheliegend.66 Auch in Deutschland ist das seit 2009 geltende Verständigungsgesetz67 mit der Sicherstellung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege gerechtfertigt worden.68 Ebenso kam in der Schweiz der erste Anstoß zur Einführung des „abgekürzten Verfahrens“ gemäß Art.  358 ff. sStPO69, welches 2011 in Kraft getreten ist, nicht von Seiten der Strafrechtslehre, sondern aus der Politik.70 Sowohl in Deutschland Jahren 1997 (BGHSt 43, 195–212) und 2005 (BGHSt 50, 40–64) dieser Prototyp einer Urteilsabsprache zugrunde, hierzu unten, E. I. 63  Vgl. etwa die Diskussionsbeiträge, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 74 (74–153) und den Workshop Absprachen, RichterInnenwoche (2010), 85 (85–95) sowie die Erörterungen im Rahmen des 13. Österreichischen StrafverteidigerInnentages (2015): Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (96); Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (109); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (115–117). 64  Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (87). 65  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37; vgl. dazu Kmetic, PAR, S. 23. Siehe auch Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (400), zu den Zielen eines „Justizmanagements“. 66  Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (87). 67  Siehe Fn. 3. 68  BT-Drs. 16/12310, S. 7. Auch der Große Senat für Strafsachen des BGH hatte seinerzeit auf diesen Rechtfertigungsgrund verwiesen, BGHSt 50, 40 (53–55). 69  Siehe Fn. 4. 70  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (41).



III. Problematik der Urteilsabsprache29

als auch in der Schweiz ist die Legalisierung der Absprachenpraxis in der Strafrechtswissenschaft jedoch auf harte Kritik und Ablehnung gestoßen.71 Denn Urteilsabsprachen scheinen für die Justiz gerade dann attraktiv, wenn eine unklare und schwierige Sach- und Beweislage vorliegt, also in komplexen oder in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht schwierigen Verfahren, insbesondere wenn dort noch kein Geständnis abgelegt wurde, so dass das Geständnis und der Verzicht auf Rechtsmittelmöglichkeiten die wesentliche Verhandlungsmasse des Angeklagten bilden.72 Ein persönliches Interesse an einem Geständnis ergibt sich für den Richter aus der Reduzierung seines Arbeitsaufwands, insbesondere dem Wegfall von Vorbereitung und Durchführung eines aufwändigen Beweisverfahrens samt schwieriger Urteilsabfassung.73 Die Erwartung des Ausbleibens einer Urteilsanfechtung kommt als weitere psychologische Triebfeder hinzu.74 Es ist deshalb zumindest zu befürchten, dass das Gericht auf ein Geständnis hinarbeitet.75 Die ehemalige deutsche Generalbundesanwältin Harms stellt unmissverständlich fest: „Je schwieriger und komplexer die Rechtsmaterie, je umfangreicher das Aktenmaterial und je schwerer der strafrechtliche Vorwurf, umso größer die Neigung, das Verfahren mit Hilfe eines ‚deals‘ in erträglicher Zeit zu beenden, auch wenn dies nur mit Hilfe eines erheblichen Strafnachlasses zu erzielen ist.“76 Erhält aber der Angeklagte bei einer Urteilsabsprache tatsächlich einen Strafrabatt, den er in einem streitigen Verfahren nicht erhalten würde,77 dann wird befürchtet, dass letztlich ein Handel über die Schuld stattfinde.78 Die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen erscheint bereits hiernach unter mehreren Aspekten zweifelhaft und wird deshalb – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des OGH – einer genaueren Prüfung zu unterziehen sein.

71  Luef-Kölbl,

RichterInnenwoche (2010), 37 (41). 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96); Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 (127); Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122 f.); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (128); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (96); Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (27). 73  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (128); Danek/Mann, in: WK‑StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17. 74  Terhorst, GA 2002, 600 (606). 75  Vgl. Driendl, JBl 1981, 125 (136). 76  Harms, Bitburger Gespräche (2008), Teil I, 215 (220). 77  So Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70  f.); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51 f.); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17; Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 135; Schick, in: Miklau-FS, 451 (453). 78  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70); vgl. auch ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51 f.). 72  Danek,

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A. Einleitung

IV. Gang der Untersuchung Zur Analyse der Möglichkeiten im Umgang mit dem österreichischen Absprachenphänomen werden Urteilsabsprachen zunächst auf ihre mutmaßlichen Ursachen untersucht und es werden Faktoren aufgezeigt, welche die Annahme ihrer weitläufigen Ausbreitung stützen (B.). Sodann wird der Meinungsstand zu Urteilsabsprachen in Rechtsprechung und Literatur dargestellt (C.) und ihre rechtliche Zulässigkeit erörtert (D.). Mangels empirischer Forschungen zur österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit und aufgrund vergleichbarer prozessualer Gesetzeslage bis zur Einführung des deutschen Verständigungsgesetzes im Jahre 200979 scheint beim Thema der Absprachen ein rechtsvergleichender Blick speziell nach Deutschland unabdingbar (dazu E.).80 Die österreichische Strafrechtswissenschaft ist sich dessen gewahr geworden. Eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Stimmen in der strafrechtlichen Literatur fordert deshalb vom OGH die Anerkennung der Urteilsabsprachen als zulässiges strafprozessuales Erledigungsinstrument.81 Der OGH dürfe die alltäglich geübte Praxis der Urteilsabsprachen nicht verbieten.82 Die Existenz von Urteilsabsprachen sei Ausdruck eines entsprechenden Bedürfnisses seitens der Praxis, was in Deutschland der BGH erkannt und einen vorbildlichen Umgang mit dem der deutschen Strafprozessordnung bis dahin ebenfalls unbekannten Instrument der Urteilsabsprachen entwickelt habe.83 Der 4. Strafsenat des BGH hatte in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.08.199784 konstatiert: „Eine Verständigung im Strafverfahren, die ein Geständnis des Angeklagten und die zu verhängende Strafe zum Gegenstand hat, ist nicht generell unzulässig.“85 Weiter formulierte er in den Leitsätzen der Entscheidung Zulässigkeits­ voraussetzungen für eine Absprache,86 die der Große Senat des BGH in seiner Entscheidung vom 03.03.200587 bestätigte.88 Der OGH ist nach Ansicht seiner Kritiker gehalten, sich am Beispiel des BGH zu orientieren und Urteilsabsprachen für grundsätzlich zulässig zu erklären. Bedenklich an dem Postulat, der OGH solle – nach dem Vorbild des BGH – Regeln für die Böttcher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 106; Rieß, ZIS 2009, 466 (481). dazu Böttcher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 106; Rieß, ZIS 2009, 466 (481). 81  Siehe dazu unten, C. II. 2. b). 82  Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187). 83  Soyer, zitiert nach Kommenda, in: Die Presse v. 25.04.2005, S. 7. 84  BGHSt 43, 195–212. 85  BGHSt 43, 195. 86  BGHSt 43, 195. 87  BGHSt 50, 40–64. 88  BGHSt 50, 40 (48). 79  Vgl. 80  Vgl.



IV. Gang der Untersuchung31

Durchführung von Urteilsabsprachen statuieren, ist jedoch bereits die für eine solche richterliche Rechtsfortbildung notwendige Legitimationsgrundlage. Der BGH89 hatte seinerzeit versucht, seine richterliche Rechtsfortbildung im Bereich der Urteilsabsprachen durch die Existenz anderer konsensualer Verfahrenselemente in der deutschen Strafprozessordnung zu legitimieren. Er ist dafür heftig kritisiert worden.90 Ob dem OGH die in der österreichischen Strafprozessordnung existenten konsensualen Verfahrenselemente als Legitimationsgrundlage für eine richterliche Rechtsfortbildung dienen könnten, wird deshalb zu überprüfen sein.91 Teilweise wird auch die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handelns bejaht. In diesem Fall stünden dem österreichischen Gesetzgeber grob formuliert zwei Optionen zur Regelung der informellen Absprachenpraxis zur Verfügung: Deren Legalisierung oder deren Verbot (dazu F.). Bei einer Legalisierung müsste sich der österreichische Gesetzgeber entscheiden, wie eine entsprechende gesetzliche Regelung auszugestalten wäre. In der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft und Rechtspolitik sind unterschiedliche Vorschläge zur gesetzlichen Regelung eines Abspracheverfahrens unterbreitet worden. Die hier untersuchten Ausgestaltungsmöglichkeiten werden in drei Kategorien unterteilt (F. I.): Die Integration von Urteilsabsprachen in das Normalverfahren (F. I. 1.), die Einführung von Sonderverfahren (F.  I.  2.) und die Einführung eines rein adversatorischen Prozesstyps (F. I. 3.). Der österreichische Gesetzgeber sollte sich allerdings nur dann für eine dieser Ausgestaltungsmöglichkeiten entscheiden, wenn ihm ein vertretbares und vor allem an der Realität der Strafrechtspraxis orientiertes Konzept zur Lösung der Probleme der informellen Urteilsabsprachenpraxis präsentiert wird. Die einzelnen Ausgestaltungsmöglichkeiten dürften deshalb nicht nur theoretische Modelle darstellen. Zur Problemlösung sind sie fruchtlos, wenn sie die Ursachen der Urteilsabsprachenpraxis unbeachtet lassen und lediglich ein Kurieren am Symptom verfolgen. Mit der Behauptung, Urteilsabsprachen seien aus der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit nicht mehr hinwegzudenken und ihre Legitimation ein zu akzeptierendes Übel,92 sollte sich der Gesetzgeber jedenfalls nicht zufriedengeben. Bei einem ausdrücklichen gesetzlichen Verbot von Urteilsabsprachen würde indes das Richterrecht des OGH (dazu C. I.), welches verfahrensbe­ 89  BGHSt 43,

195 (202 f.). unten, E. II. 2. c). 91  Unten, E. II. 3. b). 92  So etwa Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (100); ähnlich Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (60 f.). Vgl. auch Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (197 f.). 90  Hierzu

32

A. Einleitung

endende Urteilsabsprachen prinzipiell verbietet, in Gesetzesrecht gegossen (F. II.). Fraglich ist, ob die Befolgung eines gesetzlichen Verbots von Urteilsabsprachen zu erwarten wäre, nachdem das höchstrichterliche Verbot von der Praxis in den Tatsacheninstanzen allem Anschein nach missachtet wird. Deshalb werden in dem darauffolgenden Kapitel Gegenmaßnahmen zur informellen Absprachenpraxis vorgestellt (dazu G.). Denn lassen sich die Zulässigkeitsprobleme von Urteilsabsprachen nicht in rechtsstaatlicher Weise lösen, erscheint es wenig förderlich, Urteilsabsprachen zu ignorieren und ihnen weiterhin freien Lauf in der österreichischen Strafprozesskultur zu lassen.93 Ist ein gesetzliches Verbot allein nicht ausreichend, bedarf es weitergehender Vorkehrungen. Zum einen könnte versucht werden, die Strafjustiz auf anderem Wege als durch Urteilsabsprachen zu entlasten (G. I. 1.). Zum anderen könnten die Grundlagen, welche Urteilsabsprachen ermöglichen, korrigiert werden (G. I. 2.). Den dritten Ansatzpunkt bildet die Frage, wie die Berufsjuristen persönlich vom Praktizieren der Urteilsabsprachen abgehalten werden können (G. I. 3.). Ziel ist es zu zeigen, dass Maßnahmen mit dem virtuellen Potenzial zur Eindämmung der Urteilsabsprachenpraxis ergriffen werden könnten. Der „Kampf“ gegen die Urteilsabsprachen sollte nicht als verloren betrachtet werden, bevor er überhaupt ernstlich aufgenommen wurde. Dazu erscheint es unerlässlich, ein generelles Bewusstsein für die hinter den Urteilsabsprachen liegenden Probleme zu schaffen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Ursachen, welche für die Entstehung und Verbreitung der Urteilsabsprachen verantwortlich sind. Denn nur wenn an diesen Ursachen angesetzt wird, könnte eine rechtsstaatliche Bewältigung der Urteilsabsprachenproblematik gelingen.

93  Ähnlich

Velten, JSt 2009, 181 (190).

B. Urteilsabsprachen in der Praxis In diesem Kapitel wird zunächst allgemein auf die Existenz von Urteilsabsprachen in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit einzugehen sein (dazu unten I.), bevor ihre mutmaßlichen Ursachen (II.) näher erörtert werden. Schließlich ist zu überlegen, wie die Ausbreitung informeller Urteilsabsprachen – auch ohne das Vorliegen empirischer Studien – realistisch einzuschätzen ist (III.). In diesem Zusammenhang wird die Tendenz des österreichischen Gesetzgebers, konsensuale Verfahrenselemente in die Strafprozessordnung zu integrieren, aufgezeigt.

I. Existenz von Urteilsabsprachen Empirische Untersuchungen über die Existenz von Urteilsabsprachen in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit liegen nicht vor.1 Die Rechtstatsachenforschung hat sich bislang mit diesem Problem nicht befasst. Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Absprachenpraxis folgen aus deren Informalität. Verhandlungsgespräche finden außerhalb der Hauptverhandlung und ohne Niederschlag in den Akten statt. Dass eine Urteilsabsprache erfolgt ist, können Nichtbeteiligte grundsätzlich nur aufgrund von Indizien erahnen. Ausschlaggebend für diese Heimlichkeit ist die Gewissheit der Absprachebeteiligten, sich mit ihrem Handeln der eindeutigen Rechtsprechung des OGH zu widersetzen.2 Dennoch: Bereits seit längerem berichtet selbst die Tagespresse über die Existenz dieses Phänomens in österreichischen Gerichts­ sälen.3 Dass der Rechtsprechung des OGH Urteilsabsprachen nicht mehr fremd sind und sich das Höchstgericht bereits im Jahre 2004 zu einer grundsätzlichen Bemerkung über Urteilsabsprachen in Form von Geständnis gegen mildere Strafe veranlasst sah, wurde bereits angeführt.4 Es ist damit ein „offenes Geheimnis“5, dass Absprachen über das Verfahrensergebnis in der

1  Darauf verweisen auch Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (769); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (127); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (96). 2  Dazu unten, C. I. 3  Siehe etwa Kommenda, in: Die Presse v. 25.04.2005, S. 7. 4  Oben, A. I. 5  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (403).

34

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

österreichischen Strafgerichtsbarkeit existieren.6 Dies wird selbst von Seiten der Justiz nicht geleugnet.7 Auch die mittlerweile kontroversen Diskussionen über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen sprechen für dieses Ergebnis. So waren Urteilsabsprachen etwa zentrales Thema beim Österreichischen StrafverteidigerInnentag in den Jahren 2003, 2005, 2009, 2010 und 2015, beim 15. Österreichischen Juristentag 2003, bei den Vorarlberger Tagen 2007, dem Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie 2010 sowie der RichterInnenwoche im Jahre 2010. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Autoren, die zu dem Thema der Urteilsabsprachen Stellung beziehen, durchweg von deren Existenz in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit ausgehen.8

II. Mutmaßliche Ursachen Die mutmaßlichen Ursachen für die Etablierung der Urteilsabsprachen sind vielschichtig. Es wird zu zeigen sein, dass die immer wieder vorgebrachte Überlastung des Justizapparates als solches einen wichtigen, aber wohl nicht den einzigen Grund für die Praxis der Urteilsabsprachen darstellt. Insbesondere die individuellen Interessen der einzelnen Verfahrensbeteiligten, vornehmlich der Berufsjuristen, dürfen dabei nicht vernachlässigt werden. Zudem ist zu beachten, dass mutmaßliche Ursachen noch nichts über eine mögliche Legitimation der Urteilsabsprachenpraxis aussagen.

1. Überlastung und Überforderung der Justiz Die österreichische Strafjustiz befindet sich seit geraumer Zeit in keiner guten finanziellen Situation.9 Der steigenden Belastung der Strafjustiz wird gegenwärtig nicht durch eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung Rechnung getragen. Aufgrund der angeordneten Sparmaßnahmen 6  So etwa Schwaighofer, in: Pilgermair, Staatsanwaltschaft, 239 (263); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (41); Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 85 (86); Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126; Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131; Ainedter, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 23; Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (128 f.); Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (764, 783); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 133 f.; Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (16); Velten, JSt 2009, 181 (191); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243; Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68). 7  Siehe nur Danek/Mann, in: WK-StPO (2019), Vor §§ 220–227 Rn. 8, 9. 8  So bereits z. B. Schick, in: Miklau-FS, 451 (453). 9  So bereits Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37; Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98).



II. Mutmaßliche Ursachen35

wurde bereits im Jahr 2009 für die Zukunft eine unverhältnismäßige Zunahme der Strafsachen im Vergleich zum verfügbaren Justizpersonal pro­ gnostiziert.10 Es überrascht deshalb nicht, dass in der Überlastung der Strafjustiz der Hauptgrund für das Urteilsabsprachenphänomen gesehen wird.11 a) Überlastung der Justiz Die angeprangerte Überlastung der Strafjustiz soll im Folgenden einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Unter der Prämisse einer defizitären justiziellen Personalausstattung ist zu eruieren, welche Faktoren die Überlastung der Strafjustiz speziell fördern. aa) Pensenberechnung nach der PAR Die sogenannte „Personalanforderungsrechnung“ (PAR) wird seit Mitte der 1990er Jahre in der österreichischen Justizverwaltung als maßgebliches System zur Leistungsmessung der Legislative und Personalbedarfsplanung eingesetzt.12 Die anhand dieses Systems durch Umfragen unter den Justizjuristen ermittelten Kennzahlen sollen Aufschluss über die Aus- und Belastungssituation innerhalb der einzelnen Gerichte geben und als Grundlage für die gesamte Planstellenbewirtschaftung und Geschäftsverteilung einschließlich der Beförderungsentscheidungen dienen.13 Aus den gewonnenen Daten bestimmt sich auch die vorgegebene Arbeitszeit der Richter. An dieser verwaltungstechnischen Ermittlung des Arbeitspensums ist die Nichtberücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Richters zu kritisieren.14 Alle Richter haben danach das allgemein zugewiesene Pensum zu erledigen. Ob es sich um versierte Richter oder Berufsan­ fänger, uneingeschränkt belastbare oder gesundheitlich geschwächte Personen handelt, bleibt unberücksichtigt.15 Ebenso wird außer Acht gelassen, ob schwierige Sach- und Rechtsfragen vorliegen oder sich etwa die Verteidigung, aber auch Privatbeteiligte mit Anträgen, sonstigen Schriftsätzen oder 10  Bogensberger,

7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 f. beispielhaft Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131; Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37. 12  Kmetic, PAR, S. 17. 13  Kmetic, PAR, S. 19 f., 224 f.; siehe zu den „Ergebnissen der PAR II“ auch BMJ, 4766/AB 24. GP 3 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ AB/AB_04766/fname_186258.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 14  Kmetic, PAR, S. 227. Vgl. zum deutschen Recht Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640 mit Fn. 30). 15  Kmetic, PAR, S. 227. 11  Siehe

36

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Rechtsbehelfen in das Strafverfahren einschalten und arbeitsintensive Leistung reklamieren.16 Das veranschlagte, einzuhaltende Arbeitspensum verhindert dann nicht selten die unerlässliche vertiefte Dogmatik für eine genaue und schulmäßige Fallbearbeitung.17 Dieser stete Kampf gegen die Zeit und starre Statistiken zerren an den Nerven der Justizjuristen und sind geeignet, sukzessive deren Leistungsfähigkeit zu zermürben, was schließlich zum Verlust der Ambition nach qualitativ einwandfreier Arbeit führen kann.18 Die Staatsanwaltschaft hat als vorgeschaltete Instanz kein weniger strafferes Arbeitspensum zu erledigen und sitzt mit den Strafrichtern „in einem Boot“.19 Zur Zeitgewinnung wird deshalb unter Umständen versucht, Arbeitsschritte einzusparen, wobei etwa auf eine vertiefte Sachverhaltswahrnehmung und rechtliche Fallaufarbeitung verzichtet wird.20 Strafjustizjuristen sehen womöglich gerade in Urteilsabsprachen ein probates Mittel im Kampf gegen die Erledigungsquote bzw. diese „policy by budget“21.22 Hat sich ein Richter erst einmal auf Urteilsabsprachen eingelassen und deren Einsparungspotenzial erkannt, besteht zumindest die Gefahr einer Absprachenroutine. Denn je höher seine Erledigungsstatistik ist, umso größer sind die Beförderungschancen. Eine Aufhebung seines Urteils muss der absprachebereite Tatrichter nicht befürchten, denn das abgesprochene Urteil wird durch den Rechtsmittelverzicht wasserdicht gemacht.23 Diejenigen Richter, die sich noch detailliert auf die Hauptverhandlung vorbereiten, können bei der Bewältigung des Arbeitspensums mit den zu Urteilsabsprachen bereiten Kollegen nicht mithalten, wodurch ihre Beförderungsaussichten sinken.24 Auch das trägt zur Attraktivität von Urteilsabsprachen bei.

16  Pollak,

RZ 2018, 41 (43). Kmetic, PAR, S. 173, 227–235. 18  Vgl. Kmetic, PAR, S. 227. Zu den Qualitätsanforderungen an die Justiz und den eigenen Qualitätsvorstellungen der Justizmitarbeiter Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (395 f.). 19  Vgl. beispielhaft StA Wien, Stellungnahme, 68/SN-38/ME 25. GP 1 f. [Internetquelle]. 20  Paeffgen/Wasserburg, GA 2012, 535 (536). Vgl. auch Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (116). 21  Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37. 22  Vgl. zum deutschen Recht Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640 mit Fn. 30). 23  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 33; Terhorst, GA 2002, 600 (606); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 130; Müller, Martin, Probleme, S. 57. 24  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 32; Moldenhauer, Verfahrensordnung, S. 34; Eschelbach, HRRS 2008, 190 (196); Velten, GA 2015, 387 (408). 17  Vgl.



II. Mutmaßliche Ursachen37

bb) Anstieg der Regelungsdichte des materiellen Strafrechts Die Erledigung des vorgeschriebenen Arbeitsauftrags wird insbesondere durch die Ausdehnung des materiellen Strafrechts erschwert, welches sich von dem klassischen Kernstrafrecht zunehmend entfernt.25 Der Gesetzgeber hat auf die Internationalisierung der Kriminalität und neue gesellschaftliche Probleme im Bereich der Wirtschaft, Umwelt, Drogen und der Datenverarbeitung mit einer Modernisierung und Ausweitung des materiellen Strafrechts reagiert.26 Der Gesichtspunkt der Prävention rückt im Strafrecht immer mehr in den Mittelpunkt. Die neu geschaffenen Straftatbestände sind häufig dem Deliktstyp der Gefährdungsdelikte zugeordnet und zeichnen sich durch den Einsatz subjektiver und dadurch schwer nachweisbarer Tatbestandsmerkmale sowie unbestimmter Rechtsbegriffe aus, insbesondere in Wirtschafts- und Umweltstrafverfahren wie auch im Suchtgiftbereich.27 Diffizile Sach- und Rechtsfragen mit einem größeren Zeitaufwand für die Fallbearbeitung sind ebenso die Folge wie erhebliche Beweisschwierigkeiten.28 Die österreichische Strafjustiz hat deshalb nicht nur mit einer Expansion der Verfahrenszahlen zu kämpfen, sondern sie ist zunehmend mit Verfahren beschäftigt, die eine lange Verfahrensdauer aufweisen.29 Dies widerspricht tendenziell dem Beschleunigungsgebot aus § 9 Abs. 1 öStPO, wonach ein Verfahren in angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), also zügig und ohne unnötige Verzögerung, durchzuführen ist.30 Lange Verfahrensdauern trüben nicht nur Beweisquellen und beeinträchtigen dadurch die materielle Wahrheitsfindung und die Verteidigungsrechte, sondern bewirken ebenso eine verstärkte Belastung der Beteiligten im Verfahren, insbesondere des Angeklagten.31 Aus diesem Grund steht der Beschleunigungsgrundsatz neben dem Grundsatz der Wahrheitserforschung aus § 3 öStPO als Richtlinie des Strafverfahrens im

25  Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37  f.). Eine beispielhafte Aufzählung der Tatbestände im Wirtschaftsstrafrecht liefert EderRieder, Wirtschaftsstrafrecht, S. 42. 26  Dazu etwa Bogensberger, 5. Rechtsschutztag (2007), 143 (143–151). 27  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34). 28  Peschorn, in: ÖJK, Strafverfolgung, 121 (121 f.); Radasztics, in: ÖJK, Strafverfolgung, 127 (127–130); vgl. auch Theile, MschKrim 2010, 147 (153 f.). 29  Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37  f.); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (93); Eder-Rieder, Wirtschaftsstrafrecht, S. 39 f. Vgl. auch Radasztics, in: ÖJK, Strafverfolgung, 127. Zum Ablauf eines Wirtschaftsstrafverfahrens aus richterlicher Sicht: Liebhauser-Karl, in: ÖJK, Strafverfolgung, 131 (131–137). 30  Kier, in: WK-StPO (2008), § 9 Rn. 1, 2. 31  Kier, in: WK-StPO (2008), § 9 Rn. 1, 2; Radasztics, in: ÖJK, Strafverfolgung, 127.

38

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Zentrum des österreichischen Strafverfahrensrechts.32 In der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit ist das Beschleunigungsgebot vor allem durch die Rechtsprechung des EGMR und des OGH in das Rechtsbewusstsein gelangt.33 Der OGH weist die Justiz zur Vermeidung unangemessen langer Verfahrensdauern an,34 wodurch der Zeitdruck bei der Arbeitsbewältigung steigt.35 Die verfahrensverkürzende Eigenschaft der Urteilsabsprachen, die Sach- und Rechtsfragen sowie Beweisprobleme nicht selten umgehen und die Rechtskontrolle in einer höheren Instanz ausschalten, kommt den Berufsjuristen bei der Erledigung ihrer Arbeit entgegen.36 Arbeitsüberlastung als Ursache der Absprachenpraxis ist damit nicht nur durch eine Verfahrensflut, sondern vor allem durch schwierigere und komplexere Arbeit geprägt, welche die Zahl der Verhandlungstage steigen lässt.37 Nicht umsonst wird im Bereich des modernen Strafrechts, insbesondere dem Sektor des Wirtschaftsstrafrechts, nachdrücklich eine gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachen mit dem Argument gefordert, für die Justiz sei es unmöglich oder nicht mehr zumutbar, diese Strafverfahren auf konventionelle Art zu erledigen.38 cc) Kompensierung durch die Diversion? Ungeachtet der eben erläuterten Überlastungsprobleme der österreichischen Justiz gehen einige Stimmen in der Literatur davon aus, dass mit dem strafprozessualen Instrumentarium der Diversion (§§ 198 ff. öStPO) bereits eine ausreichend große Entlastungsmöglichkeit geschaffen worden sei.39 Tatsächlich ist es fraglich, ob die Diversionsvorschriften Österreich vor dem eigentlichen Problem der Urteilsabsprachen schützen. Unter Diversion versteht man die Beendigung des Strafverfahrens ohne Schuldspruch und ohne 32  Kier, 33  Kier,

25.

34  Zur

in: WK-StPO (2008), § 9 Rn. 1, 2. in: WK-StPO (2008), § 9 Rn. 3 ff. m. w. N.; ders., 39. Ottensteiner (2011),

einschlägigen Rechtssatznummer: RIS-Justiz RS0114926. 39. Ottensteiner (2011), 25 (39). 36  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (113); Theile, MschKrim 2010, 147; vgl. auch Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131. 37  So auch Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 (127); Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122); Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37 f.). 38  Siehe etwa Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131; Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37  f.); Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94). 39  Beispielhaft Koenig, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (69); Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94). 35  Kier,



II. Mutmaßliche Ursachen39

förmliche Sanktionierung des Beschuldigten.40 Zusammengefasst normieren die §§ 198 ff. öStPO die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung einer Straftat zurücktreten kann. Zweck der Einführung dieser allgemeinen Diversionsregelung zum 1. Januar 200041 war neben einer gegenüber Strafen erhofften besseren spezialpräventiven Wirkung42 vor allem die Entlastung der Strafjustiz durch eine vereinfachte Verfahrensart im Bereich leichter und mittlerer Kriminalität, insbesondere im Bereich der Bagatellverfahren.43 Wie erwartet gingen in der Folgezeit die Verurteilungszahlen stark zurück.44 Insbesondere in den Jahren 2004 und 2005 belegen empirische Untersuchungen eine massive Reduzierung der Verurteilungen.45 Eine gewisse Verringerung der Arbeitsbelastung der Strafjustiz lässt sich deshalb nicht bestreiten.46 Dennoch schützt das Instrument diversioneller Erledigung nicht vor Urteilsabsprachen. Zum einen ist der Anwendungsbereich der Diversion über die Strafdrohung in § 198 Abs. 2 und Abs. 3 öStPO begrenzt.47 Zum anderen verlangt die herrschende Ansicht als Grundvoraussetzung für eine diversionelle Erledigung stets die hinreichende Klärung eines einfach gelagerten Sachverhalts im Sinne einer „hohen Verurteilungswahrscheinlichkeit“.48 Urteilsabsprachen kommen, wie bereits erläutert,49 als Mittel alternativer Verfahrenserledigung namentlich in Betracht, wenn die Beweislage schwierig oder aufwendig ist und deshalb eine vorzeitige Beendigung der Tataufklärung und Wahrheits­ 40  Schroll, in: Moos-FS, 259 m. w. N.; ders., in: WK-StPO (2016), Vor §§ 198– 209b Rn. 2. Zum Begriff auch Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (2); Hinterhofer, Diversion, S. 3 f. 41  Strafprozessnovelle 1999, öBGBl 2000 I 1999/55. 42  Hinterhofer, Diversion, S. 5; Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5 (12). 43  Schroll, in: Moos-FS, 259 (263). 44  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25; Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94). 45  Siehe Burgstaller/Grafl, in: Miklau-FS, 109 (115); Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5 (6–9); Grafl/Schmoller, 19. ÖJT (2015), Band III/1, S. 24 f. 46  Zum konstanten Rückgang diversioneller Erledigungen seit dem Jahr 2008 Schwaighofer, JSt 2013, 102 (102 f.); vgl. auch Schroll, ÖJZ 2013, 861 (869). 47  Zu den von der Diversion erfassten Deliktsbereichen Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5 (11). Der Anwendungsbereich der Diversion wurde zuletzt zum 01.01.2016 durch das StRÄG 2015, öBGBl I 2015/112 und zum 01.01.2017 durch das StPRÄG II 2016, öBGBl I 2016/121 erweitert. 48  Schroll, in: Moos-FS, 259 (265); ders., in: WK-StPO (2016), § 198 Rn. 3 m. w. N.; Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (184); Leitner, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.02 2015), §§ 198–199 Rn. 15; Kienapfel/ Höpfel/Kert, Strafrecht AT, E 10 Rn. 28; Medigovic/Reindl-Krauskopf/Luef-Kölbl, AT II, S. 177; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 7.936. 49  Oben, B. II. 1. a) bb).

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

suche durch gegenseitiges Nachgeben der Parteien attraktiv erscheint, weil sie den größten Ertrag einer ökonomisierten Verfahrensweise erbringen. Bei den für die Urteilsabsprachenpraxis interessanten Sachverhalten ist die für die Anwendung der Diversionsvorschriften stets erforderliche Klärung des – einfach gelagerten – Sachverhalts demnach regelmäßig nicht g ­ egeben.50 dd) Kompensierung durch das neue Mandatsverfahren? Aktuell stellt sich die Frage, ob das im Jahre 2015 eingeführte Mandatsverfahren gemäß § 491 öStPO51 strukturell geeignet ist, das Überlastungsproblem der österreichischen Justiz zukünftig auszugleichen.52 Zwar wird im Mandatsverfahren im Gegensatz zur Diversion (§ 198 Abs. 1 öStPO) mit der Strafverfügung eine Strafe verhängt, allerdings begrenzt nach § 491 Abs. 2 öStPO. Die für die Urteilsabsprachenpraxis interessanten, komplexen Fälle lassen sich auch nicht mit einer Strafverfügung im Wege des Mandatsverfahrens erledigen (vgl. § 491 Abs. 1 öStPO). Diese These wird durch die deutsche Strafprozesswirklichkeit untermauert, die mit dem in §§ 407 ff. dStPO geregelten Strafbefehlsverfahren ein dem österreichischen Mandatsverfahren in seinen Voraussetzungen ähnliches Rechtsinstitut kennt und trotzdem seit Anfang der 1980er Jahre mit dem Problem der stetigen Ausbreitung von informellen Urteilsabsprachen zu kämpfen hat.53 ee) Konfliktbereitschaft der Verteidigung in der Hauptverhandlung? Eine aktive Verteidigung bereitet der Justiz mehr Arbeit. Die Dauer des Hauptverfahrens, sprich die Anzahl der Hauptverhandlungstage, kann bei engagiertem Verteidigungshandeln steigen und auf diese Weise die Erledigungskapazität der Strafjustiz beeinflussen. Schöpft die Verteidigung die ihr von der Strafprozessordnung an die Hand gegebenen Verteidigungsrechte vollständig aus, wird eine solche Verteidigung als konfliktbereit bezeichnet.54 In der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit wird nach Praxis50  Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122); Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (27); Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (87). Vgl. auch Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 (127). 51  StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71. 52  Zum Mandatsverfahren eingehender unten, F. I. 2. h); zu dessen konsensualem Element unten, B. III. 2. c). 53  Vgl. auch das deutsche Rechtspflegeentlastungsgesetz 1993, dBGBl I 1993/2, womit der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens auf Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr mit Aussetzung der Vollstreckung erweitert wurde. 54  Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (284). Vgl. dazu auch Fischer, StV 2010, 423 (425).



II. Mutmaßliche Ursachen41

berichten eine konsequente und kritische Verteidigung wohl selten durchgeführt.55 Ausschlaggebend soll dafür nicht zuletzt die rechtlich schlecht ausgestattete Stellung der Verteidigung im gesamten Strafverfahren sein.56 Auch in der Hauptverhandlung kommt der Verteidigung gegenüber der zen­ tralen Stellung des Richters eine deutlich untergeordnete Rolle zu.57 Die Strafprozessordnung gesteht der Verteidigung zwar Verfahrensrechte zu, es obliegt aber dem Gericht, über den Gebrauch dieser Rechte zu entschei­ den.58 Macht verleiht dem Gericht insbesondere das Recht, Beweise gemäß §§ 14, 258 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 öStPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu würdigen. Die Verteidigung kann dieser Macht des Gerichts in der Hauptverhandlung nichts Erhebliches entgegensetzen. Die Dominanz des Richters bei der Vernehmung von Zeugen nach § 249 öStPO, wodurch das Gericht die Verteidigung bei der Befragung unterbrechen, das Fragerecht an sich ziehen und so den gesamten Befragungskomplex steuern kann,59 ist nur ein Beispiel für die begrenzten Handlungsspielräume der Verteidigung. Selbst eine Rechtsmittelkontrolle kann der Macht des Gerichts nichts anhaben, denn auch falsche Urteile lassen sich nach den prozessualen Strukturen wasserdicht begründen.60 Velten beschreibt in diesem Zusammenhang „[p]sychologische Wirkungen von Machtverhältnissen“, wonach „Autorität beim Machtinhaber eine gewisse Selbstüberschätzung“ begünstige, solange er mit keiner Kontrolle seiner Entschei­dungen rechnen müsse.61 Eine prinzipielle Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen kennt das System der österreichischen Strafprozessordnung nicht. Voraussetzung ist, dass Rechtsmittel eingelegt werden, was in der strafprozessualen 55  Siehe Bertel, 1.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9; Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 133 (134); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 111; Heydenreich, 1. Dreiländerforum (2011), 97 (98); Lorenz, 1. Dreiländerforum (2011), 204 (207 f.); Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (284). 56  Bischof, 1.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75; Stuefer, JSt 2014, 31 (31 f.). Zu den Verteidigungsrechten im Ermittlungsverfahren unten, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc) und G. I. 3. c) bb). 57  Bischof, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75 (75 f.); Moringer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 38; Heydenreich, 1. Dreiländerforum (2011), 97 (98); Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (284 f.); Todor-Kostic, JSt 2017, 470 (471). 58  Moringer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 38 (40); vgl. zum deutschen Recht Velten, GA 2015, 387 (394). 59  Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (57 f.); Kirchbacher, in: WK-StPO (2015), § 249 Rn. 40; Caspar-Bures, JSt 2017, 99 (99–101). Dazu auch Lagodny, RichterInnen­ Woche (2010), 239 (250 f.). Vgl. auch Schmoller, RZ 2011, 188 (188 f.). 60  Velten, GA 2015, 387 (395). 61  Velten, GA 2015, 387 (395–397).

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Realität zurückhaltend gehandhabt wird. Dies erhöhe, wie Velten feststellt, eine „Kritikempfindlichkeit“ des Gerichts, insbesondere gegenüber „Ein­ zelfallkritik“.62 Praxisberichte belegen dies anscheinend. Es wird berichtet, dass ein Nachfragen der Verteidigung im Rahmen von Vernehmungen von den Gerichten häufig als entbehrlich, ja sogar lästig aufgefasst und dementsprechend boykottiert werde.63 Das Stellen von Anträgen werde vom Richter teilweise als Affront empfunden.64 Die Verteidigung werde von Gericht und Staatsanwaltschaft nicht selten so weit wie möglich zu begrenzen versucht.65 Aus Sicht des Gerichts scheint die Verteidigung diesem vorzuhalten, etwas fälschlicherweise nicht berücksichtigt zu haben und die von der Strafprozessordnung nach §§ 3, 232 Abs. 2, 254 öStPO dem Gericht exklusiv eingeräumte Kompetenz, den Sachverhalt zu ermitteln, zu untergraben.66 Konfliktverteidigung, die nach der Strafprozessordnung nicht zu beanstanden ist, wird von Richtern für standeswidrig erklärt, da sie jedenfalls mit Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit (§ 10 RAO) nicht in Einklang zu bringen sei.67 Der Verteidiger gilt in so einem Fall schnell als „Komplize“ des Angeklagten,68 was den schlechten Ruf solchen Verteidigerhandelns erklärt. Die Vorherrschaft richterlicher Gestaltungsbefugnis in der Hauptverhandlung bleibt nicht ohne Einfluss auf das Engagement der Verteidigung.69 Die breite Masse der Strafverteidiger sei um das Einvernehmen mit dem Richter bemüht.70 Dieses Einvernehmen ist fatalerweise umso leichter zu erreichen, 62  Velten,

GA 2015, 387 (396 f.). 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Bischof, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75; Stuefer, JSt 2014, 31 (32); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (58). Dazu auch Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 82 (84); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (94 f.). 64  Bertel, 1.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (15); ähnlich ­Ainedter, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 23 (24). 65  Bartl, JSt 2007, 45 (46); Essl, JSt 2010, 10 (11). 66  Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (58 f.); vgl. auch Ainedter, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 23 (24); Velten, GA 2015, 387 (396 f.). 67  Siehe Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (124). Kritisch dazu Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (116); Bischof, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75. 68  Siehe Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (116); vgl. Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131), wonach Strafverteidiger keine „Komplizen“ ihrer Mandanten seien; vgl. auch Eichenseder, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 26 (30 f.); Lachinger, Akteneinsicht, S. 8. 69  Velten, GA 2015, 387 (396 f.). 70  Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); vgl. auch Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (189); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (58 f.). 63  Rech,



II. Mutmaßliche Ursachen43

je weniger Arbeit dem Richter bereitet wird.71 Was der Verteidigung in dieser Situation zu bleiben scheint, ist lediglich eine Mittlerrolle zwischen Mandant und Gericht.72 Zum einvernehmlichen Handeln bewegt die Verteidigung schließlich auch die weit verbreitete Befürchtung, dem Mandanten mit ihrem aktiven und intensiven Einsatz zu schaden.73 Die Verteidigung resigniert somit.74 Zudem echauffiert ein streitiger Prozess, der den gewohnten Kommunikationsablauf zwischen Justiz und Verteidigung durchbricht, die Öffentlichkeit.75 Ein Wandel zur konfliktbereiten Verteidigung, wie er beispielsweise seit dem Ende der 1980er Jahre in Deutschland zu bemerken war,76 ist derart in Österreich bis heute nicht festzustellen.77 Das Gros der österreichischen Strafverteidiger scheint noch an der Harmonie mit der Justiz festzuhalten,78 auch wenn seit geraumer Zeit zunehmend Stimmen laut werden, die eine angebrachte Konfliktbereitschaft zur wirksamen Vertretung der Mandatsinteressen fordern.79 Dazu müssten Verteidiger jedoch wohl oftmals zunächst ihr berufliches Selbstverständnis ändern.80 Ungeachtet der ungünstigen Rahmenbedingungen besteht für die Rechtsanwaltschaft die Pflicht, Strafverteidigung auf der Grundlage der geltenden Strafprozessordnung effektiv auszuüben.81 Aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK ist ein Anspruch des Be71  Rech,

15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38). 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (58 f.). 73  Moringer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 38; Kier, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 86 (88). So zum deutschen Recht auch Bernsmann, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 21 (33). 74  Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (15); Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131). 75  Heydenreich, 1. Dreiländerforum (2011), 97 (98). 76  Siehe dazu Mehlich, Der Verteidiger, S. 39–46, dort auch zum beruflichen Selbstverständnis deutscher Verteidiger, S. 42–46. Dazu auch Hanack, StV 1987, 500 (501 f.). 77  Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (284 f.). 78  So die Feststellung von Soyer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 111. 79  Siehe etwa Ruhri, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 73 f.; Bischof, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75; Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (116–118); Lorenz, 1. Dreiländerforum (2011), 204 (208); Kier, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 86 (88); Moringer, JSt 2016, 94 (95, 101 f.). 80  Vgl. Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131 f.). Zur Psychologie der Strafverteidigung Schild, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 11 (37–46). 81  Bischof, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 75; ähnlich Kier, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 86 (88). Siehe auch Stuefer, JSt 2014, 228 (229 f.); Danek, Österreichisches AnwBl 2015, 72. 72  Rech,

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

schuldigten auf wirksame Verteidigung abzuleiten, dem eine inaktive Verteidigung nicht entsprechen kann. Als Verfechterin des Rechtsstaats hat die Verteidigung auf Konfrontationskurs mit einer inquisitorisch handelnden Strafjustiz zu gehen.82 Denn: „Verteidigung ist Kampf.“83 Eine resignierte Anwaltschaft, die sich vor der Macht des Richters beugt, nützt weder dem Angeklagten noch sich selbst und auch nicht dem Rechtsstaat. Bei diesem Ergebnis darf gewiss nicht übersehen werden, dass es durchaus im eigenen finanziellen Interesse der Verteidigung liegen kann, die ihr von der Strafprozessordnung eingeräumten Rechte nicht vollumfänglich zu nutzen.84 Auch für Verteidiger gilt die Maxime: Zeit ist Geld. Engagement in der Hauptverhandlung verlangt eine aufwendige Vorbereitung und anhaltende Präsenz. Aus diesem Grund „lohnen“ sich kämpferisch agierende Strafverteidigungen nur für Anwälte, die über eine vermögende und auch zahlungswillige Mandantschaft verfügen.85 Für eine Verfahrenshilfe (§ 61 Abs. 2 S. 1 öStPO) erhält die Verteidigung nach dem geltenden Verteilungsmodus kein Honorar, sondern der Staat zahlt gemäß § 47 RAO lediglich eine pauschale Entschädigung in die Pensionskasse der Anwälte. Die Motivation für eine effiziente Verteidigung bleibt hier mangels finanziellen Anreizes häufig aus, was der Justiz entgegenkommen kann.86 Gleichwohl dürfte dies kein Grund sein, von dem Ausbau der Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung abzusehen, wenn diese auch eine wirksame Gegenkontrolle der vorläufigen Beweisergebnisse des Vorverfahrens einschließen soll, das noch weitgehend ohne Verteidigungsmaßnahmen stattgefunden hat.87 Zur Sicherstellung eines rechtstaatlichen Verfahrens wäre die Verbesserung der Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung geboten, wenn ein verändertes Agieren der Verteidigung erstrebt werden soll.88 Eine Verantwortung für die Dauer der Hauptverfahren kann der österreichischen Verteidigung nach dem Vorstehenden gegenwärtig nicht zugescho82  Stenitzer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 148; Leitner, 1. Dreiländerforum (2011), 210 (212); Ruhri, 1. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2003), 73 (74). 83  Dahs, Handbuch, Rn. 1. Zur Funktion der Verteidigung unten, G. I. 3. e). 84  Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (95 f.); Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (17 f.); zum finanziellen Aspekt auch Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (117). Zu den Interessen der Verteidigung sogleich unten, B. II. 2. c). 85  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (17); Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (96). 86  Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (105); Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (33); Schuster, 1. Dreiländerforum (2011), 142; Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (190). 87  Hierzu unten, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa) und (cc). 88  Dazu unten, G. I. 3. c) aa).



II. Mutmaßliche Ursachen45

ben werden. Mangels Konfliktbereitschaft kann die Strafverteidigung in Österreich kein wesentlicher Faktor für eine Überlastung der Strafjustiz sein. Abschließend ist anzumerken, dass in Deutschland die Behauptung, die dort bisweilen praktizierte Konfliktverteidigung sei eine Hauptursache für die Absprachenbereitschaft der deutschen Justiz,89 zu Recht zurückgewiesen wird.90 Denn die Verteidigung reagiert mit einem engagierten und selbstbewussten Auftreten auf die staatliche Machtausübung, ohne sich ihrerseits der Dominanz zu bemächtigen, die nach der Verfahrensstruktur dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts zukommt.91 Die deutsche Justiz antwortet auf diese Verteidigungsstrategie vielmehr mit dem Einsatz von Machtmitteln, welche die Absprachenbereitschaft von Angeklagtem und Verteidigung erzwingen können.92 Es bleibt deshalb festzuhalten, dass eine konfliktbereite Verteidigung die Justiz fordert. Als Belastung darf sie in einem Rechtsstaat aber nicht gewertet werden.93 b) Überforderung der Justiz Vor dem Hintergrund eines zunehmend expandierenden und komplizierten Strafrechts wird auch von qualitativer Überforderung gesprochen, bei welcher der individuelle Schuldnachweis somit selbst bei einer Aufstockung des Justizpersonals nicht mehr ohne weiteres möglich wäre.94 Neben der zunehmenden Vielschichtigkeit der Lebenssachverhalte führen die immer weiter reichenden und aus relativ unbestimmten Rechtsbegriffen aufgebauten Normen des modernen Strafrechts zu komplexen Sach- und Rechtsfragen und erheblichen Beweisschwierigkeiten.95 Strafjuristen sollen deshalb nicht nur überlas-

89  So etwa Hanack, StV 1987, 500 (501); Wolfslast, NStZ 1990, 409 (410); Janke, Verständigung, S.  27 f.; Landau, NStZ 2007, 121 (122). 90  Siehe Harms, in: Nehm-FS, 289 (291); Viering, Schuldnachweisproblem, S.  53 f.; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.9. Dazu auch Kempf, StV 1997, 208. 91  Perron, ZStW 108 (1996), 128 (154). Zu den hinzutretenden psychologischen Effekten unten, B. III. 3. 92  Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung, 357 (359); Terhorst, GA 2002, 600 (601). Dazu auch Weider, Vom Dealen, S. 144–156. Zu den Machtmitteln der Justiz unten, D. I. 2. a) bb); D. I. 2. b) aa). 93  Vgl. Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131): „Das bei nicht-geständigen Beschuldigten lege artis notorische In-Frage-Stellen der Ermittlungen und der Anklage durch die Verteidigung ist dabei beileibe kein Selbstzweck, sie, die effektive Strafverteidigung, trägt nämlich wesentlich zur Legitimation des Verfahrens und eines Richterspruchs bei.“ 94  So zum deutschen Recht Viering, Schuldnachweisproblem, S. 55. 95  Dazu bereits oben, B. II. 1. a) bb).

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

tet, sondern oft überfordert sein.96 Mit den Urteilsabsprachen hat sich die Praxis somit anscheinend ein „Überdruckventil“97 kreiert. Ursächlich für eine Überforderung der Justizjuristen dürfte aber nicht allein die Ausweitung bzw. Verkomplizierung des materiellen Strafrechts sein. Der Grundstein für eine mögliche Überforderung wird in der juristischen Ausbildung gelegt. Gemäß § 258 Abs. 2 S. 2 öStPO haben Richter „nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung“ zu entscheiden. Das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung verlangt allerdings eine rational begründete Beweisführung.98 Der Richter hat im Rahmen seiner Beweiswürdigung keine unbegrenzte Würdigungsfreiheit und darf nicht ausschließlich intuitiv vorgehen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedingt die Kenntnis der Lehre vom Beweis, und eine „gewissenhafte Prüfung“ i. S. d. § 258 Abs. 2 öStPO erfordert die Beachtung von Denkund Naturgesetzen sowie gesicherten Erfahrungssätzen.99 Berufsrichtern wird unterstellt, die Kompetenz zu einer Beweismittelprüfung gemäß § 258 Abs. 2 öStPO bereits zu Anfang ihres Berufslebens zu besitzen. Unklar ist, wo sie die dafür erforderlichen umfangreichen Kenntnisse in forensischer Beweislehre erlernt haben sollen, denn die forensische Beweislehre, insbesondere die Aussageanalyse und die Angewandte Kriminologie, gehören nicht zu den Fächern, die Teil der Diplomprüfung sind, sondern die Möglichkeit, diese Fächer zu belegen, hängt wesentlich vom Lehrplan der einzelnen Universitäten ab.100 Eine einheitliche und umfassende Ausbildung auf diesem Gebiet wird damit während des Studiums nicht durchgehend gewährleistet und auch in der Gerichtspraxis101 haben Rechtspraktikanten nach § 7 Abs. 1 RPG lediglich nach Maßgabe der orga96  Dazu Peschorn, in: ÖJK, Strafverfolgung, 121 (121 f., 124 f.); Radasztics, in: ÖJK, Strafverfolgung, 127 (127–130); Geyer, in: ÖJK, Strafverfolgung, 139 (141); vgl. auch Theile, MschKrim 2010, 147 (153–156). 97  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640). 98  Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (50). 99  Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (50 f.); vgl. auch Peters, Karl, Strafrechtspflege, S. 370. 100  Wille, Aussage gegen Aussage, S. 72; Stanglechner, JSt 2017, 459. Dazu auch Grafl, in: Fuchs-FS, 171 (180 f.). 101  Zur Kritik an der Verkürzung der Gerichtspraxis von neun auf fünf Monate durch das Budgetbegleitgesetz 2011, öBGBl I 2010/111, siehe Trebuch/Eilenberger, RZ 2011, 3–5. Zum 01.01.2017 ist durch das Bundesgesetz, mit dem das Rechtspraktikantengesetz, das Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz, das BeamtenDienstrechtsgesetz 1979, die Rechtsanwaltsordnung, das Rechtsanwaltsprüfungsgesetz und die Notariatsordnung geändert werden, öBGBl I 2016/39, die Dauer der Gerichtspraxis wieder auf sieben Monate angehoben worden, ErläutRV 1028 BlgNR 25. GP 1 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/ I/I_01028/fname_514653.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)].



II. Mutmaßliche Ursachen47

nisatorischen, personellen und räumlichen Möglichkeiten an den für Richteramtsanwärter eingerichteten Übungskursen teilzunehmen.102 Im richterlichen Vorbereitungsdienst ist dem Richteramtsanwärter nach § 14 Abs. 3 RStDG zwar „im Rahmen von Kursen, Seminaren, Exkursionen und Übungen Gelegenheit zu geben, auch die für die Richter unerlässlichen Kenntnisse auf den Gebieten der Kriminologie, […], der Psychologie, der Psychiatrie […] zu erwerben“, dennoch sind Gegenstand der mündlichen Richteramtsprüfung nach § 16 Abs. 4 Nr. 4 RStDG nur die Grundzüge der Kriminologie, und nicht die forensische Beweislehre – vor allem nicht die Aussageanalyse.103 Um den Beweis kunstgerecht zu führen, muss sich der Richter jedoch spe­ ziell bei Verurteilungen mit erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen, etwa aus dem kriminalistischen Bereich, auseinandersetzen.104 Namentlich die Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien ist für die Beurteilung von Aussagen in schwierigen Beweislagen notwendig.105 Unentbehrliches Detailwissen, um rechtsmittelsicher verhandeln und entscheiden zu können, fehlt den Richtern deshalb oftmals beim Start in ihr Berufsleben.106 Werden diese dann von dienstälteren Kollegen aufgrund deren eigenen Pensendrucks nicht mehr genügend angeleitet, um ihre Defizite zu kompensieren, sind sie womöglich schnell überfordert und einem informellen Vorgehen zur Vereinfachung und Abkürzung des Verfahrens, zur Verantwortungsentlastung als auch zur Minimierung von Rechtsmittelrisiken zugänglich.107 Vermeiden Berufsrichter aber die Durchführung einer ordnungsgemäßen Hauptverhandlung, können sie die erforderliche Sachkunde nicht einmal im Berufsleben erlernen. Fakultative Fortbildungsveranstaltungen für Berufsrichter werden Berichten zufolge aufgrund der Arbeitsbelastung wohl selten ausreichend in Anspruch genommen.108 Überforderung 102  Wille,

Aussage gegen Aussage, S. 72. Aussage gegen Aussage, S. 72 f. 104  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 3.3. Vgl. auch Wirtenberger, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 101 (108). 105  Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (76); Wille, Aussage gegen Aussage, S. 129–133; Grafl/Stempkowski, ÖJZ 2017, 62 (63, 66–70 m. w. N.); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 3.4, 21 f. Vgl. auch Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (95); Scheiber, in: Pilgermair, Wandel, 473 (475 f.). 106  Wille, Aussage gegen Aussage, S. 121 f., 126 f. Zum deutschen Recht: Peters, Karl, in: Dünnebier-FS, 53 (59); ders., Strafrechtspflege, S. 286; Höcherl, in: PetersFG, 17 (22); Göppinger, Angewandte Kriminologie, S. 24–28; Jehle, in: GöppingerFG, 311 (311 f.); Deckers, in: Hamm-FS, 53 (54 f.); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 9.1. Vgl. dazu auch Drews, Königin, S. 225–276. 107  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.11. 108  Siehe Pilgermair, in: Pilgermair, Wandel, 493 (505); ders., 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (95). 103  Wille,

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

kann den eigenen Anspruch an das Level qualitätsorientierten Arbeitens in den Hintergrund treten lassen. Gleichfalls wird durch die Urteilsabsprachenpraxis eine Beeinträchtigung der richterlichen Eignung berufserfahrener Strafrichter befürchtet.109 Abhängig vom Zeitpunkt der Aufnahme der Verständigungsgespräche umgehen die Richter eine zeitintensive Aktenlektüre und rechtliche Fallaufarbeitung.110 An diese Art der Arbeitsentlastung kann sich eine Praxis schnell gewöhnen. Denn wer wird sich noch einem ausführlichen Aktenstudium unterziehen, wenn die Möglichkeit einer raschen einvernehmlichen Verfahrenserledigung besteht?111 Erledigt aber die Praxis Verfahren auf diese Weise, geht im Laufe der Zeit auch die Kompetenz verloren, sich mit dem Aktenbefund kritisch auseinanderzusetzen und die Hauptverhandlung ordnungsgemäß vorzubereiten, wodurch ein Qualitätsverlust vorprogrammiert ist.112 Ein solcher Verlust ist nicht ohne weiteres alsbaldig wieder zu beheben.113 Das weitere Ausweichen in Urteilsabsprachen erscheint dann als rettender Anker, wodurch das Praktizieren von Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess verfestigt und zum Irrkreis wird.

2. Verfahrenspsychologische Aspekte: Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten Die Eigeninteressen der professionellen Verfahrensbeteiligten sind mit dem äußeren Druck einer überlasteten Justiz eng verknüpft. Urteilsabsprachen ermöglichen den Berufsjuristen, Verfahren ohne große Mühen zu erledigen. Neben der Umgehung größerer Rechts- und Zweifelsfragen gewinnen sie damit Zeit und werden durch den Konsens unter den professionellen Verfahrensbeteiligten und das Geständnis des Angeklagten von Verantwortung für das Prozessergebnis entlastet. Persönliche Vorteile der einzelnen 109  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (413); vgl. zum deutschen Recht Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1193); Pfister, StraFo 2006, 349 (351 f.); Nehm, StV 2007, 549. 110  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (413). 111  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951); ebenso Kier/Bockemühl, Österreichisches ­AnwBl 2010, 402 (413). 112  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (413); vgl. BGH wistra 2007, 474 (475): Wenn durch den Einsatz einer unzulässigen Sanktionsschere der Eindruck entstehe, „dass sich ein Gericht nicht mehr in der Lage sieht, das Verfahren ohne ein Geständnis zu beenden,“ müsse dies „Anlass zu ernster Sorge über den Zustand der Strafjustiz geben.“ 113  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951); a. A. Göttgen, Prozessökonomische Alternativen, S. 58.



II. Mutmaßliche Ursachen49

Berufsjuristen können daher ein ebenso wichtiges Absprachenmotiv darstellen wie eine Überlastung oder Überforderung des Justizapparats. Die mög­ lichen persönlichen Vorteile des an einer Urteilsabsprache teilnehmenden Angeklagten sind dabei gesondert zu würdigen. a) Gericht Die kontradiktorisch ausgestaltete Beweisprüfung in der Hauptverhandlung entfällt bei einer Urteilsabsprache weitgehend. Damit reduziert sich die Dauer der Hauptverhandlung und im günstigsten Fall die Anzahl der Verhandlungstage.114 Für das Gericht bedeutet dies eine Arbeitserledigung in kürzerer Zeit und folglich eine Zeitersparnis. Hatte das Gericht bereits zu Beginn des Verfahrens ein abgesprochenes Urteil beabsichtigt, umgeht es eine unter Umständen komplizierte und mühsame Vorbereitung der Hauptverhandlung.115 Der eigentliche Arbeitsaufwand, die Aktenlektüre und Gedankenarbeit, lässt sich für Außenstehende schwerlich kontrollieren.116 Die tatrichterliche Praxis sieht deshalb gerade in der Umgehung dieses Arbeitsaufwands, namentlich in umfangreichen Verfahren, einen maßgeblichen Schutz vor Überlastung.117 Eine aufwendige Urteilsbegründung entfällt, wenn der Angeklagte geständig im Sinne der Anklage ist und auf ein Rechtsmittel verzichtet wird, wonach das Tatgericht nur eine verkürzte schriftliche Urteilsbegründung abfassen muss (§ 270 Abs. 4 öStPO).118 Die durch diese Arbeitserleichterung erreichte Steigerung der Zahl der Verfahrenserledigungen kann sich zudem positiv auf die Karrierechancen auswirken, denn in die Beurteilung der richterlichen Tätigkeit nach dem System der PAR fließt nicht ein, wie ausführlich sich der Richter auf die Hauptverhandlung vorbereitet hat.119 Der zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung abgesprochene Rechtsmittelverzicht beseitigt das Risiko der Urteilsaufhebung im Rechtsmittelzug und erhöht so zusätzlich die Beförderungsaussichten, welche auch durch die Aufhebungsquote der gefällten Urteile beeinflusst werden.120 Nicht zuletzt wird dem Gericht durch das einvernehmlich getroffene Ergebnis der 114  Venier,

7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (20). ÖJZ 2009, 949 (951); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (413); Danek/Mann, in: WK-StPO (2019), Vor §§ 220–227 Rn. 8. 116  Velten, GA 2015, 387 (408). Vgl. auch Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951). 117  Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122); Eschelbach, HRRS 2008, 190 (195). Vgl. auch Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17, § 232 Rn. 6. 118  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (128); vgl. dazu Liebhauser-Karl/Riffel, RZ 2018, 243 (248). 119  Oben, B. II. 1. a) aa) mit Fn. 24. 120  Oben, B. II. 1. a) aa) mit Fn. 23. 115  Ratz,

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

psychische Druck genommen, alleine eine gerechte strafrechtliche Entscheidung zu finden und zu vertreten, die für den Angeklagten weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen kann und ihn nicht selten in seiner Existenz betrifft.121 Das Eigeninteresse der Richter an einer einfacheren und schnelleren Verfahrenserledigung siedele Urteilsabsprachen deshalb in einem „äußerst sensiblen Bereich“ an.122 b) Staatsanwaltschaft Festzustellen ist zuvorderst die annähernde Übereinstimmung der Eigen­ interessen von Gericht und Staatsanwaltschaft.123 Die Überlastung der Staatsanwaltschaft ist allseits bekannt.124 Ein mentaler und gleichzeitig auch kar­rierefördernder Vorteil für die Staatsanwaltschaft liegt bei Urteilsabsprachen in der Gewissheit, dass der Angeklagte verurteilt wird und eine langwierige Hauptverhandlung entfällt.125 Die eingesparte Zeit kann der Staatsanwalt für andere Verfahren einsetzen, wodurch seine Erledigungsquote verbessert wird.126 c) Verteidigung Die Verteidigung kann nicht ausschließen, bei engagiertem Auftreten den Unmut des Gerichts auf sich zu ziehen. Zur Vermeidung einer Konfrontation, bei der sie prozessual bedingt die schwächere Position einnimmt, aber auch wegen der Befürchtung, dem eigenen Mandanten zu schaden, sucht die Verteidigung in der Hauptverhandlung das Einvernehmen mit dem Ge121  Weigend, JZ 1990, 774 (775); ders., in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (39); Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 32; Terhorst, GA 2002, 600 (606); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 130; Hauer, Geständnis, S. 52; Müller, Martin, Probleme, S. 57. 122  So Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122). Siehe auch Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17; dies., in: WK-StPO (2019), Vor §§ 220–227 Rn. 8. 123  Janke, Verständigung, S. 32; Moldenhauer, Verfahrensordnung, S. 34; Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 130; Müller, Martin, Probleme, S. 58. Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 34, spricht von einer „kooperativen Nutzenmaximierung“. 124  Dazu etwa Moringer, Österreichisches AnwBl 2012, 148 (149); Jarosch, in: Pilgermair, Wandel, 241 (245); StA Wien, Stellungnahme, 68/SN-38/ME 25. GP 1 f. [Internetquelle]. 125  Terhorst, GA 2002, 600 (606); Sommer, Deutsches AnwBl 2010, 197. Dazu auch Weh, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 94 (95): „Die Anklage­ behörde will den Prozess gewinnen“. 126  Terhorst, GA 2002, 600 (606 f.).



II. Mutmaßliche Ursachen51

richt.127 Die Bereitwilligkeit der Verteidigung, an einer Urteilsabsprache teilzunehmen, kann demnach durch die Sorge um das Wohl des Mandanten begründet sein. Allerdings kann eine Urteilsabsprache auch das Arbeitspensum des Strafverteidigers verkürzen, ohne dass es zu finanziellen Einbußen kommt.128 Einerseits sind bei Absprachen Honorarvereinbarungen mit Pauschalvergütung nicht selten, denn die wohlhabendere Mandantschaft wird sich aus Imagegründen eine medienfreie und schnelle Erledigung des Verfahrens etwas kosten lassen.129 Es bleibt danach dem Verteidiger, der seinerseits erheblichen Vorbereitungsaufwand und weitere Präsenz in der Hauptverhandlung einspart, mehr Zeit, die er für andere Mandantschaft verwenden kann.130 Andererseits sind die finanziellen Mittel der minderbegüterten Mandantschaft meist rasch aufgebraucht und eine lange, aufwendige Hauptverhandlung einschließlich ihrer Vorbereitung aufgrund zeitlicher Bindung und mangelhaftem Verdienst reizlos. Ein finanzieller Nutzen ist für die Verteidigung somit in beiden Fällen erkennbar.131 Für seine Tätigkeit in Verfahrenshilfesachen bekommt der Rechtsanwalt – außer in den seltenen Ausnahmefällen des § 16 Abs. 4 RAO – keine Direktentlohnung. Es wurde bereits ange­ sprochen,132 dass der Bund gemäß § 47 RAO lediglich einen Pauschalbetrag an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) zahlt, der die Pauschalvergütung auf die einzelnen Rechtsanwaltskammern gemäß § 48 Abs. 1 RAO verteilt. Die Rechtsanwaltskammern haben die Vergütung dann gemäß § 48 Abs. 2 RAO für die Pensionskasse ihrer Mitglieder zu verwenden.133 Die Qualität der Verteidigung leidet darunter.134 Neben schlichter 127  Dazu

oben, B. II. 1. a) ee) mit Fn. 73. 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19); Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901); ders., in: Rieß-FS, 525 (533 f.); Küpper/Bode, JURA 1999, 351 (355); Wagner, in: Gössel-FS, 585 (589); Weider, StraFo 2003, 406 (409); Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (39); Hauer, Geständnis, S. 52. 129  Zum Nutzen rascher Erledigung bei Pauschalhonoraren Essl, JSt 2010, 10 (11). Siehe auch Küpper/Bode, JURA 1999, 351 (355), wonach es gerade in Großverfahren aufgrund der Honorarvereinbarung trotz Zeitgewinn bei der gleichen Honorierung bleibe. 130  König, StraFo 2006, 170 (171); Bockemühl, 2. Dreiländerforum (2012), 199 (205 f.). 131  Weider, StraFo 2003, 406 (409). 132  Oben, B. II. 1. a) ee). 133  Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (95 f.). 134  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (18); Mayr/Venier, ÖJZ 2009, 254 (261); Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (105); Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (33); Schuster, 1. Dreiländerforum (2011), 142; Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (190). 128  Venier,

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Unlust aufgrund des Verdienstausfalles ist dafür gerade bei jungen Rechtsanwälten die Angst um das wirtschaftliche Bestehen ihrer Kanzlei verantwortlich.135 Bereits dies fördert eine von den Interessen des Mandanten losgelöste Bereitschaft der Verteidigung zu einer Urteilsabsprache. Hinzu kommt, dass nach § 16 Abs. 2 RAO jeder österreichische, auf der Liste einer Rechtsanwaltskammer eingetragene Rechtsanwalt zur Leistung der Verfahrenshilfe in regelmäßig wiederkehrenden Abständen verpflichtet ist und zwar unabhängig von seinem Fachbereich.136 Auf qualitativ gute Leistung des Verfahrenshelfers darf man hier nicht vertrauen.137 Die Verteidigung ist kaum Erfolg versprechend, sollten die ohnehin limitierten prozessualen Rechte138 mangels Fachwissen nicht in ausreichender Form wahrgenommen werden. Selbstredend ist jedem Rechtsanwalt zu unterstellen, sich in jegliches Rechtsgebiet einarbeiten zu können, aber dafür benötigt er Zeit, die dem Verfahrenshelfer oftmals fehlt oder deren Aufwand ihm unnütz erscheint, wenn das Strafrecht sonst nicht zu seinem Tätigkeitsbereich zählt.139 Sogar bei ausreichender Einarbeitungszeit mangelt es ihm letztlich an Erfahrung und Routine im Strafprozess.140 Mit den anderen Strafjustizjuristen kann er fachlich nicht mithalten und dürfte einer Absprache schneller zugänglich sein. Berichtet wird, dass in Fällen notwendiger Verteidigung durch Verfahrenshelfer meist so gut wie keine Verteidigung stattfinde.141 Die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wird dadurch gefährdet und deshalb eine Umstellung des Verfahrenshilfesystems gefordert, bei der Verfahrenshilfeverteidiger eine Tarifentlohnung bzw. Direktentlohnung erhalten.142 Ein weiterer Grund für die Absprachengeneigtheit der Verteidigung – unabhängig ob Wahlverteidiger oder Pflichtverteidiger – folgt aus der Möglichkeit, das abgesprochene Urteil dem Angeklagten und der Öffentlichkeit als Ergebnis ihrer professionellen Arbeit zu vermarkten und damit ihre Beliebtheit zu steigern.143 Das Risiko eines Misserfolgs, für den sie sich rechtfertigen müsste, schaltet sie 135  Kier,

17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (96). 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (95, 97 f.). 137  Kier/Soyer, Österreichisches AnwBl 2009, 213 (216); vgl. dazu auch Ratz, ÖJZ 2010, 387 (390 f.). 138  Zur Hauptverhandlung oben, B. II. 1. a) ee); zum Ermittlungsverfahren unten, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc) und G. I. 3. c) bb). 139  Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (95–97, 101). 140  Mayr/Venier, ÖJZ 2009, 254 (260 f.); Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (97–99). Vgl. auch Tipold, JSt 2010, 19 (26). 141  Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (33). 142  Siehe Fuchs, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 13 (33); Kier, 17. ÖJT (2009), Band III/2, 93 (97, 104); dazu auch Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 228. Siehe auch die Vorschrift des § 16 Abs. 2 RAO für den Verfahrenshilfeanwalt in Zivilsachen. 143  Braun, Stefan, Absprache, S. 196; Lien, GA 2006, 129 (138). 136  Kier,



II. Mutmaßliche Ursachen53

durch das ausgehandelte, absehbare Urteil aus und entlastet sich psychisch.144 Insgesamt zieht die Verteidigung aus dem angenehmeren Verhandlungsklima Vorteile und konserviert sich durch ihr Entgegenkommen das künftige Wohlwollen von Gericht und Staatsanwaltschaft in weiteren Fällen.145 d) Angeklagter Hauptanliegen des Angeklagten ist der Erhalt einer vorab genau bezifferten Strafe, die milder ausfällt als bei Durchführung des konventionellen Verfahrens.146 Daneben kann der Angeklagte ein Interesse daran haben, dass nicht alle ihn belastenden Umstände in einer Beweisaufnahme vollständig aufgeklärt und in der Hauptverhandlung öffentlich bekannt werden. Gerade in aussichtslosen Fällen kann es gewiss Teil der Verteidigungsstrategie sein, durch die Initiative zur konsensualen Beendigung des Verfahrens eine möglichst geringe Strafe zu erzielen. Ein weiterer Vorteil für den Angeklagten liegt in der durch eine Urteilsabsprache erreichten Verkürzung der Hauptverhandlung.147 Psychische und finanzielle Beeinträchtigungen, die mit der Dauer der Hauptverhandlung verknüpft sind, vermindern sich.148 Die mit einer öffentlichen Hauptverhandlung einhergehende Brandmarkung wird geschmälert und gesellschaftliche Verluste werden abgefangen.149 Ausufernde mediale Berichterstattungen, die insbesondere Personen des öffentlichen Lebens fürchten, werden verhindert.150 Die mitunter quälende Unkenntnis des Angeklagten über den Ausgang der Hauptverhandlung entfällt.151 Absprachenbedingte Vorteile für den Angeklagten sind damit erkennbar. Nicht immer wird der Angeklagte deshalb zu einer Urteilsabsprache gedrängt werden 144  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 46; Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1012); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 132 f. 145  Essl, JSt 2010, 10 (12); Weider, StraFo 2003, 406 (409); Lien, GA 2006, 129 (138). Zum Problem der justizeinbindenden Absprachen in transnationalen Strafverfahren: Lagodny, in: Widmaier-FS, 311 (311–323); ders., in: Widmaier/Müller/Schlot­ hauer, Anwaltshandbuch, § 22 Rn. 95–103. 146  Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17; dazu bereits oben, A. Dagegen Weigend, NStZ 1999, 57 (60), wonach Hauptinteresse des Angeklagten die Verfahrensfairness sei. 147  Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn.  17  f.; Gerlach, Rechtsfolgen, S.  26  f.; Janke, Verständigung, S.  36 f. 148  Gerlach, Rechtsfolgen, S. 26 f.; Tscherwinka, Absprachen, S.  31 f. 149  Dencker/Hamm, Vergleich, S. 124; Gerlach, Rechtsfolgen, S. 26 f.; Janke, Verständigung, S. 36 f. Vgl. auch Eser, ZStW 104 (1992), 361 (379). 150  Janke, Verständigung, S. 36; Wehnert, StV 2002, 219 (220). 151  Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn. 17; Dencker/Hamm, Vergleich, S.  123 f.

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

müssen. Die Initiative kann durchaus auch von ihm selbst und ohne Zutun der Verteidigung ausgehen.152 Für den Angeklagten stellt das Unterbleiben einer kontradiktorischen Hauptverhandlung aber nur dann einen wirklichen Gewinn dar, wenn er das Verfahren als solches bereits als Strafe ansieht, nicht jedoch wenn ihm ein streitiger Prozess wichtig ist, weil seine Zielvorstellungen mit denen der Staatsanwaltschaft nicht kompatibel sind.153 Ebenso muss er bereit sein, ein Geständnis abzulegen.154 Das Ziel eines Freispruchs scheidet bei einer Urteilsabsprache von vornherein aus, unabhängig davon, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist. Bereits mit seinem Einverständnis zu Verhandlungsgesprächen überschreitet der Angeklagte bzw. sein Verteidiger die Grenze, wonach ein Freispruch kaum mehr möglich ist, denn die Justiz wertet eine solche Bereitschaft als Schuldindiz („point of no return“).155 Vor allem aber kann nur der tatsächlich schuldige Angeklagte überhaupt ein echtes Interesse an einer gemilderten Strafe besitzen.156 Der tatsächlich Unschuldige, der sich auf eine Urteilsabsprache einlässt, tut dies gegebenenfalls nicht, weil eine mildere Strafe in seinem eigenen Interesse ist, sondern weil ihm – nachdem das Gericht das Angebot zu einer Urteilsabsprache unterbreitet hat – ein Freispruch unerreichbar erscheint und er sich vor dem Ergebnis einer konventionell durchgeführten Hauptverhandlung fürchtet, denn die Schuldannahme ist gleichsam die Geschäftsgrundlage der Urteilsabsprache.157 Das Rechtsinstitut der Urteilsabsprache untergräbt aber den Rechtsstaat, wenn sich ein tatsächlich Unschuldiger zwischen einer milderen Strafe bei Geständnis oder einer härteren Strafe ohne Geständnis entscheiden muss.158 Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass solche Fälle nicht vorkommen, denn Prozessberichte besagen das Gegenteil.159

152  Bernsmann;

in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, S. 21 (28 f.). Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 135. 154  Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 135. 155  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (408); vgl. auch Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19); Essl, JSt 2010, 10 (12). Nach Dahs, NStZ 1988, 153 (156), ist richtigerweise bereits die Andeutung einer Geständnisbereitschaft ein „point of no return“; dazu unten, D. II. 5. Zum Ausschluss des Angeklagten von den Verhandlungsgesprächen unten, D. II. 3. 156  Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 135. 157  Hierzu unten, D. I. 2. a) bb); D. I. 2. b); D. I. 3. 158  Nach Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 134, müsse jede Absprache „als Bedrohung der rechtsstaatlichen Garantien empfunden werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zum Zeitpunkt einer Verständigung gerade noch nicht über Schuld und Unschuld entschieden ist.“ 159  Siehe dazu das bei Rückert, Unrecht im Namen des Volkes, S. 135 ff., insb. S. 147–170 geschilderte Beispiel aus der deutschen Strafjustiz. 153  Weichbrodt,



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e) Gleichlauf der Interessen Nach Untersuchung der jeweiligen Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten steht ein grundsätzlicher Gleichlauf der Interessen von Richtern und Staatsanwälten fest, wodurch diese auf die Kooperation des jeweils anderen vertrauen können. Der Angeklagte sieht sich deshalb einem sogenannten „Schulterschluss“ der Justizjuristen gegenüber.160 Nach dem Vorstehenden können die Interessen der Verteidigung an einer Urteilsabsprache synchron auch die Interessen des Angeklagten betreffen. Sicher ist dies aber nicht, insbesondere deshalb, weil sich die Interessenlage der Verteidigung mit den Belangen der Justiz ergänzt.161 Die Berufsjuristen bevorzugen eine einvernehmliche Lösung, da sie ihre individuelle Verantwortung für das Prozessergebnis verringern können.162 Absprachen führen zudem in der Regel zu einer unbelasteten Verhandlungsatmosphäre, die den Berufsalltag erleichtert.163 Mögliche Reibungspunkte zwischen den Strafverfolgungsbehörden und der Verteidigung werden vermieden und eine künftige weitere Zusammenarbeit nicht gehemmt. Gemeinsames Ziel aller professionell Beteiligten ist es, mit möglichst geringem Aufwand und Risiko einen möglichst großen Erfolg zu erzielen. Deshalb wird auch in dieser „Bequemlichkeit“ der eigentliche Ursprung für die Entstehung der Urteilsabsprachen vermutet.164 Nicht die Überlastung des Justizapparates soll die Entwicklung von Urteilsabsprachen angetrieben haben, sondern der Eigennutz der Berufsjuristen.165 Da der Angeklagte diesen Interessengleichlauf stören könnte, wird er zu den Verhandlungsgesprächen gar nicht erst zugelassen.166 Der Zusammenhalt einer solchen Interessengemeinschaft fördert jedenfalls stets die Gefahr eines sogenannten „Superschulterschlusses“ zwischen den Berufsjuristen zu Lasten des Angeklagten.167 Darüber hinaus sind die angepriesenen Vorteile ausschließlich für den schuldigen Angeklagten konzipiert. Für den unschuldigen oder gegenüber dem Anklagevorwurf minder schuldigen Angeklagten bedeutet ein „Superschulterschluss“ der Berufsjuristen ein rechtsstaatliches Desaster.168 Für Berufsjuristen scheinen sich gravierende Nach160  Schünemann,

NJW 1989, 1895 (1901). Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 131, 133. 162  Duttge, ZStW 115 (2003), 539. 163  Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (534). 164  So Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71), 95 (96); Erb, Blomeyer-GS, 743 (747 f.); Gössel, in: Blomeyer‑GS, 759 (773); Hamm, in: Nelles/Vormbaum, Forschung, 57 (71). 165  Siehe Terhorst, GA 2002, 600 (608). 166  Dazu unten, D. II. 3. 167  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901). 168  Siehe dazu unten, D. I. 2. a) bb); D. I. 2. b); D. I. 3. 161  Weichbrodt,

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

teile hingegen nicht finden zu lassen. Den Blick ausschließlich auf die unmittelbaren Folgen einer Urteilsabsprache gerichtet, mag dies richtig sein. Die Spannweite der angesprochenen Vorteile für Justiz und Verteidigung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Berufsjuristen beim Praktizieren einer Urteilsabsprache nach der Rechtsprechung des OGH strafbar machen könnten.169 Wenn sie dies hinnehmen und dennoch einvernehmlich ­informelle Urteilsabsprachen treffen, lässt dies ein bedenkliches Bild ihres Berufsethos entstehen. Ein haftungsrechtliches Risiko der Verteidigung bei einer mit der anwaltlichen Pflichtenwahrnehmung unzufriedenen Mandantschaft erscheint zumindest diskutabel.170

3. Opferschutz und Wiedergutmachung Nach dem bisherigen Ergebnis scheint sich die Urteilsabsprachenpraxis primär aus sachbezogenen Gründen entwickelt zu haben. Opferschutz und Wiedergutmachung werden aber als eine weitere, ideologisch orientierte Entstehungsursache angeführt. Diese Themen haben nach dem klassischen Verständnis des Strafverfahrens und den Strafzwecken kaum Beachtung gefunden.171 Früher war die Rolle des Opfers im Strafverfahren auf dessen Zeugenpflicht reduziert.172 Zentrale Intention einer Strafverfolgung war die Feststellung von Schuld oder Unschuld des Angeklagten als Hauptfigur des Verfahrens.173 ­Allerdings messen sowohl Politik als auch (Fach‑)Öffentlichkeit den Opferrechten seit geraumer Zeit einen zunehmend höheren Stellenwert bei.174 Etwa Ende der 1970er Jahre begann das Interesse der österreichischen Strafrechtswissenschaft für das Opfer.175 Es folgten eine Reihe legislatorischer Bemü­ hungen,176 die ihren Höhepunkt in dem Strafprozessreformgesetz177 aus dem 169  OGH 11 Os 77/04

JBl 2005, 127 (128). Dazu unten, G. I. 3. d). unten, G. I. 3. e). 171  Nowak, Richterwoche (2001), 1 (46 f.); Hörnle, JZ 2006, 950 (951); Sautner/ Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574; Lurf, Opferschutz, S. 23. 172  Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (574 f.). 173  Haller, Birgitt, in: Dearing/Löschnig-Gspandl, Opferrechte, 19. 174  Hierzu Fuchs, in: BMJ, Strafrechtliche Probleme (1998), 1 (5–7); Eder-Rieder, in: BMJ, Strafrechtliche Probleme (1998), 43 (43, 77 f.); dies., Opferrecht, S. 107 f.; Jesionek, in: Burgstaller‑FS, 253 (255); Hilf, in: Schwind-FS, 57 (57 f.). 175  Kier, in: WK-StPO (2017), § 10 Rn. 3; ders., Österreichisches AnwBl 2018, 221. Siehe auch Eder‑Rieder, Opferrecht, S. 15 f.; Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (160). 176  Dazu Wille, Aussage gegen Aussage, S. 96; eingehend Kier, in: WK-StPO (2017), § 10 Rn. 1–16, der einen Überblick über die historische Entwicklung der Opferrechte in Österreich gibt; ders., Österreichisches AnwBl 2018, 221 (221–224). 177  StPRefG 2004, öBGBl I 2004/19. 170  Dazu



II. Mutmaßliche Ursachen57

Jahre 2004 fand.178 Seit Änderung der Terminologie vom Geschädigten bzw. Verletzten zum Opfer in § 65 öStPO ist dieses im Strafverfahren unabhängig von der Geltendmachung seiner privatrechtlichen Ansprüche Verfahrenssubjekt und gleichsam Prozesspartei.179 Die Bedeutung dieser Tatsache für die Bewertung des Tatopfers als glaubhafter Belastungszeuge bleibt offen. Rechte bezüglich Schutz und Schonung des Opfers und die Informations- und Verständigungsrechte wurden dagegen ohne Rücksicht auf deren Beweisbedeutung erweitert, die Aktivrechte erheblich ausgebaut.180 Zur Unterstreichung der Bedeutung dieser Neuerungen ist das Beteiligungsrecht des Opfers im Strafverfahren nun in § 10 Abs. 1 öStPO als Verfahrensgrundsatz festgeschrieben.181 Dieses gewandelte Rollenverständnis vom Verfahrensobjekt zum Verfahrenssubjekt verzeichnet den Umbruch zu einem neuen, in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht unproblematischen Prozessverständnis.182 Der Opferschutz mit dem Auftrag zur Neubestimmung der Opferrolle steht weiterhin im Fokus des österreichischen Gesetzgebers.183 Im Hinblick auf diesen Paradigmenwechsel184 wird der Gedanke des Opferschutzes und der Wiedergutmachung als eigener Strafrechtszweck neben den bekannten Strafzwecken proklamiert,185 als sogenannter „Strafrechtszweck der Restoration“.186

178  Miklau, in: Burgstaller-FS, 293 (300); Kier, in: WK-StPO (2017), § 10 Rn. 13. Siehe auch Lurf, Opferschutz, S. 98 f.; ausführlich Jesionek, in: Burgstaller-FS, 253 (253–265). Zur Prozessbegleitung nach § 66 Abs. 2 öStPO Anzenberger, ÖJZ 2014, 753 (753–758). 179  Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (575); Bruckmüller/Nachbaur, JAP 2009/ 2010, 68. 180  Ausführlich dazu Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (575 f.); Eder-Rieder, JSt 2008, 113 (113–117). Siehe auch Velten, in: Miklau-FS, 585 (602); Lurf, Opferschutz, S. 98. 181  Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (575). 182  Die Ausdehnung der Opferrechte schränkt notgedrungen die Rechte des Angeklagten ein: Fuchs, in: BMJ, Strafrechtliche Probleme (1998), 1 (35 f.); Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 96 (99); Hilf, in: Jesionek/Hilf, Begleitung, 13 (15); Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (581 f.). 183  Zur Umsetzung der RL 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten siehe das StPRÄG I 2016, öBGBl I 2016/26, in Kraft getreten am 01.11.2016. 184  Stangl, NK 2008, 15 (15, 18). 185  Burgstaller, ZStW 102 (1990), 637 (645). 186  Hilf, in: Jesionek/Hilf, Begleitung, 13 (16); Jesionek, in: Miklau-FS, 211 (211 m. w. N.); Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (582); Sautner, 37. Ottensteiner (2009), 13 (22 f.); Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht AT, Z 2 Rn. 27–29. Hierzu ausführlicher: Sautner, Opferinteressen, S. 57, 267; Hörnle, JZ 2006, 950 (953–956). Ablehnend Anzenberger, RZ 2011, 164 (166 f.).

58

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Es fragt sich, ob dieser Paradigmenwechsel mitursächlich für die Entstehung der Urteilsabsprachen ist.187 Nicht zuletzt zur Steigerung ihrer Popularität in der Öffentlichkeit wird behauptet, Ziel einer Urteilsabsprache sei auch die Bewahrung des mutmaßlichen Opfers vor einer Aussage in der Hauptverhandlung.188 Dieser These kann jedoch aus verschiedenen Gründen nicht zugestimmt werden, obgleich der Schutz der Opfer von Sexual- oder Gewaltdelikten eines der zentralen kriminalpolitischen Themen der Gegenwart ist. So scheint die Keimzelle der informellen Urteilsabsprachenpraxis nicht in opfersensiblen Deliktsbereichen, sondern im Bereich der modernen Kriminalitätsformen, wie der Wirtschaftskriminalität, zu finden zu sein.189 In diesen Bereichen ist die Gefahr der Verletzung von Persönlichkeitsrechten des mutmaßlichen Opfers im Gegensatz etwa zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kein relevantes Problem. Für das mutmaßliche Opfer ist zudem der Weg zur Verurteilung wichtig.190 Dem Ziel der Berufsjuristen, das Verfahren möglichst rasch zu erledigen, ist die Berücksichtigung dieses Interesses abträglich.191 Das mutmaßliche Opfer erlangt zwar vom heimlichen Aushandeln der Strafe keine Kenntnis. Es wird aber feststellen, dass etwas anders abgelaufen ist als zu erwarten, wenn in der Hauptverhandlung keine oder eine nur rudimentäre Beweisaufnahme stattfindet. Die unzureichende Erforschung des tatsächlichen Sachverhalts entspricht vielfach nicht dem Wunsch des mutmaßlichen Opfers einer Straftat.192 Ohne Beweisaufnahme wird ihm nicht das Gefühl vermittelt, dass seine Sicht und sein Erleben der Tat, sowie sein Schicksal im Strafverfahren eine signifikante Rolle gespielt hat.193 Ein ausgehandeltes Geständnis kommuniziert weder eine eindeutige öffentliche Verantwortungsübernahme für das zugefügte Unrecht noch Reumütigkeit.194 Wird am mutmaßlichen Opfer vorbeiverhandelt, ist eine Aussöhnung zwischen Täter und Opfer von vornherein nicht möglich. Insbesondere im Bereich zwischenmenschlicher Konflikte ist die Feststellung einer erfolgten Rechtsgutverletzung durch ein unvoreingenommenes Gericht 187  Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 127; Müller, Martin, Probleme, S. 53 f. 188  So wohl Soyer, JSt 2013, 37 (41). 189  Vgl. Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 127. 190  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (48); vgl. auch Lurf, Opferschutz, S. 104. 191  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (48); Fischer, StraFo 2009, 177 (182); Böttcher, in: Müller-FS, 87 (99–102). 192  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (48); Fischer, StraFo 2009, 177 (182); vgl. dazu auch Lurf, Opferschutz, S. 104. 193  Lurf, Opferschutz, S. 104; Böttcher, in: Müller‑FS, 87 (100). 194  Zum Strafmilderungsgrund des Geständnisses ausführlicher unten, D. III. 1.



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen59

entscheidend.195 Neben dem Verlauf des Verfahrens ist auch dessen Ergebnis, das heißt die Bestrafung des überführten Täters, von Bedeutung.196 Bei einer Urteilsabsprache ist die Strafmilderung für „Außenstehende“ aber nicht nachzuvollziehen. Ohne Beteiligung des mutmaßlichen Opfers an dem Aushandlungsprozess kann von diesem keine gesteigerte Akzeptanz des Urteils erwartet werden. Antrieb der Urteilsabsprachenpraktiker ist nicht der Opferschutz, auch wenn dies postuliert wird.197

4. Zwischenergebnis Der Opferschutz und die Wiedergutmachung sind keine Entstehungsursachen von Urteilsabsprachen. Allerdings konnten mehrere mutmaßliche Ursachen für die informelle Urteilsabsprachenpraxis lokalisiert werden. Durch die mit Urteilsabsprachen einhergehende Zeitersparnis wird der Personalaufwand für die Justiz gering gehalten und eine Überforderungsproblematik kann kaschiert werden. Der Justizapparat als solcher profitiert davon nicht allein. Sowohl für die Berufsjuristen als auch für den Angeklagten sind beachtliche Eigeninteressen an dem Einsatz von Urteilsabsprachen feststellbar. Die Strafjustiz sieht darin ein Mittel, um ihrer individuellen Arbeitsüberlastung zu begegnen. Der Angeklagte will sich einen Strafrabatt sichern, den er im streitigen Verfahren nicht zu erhalten glaubt. Die Verteidigung kann darauf bedacht sein, den Mandanten bei diesem Ziel ihrer Verfahrensrolle entsprechend zu unterstützen. Dann steht sie zusammen mit dem Angeklagten dem „Schulterschluss“ der Justizjuristen gegenüber. Sie kann mit einer Urteils­ absprache aber auch auf eigene finanzielle und reputationsbedingte Vorteile abzielen, weshalb die Gefahr eines „Superschulterschlusses“ zwischen den Berufsjuristen gegeben ist. Der unschuldige Angeklagte, der an einer Strafmilderung nicht interessiert sein kann und in einem Rechtsstaat auch nicht sein darf, wird dieser Interessengemeinschaft nichts entgegensetzen können.

III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen Da gesicherte Erkenntnisse über die Häufigkeit von Verständigungen über das Verfahrensergebnis fehlen, können keine konkreten Angaben über das 195  Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (120); Lurf, Opferschutz, S. 104. Zur Neutralität des Gerichts im Rahmen einer Urteilsabsprache unten, D. II. 9. 196  Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (48). 197  Siehe etwa Artkämper, Kriminalistik 1999, 784 (785). Vgl. dazu auch Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 181. Wie hier bereits Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S.  127 f.; Fischer, StraFo 2009, 177 (182).

60

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

tatsächliche Ausmaß von Urteilsabsprachen erfolgen.198 Allerdings wird seit geraumer Zeit in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit von einem „Wildwuchs“199 der Urteilsabsprachenpraxis berichtet.200 Die Urteilsabsprachenpraxis sei zum alltäglichen Handwerkszeug der professionellen Verfahrensbeteiligten geworden und in nahezu alle Deliktsbereiche vorgedrungen.201 Veranlasst werden diese Annahmen zugleich durch eine zunehmend offenere Berichterstattung über die in österreichischen Gerichtssälen geübte Urteilsabsprachenpraxis und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit deren Zulässigkeit.202 Auch insgeheim soll man sich verstärkt über die Ausbreitung dieser informellen Praxis unterhalten.203 Bereits im Jahre 2003 wurde dem Problem der Urteilsabsprachen eine wachsende Virulenz prophezeit.204 Tatsächlich existieren mehrere Faktoren, die eine solche Annahme stützen. Vor diesem Hintergrund soll deshalb der Versuch unternommen werden, die wesentlichen prozessualen Bedingungen zu untersuchen, die eine Ausbreitung der Urteilsabsprachen in Österreich begünstigt haben oder zukünftig begünstigen könnten.

1. Zunahme umfangreicher Großverfahren In Österreich ist eine Zunahme komplexer Großverfahren205, insbesondere der Wirtschaftsstrafverfahren, zu verzeichnen.206 Gerade hier wurde wiederholt eine gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachen gefordert, da eine Erledigung dieser Verfahren nach herkömmlicher Art und Weise nicht mehr möglich sei.207 Vor allem im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht reagiert der Gesetzgeber auf in der Gesellschaft aktuell wahrgenommene Probleme mit der Schaffung neuer Straftatbestände, so dass die Regelungsdichte des mate198  Soyer,

in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (769, 784). Begriff scheint auf Dahs, NStZ 1988, 153 (154) zurückzugehen. 200  So etwa bei Moos, Reinhard, ÖJZ 2003, 321 (330); ders., RZ 2004, 56 (60); Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (764, 783). 201  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (60); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68). 202  Diesen Schluss zog Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 bereits im Jahre 2003. 203  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (60). 204  So Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123. 205  Zur Definition staatsanwaltschaftlicher Großverfahren Jarosch, in: Pilgermair, Wandel, 241 (243–247). 206  Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (68); Paulitsch, ÖJZ 2010, 1092; Jarosch, in: Pilgermair, Wandel, 241 (241 f.). Zur Definition des Wirtschaftsstrafrechts Eder-Rieder, Wirtschaftsstrafrecht, S.  41 f. 207  Etwa Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94). 199  Dieser



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen61

riellen Strafrechts fortlaufend steigt.208 Zugleich wächst die Vielschichtigkeit der Lebensverhältnisse. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich vermuten, dass auch in Österreich mit einer steigenden Anzahl umfangreicher Großverfahren die Zunahme ausgehandelter Urteile einhergeht.209 Die hohe Anzahl von Verfahren im Suchtgiftbereich, welche oftmals durch langwierige Verhandlungen geprägt sind, untermauert diese These.210

2. Einbettung konsensualer Verfahrenselemente in die StPO Für die Annahme eines Vormarschs der Urteilsabsprachen von den eben erwähnten komplexen und umfangreichen Großverfahren hin zu den anderen Strafverfahrensarten spricht die allgemein zu erkennende Tendenz des Gesetzgebers, konsensuale Verfahrenselemente in die österreichische Strafprozessordnung einzubetten. Zutreffend wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass bei einer „Rechtspolitik über den Geldhahn“ Verfahren mit vereinfachter und schnellerer Erledigung vom österreichischen Gesetzgeber offenbar bevorzugt würden.211 a) Diversion Zunächst zeigt ein vergleichender Blick nach Deutschland, dass für die flächenartige Ausbreitung der Urteilsabsprachen im gesamten deutschen Strafrecht die Einführung der Vorschrift des § 153a dStPO als treibende Kraft verantwortlich gemacht wird.212 § 153a dStPO ermöglicht die Einstellung eines Strafverfahrens wegen eines Vergehens gegen einen Beschuldigten oder Angeklagten nach Erfüllung bestimmter Auflagen (und/oder Weisungen). Die Vorschrift wurde Anfang 1975 in die deutsche Strafprozessordnung integriert.213 Allein von 1977 bis 1980 hat sich die Zahl der Verfahrenseinstellungen nach § 153a dStPO fast verdoppelt.214 1981 wurde etwa jedes zehnte Strafverfahren auf diese Weise eingestellt,215 im Jahre 1987 ging man 208  Dazu 209  Zu

254.

bereits oben. B. II. 1. a) bb). den Problemen von Großverfahren Liebhauser-Karl/Riffel, RZ 2018, 243–

210  Vgl. Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71); Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131. 211  Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37. 212  Vgl. dazu Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1183). 213  EGStGB 1974, dBGBl I 1974/22. In der damaligen Fassung wurde noch eine „geringe Schuld“ vorausgesetzt und der Katalog der Auflagen und Weisungen war beschränkt. 214  Rieß, ZRP 1983, 93 (94); Kaiser/Meinberg, NStZ 1984, 343 (344). 215  Rieß, ZRP 1983, 93 (94); Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn. 55 f.

62

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

von ungefähr 215.000 Verfahrenseinstellungen nach § 153a dStPO aus.216 Anfang 2000 wurden Strafverfahren häufiger durch Einstellungen aller Art erledigt, als Anklage erhoben wurde.217 Diese steile Karriere brachte der Vorschrift des § 153a dStPO den Ruf des wohl produktivsten Entlastungsinstruments der deutschen Strafjustiz ein.218 Als Haupteinstiegstor für die Urteilsabsprachen im Segment des allgemeinen Strafrechts wird § 153a dStPO in der Literatur gerade deshalb bezeichnet, weil diese Vorschrift bereits von ihrer „legislatorischen Konzeption her auf einen Vergleich zwischen der Justiz und dem Beschuldigten angelegt gewesen“ sei.219 Voraussetzung für eine Einstellung nach § 153a dStPO ist die vorherige Zustimmung des Beschuldigten. Vor einer Einstellung muss es damit zu einer Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten kommen.220 Diese Schlussfolgerung wird durch empirische Untersuchungen belegt.221 Ein konsensuales Element ist dem § 153a dStPO deshalb immanent. Dies hat das übrige deutsche Strafverfahren nicht unberührt gelassen und insbesondere die Berufsjuristen in ihrem Rollenverständnis und gegenseitigem Umgang nachhaltig geprägt. Die Entscheidung über den weiteren Verfahrensverlauf lag nicht mehr einseitig in den Händen der Justiz. Beschuldigter und Verteidigung wurden aktiv eingebunden und eine einvernehmliche Verfahrenserledigung angestrebt. Diese Entwicklung zu einer möglichen einvernehmlichen Verfahrenserledigung hat auch vor den Toren der Hauptverhandlung nicht Halt gemacht. Scheiterte eine Verfahrenseinstellung nach § 153a dStPO, wurde stattdessen versucht, eine einvernehmliche Lösung in der Hauptverhandlung zu erzielen.222 Es erschien den Berufsjuristen nicht mehr unseriös, Gespräche auch über ein einvernehmlich zu findendes Urteil zu führen. Als „eine Art ‚Einstiegs­ droge‘ “223 ebnete die Vorschrift des § 153a dStPO den Weg für eine sintflut­ artige Verbreitung von Urteilsabsprachen im gesamten deutschen Strafverfahren.224 216  Rieß,

in: Koch-FG, 215 (216). Zahlen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2002 nennt Meier, GA 2004, 441 (443): 16,8 Prozent Anklagen; 36,5 Prozent Einstellungen mit und ohne Auflagen; 17,5 Prozent Strafbefehlsanträge. 218  So Dahs, NJW 1996, 1192. Siehe auch Jung, GA 2002, 65 (69). 219  Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1183). 220  Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn. 57; Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1184). 221  Siehe dazu die Untersuchung von Meinberg, Geringfügigkeitseinstellungen, S. 89–91. 222  Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1184). Dazu auch Dencker/Hamm, Vergleich, S. 108–110. 223  Hamm, ZRP 1990, 337 (338). 224  Schünemann, in: Heldrich-FS, 1177 (1183). 217  Konkrete



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen63

Dem österreichischen Strafprozess ist als vergleichbare konsensuale Verfahrenserledigung die Diversion (§§ 198 ff. öStPO) bekannt. Die Strafprozessnovelle 1999225, mit der die umfassenden Diversionsregelungen eingeführt wurden, galt bei ihrem Erscheinen als die bedeutendste Umstellung des österreichischen Strafrechts seit der Strafrechtsreform vom 1. Januar 1975.226 Bei der Diversion können Straftaten außerhalb der Strafjustiz ohne die traditionellen Instrumente des Strafrechts informell erledigt werden.227 Dazu unterbreitet die Justiz dem Beschuldigten ein Erledigungsangebot.228 Die diversionelle Erledigung kommt nur zustande, wenn der Verdächtige das justizielle Angebot ausdrücklich oder konkludent durch Erfüllung, etwa Zahlung der vorgeschlagenen Geldbuße, annimmt.229 Der Beschuldigte kann damit aktiv auf den Verfahrensausgang einwirken.230 Gleichzeitig steigt die Verhandlungsmacht der Verteidigung.231 Ähnlich wie bei einer Einstellung nach § 153a dStPO muss es also vor einer diversionellen Erledigung stets zu einer Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten kommen. Anders als im klassischen Strafprozess stehen sich Staat und mutmaßlicher Täter nicht diametral gegenüber. Der Staat ist vielmehr bestrebt, abseits der konventionellen strafrechtlichen Sanktionen den Strafzwecken der Spezial- und Generalprävention mit informellen Reaktionsmöglichkeiten nachzukommen und den Täter bei der Behebung der Tatfolgen miteinzubeziehen.232 Wie bereits erläutert, ist die Diversion binnen weniger Jahre zu einem festen und wesentlichen Bestandteil der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit geworden.233 Unweigerlich ist dadurch auch das den Diversionsregelungen innewohnende konsensuale Element im österreichischen Strafprozessrecht heimisch geworden. Zieht man den Vergleich zu Deutschland, ist es illusorisch zu glauben, eine Ausbreitung des Vergleichsgedankens auf das übrige Strafverfahren sei zu verhindern gewesen.234 Ein solches Denken verkennt die grundsätzliche Be225  ÖBGBl I 1999/20.

226  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1; Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5. 227  Schroll, in: Moos-FS, 259; Hinterhofer, Diversion, S. 3 f.; Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5. 228  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (3). 229  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (3); Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (184). 230  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (10). 231  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (10). 232  Hinterhofer, Diversion, S. 5. 233  Oben, B. II. 1. a) cc). 234  Moos, Reinhard, ÖJZ 2003, 321 (330 f.); ders., RZ 2004, 56 (62). Vgl. auch Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (113).

64

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

deutung der Einführung einer Form konsensualer Verfahrenserledigung für das österreichische Strafrecht.235 Berufsjuristen wurden durch den schnellen Aufstieg der Diversion an eine konsensuale Verfahrenserledigung als tägliches strafprozessuales Instrument zur Verfahrensvereinfachung gewöhnt und das schlechte Gewissen, sich auch in der Hauptverhandlung über ein Urteil zu verständigen, wurde gemindert. Richtigerweise bemerkte Moos236 bereits im Jahre 2004: „Die Dämme sind, ähnlich wie seinerzeit in Deutschland durch die Einführung des § 153a StPO, geschwächt.“ Nicht grundlos wird die Diversion als „Absprache zur vereinfachten Erledigung des Verfahrens“237 oder „als eine verkürzte Form der Prozessabsprache bei einem Geständnis“238 bezeichnet. Von ihren Befürwortern werden Urteilsabsprachen als eine „Weiterentwicklung“ der Diversion beschrieben.239 Die Hauptverantwortlichkeit für die Ausbreitung der Urteilsabsprachen auf das gesamte Strafverfahren muss deshalb der Einfügung der Diversionsvorschriften in die österreichische Strafprozessordnung zugeschrieben werden. b) „Große“ Kronzeugenregelung Die allgemein zu erkennende Tendenz des österreichischen Gesetzgebers zum Konsensgedanken präsentiert sich auch in der „großen“ Kronzeugen­ regelung gemäß § 209a öStPO.240 Diese wurde zum 1. Januar 2011 mit dem strafrechtlichen Kompetenzpaket241 in die Strafprozessordnung eingeführt und galt vorerst befristet auf sechs Jahre. Mit dem StPRÄG II 2016242 wurde die Geltungsfrist des § 209a öStPO um weitere fünf Jahre verlängert, allerdings wurde der Paragraph einer erheblichen Korrektur unterzogen.243 Als Kronzeugen werden Straftäter bezeichnet, die ihr Wissen über andere noch unbekannte oder noch nicht überführte Straftäter preisgeben und dafür mit 235  Ähnlich Burgstaller, 35. Ottensteiner (2007), 5; Mühlbacher, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 45 (49). 236  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (62). 237  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (3). 238  Moos, Reinhard, ÖJZ 2003, 321 (331). 239  Mühlbacher, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 45 (49); ähnlich Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (115); Oberhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 144 (145); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (113–115). 240  Siehe auch die Spezialvorschrift des § 209b öStPO für den Rücktritt von der Verfolgung wegen Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung. 241  sKp 2010, öBGBl I 2010/108. 242  StPRÄG II 2016, öBGBl I 2016/121, in Kraft getreten am 01.01.2017. 243  Dazu unten, E. II. 3. b) aa).



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen65

Vorteilen bei ihrer eigenen Strafverfolgung honoriert werden.244 Das österreichische Strafrecht kennt zwar mit § 41a öStGB245 bereits seit 1997 die sogenannte „kleine“ Kronzeugenregelung, die dem Kronzeugen unter bestimmten Voraussetzungen eine außerordentliche Strafmilderung zubilligt und somit konsensuale Elemente aufweist. Im Gegensatz dazu gewährt die „große“ Kronzeugenregelung in § 209a öStPO dem Kronzeugen mit ihrer diversionellen Verfahrenserledigung Straffreiheit.246 § 209a öStPO stellt keine spezifische Strafzumessungsregel dar und besitzt einen weiteren Anwendungsbereich, weshalb die Vorschrift das Potenzial hat, zur allgemeinen Ausbreitung des Konsensgedankens im Strafverfahren beizutragen.247 Ein Rücktritt von der Verfolgung wegen Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft steht nur im Raum, wenn es zu einer Verständigung zwischen potenziellem Kronzeugen und Staatsanwaltschaft gekommen ist. c) Wiedereinführung des Mandatsverfahrens Jüngstes Werk konsensual geprägten, gesetzgeberischen Schaffens ist mit § 491 öStPO die Wiedereinführung des Mandatsverfahrens zum 1. Januar 2015248, nachdem es durch die Strafprozessnovelle 1999249 abgeschafft worden war. Dieses vereinfachte Verfahren ermöglicht dem Gericht unter den Voraussetzungen des § 491 öStPO die schriftliche Erledigung des Verfahrens.250 Die dem Angeklagten gemäß § 83 öStPO zuzustellende Strafverfügung wird allerdings nur wirksam, wenn dieser keinen zulässigen Einspruch erhebt, worauf in öffentlicher Hauptverhandlung über den Strafvorwurf zu erkennen wäre. Das Verstreichenlassen der vierwöchigen Einspruchsfrist auf Seiten des Angeklagten ist dahingehend zu verstehen, dass der Angeklagte das ihm per Zustellung unterbreitete, richterliche Strafverfügungsangebot annimmt und auf die Durchführung einer Hauptverhandlung verzichtet. Ebenso muss er vor Erlass der Strafverfügung seinen ausdrücklichen Verzicht erklärt haben (§ 491 Abs. 1 Nr. 1 öStPO). Der Angeklagte hat deshalb Einfluss auf das Verfahren. Durch dieses konsensuale Element des Mandatsverfahrens erfährt der mit der Einführung der Diversion im Strafprozess veran244  Oshidari, RichterInnenwoche (2010), 125; ähnlich ders., ÖJZ 2000, 502; Weratschnig, RichterInnenwoche (2010), 128. 245  ÖBGBl I 1997/105. 246  Da eine Einstellung des Verfahrens erst nach Erbringung bestimmter Leistungen erfolgt (§ 209a Abs. 3, 4 öStPO), spricht Schroll, in: WK-StPO (2016), § 209a Rn. 1, von einer „Kronzeugendiversion“. 247  Vgl. Schütz, in: Fuchs-FS, 505 (527). 248  StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71. 249  Strafprozessnovelle 1999, öBGBl I 1999/20. 250  Zum Mandatsverfahren ausführlicher unten, F. I. 2. h).

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B. Urteilsabsprachen in der Praxis

kerte Vergleichsgedanke seine weitere Zementierung in die österreichische Strafprozessrechtskultur. Die Urteilsabsprachendiskussion hat dadurch neuen Aufschwung bekommen.251

3. Funktionsverlust der Hauptverhandlung „Die Hauptverhandlung bildet den Schwerpunkt des Verfahrens. In ihr sind die Beweise aufzunehmen, auf Grund deren das Urteil zu fällen ist.“ Dieses Bild einer unmittelbaren Hauptverhandlung beschreibt § 13 öStPO. Dem Ermittlungsverfahren gebührt danach lediglich eine die Hauptverhandlung „vorbereitende und unterstützende Funktion“.252 Lässt sich aber die Hauptverhandlung heute tatsächlich noch bedenkenlos als der Schwerpunkt des österreichischen Strafverfahrens bezeichnen? Die Abschaffung der Voruntersuchung durch das StPRefG 2004, die diversionelle Erledigung bei etwa der Hälfte aller anklagereifen Fälle im Vorverfahren und das eben angesprochene neue Mandatsverfahren in § 491 öStPO sprechen zunehmend dagegen und nähren den Gedanken vom sogenannten „Funktionsverlust der Haupt­ verhandlung“.253 Selbst im herkömmlichen Strafverfahren bilden oftmals die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens die Urteilsgrundlage, begünstigt durch die von der österreichischen Strafprozessordnung eingeräumten Möglichkeiten, in der Hauptverhandlung auf eine unmittelbare Beweiserhebung zu verzichten und mittelbare Beweise zu verwenden, wie es §§ 252 Abs. 1, 245 öStPO vorsehen.254 Insbesondere bei komplizierten Sachverhalten, vornehmlich im Bereich der modernen Kriminalitätsformen, wird in der Hauptverhandlung auf die Möglichkeit der Verwendung polizeilicher Ermittlungsergebnisse, wie etwa Lichtbilder oder Mitschnitte von Telefonüberwachungen, zurückgegriffen.255 Im Rahmen der Beweisführung bestehen heute allgemein 251  Siehe etwa Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (96); Nemec, Martin, 13.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (109); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (115–117). 252  ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 37 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXII/I/I_00025/imfname_001986.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 253  Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 82 (83, 85); ders., RichterInnenwoche (2010), 25 (25 f.); Schünemann, RichterInnenwoche (2010), 9 (17); Krückl, Österreichisches AnwBl 2014, 517 (521). A. A. Miklau, 3. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2005), 53; Lachinger, Akteneinsicht, S. 22–26. 254  Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 82 (83); ders., RichterInnenwoche 2010, 25 (26); Miklau, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 60; Sautner, ÖJZ 2017, 902 (904 f.). 255  Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114. Siehe dazu auch Gallauner, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 91 (94– 98).



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen67

bessere technische Möglichkeiten im Ermittlungsverfahren erhobene Sachbeweise in die Hauptverhandlung einzuführen, wodurch die Relevanz des Personalbeweises als Beweismittel in der Hauptverhandlung sinkt.256 Bereits dies unterstützt die These vom Funktionsverlust der Hauptverhandlung. Aber auch die richterliche Urteilsfindung spricht dafür. Eine Beschreibung zum gängigen Ablauf eines Strafverfahrens liefert Venier: „In der Regel ermittelt die Kriminalpolizei bis der Fall aus ihrer Sicht geklärt erscheint; den ‚pfannenfertigen‘ Abschlussbericht der Polizei gießt der Staatsanwalt in eine Anklage, wenn er glaubt, es lasse sich damit eine Verurteilung erzielen, dann legt er Anklage und Ermittlungsakt dem Richter vor. Die Anklage und vor allem der Ermittlungsakt der Polizei bilden die Quelle, aus welcher der Richter seine Kenntnisse des Falles schöpft. Dass er dabei schon vor der Hauptverhandlung eine Meinung über die Tat und den Angeklagten bildet, ist dabei gar nicht zu vermeiden. In der Hauptverhandlung und unter dem Eindruck unmittelbarer Beweisaufnahmen kann sich seine Meinung zwar wieder ändern oder relativieren, aber es besteht immer die Gefahr, dass sich der Richter von den schönen, aber vielleicht unrichtigen oder unvollständigen Ermittlungsergebnissen der Polizei blenden lässt, mit der Überzeugung in die Hauptverhandlung geht, der Angeklagte sei schon überführt und die Verhandlung nur noch reine Formsache. […] Die Hauptverhandlung kann unter solchen Gegebenheiten nicht Schwerpunkt, sondern häufig nur zeremonieller Abschluss des Verfahrens sein.“257

Damit erläutert Venier den sogenannten „Perseveranz- oder Inertiaeffekt“ („Trägheitseffekt oder Mechanismus der Selbstbestätigung von Hypothe­ sen“258).259 Nach diesem anhand von deutschen Untersuchungen belegten Effekt werden solche „Informationen, die eine zuvor schon einmal für richtig gehaltene Hypothese bestätigen, systematisch überschätzt, während entgegengesetzte, zu der ursprünglich akzeptierten Hypothese dissonante Infor­ mationen systematisch unterschätzt werden.“260 Ist somit die Hypothese erst einmal gebildet, besteht stets die Gefahr, dass daran unbeirrt festgehalten wird („Perseveranzeffekt“), selbst wenn klare Fakten entgegenstehen („Inertiaeffekt“).261

256  Baumann,

Ermittlungen, S. 33; Hauer, Geständnis, S. 226. 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25 f.). Dazu auch Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 3 Rn. 6 f. 258  Schünemann, StV 2000, 159 (160). 259  Vgl. Schünemann, StV 2000, 159 (160 m. w. N.); Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (552 f.); vgl. auch Raske, Falscher Tatverdacht, S. 78. 260  Schünemann, StV 2000, 159 (160). Kritisch Gössel, in: Meyer-Goßner-FS, 187 (188–190). 261  So Raske, Falscher Tatverdacht, S. 101, 78, 49. 257  Venier,

68

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

Der Richter bereitet sich anhand der polizeilichen Ermittlungsakten auf die Hauptverhandlung vor.262 Dadurch kommt es unweigerlich zu einer vorgefassten Meinung bezüglich Tat und Angeklagtem.263 Der Richter orientiert sich hier an der vom Staatsanwalt abgegebenen Beurteilung, weil er davon ausgeht, dieser habe aufgrund seiner Kompetenz das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens qualifiziert kontrolliert und richtigerweise als hinreichend für eine Verurteilung bewertet, womit es zum „Schulterschluss“ zwischen den Justizjuristen kommt.264 Die beschriebenen Effekte lassen sich mit der allgemein anerkannten Theorie der kognitiven Dissonanz265 erklären, die in dem vorliegenden Zusammenhang hauptsächlich besagt, „daß Menschen in Entscheidungssituationen sequenzielle ‚Vor-Entscheidungen‘ treffen, die für den Prozeß der nachfolgenden Informationsgewinnung und -Verarbeitung von erheblicher Relevanz sind.“266 Es handele sich hierbei um einen „psychologischen ‚Mechanismus‘ “, weshalb jeder der Gefahr ausgesetzt sei, den beschriebenen Effekten zu unterliegen, auch Richter.267 Demnach besteht das Risiko, dass der Richter seine aufgrund der Aktenlektüre getroffene Feststellung in der Hauptverhandlung tendenziell aufrechterhalten und nach dem Prinzip der sogenannten „selektiven Informationssuche“ seine Ansicht bestätigende Informationen überbewerten und widersprüchliche unterbewerten wird.268 Erfolgt aber die richterliche Stoffsammlung und Beweiswürdigung aufgrund unbewusster Prozesse im Sinne eines sogenannten „konfirmatorischen Hypothesentestens“, dann prüft der Richter in der Hauptverhandlung letztlich nur, ob das Beweismaterial die Hypothese aus den Akten 262  Bertel, 1.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (11); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25); Sautner, ÖJZ 2017, 902 (905). 263  Rech, 15 ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (35); Ainedter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 61 (65); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25); Mühlbacher, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 45 (56); Lewisch, in: Fuchs-FS, 309 (314); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (54); Schwaighofer, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung, 45 (46); Stanglechner, JSt 2017, 459 (460); Todor‑Kostic, JSt 2017, 470; Sautner, ÖJZ 2017, 902 (905 f.). 264  Schünemann, StV 1993, 607 (608); ders., StV 2000, 159 (162 f.). Zum „Schulterschluss“ bereits oben, B. II. 2. e). 265  Die Theorie der kognitiven Dissonanz geht zurück auf Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz. 266  Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (553). 267  Bandilla/Hassemer, StV 1989, 551 (553); ähnlich Sautner, ÖJT 2017, 902 (907). Vgl. auch Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (35). 268  Schünemann, StV 2000, 159 (160–162). Vgl. auch Lewisch, in: Fuchs-FS, 309 (314 f.); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (57); dazu ebenso Soyer, JSt 2013, 37 (39).



III. Ausbreitung der Urteilsabsprachen69

stützt.269 Richtigerweise müsste ein sogenanntes „falsifikatorisches Hypothesentesten“ erfolgen, bei dem die Verdachtsannahme aus den Akten zersetzt und nicht zementiert wird.270 Mit der Bildung von „Alternativhypothesen“ könnte einem „konfirmatorischen Hypothesentesten“ gegengesteuert werden.271 Dem Verdachtssachverhalt aus den Akten müsste folglich ein Alternativsachverhalt gegenübergestellt und der Verdachtssachverhalt an diesem überprüft werden.272 Dass Richter bei ihrer Urteilsfindung so nicht prinzi­ piell verfahren, liegt nicht in der Persönlichkeit des Einzelnen begründet, sondern ist den beschriebenen „Perseveranz‑, Inertia- und Schulterschluss­ effekten“ geschuldet.273 Besonders deutlich bilden sich solche sogenannte Dissonanzreduktionen ab, wenn von Richtern berichtet wird, die das ausformulierte Urteil bereits in die Hauptverhandlung mitbringen oder der Verteidigung in der Hauptverhandlung nicht mehr zuhören, weil sie schon mit der Formulierung des Urteils beschäftigt sind.274 Die psychologischen Effekte vermögen auch zu erklären, warum Richter Beweisanträge der Verteidigung als irrelevant mit der Begründung ablehnen, bereits zum Zeitpunkt der Antragsankündigung beurteilen zu können, dass das mit der Beweiserhebung verfolgte Ergebnis nicht zielführend sei.275 Das Aufstellen einer alternativen Hypothese durch die Verteidigung wird so unterbunden. Da es sich hier um unbewusste psychologische Vorgänge handelt, kann es nicht ausreichend sein, Richtern ihr Berufsethos276 in Erinnerung zu rufen, sondern den beschriebenen Effekten müsste aktiv entgegengewirkt werden.277 Werden somit Beweise nicht unmittelbar in der Hauptverhandlung erhoben und unterliegt das Gericht bei der Urteilsfindung den beschriebenen psychologischen Effekten, so dass richterliche Stoffsammlung und Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung oftmals nach dem „konfirmatorischen Hypothesentesten“ erfolgen, dann lassen sich Ermittlungsfehler aus dem Vorver269  Velten, GA 2015, 387 (398 f.); vgl. auch Schmittat, JSt 2017, 444 (449). Zum „konfirmatorischen Hypothesentesten“ v. Schemm/Dreger/Köhnken, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 2 (2008), 20 (20–27, insb. 23 f.). 270  Velten, GA 2015, 387 (398 f.). 271  V. Schemm/Dreger/Köhnken, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 2 (2008), 20 (26). 272  Guthke, in: Strafverteidigervereinigungen, Welche Reform braucht das Strafverfahren?, 153 (160–163 m. w. N.); Velten, GA 2015, 387 (391). 273  Velten, GA 2015, 387 (408 f.); vgl. Sautner, ÖJZ 2017, 902 (906 f.). 274  Siehe Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25 f.). 275  Zu entsprechenden Praxisberichten oben, B. II. 1. a) ee). 276  Zu den ethischen Grundsätzen für die Justiztätigkeit Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (394 f.); Zinkl, in: Pilgermair, Wandel, 521 (525–528). 277  Vgl. Niehaus, Susanna, in: Volbert/Steller, Rechtspsychologie, 497 (504). Dazu unten, G. I. 3. a).

70

B. Urteilsabsprachen in der Praxis

fahren in der Hauptverhandlung schwerlich beheben.278 Ihren Höhepunkt erfährt diese Entwicklung im Rahmen von Urteilsabsprachen, wenn Geständnisse anhand des Akteninhalts auf ihre Glaubhaftigkeit überprüft werden, anstatt dass der Aktenbefund selbst kontrolliert wird.279 Durch eine bloße Bestätigung des Ermittlungsergebnisses in der Hauptverhandlung wird deshalb die Ausbreitung von Urteilsabsprachen, bei denen das Gericht keine andere Beurteilungsbasis als die Ermittlungsakten besitzt, vorangetrieben. Vom Funktionsverlust der Hauptverhandlung ist es dann, wie Fuchs feststellt, kein weiter Weg zu deren tatsächlicher „Abschaffung“ und „Ersatz“ durch Urteilsabsprachen.280

4. Zwischenergebnis Unter den gegebenen Umständen ist künftig mit einer weiteren Expansion der Urteilsabsprachen zu rechnen. Die Entwicklungslinie des Gesetzgebers zur Einbettung konsensualer Elemente in die österreichische Strafprozessordnung wird die Einstellung der Praxis zu einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen zwangsläufig weiter beeinflussen. Dies zeigt nicht zuletzt ein vergleichender Blick nach Deutschland. Ebenso wird eine Ausbreitung von Urteilsabsprachen, bei denen für das Gericht als Prüfungsmaßstab allein das im Aktenbefund festgehaltene Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zählt, durch die allgemeine Verlagerung der Prioritäten von der Hauptverhandlung auf das Ermittlungsverfahren begünstigt. Unterstellt man der Justiz des Weiteren auch in Zukunft eine steigende Arbeitsbewältigung, insbesondere in Gestalt von umfangreichen Großverfahren, dürfte es auch der wachsende politische Druck sein, der die Bereitschaft der Justiz zu Urteilsabsprachen fördert.

IV. Ergebnis des Kapitels In der österreichischen Strafprozessrechtswirklichkeit sind Urteilsabsprachen existent. Die mutmaßlichen Ursachen für diese informelle Praxis sind vielfältig; auch verfahrenspsychologische Aspekte, namentlich der „Schulterschluss“ zwischen den Justizjuristen und der „Superschulterschluss“ zwischen den drei Berufsjuristen, sind von Gewicht. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Rechtsprechung des OGH281 stellt die Urteilsabsprachenpraxis das Berufsethos ihrer Akteure in Frage. Mit einer weiteren Ausbreitung der Ur278  Sautner, ÖJZ 2017, 902 (907); Velten, GA 2015, 387 (401–404); vgl. auch Schlothauer/Weider, StV 2004, 504; Hauer, Geständnis, S. 227. 279  Hierzu unten, D. I. 1. b) bb) (2). 280  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (27). 281  Dazu sogleich, C. I.



IV. Ergebnis des Kapitels71

teilsabsprachen ist aktuell zu rechnen, auch deshalb, weil konsensorientierte Verfahrensweisen im gesetzgeberischen Trend liegen. Die geäußerten Erfahrungsberichte aus der Praxis zum „Wildwuchs“282 der Urteilsabsprachen sind aus diesem Grund auch ohne Vorliegen empirischer Studien ernst zu nehmen.283 Gleichfalls erscheinen solche Studien zur aktuellen Situation der Ausbreitung der Urteilsabsprachenpraxis in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit angebracht.

282  Dahs, 283  So

NStZ 1988, 153 (154). bereits Velten, JSt 2009, 181 (191).

C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen Dieses Kapitel widmet sich zunächst der Rechtsprechung des OGH zum Problemkreis der Urteilsabsprachen. In einem nächsten Schritt wird die Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Diskussion untersucht und der aktuelle Meinungsstand in der Literatur dargestellt.

I. Aktuelle Rechtsprechung des OGH Der OGH hat sich bisher in drei Entscheidungen zum Phänomen der strafprozessualen Urteilsabsprachen geäußert.1 Erstmals setzte er sich im Jahre 2004 mit der Zulässigkeit abgesprochener Urteile im Strafprozess auseinander. In seiner Nichtigkeitsbeschwerde hatte ein Angeklagter das „Nichteinhalten einer Absprache zwischen Richter und Verteidiger über zahlenmäßig determinierte Auswirkungen des Aussageverhaltens des Angeklagten auf die über diesen zu verhängende Strafe“ behauptet. In der Grundsatzentscheidung vom 24.08.20042 stellte der OGH fest: „Kann das vom Angeklagten in den Raum gestellte ‚Nichteinhalten einer Absprache zwischen Richter und Verteidiger über zahlenmäßig determinierte Auswirkungen des Aussageverhaltens des Angeklagten auf die über diesen zu verhängende Strafe‘ auch im Nichtigkeitsverfahren nicht aufgegriffen werden, so sieht sich der Oberste Gerichtshof zur grundsätzlichen Bemerkung veranlasst, dass eine derartige ‚Absprache‘ – die sich bereits vom Ansatz her mit den auf eine mögliche Diversion gerichteten, gesetzlich determinierten Verfahrensschritten nicht vergleichen lässt – schon wegen des ersichtlichen Verstoßes gegen § 202 erster und zweiter Fall StPO, vor allem aber wegen des eklatanten Widerspruches zu den tragenden Grundprinzipien des österreichischen Strafverfahrensrechtes, namentlich jenem zur – ein Kontrahieren des Gerichts mit (mutmaßlichen) Rechtsbrechern ausschließenden – Erforschung der materiellen Wahrheit, prinzipiell abzulehnen ist und die Beteiligten disziplinärer (§ 57 RDG) und strafrechtlicher (§ 302 StGB) Verantwortlichkeit aussetzen kann […].“3

Der OGH lehnte in diesem obiter dictum Urteilsabsprachen in Form von Geständnis gegen mildere Strafe wegen ihres Verstoßes gegen die tradierten Prinzipien des österreichischen Strafprozesses und als möglicherweise diszi1  Zur

einschlägigen Rechtssatzkette: RIS-Justiz RS0119311. 77/04 JBl 2005, 127–128 = EvBl 2005/64, 275–276 = SSt 2004/66. 3  § 202 öStPO a. F. ist seit dem StPRefG 2004 (öBGBl I 2004/19, in Kraft getreten am 01.01.2008) in § 164 Abs. 4 öStPO geregelt. 2  OGH 11 Os



I. Aktuelle Rechtsprechung des OGH73

plinär- und strafrechtlich relevantes Verhalten der Berufsjuristen eindeutig ab. Ein subjektives Recht des Angeklagten auf Verwirklichung einer vereinbarten Urteilsabsprache wies er zurück.4 Diese Judikatur wurde in weiterer Folge in zwei Entscheidungen bestätigt: In der Entscheidung vom 12.07.20065 widersprach der OGH einer vom Angeklagten mit einer Grundrechtsbeschwerde geltend gemachten Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit, „zumal sich aus dem Akt auch kein Hinweis darauf ergibt, dass der erste […] Verhandlungstermin zwecks einer – der StPO fremden und gesetzwidrigen (vgl 11 Os 77/04, JBl 2005, 127) – verfahrensbeendenden Absprache ohne die Ladung von Zeugen anberaumt wurde.“ Zuletzt befasste sich der OGH in seinem Beschluss vom 04.03.20106 mit dem Themenkomplex der Urteilsabsprachen. Ein Angeklagter hatte in seiner Berufung als Nichtigkeit nach § 281 Abs. 1 Nr. 1 (§ 489 Abs. 1) öStPO geltend gemacht, die Richterin sei befangen gewesen. Im Verfahren 1. Instanz sei zwischen Tatgericht und Verteidigung, die diesbezüglich ohne Auftrag gehandelt habe, eine Urteilsabsprache vor Durchführung des Beweisverfahrens getroffen worden. Unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung habe die Verteidigung ihm dann erst mitgeteilt, dass er bei Ablegung eines Geständnisses eine Zusatzstrafe von zwei Monaten, andernfalls eine Zusatzstrafe von 12 Monaten erhalte. Nach Ablehnung des Verständigungsangebots sei er zu den angedrohten 12 Monaten verurteilt worden. Daraus hatte der Angeklagte mit Blick auf die erwähnte Mitteilung seines Verteidigers eine Voreingenommenheit der Richterin abgeleitet. Das Berufungsgericht hatte keine Befangenheit der Richterin aufgrund der angeblichen gescheiterten Urteilsabsprache angenommen. Der OGH musste hier über den Erneuerungsantrag (§ 363a öStPO) des Verurteilten wegen behaupteter Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK durch das Berufungsgericht entscheiden. Er formulierte inhaltlich mit den bisherigen Entscheidungen übereinstimmend: „Verfahrensbeendende Prozessabsprachen widerstreiten dem Gebot der materiellen Wahrheitsfindung und sind daher unzulässig […]. Sie können zu disziplinärer und strafrechtlicher Verfolgung führen. Unterlässt ein Richter die nach der Sachlage gebotene Beweisaufnahme pflichtwidrig, um eine solche Absprache zu realisieren, kommt Strafbarkeit wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB in Betracht […].“

Der OGH merkte in diesem Beschluss weiter an: 4  Ratz,

in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 161. 13 Os 70/06b. 6  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63–65 = EvBl 2010/76, 516–518 = SSt 2010/15. Vgl. zu dieser Entscheidung die Anm. Medigovic, JBl 2011, 65–66. 5  OGH 12.07.2006,

74

C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen

„Eine vom Richter eingehaltene Prozessabsprache dieser Art – die mit dem System des liberalen Strafprozesses auch deshalb nicht vereinbar ist, weil sie sich auch im Fall von Rechtsprechung oder Gesetzgeber verlangter Dokumentation einer Kon­ trolle entzieht – stellt demnach einen Wiederaufnahmegrund dar (§ 353 Z 1 StPO). Ein darauf bezogener Antrag ist nach der Strafprozessordnung bei dem Gericht zu stellen, das für das Hauptverfahren zuständig war (§ 357 Abs 1 StPO; zur Ausschließung der vorbefassten Richter § 43 Abs 4 StPO). Ein Antragsrecht an den Obersten Gerichtshof ist dementsprechend für solche Fälle nicht vorgesehen (vgl. § 362 Abs 3 StPO). Davon zu unterscheiden sind zur Festlegung des Verhandlungsfahrplans dienende Konferenzen mit Staatsanwalt und Verteidiger […]. […] Befangenheit im Sinn der früheren und Ausgeschlossenheit gemäß § 43 Abs. 1 Z 3 StPO nach der aktuellen Diktion der Strafprozessordnung liegt nicht schon dann vor, wenn sich ein Richter vor der Entscheidung eine Meinung über den Fall gebildet hat, sondern nur, wenn die Annahme begründet erscheint, dass er auch angesichts allfälliger gegenteiliger Verfahrensergebnisse nicht gewillt sei, von dieser abzugehen […]. Ob dies der Fall ist, bedarf auch unter Berücksichtigung dessen einer genauen Prüfung, dass ein mit einer – gesetzwidrigen – verfahrensbeendenden Absprache gescheiterter Richter in seiner Entscheidungsfindung allenfalls nicht mehr ganz frei ist, weshalb eine nicht eingehaltene Absprache zu Nichtigkeit des Urteils nach § 281 Abs. 1 Z 1 StPO führen kann. Ein Hinweis auf Befangenheit des Richters könnte auch in der Höhe der für den Fall des Nichtkontrahierens in Aussicht gestellten Strafe liegen.“

Eine Befangenheit der Richterin lehnte der OGH hier ab. Es sei nicht feststellbar, dass der Angeklagte infolge der Verhandlungsführung durch eine befangene Richterin und die Billigung einer solchen Vorgehensweise oder auch nur Vernachlässigung des dazu erhobenen Berufungseinwands durch das Berufungsgericht in seinem auch den Anspruch auf Unparteilichkeit des Gerichts umfassenden Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden wäre. Der OGH verwies darauf, dass das Berufungsgericht nachvollziehbar hervorgehoben habe, dass keine Hinweise für die Annahme bestanden hätten, die Richterin sei nicht willens gewesen, sich von einer eventuellen Meinung, die sie sich vom vorliegenden Fall aufgrund des Aktenstandes vor der Hauptverhandlung gemacht habe, angesichts der Ergebnisse des Beweisverfahrens zu lösen. Das Berufungsgericht habe aktenkonform dargelegt, dass zum einen die Richterin die vorliegenden Beweismittel gänzlich ausgeschöpft habe, was ihr Streben nach amtswegiger Wahrheitserforschung betone, sich zum anderen wesentliche neue Aspekte der Strafzumessung in der Hauptverhandlung nicht ergeben hätten und deshalb die Äußerung der Richterin gegenüber dem Verteidiger über die Strafe im Fall eines Schuldspruchs nicht geeignet sei, Zweifel an ihrer Unparteilichkeit zu begründen. Des Weiteren betonte der OGH, dass mangels verwirklichter



II. Ansichten im Schrifttum75

Urteilsabsprache der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht verletzt und aus dem vom Berufungsgericht dargestellten Verhalten der Richterin auch nicht abzuleiten sei, dass diese die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK verletzt habe, unabhängig davon, dass sich das Berufungsgericht in Stattgabe der Strafmaßberufung zum Ausspruch einer niedrigeren Strafe (Herabsetzung der Freiheitsstrafe auf acht Monate) veranlasst gesehen habe.

II. Ansichten im Schrifttum Die erheblich differierenden Auffassungen darüber, was unter einer Urteilsabsprache zu verstehen ist,7 erschweren die rechtswissenschaftliche Erörterung. Zudem scheint die Positionierung der einzelnen Diskussionsteilnehmer nicht selten durch die aufgrund ihrer ausgeübten Profession zugewiesenen Aufgaben beeinflusst. Die unter den Autoren entstandene Lagerbildung wird im folgenden Abschnitt aufgezeigt. Zunächst wird die Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Debatte über die Urteilsabsprachen behandelt.

1. Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Erörterung Die rechtswissenschaftliche Diskussion um die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen ist in Österreich relativ jung.8 So gestand nach Ansicht von Moos erstmals 1985 eine Richterin in einem Beitrag bei CLUB 2 des ORF öffentlich die Existenz von verfahrensbeendenden Absprachen im österreichischen Strafverfahren zu, sprach sich aber zugleich strikt gegen die Zulässigkeit solcher Absprachen aus.9 Publizistischer Pionier war wohl Zitta10, der als Erster über den Fall einer Urteilsabsprache aus dem Jahre 1986 berichtete und sich damit der Thematik der Urteilsabsprachen annahm.11 Diese die Problematik zumindest andeutungsweise thematisierenden Beiträge blieben jedoch ohne Echo in der rechtswissenschaftlichen Erörterung. Soyer nannte bereits 1991 das Schweigen über Absprachen „ein nicht mehr (er)tragbares Tabu“.12 Allerdings widmete sich auch sein Text nicht ausschließlich dem Thema der Absprachen. Ebenso sah sich Moos13 in seiner Veröffentlichung aus dem Jahre 1997 ledig7  Dazu

bereits oben, A. II. Überblick über die Entwicklung der Urteilsabsprachenerörterung in Österreich geben auch Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (768 f.) und Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 788 (805 f.). 9  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (59 Fn. 10). 10  Zitta, in: Zitta, Strafprozess, Band 2, 180 (184). 11  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (59 Fn. 10). 12  Soyer, Österreichisches AnwBl 1991, 71 mit Fn. 1. 13  Moos, Reinhard, JBl 1997, 337 (351). 8  Einen

76

C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen

lich zu einer Nebenbemerkung in Bezug auf konsensuale Erledigungsformen veranlasst. 1991 publizierte Soyer14 im Panoramateil der Tageszeitung „Die Presse“ unter der Überschrift „Wenn Milde gegen Kooperation getauscht wird“ einen Artikel über Absprachen im Strafprozess. Für die juristische Fachliteratur aber ist der thematische Anfang bei den Veröffentlichungen zu suchen, die sich als erste ausschließlich mit dem Thema „Absprachen“ befassten. Wichtige Pionierarbeit leistete daher Ende der 1990er Jahre Tipold15, der in seinem Aufsatz mit dem Titel „Absprachen im Strafprozeß“ diese Praxis in der Fachöffentlichkeit thematisierte. Tipold war wohl der Erste, der Absprachen eine eigenständige thematische Relevanz beimaß und diese nicht mehr im Zusammenhang mit anderen juristischen Themen am Rande oder nur andeutungsweise erörterte. Es lässt sich deshalb sagen, dass Absprachen seit der Veröffentlichung von Tipold im Jahre 1999 zum festen Wissensbestandteil der Jurisprudenz gehören und diese Publikation den Beginn der öffentlichen Diskussion um Urteilsabsprachen im österreichischen Strafverfahren markiert.16 So folgte etwa 2001 der Aufsatz von Ellinger17, der sich mit der Absprachenproblematik auseinandersetzt. Nach der Veröffentlichung von Tipold brauchte es hingegen noch weitere drei Jahre bis schließlich 2002 strafprozessuale Absprachen zum ersten Mal Thema bei einer finanzstrafrechtlichen Tagung wurden. Maßgeblich verantwortlich für die Diskussion und Auseinandersetzung mit dieser diffizilen Materie waren die dort von Soyer und Ratz gehaltenen Vorträge.18 Mit dem 15. Österreichischen Juristentag 200319 und dem 1. Österreichischen StrafverteidigerInnentag 200320 etablierten sich die Absprachen im Strafverfahren dann endgültig als ein zentraler Gegenstand der österreichischen strafprozessualen Diskussion. Die zu den Urteilsabsprachen erlassene Grundsatzentscheidung des OGH21 im Jahre 2004 befeuerte die Debatte zusätzlich. Urteilsabsprachen entwickelten sich zu einem „Standardthema“ auf Fachtagungen.22 14  Soyer,

in: Die Presse v. 10.07.1991, S. 18. Absprachen, 169–191. 16  Dies gilt, obgleich der Aufsatz von Tipold „versteckt“ in einer polnischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. 17  Ellinger, Der Kriminalbeamte 2001, 26. 18  Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2002), 73–98; Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2002), 99–115. 19  Dazu Rech, 15.  ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (41  f., 51); siehe in diesem Band auch die Diskussionsbeiträge von: Danek, 55 (70 f.); 96; 149 f.; Venier, 93; Böttcher, 107; Soyer, 110; Moos, Reinhard, 123 f.; Thaman, 128 f.; Fuchs, 82–85; 130 f.; Heiss, 131 f.; Pilnacek, 132 f.; Brandstetter, 135–137. 20  Hierzu die Beiträge von Soyer, 1.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 80 (82 f.); Gerstberger, 1. Österreichischer StrafverteidgerInnentag (2003), 100 (100 f.). 21  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127–128. 15  Tipold,



II. Ansichten im Schrifttum77

Die beachtliche Zeitspanne von dem ersten schriftlichen Bericht über die Urteilsabsprachenpraxis im Jahre 198723 bis hin zur ersten Veröffentlichung mit einer eigenständigen thematischen Relevanz im Jahre 199924 veranschaulicht indes auch, wie schwerfällig das „heikle Thema“25 der Urteilsabsprachen in der juristischen Diskussion vorangekommen ist. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der rechtlichen und rechtspolitischen Brisanz. Die informelle Praxis ist nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung des OGH dem Vorwurf der Rechtswidrigkeit ausgesetzt und die Justiz gerät in den Verruf, sich illegaler Praktiken zu bedienen. Die Tatsache, dass Urteilsabsprachen in der Praxis auch noch vorkommen, nachdem der OGH sie als strafbare Handlungen gekennzeichnet hat, wirft zudem ein grelles Licht auf absprache­ bereite Juristen. Die Gruppe der Strafverteidiger nimmt in der Diskussion eine wichtige Rolle ein. Von ihr gehen immer wieder Impulse zur Erörterung der Absprachenpraxis aus.26 Ursächlich dafür soll auch die Angst vor der eigenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit sein.27 Die Rechtsanwaltschaft legte auf dem 7. Österreichischen StrafverteidigerInnentag 2009 fest: „Absprachen zwischen StaatsanwaltIn, RichterIn und VerteidigerIn über den Verfahrensablauf und die Straffrage sind zulässig. Eine gesetzliche Regelung dieser Kommunikationsprozesse ist nicht erforderlich und zweckmäßig, da der Beschuldigte noch stärker als bisher einem Geständnisdruck ausgesetzt wäre. Die Rechtsprechung ist aufgerufen, anstelle rigoroser obiter dicta (11 Os 77/04 OGH 24.08.2004) in Grundsatzentscheidungen die bei Absprachen zu berücksichtigenden Grundsätze des Strafverfahrens und die rechtsstaatlich gebotenen Grenzen zu konkretisieren und zu verdeutlichen.“28 22  Aktuelleren Datums etwa: Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68–72); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (95 f.); Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (109); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (115–126). 23  Zitta, in: Zitta, Strafprozess, Band 2, 180 (184). 24  Tipold, Absprachen, 169–191. 25  Pilnacek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 132. 26  Siehe etwa die zahlreichen Beiträge von Soyer, beispielhaft in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (764–769); ders., 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 80 (81–83); siehe auch Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (187–191). Zu den Grundsätzen der Strafverteidigung: Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187 unter Punkt 12). In der Sitzung der Strafrechtskommission am 27. und 28.11.2009 wurde ein Entwurf einer von der Arbeitsgruppe erörterten gesetzlichen Regelung präsentiert und zur Diskussion gestellt, siehe dazu Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (244–250); ders., 2. Dreiländerforum (2012), 181 (192–196). Zu diesem Entwurf unten, F. I. 2. b). 27  So Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (403). Zu einer möglichen Strafbarkeit der Verteidigung unten, G. I. 3. d) bb). 28  Beschlüsse des 7. Österreichischen StrafverteidigerInnentages, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 105 (105 f. Punkt 3).

78

C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen

Demgegenüber hoffte man ein Jahr später auf dem 8. Österreichischen StrafverteidigerInnentag nicht mehr auf ein Einlenken seitens des OGH, sondern diskutierte kontrovers über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen und warb offen für deren positivrechtliche Regelung. Ausschlaggebend für diesen Richtungswechsel dürfte die zwischenzeitlich in Deutschland durch Gesetz erfolgte begrenzte Legalisierung und Kanalisierung von Urteilsabsprachen gewesen sein.29 Zum anderen erscheint für Strafverteidiger die Problematisierung einer informellen Praxis leichter, da sie keine mit der Justiz vergleichbare Legitimierungsaufgabe wahrnehmen.30 Gleiches gilt für die Jurisprudenz.31 Bei Verwirklichung einer Straftat besitzt ausschließlich der Staat das Recht und die Pflicht, für diese Tat eine angemessene Strafe anzuordnen („staatlicher Strafanspruch“).32 Nach beinahe zwei Jahrzehnten öffentlicher Diskussion gibt es jedenfalls kein festes Fundament, auf dem bei der Erörterung des Problems der Urteilsabsprachen aufgebaut werden könnte. Es besteht keine Einigkeit über die Vereinbarkeit mit dem geltenden Gesetz oder eine Nützlichkeit für das Strafverfahren. Ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, ist unverändert strittig. Diese inhaltlichen Schwierigkeiten beruhen nicht zuletzt auf fehlendem empirischen Wissen33 und der Vielschichtigkeit der Abspracheformen, wodurch auch unter dem Begriff einer Urteilsabsprache Verschiedenes verstanden werden kann.34

2. Gegenwärtiger Stand der Diskussion In der Literatur herrscht auch nach den Entscheidungen des OGH Uneinigkeit über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen. Tendenziell existieren zwei unterschiedliche Meinungen:35

29  Kier/Bockemühl,

Österreichisches AnwBl 2010, 402 (403). StV 2006, 357 (358); Ratz, Österreichisches AnwBl 2015, 276 (279). 31  Siehe den Seminarbericht zum 38. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie 2010 von Philipp, Andrea, RZ 2010, 234 f., wonach sich die anwesenden Träger der Justiz im Gegensatz zu den Strafrechtslehrern übereinstimmend gegen eine Legalisierung ausgesprochen hätten. 32  Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn.  2.4; Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (111 f.). 33  So auch Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 (127); zustimmend S ­ oyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 133 (134). 34  Dazu bereits oben, A. II. 35  Zum Meinungsstand in der Literatur auch Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (187–191). 30  Weßlau,



II. Ansichten im Schrifttum79

a) Ablehnung Ein Teil des Schrifttums missbilligt Urteilsabsprachen wegen ihrer Verletzung elementarer Grundsätze des Strafprozessrechts, was letztlich das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat beeinflusse.36 Kaum überraschend lehnen auch (ehemalige) Höchstrichter in ihren Publikationen Urteilsabsprachen generell ab.37 Nur das in einem kontradiktorischen Verfahren zustande gekommene Urteil entspreche einem rechtsstaatlich ergangenen Urteil.38 b) Befürwortung In der Literatur existiert eine Reihe von Autoren, die Urteilsabsprachen befürworten oder zumindest deren Verzichtbarkeit bzw. Eliminierung in der Strafprozesswirklichkeit anzweifeln.39 Bevor sich der OGH im Jahre 2004 36  Siehe etwa Tipold, Absprachen, 169 (189 f.); Ellinger, Der Kriminalbeam­te 2001, 26 (27); Pilnacek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 132 (133); Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 135; Lambauer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 46; Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122 f.); Velten, JSt 2009, 181 (183); dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 87–92; Forsthuber, RichterInnenwoche (2010), 85 (86); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (404); Ofner, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 50 (52 f.); Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (109); Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.02 2015), § 2 Rn. 4; Fabrizy, StPO, § 3 Rn. 5; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 53, 404. Siehe auch BMJ, Arbeitsgruppe Strafprozess, Schlussbericht, S. 21 f. [Internetquelle]. Kritisch Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (27); ablehnend letztendlich wohl auch Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, (2009), 13 (16 f.); Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (152, 155). 37  Siehe Ratz, in: Miklau-FS, 416–418; ders., in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 788 (804 f.); ders., ÖJZ 2009, 949 (950–955); ders., ÖJZ 2010, 387; ders., 18. ÖJT (2012), Band III/2, 16 (51–53); ders., in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 161 (165 f.); Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51 f.); ders., RZ 2004, 122 (129); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17, § 232 Rn. 6; ders./Mann, in: WK-StPO (2019), Vor §§ 220–227 Rn. 8, 9; Markel, in: WK-StPO (2015), § 1 Rn. 9. 38  Velten, JSt 2009, 181 (183). 39  Etwa Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 f.; ders., RZ 2004, 56 (56 f.); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (41 f., 51); Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127 (129); Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131 f.; Soyer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 80 (82 f.); ders., in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (785); ders., 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (85; 88 f.); Miklau, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005) 53 (54); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (130–132); dies., JBl 2011, 65 (65 f.); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 133 f.; Stuefer, JSt 2009, 46 (47); Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38); Ruhri, Ös-

80

C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen

erstmals zur Materie der Urteilsabsprachen äußerte, wurde ihm aus diesen Reihen deshalb vorgeworfen, die Probleme der Urteilsabsprachen zu ignorieren und in einem der Rechtssicherheit abträglichen Graubereich zu belassen, wodurch die Divergenz zwischen Theorie und Praxis immer größer würde.40 Die unmissverständliche Grundsatzentscheidung des OGH hat Absprachenbefürwortern allerdings eine klare Absage erteilt. Dies hatte zur Folge, dass dem OGH grobe Realitätsverkennung unterstellt wurde, weil er die alltäglich geübte Praxis der Urteilsabsprachen brandmarke.41 Eine Strafverfolgung innerhalb der Justiz sei ohnehin aufgrund des heimlichen Vorgehens der Beteiligten ausgeschlossen.42 Die anhaltende Verdrängung der Urteilsabsprachen aus der Öffentlichkeit unterstütze mangels Kontrollmöglichkeit ihre Missbrauchsgefahr in rechtsstaatsgefährdender Weise.43 Zudem werde die Freiheit der Verteidigungsstrategie beschnitten.44 Das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung wird innerhalb dieser Gruppe differenziert beurteilt. Manche wollen Urteilsabsprachen informell zulassen und kontrollieren.45 Die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung wird insbesondere mit der durch eine klare Regelung gewährleisteten Rechts­ sicherheit über zulässiges Vorgehen begründet.46 Auch prozessökonomische terreichisches AnwBl 2010, 243 (243–245); Stuefer/ders., 38. Ottensteiner (2010), 61 f.; Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (68 f.); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (52); dies., Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 261–382; Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (88 f.); Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94 f.); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (68– 72); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (96); Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (115–117); Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354 (356); Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 36. Siehe auch die Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187). 40  Exemplarisch Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 133 (133 f.). 41  Etwa Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187). 42  So bereits im Jahre 2003 Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 f.; ders., RZ 2004, 56 (61). 43  Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (100). 44  Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187); Stuefer, JSt 2009, 46 (47). 45  Siehe Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354 (356); dazu auch Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127 (129); gegen eine gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachen wohl auch Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (14). 46  Siehe beispielhaft Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131 f.; Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132); Mühlbacher, JSt 2009, 40 (41); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (245); Stuefer/Ruhri, 38. Ottensteiner



II. Ansichten im Schrifttum81

Gründe wie die Verfahrensvereinfachung und ‑beschleunigung und der Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege werden angeführt.47 Als Vorbild für die inhaltliche Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung werden neben dem in der schweizerischen Strafprozessordnung geregelten abgekürzten Verfahren48 insbesondere die vom BGH zur Urteilsabsprachenpraxis entwickelten Richtlinien49 bzw. das im Jahre 2009 in Deutschland eingeführte Verständigungsgesetz50 herangezogen. Einig sei man sich darüber, dass jedenfalls ein Handel über die Schuld ausscheiden müsse und besondere Sicherungsmechanismen zum Schutz des Beschuldigten geschaffen werden müssten.51

(2010), 61 f.; Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (88); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (52); Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (88); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 134; Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38); Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (153 f.); Vacarescu, 13. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2015), 65 (70); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (96); Schmoller, in: WK‑StPO (2016), § 3 Rn. 36. 47  Heiss, 15.  ÖJT (2003), Band IV/2, 131; Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37 f.); Mühlbacher, JSt 2009, 40 (41); Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (69); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98); Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 273. 48  Siehe Oberhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 144 (146); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (52). 49  Siehe Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (136); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (107); Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), 123 (124); ders., RZ 2004, 56 (56 f.); Miklau, 3. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2005) 53 (54); Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38). 50  Siehe Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (243, 245–250); ders., 2. Dreiländerforum (2012), 181 (192–198); Koenig, 8. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2010), 61 (69); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (69 f.). Einschränkend Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (117–121, 124). 51  Exemplarisch Schick, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 15 (40 f.; 44); Miklau, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005) 53 (54); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (245); Soyer, 8. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2010), 78 (88 f.); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 134; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 36. Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (139); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (109) erachtet bei Einführung einer gesetzlichen Regelung auch eine Absprache hinsichtlich der Schuldfrage für möglich.

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C. Meinungsstand zu Urteilsabsprachen

III. Ergebnis des Kapitels Der genaue Zeitpunkt des Beginns der Urteilsabsprachenpraxis im österreichischen Strafprozess lässt sich nicht feststellen. Das Ermessen des Gerichts bei der Strafzumessung und die Disposition des Angeklagten über die Ablegung eines Geständnisses liefern seit jeher den Anreiz, diese beiden Positionen in einem Austausch gegenseitigen Nehmens und Gebens miteinander zu verbinden, was vermuten lässt, dass Urteilsabsprachen schon existierten, bevor sie in der (Fach-)Öffentlichkeit Erwähnung fanden. Solange sie jedoch eine den Justizalltag nicht (mit-)bestimmende Ausnahme bildeten, musste ihnen keine große Relevanz beigemessen werden. Denn strafprozessuale Regeln gelten auch dann weiter, wenn von ihnen im Einzelfall abgewichen wird. Bedeutsam erscheint deshalb der Zeitpunkt der regelmäßigen Anwendung der Urteilsabsprachenpraxis. Dem österreichischen Schrifttum zufolge ist diese Schwelle längst überschritten. Der Strafjustiz fällt es als maßgebliche Verfahrensbeteiligte einer Urteilsabsprache schwer, sich offiziell zur Ausübung dieser informellen Praxis zu bekennen, gerät sie bei ihrer Mitwirkung an dieser Verfahrenspraxis doch sowohl in Widerspruch zum Gesetz, das Urteilsabsprachen nicht vorsieht, als auch zu der eindeutigen Rechtsprechung des OGH, der Urteilsabsprachen in ständiger Rechtsprechung generell verbietet. Die Justiz wird ihr Handeln deshalb häufig mit ihrer Rolle als unverschuldetes Opfer chronischer personeller Unterbesetzung rechtfertigen,52 da sie letztlich auch um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit fürchten muss. Eine Lagerbildung bei der Frage um die rechtliche Zulässigkeit der Urteilsabsprachen ist erkennbar. In bemerkenswerter Weise schließen nahezu alle Befürworter dieser informellen Praxis zumindest begrifflich einen Handel über die Schuld aus. Bei allen Diskussionsbeiträgen muss deshalb eruiert werden, ob das theoretische Modell einer zulässigen Urteilsabsprache entwickelt oder eine Beurteilung der Rechtswirklichkeit geleistet werden soll. Es stellt sich die Frage, ob im österreichischen Strafprozess theoretische Modelle überhaupt als Antwort auf die Bedürfnisse der Praxis in Betracht kommen, wenn in der Rechtswirklichkeit die vorgegebenen Grenzen vorhersehbar überschritten werden.

52  Siehe

Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98).

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht Der OGH hat in seinem obiter dictum1 Urteilsabsprachen wegen ihres offensichtlichen Verstoßes gegen § 202 erster und zweiter Fall öStPO a. F.2 und ihres eklatanten Widerspruchs gegen die tragenden Grundprinzipien des österreichischen Strafverfahrensrechts generell für unzulässig erklärt und seinen Standpunkt in zwei weiteren Entscheidungen bestätigt.3 In der strafrechtlichen Literatur ist diese Rechtsprechung auf harte Kritik gestoßen.4 Es sei falsch, Urteilsabsprachen wegen ihres erhöhten Missbrauchspotenzials pauschal abzulehnen.5 Den Gerichten dürfe ein nötiges Problembewusstsein und das Bemühen um rechtsstaatliche Sorgfalt im Umgang mit Urteilsabsprachen nicht ohne weiteres abgesprochen werden. Der OGH habe aus der Natur der Sache heraus nur mit rechtlich bedenklichen und missbräuch­ lichen Fällen der Urteilsabsprachen zu tun und dadurch ein falsches, überkritisches Bild in Bezug auf Urteilsabsprachen. Solange beim Gebrauch dieses verfahrensbeendenden Instruments bestimmte Grenzen eingehalten würden, seien Urteilsabsprachen mit der geltenden österreichischen Strafprozessordnung kompatibel.6 Im Folgenden werden Urteilsabsprachen deshalb einer rechtlichen Zulässigkeitsprüfung unterzogen. Das Hauptaugenmerk ist dabei auf die beiden vom OGH hervorgehobenen Kernprobleme der Urteilsabsprachen gerichtet: Ihre Vereinbarkeit mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit aus §§ 3, 232 Abs. 2, 254 öStPO und dem nemo-tenetur-Grundsatz aus Art. 90 Abs. 2 B-VG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bzw. § 7 Abs. 2 i. V. m. § 164 Abs. 4 öStPO (dazu unten I.). Daran anknüpfend werden Urteilsabsprachen auf ihre Vereinbarkeit mit weiteren für den Strafprozess grundlegenden Normen und Prinzipien überprüft (II.), bevor schließlich ihre materiellrechtlichen Zulässigkeitsprobleme erörtert werden (III.).

1  OGH 11 Os 77/04

JBl 2005, 127–128. öStPO a. F. ist seit dem StPRefG 2004 (öBGBl I 2004/19, in Kraft getreten am 01.01.2008) in § 164 Abs. 4 öStPO geregelt. 3  Zu den Entscheidungen: RIS-Justiz RS0119311 sowie oben, C. I. 4  Hierzu oben, C. II. 2. b). 5  Medigovic, JBl 2011, 65 (65 f.); dort auch zum folgenden Text. 6  Medigovic, JBl 2011, 65 (66). 2  § 202

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

I. Kernprobleme Aufgrund ihrer besonderen rechtsstaatlichen Relevanz müssen im Mittelpunkt jedweder Absprachendiskussion das Prinzip der materiellen Wahrheit und der nemo‑tenetur‑Grundsatz stehen.7 Die Schlüsselstellung dieser beiden Strafprozessrechtsgrundsätze liegt in der von der Justiz im Rahmen einer Urteilsabsprache verfolgten Arbeitserleichterung sowie in der vom Angeklagten für seine Kooperationsbereitschaft erhofften Strafmilderung begründet. Zentrale Fragen einer Urteilsabsprache sind, ob und wann ein Geständnis, für das eine Strafmilderung gewährt wird, taugliche Urteilsgrundlage sein kann, und ob und wie sich ein Strafrabatt für ein Geständnis mit dem Schutz der Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten vereinbaren lässt, auch im Hinblick auf die Gefahr falscher Geständnisse.

1. Vereinbarkeit mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit Einen Schwerpunkt in der Frage um die rechtliche Zulässigkeit von Urteilsabsprachen nimmt das Prinzip der materiellen Wahrheit aus §§ 3 Abs. 1, 232 Abs. 2, 254 öStPO ein. Es gilt als wesentliches Grundprinzip des österreichischen Strafprozesses (vgl. § 258 öStPO).8 Die Strafprozessordnung ist dem Instruktionsgrundsatz, dem Gebot der amtswegigen Ermittlung, verpflichtet, der in §§ 2, 3, 232 Abs. 2, 254 öStPO gesetzlich verankert ist.9 Ziel der Sachaufklärung, zu der das Gericht vom Gesetz verpflichtet wird, ist die Erforschung der materiellen Wahrheit.10 § 3 Abs. 1 öStPO verpflichtet das Tatgericht von Amts wegen zur Prüfung aller wesentlichen Umstände ohne Bindung an Vorbringen und Beweisanträge der Parteien oder Beweislastregeln, um die urteilsmäßige Feststellung des wahren Sachverhalts zu ermöglichen.11 Das Tatgericht hat als notwendige Legitimation für den Schuldspruch 7  Nach Ignor, in: BRAK-FS, 321 (323), sind dies die „neuralgischen Punkte“ einer Urteilsabsprache; Weßlau, ZStW 116 (2004), 150 (166), bezeichnet sie als zwei von vier „normativen Fixpunkten“. 8  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127 (127 f.); Soyer, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994), 191 (195); Danek, RZ 2004, 122 (122, 130); Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107; Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65. 9  Fabrizy, StPO, § 2 Rn. 2. 10  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (647); Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 3 Rn. 1. 11  Danek, RZ 2004, 122; ders./Mann, in: WK-StPO (2017), § 232 Rn. 5; Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (108); Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 3 Rn. 1, 3; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31. Zur materiellen Wahrheit auch Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht, S. 54–56.



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in justizförmiger Weise all das weitestmöglich zu unternehmen, was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist, um eine materiell richtige und gerechte Entscheidung zu gewährleisten.12 Es geht darum, die richtige Entscheidung zu treffen, ob und inwieweit der Angeklagte schuldig ist.13 In der Hauptverhandlung trifft diese Pflicht insbesondere den Vorsitzenden (§ 232 Abs. 2 öStPO), der dazu mit diskretionärer Gewalt (§ 254 öStPO) ausgestattet ist.14 Nach Ansicht des OGH verstößt das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache prinzipiell gegen den Grundsatz der materiellen Wahrheit. Absprachenbefürworter sind anderer Meinung. Dieser Disput soll im Folgenden beleuchtet werden. a) Erfüllung der richterlichen Aufklärungspflicht? Nach der Strafprozessordnung ist die Aufklärungspflicht durch vollständige Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung einzulösen und die Beweisaufnahme muss grundsätzlich alle zur Verfügung stehenden und zulässigen Beweismittel einbeziehen, die in irgendeiner Form Schlüsse auf den ­gegenständlichen Fall erwarten lassen.15 Es gilt das Verbot der „Beweisanti­ zipation“.16 Lässt das Gericht im Einvernehmen mit den anderen Verfahrensbeteiligten eine notwendige und durchführbare Beweisaufnahme zur weiteren bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung aufgrund eines abgelegten Geständnisses entfallen, bildet allein das Geständnis des Angeklagten die Urteilsgrundlage für das Gericht. Die Feststellungen zum Tatgeschehen werden dann vom Gericht in der Hauptverhandlung nicht auf die beste Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung getroffen, weil sonst mögliche Beweiserhebungen unterbleiben. Dem OGH zufolge widerstreiten Urteilsabsprachen dem Gebot der materiellen Wahrheitsfindung.17 Das Höchstgericht scheint davon auszugehen, ein Verzicht auf der Sachlage nach gebotene Beweiserhebungen gehöre zum typischen Ablauf einer Urteilsabsprache, weil die Suche nach der materiellen Wahrheit prinzipiell abgebrochen werde, sobald der Angeklagte ein Geständnis abgelegt habe. Diese höchstrichterliche Schlussfolgerung wird in der österreichischen Literatur in Zweifel gezogen, namentlich weil auch eine verkürzte Urteilsbegründung bestimmend für die Absprachen12  Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107  f.; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 1.13. 13  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181. Vgl. Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht, S.  54 f. 14  Danek, RZ 2004, 122. 15  Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 37. 16  Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 37. 17  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127 (127 f.); 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65). Dazu oben, C. I.

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bereitschaft des Gerichts sein könne.18 Der OGH dürfe nicht unterstellen, dass das Gericht bei jeder Urteilsabsprache auf die vollständige Ausschöpfung gebotener Beweismittel verzichte.19 Es trifft zwar zu, dass die Vermeidung einer aufwendigen Urteilsbegründung die richterliche Arbeitsbelastung verringert und somit ein richterliches Motiv für Urteilsabsprachen darstellt.20 Das bedeutet aber keineswegs, dass es den Verfahrensbeteiligten nicht primär auf die Vermeidung einer weiteren Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ankommt. Denn es sind vor allem komplexe Sachverhalte und Beweislagen sowie schwierige Rechtsfragen, aus denen Arbeitsüberlastung resultiert, die mit Hilfe von Urteilsabsprachen vermindert werden soll.21 Vornehmlich in Wirtschaftsstrafverfahren, welche die Justiz nicht selten vor kaum lösbare Beweisprobleme stellt,22 ist deshalb der Ruf nach der Zulassung von Urteilsabsprachen groß.23 Gerade in diesen für die Urteilsabsprachenpraxis interessanten Fällen ist die Arbeitsersparnis durch den Verzicht auf die Durchführung einer Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung besonders hoch. Haben die Berufsjuristen die einer traditionellen Hauptverhandlung geschuldete Vorbereitung durch zeitaufwändige Aktenlektüre hinter sich,24 wurden in der Hauptverhandlung alle Beweismittel vollumfänglich ausgeschöpft und insbesondere alle schwierigen Sach- und Rechtsfragen bis zur Entscheidungsreife geklärt, erscheint im Vergleich hierzu ein verkürztes Urteil nicht mehr als besondere Verfahrenserleichterung.25 Ein Verhandeln zwischen den Berufsjuristen setzt deshalb grundsätzlich an einem Punkt ein, an dem die Tatfrage von allen Beteiligten noch nicht als abschließend erörtert angesehen werden kann und von der endgültigen Klärung der streitigen Punkte durch förmliche Beweiserhebungen zu allen Umständen des Tatvorwurfs abgesehen werden soll.26 Andernfalls bliebe für ein „Verhandeln“ kein Raum. Die Beweislage erlaubt zu diesem Zeitpunkt die Führung des Schuldnachweises noch nicht und das Geständnis wird als ein Beweismittel eingesetzt, das andere Beweismittel entbehrlich machen soll.27 Zudem kommt der Nutzen eines verkürzten Urteils lediglich dem Gericht zugute, die anderen an der Urteilsabsprache Beteiligten – StaatsanwaltMedigovic, JBl 2011, 65 (65 f.). JBl 2011, 65 (66). 20  Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17. 21  Hierzu bereits oben, B. II. 1. a) bb). 22  Dazu Peschorn, in: ÖJK, Strafverfolgung, 121 (121 f.). 23  Täubl, RichterInnenwoche (2010), 89 (94). 24  Vgl. dazu Riffel, RZ 2014, 238 (240); Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17, § 232 Rn. 6. 25  Vgl. Rönnau, ZIS 2018, 167 (174 f. m. w. N.). 26  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 27  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8. 18  So

19  Medigovic,



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schaft und Verteidigung – gehen leer aus. Die verfahrenspsychologischen Aspekte aller drei beteiligten Berufsjuristen bilden aber das Motiv zur Mitwirkung an einer Urteilsabsprache.28 Dies spricht dafür, dass es das vollständige oder weitgehende Entfallen einer nach dem Grundsatz der Amtsermittlung gebotenen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ist, welches die Urteilsabsprachenpraxis prägt.29 Die Primärmotivation der professionellen Verfahrensbeteiligten scheint bei Urteilsabsprachen also in der Dispensierung von der gerichtlichen Aufklärungspflicht zu liegen.30 Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung dezimiert sich deshalb auf die Entgegennahme des Geständnisses.31 Eine erhebliche Verringerung des Aufwands bei der Verhandlungsvorbereitung kommt hinzu, wenn eine Urteilsabsprache bereits vorher erwartet werden kann. Fälle, bei denen trotz einer Urteilsabsprache alle zur Verfügung stehenden Beweismittel ausgeschöpft werden, bestätigen als Ausnahme die Regel der erheblichen Reduzierung des Arbeitseinsatzes bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung durch eine möglichst frühzeitige Absprache der Verfahrensbeteiligten.32 Stützen lässt sich dieses Ergebnis auf empirische Untersuchungen aus Deutschland, die den Verstoß gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit durch Reduzierung des Aufwands bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung im Rahmen einer Urteilsabsprache belegen.33 Mit dem OGH ist davon auszugehen, dass beim Prototyp „Geständnis gegen Milde“ eine gebotene Beweiserhebung in herkömmlicher Form unterbleibt. b) Modifizierte Aufklärungspflicht bei Absprachegeständnis? Obwohl also eine Beweisaufnahme in herkömmlicher Form im Zuge einer Urteilsabsprache unterbleibt, wird diskutiert, ob ein Absprachegeständnis den Umfang der Aufklärungspflicht verringern kann, so dass unter Umständen ein Verstoß gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit verneint werden könnte.34 Ein Absprachegeständnis müsste daher nach dem vorstehend Ausgeführten als alleiniges Beweismittel geeignet sein, dem Gericht die Gewiss28  Dazu

oben, B. II. 2. ÖJZ 2009, 949 (951); Venier, JSt 2009, 39; Ofner, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 50 (52 f.); Jähnke, ZRP 2001, 574 (575); Schmitt, GA 2001, 411 (412); Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (185 f.). 30  Hassemer, Winfried, StV 2006, 321 (327); Murmann, ZIS 2009, 526 (533 m. w. N.). 31  Weßlau, Konsensprinzip, S. 76. 32  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (951). 33  Siehe Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 182. 34  Siehe Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 150; Huttenlocher, Dealen, Rn. 797; Müller, Martin, Probleme, S. 136. 29  Ratz,

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heit der Richtigkeit des Anklagevorwurfs zu vermitteln, um den Verzicht auf ein Strengbeweisverfahren zu rechtfertigen und ihm eine ausreichende Grundlage für seine Überzeugungsbildung zu bieten. Mithin ist der Beweiswert des Geständnisses von entscheidender Bedeutung. Aus diesem Grund wird im Folgenden zunächst allgemein die Funktion des Geständnisses im System der Beweismittel beleuchtet. Daran anschließend wird die Frage erörtert, ob einem Absprachegeständnis ein eigenständiger Beweiswert zukommen kann bzw. ob auf einen eigenständigen Beweiswert nicht doch ausnahmsweise verzichtet werden könnte. aa) Geständnis im System der Beweismittel Das Geständnis ist in der strafrechtlichen Praxis von großer Relevanz.35 Neben seiner Funktion als Strafmilderungsgrund36 ist es im Strafprozess – seit Einführung des heute geltenden Verfahrens mit Instruktionsmaxime – ein wichtiges Beweismittel. (1) Begriff Eine Legaldefinition des Geständnisses findet sich in der österreichischen Rechtsordnung nicht. Im Strafgesetzbuch wird es nur an einer Stelle (§ 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB) und in der Strafprozessordnung überhaupt nicht erwähnt. Auch in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur fristet es oftmals ein Schattendasein.37 Im Vergleich zu seiner hohen praktischen Bedeutung ist dies überraschend. Von einem Geständnis wird gesprochen, wenn ein Angeklagter „seine Beteiligung an einem strafrechtlich relevanten Sachverhalt einräumt.“38 Lohsing definiert ein Geständnis „als jede Aussage in Strafsachen, die an sich betrachtet (d. h. für den Fall der Richtigkeit ihres Inhalts) einen strafrechtlich erheblichen Nachteil für den Aussagenden herbeizuführen geeignet ist.“39

Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648). unten, D. III. 1. 37  In einigen Lehrbüchern zur Strafprozessordnung ist das Geständnis im Stichwortverzeichnis nicht zu finden. Eine wichtige Ausnahme bildet Lohsing, Österreichisches Strafprozessrecht, siehe dort insbesondere S. 372–375; ders., Das Geständnis in Strafsachen. Siehe auch die Dissertation von Fasching, Bedeutung des Geständnisses [Internetquelle]. 38  So Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 21. 39  Lohsing, Österreichisches Strafprozessrecht, S. 372. 35  Dazu 36  Dazu



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(2) Historischer Überblick über die Funktion des Geständnisses in der strafprozessualen Beweisführung Das heutige österreichische Strafprozessrecht stellt es nach § 166 öStPO zur Disposition des Angeklagten, ob er ein Geständnis ablegt oder nicht.40 Ein Geständnis darf nicht durch Folter oder sonstige unerlaubte Einwirkung auf die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung des Angeklagten erlangt werden. Diese Entscheidungsfreiheit wurde dem Angeklagten in der Rechtsgeschichte nicht immer zugebilligt. Bis zur Abschaffung der Folter in Österreich im Jahre 1776 war das notfalls unter der Folter abgelegte Geständnis eine hauptsächliche Quelle der Wahrheitsfindung und ein Beweis, der zwingend zur Verurteilung führte. Auch die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768, die Kriminalgerichtsordnung von 1788, das Strafgesetzbuch von 1803 und die Strafprozessordnung von 1853 sahen noch den Inquisitionsprozess vor, in dem das Geständnis als zwingender Schuldbeweis angesehen wurde. Erst mit der Strafprozessordnung von 1873 wurde der reformierte Anklageprozess mit Untersuchungsgrundsatz nach französischem Vorbild eingeführt. Danach steht die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung von zwingenden Beweisregeln im Mittelpunkt. Das Geständnis ist kein zwingender Anlass zur Verurteilung.41 Um die Beweisbedeutung des Geständnisses für den heutigen Strafprozess zu verstehen, wird der historische Wandel, den das Geständnis als Beweismittel für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren durchlaufen hat, im Folgenden kurz dargestellt:42 Im germanischen Strafverfahren war die Bedeutung des Geständnisses für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren noch gering.43 Die Erforschung der materiellen Wahrheit war kein Prozessziel und allein die formelle Wahrheit ausschlaggebend.44 Der Nachweis der Schuld oblag nicht dem Ankläger, sondern der Angeklagte musste seine Unschuld beweisen. Als Beweismittel standen ihm nur formale Mittel wie der Reinigungseid oder der Gegeneid zu den die Behauptung des Anklägers tragenden sogenannten Eideshelfern zur Verfügung. Oftmals wurde ein Gottesurteil vollzogen, etwa durch Zweikampf

40  Zur Entwicklung des Verwertungsverbots in Österreich: Schmoller, in: KühneFS, 345 (350–357). 41  Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 3 Rn. 3; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31. 42  Zur Historie des Geständnisses im Strafprozess auch Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 5–81, 114–128 [Internetquelle]; Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 13–34; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 25–27. 43  Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 18 f.; dort auch zum folgenden Text. 44  Zum Begriff der formellen Wahrheit unten, D. I. 1. c) aa).

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oder durch eine Feuer- und Wasserprobe.45 Im römischen Strafverfahren kam dem Geständnis essenzielle Bedeutung zu.46 Das Strafverfahren wandelte sich allmählich von einer Art schiedsgerichtlichem Verfahren zum öffentlichen Inquisitionsprozess, bei dem Geständnisse nicht nur von Sklaven, sondern auch von Freien erfoltert wurden.47 Im kanonischen Recht besaß das Geständnis anfangs keine gegenüber den anderen Beweismitteln hervorgehobene Stellung und ein Beweiswert wurde ihm nur bei einer freiwilligen Einlassung des Angeklagten zugesprochen.48 Nach der Etablierung des Inquisitionsprozesses im 16. Jahrhundert erzwang allerdings die Kirche in Anlehnung an das römische Strafverfahren auch Geständnisse durch Folter.49 Der Inquisitionsprozess führte zur Degradierung des Angeklagten zum Prozessobjekt und das Geständnis stieg zur Königin unter den Beweismitteln auf.50 Ziel der Wahrheitssuche war ein Geständnis des Angeklagten und der Einsatz von Folter dafür das effektivste Mittel. In den Zeiten der Hexenprozesse im 16. und 17. Jahrhundert stellte das dem Inquisiten abgepresste Geständnis den einzig maßgeblichen und zwingenden Beweis dar.51 Auch die Einführung der 1532 in Kraft getretenen Constitutio Criminalis Carolina (CCC), die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V., änderte an dieser Entwicklung nichts.52 Dieses Reichsgesetz kannte den privaten Anklage- und den amtlichen Inquisitionsprozess, es regelte die Anwendung der Folter und es erlaubte eine Verurteilung nur bei einem Geständnis oder bei einer Überführung mit Hilfe von zwei einwandfreien Zeugen.53 Obwohl die CCC eine kritische Überprüfung des Geständnisses verlangte, um die Anwendung der Folter und die Verwertbarkeit abgepresster Geständnisse zu begrenzen, strebten die Gerichte anhaltend eine Geständnisablegung an.54 Die CCC war im 16. und 17. Jahrhundert grundsätzliches Vorbild für das Strafprozessrecht in den österreichischen Erbländern, jedoch zeigten sich im Folter- und Geständnisrecht durchaus Weiterentwicklungen.55 Im 18. Jahrhundert kamen allge45  Moos,

Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 19. Fehlerquelle, S. 28. 47  Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 25; Beneke, Fehlerquelle, S. 28. 48  Busam, Geständnis im Strafverfahren, S.  25; Beneke, Fehlerquelle, S. 28; Stalinski, Aussagefreiheit, S.  6 f. 49  Drews, Königin, S. 33 f. 50  Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 26 f. 51  Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 26; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 26; Beneke, Fehlerquelle, S. 28. 52  Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 42 f. 53  Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 43; Drews, Königin, S. 34 f. 54  Henkel, Strafverfahrensrecht, S.  43; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 26; Beneke, Fehlerquelle, S. 28 f. 55  Dazu eingehend Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 114–118 [Internetquelle]. 46  Beneke,



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mein Bedenken gegen die Folterung zur Geständniserlangung auf.56 Die gesetzliche Beweistheorie, die dem Indizienbeweis nur Bedeutung als Voraussetzung für die Anwendung der Folter zuwies, geriet ins Wanken.57 Zunächst wurde in Preußen durch Friedrich II. im Jahre 1740 der Einsatz der Folter verboten.58 Österreich stand mit der von Kaiserin Maria Theresia erlassenen und im Jahre 1768 in Kraft getretenen Constitutio Criminalis There­ siana (CCT) noch in der gemeinrechtlichen Tradition (Art. 32 § 1 f. CCC).59 Die CCT, welche als erstes vereinheitlichtes, formelles und materielles Strafgesetzbuch in Österreich anzusehen ist, schränkte aber die Foltermethoden ein.60 Eine Aufhebung der Folter erfolgte in Österreich erst im Zuge der kriminalpolitischen Aufklärung im Jahre 1776.61 Nach Abschaffung der Folter ergab sich in der Praxis ein Problem: Es durfte nur aufgrund eines Geständnisses verurteilt werden, aber ein solches war durch Folter nicht mehr zu erlangen.62 Der nicht geständige Täter konnte demnach nicht mehr verurteilt werden, wenn nicht zwei einwandfreie Zeugen zur Verfügung standen, weshalb das Geständnis in der Praxis seine beweisrechtliche Schlüsselstellung behielt, nur die Mittel zur Geständnis­ erlangung wurden modifiziert.63 Gegen den leugnenden oder schweigenden Angeklagten wurden bis ins 19. Jahrhundert sogenannte Lügen- und Ungehorsamsstrafen eingesetzt, deren folterähnlicher Charakter sich nicht bestreiten lässt.64 Die Gewaltmittel wurden nur durch ähnlich wirksame Zwangsmaßnahmen ausgetauscht.65 Lügen- und Ungehorsamsstrafen fanden sich 1788 in der von Kaiser Joseph II. eingeführten Kriminalgerichtsordnung und gingen in beschränkter Form in das Strafgesetzbuch von 1803 über.66 Die Erkenntnisse über die Fehleranfälligkeit des Personalbeweises zum Ende des 19. Jahrhunderts führten zur Zunahme des Stellenwertes des Sachbeweises 56  Merzbacher,

in: Hinckeldey, Strafjustiz, 181 (186); Drews, Königin, S. 35. Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 27; Lohsing/Serini, Östereichisches Strafprozessrecht, S. 9 f. 58  Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 27 f. 59  Schlosser, Neuere Europäische Rechtsgeschichte, S. 247  f.; Sickor, Das Geständnis, S. 126. 60  Roeder, Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes, S. 6. 61  Schlosser, Neuere Europäische Rechtsgeschichte, S. 248. 62  Niehaus, Michael, in: Reichertz/Schneider, Sozialgeschichte, S. 43 (51). 63  Henkel, Strafverfahrensrecht, S.  49; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 26. 64  Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht, S. 17; Hussmann, Das falsche Geständnis, S. 23; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 49; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S.  26 f.; Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 28. 65  Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 49; Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 28. 66  Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 120 f. [Internetquelle]. 57  Moos,

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und des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung im Strafprozess und somit zur Schwächung der überragenden Rolle des Geständnisses im Beweisrecht.67 So wurde etwa reklamiert, dass ausschließlich ein vor dem erkennenden Gericht abgelegtes Geständnis als alleiniges Beweismittel zur Verurteilung ausreichen könne.68 Von anderer Seite wurde es für unabdingbar erklärt, für eine Verurteilung des Angeklagten nicht ausschließlich dessen Geständnis genügen zu lassen, sondern zusätzlich durch andere Beweismittel dessen Täterschaft wahrscheinlich zu machen, wobei für diesen Richtungswechsel nicht ausschließlich der zweifelhafte Beweiswert eines Geständnisses verantwortlich war, sondern ebenso eine Absage an die Ideologie des Inquisitionsprozesses mit dem Geständnis als Königin unter den Beweismitteln.69 Die österreichische Strafprozessordnung vom 23. Mai 1873 gestand dem Angeklagten Verteidigungsrechte zu. Eine Geständnispflicht wurde abgeschafft und nach § 202 öStPO a. F.70 die Anwendung von Versprechungen, Vorspiegelungen, Drohungen oder Zwangsmitteln zur Geständniserlangung verboten. Damit wurden Zeugenbeweis und Sachbeweis aufgewertet. (3) Geständnis im heutigen Strafprozess Im heutigen österreichischen Strafprozess ist das Geständnis generell ein mögliches Beweismittel unter vielen.71 Dem Geständnis wird in der Praxis jedoch eine erhebliche Beweisbedeutung zugeschrieben, weil die Einlassung des Angeklagten für und gegen ihn als Urteilsgrundlage verwendet werden kann,72 ferner weil die Vorstellung vorherrscht, ein Angeklagter werde wohl kaum ein Geständnis ablegen, wenn er nicht schuldig ist.73 Die Vernehmung des Angeklagten gilt gleichzeitig als bedeutender Beweiserhebungsakt zur Erforschung der materiellen Wahrheit, da der Täter selbst das Tatgeschehen mit seinem äußeren Ablauf und der inneren Tatseite am besten schildern kann.74 Ein favorisiertes Ziel des Strafverfahrens bleibt daher das Geständnis des Beschuldigten.75

67  Zbinden,

Kriminalistik, S. 23 f.; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 27. Handbuch des Strafprozesses, Band I, S. 606 f. mit Fn. 7. 69  Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 52 f.; Drews, Königin, S. 35 f. 70  Siehe Fn. 2. 71  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 399. 72  Tipold, Absprachen, 169 (177); Kirchbacher, in: WK-StPO (2013), §  164 Rn. 2. 73  Vgl. Püschel, StraFo 2015, 269 (273); zum falschen Geständnis unten, D. I. 3. 74  Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 28 f., 36. 75  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648). Vgl. dazu auch die Untersuchungen von Blankenburg/Sessar/Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 138–141. 68  Glaser,



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(4) Zwischenergebnis Die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Distanzierung von der Grundhaltung des Inquisitionsprozesses, wonach das Geständnis als zentrales Beweismittel zwingend zur Verurteilung führte, wird im aktuellen Strafprozess partiell zurückgenommen. Dem Geständnis wird im heutigen Strafprozess wieder ein herausragender Stellenwert zuerkannt, nun allerdings im Hinblick auf die verfahrensökonomische Wirkung des Geständnisses, das scheinbar weitere Beweiserhebungen entbehrlich macht.76 Welche Folgen dies für die Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten hat, wird noch zu erörtern sein.77 bb) Eigenständiger Beweiswert eines Absprachegeständnisses? Um beurteilen zu können, ob dem Geständnis im Urteilsabspracheverfahren ein eigenständiger Beweiswert zukommen kann, der dem Gericht eine ausreichende Grundlage für seine Überzeugungsbildung bietet und so den Verzicht auf ein weitergehendes Strengbeweisverfahren rechtfertigt, soll zunächst betrachtet werden, unter welchen Voraussetzungen dem Geständnis im konventionellen Verfahren ein entsprechender Beweiswert attestiert werden dürfte. Sodann ist zu untersuchen, welche Qualität einem absprachenbasierten Geständnis zukommt. (1) Qualität eines Geständnisses im konventionellen Strafprozess Der Grundsatz der materiellen Wahrheit bedingt, dass ein Geständnis allein das Gericht nicht bindet.78 Bekennt sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung gemäß § 245 Abs. 1 öStPO für schuldig, muss das Gericht dennoch eine Beweisaufnahme durchführen.79 Tatgerichte haben Geständ76  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648); Tipold, Absprachen, 169 (177); Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354. 77  Unten, D. I. 2. 78  OGH 8 Ob 89/15v EvBl 2016/53, 368 (369); Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648); Tipold, Absprachen, 169 (177 m. w. N.); ders./Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (145); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 3 Rn. 3; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31. 79  Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 3 Rn. 3; Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (145); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 10; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31; Danek/Mann, in: WKStPO (2017), § 232 Rn. 5. A. A. wohl Ratz, ÖJZ 2009, 949 (952 mit Fn. 20); ders., in: WK-StPO (2015), § 281 Rn. 457; dazu die Gegenrede von Velten, in: WK‑StPO (2015), Nach § 1 Rn. 10.

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nisse anhand anderer Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung zu überprüfen.80 Eine Verurteilung verlangt die Überzeugung des Gerichts, dass der Sachverhalt, den das Geständnis testiert, richtig ist. Solange die Möglichkeit besteht, dass sich am Ergebnis des Geständnisses noch etwas verändern könnte, muss das Gericht beweisbedürftige Tatsachen aufklären.81 Dem Gericht steht es nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 258 Abs. 2 S. 2 öStPO, welcher die Freiheit von starren Beweisregeln gewährt, nicht zu, ein Geständnis ohne weiteres zur Grundlage der Verurteilung des Angeklagten zu machen.82 Die richterliche Freiheit bei der Entscheidung über das Ergebnis der Beweisaufnahme hebt das eigentliche Ziel der Beweisaufnahme, die Wahrheitsfindung, nicht auf.83 Die Freiheit der Beweiswürdigung findet ihren Beginn erst nach Einlösung der Aufklärungspflicht. Das Geständnis enthebt nicht von der Pflicht zur weiteren Erforschung, ob das Geständnis dem realen Geschehensablauf entspricht.84 Das Gericht muss deshalb das Geständnis stets auf seine Glaubwürdigkeit kontrollieren bzw. seinen Wahrheitsgehalt durch andere Beweismittel absichern, weil es erst dann zentrale Beweisgrundlage eines Wahrheit erfüllenden Urteils sein kann.85 Allenfalls ein glaubwürdiges Geständnis könnte also eine Befreiung des Gerichts von seiner vollumfänglichen Aufklärungspflicht legitimieren.86 Der Beweiswert des Geständnisses ist deshalb entscheidend.87 Er ist insbesondere abhängig von der Detailliertheit, Vollständigkeit und Plausibilität der Angaben.88 Geständnisse werden qualitätsabhängig in verschiedene Kategorien eingeteilt.89 Man unterscheidet vor allem zwischen sogenannten „sub­ stantiierten“ und „schlanken“ Geständnissen. 80  OGH 8 Ob 89/15v EvBl 2016/53, 368 (369); Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648); Tipold, Absprachen, 169 (177 m. w. N.); ders., JBl 2013, 126; Kirchbacher, in: WK-StPO (2005), § 245 Rn. 18, § 246 Rn. 2; Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (131); dies., JBl 2011, 65 (65 f.); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (15); Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 144 f. [Internetquelle]; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31; Danek/ Mann, in: WK-StPO (2017), § 232 Rn. 5. 81  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13. 82  OGH 8 Ob 89/15v EvBl 2016/53, 368 (369). 83  OGH 8 Ob 89/15v EvBl 2016/53, 368 (369); Schmoller, in: WK-StPO (2011), § 55 Rn. 19; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 12. A. A. wohl Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (146). 84  OGH 8 Ob 89/15v EvBl 2016/53, 368 (369). 85  Medigovic, JBl 2011, 65 (66). 86  Tipold, JBl 2013, 126. 87  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13. 88  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 20. 89  Zu den Geständnisarten Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 23–25; Heller, Jens, Urteilsabsprache, S. 35–42.



I. Kernprobleme95

(a) Beweiswert eines „substantiierten“ Geständnisses Bei einem sogenannten „substantiierten“ Vollgeständnis äußert sich der Angeklagte aus seiner Erinnerung heraus ausführlich und erschöpfend zum Sachverhalt und verschafft dem Gericht dadurch eine breite Informationsgrundlage.90 Aus diesem Grund spricht man auch von einem „qualifizierten“ Geständnis.91 Wenn überhaupt könnte nach dem vorstehend Ausgeführten ausschließlich ein „substantiiertes“ Vollgeständnis als zentrale Beweisgrundlage des in der Hauptverhandlung zu führenden Tatnachweises ausreichen, aber auch dann muss es grundsätzlich noch durch weitere Beweiserhebungen auf seine Richtigkeit kontrolliert werden.92 Eine solche Überprüfung erscheint zur Verhinderung falscher (Teil-)Geständnisse auch bei einem „substantiierten“ Vollgeständnis unerlässlich, denn ganz oder teilweise falsche Geständnisse kommen aus unterschiedlichen Gründen tatsächlich vor.93 Der Beweiswert eines Geständnisses hängt aber nicht allein von dessen Umfang ab. Auch Aussagemotiv bzw. Zustandekommen des Geständnisses sind wichtige Prüffaktoren.94 Schließlich ist zu beachten, dass nicht geständnisfähige Tatsachen, die zum Tatzeitpunkt außerhalb des Kenntnisstandes des Angeklagten lagen und ihm damit erschöpfende Angaben zu diesen Tatsachen nicht ermöglichen, ergänzender Beweiserhebungen bedürfen, weil nicht sämtliche für die Verurteilung relevanten Tatsachen aus dem Geständnis hervorgehen.95 (b) Beweiswert eines „schlanken“ Geständnisses Ein sogenanntes „schlankes“ Geständnis96 beschränkt sich auf die pauschale Einräumung des Anklagevorwurfs.97 Die Erklärung, sich im Sinne der Anklage für schuldig zu bekennen, ist eine weitere Form schlank ausge90  Heller,

Jens, Urteilsabsprache, S. 35, 38 f. NJW 1989, 1895 (1898); ders., 58. DJT (1990), Band I, S. 24,

91  Schünemann,

82.

92  Tipold, JBl 2013, 126; Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO II (2017), § 245 Rn. 2. 93  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648); Schmoller, in: WK-StPO (2016), §  3 Rn. 31; Busam, Geständnis im Strafverfahren, S. 41 f. Dazu unten, D. I. 3. 94  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13. 95  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1898); ders., 58. DJT (1990), Band I, S. 83; Schlüchter, in: Spendel‑FS, 737 (749); Hauer, Geständnis, S. 178 f. 96  Der Begriff des „schlanken“ Geständnisses scheint auf Dahs, NStZ 1988, 153 (155) zurückzugehen: „ ‚schlank‘ formuliertes Geständnis“. 97  Velten, JSt 2009, 181 (182); dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8; Schünemann, in: Baumann‑FS, 361 (372); Schlüchter, in: Spendel-FS, 737 (750); MeyerGoßner, in: Meyer‑Goßner/Schmitt-StPO, § 257c Rn. 17; Eschelbach, in: BeckOKStPO (01.04.2019), § 257c Rn. 8.3, 9.

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

prägter Geständnisse und wird als inhaltsleeres Formalgeständnis98, nacktes bzw. bloßes99 oder anorektisches100 Geständnis bezeichnet.101 Beiden Geständnisformen fehlt es an der für eine Geständnisüberprüfung notwendigen umfassenden und detaillierten Schilderung des Sachverhalts.102 Gleiches gilt für das nur rudimentär substantiierte Geständnis.103 Auch die Erklärung, der Anklage nicht entgegentreten zu wollen, ist beweistechnisch gegenstandslos.104 „Schlanke“ Geständnisse enthalten keine Tatsachenmitteilungen zum Tatgeschehen, die eine Überprüfung der einzelnen Tatmerkmale und somit eine richterliche Überzeugung ermöglichen.105 Aus aussagepsychologischer Sicht sind sie fruchtlos.106 Ein „schlankes“ Geständnis kann deshalb kein zentrales Fundament eines Urteils sein, sondern vermag lediglich ein aufgrund anderer Beweise gewonnenes Geschehensbild zu untermauern.107 Ohne konkrete inhaltliche Ausführungen kann keine Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Äußerung stattfinden.108 Auf dieser Grundlage kann das Gericht keine konkreten Tatsachenfeststellungen treffen. Ein „schlankes“ ­ Geständnis besitzt insgesamt nicht genügend Aussagekraft, um entscheidungserhebliche Tatsachen glaubhaft zu belegen. Ein „schlankes“ Geständnis hat als solches keinen Beweiswert.109

98  Velten,

in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 9. Österreichisches Strafprozessrecht, S. 373. 100  Malek, StV 2011, 559 (565). 101  In der deutschen Urteilsabsprachenpraxis ist sogar ein sog. „Alford-plea“ – das heißt ein Schuldbekenntnis bei gleichzeitigem Bestreiten der Tat – anzutreffen, Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 6.2, 20.1, obwohl sich eine solche Einlassung nicht als Geständnis charakterisieren lässt, Stuckenberg, in: LRStPO, § 257c Rn. 9; dazu auch Kempf, StV 2009, 269 (272); Paeffgen, in: SK-StPO, § 202a Rn. 1 Fn. 3 m. w. N. 102  Velten, JSt 2009, 181 (182); dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 9. 103  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 12. 104  BVerfGE 133, 168 (209); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 23. 105  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 24; ders., JZ 1989, 984 (985); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 9, 12. 106  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 23. 107  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 9, 12, 15; Eschelbach, in: BeckOKStPO (01.04.2019), § 257c Rn. 9, 23; Heller, Marius, No big deal, S. 80. 108  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 12; vgl. dazu BVerfGE 133, 168 (239 f.); BGH NStZ 2014, 170. 109  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 82; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 9, 12, 15; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 257c Rn. 17; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 8.3. 99  Lohsing,



I. Kernprobleme97

(2) Qualität eines Absprachegeständnisses Das Geständnis erfüllt innerhalb einer Urteilsabsprache seinen Zweck nur, wenn es eine Beweisaufnahme erübrigt.110 Dazu muss das Geständnis die Richtigkeit des Anklagevorwurfs insgesamt bestätigen. Bei einem detaillierten und umfangreichen Geständnis besteht die Gefahr, dass die Einlassung des Angeklagten in wesentlichen Punkten von der Aktenlage abweicht und die Urteilsabsprache dann nicht zustande kommt.111 Das Ziel alsbaldiger Prozessbeendigung möchte aber keiner der Berufsjuristen gefährden.112 Daher beschränkt sich in der Absprachenpraxis der Angeklagte bzw. sein Verteidiger regelmäßig mit einem „schlanken“ Geständnis auf das bloße Einräumen des Tatvorwurfs.113 Teilweise beruft sich der Angeklagte auf eine anwaltlich ausformulierte Erklärung, die nach taktischem Kalkül grundsätzlich anhand des Akteninhalts so konstruiert wird, dass dem Gericht zwar das mitgeteilt wird, was seinen Erwartungen entspricht, mehr aber nicht.114 Solche anwaltlich vorformulierten und vom Angeklagten pauschal übernommenen Erklärungen erscheinen den professionellen Verfahrensbeteiligten am ungefährlichsten, damit die Urteilsabsprache nicht scheitert.115 Aus diesem Grund scheinen Erklärungen der Verteidigung zur Sache beliebt.116 Auf die Erforschung der tatsächlichen Erinnerung des Angeklagten wird wenig Wert gelegt, sondern diese eher zu begrenzen versucht.117 Nach Erfahrungsberichten aus Deutschland akzeptieren Tatgerichte sogar eine schriftlich vorformulierte und vom Verteidiger verlesene Sacheinlassung wie eine mündliche Äußerung des Angeklagten, sofern sich dieser die Erklärung als eigene Aussage zurechnen lässt.118 Unabhängig vom textlichen Informationsgehalt der Verteidiger­ 110  Weigend,

in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1035). Dazu oben, D. I. 1. a). 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 112  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 113  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), § 232 Rn. 5 f.; Dahs, NStZ 1988, 153 (154); Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S.  24, 82 f.; Hauer, Geständnis, S. 66. 114  Dahs, NStZ 1988, 153 (155); Eschelbach, HRRS 2008, 190 (197); ders., ZAP 2014 Fach 22, 711 (721); Dencker, in: Fezer-FS, 115 (117). Zu einem vom Gericht vorgegebenen Geständnis Heller, Marius, No big deal, S. 193. 115  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (197); vgl. auch Mehle, in: Detter u. a., Strafverteidigung im Rechtsstaat, 655 (655 f.); Detter, in: Rissing-van Saan-FS, 97 (99). 116  Eschelbach, ZAP 2014 Fach 22, 711. Dies bestätigt auch eine in Deutschland durchgeführte empirische Untersuchung, Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 94, 182, dazu unten, F. I. 1. a) cc) (1). 117  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (196 f.); ders., ZAP 2014 Fach 22, 711 (716). 118  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 20; ders., HRRS 2008, 190 (197); ders., ZAP 2014 Fach 22, 711 (716). Der Angeklagte muss die Verteidiger­ erklärung aber eindeutig gegen sich gelten lassen wollen, BGHSt 52, 78 (82); Eschel111  Danek,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

erklärung ist deren bloße Bestätigung durch den Angeklagten ohne Beweiswert und aussagepsychologisch nicht mehr wert als ein eigenes „schlankes“ Geständnis des Angeklagten.119 Denn eine traditionelle Beweiswürdigung ist nicht zu leisten, wenn eine persönliche Erklärung fehlt und Glaubwürdigkeitsmerkmale größtenteils unkontrollierbar sind.120 Vor allem aber ist bei einem absprachenbasierten Geständnis speziell die im Vergleich zum Normalverfahren erhöhte Gefahr falscher Geständnisse zu berücksichtigen.121 Das vom Gericht zugesagte und konkret bezifferte Strafmaß, die Gewissheit des Angeklagten, dass die Strafe ohne Geständnis höher ausfallen wird, das sich in einem Absprachenangebot widerspiegelnde Inte­ resse des Gerichts an einem Geständnis und auch die Größe des Strafrabatts, das alles sind Posten, die den Druck auf den Angeklagten hinsichtlich seiner Geständnisbereitschaft verglichen mit dem konventionellen Strafverfahren ungleich verstärken.122 Der Beweiswert eines Geständnisses im Abspracheverfahren lässt sich deshalb nicht mit dem Beweiswert eines Geständnisses im Normalverfahren messen. Das eigene taktische Motiv des Angeklagten zur Geständnisablegung kommt hinzu.123 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass das gesteigerte Falschaussagerisiko angesichts der skizzierten Druck­ situation auch dann nicht abnehme, wenn der Angeklagte ein – für die Absprachenpraxis untypisch – „substantiiertes“ Geständnis ablege, denn es sei nicht unmöglich, auch ohne Tatbegehung ein ausführliches, aktenkonformes Geständnis zu schildern.124 Mithin besitzt ein absprachenbasiertes Geständnis keinen eigenständigen, für eine Urteilsgrundlage ausreichenden Beweiswert.125 Weitere förmliche Beweiserhebungen wären deshalb zur Erfüllung bach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 20.1 m. w. N.; Park, Tido, StV 1998, 59–61; anders noch BGH NStZ 1994, 352; StV 1998, 58 (59). 119  Eschelbach, ZAP 2014 Fach 22, 711 (722); Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 35; vgl. auch Detter, in: Rissing-van Saan-FS, 97 (109). 120  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 2, 20. 121  Ofner, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 50 (52). 122  Hauer, Geständnis, S. 201; Heller, Marius, No big deal, S. 84 f. Zur unterschiedlichen Drucksituation eingehender unten, D. I. 2. a); D. I. 3. 123  Dazu unten, D. III. 1. a) aa). 124  Hauer, Geständnis, S. 192, 201; Weigend, in: 50 Jahre BGH‑FG, 1011 (1040); Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 153 [Internetquelle]; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 21. Differenzierend Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 35: „Nur wenn das Geständnis besonders substantiiert und glaubhaft und der Angeklagte nach seinem Aussageverhalten glaubwürdig ist, wenn Zweifel an der Freiwilligkeit des Geständnisses nicht bestehen, obwohl es im Rahmen einer Absprache abgelegt wurde, dann ist es in seltenen Fällen nicht ausgeschlossen, dass das Gericht allein aufgrund eines Geständnisses die Überzeugung von der Schuld gewinnt.“ Vgl. dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13. 125  Fasching, Bedeutung des Geständnisses, S. 153 [Internetquelle].



I. Kernprobleme99

der Aufklärungspflicht unerlässlich, die von der Urteilsabsprachenpraxis bezweckte Verfahrenserleichterung würde dadurch aber entfallen und zudem die für die möglichst ökonomische, kooperative Erledigung des Verfahrens notwendige Verhandlungsatmosphäre gefährdet, weshalb sie unterbleiben.126 Die zwingend notwendige Überprüfung des Geständnisses auf seine Glaubhaftigkeit kann bei einer solchen Geständnispraxis aus Zeitgründen – allenfalls – anhand des Akteninhalts stattfinden,127 was nicht ausreichend ist.128 Eine solche Geständnisüberprüfung bleibt nur ein optimalisiertes „konfirmatorisches Hypothesentesten“.129 Nach §§ 258 Abs. 1, 13 Abs. 1 S. 2 öStPO sind die Ergebnisse des Vorverfahrens durch eigene, neutrale Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren, nicht aber ihrerseits zur Überprüfung der Beweisergebnisse der Hauptverhandlung zu verwenden.130 Denn zum einen scheint der Grundsatz der Aktenvollständigkeit nicht garantiert131 und zum anderen wird der Akteninhalt in der Regel einseitig von der Polizei erstellt, ohne dass ausreichend effektive Verteidigungsrechte zur Mitwirkung an der Stoffsammlung im Vorverfahren überhaupt vorgesehen sind.132 Sofern auf ein Absprachegeständnis keine konventionelle Beweisaufnahme folgt, wird der Aufklärungspflicht im überkommenen Sinne nicht genügt. Der Akteninhalt wird letztlich auch dann zum Urteilsinhalt, wenn – wie seit geraumer Zeit in der deutschen Strafrechts­ praxis feststellbar – der Ermittlungsführer als Zeuge über die Ermittlungsergebnisse vernommen wird, weil so in der Hauptverhandlung lediglich die polizeiliche Überzeugung von der Aktenbilanz wiedergegeben wird, was einer schlichten Aktenaufbereitung gleichkommt.133

126  Velten, JSt 2009, 181 (182); dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8, 12; Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1035); Schmitt, GA 2001, 411 (413); Hauer, Geständnis, S. 66; Gössel, in: Böttcher‑FS, 79 (88); Eschelbach, HRRS 2008, 190 (197). Siehe auch oben, D. I. 1. a). 127  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8; Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 150; Eschelbach, HRRS 2008, 190 (197); ders., in: Rissing-van Saan-FS, 115 (138); Sickor, Das Geständnis, S. 399. Siehe dazu auch das Fallbeispiel bei Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (141). 128  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8; vgl. auch BVerfGE 133, 168 (209 f.); BGH NStZ 2014, 170. 129  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 8; ders., in: Rissingvan Saan-FS, 115 (138). Zum konfirmatorischen Hypothesentesten oben, B. III. 3. 130  Vgl. zum deutschen Recht BVerfGE 133, 168 (209 f.); BGH NStZ 2014, 170. 131  Zu diesem Grundsatz unten, G. I. 3. c) bb) (2). 132  Dazu sogleich unten, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa) und (cc). 133  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 8; hierzu auch ders., in: Eisenberg‑FS (2019), 409–424; Schmidt, Jens, NZWiSt 2014, 121–126.

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

(3) Zwischenergebnis Festzuhalten ist, dass dem im Rahmen einer Urteilsabsprache abgelegten Geständnis ein eigenständiger Beweiswert fehlt. Es ist für sich genommen nicht geeignet, dem Gericht die Gewissheit der Richtigkeit des Anklagevorwurfs zu vermitteln. Ein absprachenbasiertes Geständnis kann dem Gericht keine ausreichende Grundlage für seine Überzeugungsbildung bieten, um den Verzicht auf ein Strengbeweisverfahren zu rechtfertigen. Aus Sicht der Justiz scheint ein absprachenkonformes Geständnis gerade dann glaubhaft zu sein, wenn es mit ihrer anhand des Aktenbestands gebildeten Hypothese übereinstimmt.134 cc) Verzichtbarkeit eines eigenständigen Beweiswerts? Obwohl dem Absprachegeständnis nach dem eben Erläuterten ein eigener Beweiswert abzusprechen ist, sollen Richter ausschließlich anhand des Aktenstoffs korrekt beurteilen können, ob der eigenständige Beweiswert eines Geständnisses bedeutsam ist oder nicht und somit auf die Durchführung einer Beweisaufnahme verzichtet werden kann.135 Von der Entbehrlichkeit einer Beweisaufnahme wird dann ausgegangen, wenn der Sachverhalt aus der Sicht des Tatgerichts bereits vor der Hauptverhandlung hinreichend geklärt erscheint und nicht evident ist, welchen Vorteil die Durchführung einer Beweisaufnahme gegenüber dem Ermittlungsergebnis aus den Akten noch bringen kann.136 Bei aus Sicht der Justiz derart eindeutigen Fällen sieht sich das Tatgericht allein aufgrund der Aktenlage zur Vorhersage des Ergebnisses einer Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im Stande.137 In diesen Fällen wird die Durchführung einer Beweisaufnahme dann vorzugsweise durch eine Urteilsabsprache ersetzt.138 Gegen die These der Prophezeiung des Ergebnisses einer in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme aufgrund des Aktenmaterials sprechen folgende Überlegungen:139 134  Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (76); Eschelbach, HRRS 2008, 190 (196). Zu einer möglichen verdachtskonformen Voreinstellung des Richters oben, B. III. 3. 135  Für eine solche Kompetenz der Berufsrichter Thaman, 15.  ÖJT (2003), Band IV/2, 139 (140); Schmitt, GA 2001, 411 (414 f.). 136  Siehe Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (63). 137  Hauer, Geständnis, S. 200. Siehe Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 749, wonach ein umfassendes und sorgfältig geführtes Ermittlungsverfahren grundsätzlich dazu führe, dass das Urteil aufgrund der Aktenlage bereits vor der Hauptverhandlung feststehe. Zum deutschen Recht deutlich Bode, RuP 1988, 146 (148). 138  Diese Kunstfertigkeit scheint auch Bertel, 1. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2003), 9 (14), Tatrichtern zu unterstellen.



I. Kernprobleme101

(1) Unterschiede zwischen Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung Nicht selten erschöpft sich die Hauptverhandlung in der Bestätigung des Ermittlungsergebnisses.140 Zwangsläufig ist dies aufgrund der Unterschiede beider Verfahrensstadien aber nicht.141 (a) Unterschiedliche Funktionen Zum einen kommen dem behördlichen Ermittlungsverfahren und der gerichtlichen Hauptverhandlung nach der Strafprozessordnung unterschiedliche Funktionen zu.142 Das Ermittlungsverfahren hat den Zweck, den Sachverhalt und den Tatverdacht durch Ermittlungen (§ 91 Abs. 2 öStPO) lediglich so weit aufzuarbeiten, dass die Staatsanwaltschaft über Anklage, diversionelle Erledigung oder Einstellung des Verfahrens entscheiden kann (§ 91 Abs. 1 öStPO).143 In der Hauptverhandlung hingegen ist durch Urteil nach der Überzeugung des Gerichts über die dem Angeklagten in der Anklage zur Last gelegte Tat zu entscheiden (§ 13 Abs. 1 S. 2 öStPO).144 Nach den Gesetzesmaterialien zur Reform des Ermittlungsverfahrens von 2004145 sollen alle entscheidungsrelevanten Tatsachen grundsätzlich in der Hauptverhandlung geklärt werden, während dem Ermittlungsverfahren nur eine „vorbereitende und unterstützende Funktion“ zukommt.146 (b) Unterschiedliche Qualität bei der Beweisaufnahme Ausgehend von der gesetzlich zugeschriebenen Funktionsunterschiedlichkeit der beiden Verfahrensstadien kontrastieren Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung zudem hinsichtlich der Qualität der Beweisaufnahme. In den Materialen zum StPRefG 2004 wird dazu festgehalten: „[I]n ihm [Anm.: im Ermittlungsverfahren] ist primär sicherzustellen, dass die Staatsanwaltschaft rasch und zuverlässig über seine Beendigung, sei es durch Einstellung, 139  Zu den Unsicherheitsfaktoren einer Hauptverhandlung auch Nestler‑Tremel, KJ 1989, 448 (449). 140  Weßlau, Konsensprinzip, S. 193. 141  Terhorst, GA 2002, 600 (610 f.); Hettinger, JZ 2011, 292 (294 f.). 142  Dazu auch Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 4. 143  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 622; so auch Lewisch, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 117 (120). 144  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 749. 145  StPRefG 2004, BGBl I 2004/19. 146  ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 37 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXII/I/I_00025/imfname_001986.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)].

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

durch Rücktritt von der Verfolgung oder durch Anklage, entscheiden kann. Die Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren ist daher funktionell auf diesen Zweck zu beschränken; der unmittelbaren Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ist Vorrang einzuräumen.“147 (aa) Einseitig geführte Ermittlungen im Vorverfahren Zur Qualitätseinbuße der Beweisaufnahme des Ermittlungsverfahrens gegenüber dem Hauptverfahren führen zunächst die einseitig geführten Ermittlungen im Vorverfahren. Zwar leitet nach §§ 20 Abs. 1 und 101 Abs. 1 öStPO die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren. Sie allein entscheidet über die Erhebung der öffentlichen Klage und Fortgang und Beendigung des Ermittlungsverfahrens.148 Die erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage149, wonach sich die Leitungsbefugnis „auf eine Kontrolle aus gewisser Distanz zur unmittelbaren Ermittlungsarbeit beziehen“ soll, zeigen jedoch, dass der Staatsanwaltschaft auch nach der neuen Gesetzeslage lediglich die rechtliche und nicht die faktische Leitung des Ermittlungsverfahrens zukommt.150 Diese Schlussfolgerung wird durch das Konzept der neuen Strafprozessordnung und empirische Untersuchungen zum reformierten Ermittlungsverfahren bestätigt: Die Strafprozessordnung stellt die rechtliche Leitungsbefugnis etwa in §§ 98, 100, 103, 193 öStPO sicher. Die Kriminalpolizei hält die Staatsanwaltschaft durch Berichte über den Ermittlungsstand auf dem Laufenden (§ 100 öStPO). Nach § 101 Abs. 4 S. 1 öStPO hat die Staatsanwaltschaft diese Berichte zu prüfen und die erforderlichen Anordnungen zu treffen. Aus der großzügigen Bemessung der gesetzlich gewährten Fristen zur Abfassung der kriminalpolizeilichen Berichte lässt sich ablesen, dass der Gesetzgeber lediglich eine schwache Ausprägung der staatsanwaltlichen Leitungsfunktion bezweckt.151 Solange sich der Verdacht nicht auf ein schwerwiegendes Verbrechen oder eine sonstige Straftat von besonderem öffentlichen Interesse bezieht, die gemäß § 100 Abs. 2 Nr. 1 öStPO eines sofortigen Anfallsberichts bedürfen, und auch kein Anlassbericht nach § 100 Abs. 2 Nr. 2 öStPO notwendig ist, muss ein Bericht erst drei Monate nach Beginn des Strafverfahrens vorliegen (Zwischenbericht nach § 100 Abs. 2 Nr. 3 öStPO). Wird das 147  ErläutRV 25

BlgNR 22. GP 37 (abrufbar unter: siehe Fn. 146). 35. Ottensteiner (2007), 83 (98 f.); Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 208. 149  ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 134 f. (abrufbar unter: siehe Fn. 146). 150  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 208; vgl. dazu auch Ruhri, in: ÖJK, Strafverfolgung, 87 f. 151  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 208, 214. 148  Venier,



I. Kernprobleme103

Ermittlungsverfahren aus kriminalpolizeilicher Sicht bereits innerhalb der nach § 100 Abs. 2 Nr. 3 öStPO maßgeblichen Drei-Monats-Frist abgeschlossen, erfolgt ohnehin nur ein Abschlussbericht (§ 100 Abs. 2 Nr. 4 öStPO) und damit auch keine Leitung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft.152 Vernehmungen sollen nach dem Regelungsgehalt der §§ 102 Abs. 1 S. 1, 103 Abs. 1 S. 1 öStPO von der Kriminalpolizei durchgeführt werden.153 Die faktische Ermittlungsmacht der Kriminalpolizei wird aber nicht nur durch diese normativen Vorgaben protegiert, sondern auch in der Praxis entsprechend großzügig gehandhabt. Dies belegt der Endbericht des PEUS.154 Angestoßen durch die von Soyer und Stangl155 getätigten Über­ legungen zur Bedeutsamkeit von Rechtstatsachenforschung und durch das „Projekt zur Implementierungsbegleitung des Strafprozessreformgesetzes“156 wurden von 2009 bis 2010 im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz empirische Begleitforschungen zur Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes durchgeführt.157 Das tatsächliche Handeln der professionellen Verfahrensbeteiligten sollte aufgezeigt und eine Bilanz über tatsächliche Veränderungen und Entwicklungen erstellt werden.158 Ein Hauptziel war die Untersuchung der Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei, wobei es insbesondere um die Fragen ging, wer die Leitungskompetenz und wer die faktische Ermittlungsarbeit inne hat, wer im Regelfall Beschuldigte und Zeugen vernimmt und wie dabei, aber auch generell, die Ermittlungsaufträge der Staatsanwaltschaft an die Kriminalpolizei formuliert sind und wie die Staatsanwaltschaft ihrer Kontrollbefugnis über die Kriminalpolizei nachkommt.159 Nach dem Endbericht des PEUS liegt im überwiegenden Teil von strafprozessualen Ermittlungsverfahren die Hauptermittlungstätigkeit bei der Kriminalpolizei.160 Den Aktenerhebungen zufolge wurde die Staatsanwaltschaft grundsätzlich erst durch den Abschlussbericht über den kriminalpolizeilichen Ermittlungsstand in Kenntnis gesetzt und eine über

152  Birklbauer/Stangl/Soyer

u. a., Die Rechtspraxis, S. 209, 214 f. u. a., Die Rechtspraxis, S. 209. 154  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 17. PEUS steht für: Projekt zur wissenschaftlichen Evaluation der Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes 2004. 155  Soyer/Stangl, in: Miklau-FS, 523 (523–540). 156  Dazu Luef-Kölbl/Hammerschick/Soyer/Stangl, JSt 2009, 9 (9 f.). 157  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 37. Siehe dazu auch Birkl­ bauer, in: ÖJK, Strafverfolgung, 73 (73–85). 158  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 37 f. 159  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 38. 160  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 84 f. 153  Birklbauer/Stangl/Soyer

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diesen Bericht hinausgehende Kommunikation unterlassen.161 Durchschnittlich wurde der Staatsanwaltschaft erst 39 Tage nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens der erste Bericht vorgelegt.162 Vernehmungen wurden zu 96 Prozent von der Kriminalpolizei geleitet, wobei jeder Beschuldigte in über 90 Prozent der Fälle nur einmal vernommen wurde.163 Größtenteils wurden außerdem keine näheren Aufträge der Staatsanwaltschaft an die Kriminalpolizei festgehalten.164 Kooperationsverletzungen bei der Zusammenarbeit wurden nur in einem Prozent der Fälle im Ermittlungsakt dokumentiert, was auf den ersten Blick für eine konfliktlose Zusammenarbeit sprechen mag, vor dem eben beschriebenen Hintergrund aber als Hinweis auf die polizeiliche Dominanz gedeutet wurde.165 Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Kriminalpolizei gaben an, dass bei der Standardkriminalität im unteren und mittleren Kriminalitätsbereich eine Kommunikation nur in Ausnahmefällen stattfinde oder wenn die Strafprozessordnung diese zwingend vorschreibe, und das Ermittlungsverfahren auch nach Berichtlegung unter der Leitung der Kriminalpolizei verbleibe.166 Eine Ausnahme hiervon beanspruchen lediglich Sonderreferate, die für Drogen- und Wirtschaftskriminalität zuständig sind.167 Die grundsätzliche Eigenverantwortlichkeit der Kriminalpolizei im Ermittlungsverfahren scheint zunächst zu keiner Qualitätseinbuße des Ermittlungsverfahrens zu führen, da sowohl Staatsanwaltschaft als auch Polizei nach § 3 öStPO bei ihren Ermittlungen sowohl entlastendes als auch belastendes Beweismaterial zu sammeln haben.168 Die erforderliche Objektivität der Kriminalpolizei ist dennoch anzuzweifeln. Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss sich der Polizeibeamte entscheiden, auf wen er seine Ermittlungen als mutmaßlichen Täter ausrichtet.169 Dass er dann trotz dieser Verdachtsannahme alle potenziellen Entlastungsbeweise mit derselben Vehemenz ermittelt und ihnen ebenso konsequent nachgeht wie den Belastungsbeweisen, gilt als unwahrscheinlich.170 Vielmehr kann seine Täterhypothese nicht nur die Frage161  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 84–89, 214. Siehe auch Birklbauer, in: ÖJK, Strafverfolgung, 73 (76). 162  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 89, 214. 163  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 94 f., 214. 164  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 96, 214. 165  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 97 f., 214. 166  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 214 f., 245 ff., 251 ff., 254– 259, 293 f., 302 f., 333 f., 382–386. 167  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 215, 245–247, 302 f. 168  Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 55 Rn. 1; dazu auch Markel, 5. Rechtsschutztag (2007), 167 (168). 169  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9; Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 14, 21.



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richtung bei Vernehmungen beeinflussen, sondern im gesamten Verfahren auf sein Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen einwirken.171 Ausschlaggebend dafür sind die bereits dargestellten „Inertia- und Perseveranzeffekte“. Haben die Ermittler ihre Hypothese aufgestellt, dann besteht die Gefahr, dass sie nach dem Prinzip der „selektiven Informationssuche“ an dieser festhalten und den Gehalt widersprechender Informationen, sofern diese überhaupt wahrgenommen werden, unterschätzen, selbst wenn keine Tatsachengrundlage existiert und der Hypothese klare Fakten entgegenstehen.172 Erklären lassen sich solche Dissonanzreduktionen mit der Theorie der kognitiven Dissonanz.173 Bei einem „konfirmatorischen Hypothesentesten“ wird deshalb lediglich die Verdachtsannahme verstärkt; die Ermittlungsbeamten gehen allerdings aufgrund der genannten psychologischen Effekte davon aus, dass der Verdächtige tatsächlich der Täter ist und glauben gleichzeitig dies auch hinreichend bewiesen zu haben.174 Dementsprechend werden auch Inhalte von Vernehmungen im Polizeiprotokoll unbewusst einseitig gefärbt festgehalten.175 Suggestivfragen sind dabei umso folgenschwerer, als dass unbewusste Wahrnehmungs- und Gedächtniseinwirkungen in der Person des Zeugen ohnehin die Qualität seiner Aussage beeinträchtigen.176 Als „objektivste Behörde der Welt“177 müsste die Staatsanwaltschaft dieser Gefahr einseitiger Ermittlungen entgegenwirken und die Arbeit der Polizei umfassend – auch unter Gebrauch ihrer Rechte aus § 103 Abs. 1 und 2 170  Bertel, RZ 2002, 84 (85); ders., in: Bertel/Venier, StPO, § 3 Rn. 5; Bertel/­ Venier, Strafprozessrecht, Rn. 14, 21; vgl. auch Rasch/Hinz, Kriminalistik 1980, 377–382; Schünemann, Kriminalistik 1999, 146 (148 f.); Lechner, Stellung, S. 78. 171  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (193); ders., ZAP 2013 Fach 22, 661 (661 f.). Zu fremdsuggestiven Vorgaben von Polizeibeamten gegenüber Zeugen: Raske, Falscher Tatverdacht, S. 65–67; Sautner, ÖJZ 2017, 902 (906 f.). 172  Raske, Falscher Tatverdacht, S. 101, 77, 49. 173  Eschelbach, in: Fischer/Hoven, Verdacht, 29 (32 f.). 174  Sickor, StV 2015, 516 (519 m. w. N.). Zur Theorie der kognitiven Dissonanz und den psychologischen Effekten oben, B. III. 3. 175  Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (56); Sautner, ÖJZ 2017, 902 (907). 176  Schmittat, JSt 2017, 444 (447–450); vgl. Gross, Aufsätze, S. 336; Nemec, Birgit, in: Engberg‑Pedersen u. a., Instanzen, 105 (111). 177  Dieser heute feststehende Begriff geht auf v.  Liszt, DJZ 1901, 179 (180) zurück, der diese Aussage wohl allerdings ironisch meinte: „Ich gebe eines zu: die Parteistellung der Staatsanwaltschaft ist allerdings durch unsere Prozeßordnung besonders verdunkelt worden. Durch die Aufstellung des Legalitätsprinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht, Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten einzulegen, u.s.w. könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt.“

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

öStPO – kontrollieren.178 Der Endbericht des PEUS dokumentiert aber den Rückzug der Staatsanwaltschaft als aktivem Part aus dem Ermittlungsverfahren und eine nicht ausreichende Ausübung der ihr zustehenden Kontrollrechte.179 Die Staatsanwaltschaft prüft allein anhand einer Zusammenfassung der polizeilichen Ermittlungsergebnisse und Protokolle, ob Anklage zu erheben ist oder nicht und bringt lediglich ausgearbeitete Fälle zur Anklage.180 Die ihr zugewiesene rechtliche Leitungsfunktion erfüllt die Staatsanwaltschaft nicht. Die knappen Ressourcen der Staatsanwaltschaft lassen ein solches Ergebnis erwarten.181 „Aber der Staatsanwalt, der weder Beschuldigte noch Zeugen sieht, ja nicht einmal alle Protokolle liest, wird vollends zu einem Werkzeug der Polizei.“182 Auch das Gericht begrenzt diese Polizeiautonomie mit einer nachträglichen Kontrolle nicht effektiv.183 Die Polizei ist Inhaber nahezu unbegrenzter Macht, die Verantwortung liegt formal bei der Staatsanwaltschaft.184 Eine fehlende Hinterfragung der Verdachtsannahme aus den polizeilichen Ermittlungsakten aufgrund von „Inertia- und Perseveranzeffekten“ kann zu falschen Aufklärungsrichtungen führen.185 (bb) Möglichkeit abweichender Zeugenaussagen Ebenso ist es insbesondere im Rahmen des Möglichen, dass Zeugen ihre Aussagen in der Hauptverhandlung ändern oder Dokumentationen in den 178  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (10, 12); ders./ Venier, Strafprozessrecht, Rn. 21 f.; Theuer, JSt 2011, 205 (209–211); Gallauner, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 91 (93–97). Dazu auch Stadler, in: ÖJK, Strafverfolgung, 11. Zur „Wächterfunktion“ der Staatsanwaltschaft Moos, Reinhard, in: ÖJK, Strafverfolgung, 19 (29 f.). 179  Vgl. auch Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25; 32); Gallauner, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 91 (96–98). 180  Venier, 7.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25); ders., ÖJZ 2009, 591 (592). Vgl. auch Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (65), wonach der Eindruck des Staatsanwalts von einem bestimmten Sachverhalt gravierend von der Berichtsdisziplin und ‑qualität der Kriminalpolizei abhänge. 181  Vgl. dazu Hintersteininger, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 42 (43); Scheiber, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 50; Soyer, 36. Ottensteiner (2008), 94 (95–97); Venier, ÖJZ 2009, 591 (592). 182  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (11). 183  Der Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte der Kriminalpolizei fällt seit 01.08.2017 (öBGBl I 2015/85) in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte gemäß Art. 130, 131 B-VG. Bei Akten der Staatsanwaltschaft gilt weiterhin der Rechtsschutzweg nach § 106 öStPO. Hierzu unten, G. I. 3. c) bb) (7). 184  Dazu auch Reindl-Krauskopf, ecolex 2008, 207; Fuchs, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 13 (19); Gallauner, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 91 (93 f.). 185  Sickor, StV 2015, 516 (519 f.).



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Akten korrigieren.186 Zeugen werden hier von einer richterlichen Verhörsperson, die auch über die härteren Konsequenzen einer Falschaussage in der Hauptverhandlung gegenüber dem Ermittlungsverfahren belehrt, vernommen.187 Der Verteidigung stehen in der Hauptverhandlung gemäß § 249 öStPO Fragerechte zu, welche die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage in Zweifel ziehen können. Eine Korrektur kann auch erfolgen, wenn Aussageinhalte in den Akten aufgrund der Voreinstellung des vernehmenden Polizeibeamten verzerrt dargestellt wurden und dies durch die Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung zum Vorschein kommt.188 Entfällt die Zeugenvernehmung wegen einer Urteilsabsprache, fehlen derartige Korrekturmöglichkeiten. (cc) Eingeschränkte Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren Verantwortlich für die Qualitätsunterschiede sind auch die defizitären Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren.189 Dem gesetzlichen Programm nach, welches sich in § 13 Abs. 1 öStPO deutlich manifestiert, sind aktive Verteidigungsrechte als Regulator für die in den Händen der Staatsanwaltschaft liegende, de facto aber an die Kriminalpolizei delegierte Untersuchungsführung nur sekundär. Die Möglichkeit der Verteidigung, einer widersprüchlichen oder lückenhaften Beweisführung zu begegnen, ist traditions­ gemäß erst in der Hauptverhandlung gegeben.190 Allerdings sprudelt, wie vorstehend beleuchtet,191 aus der weitestgehend kriminalpolizeilichen Untersuchungsführung eine Gefahrenquelle für Fehler der im Vorverfahren gewonnenen Ergebnisse. Fehler und Mängel des Ermittlungsverfahrens lassen sich durch eine erst in der Hauptverhandlung effektiv einsetzende Verteidigung kaum beheben, die sich zudem dem „Schulterschluss“ der Justizjuristen gegenüber sieht.192 Die Verteidigung trägt maßgeblich zur Wahrheitsfindung 186  Nestler-Tremel,

KJ 1989, 448 (449). Geständnis, S. 199. 188  Vgl. die Nachweise in Fn. 175. 189  So auch Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (56). 190  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (26). Zur Effektivität und Handhabung dieser Verteidigungsrechte oben, B. II. 1. a) ee). Siehe auch unten, G. I. 3. c) aa). 191  D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 192  Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (35); Venier, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 91; ders., 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25 f.; 32 f.); Ainedter, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 23; Soyer, Österreichisches AnwBl 2007, 21; Schmieder, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 117. Zum Gang der richterlichen Entscheidungsfindung und zum „Schulterschluss“ oben, B. III. 3. 187  Hauer,

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bei, wenn sie die den Beschuldigten entlastenden Umstände vorträgt und dadurch der aus den „Inertia- und Perseveranzeffekten“ folgenden „konfirmatorischen“ Informationsbeschaffung als Methode polizeilicher bzw. staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsarbeit entgegenwirkt.193 Umso mehr müssten deshalb effektive Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren existieren, um die Fehleranfälligkeit der Beweisergebnisse zu reduzieren.194 Das ist bislang nicht der Fall, obgleich sich durch die Gesetzesnovellen im Zuge des ­StPRÄG I 2016195 und StPRÄG II 2016196 die Verteidigungsmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren weiter verbessert haben.197 Exemplifiziert sei dies am fehlenden Recht der Verteidigung, sich an der Beschuldigtenvernehmung selbst in irgendeiner Weise zu beteiligen (§ 164 Abs. 2 S. 3, 1. Hs. öStPO) oder sich mit dem Beschuldigten über die Beantwortung einzelner Fragen zu beraten (§ 164 Abs. 2 S. 4 öStPO). (2) Überzeugungsbildung des Gerichts § 258 Abs. 2 S. 2 öStPO verlangt, dass der Richter seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpft.198 Unter Überzeugungsbildung ist daher ein rational nachvollziehbarer Vorgang zu verstehen, woraus der Richter seine Entscheidungsgrundlagen ableitet.199 Eine unmittelbare, mündliche Verhandlung versetzt den Richter in die Lage, einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten, der vornehmlich für eine Geständnisüberprüfung und die Strafzumessung von Bedeutung ist,200 und von den Beweismitteln zu gewinnen. Schuldfeststellungen sind nur aufgrund einer bis zur Schuldspruchreife durchgeführten Hauptverhandlung möglich. Zur Schuldspruchreife ist der Richter gelangt, wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, dass sich die gegenwärtige Beweislage auch bei Ausweitung der Beweisaufnahme auf weitere Fragestellungen und Beweismittel nicht mehr ändert.201 Das Gericht muss auch dazu eine Prognoseentscheidung fällen, die eine Vorwegnahme des Beweiswürdigungsergebnisses 193  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (187 f.); Wolff, in: Pilgermair, Wandel, 365 (366 f.); Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (159 f.). 194  Zur Erweiterung von Verteidigungsrechten im Ermittlungsverfahren unten, G. I. 3. c) bb). 195  StPRÄG I 2016, öBGBl I 2016/26, in Kraft getreten am 01.11.2016. 196  StPRÄG II 2016, öBGBl I 2016/121, in Kraft getreten am 01.01.2017. 197  Einen Überblick zu den Verteidigungsrechten nach dem StPRefG 2004 geben Soyer/Kier, Österreichisches AnwBl 2008, 105 (106). 198  Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (55). Dazu auch unten, D. II. 8. 199  Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (50–53). 200  OGH, Stellungnahme, 18/SN-38/ME 25. GP 4 f. [Internetquelle]. 201  Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (51 f.).



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umfasst. Allerdings wird in einem nach den Regeln der Strafprozessordnung geführten Normalverfahren diese Prognose auf einer anderen Erkenntnisgrundlage getroffen, nämlich nach Durchführung der gerichtlichen Beweisaufnahme in einer kontradiktorisch ausgestalteten Hauptverhandlung und nicht anhand der, wie eben erläutert, einseitig unter der Verdachtshypothese erstellten Aktenlage. Die Legitimation der vom Richter getroffenen Entscheidung beruht dann auf der ausreichenden Erfüllung seiner Aufklärungspflicht gemäß §§ 2, 3 Abs. 1, 232 Abs. 2, 254 öStPO. Erst wenn der Richter dieser nachgekommen ist, darf er sich eine Überzeugung bilden.202 Nach der Struktur des geltenden österreichischen Strafverfahrens sind deshalb die behördlichen Ermittlungsergebnisse des von der Polizei dominierten Vorverfahrens durch unabhängige Gerichte mit einem Strengbeweisverfahren zu überprüfen.203 Dass der Richter auch im Normalverfahren bei seiner ­Entscheidungsfindung durch psychologische Mechanismen beeinflusst wird und dadurch oftmals der Methode „konfirmatorischen Hypothesentestens“ folgt,204 vermag dieses Ergebnis nicht abzuwerten, sondern betont abermals die Notwendigkeit einer Erweiterung von Verteidigungsrechten bereits im Ermittlungsverfahren. (3) Verfolgung eigener Interessen durch das Gericht Bedenken gegen eine Vorhersage des Ergebnisses einer Beweisaufnahme aufgrund der Aktenlage ergeben sich zudem aus der Möglichkeit der Verfolgung eigener Interessen durch das Gericht.205 Die Unterstellung, erfahrene Richter könnten auf der Grundlage der Ermittlungen das Prozessergebnis voraussehen, vermag nicht auszuschließen, dass sich das Gericht unbewusst auch von seinen eigenen Vorteilen, die sich aus einer Urteilsabsprache ergeben, leiten lassen könnte.206 Dem Gericht muss es deshalb verwehrt sein, seine Prognose zur tatsächlichen Entscheidungsgrundlage zu machen. (4) Zwischenergebnis Ob die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung an der Aktenlage nichts mehr ändern kann, lässt sich anhand einer aktenkundigen vorläufigen Bewer202  Hierzu

oben, D. I. 1. b) bb) (1). in: WK-StPO (2009), § 246 Rn. 1 f.; Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), § 232 Rn. 5 f. 204  Hierzu oben, B. III. 3. 205  Siehe dazu oben, B. II. 2. a). 206  Hauer, Geständnis, S. 200 f. 203  Kirchbacher,

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tung nicht zuverlässig beurteilen.207 Selbst dort, wo Berufsrichter hinreichende eigene Erfahrung mit Prozessverläufen haben, ist weiterhin ungeklärt, ob der konkrete Fall bekanntermaßen abgelaufen wäre.208 Eine geringe Freispruchquote revidiert dieses Ergebnis nicht,209 weil dafür die Einflüsse der „Perseveranz‑, Inertia- und Schulterschlusseffekte“ maßgeblich sein können.210 Der Akteninhalt ist für das Urteil gemäß § 258 Abs. 1 öStPO unwesentlich und vielmehr von Rechts wegen Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Strengbeweisverfahren. Erschwerend kommen die möglichen eigenen Interessen des Gerichts an einer raschen und arbeitssparsamen Verfahrenserledigung hinzu. Bei beiden Konstellationen – den scheinbar eindeutigen und den nicht eindeutigen Fällen – bleibt der eigenständige Beweiswert des Absprachegeständnisses deshalb unverzichtbar. dd) Zwischenfazit Typisch für eine Urteilsabsprache ist das Entfallen der Beweisaufnahme nach Ablegung eines lediglich „schlanken“ oder vom Verteidiger vorformulierten Geständnisses. Der Abgleich mit anderen Beweismitteln oder Nachfragen zur Überprüfung dieses Formalgeständnisses werden in der Praxis zur Verfahrensverkürzung oft vermieden. Bestenfalls findet eine Überprüfung des Geständnisses auf Übereinstimmung mit dem Akteninhalt statt. Das abgesprochene Geständnis kann aufgrund seiner Eigentümlichkeit nicht den Beweiswert eines Geständnisses im konventionellen Verfahren erlangen. Somit fehlt dem Gericht eine ausreichende Grundlage für eine neutrale Überzeugungsbildung. Nach der Aktenlage scheinbar eindeutige Fälle können über diesen Missstand nicht hinweghelfen. Das im Rahmen einer Urteilsabsprache abgelegte Geständnis kann daher zu keiner Modifizierung des Umfangs der Aufklärungspflicht führen und die weitere Wahrheitsermittlung nicht entbehrlich machen. Die weitreichende Beweisantizipation bei einer Urteilsabsprache unterwandert die überkommene Struktur des Strafverfahrens. Entsprechend der Ansicht des OGH211 verstoßen Urteilsabsprachen gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit.

207  Wie hier bereits Terhorst, GA 2002, 600 (610 f.); Hauer, Geständnis, S. 202; Eschelbach, HRRS 2008, 190 (193 f.); Nobis, StRR 2012, 84 (89). 208  Peters, Karl, in: Dünnebier-FS, 53 (59). 209  Zur geringen Freispruchquote unten, D. I. 3. 210  Schünemann, StV 2000, 159 (163); Weßlau, Konsensprinzip, S. 191; Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (25 f.; 32 f.); Sautner, ÖJZ 2017, 902 (904–910). 211  Siehe Fn. 17.



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c) Alternative Wahrheitstheorie? Mit dem bisherigen Ergebnis, dass Urteilsabsprachen grundsätzlich gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit verstoßen, wollen sich Anhänger der Urteilsabsprachenpraxis nicht zufrieden geben.212 Sie weisen deshalb darauf hin, dass bei der Frage der Vereinbarkeit von Urteilsabsprachen mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit stets vorausgesetzt werde, dass der strafprozessuale Wahrheitsbegriff nach der Korrespondenztheorie auszulegen sei.213 Dem sei aber nicht zu folgen.214 Dafür sprächen zum einen die gegen die Korrespondenztheorie anzubringenden Bedenken. Zum anderen stünde mit der Konsensustheorie eine andere Wahrheitstheorie zur Auslegung des Wahrheitsbegriffs zur Verfügung. Man dürfe sich nicht der Tatsache verschließen, dass die Wahrheit im Strafprozess nicht ausschließlich im Alleingang des Gerichts, sondern ebenso durch Verhandlungen zwischen den Verfahrensbeteiligten gefunden werden könne. aa) Kritik an der herrschenden Korrespondenztheorie Im Strafrecht wird der Wahrheitsbegriff nach der Korrespondenztheorie ausgelegt.215 Danach liegt Wahrheit vor, wenn Wirklichkeit und Erkenntnis übereinstimmen.216 Eine Aussage ist im erkenntnistheoretischen Sinne wahr, wenn sie mit einem realen Lebenssachverhalt übereinstimmt.217 Dieser Sachverhalt ist das Kriterium anhand dessen beurteilt wird, ob eine Aussage mit der Wirklichkeit korrespondiert.218 Zuständig für die Beurteilung ist das Tatgericht. Die Wahrheit im Strafverfahren wird als die Übereinstimmung zwischen der Überzeugung des Gerichts und den dem Prozess zugrunde liegenden Tatsachen verstanden.219 Materielle Wahrheit ist im Rahmen des 212  Siehe Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (79–85); Cramer, in: Rebmann‑FS, 145 (148). 213  So Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (79). 214  Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (80, 83 f.); dort auch zum folgenden Text. 215  Grasnick, in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 55 (56); Soyer, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994), 191. 216  Soyer, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994), 191; ders., 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (79 f., 89). 217  Grasnick, in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 55 (57); Soyer, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994), 191. 218  Hauer, Geständnis, S. 204 f.; Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (80). 219  Hauer, Geständnis, S. 204 f.; Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (80).

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Möglichen erreicht, wenn die Vorstellung von Tatsachen der Wirklichkeit entspricht.220 Peters konstatiert dazu: „Die Wahrheitserforschungspflicht birgt die Verpflichtung zur eindeutigen Sachverhaltsklärung in sich. Nur ein Sachverhalt kann dem wirklichen Geschehen entsprechen.“221 Den Gegenbegriff dazu bildet die sogenannte formelle Wahrheit.222 Formelle Wahrheit bedeutet im überkommenen Sinne, dass die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, über Tatsachen, auf die sich das Urteil gründet, zu disponieren.223 Urteilsgrundlage ist die formelle Wahrheit nach herrschender Meinung in solchen Verfahren, die von der Dispositionsmaxime bestimmt werden.224 Das gilt idealtypisch für den Zivilprozess.225 Es wird nun eingewandt, dass derjenige, der den Wahrheitsbegriff ausschließlich nach der Korrespondenztheorie auslege, verkenne, dass absolute Wahrheitserkenntnis nie in vollendeter Form erreichbar sei, da letztendlich immer nur eine „Rekonstruktion historischer Wahrheit“ stattfinde.226 Der Begriff der materiellen Wahrheit sei deshalb auch nach einer anderen philosophischen Wahrheitstheorie auszulegen, der sogenannten Konsensustheorie.227 Auf diese Weise könne auch durch den bei Abspracheverhandlungen erzielten Konsens materielle Wahrheit im Strafprozess gefunden werden.228 bb) Konsensustheorie als unterbreiteter Gegenvorschlag Nach Auffassung der Absprachenverfechter kommt ein Urteilsabspracheverfahren der Wahrheit ähnlich nahe wie das konventionelle Verfahren, weil Wahrheit im Strafprozess auch durch Verhandlungen bzw. einen Konsens zwischen den Verfahrensbeteiligten und nicht alleine durch inquisitorische

220  Hauer,

Geständnis, S. 205. Karl, Strafprozeß, S. 287. 222  Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht, S. 55; Lendl, in: WK-StPO (2009), § 258 Rn. 16; Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181. 223  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (647); Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181; Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65. 224  Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 3 Rn. 1. 225  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (647); Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181; Soyer, JSt 2013, 37 (41); Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 31; vgl. dazu Peters, Karl, Strafprozeß, S. 15–17. 226  Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (80). 227  Soyer, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (84); ders., JSt 2013, 37 (40 f.). Zu den philosophischen Wahrheitstheorien im Strafprozess auch Lorenz, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 59 (59 f.). 228  Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (84); ders., JSt 2013, 37 (40 f.). 221  Peters,



I. Kernprobleme113

Wahrheitsermittlung gefunden werden könne.229 Auch sie verlangen also weiterhin Wahrheit als notwendige Grundlage für ein gerechtes Urteil, attestieren aber den Verhandlungen bzw. dem Konsens der Absprachebeteiligten eine Garantie für Wahrheit.230 So stellt Soyer231 fest, „dass der herkömmliche Strafprozess einerseits der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie nachläuft ohne zu bemerken, dass ihm mangels direkter Beobachtung und Kontrolle diese Wahrheit verschlossen bleiben muss. Andererseits wird verabsäumt, herrschaftsfrei(er)e und offene Kommunikationsstrukturen bei der Sachverhaltsgewinnung in nachhaltiger Weise zu implementieren sowie pragmatische und konsensorientierte Lösungen der Schuld- und Straffrage aber auch zweckmäßigen Begrenzungen der Wahrheitssuche durch Beweisverwertungsverbote näherzutreten.“ Gleichfalls tritt Bertel232 dafür ein, dass eine konsensuale Wahrheitsfindung kein Abgehen vom Grundsatz der materiellen Wahrheit bedeute, denn „die Wahrheit muss nicht notwendig streitenden Parteien vom Richter aufgezwungen werden, sie kann auch einvernehmlich gefunden werden.“ Bei ihrer Argumentation stützen sich Absprachenvertreter wie Soyer zur Auslegung des Wahrheitsbegriffs auf eine alternative Wahrheitstheorie, die Konsensustheorie nach Habermas.233 Danach entsprechen Aussagen dann der Wahrheit, wenn ihr alle zustimmen.234 Bei einer Urteilsabsprache stimmen alle Beteiligten dem Aushandlungsergebnis zu, so dass man unter diesem Blickwinkel davon ausgehen könnte, Urteilsabsprachenanhänger könnten sich auf die Konsensustheorie berufen und ein Verstoß gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit sei zu verneinen. Laut Habermas könne Konsens zwischen den Beteiligten allerdings nur dann Wahrheit verbürgen, wenn eine „ideale Sprechsituation“ vorliege.235 Dazu dürfe ausschließlich der „Zwang des besseren Argumentes“ herrschen, was voraussetze, dass alle Teilnehmer ausnahmslos den Anspruch an sich stellten, die Wahrheit zu ermitteln (Vo­ raussetzung der „Wahrhaftigkeit“), und dass gleichzeitig Chancengleichheit

229  So Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (84; 89 f.); Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (14). Ähnlich in der deutschen Literatur etwa Cramer, in: Rebmann-FS, 145 (148); Marsch, ZRP 2007, 220 (222). 230  Siehe Soyer, JSt 2013, 37 (39 f.). 231  Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (84); ähnlich ders., JSt 2013, 37 (40). 232  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (14). 233  Siehe Soyer, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (84  f.; 89 f.); ders., JSt 2013, 37 (39 f.). 234  So Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie, 101 (124, 138 f.). 235  Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie, 101 (136).

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

unter den Verfahrensbeteiligten garantiert werde.236 Bei einer Urteilsabsprache müssten diese Voraussetzungen einer „idealen Sprechsituation“ demnach gegeben sein. (1) Wahrhaftigkeit der Verhandlungsteilnehmer Die Urteilsabsprachebeteiligten müssten sich ausschließlich an der Feststellung der Wahrheit ausrichten, damit ein wahrheitsverbürgender Konsens stattfinden und ein materiell richtiges Urteil gefunden werden kann.237 Ziel einer Urteilsabsprache ist die größtmögliche Verfahrensabkürzung und -vereinfachung.238 Geleitet von seinen Eigeninteressen239 will jeder Berufsjurist das für seine Position beste Ergebnis erreichen.240 Tatsachen werden nur preisgegeben, wenn und soweit das erforderlich ist, und es werden bewusst übertriebene Ansprüche erhoben.241 Der Geschäftscharakter von Abspracheverhandlungen resultiert aus der Verfahrenspsychologie.242 Ein gewandter Verteidiger versucht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – etwa durch Ankündigung von Beweisanträgen – das Gericht, dem durch die Stellung eines entsprechenden Antrags ein erheblicher Aufwand entstünde, zur Zusage einer möglichst milden Strafe zu bewegen.243 Das Gericht kann seine alleinige Entscheidungskompetenz demonstrieren.244 Die Staatsanwaltschaft kann ihre Einstellungsmöglichkeiten taktisch zu Verhandlungen einsetzen und durch zu weit ausholende Anklagevorwürfe (sogenanntes „over­charging“245) Verhandlungsmasse aufbauen, die zugleich der Verhandlungsposition des Gerichts zugutekommt.246 Dass Berufsjuristen ihren persönlichen Nutzen eventuell auch zu Lasten der Wahrheit und somit der Richtigkeit des Urteils zu erreichen suchen, ist real zu befürchten.247 Praxisberichte belegen dies. 236  Habermas,

in: Habermas/Luhmann, Theorie, 101 (137 f.; 131–135). Geständnis, S. 212 f. 238  Hierzu oben, D. I. 1. a). 239  Dazu oben, B. II. 2. 240  Cramer, in: Rebmann-FS, 148 (152). 241  Cramer, in: Rebmann-FS, 148 (152); Widmaier, StV 1986, 357 (358); vgl. auch Hassemer, Winfried, StV 2006, 321 (327). 242  Cramer, in: Rebmann-FS, 148 (152); Haas, in: Keller-GS, 45 (69). 243  Terhorst, GA 2002, 600 (608). 244  Beulke/Swoboda, JZ 2005, 67 (71). Zur Druckausübung auf den Angeklagten eingehender unten, D. I. 2. Vgl. den Hinweis von Cramer, in: Rebmann-FS, 148 (152), dass auch das Gericht seine Intentionen nicht offenlegt. 245  Zum „overcharging“ Weider, StraFo 2003, 406 (408); Kempf, StV 2009, 269 (270); Mylonopoulos, in: Kühne-FS, 259; Sauer/Münkel, Absprachen im Strafprozess, Rn. 680. 246  Velten, JSt 2009, 181 (183). 237  Hauer,



I. Kernprobleme115

Hinzu kommt die Verfahrensrolle des Angeklagten. Nach § 7 Abs. 2 öStPO ist der Angeklagte von vornherein nicht zur Mitwirkung an der Wahrheitsfindung verpflichtet.248 Er darf den Anklagevorwurf zurückweisen, selbst wenn dieser der Wahrheit entspricht.249 Die Verteidigung muss den Angeklagten bei der Wahrnehmung seiner Aussagefreiheit unterstützen und auf dessen Entlastung hinwirken (§ 9 Abs. 1 RAO); eine Pflicht zur Mitwirkung an der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs besteht nicht.250 Die entsprechend Habermas erforderliche Wahrhaftigkeit lässt sich damit hinsichtlich des Angeklagten nicht unterstellen, weshalb vorgeschlagen wird, den Beitrag des Angeklagten von den übrigen Beteiligten stets auf seine Wahrhaftigkeit zu überprüfen.251 Die Eigeninteressen der Berufsjuristen senken jedoch die dazu erforderliche Bereitwilligkeit.252 Der These, wonach die Gefahr der Lüge des Angeklagten einen Ausnahmefall dar­stelle,253 ist das im Abspracheverfahren aufgrund einer taktischen Aussagemotivation erhöhte Risiko eines falschen Geständnisses entgegenzuhalten.254 Dass die Wahrhaftigkeit das Ziel aller Verhandlungsteilnehmer ist, muss letztlich verneint werden. Zwar gehen die Verfahrensbeteiligten auch im Strengbeweisverfahren taktisch vor. Im konventionellen Verfahren treffen die Beteiligten jedoch nicht zusammen die Entscheidung über das Verfahrensergebnis, sondern dies bleibt ausschließlich dem Tatgericht vorbehalten, weshalb ohne ein Verhandeln über das Urteil von der Wahrhaftigkeit des Gerichts auszugehen ist.255 (2) Verhandlungschancengleichheit Für ein an der Wahrheitssuche ausgerichtetes Ergebnis darf nach der Konsensustheorie zudem keine ungleiche Machtverteilung zwischen den Verhandlungsparteien bestehen.256 Die überlegenere Verfahrenspartei kann sonst

247  Hauer,

Geständnis, S. 213; vgl. auch Murmann, ZIS 2009, 526 (532). in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 7 Rn. 6; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.113. 249  Dieses Recht zur Aussagefreiheit folgt aus dem nemo-tenetur-Gundsatz, Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 7 Rn. 6–10; dazu unten, D. I. 2. 250  Salzborn, Eduard, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (111). 251  Dies fordert Jahn, GA 2004, 272 (284). 252  Hauer, Geständnis, S. 215. 253  So Jahn, GA 2004, 272 (284). 254  Hauer, Geständnis, S. 215. Zum Problem falscher Geständnisse unten, D. I. 3. 255  Weßlau, Konsensprinzip, S. 94 Fn. 345. 256  Weßlau, Konsensprinzip, S. 92; Hauer, Geständnis, S. 210; Lien, GA 2006, 129 (140). 248  Haißl,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

das Verhandlungsergebnis in die von ihr bevorzugte Richtung lenken.257 Bei Scheitern der Abspracheverhandlungen kann die Justiz das streitige Verfahren auch ohne Mitwirkung des Angeklagten mit einer Verurteilung be­ enden.258 Die Leitung der Hauptverhandlung liegt allein beim Gericht. Komplexität der Verfahren und Arbeitsbelastung geben dem Angeklagten durch kämpferisches Verteidigungsverhalten zwar ein gewisses Druckmittel gegen die Justiz an die Hand.259 Letztendlich entscheidet aber das Gericht, wodurch die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten und der Verteidigung relativiert werden.260 Die Strafverfolgungsorgane verfügen ferner über vielfältige Mittel des Strafbemessungs- und Strafprozessrechts, wodurch sie die Abspracheverhandlungen – auch im Hintergrund – beeinflussen können.261 Eine effektive Chancengleichheit der Verfahrensbeteiligten existiert nicht. (3) Zwischenergebnis Die Vertreter der Ansicht, dass die materielle Wahrheit im Strafprozess auch durch eine Absprache unter den Berufsjuristen zu finden sei, können sich zur Begründung ihrer These nicht auf die Konsensustheorie berufen. Die bei einer Urteilsabsprache stattfindenden Verhandlungen und der dabei erzielte Konsens können keine ausreichende Garantie für die Feststellung der Wahrheit übernehmen. Der Konsens der Beteiligten substantiiert nicht die Richtigkeit des bei der Urteilsabsprache gefundenen Ergebnisses, weil es den Beteiligten nicht primär um die Erforschung der materiellen Wahrheit geht. Konsens ist demnach kein Kriterium für Wahrheit im Strafverfahren.262 Zudem wird die Korrespondenztheorie durch die von Vertretern der Konsensustheorie geübte Kritik, absolute Wahrheitserkenntnis sei ohnehin unmöglich,263 nicht diskreditiert. Zwar erstrecken sich gerichtliche Sachverhaltsfeststellungen tatsächlich stets nur auf Wirklichkeitsausschnitte.264 Die Wahrheitsfin257  Weßlau,

Konsensprinzip, S. 92; Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (541 f.). Konsensprinzip, S. 92. 259  Schmidt-Hieber, StV 1986, 355 (357); Schmitt, GA 2001, 411 (414). Siehe oben, B. II. 1. 260  Velten, in: SK-StPO, Vor § 261 Rn. 17; dazu auch dies., GA 2015, 387 (394– 397). Hierzu auch oben, B. II. 1. a) ee). 261  Weider, Vom Dealen, S. 156; Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung, 357 (359); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19). Dazu im Folgenden, D. I. 2. 262  Hauer, Geständnis, S. 215, 224 f. 263  Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (80). 264  Schulz, Sachverhaltsfeststellung, S. 192; Stamp, Wahrheit, S. 138; Weßlau, Konsensprinzip, S. 21; Bogensberger, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung, 39. 258  Weßlau,



I. Kernprobleme117

dung in der Hauptverhandlung umfasst stets nur die Aspekte, die für die Beurteilung der Schuld- und Straffrage für relevant gehalten werden.265 Auch darf die Suche nach der materiellen Wahrheit ausschließlich mit prozessual zulässigen Mitteln und in zulässiger Weise unter Berücksichtigung anderer grundlegender Prinzipien erfolgen.266 Zu diesen Prinzipien zählen insbesondere der Schutz der Menschenwürde, die rechtsstaatliche Integrität eines Verfahrens und das allgemeine Persönlichkeitsrecht.267 Selbst in konventionell durchgeführten Verfahren können somit aufgrund faktischer und rechtlicher Hindernisse nicht alle erdenklichen Beweismittel verwertet werden.268 Es gibt keine „Wahrheit um jeden Preis“.269 Diese rechtsstaatlich bedingte Begrenztheit der Wahrheitssuche manifestiert sich in Beweisverboten,270 wie beispielsweise im Beweisverwertungsverbot zum Schutz des Beschuldigten in § 166 öStPO.271 Aus verfahrensökonomischen Gründen besteht für das Gericht die Möglichkeit, Beweisanträge abzulehnen (§§ 222 Abs. 2, 238 öStPO). Zeugen- und Opferschutz können weitergehende Sachverhaltserforschungen verhindern. Ein Abweichen von der Korrespondenztheorie erfordern diese Tatsachen dennoch nicht. Denn der Abbruch einer an sich weiteren möglichen Sachverhaltsaufklärung rechtfertigt sich nach dem Dargestellten durch allgemein anerkannte und schützenswerte Belange des Rechtsstaates und das Gebot der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege.272 Der Erkenntnis, dass das menschliche Wissen begrenzt ist, verschließen sich auch die Vertreter der Korrespondenztheorie nicht.273

265  Danek,

RZ 2004, 122 (123). 1. Dreiländerforum (2011), 49; Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (62). 267  Heiss, 1. Dreiländerforum (2011), 49. 268  Danek, RZ 2004, 122 (123); Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (109); Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 48. 269  So Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 78 (90); ders., in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994), 191 (193 f.). 270  Kirchbacher, in: WK-StPO (2009), § 246 Rn. 59 f.; Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 58–60. 271  Salzborn, Eduard, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (109 f.); Michel‑Kwapinski, in: WK-StPO (2011), § 166 Rn. 3; Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 3 Rn. 9. Ausführlich zu den Beweisverwertungsverboten Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 65 ff. 272  Vgl. Hauer, Geständnis, S. 222 f. 273  Siehe Danek, RZ 2004, 122 (123  f.); Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (108); Stamp, Wahrheit, S. 54, 138; Hassemer, Winfried, ZStW 121 (2009), 829 (837 f.). 266  Heiss,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

d) Ergebnis Im österreichischen Strafverfahren liegen die von der Konsensustheorie nach Habermas geforderten Voraussetzungen für die Annäherung an eine „ideale Sprechsituation“274 nicht vor: Wahrhaftigkeit und Verhandlungschancengleichheit der Absprachenteilnehmer fehlen. Der bei den Abspracheverhandlungen erzielte Konsens kann nicht als Gewähr für die Wahrheit herangezogen werden. Ein Abspracheverfahren kommt der Wahrheit nicht ebenso nahe wie das herkömmliche Verfahren. Mit der Korrespondenztheorie ist materielle Wahrheit im Strafverfahren deshalb als die Übereinstimmung zwischen der Überzeugung des Gerichts und den dem Prozess zugrunde liegenden Tatsachen zu verstehen, was stets den Versuch einer bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit verlangt.275 Dieser Vorsatz wird zwar durch andere, allgemein anerkannte rechtsstaatliche Garantien eingeschränkt. Er wird aber durch diese Reduktion keineswegs diffamiert. Das Tatgericht darf sich somit erst dann eine Überzeugung bilden, wenn es die zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten in prozessual zulässiger Weise zumindest so weit ausgeschöpft hat, bis es eine Verbesserung oder Veränderung der Urteilsgrundlage nicht mehr für möglich hält. Ein abgesprochenes Urteil genügt diesen traditionellen Anforderungen an die materielle Wahrheitserforschung nicht. Die Verfahrensbeteiligten versuchen nicht, sich der Wahrheit so weit wie möglich anzunähern, sondern bezwecken eine Umgehung der dafür erforderlichen Maßnahmen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht wird nicht erfüllt. Die gerichtliche Beweiserhebung wird nicht überflüssig, wenn ein Geständnis des Angeklagten vorliegt, das im Abspracheverfahren in besonderer Weise taktisch motiviert ist. Zur Verhinderung von Fehlurteilen muss ein Geständnis stets auf seine Glaubhaftigkeit geprüft werden. Die Kontrolle des Geständnisses anhand der Aktenlage anstelle einer Kontrolle des Aktenbefundes mit den Mitteln des Strengbeweisverfahrens enthält eine Umkehrung der Verfahrensstruktur, nach der die unabhängigen Gerichte die vorläufigen Beweisergebnisse der Ermittlungen der Exekutive überprüfen und gegebenenfalls korrigieren sollen. Ein eigenständiger Beweiswert eines Geständnisses ist unverzichtbar, wenn das Geständnis dem Gericht die Gewissheit der Richtigkeit des Anklagevorwurfs vermitteln und eine ausreichende Grundlage für seine Überzeugungsbildung bieten soll. Urteilsabsprachen verstoßen daher, wie vom OGH festgestellt,276 gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit. Bei einer Urteilsabsprache ersetzt eine formelle Wahrheit das Prinzip der materiellen Wahrheit.277 274  Habermas,

in: Habermas/Luhmann, Theorie, 101 (136). Geständnis, S. 204 f. 276  Siehe Fn. 17. 277  BMJ, Arbeitsgruppe Strafprozess, Schlussbericht, S. 21 [Internetquelle]. 275  Hauer,



I. Kernprobleme119

2. Vereinbarkeit mit dem nemo-tenetur-Grundsatz Der nemo-tenetur-Grundsatz umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens. Im Rahmen des Strafverfahrens darf danach niemand dazu verpflichtet werden, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen und so an seiner eigenen Tatüberführung aktiv mitzuwirken. Der Angeklagte ist Subjekt und nicht Objekt des Strafverfahrens.278 Diesen Grundsatz leitet der VfGH aus Art. 90 Abs. 2 B-VG ab.279 Art. 90 Abs. 2 B-VG und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sind kumulativ anwendbar.280 Seinen einfachgesetzlichen Niederschlag findet der nemo-tenetur-Grundsatz in der österreichischen Strafprozessordnung als allgemeiner Grundsatz für das gesamte Strafverfahren in § 7 Abs. 2 öStPO und in der diesen Grundsatz konkretisierenden Schutznorm des § 164 Abs. 4 öStPO. Als prozessrechtliche Verhaltensnorm statuiert § 164 Abs. 4 öStPO das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden, welche die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung des Angeklagten in Bezug auf sein Aussageverhalten beeinträchtigen. Nach § 245 Abs. 2 öStPO gilt § 164 Abs. 4 öStPO auch für die Vernehmung des Angeklagten vor Gericht. a) Freiwilligkeit eines Absprachegeständnisses Seit der Abkehr von der Geisteshaltung des Inquisitionsprozesses ist anerkannt, dass ein Geständnis freiwillig erfolgen muss.281 Nach § 166 öStPO steht der nemo‑tenetur‑Grundsatz der Ablegung eines Geständnisses nicht entgegen, wenn sich der Angeklagte aus rein autonomen Beweggründen dazu entschlossen hat, sich selbst zum Beweismittel zu machen (sogenannte Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit).282 Im Strafverfahren ist es allgemein schwierig, dem Handeln des Beschuldigten eine Freiwilligkeit zu unterstellen. Das zwischen Staat und Bürger bestehende Machtgefälle und die unterschiedlich verteilten Chancengleichheiten lassen an der Möglichkeit freiwilligen Handelns zweifeln.283 Legt der Angeklagte ein Geständnis ab, ist problematisch, ob er freiwillig gehandelt hat, denn § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB sieht vor, dass das Gericht seine Einlassung strafmildernd zu berücksichtigen hat. Im Folgenden wird deshalb untersucht, wie sich ein gesetzlich vorgese278  VfGH B 1082/06 VfSlg 18164/2007; Öhlinger, in: Machacek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte, 767 (770 f.); Schmid, Sebastian, RZ 2009, 153 (158 f.). 279  Exemplarisch VfGH B 298/65 VfSlg 5295/1966; G 7/80 u. a. 9950/1984. Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 397. Siehe dazu auch Reiter, RZ 2010, 103 mit Fn. 2. 280  Reiter, RZ 2010, 103. 281  Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (552). 282  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 396 f. 283  Dazu oben, D. I. 1. c) bb) (1) und (2).

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hener Strafrabatt auf die Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten auswirkt. Dazu wird die Drucksituation im konventionellen Strafprozess mit der im Absprachenprozess verglichen. aa) Drucksituation im konventionellen Strafverfahren Auch in einem „normal“ durchgeführten Strafverfahren kann der Angeklagte nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB von einer Strafmilderung ausgehen, wenn er ein Geständnis ablegt.284 Auf diese Relevanz des Geständnisses wird der Angeklagte allgemein im Rahmen seiner Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht nach § 164 Abs. 1 i. V. m. § 245 Abs. 2 öStPO hingewiesen.285 Dieser Hinweis bedeutet für den Angeklagten im Umkehrschluss, dass ohne Geständnis die obligatorische Strafmilderung nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB ausscheidet und die Strafe höher ausfallen wird. Der Angeklagte muss sich damit auseinandersetzen, ob er sich für eine Strafmilderung entscheidet und dann aktiv Beweismaterial gegen sich selbst vorbringt oder nicht.286 Schon daraus entsteht verfahrenspsychologisch ein Druck auf den Angeklagten. Dieser Druck lässt sich, wie Weigend zutreffend konstatiert, nicht mit der Behauptung dementieren, dem schweigenden Angeklagten drohe keine Verschlechterung, sondern es entgehe ihm lediglich ein Vorteil gegenüber der „Normalstrafe“, denn für den Angeklagten gibt es nur die Strafe bei Geständnis und die Strafe bei Schweigen.287 Der Angeklagte unterliegt damit angesichts des obligatorischen Strafmilderungsgrundes nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB bereits im konventionellen österreichischen Strafprozess einem Geständnisdruck, der von der herrschenden Meinung allerdings als gerechtfertigt angesehen wird.288 Da das Geständnis als besonderer Strafmilderungsgrund nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB verbindlich zu berücksichtigen ist, könnte jedoch zu überlegen sein, ob nicht zumindest der gerichtliche Hinweis auf dessen strafmildernde Wirkung entbehrlich ist. Nach herrschender Meinung muss eine Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht zwingend auch eine Belehrung über die Folgen der Ausübung dieses Rechts beinhalten, denn der Hinweis auf den besonderen Strafmilderungsgrund stehe nicht im Ermessen des Gerichts, sondern sei aus Gründen der Fürsorgepflicht vorgeschrieben und damit zulässig.289 284  Tipold,

Absprachen, 168 (178 f.) Absprachen, 168 (180 f.); Medigovic, JBl 2011, 65 (66). 286  Vgl. dazu Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel, S. 104. 287  Weigend, JZ 1990, 774 (778 Fn. 57). A. A. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1234); Behrendt, GA 1991, 337 (346). 288  Siehe nur Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 788 (789 f.). 289  Seiler, Anklageprozess, S.  114 f.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 404; Tipold, Absprachen, 168 (180 f.); Medigovic, JBl 2011, 65 (66). 285  Tipold,



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bb) Drucksituation bei Urteilsabsprache Im Unterschied zum konventionellen Verfahren erteilt das Gericht bei einer Urteilsabsprache keine allgemeine Belehrung über die vorgesehene Strafmilderung bei Kooperationsbereitschaft. Der Angeklagte weiß hier mit Gewissheit, welche vom Gericht zahlenmäßig bestimmte Strafe er bei einem Geständnis erhält.290 Im Zuge der Verhandlungsgespräche gibt ihm das Gericht ein konkretes Strafmaß an die Hand, wodurch die zu erwartende Strafe eine reale Gestalt annimmt. Die Strafmaßangabe ist anders als der gesetzliche Strafrahmen auf seinen Fall zugeschnitten. Der Angeklagte wird nicht lediglich „routinemäßig“ belehrt, sondern exklusiv angesprochen, weil sich das Gericht seinen Fall schon „durchgerechnet“ hat. Bereits dadurch vergrößert sich der aus § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB resultierende Druck, kooperativ zu sein. Die Intensität dieser Drucksituation wird durch zwei weitere Faktoren bestimmt: Sie wird zum einen gesteigert, wenn das Gericht die Initiative zu den Verhandlungsgesprächen ergreift.291 Der Angeklagte muss daraus schließen, dass das Gericht bereits zum Zeitpunkt der Initiativergreifung von seiner Schuld überzeugt ist und ihn unabhängig von seinem Geständnis und dem weiteren Verfahrensablauf verurteilen wird.292 Denn warum sonst sollte sich das Gericht dazu entscheiden, gerade ihm ein exakt bestimmtes Strafmaßangebot zu unterbreiten?293 Gleichzeitig muss der Angeklagte dieses Angebot als Zeichen für die Aussichtslosigkeit seines weiteren Bestreitens bzw. einer Freispruchverteidigung verstehen.294 Bereits im konventionellen Verfahren wird einer bestreitenden Einlassung nur selten geglaubt.295 Zu dieser Annahme einer voreingenommenen richterlichen Sachverhaltsbeurteilung autorisiert den Angeklagten der weite gerichtliche Ermessensspielraum im Rahmen der Beweiswürdigung.296 Die Verteidigung nützt dem Angeklagten nichts, da die verbindliche Schuldfeststellung ausschließlich dem Gericht obliegt.297 Allein das Gericht leitet die Hauptverhandlung. Zudem gibt das Gericht mit seinem konkreten Angebot auch ein persönliches Interesse am Geständnis zu erken290  Weigend,

NStZ 1999, 57 (59, 62). 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (137). 292  Seier, JZ 1988, 683 (688); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 240 Rn. 1. A. A. wohl Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 36. 293  Damaska, StV 1988, 398 (399). 294  Hauer, Geständnis, S. 332 f., 343; Terhorst, GA 2002, 600 (610). 295  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648). Vgl. auch Eschelbach, HRRS 2008, 190 (199): „Die Festlegung von Staatsanwaltschaft und Gericht auf ein mit Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss konformes Prozessergebnis ist kaum zu erschüttern.“ 296  Hauer, Geständnis, S. 332 f. 297  Anders wohl Hanack, StV 1987, 500 (504). 291  Medigovic,

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nen.298 Dementsprechend muss der Angeklagte damit rechnen, dass ein unkooperatives Verhalten im weiteren Verfahren bei der Strafzumessung vom Gericht zu seinen Ungunsten berücksichtigt wird.299 Eine Strafschärfung wegen eines fehlenden Geständnisses ist zwar nach ständiger Rechtsprechung des OGH unzulässig.300 Dem Angeklagten darf kein Nachteil aus seinem Verteidigungsverhalten entstehen.301 Wegen der mangelnden Transparenz und Nachprüfbarkeit der gerichtlichen Strafmaßentscheidung in diesem Detail geschieht dies aber selbst in konventionell durchgeführten Strafverfahren wohl nicht selten.302 Nach der gegenwärtigen Strafbemessungspraxis ist die tatsächlich strafmildernde Wirkung eines Geständnisses nicht feststellbar, da es keine zuverlässigen Kriterien gibt, anhand derer sich das Strafmaß, das ohne Geständnis gewählt worden wäre, ermitteln lässt.303 Aus diesem Grund ist es dem Gericht auch möglich, eine erheblich unter dem objektiven Ausmaß von Unrecht und Schuld liegende Strafe als berechtigt darzustellen. Umgekehrt kann das Geständnis beim Strafmaß nicht honoriert oder bei Geständnisverweigerung eine über dem objektiven Unrechtsausmaß liegende Strafe ausgeurteilt werden, ohne dass dies für Beobachter außerhalb des Gerichtsquorums feststellbar wäre. Es lässt sich danach nicht eruieren, ob dem Geständigen für seine Kooperation tatsächlich eine Strafmilderung gewährt wurde.304 Dem Angeklagten bleibt aus seiner Perspektive im Fall eines Strafmaßvorschlags des Gerichts nichts anderes übrig, als auf die tatsächliche Honorierung seines Geständnisses durch das Gericht zu vertrauen. Die Erwähnung eines Geständnisses als Strafmilderungsgrund in der Urteilsbegründung bietet keine Garantie dafür, dass es tatsächlich eine erhebliche Wirkung auf die 298  Hauer,

Geständnis, S. 331. belegen Erfahrungsberichte aus Deutschland, vgl. Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 42; Weider, StV 2002, 397 (397 f.); siehe auch Siolek, Verständigung, S. 188. 300  RIS-Justiz RS0090912. Siehe auch Mayerhofer, StGB I, § 32 Rn. 12–13. Zur Voreingenommenheit des Gerichts bei Scheitern der Urteilsabsprache: OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65). 301  RIS-Justiz RS0090897; Pallin, Strafzumessung, Rn. 26; Burgstaller, ZStW 94 (1982), 127 (142); Venier, ÖJZ 1991, 697 (699); Kirchbacher, in: WK-StPO (2009), §  245 Rn.  46 m. w. N.; Tipold, JBl 2013, 126 (126 f.); Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 37 f., 43. Siehe aber OGH 15 Os 18/06w SSt 2006/33, wonach die beweiswürdigende Wertung des Schweigens des Angeklagten zur Schuldfrage (§ 245 Abs. 2 öStPO) nicht unter allen Umständen ausgeschlossen sei; kritisch hierzu Haumer, JSt 2017, 455 (457–459). 302  Tipold, JBl 2013, 126 m. w. N. 303  Dazu unten, G. I. 2. c). 304  Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (148). 299  Dies



I. Kernprobleme123

Strafhöhenbestimmung entfaltet hat.305 Diese Tatsache belegt eine Untersuchung, bei der beim Delikt des Raubs die Strafe nach Ablegung eines Geständnisses sogar höher ausfiel.306 Dies kann möglicherweise mit einem sogenannten „Ankereffekt“ erklärt werden, wonach eine irgendwann in den Raum gestellte Zahlenangabe auch dann verfahrenspsychologisch bei der Entscheidung eine Rolle spielen kann, wenn sie aktuell keinen Zusammenhang damit aufweist.307 Irrationale und unzulässige, aber für die Straffindung tatsächlich maßgebliche Strafzumessungsfaktoren, wie Antipathie gegenüber dem Angeklagten, werden im Urteil nicht genannt.308 Eine gute Atmosphäre im Gerichtssaal kann der Angeklagte nach einer gescheiterten Urteilsabsprache nicht mehr erwarten.309 Der Eindruck der Voreingenommenheit der Richter verfestigt sich beim Angeklagten zusätzlich, wenn ihm auch der Verteidiger ein Geständnis nahe legt.310 Eine objektiv falsche Beratung von der Verteidigung, die aus der Urteilsabsprache eigene Vorteile zieht und sich mit den Justizjuristen auf einen „Superschulterschluss“ einlässt, ist jedenfalls nicht auszuschließen.311 Ein fehlerhafter Rat der Verteidigung lässt sich in einem Rechtsstaat auch nicht damit relativieren, dass die Gefahr einer regelwidrigen Verteidigung ebenso zum allgemeinen Lebensrisiko gehöre, wie eine nicht de lege artis durchgeführte ärztliche Behandlung.312 Zum anderen erhöht sich der Geständnisdruck auf den Angeklagten enorm durch den ausdrücklichen Hinweis des Gerichts auf das unterschiedliche Strafmaß bei kooperativem Verhalten des Angeklagten und ohne dessen Kooperation.313 Die Strafmaßdifferenz ist ein effektvolles Mittel, um den Angeklagten dazu zu bewegen, dem Vorschlag des Gerichts zuzustimmen. Eine Urteilsabsprache ohne diesen Strafrabatt wäre widersinnig, da kein Angeklagter eine feststehende Strafe akzeptieren würde, solange der Verfahrensausgang noch offen ist und ihm ein günstigeres Ergebnis möglich erscheint.314 Das Absprachenmodell setzt, wie Weigend feststellt, geradezu voraus, dass der Angeklagte durch die Gegenüberstellung einer niedrigen „Strafe x“ bei Verständigung und einer höheren „Strafe x + n“ bei streitigem Verfahren 305  Pallin/Albrecht/Féhérvary,

Strafe, S. 168 f., 297 f. Strafe, S. 158–160. 307  Zum Ankereffekt Schmittat, JSt 2017, 444 (449 f.); Nickolaus, Ankereffekte. 308  Ebner, in: WK-StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 4, 5, § 32 Rn. 94. 309  Rückel, NStZ 1987, 297 (302 f.). 310  Drews, Königin, S. 141. 311  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (199, 201 m. w. N.); Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (123). Zum „Superschulterschluss“ bereits oben, B. II. 2. e). 312  So aber Hanack, StV 1987, 500 (504). 313  Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110). 314  Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (187). 306  Pallin/Albrecht/Féhérvary,

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unter Druck gesetzt wird.315 Der auf den Angeklagten ausgeübte Druck wird von Kotsoglou anhand „psychologischer Erkenntnisse“316 wie folgt erklärt:317 Der „negative Wert eines Verlustes“ werde aufgrund des allgemeinen menschlichen Sicherheitsbedürfnisses „doppelt so stark empfunden wie der positive Wert des gleichen Gewinns“. Es gehe somit für den Angeklagten bei den beiden Strafalternativen um keine rationale Entscheidung für die lukrativste Auswahlmöglichkeit. Die Durchführung eines streitigen Verfahrens sei nicht lediglich eine Verschlechterung seiner Situation, denn der „mögliche Verlust“ habe deutlich mehr Gewicht als ein „möglicher Gewinn“. Dem Angeklagten bleibe keine Handlungsalternative zur Geständnisablegung, denn aus dem sogenannten „Besitztumseffekt“ folge, dass er die sicher zugesagte Strafe nicht für das Wagnis einer Hauptverhandlung aufs Spiel setzen könne.318 Das Ausmaß des ausgeübten Drucks ist deshalb auch abhängig von der Höhe des zahlenmäßigen Unterschieds zwischen den beiden in Aussicht gestellten Strafen.319 Diese Strafmaßspanne wird zur sogenannten Sanktionsschere, wenn das unterschiedliche Strafmaß nicht dem Gewicht des üblichen Milderungsgrundes des Geständnisses entspricht und so einen unangemessenen Druck auf den Angeklagten ausübt.320 Je größer die Sanktionendifferenz, desto größer der Druck auf den Angeklagten.321 Zusätzlich steht der Angeklagte bei seiner Entscheidung unter Zeitdruck, da die Berufsjuristen das Verfahren ohne Verzögerung erledigen wollen.322 Berichtet wird von sogenannten „Kurz‑, Mittel- und Langstreckentarifen“:323 Der „Kurzstreckentarif“ wird danach einem Angeklagten vom Richter dann zugebilligt, wenn nur die Anklage, aber nicht die Akten gelesen werden müssen. Der „Mittelstreckentarif“ mit höherem Strafniveau wird gewählt, wenn eine Urteilsabsprache mit Geständnis zustande kommt, dies aber erst nach der Vorbereitung und par­ 315  Weigend,

JZ 1990, 774 (778 Fn. 57). So auch Ignor, in: BRAK-FS, 321 (325). ZIS 2015, 175 (191). 317  Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (193). 318  Zum Ganzen Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (193 m. w. N.). 319  Soyer, JSt 2013, 37 (41). Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (193) weist zu Recht da­ rauf hin, dass die Sanktionsschere auch die Konstellation Bewährungsstrafe oder Freiheitsstrafe umfasst. 320  Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134); ­Soyer, JSt 2013, 37 (41); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 34. Vgl. auch Kubik, Sanktionsschere, S. 83–86. 321  Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110). 322  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (199). 323  Schünemann, Wetterzeichen, S. 19 f.; dort auch zum folgenden Text. Zu den „Tarifen“ ebenso Weider, StraFo 2003, 406 (408); Bockemühl, 2. Dreiländerforum (2012), 199 (202); Paeffgen, in: SK-StPO, § 202a Rn. 33. 316  Kotsoglou,



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tiellen Durchführung der Hauptverhandlung geschieht. Der „Langstreckentarif“ ist schließlich die abermals größere Strafhöhe, die gewählt wird, wenn der Prozess mit vollständiger Beweiserhebung in der Hauptverhandlung durchgeführt wird.324 Dass der Angeklagte verteidigt ist, verringert die Gefahr einer Sanktionsschere nicht. Gegenüber dem konventionell durchgeführten Verfahren besteht in der Urteilsabsprachenpraxis stets ein gesteigerter Geständnisdruck, der durch die beschriebenen Faktoren, auch in ihrem Zusammenspiel, die Unvereinbarkeit des Vorgehens mit dem formellen und materiellen Strafrecht andeutet. cc) Zwischenergebnis Bereits dadurch, dass nach dem Strafzumessungsrecht eine Strafmilderung für ein Geständnis in § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB gesetzlich vorgesehen ist, nimmt der Staat in gewissem Umfang Einfluss auf die Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten. Bei maßvoller Strafmilderung nach einem Geständnis erscheint das rechtsstaatlich akzeptabel. Art und Intensität dieser Einflussnahme potenzieren sich aber bei einer Urteilsabsprache, weil das Gericht dem Angeklagten für das Geständnis vorab eine zahlenmäßig bezifferte Strafe zusagt. Für die Urteilsabsprachenpraxis ist die Erzeugung eines Geständnisdrucks auch verfahrenspsychologisch unverzichtbar, wenn damit eine Entlastung der Justiz erreicht werden soll.325 Denn ohne Schaffung von speziellen Anreizen ist der Umfang, in dem Angeklagte Geständnisse ablegen, nicht weitergehend als nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB beeinflussbar.326 Aufgrund der Verheimlichung der Urteilsabsprache samt ihres Aushandlungsprozesses ist nachträglich nicht feststellbar, ob der Angeklagte vor einem Machtmittel der Justiz, etwa einer weit geöffneten Sanktionsschere, kapituliert hat.327 Von einem allein aus autonomen Beweggründen motivierten und damit freiwilligen Geständnis kann nicht ausgegangen werden. Diese Tatsache schmälert den Beweiswert eines abgesprochenen Geständnisses neben dem taktischen Aussagemotiv mit seinen Verzerrungstendenzen zusätzlich.328

Ganzen Schünemann, Wetterzeichen, S.  19 f. Verständigung, S. 185; Schmitt, GA 2001, 411 (421  f.); Weßlau, ZStW 116 (2004), 150 (167). 326  Vgl. Weigend, JZ 1990, 774 (778 Fn. 57). 327  Vgl. hierzu Eschelbach, HRRS 2008, 190 (199). 328  Zum Beweiswert bereits oben, D. I. 1. b) bb) (2). 324  Zum

325  Siolek,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

b) Verbotene Vernehmungsmethoden Den Schutz vor ungewollter Selbstbelastung des im Rahmen der Strafprozessordnung vorgegeben Verfahrensablaufs liefert § 164 Abs. 4 S. 1 i. V. m. § 245 Abs. 2 öStPO.329 Er definiert den nemo-tenetur-Grundsatz nicht in seiner Gesamtheit, sondern regelt nur einen wichtigen Kernbereich dieses Grundsatzes positiv-rechtlich.330 Nach § 164 Abs. 4 öStPO dürfen keine zu weitgehenden Verlockungen und Drohwirkungen eingreifen. Für die Absprachenproblematik sind die Varianten der Drohung (§ 164 Abs. 4 S. 1, 3. Alt. öStPO), des Vorteilsversprechens (§ 164 Abs. 4 S. 1, 1. Alt. öStPO) und der Vorspiegelung (§ 164 Abs. 4 S. 1, 2. Alt. öStPO) von Bedeutung. aa) Drohung Drohung bedeutet im Sinne des § 164 Abs. 4, S. 1, 3. Alt öStPO, dass dem Angeklagten ein Übel in Aussicht gestellt wird, auf dessen Verwirklichung der Vernehmende Einfluss zu haben vorgibt.331 Von Drohungen mit einer unzulässigen Maßnahme sind bloße Warnungen, Hinweise und zulässige Ermahnungen zu unterscheiden.332 Wie vorstehend erwähnt,333 enthält das im Rahmen einer vom Gericht initiierten Urteilsabsprache abgegebene Strafmaßangebot unumgänglich, dass das Strafmaß nach konventionell durchgeführter Hauptverhandlung höher ausfallen wird. Bestimmende Komponente einer Urteilsabsprache ist nicht die Zusage eines Strafmaßvorteils, „sondern die implizit damit verbundene Drohung“.334 Dies soll jedoch – mit Ausnahme der Öffnung der unzulässigen Sanktionsschere335 – für das Tatbestandsmerkmal der Drohung nicht ausreichen, weil ohne Geständnis kein Strafmilderungsgrund gegeben sei und es somit an einem in Aussicht gestellten Übel 329  Koller, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 01.01.2014), § 164 Rn. 18. 330  Vgl. ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 208 (abrufbar unter: siehe Fn. 146). 331  Zur allgemeinen Definition der Drohung OGH 16.01.1985, 13 Os 197/84 (13 Os 198/84); Seiler, SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 56 f.; Nittel, in: SbgK-StGB (2006), § 74 Rn. 54; Jerabek/Reindl‑Krauskopf/Ropper/Schroll, in: WK‑StGB (2017), § 74 Rn. 23. 332  Seiler, in: SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 41; Schwaighofer, JSt 2005, 86 (88). 333  Siehe oben, D. I. 2. a) bb). 334  Weigend, JZ 1990, 774 (778); ebenso Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 134; ähnlich Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901): „Denn wenn das ausgehandelte Geständnis zu einer ausrechenbaren Strafmilderung führt, so hat das in Ermangelung eines gesetzlich festliegenden Fixpunktes der Strafzumessung die Strafschärfung für den Fall der Nichtablegung eines Geständnisses zur Kehrseite.“ 335  Zum Begriff der Sanktionsschere die Nachweise Fn. 320.



I. Kernprobleme127

fehle.336 Geht man allerdings – wie hier – davon aus, dass für ein taktisches Absprachegeständnis keine Strafmilderung gewährt werden dürfte,337 dann ist bereits die Ankündigung des Gerichts, die Strafe falle ohne Absprache­ geständnis höher aus, keine Drohung mit einer zulässigen Maßnahme, sondern die Drohung mit einer unzulässigen Strafzumessungserwägung.338 Aber auch wenn man dem hier vertretenen Standpunkt nicht folgt und eine Strafmilderung für zulässig erachtet, fehlt es vorliegend nicht an einer Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme: Das Gericht vermittelt nämlich allein aufgrund seines willkürlichen Absprachenangebots dem Angeklagten den unerschütterlichen Eindruck, dass seine Schuld bereits feststehe und ein Bestreiten daher zwecklos sei. Bei der Bewertung, ob in der Zusage einer bestimmten Strafe eine Drohung gesehen werden kann, ist der Empfänger­ horizont des Angeklagten ausschlaggebend, weshalb es auch auf die recht­ liche Verbindlichkeit der Strafmaßzusage nicht ankommen kann.339 Scheitert die Urteilsabsprache an der Zustimmung des Angeklagten, muss er befürchten, mit seiner Ablehnung des Angebots die Geneigtheit des Gerichts eingebüßt zu haben und mit einer Strafmaßbenachteiligung rechnen.340 Losgelöst vom Einsatz der unzulässigen Sanktionsschere droht das Gericht durch den in seinem Angebot enthaltenen Strafmaßunterschied deshalb aus Sicht des Angeklagten konkludent mit einer nicht mehr restlos ergebnisoffenen Beurteilung des Sachverhalts, falls der Angeklagte das Angebot ausschlägt, und folglich mit einem Übel, auf dessen Eintritt das Gericht Einfluss zu haben vorgibt.341 Letztlich lässt sich die Gefahr einer Drohung zulasten des Angeklagten aufgrund der Justiz zur Verfügung stehender Machtmittel auch dann nicht ausschließen, wenn die Initiative vom Angeklagten ausgeht, weil sich der Angeklagte auch hier vor den Folgen einer gescheiterten Absprache fürchten muss.342 Hinter jedem gerichtlichen Angebot verbirgt sich jedenfalls sowohl für den Angeklagten als auch für die Verteidigung die Drohung mit einer nach allgemeinem Strafzumessungsrecht unzulässigen Strafschärfung und mit einer nicht mehr objektiven Beurteilung des Sachverhalts, also mit unzulässigen Maßnahmen, weshalb eine 336  So zum deutschen Recht Siolek, Verständigung, S. 217; in diese Richtung wohl auch Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134). 337  Dazu eingehender unten, D. III. 1. 338  So auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 38; zum deutschen Recht Weigend, JZ 1990, 774 (779). 339  Zur Verbindlichkeit der Strafmaßzusage sogleich unten, D. I. 2. b) cc). 340  Weigend, JZ 1990, 774 (778); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 38. Dazu oben, D. I. 2. a) bb). 341  Hauer, Geständnis, S. 332 f. 342  Dazu unten, E. II. 3. a).

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verbotene Vernehmungsmethode gemäß § 164 Abs. 4 S. 1, 3. Alt. öStPO vorliegt.343 bb) Urteilsabsprachen als neue Art der Folter? Wie in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit der Einsatz der Sanktionsschere zur Geständniserlangung im Rahmen einer Urteilsabsprache gehandhabt wird, ist nicht empirisch belegt.344 Aufgrund des Verbots der Urteilsabsprachen durch den OGH werden die Berufsjuristen eine getroffene Urteilsabsprache unter keinen Umständen in den Akten festhalten. Man könnte deshalb meinen, der Einsatz der Sanktionsschere komme – wenn überhaupt – nur in seltenen Fällen vor. Auch in Deutschland wurde zu Anfang der Absprachendiskussion vehement bestritten, dass der Einsatz der Sanktionsschere zur strafprozessualen Realität gehört.345 Die inzwischen ans Licht gekommene deutsche Verfahrensrealität dokumentiert dagegen einen „Handel mit der Gerechtigkeit“346.347 Es sind in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit Fälle bekannt geworden, bei denen der BGH zurecht eine Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme in § 136a Abs. 1 S. 3, 1. Alt. dStPO348 angenommen hat.349 So referiert der BGH in einer Revisionsentscheidung aus dem Jahre 2004: „Die Differenz zwischen zwei Jahren Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung und sechs Jahren Freiheitsstrafe ist nicht mehr mit der strafmildernden Wirkung von Geständnis und Schadenswiedergutmachung im Rahmen schuldangemessenen Strafens zu erklären. […] Dieses Vorgehen kann nur noch als massives Druckmittel zur Erwirkung eines verfahrensverkürzenden Geständnisses verstanden werden; die kaum nachvollziehbare Untersuchungshaftanordnung und ‑vollstreckung im vorliegenden Fall verstärkt diesen Eindruck […]. Ein solches Verhalten ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar.“350

Venier stellt fest, dass vergleichbare Fälle auch in Österreich vorkämen, auch wenn darüber bisher aufgrund einer Tabuisierung nicht berichtet wer343  Vgl. zum deutschen Recht auch Seier, JZ 1988, 683 (688); Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (541); ders., Wetterzeichen, S. 33; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 246–249. 344  Zur Strafbemessungspraxis unten, G. I. 2. c). 345  Siehe etwa Dahs, NStZ 1988, 153 (158); Niemöller, StV 1990, 34 (36). 346  Streng, in: Schwind-FS, 447. 347  Dazu Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (750–756); Müller, Martin, Probleme, S. 147 f. 348  § 136a Abs. 1 dStPO ist sinngleich mit § 164 Abs. 4 öStPO. 349  Etwa BGH StV 2004, 360–362; 470–471; 636–638; StV 2005, 201. 350  BGH StV 2004, 470 (471). Vgl. auch die viel zitierte Entscheidung BGH StV 2000, 556–557 mit Anm. Weider, bei der die Sanktionsschere auf zwei und sieben Jahre geöffnet wurde.



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de.351 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass einige Stimmen in der Literatur den doch sehr drastischen Vergleich mit den Foltermethoden aus dem alten Inquisitionsprozess nicht scheuen.352 Die heute angewandten Zwangsmittel seien nur subtiler: Nicht mehr mit „körperlichen Martern“ werde gedroht, sondern es komme zu einer „stillschweigenden Androhung einer Strafschärfung“.353 Im Prinzip sei dies „nicht anders als bei der erfolterten Aussage, wenn auch graduell“.354 Es handle es sich um „eine Art ‚inquisitorischer Folter‘ in modernem Gewand“.355 Bei der (stillschweigenden) Androhung einer Strafschärfung gehe es nicht um die Beibringung physischer Schmerzen.356 Sie sei aber unter Umständen geeignet, eine ebenso eingriffsintensive Maßnahme darzustellen.357 Auch dann, wenn eine Strafaussetzung zur Bewährung von der Ablegung eines Geständnisses abhängig gemacht werde, könne sich das Problem einer persönlich oder wirtschaftlich existenziellen Bedeutung der Entscheidung für oder gegen eine Absprache stellen, denn eine Inhaftierung dürfe mit ihren einhergehenden physischen, als auch psychischen Belastungen wie etwa dem Verlust der gewohnten sozialen Kontakte, des Arbeitsplatzes aber auch der Freiheit an sich sowie gegebenenfalls existenzvernichtenden finanziellen Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden.358 Urteilsabsprachen müssten sich demnach einen Vergleich mit den Foltermethoden gefallen lassen, wenn man sie nicht mehr nach ihrer Handlungs­ intensität, sondern nach ihrer Wirkungsintensität beurteilt.359 Dem Angeklagten wird zum Zweck der Geständniserlangung kein Folterwerkzeug vorgehalten. Er wird in keine Folterkammer geführt oder etwa „zu Anschauungszwecken“ in eine bedrückend enge Zelle gesperrt, in welcher er nach der Verurteilung seine Freiheitsstrafe absitzen soll.360 Das Fehlen dieser visuellen 351  Venier,

7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (18). Ratz, ÖJZ 2009, 949 (950); Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901 f.); Weigend, JZ 1990, 774 (778); Malek, StraFo 2005, 441; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 258 f., 282; Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (177, 196 f.). Dazu auch Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246). 353  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1902). 354  Dencker/Hamm, Vergleich, S. 83. 355  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (950) [Hervorhebungen im Original]. 356  Malek, StraFo 2005, 441. 357  Malek, StraFo 2005, 441. 358  Malek, StraFo 2005, 441, dort dazu auch die Fallbeispiele auf S. 443–446. 359  Vgl. dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 49. Zum Vergleich der Wirkungs­ intensität von Zwangsmitteln und Gewaltmitteln bereits oben, D. I. 1. b) aa) (2). 360  Vgl. dazu das Urt. des BGH StV 2013, 388 (388–390). Dort hatte der BGH den Freispruch eines Richters vom Vorwurf der Rechtsbeugung aufgehoben: Der angeklagte Richter hatte den damaligen Angeklagten in zunehmend erregter Weise aufgefordert, ein Geständnis abzulegen. Schließlich unterbrach er unvermittelt die Sit352  Siehe

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Maßnahme wird allerdings durch eine Verteidigung kompensiert, die eigentlich zur Wahrung der Rechte des Angeklagten berufen ist,361 aber mit den übrigen Berufsjuristen einen „Superschulterschluss“ eingeht und deshalb auf den Angeklagten zur Geständniserlangung zusätzlich einwirken kann und dann zum unerkannten Gegner in den eigenen Reihen avanciert.362 Die Parallele zur Folter363 scheint auch nicht ganz abwegig, wenn man die Motive berücksichtigt, die im alten Inquisitionsprozess hinter dem Einsatz von Folter zur Geständniserlangung standen.364 Im inquisitorischen System galt das Geständnis zum einen als die bestmögliche Bestätigung der Anklage, weil der Angeklagte am unmittelbarsten zur Wahrheitsfindung beitragen und der Ankläger so auf unter Umständen schwieriger zu erlangende Beweise verzichten können sollte, zum anderen sollte es der Verurteilung das Merkmal des einseitig auferlegten Strafens nehmen und dessen Akzeptanz durch den Angeklagten demonstrieren.365 Vergleicht man diese Ausführungen mit den Argumenten, die im heutigen Strafprozess für den hohen Stellenwert des Geständnisses angeführt werden, scheint kein gravierender Unterschied feststellbar.366 Auch heute noch soll das Geständnis die Verifizierung des Anklagevorwurfs, die Beschränkung der Beweisaufnahme sowie die Anerkenntnis des Urteils durch den Angeklagten bewirken.367 Vor allem wird bei einer Urteilsabsprache von der Justiz eine Erleichterung ihrer Arbeit mit Strafrabatt erworben. Zu Recht wird deshalb die Frage gestellt, ob dadurch nicht jedenfalls im Akzent der alte Inquisitionsprozess in den gegenwärtigen Strafprozess wieder Einzug hält, bei dem ein gewichtiger Tatverdacht – ehemals zung, sagte zum damaligen Angeklagten: „Sie kommen jetzt mit, ich zeige Ihnen mal, wie Ihre Zukunft aussehen kann“, und begab sich – mit Robe – mit dem damaligen Angeklagten und einem Wachtmeister in den Keller des Amtsgerichts, wo sich mehrere Gewahrsamszellen befanden. Er veranlasste den verunsicherten damaligen Angeklagten, sich in eine Zelle zu begeben, die daraufhin geschlossen wurde. Nach etwa 20 Sekunden wurde die Tür auf Veranlassung des Richters wieder geöffnet. Hiernach setzte dieser die Hauptverhandlung fort, in der der damalige Angeklagte nunmehr vollumfänglich geständig war. Vgl. allerdings auch BGH NJW 2019, 789–793 mit Anm. Leitmeier; dazu auch die Anm. von Jahn, JuS 2019, 271–273. 361  Zu den Pflichten der Verteidigung unten, G. I. 3. e). 362  Zum „Superschulterschluss“ oben, B. II. 2. e). Zu den individuellen Interessen der Verteidigung an einer Urteilsabsprache oben, B. II. 2. c) und unten, G. I. 3. e). 363  Siehe auch den durch die Dienstrechts-Novelle 2012 eingefügten Straftatbestand der Folter, § 312a öStGB i. d. F. öBGBl I 2012/120. 364  Zur Historie des Geständnisses in der strafprozessualen Beweisführung oben, D. I. 1. b) aa) (2). 365  Foucault, Überwachen und Strafen, S. 51–53; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 258. 366  Treffend Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 259. 367  So Schmidt-Hieber, in: Wassermann-FS, 995, auf den Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 259, verweist.



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in Form einer Zeugenaussage, heute in Form des Ermittlungsergebnisses nach Aktenlage – die Legitimation für eine peinliche Befragung liefert und damit zugleich zur Geständnisablegung verpflichtet.368 Die aus informellen Gesprächsäußerungen abzuleitenden Erkenntnisse und die verglichen mit Deutschland gleichartige Motivlage369 rechtfertigen zumindest die Annahme, dass der zunehmende „Ökonomisierungsdruck“370 in der österreichischen Strafverfahrenspraxis dieselben Wirkungen entfaltet. Die Daumenschrauben der Urteilsabsprachen konterkarieren die Rechtsstaatlichkeit des österreichischen Strafverfahrens. cc) Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils Der zugesagte Strafrabatt könnte auch das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils gemäß § 164 Abs. 4 S. 1, 1. Alt. öStPO erfüllen. Der OGH hat in seinem obiter dictum konstatiert, eine Urteilsabsprache sei auch wegen ihres ersichtlichen Verstoßes gegen § 202 erster Fall öStPO  a. F.371 prinzipiell abzulehnen.372 Unter einem Versprechen wird die „Zusage einer Belohnung“ verstanden.373 Für die Frage der unzulässigen Beeinflussung des Aussageverhaltens kann es nicht auf eine rechtliche Bindung des Gerichts an dessen Zusage ankommen, wenn man die Schutzrichtung des § 164 Abs. 4 öStPO, eine Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit des Angeklagten zu verhindern, berücksichtigt.374 Allein die Möglichkeit, einen Strafrabatt durch einen Austausch gegen ein Geständnis zu erreichen, erscheint geeignet, die Willensentschließungsfreiheit des Angeklagten ebenso intensiv zu beschränken wie eine verbindliche Zusage.375 368  So Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901 f.); vgl. auch Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S.  259 f.; Kotsoglou, ZIS 2015, 175 (175–180). 369  Zu den mutmaßlichen Ursachen oben, B. II.; für Deutschland siehe etwa Schöch, Urteilsabsprachen in der Strafrechtspraxis, S. 5 f., 8–10; Peters, Julia, Urteilsabsprachen, S. 9–25. 370  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (638); dazu auch ders., in: Paal/Poelzig, Effizienz durch Verständigung, 37 (40–53). 371  § 202 S. 1, 1. Alt. öStPO a. F. entspricht § 164 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. öStPO, siehe Fn. 2. 372  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127. Dazu oben, C. I. 373  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37. 374  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37 m. w. N., die darauf hinweist, dass ein Abstellen auf die rechtliche Verbindlichkeit keinen Anwendungsfall des § 164 Abs. 4 öStPO in der Täuschungsvariante zulassen würde, da nach herrschender Meinung nur gesetzwidrige Versprechen verbotene Vernehmungsmethoden seien, die gerade nicht binden. 375  Grünwald, NJW 1960, 1941; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S.  249 f.; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37.

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Der Strafprozess ist für den Angeklagten eine extrem belastende Situation, in der er sich an jedes Fünkchen Hoffnung auf einen möglichst „guten Ausgang“ klammert. Die angebotene Strafmilderung stellt sich für den Angeklagten als nicht wiederkehrende Chance dar, eine mildere Strafe zu erzielen als er sie im konventionellen Verfahren erreichen könnte. Er steht nun unter dem Druck, diese Chance zu ergreifen. Aus der Sicht des Angeklagten ist es unerheblich, ob ihm die Strafmilderung rechtsverbindlich zugesagt oder lediglich als Prognose des Gerichts in Aussicht gestellt wird, zumal dem Angeklagten in dieser bedrückenden Lage der rechtliche Unterschied zwischen der bindenden Zusage einer Strafmilderung oder ihrer schlichten Prognose oftmals nicht bewusst sein wird.376 Gleichfalls kann für den Angeklagten nicht entscheidend sein, ob das Gericht mit dem in Aussicht gestellten Strafmaß gegen das Strafzumessungsrecht verstoßen würde, denn für ihn ist allein ausschlaggebend, dass das Gericht aufgrund seiner Position die Strafe festsetzen könnte.377 Der Angeklagte bringt mit seinem Geständnis aktiv ­Beweismaterial gegen sich selbst vor, obwohl er nach dem nemo-teneturGrundsatz dazu nicht verpflichtet ist. Zu dieser Selbstbelastung hat er sich aufgrund der vom Gericht zuvor konkret zugesagten Strafe bereit erklärt. Tritt der Angeklagte also aufgrund des mit dem Gericht vereinbarten Austauschs mit seiner Geständnisablegung in Vorleistung, dann ist aus Fairnessgründen von einer faktischen Bindung des Gerichts an das Abspracheergebnis auszugehen.378 Das Gericht kann das Verfahren mit seinen Machtmitteln auch ohne Kooperation des Angeklagten zu Ende bringen, weshalb sich der Angeklagte – auch wegen seiner Subjektstellung – auf die Aburteilung der zugesagten Strafe verlassen können muss. Die absprachenbedingte Zusage einer bestimmten Strafe bei Geständnisablegung erfüllt daher insoweit das Tatbestandsmerkmal des Versprechens.379 Das Versprechen muss sich aber nach herrschender Meinung auch auf einen „gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil“ beziehen, damit es unzulässig 376  Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 250; vgl. auch Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 100; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37. 377  Hauer, Geständnis, S. 326. Zur Strafbemessungspraxis unten, G. I. 2. c). 378  Rönnau, Absprache, S. 194. Ähnlich Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 118, allerdings nur bei unterstellter Zulässigkeit von Urteilsabsprachen. Indes muss aus Fairnessgründen namentlich bei informellen Urteilsabsprachen der dem Justizsystem ausgelieferte Angeklagte auf eine faktische Bindung des Gerichts vertrauen können. Gegen jegliche Verbindlichkeit Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (120 f.). Zum Problem der Vorleistung des Angeklagten unten, D. II. 5. 379  Vgl. zum deutschen Recht Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 100; Braun, Stefan, Absprache, S. 71; Rönnau, Absprache, S. 194; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 250; Hauer, Geständnis, S. 326.



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ist.380 Das ist der Fall, wenn die Gewährung des Vorteils mit dem geltenden Recht nicht mehr im Einklang steht, etwa weil gegen Strafzumessungsrecht verstoßen wird. Der als Vorteil zugesagte Strafrabatt müsste somit das geltende Strafzumessungsrecht missachten.381 Um als Milderungsgrund nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB in Betracht zu kommen, muss das Geständnis bestimmte inhaltliche Anforderungen erfüllen.382 Nach der hier vertretenen Ansicht ist ein abgesprochenes Geständnis nicht unter § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB zu subsumieren und diesem auch unter anderen Gesichtspunkten keine strafmildernde Wirkung zuzusprechen.383 Die Berücksichtigung des abgesprochenen Geständnisses als Milderungsgrund bzw. der daraus resultierende Strafrabatt stehen dann aber nicht im Einklang mit dem Gesetz.384 Die Gegenmeinung385, welche auch ein taktisches Geständnis im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt, kommt hier zur Ungesetzlichkeit nur dann, wenn die Höhe der Strafmilderung auch mit Blick auf den Ermessensspielraum des Tatgerichts erkennbar nicht mehr mit dem Schuldgrundsatz zu vereinbaren ist.386 Daneben spricht gegen die Gesetzlichkeit des in Aussicht gestellten Strafmaßvorteils, dass sich das Gericht bereits im Rahmen der Verhandlungs­ gespräche dazu im Stande sieht, genau voraussagen zu können, wie viel das Geständnis bei seiner Ablegung wert sein soll. Es erscheint nicht akzeptabel, dass sich das Gericht vor Einvernahme des Angeklagten und Überprüfung seines Geständnisses – also bereits vor Durchführung einer Beweisaufnahme – beim Strafmaß festlegen zu können glaubt.387 Niemöller ist deshalb zuzustimmen, wenn er dem Gericht eine zuverlässige Prognose über das genaue Erscheinungsbild des zukünftigen Geständnisses aberkennt.388 Jeden380  Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134); dies., JBl 2011, 65 (66); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37; Fabrizy, StPO, § 164 Rn. 9; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 404. 381  Der Hinweis des Gerichts auf die strafmildernde Wirkung eines die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStPO erfüllenden Geständnisses gilt als zulässig; dazu bereits oben, D. I. 2. a) aa). 382  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (130). 383  Siehe dazu unten, D. III. 1. 384  Wie hier im Ergebnis Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37. 385  Medigovic, JBl 2011, 65 (66), die anmerkt, dass diese Ansicht vor der Entscheidung OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127 herrschende Meinung gewesen sei; siehe dazu auch dies., 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134 m. w. N.). 386  Hierzu auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37. 387  Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (149); Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 113 f. Zu diesem Problem unten, D. II. 8. 388  Niemöller, StV 1990, 34 (37).

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falls verstößt das In-Aussicht-Stellen einer bestimmten Strafmilderung für die Ablegung eines Geständnisses im Rahmen einer Urteilsabsprache gegen § 164 Abs. 4 S. 1, 1. Alt. öStPO.389 dd) Vorspiegelung Fraglich ist schließlich, ob das Gericht dem Angeklagten im Rahmen einer Absprache im Sinne von § 164 Abs. 4 S. 1, 2. Alt. öStPO etwas vorspiegelt. In der Urteilsabsprachendiskussion wird die Täuschungsalternative zurückhaltend problematisiert.390 Eine prägnante Erklärung dafür findet sich wohl bei Dencker, wonach „Erpressung“ einer Urteilsabsprache immanent sei, „Betrug“ aber nicht.391 Der OGH ist anderer Auffassung. Nach seiner Ansicht sollen Urteilsabsprachen auch wegen ihres ersichtlichen Verstoßes gegen das Vorspiegelungsverbot (§ 202 zweiter Fall öStPO a. F.)392 prinzipiell verboten sein.393 Offen ist, ob der OGH bereits das gerichtliche Urteilsabsprachenangebot an sich als Irreführung des Angeklagten bewertet. Ungeachtet dessen ist es jedoch nicht vollständig ausgeschlossen, dass das Gericht dem Angeklagten mit der Abgabe des Angebots etwa aufgrund der gewählten Formulierung konkludent vorspiegelt, die belastenden Beweise seien erdrückend und aus diesem Grund bestünden keinerlei Freispruchschancen mehr.394 Sagt das Gericht bei Geständnis eine Strafe zu, die es auch ohne Geständnis ausgeurteilt hätte, täuscht es den Angeklagten, da dieser irrtümlich glaubt, sein Geständnis hätte seine Strafe gemildert.395 Der Angeklagte kann nämlich aufgrund des geltenden Strafzumessungsrechts nicht überprüfen, ob das Gericht ihm tatsächlich die behauptete Strafmilderung gewährt hat.396 Ein extremeres Denkbeispiel wäre die Täuschung des Gerichts über seine Bereitschaft, den zugesagten Strafrabatt zu gewähren.397 Die im Rah389  Kirchbacher, in: WK-StPO (2013), § 164 Rn. 39; Danek/Mann, in: WK-StPO (2019), Vor §§ 220–227 Rn. 9. 390  Janke, Verständigung, S. 167; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 255. 391  Dencker/Hamm, Vergleich, S. 97. 392  § 202 S. 1, 2. Alt. öStPO a. F. entspricht § 164 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. öStPO, siehe Fn. 2. 393  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127; ebenso Kirchbacher, in: WK-StPO (2013), § 164 Rn. 39. Dazu oben, C. I. 394  Rönnau, Absprache, S. 197; Hauer, Geständnis, S. 335 f.; vgl. dazu auch Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 164 Rn. 8. 395  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 36; Hauer, Geständnis, S. 337 f.; vgl. auch Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955). 396  Dazu unten, G. I. 2. c). 397  Gerlach, Rechtsfolgen, S. 72; Hauer, Geständnis, S. 336 f.



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men der Urteilsbegründung an die Strafzumessung gestellten geringen Anforderungen erlauben es dem Gericht, einem abgelegten Geständnis den zugesicherten Strafrabatt vorzuenthalten, ohne dass eine Urteilsaufhebung in der Rechtsmittelinstanz zu befürchten ist. c) Ergebnis Der nemo-tenetur-Grundsatz verlangt für die Verwertbarkeit eines Geständnisses den autonomen und freien Entschluss des Angeklagten, sich selbst als Beweismittel zur Verfügung zu stellen. Freiwilliges Handeln des Angeklagten ist bei einer Urteilsabsprache nicht zu unterstellen, da auf den Angeklagten mittels unterschiedlicher Maßnahmen einzeln und in der Gesamtschau Druck ausgeübt werden kann. Diese Position nimmt wohl auch der OGH398 in seinem obiter dictum ein und lehnt deshalb eine Absprache über „zahlenmäßig determinierte Auswirkungen des Aussageverhaltens des Angeklagten auf die über diesen zu verhängende Strafe“ wegen ihres ersichtlichen Verstoßes gegen § 202 erster und zweiter Fall öStPO a. F. ab. Bei der Frage nach dem Einsatz einer verbotenen Vernehmungsmethode ist auf den objektiven Empfängerhorizont des Angeklagten abzustellen.399 Nach der hier vertretenen Auffassung droht deshalb das Gericht allein durch das Angebot einer geringeren, konkreten Strafe stets sowohl mit einer nicht mehr unvoreingenommenen Beurteilung des Sachverhalts als auch mit einer unzulässigen Strafschärfung, falls der Angeklagte das Angebot ausschlägt, so dass eine Drohung gemäß § 164 Abs. 4 S. 1, 3. Alt. öStPO vorliegt. Publike, rechtsstaatswidrige Vorfälle aus Deutschland verdeutlichen die Gefahr, dass auch die österreichische Urteilsabsprachenpraxis nicht ohne Weiteres davor gefeit ist, sich in eine am amerikanischen Vorbild angelehnte „Geständnis­ erzwingungsmaschinerie“400 zu verwandeln. Nicht vollkommen haltlos wird deshalb im Schrifttum ein Vergleich mit den Foltermethoden aus dem alten Inquisitionsprozess angedeutet.

3. Das falsche Geständnis Unbestritten muss ein Geständnis nicht notwendigerweise richtig sein.401 Falsche Geständnisse lenken vom Tatgeschehen und vom wahren Täter ab. 398  OGH 11 Os 77/04

JBl 2005, 127. in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 37. 400  Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 282; Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 103 f., spricht von einer „guilty plea-Erzwingungsmaschinerie“. Siehe dazu auch Tzannetis, ZIS 2016, 281 (283 f.). 401  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648). 399  Velten,

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Der Angeklagte kann sich aus den unterschiedlichsten Gründen zu einem falschen Geständnis entschließen.402 Er kann zum Beispiel gestehen, weil er um seiner selbst willen oder mit Rücksicht auf jemand anderen einen langwierigen, öffentlichen Prozess vermeiden möchte.403 Ebenso kommen Schwäche, Unverstand, Geltungsbedürftigkeit und psychische Störungen in Betracht.404 Suggestiblen Personen kann sogar eine „falsche Erinnerung“ an eine eigene Tatbegehung eingeredet werden.405 Bei Absprachen scheint die Motivation für ein falsches Geständnis besonders hoch: Die Quote falscher Geständnisse stieg in einem psychologischen Experiment bei einer simulierten Absprachesituation auf über 40 Prozent an, nachdem ein dem Strafrabatt ähnelndes Angebot gemacht wurde.406 Der Angeklagte muss bei einer Urteilsabsprache davon ausgehen, dass das Gericht ihn bereits nach der Aktenlage für schuldig hält und seine Kooperationsverweigerung beim Strafmaß zu seinen Lasten berücksichtigt, ohne dass dies wegen der Freiheit der Beweiswürdigung und des weiten Ermessensspielraums bei der Strafzumessung durch ein Rechtsmittel zu korrigieren wäre.407 Auch die Zusage einer exakten Strafe beeinflusst das Aussagemotiv des Beschuldigten in derart eklatanter Weise, dass selbst ein unschuldiger Angeklagter eine sicher zugesagte, milde Verurteilung vorsorglich einer erwartbaren härteren Strafe vorziehen kann.408 Eine zuverlässige Beurteilung seiner 402  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 730–738; siehe auch die Beispiele bei Hussmann, Das falsche Geständnis, S. 31–63; König, NJW 2012, 1915 (1917); Drews, Königin, S. 129–142; Sickor, Das Geständnis, S. 245–296; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 15.3; ders., in: Rissing‑van Saan‑FS, 115 (123 f.). 403  Peters, Karl, Fehlerquellen II, S. 21; vgl. auch Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 36. Zur Diskrepanz zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit: Schmoller, 4. Dreiländerforum (2014), 79 (80–93). Zur Prangerwirkung medialer Berichterstattung im Strafverfahren: Fröhling, Pranger, S. 326–351, 371–373; Walser, in: Lewisch, Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit (2015), 31 (36 f.). Zum „Liveticker“ aus dem Gerichtssaal: Salzborn, Christina, RichterInnenwoche 2015, 105 (105–107). Allgemein zu den Begleitschäden durch Strafverfahren: Rohregger, JBl 2017, 219 (220– 233). 404  Eder-Rieder, ÖJZ 1984, 645 (648); Peters, Karl, Fehlerquellen II, S. 20; Volbert, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 7 (2013), 230 (232). Siehe dazu auch Fall 1 (Doppelmord) bei Peters, Karl, Strafprozeß, S. 2 f. 405  So im deutschen Fall des angeblichen Totschlags zum Nachteil des Landwirts Rudolph R., Raske, Falscher Verdacht, S. 94–96; hierzu auch Schmittat, JSt 2017, 444 (444–447). Vgl. auch Öhner, in: Engberg-Pedersen u. a., Instanzen, 21 (29 f.). Zur falschen Erinnerung ebenso Sickor, StV 2015, 516 (520); in Bezug auf Zeugenaussagen Sautner, ÖJZ 2017, 902 (906 f.). 406  Volbert/Böhm, in: Volbert/Steller, Rechtspsychologie, 253 (259 f.); hierzu Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 257b-257c ff. Rn. 15. 407  Dazu oben, D. I. 2. a) bb).



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Freispruchschancen ist ihm insbesondere vor dem Hintergrund statistisch geringer Freispruchs- und Rechtsmittelerfolgsquoten kaum möglich.409 Anwaltlicher Beistand verringert das Risiko nicht generell, da das Gericht die alleinige Entscheidungskompetenz besitzt und zudem der Boden für die Berücksichtigung eigener anwaltlicher Interessen bereitet ist.410 Rät die Verteidigung dem Angeklagten nachdrücklich zu einem Geständnis, das der Erwartungshaltung des Gerichts entgegenkommt, kann dies nach aussagepsychologischen Erfahrungen auch dann zu falschen Aussagen führen, wenn der Tatbestand des § 164 Abs. 4 öStPO nicht erfüllt wird.411 Ungeachtet von der Persönlichkeit des Einzelnen sind die genannten Faktoren geeignet, bei schlichter Abwägung der Handlungsalternativen in einer nicht ganz unerheblichen Zahl von Fällen falsche Geständnisse hervorzubringen.412 Zur Vorbeugung gegen Fehlurteile ist deshalb eine Geständnisüberprüfung erforderlich, gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen.413 In der Praxis wird dies jedoch unter Umständen verkannt, solange nicht gerade exponierte Aspekte gegeben sind.414 Das „schlanke“ oder durch den Verteidiger vorformulierte Geständnis verhindert eine Kontrolle seiner Richtigkeit nach aussagepsychologischen Methoden oder sonstigen beweistechnischen Grundsätzen, denn es lässt insbesondere keine Überprüfung von Aussagemotivation und Aussagekonstanz zu.415 Entfällt die konventionelle Hauptverhandlung, ist die Aufdeckung falscher Geständnisse im Urteilsabspracheverfahren praktisch nicht möglich. Die Häufigkeit von falschen Geständnissen lässt sich mangels offenkundiger Anhaltspunkte nicht genau bestimmen. Oftmals herrscht die unrichtige Vorstellung, der angeborene Selbst-

408  Weigend, JZ 1990, 774 (780); Drews, Königin, S. 140 f.; vgl. auch Volbert, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 7 (2013), 230 (233). 409  Zur geringen Freispruchquote vgl. Sautner, ÖJZ 2017, 902 (904); beispielhaft auch die Untersuchung des Statistischen Bundesamtes in Deutschland bei Brings, Justiz auf einen Blick (2011), S. 12 [Internetquelle], wonach die Freispruchsquote in Deutschland lediglich bei drei Prozent liegt. 410  Siehe dazu oben, B. II. 2. c) und D. I. 2. a) bb). 411  Vgl. Eschelbach, ZAP 2014 Fach 22, 711 (717). 412  Beneke, Fehlerquelle, S. 54–57; Stalinski, Aussagefreiheit, S. 133; Drews, Königin, S. 141. Vgl. auch Bockemühl, 2. Dreiländerforum (2012), 199 (203). 413  Peters, Karl, StV 1987, 375 (376  f.); Lawaczeck, Phänomen, S. 163–169. Hierzu oben, D. I. 1. b) bb) (1) (a) und (2). Dazu auch Sello, Irrtümer der Strafjustiz, S. 209–248, der sich anhand der von ihm geschilderten Beispielsfälle österreichischer Wiederaufnahmeverfahren mit dem Problem von Fehlurteilen befasst. Zur Hinzuziehung eines Sachverständigen siehe auch Volbert, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 7 (2013), 230 (235 f.). 414  Hirschberg, Fehlurteil, S. 16, 17–24; Stern, StV 1990, 563. 415  Siehe oben, D. I. 1. b) bb) (1) (b).

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schutzautomatismus halte den Angeklagten von falschen Geständnissen ab.416 Sie kommen jedenfalls häufiger vor als viele Juristen es vermuten.417 Einer im Deutschland der 1950er und 1960er Jahre durchgeführten Untersuchung zufolge war – vor Etablierung der strafprozessualen Absprachenpraxis – in sieben Prozent der Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des unschuldigen Angeklagten ein falsches Geständnis von Bedeutung.418 Aktuell hat dieses Ergebnis eine vom BVerfG in Auftrag gegebene Umfrage bestätigt, bei der die Hälfte der befragten Verteidiger von Fällen berichteten, in denen der Angeklagte im Rahmen einer Urteilsabsprache ein nach ihrer Ansicht wahrscheinlich falsches Geständnis abgelegt hat.419 Angesichts der absprachen­ üblichen Anreize und Drohungen sowie taktischer Überlegungen besteht jedenfalls ein starkes Falschaussagemotiv.420 Ein qualifiziertes Falschaussagemotiv besteht im Rahmen von Urteilsabsprachen schließlich bei Geständnissen, bei denen die Aussage eines Mitangeklagten einen anderen belastet (Absprachen zu Lasten Dritter), und trotzdem werden solche Aussagen in der Praxis nicht immer hinterfragt, wenn sie mit der Aktenlage übereinstimmen und eine deutliche Arbeitsersparnis ermöglichen.421 Der belastete Dritte hat dann kaum eine Wahl. Er muss sich ebenfalls kooperativ zeigen, wenn er eine härtere Bestrafung verhindern will.422

4. Gesamtergebnis Entsprechend der Ansicht des OGH verstoßen Urteilsabsprachen gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit und den nemo-tenetur-Grundsatz. Dieser Umstand potenziert die Gefahr falscher Geständnisse, die dem Gericht als Urteilsgrundlage dienen. Von den Urteilsabsprachen praktizierenden Berufsjuristen wird diese Sachlage ignoriert, zumal sie bisher bei Mitwirkung an einer Absprache keine persönlichen Konsequenzen zu spüren bekommen.423 etwa Wagner/Rönnau, GA 1990, 387 (395); wie hier Stern, StV 1990, 563. Karl, Fehlerquellen II, S. 25 f.; Beneke, Fehlerquelle, S. 22–26; Volbert, in: Eisenberg‑FS (2009), 205 (207 f.). 418  Peters, Karl, Fehlerquellen II, S. 13–28; ders., Strafprozeß, S. 398. 419  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 183. Zu diesem Gutachten unten, F. I. 1. a) cc) (1). 420  Siehe oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). 421  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 10.4. 422  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 10.4; vgl. auch Pauka/ Link/Armenat, StraFo 2019, 5. 423  Dazu unten, G. I. 3. d). 416  So

417  Peters,



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 139

II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen Für den Strafprozess gelten weitere allgemeine Verfahrensgrundsätze. Auch sie sind geprägt durch das Rechtsstaatsprinzip, das als allgemeiner Rechtsgrundsatz den österreichischen Strafprozess durchzieht.

1. Gebot des gesetzlichen Richters Das Volk hat nach Art. 91 Abs. 1 B‑VG und § 11 öStPO an der Rechtsprechung mitzuwirken (Grundsatz der Laienbeteiligung). Nach Art. 83 Abs. 2, 87 Abs. 3 B‑VG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.424 Richter im Sinne dieser Vorschrift sind gemäß § 32 Abs. 4 öStPO auch die Laienrichter. Berufs- und Laienrichter bilden als Spruchkörper ein Gericht.425 Nach § 11 Abs. 1 öStPO wirken Laienrichter an der Hauptverhandlung mit. Abspracheverhandlungen finden jedoch heimlich außerhalb der Hauptverhandlung und unter Ausschluss der Laienrichter statt.426 Ist das erkennende Gericht ein solches mit Schöffenbeteiligung (Art. 91 Abs. 3 B‑VG), dann sind in der Hauptverhandlung alle Beweise noch einmal aufzunehmen, um den Schöffen, die ohne Kenntnis des Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens in die Hauptverhandlung gehen, eine objektive Grundlage für ihre subjektive Überzeugung zu ermöglichen.427 Art. 83 Abs. 2 B‑VG erfordert auch die Durchführung des strafgerichtlichen Verfahrens vor dem zuständigen Richter.428 Nach erfolgreichen Abspracheverhandlungen und entsprechender Geständnisablegung entfällt grundsätzlich die eigentlich gebotene Beweisaufnahme, damit das Gericht seine größtmögliche Arbeitsersparnis erreicht.429 Die Befugnis, in der Hauptverhandlung weitere Beweiserhebungen zu verlangen, haben Schöffen nicht (vgl. §§ 232 Abs. 1, 254 Abs. 2 öStPO). Anwesenheits- und Mitwirkungskompetenzen der Schöffen bezüglich der Hauptverhandlung werden damit ausgehebelt. Durch Urteilsabsprachen wird den Schöffen aber auch ihre Entscheidungskompetenz gemäß § 11 öStPO, wonach sie an der Urteilsfindung eigenverantwortlich mitwirken, entzogen.430 Ohne Grundrecht auf den gesetzlichen Richter jüngst Ratz, ÖJZ 2018, 351–360. 4. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2006), 13 (14). 426  Dazu Tipold, Absprachen, 169 (185); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 126. 427  Schick, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 15 (21). 428  Markel, in: WK-StPO (2015), § 1 Rn. 12. 429  Hierzu oben, D. I. 1. a). 430  A. A. Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 45, wonach die Schöffen trotz Absprache nicht daran gehindert seien, eine eigene, von der des Vorsitzenden abweichende Entscheidung zu treffen. 424  Zum

425  Lagodny,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Durchführung einer vollständigen Beweisaufnahme können sich die Schöffen mangels Aktenkenntnis keine subjektive Überzeugung bilden und somit faktisch keine eigene, vom Votum der Berufsrichter abweichende Entscheidung treffen.431 Zudem kommt es bei den Absprachegesprächen nicht nur zu einer Erörterung der jeweiligen Standpunkte der Berufsjuristen, sondern auch zu einer als endgültig zu wertenden Einigung über das Abspracheergebnis, also über das Urteil.432 An der Beratung oder Abstimmung zu diesem Urteil haben Schöffen somit nicht effektiv mitgewirkt.433 Sie waren bei den Erörterungen regelmäßig nicht anwesend. Selbst eine nachträgliche Information der Schöffen über die Einvernehmlichkeit der Urteilsfindung ist aufgrund der Brisanz und des daraus resultierenden Stillschweigens der Berufsjuristen fraglich und zudem ineffektiv.434 So bleibt den Schöffen auch die Tatsache, dass es sich bei dem abgelegten Geständnis des Angeklagten um ein abgesprochenes Geständnis handelt, wohl meist unbekannt. Die Entscheidungsfindung erfolgt somit de facto ohne Beteiligung und in Abwesenheit der Laienrichter. Sieht der Gesetzgeber die eigenverantwortliche Mitwirkung von Laienrichtern bei der Urteilsfindung vor, dann darf ihre Funktion nicht von der Urteilsabsprachenpraxis untergraben werden.435 Mangels Beteiligung der Laienrichter entzieht die Urteilsabsprachenpraxis dem Angeklagten damit seinen gesetz­ lichen Richter.

2. Gleichbehandlungsgrundsatz Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 7 Abs. 1 B‑VG, Art. 2 StGG besagt als wesentlicher Pfeiler des Rechtsstaates, dass Gesetze ohne sachlichen Grund nicht unterschiedlich auf einzelne Personen angewendet werden dürfen. Bei den informellen Urteilsabsprachen liegt es im richterlichen Ermessen, ob die Entscheidung für oder gegen ein konsensuales Verfahren getroffen wird.436 Da es keinen Maßstab dafür gibt, stellt sich die Frage der Willkür. Urteilsabsprachen werden gerne in komplexen Verfahren praktiziert, bei denen die Sach- oder Beweislage schwierig ist und eine um431  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 21.1. Zur Erlaubnis der Akteneinsicht von Schöffen: EGMR NJW 2009, 2871 (2872). 432  Dazu oben, D. I. 2. b) cc) und unten, D. II. 8. 433  Paeffgen/Wasserburg GA 2012, 535 (551). 434  Zum Erfordernis einer nachträglichen Unterrichtung der Laienrichter über eine getätigte Urteilsabsprache Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 161. 435  Vgl. zur marginalen Rolle von Schöffen nach Absprachen in der deutschen Strafrechtspraxis Rönnau, in: Schlothauer-FS, 367 (367–379). 436  Heiss, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 131 (132).



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 141

fangreiche Hauptverhandlung droht.437 Diese Konstellation findet sich insbesondere bei den modernen Kriminalitätsformen wieder, wozu etwa die Wirtschafts‑, Umwelt- und Betäubungsmitteldelikte zählen.438 Schon in dem angeklagten Deliktstyp steckt somit ein potenzieller Keim für Ungleichbehandlungen. Ein weiterer folgt aus dem bei solchen Prozessen betroffenen Personenkreis. Wirtschaftsstraftätern, den sogenannten „Wohlstandskriminellen“, wird im Vergleich zu allgemeinen Straftätern, den Kleinkriminellen, auch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung häufiger die Möglichkeit einer einvernehmlichen Erledigung eröffnet.439 Eine Zweiklassenjustiz nach dem Prinzip „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“440 wird befürchtet.441 Neben der Arbeitsbelastung des Gerichts und dem Zeitpunkt des Geständnisses ist ein weiterer Faktor das Vertrauensverhältnis zwischen Justiz und Verteidigung. Bei einem nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten scheidet eine Gesprächsbereitschaft regelmäßig aus, da er von den Berufsjuristen nicht als Verhandlungspartner akzeptiert wird.442 Der Angeklagte muss sich einen gewandten oder bei Gericht angesehenen Anwalt leisten können.443 Andererseits wird kämpferische Verteidigung zum Recht der Mutigen, weil der nicht geständige Angeklagte den Unwillen des Gerichts mit der Folge einer harten Strafe auf sich ziehen kann.444 Gewinnen kann bei einer Urteilsabsprache deshalb von vornherein nur der Schuldige. Dem unschuldigen Angeklagten nimmt das Angebot einer Urteilsabsprache jede Freispruchschance, weil die Schuldannahme gleichsam die Geschäftsgrundlage der Urteilsabsprache ist. Mithin besteht die Gefahr einer Reihe von Verstößen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, die nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigen sind.445 Insbesondere prozessökonomische Aspekte können nicht zur Rechtfertigung der Verstöße dienen.446

437  Dazu

oben, B. II. 1. a) bb) und b). Österreichisches AnwBl 2010, 402 (412); Velten, in: WKStPO (2015), Nach § 1 Rn. 30. 439  Mellinghoff, in: ÖJK, Strafverfolgung, 145 (146); vgl. auch Pilgram, in: ÖJK, Strafverfolgung, 177; Brinek, in: Pilgermair, Wandel, 537 (539 f.). 440  Mellinghoff, in: ÖJK, Strafverfolgung, 145 (146). 441  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (413); Eser, ZStW 104 (1992), 361 (394 f.). 442  Dazu sogleich unten, D. II. 3. 443  Dazu oben, B. II. 2. c) und D. I. 1. c) bb) (1). Vgl. auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 30. 444  Siehe oben, D. I. 2. a) bb). 445  Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (122  f.); Ratz, RichterInnenwoche (2007), 223 (226); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 30. 446  Dazu unten, D. IV. 438  Kier/Bockemühl,

142

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

3. Rechtliches Gehör des Angeklagten Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (fair‑trial-Grundsatz).447 Das Recht auf rechtliches Gehör (§ 6 Abs. 2 öStPO) stellt die Beeinflussung der Willensbildung des Gerichts durch den Angeklagten sicher.448 Vor Erlass einer Entscheidung muss es dem Angeklagten möglich sein, sich zu dem vorliegenden Sachverhalt und Anklagevorwurf zu äußern.449 Aus dem Umkehrschluss der §§ 234, 427 öStPO folgt die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung, aus der sich gleichzeitig ein Anwesenheitsrecht des Angeklagten ergibt.450 Entscheidendes Merkmal der Urteilsabsprachen ist aber, dass sie außerhalb der Hauptverhandlung verhandelt werden. Der Angeklagte wird an diesen Verhandlungen, welche die Verteidigung auch ohne Kenntnis des Angeklagten aufnehmen kann,451 grundsätzlich nicht beteiligt.452 Für die Berufsjuristen ist er kein „adäquater ‚Verhandlungspartner‘ “453. Begründet wird dies in Verteidigerkreisen damit, der Angeklagte sei vor dem falschen Eindruck zu schützen, er werde zum Objekt des Verfahrens degradiert.454 Die Beteiligten bewegten sich bei einer Urteilsabsprache in einem „sensiblen Bereich“, in dem „vorsichtig taktiert“ werden müsse.455 Der eigentliche Grund dürfte jedoch darin liegen, dass sich die Interessen der Verteidigung nicht stets mit denen des Angeklagten decken.456 Die Berufsjuristen befürchten bei der Teilnahme des Angeklagten das Platzen der Verhandlungen.457 Dem Angeklagten ist es durch seine Exklusion nicht mög447  Wiederin,

in: WK-StPO (2014), § 6 Rn. 6. OGH 15 Os 85/07z SSt 2007/67 = EvBl 2008/30, 156 (158). 449  Wiederin, in: WK-StPO (2014), § 6 Rn. 10; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.82. 450  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 753–755. Vgl. RIS-Justiz RS0101569; RS0115797. 451  Einer deutschen Studie zufolge setzen ca. 50 Prozent der Verteidiger ihre Mandanten ungenügend oder gar nicht über die Absicht der Durchführung einer Urteilsabsprache in Kenntnis, Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901). 452  Dass der Angeklagte von den Verfahrensbeteiligten nicht als gleichwertiger Verhandlungspartner angesehen wird, bestätigt auch ein Umfrageergebnis aus Deutschland, wonach der Angeklagte bezogen auf alle Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung von nur 2,4 Prozent der Befragten als typischer Verhandlungsteilnehmer angesehen wird, Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (75). 453  Schmitt, GA 2001, 411 (412). 454  So etwa Dahs, NStZ 1988, 153 (157 f.); vgl. auch Widmaier, StV 1986, 357 (359). 455  Herrmann, JuS 1999, 1162 (1164). 456  Siehe dazu oben, B. II. 2. c) und d). 457  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901); ders., 58. DJT (1990), Band I, S. 46. Vgl. auch Beulke/Swoboda, JZ 2005, 67 (71). 448  Vgl.



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 143

lich, sich einen eigenen Überblick über seine Situation zu verschaffen. Stets ist er auf die Information durch seine Verteidigung angewiesen. Diese teilt ihm das Verhandlungsergebnis mit. Der Angeklagte muss sich darauf verlassen, dass die Verteidigung in seinem Sinne gehandelt hat und die Zusammenfassung des Gesprächsinhalts vollständig und realitätsgetreu ist. Ein solches Transportieren der besprochenen Tatsachen ist aber zumindest nicht zwingend, da bei einer Urteilsabsprache auch der Verteidiger eigene Interessen verfolgen kann.458 Die Rolle des Angeklagten beschränkt sich jedenfalls auf die Zustimmung zu dem von der Verteidigung übermittelten Verhandlungsergebnis. Mangels Offenbarung der Urteilsabsprache und Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung hat der Angeklagte auch dort keine Erörterungsmöglichkeit des Abspracheergebnisses mit dem Gericht, wodurch er faktisch zum bloßen Verfahrensobjekt degradiert wird.459 Das Teilhaberecht des Angeklagten bezweckt gerade die Möglichkeit der selbständigen Wahrnehmung. Dass der Angeklagte seine Zustimmung zu dem Abspracheergebnis erteilt, indem er ein Geständnis ablegt, genügt für die Wahrnehmung seines Äußerungsrechts nicht. Das Recht auf rechtliches Gehör des Angeklagten wird bei Urteilsabsprachen unterlaufen.460

4. Recht auf Verteidigung Als Teil des fair-trial-Prinzips muss dem Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK eine effektive Verteidigung ermöglicht werden. § 7 Abs. 1 öStPO statuiert dazu das Mindestmaß.461 Innerhalb des Mandatsverhältnisses müssen die Interessen des Mandanten zu dessen Schutz an erster Stelle stehen.462 Jede Entscheidung, welche die Verteidigung fällt, muss von diesem Grundsatz geleitet werden. Diese Voraussetzung ist für die Entstehung des Vertrauensverhältnisses zwischen Angeklagtem und seiner Verteidigung wesentlich,463 ihre Erfüllung bei Abspracheverhandlungen aber jedenfalls fraglich. Urteilsabsprachen bringen der Verteidigung eigene Vorteile gegenüber einem konventionell durchgeführten Verfahren. Diese Vorteile gehen zwar stets mit den Eigeninteressen der Justiz an einer Urteilsabsprache kon458  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901); Essl, JSt 2010, 10 (12). Dazu oben, B. II. 2. c). 459  Schünemann, NJW 1989, 1895 (1901); Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (41); Eschelbach, HRRS 2008, 190 (201). Zur Druckausübung auf den Angeklagten oben, D. I. 2. a) bb). 460  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 54. 461  Achammer, in: WK-StPO (2009), § 7 Rn. 12; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.106. 462  Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.23. 463  Zu den Pflichten des Verteidigers eingehender unten, G. I. 3. e).

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

form, können aber den Interessen des Angeklagten zuwiderlaufen.464 Bei den geheimen Abspracheverhandlungen zwischen Verteidigung und Justiz ist der Angeklagte nicht zugelassen, so dass die Verteidigung ihre Eigeninteressen auch ungehindert durchsetzen könnte. Der Angeklagte, der den von der Verteidigung ausgehandelten Vorschlag nicht annehmen will, riskiert aufgrund des möglichen „Superschulterschlusses“ zwischen Justiz und Verteidigung, dass die eigene Verteidigung zum Gegenspieler wird.465 Im Rahmen von Urteilsabsprachen ist eine professionelle Verteidigung somit gefährdet.

5. Scheitern der Abspracheverhandlungen Der fair-trial-Grundsatz aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK erscheint bei Urteilsabsprachen insbesondere dann gefährdet, wenn die Absprache scheitert. Konkret geht es dabei um die Frage der Verwertbarkeit des vorgeleisteten Geständnisses.466 Der Angeklagte überschreitet den „point of no return“, sobald er bzw. sein Verteidiger467 sich auf Verhandlungsgespräche mit der Justiz einlässt, da schon seine Verständigungsbereitschaft praktisch als Schuldindiz verstanden wird.468 Bereits Anzeichen für eine Geständnisbereitschaft sind ein „point of no return“.469 Das Gericht deutet die Verständigungsbereitschaft als Signal, dass sich der Angeklagte zumindest nicht für unschuldig hält, weil es davon ausgeht, dass er bzw. sein Verteidiger sich ansonsten nicht auf ein Verhandlungsgespräch einlassen würde. Das Gericht bietet dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger die Urteilsabsprache gerade deshalb an, weil es ihn für schuldig hält. In den Augen der Justiz „passt also alles ins Konzept“. Dass die Verständigungsbereitschaft des Angeklagten vollkommen andere Ursachen haben kann,470 wird dann ignoriert. Scheitert die Absprache und hat sich der Angeklagte bereits geständig gezeigt, darf aus Fairnessgründen ein solches Geständnis eigentlich nicht mehr als Urteilsgrundlage verwertet werden.471 Aber selbst bei einem Verwertungsverbot472 als Folge eines hinfällig gewordenen Geständnisses bleibt 464  Siehe

oben, B. II. 2. c) und e). NJW 1989, 1895 (1901). 466  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 56, 64. 467  Dazu oben, D. II. 3. 468  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (408); vgl. auch Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19); Essl, JSt 2010, 10 (12); Paeffgen, in: SK-StPO, § 202a Rn. 32. 469  Dahs, NStZ 1988, 153 (156). 470  Zu diesen anderen Ursachen oben, D. I. 2. und 3. 471  Vgl. § 257c Abs. 4 S. 3 dStPO. 472  Zur Reichweite und Umgehung von Verwertungsverboten Lechner, Stellung, S. 178–183, 183–190. 465  Schünemann,



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 145

dem Gericht im weiteren Verfahren ein Geständnis jedenfalls als Tatsache bekannt und kann den Tatrichter zumindest unbewusst weiter beeinflussen, wenn es um die Glaubhaftigkeitsbeurteilung einer nun bestreitenden Einlassung des Angeklagten geht.473 Dies führt zu einer Erhöhung der unabhängig davon vorhandenen „Perseveranz‑, Inertia- und Schulterschlusseffekte“.474 Die Vorleistung des Angeklagten ist deswegen mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht in Einklang zu bringen. Das Tätigwerden des iudex a quo im weiteren streitigen Verfahren steckt unter verfahrenspsychologischen Aspekten voller rechtsstaatlicher Probleme.475

6. Legalitätsprinzip Das in §§ 2, 4 Abs. 1 öStPO verankerte Legalitätsprinzip476 bedeutet bei Vorliegen der Voraussetzungen Verfolgungs- und Anklagezwang gegen jeden Verdächtigen.477 Explizit geregelte Ausnahmevorschriften478, die das Legalitätsprinzip einschränken, verdeutlichen, dass die Maxime ansonsten ausnahmslos gilt.479 Werden diese Normen im Rahmen von Urteilsabsprachen missbräuchlich – etwa zu umfangreich oder ohne Vorliegen ihrer Voraussetzungen – eingesetzt, ist der grundsätzlich indisponible staatliche Strafanspruch und dadurch das Legalitätsprinzip betroffen.480 Die Staatsanwaltschaft hat aufgrund ihrer staatlichen Machtmittel die Möglichkeit, ihre und damit ebenso die Verhandlungsposition des Gerichts zu verbessern, indem es auch 473  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19; 25); Kier/ Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (411); Isfen, ZStW 125 (2013), 325 (335). Vgl. auch Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (121): Das abgelegte Geständnis sei „faktisch irreversibel“. 474  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 5.1. Zu den Effekten oben, B. III. 3.; D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 475  Siehe dazu unten, D. II. 9. 476  Zum abweichenden Begriff des Legalitätsprinzips im öffentlichen Recht (Art. 18 Abs. 1 B‑VG), Stolzlechner, Einführung, Rn. 862. Siehe auch Hinterhofer/ Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.4, die den Begriff ausschließlich im verfassungsrechtlichen Sinne (Gesetzesbindung) verstehen und insofern auf § 5 öStPO verweisen. 477  Fabrizy, StPO, § 4 Rn. 3. 478  Siehe etwa §§ 191, 198 ff. öStPO und § 35 SMG. 479  Fabrizy, StPO, § 4 Rn. 4. 480  Vgl. dazu Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 124 f. Zum Rechtsmittelverzicht hinsichtlich des die anderen Fakten erledigenden Urteils als Tauschobjekt im Rahmen des § 192 öStPO: Tipold, Absprachen, 169 (171), der ein solches Vorgehen mangels Sachzusammenhangs zwischen Rechtsmittelbefugnis und Ausnahmen vom Anklagezwang ablehnt; so auch Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (58). Zu Absprachen während des laufenden Ermittlungsverfahrens Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (87).

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

die Taten als Verhandlungsmasse anklagt, bei denen sich sonst eine Einstellung angeboten hätte („overcharging“481).482

7. Grundsätze der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit Der Öffentlichkeitsgrundsatz der Hauptverhandlung im Strafverfahren (Art. 90 Abs. 1 B‑VG, §§ 12 Abs. 1, 228 Abs. 1 öStPO) ist eine essenzielle Maxime demokratischer Kontrolle im Rechtsstaat.483 Jedermann muss die Möglichkeit haben, an einer Hauptverhandlung als Zuhörer teilzunehmen.484 Diese Volksöffentlichkeit bezweckt die Kontrolle einer Strafverhandlung durch die Allgemeinheit und dient damit nicht nur dem Informationsinteresse des Volkes, sondern auch dem Schutz des Angeklagten.485 Öffentliche Kon­ trolle dient dem Gehör des Alternativvorbringens der Verteidigung.486 Die Öffentlichkeit ist für eine Kontrolle der freien richterlichen Beweiswürdigung zentral, was die Nachvollziehbarkeit des Prozessergebnisses und damit die Kenntnis der verfügbaren Beweismittel voraussetzt, weshalb sich der Öffentlichkeitsgrundsatz auf die vollständige Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung beziehen muss und nicht nur auf die Anklageverlesung, die Schlussplädoyers und das Urteil.487 Ebenso zählen dazu nach dem materiellen Öffentlichkeitsbegriff alle Verhandlungen zwischen den Verfahrensbeteiligten, die sich materiell auf das Verfahren und das Urteil beziehen.488 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz aus §§ 13, 258 Abs. 1 öStPO betrifft die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung und des Beweismittels. Das Tatgericht darf nach § 12 Abs. 2 öStPO sein Urteil nur auf den persönlichen Eindruck stützen, welchen es vom Angeklagten und den Beweismitteln in der Haupt481  Zum

„overcharging“ die Nachweise in Fn. 245. JSt 2009, 181 (183). 483  Birklbauer, JSt 2009, 109; Schmoller, in: WK-StPO (2012), § 12 Rn. 16; siehe auch ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 35 f. (abrufbar unter: siehe Fn. 146): „Sinn und Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist die Kontrolle, die das Volk bzw. die Allgemeinheit ausüben können soll. Rechtsstaat und Demokratie bedürfen der Öffentlichkeit.“ 484  Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), § 228 Rn. 4, 5; Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 51. 485  Lienbacher, ÖJZ 1990, 425 (428); Zacharias, ÖJZ 1996, 681 (683); Fabrizy, StPO, § 12 Rn. 1; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 78. 486  Velten, in: SK-StPO, Vor § 261 Rn. 17. 487  RIS-Justiz RS0121979; Birklbauer, JSt 2009, 109 (110 f.); Öner, JBl 2008, 675 (676). 488  Schmoller, in: WK-StPO (2012), § 12 Rn. 8; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 43; Danek/Mann, in: WK‑StPO (2017), § 228 Rn. 7. 482  Velten,



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 147

verhandlung gewonnen hat (Unmittelbarkeit im formellen Sinn, §§ 245 Abs. 1, 252 öStPO).489 Zudem muss der Angeklagte seine Erklärungen grundsätzlich in der Hauptverhandlung persönlich abgeben und es dürfen nur Vorgänge, die in der Hauptverhandlung stattgefunden haben, dem Urteil zugrunde gelegt werden (Unmittelbarkeit im materiellen Sinn).490 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz garantiert die Beteiligungsrechte des Angeklagten namentlich durch die Äußerungsrechte (§ 248 Abs. 3 öStPO) und Fragebefugnisse (§ 249 Abs. 1 öStPO) in der Hauptverhandlung.491 Das Mündlichkeitsprinzip ist in Art. 90 Abs. 1 B‑VG, §§ 12 Abs. 1 S. 1, 258 Abs. 2 öStPO festgeschrieben. Einfachgesetzlich legt § 12 Abs. 2 öStPO fest, dass nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff dem Urteil zugrunde gelegt werden darf.492 Die Zuhörer im Gerichtssaal sollen als Vertreter der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung im vollen Umfang folgen können. Diese Maxime steht somit in engem Zusammenhang mit den beiden anderen Prinzipien.493 Urteilsabsprachen haftet aufgrund ihres eigentümlichen Zustandekommens und ihrer Geheimhaltung unvermeidlich der Verdacht an, dass die Justiz etwas verbergen will.494 Das Volk kann hier seine Kontrollfunktion zum Schutz vor missbräuchlichen Vorgehensweisen in einem Strafverfahren nicht erfüllen.495 Es hat keinen Einblick in den heimlichen Aushandlungsvorgang. Das dort produzierte Geständnis dient als alleinige Beweisgrundlage und wird zur Beurteilung seines Beweiswertes lediglich mit dem Akteninhalt abgeglichen, so dass das Ermittlungsverfahren die Urteilsgrundlage bildet.496 Somit sind alle drei genannten Grundsätze betroffen.

489  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 62; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.193. 490  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 66. 491  Lässig, ÖJZ 2006, 406 (407). 492  Schmoller, in: WK-StPO (2012), § 12 Rn. 8; Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 50. 493  Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 2.169. 494  Siehe oben, D. II. 1. und D. II. 3. Dazu auch Birklbauer, ZIS 2009, 101 (104 f.); zum Aspekt des Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), § 228 Rn. 4. 495  Tipold, Absprachen, 169 (183 f.); Birklbauer, JSt 2009, 109 (111); ders., Prozessgegenstand, S. 126; vgl. dazu Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), § 228 Rn. 4. 496  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 8. Hierzu oben, D. I. 1. b) bb) (2).

148

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

8. Freie richterliche Beweiswürdigung Über das Ergebnis einer Beweisaufnahme entscheidet das Gericht gemäß §§ 14, 258 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 öStPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.497 Die Überzeugungsbildung des Gerichts hat in der Hauptverhandlung stattzufinden und verlangt, dass eine Entscheidung erst nach einer hinreichend umfassenden Beweisaufnahme ­ergeht.498 Bei Urteilsabsprachen fällt das Gericht seine Entscheidung aber – spätestens – während der geheimen Abspracheverhandlung. Dort werden die Gründe, welche für die Verurteilung in der abgesprochenen Form sprechen, anhand der Akten behandelt und es wird unter den drei Berufs­ juristen ein für alle Teilnehmer akzeptables Ergebnis gefunden. Die anschließende Hauptverhandlung verkommt zum reinen „Verkündungstermin“499 dieses Ergebnisses und wird mangels Bekanntgabe der Urteilsabsprache nicht grundlos als „Schmierentheater“500 bezeichnet. Es ist illusorisch zu glauben, das Gericht treffe die eigentliche Entscheidung erst in der Hauptverhandlung aufgrund des dort abgelegten Geständnisses.501 In der Literatur wird zwar betont, das Gericht gebe mit der Zusage einer bestimmten Strafe lediglich eine „Prognose“ über das Strafmaß für den Fall eines Geständnisses ab und spreche damit nur ein „Wahrscheinlichkeitsurteil“ aus, dessen vorläufige Natur insbesondere bei Beteiligung von Laienrichtern offensichtlich werde.502 Eine rechtliche Verbindlichkeit könne dieser Zusage gerade nicht zukommen.503 Bei einer Urteilsabsprache hat sich das Gericht aber bereits faktisch an das Abspracheergebnis gebunden.504 Zudem wird gerade bei einer Urteilsabsprache die Funktion der Teilhabe der Schöffen an der Urteils­ findung aufgrund ihrer Nichtbeteiligung an den Verhandlungsgesprächen ausgehöhlt,505 so dass die These, die „Prognose“ könne sich bei gesetzlich vorgesehener Mitwirkung der Schöffen noch ändern,506 nicht überzeugt. Eine 497  Schmoller, 498  Schmoller,

41. Ottensteiner (2013), 45 (55). in: WK-StPO (2012), § 14 Rn. 9; ders., 41. Ottensteiner (2013), 45

(50 f.). 499  Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1031 f.). 500  Weider (Deal), StV 1982, 545 (545, 552). 501  So aber Tipold, Absprachen, 169 (181). Dazu oben, D. I. 2. b) cc). 502  Tipold, Absprachen, 169 (181). 503  Tipold, Absprachen, 169 (181); Bertel, 1. Österreichischer Strafverteidi­ ger­ Innentag (2003), 9 (14); Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (120 f.); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 118. 504  Hierzu oben, D. I. 2. b) cc). 505  Siehe oben, D. II. 1. 506  So Tipold, Absprachen, 169 (181 Fn. 72); vgl. ders./Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (147).



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 149

freie richterliche Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung im Sinne des § 258 Abs. 2 öStPO kann bei einer faktischen Bindung des Gerichts an das vorab zugesagte Strafmaß nicht mehr stattfinden.507 Die Verhandlungsgespräche finden durch Beweisantizipation anhand der grundsätzlich von der Polizei ohne ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung zusammengetragenen Akteninformationen statt, obwohl §§ 3, 258 öStPO eine solche Antizipation ausschließen und zunächst die Überprüfung des Akteninhalts durch Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung fordern, zumal nach der Theorie der kognitiven Dissonanz Beweisantizipationen auf die eine Entscheidung treffende Person tendenziös einwirken.508 Ebenso ist Leitprinzip einer Urteilsabsprache, dass sich das Gericht die eigentlich geschuldete Geständnisüberprüfung weitestgehend erspart, weil eine solche mit der verfolgten größtmöglichen Arbeitsersparnis kollidiert.509 Beschränkt sich die Hauptverhandlung auf die Entgegennahme des Geständnisses, fehlt es schon ganz allgemein an den Voraussetzungen für ein Abgehen von den Hypothesen aus den Akten. Eine freie richterliche Beweiswürdigung im Sinne des § 258 Abs. 2 öStPO scheidet auch deshalb aus.

9. Unschuldsvermutung und Neutralität des Gerichts §  8 öStPO übernimmt die Unschuldsvermutung aus Art.  6 Abs.  2 ­EMRK.510 Solange die Schuld des Angeklagten nicht durch ein gesetzlich geregeltes, förmliches Verfahren nachgewiesen wurde, wird seine Unschuld vermutet.511 Das Gericht darf nach dem in‑dubio-pro-reo-Grundsatz bei der Verurteilung keinen Zweifel mehr an der Schuld des Angeklagten haben (§§ 14, 259 Nr. 3 öStPO).512 Initiiert das Gericht aber vor Eröffnung der Hauptverhandlung oder zu deren Beginn eine Urteilsabsprache, gibt es zu erkennen, von der Schuld des Angeklagten allein aufgrund der Verdachtsannahme aus den Akten überzeugt zu sein, also ohne dass die Schuld in einem förmlichen Verfahren nachgewiesen worden wäre.513 Mit der gerichtlichen Verständigungsini­tiative wird das Umschiffen der von der Aufklärungspflicht auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 40. Singelnstein, StV 2016, 830 (831). Zur Theorie der kognitiven Dissonanz oben, B. III. 3.; D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 509  Dazu oben, D. I. 1. b) bb) (2). 510  Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 41. 511  Grabenwarter, in: WK-StPO (2009), § 8 Rn. 4; Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (63); Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 41. 512  Grabenwarter, in: WK-StPO (2009), § 8 Rn. 5; Schmoller, 41. Ottensteiner (2013), 45 (47 f.); Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 72. Zur Überzeugungsbildung des Gerichts oben, D. I. 1. b) cc) (2). 513  Tipold, Absprachen, 169 (184 f.); Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 95 f. 507  So

508  Vgl.

150

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

gebotenen Beweisaufnahme eingeleitet;514 die Unschuldsvermutung ist daher betroffen.515 Auch bei Realisierung der Urteilsabsprache steht mangels Sachaufklärung im Strengbeweisverfahren der gesetzliche Schuldnachweis weiter aus, zumal der Mitwirkung des Angeklagten an einer Urteilsabsprache keine Freiwilligkeit unterstellt werden kann.516 Erschwerend kommt hinzu, dass bereits das Signalisieren einer Geständnisbereitschaft als Schuldindiz verstanden wird.517 Kritisch ist in diesem Zusammenhang auch die Neutralität des Tatgerichts zu beurteilen. § 3 Abs. 2 öStPO verlangt, ebenso wie Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, dass alle Richter und Strafverfolgungsorgane ihr Amt unparteilich und unvoreingenommen ausüben. Ein akzeptables Urteil setzt einen unbelasteten Umgang mit dem strafrechtlich relevanten Sachverhalt voraus, der die Übertragung der allein verbindlichen Schuldfeststellung an das Gericht rechtfertigt.518 Nach der Rechtsprechung des OGH ist für die Frage der vollen Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Richters auf die Sicht eines verständigen und würdigen, objektiven Beurteilers abzustellen.519 § 43 Abs. 1 Nr. 3 öStPO ist die innerstaatliche Ausgestaltung des grundrechtlichen Anspruchs auf Entscheidung durch ein unparteiisches Gericht als Teilaspekt des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.520 Eine Ausgeschlossenheit gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 3 öStPO nimmt der OGH nicht schon dann an, „wenn sich ein Richter vor der Entscheidung eine Meinung über den Fall gebildet hat, sondern nur, wenn die Annahme begründet erscheint, dass er auch angesichts allfälliger gegenteiliger Verfahrensergebnisse nicht gewillt sei, von dieser abzugehen“.521 Bei Urteilsabsprachen scheint es an dieser notwendigen Ergebnisoffenheit bis zur Entscheidung über Schuld und Strafe zu fehlen,

514  Dazu

oben, D. I. 1. a). 58. DJT (1990), Band I, S. 96. 516  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 44, die den Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nicht schon im gerichtlichen Angebot einer Strafmilderung erblickt, sondern erst in der urteilsabsprachenbasierten Verurteilung des gemäß § 164 Abs. 4 öStPO nicht freiwillig handelnden Angeklagten. Zur Freiwilligkeit des Angeklagten oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b). 517  Zu diesem „point of no return“ oben, D. II. 5. 518  Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (120). 519  OGH 22.05.2013, 15 Os 39/13v; RIS-Justiz RS0097086; Lässig, in: WK-StPO (2012), § 43 Rn. 10. Zum Begriff der richterlichen Unparteilichkeit auch Świderski, ÖJZ 2019, 13 (15). 520  Lässig, in: WK-StPO (2012), § 43 Rn. 13; Eichinger, RZ 2012, 266; vgl. dazu auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 41, 46. 521  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65); siehe auch OGH 14.09.1966, 12 Os 134/66; hierzu die einschlägige Rechtssatzkette RIS-Justiz RS0096733; Lässig, in: WK-StPO (2012), § 43 Rn. 12. 515  Schünemann,



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 151

wenn der Richter den Impuls zu einer Absprache setzt.522 Es wurde bereits festgestellt, dass sich das Gericht mit dem Versprechen einer konkreten Strafmaßzusage faktisch selbst gebunden hat.523 Bei Verwirklichung der Urteilsabsprache beschränkt sich die Hauptverhandlung auf die Entgegennahme des Geständnisses, so dass für ein Abgehen von den Hypothesen aus den Akten, auf denen das Strafmaßangebot des Gerichts fußt, generell kein Raum ist, weshalb eine freie Beweiswürdigung gemäß §§ 14, 258 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 öStPO unterbleibt.524 Velten hebt des Weiteren zu Recht hervor, dass jeder Kurswechsel des Gerichts von der erteilten Strafmaßzusage deren vorherige Unrichtigkeit bekunden würde und verweist in diesem Zusammenhang auf die Theorie der kognitiven Dissonanz, wonach getroffene Vorabentscheidungen signifikant den Vorgang bei der anschließenden Erlangung und Verwertung von Informationen bestimmen, so dass solche Informationen unterschätzt werden, die gegen ein Festhalten an der Strafmaßzusage opponieren.525 Dieses sogenannte „Bias“ beschneidet die Neutralität, weil es als quasi unbewusste Handlungsweise dazu führt, dass der getroffenen (Vor-) Entscheidung zuwiderlaufende Erkenntnisse nicht korrekt beurteilt werden.526 Unterbreitet das Gericht dem Angeklagten ein bestimmtes Strafmaßangebot, resultiert daraus die Besorgnis der Befangenheit.527 Darüber hinaus muss die Drucksituation des Angeklagten in die Neutralitätsfrage miteinfließen.528 Mit seinem Angebot einer konkreten Strafmaßzusage vermittelt der Richter dem Angeklagten, dass er nicht bereit ist, seine vorgefasste Meinung bezüglich der Schuld des Angeklagten im weiteren Verfahren zu ändern. Speziell die konkret benannte Strafmaßspanne ist ein effektives Mittel, den Angeklagten zu einem Geständnis zu drängen, weshalb auch der OGH in der Höhe der in Aussicht gestellten Strafe ohne Geständnis einen möglichen Hinweis auf eine Befangenheit des Richters erblickt.529 Die bei Urteilsabsprachen vom Richter verfolgten persönlichen Interessen530 an einer

522  Eschelbach,

in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 26. D. I. 2. b) cc). 524  Dazu soeben, D. II. 8. 525  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 47. Zur Theorie der kognitiven Dissonanz bereits oben, B. III. 3. 526  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 47. Dazu auch Lewisch, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 117 (120 f.); Guthke, in: Strafverteidigervereinigungen, Welche Reform braucht das Strafverfahren?, 153 (157–160). 527  A. A. Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 36. 528  So auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 48. Zur Drucksituation oben, D. I. 2. a) bb) und b) aa). 529  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65). 530  Zu den Eigeninteressen des Gerichts oben, B. II. 2. a). 523  Oben,

152

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

raschen Verfahrensbeendigung durch ein rechtsmittelfestes Urteil führen zur Aufgabe seiner Position des Außenstehenden.531 Die vorstehende Problematik potenziert sich aufgrund der Personenidentität zwischen dem an der Abspracheverhandlung beteiligten und dem für den streitigen Verfahrensteil zuständigen Gericht, wenn aufgenommene Verhandlungen scheitern.532 Bei Abspracheverhandlungen findet mehr als nur eine gedankliche Vorbefassung mit dem Entscheidungsstoff statt. Mit seinem Angebot einer bestimmten Strafmaßzusage hat sich das Gericht auf ein bestimmtes Verfahrensergebnis festgelegt. Es kann dem Gericht gerade nicht gelingen, den bereits vorhandenen Bewertungsprozess auszublenden und die für den streitigen Verfahrensteil neue Beweisaufnahme vollkommen unvoreingenommen zu bewerten.533 Dies dennoch vom Gericht zu verlangen, stellt sich als eine menschliche Überforderung dar.534 Die obigen Ausführungen zur Theorie der kognitiven Dissonanz entfalten auch hier ihre Geltung.535 Hatte der Angeklagte bereits Geständnisbereitschaft signalisiert, kommt dies erschwerend hinzu.536 Die Schuldannahme des Richters führt nach der Theorie der kognitiven Dissonanz zu sogenannten Dissonanzreduktionen, wenn dem Verdacht entgegenstehende Informationen aufkommen.537 Die Unzufriedenheit des Gerichts über die geplatzte Absprache wird der Angeklagte im weiteren Verfahren nicht zuletzt anhand des Strafmaßes spüren können. Die Eigeninteressen des Gerichts an einer Urteilsabsprache bestehen fort. Das Angebot einer Urteilsabsprache vor Ende der Beweisaufnahme mit der Zusage einer milderen Strafe bei Geständnisablegung begründet beim Richter die Besorgnis der Befangenheit, auch wenn die Urteilsabsprache scheitert.538 Nach Ansicht des OGH539 sei ein mit einer informellen Urteilsabsprache gescheiterter Richter nachfolgend in seiner Entscheidungsfindung möglicherweise nicht mehr ganz frei, weshalb eine nicht eingehaltene Absprache zu Nichtigkeit des Urteils nach § 281 Abs. 1 Nr. 1 öStPO führen könne. Habe der Richter aber die vorliegenden Beweismittel gänzlich ausgeschöpft und 531  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 119 f.; Malolepszy, ZStW 126 (2014), 489 (501). 532  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65); Weßlau, ZStW 116 (2004), 150 (167 f.). Zur Personenidentität oben, D. II. 5. 533  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246); Eschelbach, in: Richter-FS, 113 (114 Fn. 9); siehe auch die Nachweise in Fn. 473. 534  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (411); dazu auch Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127 f.; a. A. Schmoller, in: WK-StPO (2016), § 3 Rn. 36. 535  Vgl. Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 46. 536  Dazu oben, D. II. 5. 537  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 5.1 f., 37. 538  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 46 f. 539  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65).



II. Probleme mit weiteren allgemeinen Verfahrensgrundsätzen 153

hätten sich in der Hauptverhandlung keine wesentlichen neuen Aspekte der Strafzumessung ergeben, sei die Äußerung des Richters gegenüber dem Verteidiger über die Strafe im Fall eines Schuldspruchs (bei Ablegung eines Geständnisses eine Zusatzstrafe von zwei Monaten, andernfalls eine Zusatzstrafe von 12 Monaten) nicht geeignet, Zweifel an dessen Unparteilichkeit zu begründen. Im vorliegenden Fall war der Angeklagte nach – wegen seiner Geständnisverweigerung – gescheiterter Urteilsabsprache zu exakt der Strafe (Zusatzstrafe von 12 Monaten) verurteilt worden, die ihm das Gericht in den Abspracheverhandlungen bei Ausbleiben des Geständnisses genannt hatte.540 Der OGH sah in diesem Umstand kein Hindernis für die Verneinung der Besorgnis der Befangenheit. Diese Position erscheint disputabel, denn auch dieses Endergebnis (Zusatzstrafe von 12 Monaten) könnte sich mit der Theo­ rie der kognitiven Dissonanz und einem Ankereffekt erklären lassen.541 Allerdings muss bei der vorliegenden OGH-Entscheidung noch berücksichtigt werden, dass die Verständigungsinitiative wohl von dem ohne Kenntnis des Angeklagten handelnden Verteidiger ausging.542 Unter Zugrundlegung der vorstehenden Ausführungen dürfte aber der „Distanzverlust“543 eines Richters, der in Verhandlungen einsteigt, nicht deutlich geringer sein, als wenn der Richter selbst das Gespräch gesucht hätte.544 Ein unabhängiges Gericht zeichnet sich dadurch aus, dass es zu keinem Zeitpunkt eigene persönliche Interessen am Verfahrensausgang verfolgt, denn jeder begründete Verdacht der Unparteilichkeit ist schädlich.545 Die fehlende Neutralität des Gerichts bei Abspracheverhandlungen muss Anlass zur Besorgnis der Befangenheit (§ 43 Abs. 1 öStPO) sein.546 Die Unschuldsvermutung und mit ihr der in‑dubio‑pro‑reo‑Grundsatz werden durch das Zustandekommen einer Urteilsabsprache ebenso konterkariert wie der Neutralitätsgrundsatz.

10. Ergebnis Die Unschuldsvermutung als Grundpfeiler des Rechtsstaatsprinzips verlangt nach zutreffender Ansicht von Lagodny, dass das gesamte Strafprozessrecht durch „die Brille des tatsächlich Unschuldigen betrachtet, analysiert 540  OGH 13 Os 1/10m

JBl 2011, 63 (64). Ankereffekt Fn. 307. 542  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (64). 543  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 120. 544  Vgl. Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 120. 545  Lässig, in: WK-StPO (2012), § 43 Rn. 10. 546  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 46–48; vgl. Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 762 (781). 541  Zum

154

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

und verstanden“ wird.547 Beurteilt man unter dieser Prämisse die Vereinbarkeit von Urteilsabsprachen mit den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen, dann kann das Ergebnis nur negativ ausfallen. Die gesamte Grundkonzeption der Urteilsabsprachen ist ausschließlich auf den tatsächlich schuldigen Angeklagten zugeschnitten. Nur dieser kann überhaupt ein Interesse an einem durch Geständnis zu erlangenden Strafrabatt besitzen.548 Diese Tatsache ignoriert die Urteilsabsprachenpraxis, die mit ihrem heimlichen Absprachenangebot dem unschuldigen Angeklagten eine Freispruchchance versagt, bevor überhaupt eine Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung durchgeführt wurde. Urteilsabsprachen sind deshalb nach der hier vertretenen Ansicht mit den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen des geltenden Strafprozessrechts nicht zu vereinbaren.

III. Probleme mit dem materiellen Recht Nach § 32 Abs. 1 öStGB ist Grundlage der Strafbemessung die Schuld des Täters. Strafe soll in erster Linie dem Ausgleich des vom Täter verschuldeten Unrechts dienen.549 Die Strafe bewertet aber nicht ausschließlich die Schuld des Täters. Nach § 32 Abs. 2 S. 2 öStGB finden auch spezial- und generalpräventive Gesichtspunkte, also die Auswirkungen der Strafe auf Täter und Allgemeinheit, Berücksichtigung. Die Milderungsgründe sind in § 34 öStGB lediglich deklaratorisch aufgezählt. Obwohl das Geständnis nur einen mög­ lichen Strafmilderungsgrund darstellt, der nach § 32 Abs. 2 öStGB zusätzlich noch gegen mögliche Erschwernisgründe abzuwägen ist, misst die Praxis dem Geständnis einen herausragenden Stellenwert bei.550

1. Absprachegeständnis als Strafmilderungsgrund? Es stellt sich die Frage, worin im Falle eines absprachekonformen Geständnisses der Strafmilderungsgrund liegen soll, der die im Urteil vollzogene Strafmilderung rechtfertigt.

547  Lagodny,

in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (282). den Eigeninteressen des Angeklagten oben, B. II. 2. d). 549  Burgstaller, ZStW 94 (1982), 127 (131). Zur Strafbemessungspraxis unten, G. I. 2. c). 550  Tipold, Absprachen, 169 (178 f.); Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006), 788 (796); Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 44; Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (110) spricht von einer Überbewertung des Geständnisses als Strafmilderungsgrund. 548  Zu



III. Probleme mit dem materiellen Recht155

a) Nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB Die Strafmilderung für ein Geständnis ist in § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB gesetzlich geregelt. Ein abgesprochenes Geständnis müsste danach als Zeichen von Reue zu werten sein oder wesentlich die Tataufklärung fördern. Ein Geständnis wird somit unter Rücksicht auf seine Auswirkungen honoriert551 und muss dementsprechend bestimmte inhaltliche Voraussetzungen erfüllen, um als Milderungsgrund zu gelten.552 Reue und der Beitrag zur Wahrheitsfindung sind nach herrschender Meinung zwei voneinander unabhängige Milderungsgründe,553 die kumulativ vorliegen können.554 aa) Reumütiges Geständnis Eine Legaldefinition des Begriffs der Reumütigkeit fehlt. Als Strafmilderungsgrund gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 17, 1. Alt. öStGB kann aber nur ein Geständnis, das von wirklicher Reue getragen ist, in Betracht kommen.555 Das für eine Urteilsabsprache typische „schlanke“ Geständnis ist prinzipiell lediglich ein Anerkenntnis des Akteninhalts ohne konkrete weitere inhaltliche Ausführungen.556 Es erscheint kaum möglich, aus einem solchen Eingestehen der Schuld eine Reumütigkeit herauslesen zu wollen.557 Problematisch ist aber auch der taktische Hintergrund eines jeden im Rahmen einer Urteilsabsprache abgelegten Geständnisses. Für die Motivation des Angeklagten zu einer Kooperation ist es unumgänglich, genau zu wissen, mit welcher Strafe er bei einem Geständnis rechnen kann.558 Das Geständnis ist 551  Vgl.

OGH 09.03.2004, 11 Os 3/04. 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (130). 553  Siehe etwa OGH 19.01.1981, 13 Os 129/80; RIS-Justiz RS0091465. Des Weiteren Pallin, Strafzumessung, Rn. 69; Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (61); Ebner, in: WK-StGB (2018), § 34 Rn. 38. A. A. Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 22 m. w. N., wonach gleichfalls bei der zweiten Alternative der Nr. 17 der eigentliche Grund für eine Strafmilderung die Reue sei. 554  Siehe etwa OGH 22.11.1995, 13 Os 122/95; RIS-Justiz RS0091460; Ebner, in: WK-StGB (2018), § 34 Rn. 38. 555  Pallin, Strafzumessung, Rn. 25. 556  Siehe oben, D. I. 1. b) bb) (1) (b) und D. I. 1. b) bb) (2). 557  Vgl. etwa OGH 5 Os 714/51 EvBl 1952/92, 130; zur einschlägigen Rechtssatznummer: RIS-Justiz RS0091585 („Ein Geständnis des Tatsächlichen stellt keinen Milderungsgrund dar.“). Vgl. auch OGH 13.05.1986, 10 Os 54/86: „Nur das rückhaltslose, alle subjektiven und objektiven Tatbestandselemente umfassende Bekenntnis zu der im Schuldspruch festgestellten Tat kann den Milderungsgrund des reumütigen Geständnisses herstellen, nicht hingegen ein bloß abgeschwächtes Schuldbekenntnis.“ 558  Zu den Eigeninteressen des Angeklagten oben, B. II. 2. d). 552  Medigovic,

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

der zentrale Einsatz des Angeklagten im Tausch gegen den Strafrabatt. Der Angeklagte gesteht dann aber gerade deshalb, weil er die für den Fall eines Geständnisses angekündigte Strafmilderung erhalten will.559 Es ist somit fraglich, ob bei einem taktisch motivierten Geständnis noch Platz für Reue sein kann. Hierzu wird die Ansicht vertreten, dass bereits die Ablegung eines Geständnisses die Reumütigkeit des Angeklagten aufgrund des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes indiziere.560 Ob ein Geständnis aus rein prozess­ taktischen Gründen abgegeben werde, sei grundsätzlich nicht zu ermitteln.561 Jedes Geständnis sei geprägt durch eine Vielzahl von Motiven, die komplex und schwer kontrollierbar seien.562 Auch hinter einem abgesprochenen Geständnis könne deshalb als Beweggrund die Reumütigkeit des Angeklagten nicht ausgeschlossen werden, weshalb zugunsten des Beschuldigten davon ausgegangen werden müsse, dass das Geständnis zumindest auch aus der Einsicht in das begangene Unrecht resultiere und damit nicht rein taktisch motiviert sein könne.563 Ein Geständnis dürfe nur dann nicht wesentlich strafmildernd berücksichtigt werden, wenn es objektiv ersichtlich aufgrund erdrückender, zur Verurteilung ausreichender Beweise abgelegt wurde, was bei einer Absprachenkonstellation allerdings kaum der Fall sei.564 Pallin weist darauf hin, dass die Reumütigkeit bzw. das Vorhandensein einer Schuldeinsicht bei der Ablegung eines Geständnisses zwar grundsätzlich vermutet werde, es aber durchaus rein taktisch motivierte Geständnisse geben könne.565 Ausschließlich ein aus inneren Beweggründen abgelegtes Geständnis falle unter den Begriff der Reumütigkeit, weshalb dieser als „Mitleid mit dem Opfer oder überhaupt als innere Umkehr“ zu definieren sei.566 Das Geständnis könne dann Strafzumessungsrelevanz besitzen, wenn es Schlussfolgerungen für eine Beurteilung der Täterpersönlichkeit und Tatschuld zulasse, so dass die indizielle Annahme von Reue bei einem

559  Danek/Mann,

in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17. in: Wassermann-FS, 995 (1000); ders., Strafverfahren, Rn. 174; ders., StV 1986, 355 (356); Hanack, StV 1987, 500 (503); Gerlach, Rechtsfolgen, S. 109; Siolek, Verständigung, S.  184 f.; Janke, Verständigung, S.  186 f.; Herrmann, JuS 1999, 1162 (1165); Müller, Martin, Probleme, S. 107; so auch BGHSt 43, 195 (209). In diese Richtung wohl auch Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (61): „Taktische Erwägungen schließen einen inneren Kern der Reue bei einer Verantwortungsübernahme nicht aus.“ 561  Siolek, Verständigung, S. 182; Herrmann, JuS 1999, 1162 (1165). 562  Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn.  175; Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072 (1078); Herrmann, JuS 1999, 1162 (1165). 563  Nachweise in Fn. 560. 564  BGHSt 43, 195 (209); Janke, Verständigung, S. 184. 565  Pallin, Strafzumessung, Rn. 25; vgl. auch Mayerhofer, StGB I, § 34 Rn. 52. 566  Pallin, Strafzumessung, Rn. 25. 560  Schmidt-Hieber,



III. Probleme mit dem materiellen Recht157

nur aus Gründen der Prozesstaktik abgelegten Geständnis ausscheiden müsse.567 Richtig erscheint, dass es für den Tatrichter generell schwer herauszufinden ist, ob der Angeklagte sein Geständnis aus Reue abgelegt hat. Der Angeklagte kann viele Gründe für sein Geständnis haben.568 Mit der Erfassung der für ein Geständnis bestimmenden Motivlage kann der Tatrichter bisweilen überfordert sein, wenn ihm eine entsprechende Ausbildung auf dem Gebiet der Beweislehre und Aussagepsychologie fehlt, wodurch im konventionellen Verfahren stets Zweifel bezüglich der Motivlage des Angeklagten verbleiben können.569 Im Unterschied zum Normalverfahren macht der Angeklagte bei einem absprachekonformen Geständnis seine Einlassung jedoch von der gerichtlichen Zusage des innerhalb der Abspracheverhandlungen genau bezifferten Strafrabatts abhängig.570 Er glaubt eine Strafmilderung zum Preis seiner Kooperation erwerben zu können.571 Denn die Höhe der Strafmilderung scheint ihm durch taktisches Verhandlungsgeschick der Verteidigung beeinflussbar.572 Bei einem ausgehandelten Geständnis ist somit, wie Haas feststellt, der „kaufmännische Hintergrund“ bestimmend.573 Reue hat dort keinen Platz, geht es doch allen Absprachebeteiligten darum, das für sie günstigste Ergebnis zu erzielen.574 In seiner schlanken Ausformung lässt ein Geständnis Rückschlüsse für die Beurteilung des Täters nicht zu. Das abgesprochene Geständnis des Angeklagten ist aufgrund seines Entstehungsprozesses kalkuliert und rein taktisch motiviert.575 Andere Motivationen müssen hier ausscheiden.576 Die Anwendung des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes würde zudem den Versuch des Gerichts voraussetzen, mit allen zulässi567  Pallin, Strafzumessung, Rn.  25; vgl. auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24 f. 568  Siehe oben, D. I. 3. 569  Hauer, Geständnis, S. 85; vgl. auch Hönig, Wirkung, S. 89; dazu auch unten, G. I. 3. a). 570  Hauer, Geständnis, S. 85; vgl. auch Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 72. 571  Haas, in: Keller-GS, 45 (69). 572  Zum Geschäftscharakter von Abspracheverhandlungen oben, D. I. 1. c) bb) (1). 573  Haas, in: Keller-GS, 45 (69). 574  Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (42 f.). 575  So auch Tipold, Absprachen, 169 (179); ders./Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (148); Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 45/5. 576  Grünwald, StV 1987, 453 (454); Schünemann, NJW 1989, 1895 (1897  f.); ders., 58. DJT (1990), Band I, S. 111; ders., in: Rieß‑FS, 525 (540); Weigend, JZ 1990, 774 (779); Bosch, Aspekte, S.  198 f.; Haas, in: Keller-GS, 45 (68 f.); Lien, GA 2006, 129 (133); Stübinger, JZ 2008, 798 (800); Niemöller, GA 2009, 172 (178);

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

gen Mitteln Zweifel bezüglich der Motivlage des Angeklagten auszuräumen.577 Eine Urteilsabsprache aber scheint jedwede Aufklärung von vorn­ herein einer größtmöglichen Verfahrensverkürzung preiszugeben.578 § 34 Abs. 1 Nr. 17, 1. Alt. öStGB kommt bei einer Urteilsabsprache als Strafmilderungsgrund nicht in Betracht. Bemerkenswerterweise ist auch den Materialien zum StPRÄG II 2016 zu entnehmen, dass der Gesetzgeber bei der „großen“ Kronzeugenregelung nach § 209a öStPO579 mit dem Erfordernis der Reumütigkeit des Kronzeugengeständnisses klarstellen wollte, dass die Regelung des § 209a öStPO eben nicht auf dem Gedanken einer vom OGH für unzulässig erachteten Urteilsabsprache beruhe, sondern auf erweiterten Strafzumessungserwägungen basiere;580 dies könnte eventualiter den Rückschluss zulassen, dass auch der Gesetzgeber einem urteilsabsprachenbasierten Geständnis wegen seiner taktischen Prägung fehlende Reumütigkeit i. S. d. § 34 Abs. 1 Nr. 17, 1. Alt. öStGB unterstellt.581 bb) Wesentlicher Beitrag zur Wahrheitsfindung Neben der Motivation des Angeklagten würdigt der österreichische Gesetzgeber nach § 34 Abs. 1 Nr. 17, 2. Alt. öStGB die prozessuale Zweckdienlichkeit des Geständnisses positiv bei der Strafzumessung. Grund ist nach der Intention des Gesetzgebers die Unterstützung der Rechtspflege.582 Der Strafmilderungsgrund stellt sich nach herrschender Meinung unabhängig von der Motivation des Angeklagten zu einer Einlassung583 und könnte so auch für ein rein taktisch motiviertes Geständnis in Betracht kommen.584 Mitunter Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24 f.; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 21.3. 577  Treffend Weigend, NStZ 1999, 57 (61). Vgl. auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 25, wonach die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes auf ein „Missverständnis“ zurückzuführen sei. 578  Bernsmann, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 21 (24 f.); Beispiele aus der deutschen Absprachenpraxis bei Strate, NStZ 2010, 362 (364 f.). Siehe auch oben, D. I. 1. a) und b) bb) (2). 579  I.d.F. öBGBl I 2016/121, in Kraft seit 01.01.2017. Zu § 209a öStPO unten, E. II. 3. b) aa). 580  ErläutRV 1300 BlgNR 25. GP 11 f. [abrufbar unter: https://www.parlament. gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01300/fname_566655.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 581  Vgl. dazu Nimmervoll, JBl 2018, 623 (631); ders., JBl 2018, 696 (700); vgl. auch ErläutRV 1300 BlgNR 25. GP 13 (abrufbar unter: siehe Fn. 580). 582  Pallin, Strafzumessung, Rn. 25. 583  Dazu die Nachweise in Fn. 553. 584  So Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (130 f.); Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 45/5.



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ermöglicht erst ein Geständnis den Tatnachweis. In besonderen Deliktsbereichen wie etwa den Drogendelikten wird ein Geständnis zur Sicherstellung der Strafverfolgung häufig für unverzichtbar gehalten. § 34 Abs. 1 Nr. 17, 2. Alt. öStGB stellt deshalb auf den aufklärungsfördernden Effekt eines Geständnisses ab. Dem Gesetz ist nicht zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen ein Geständnis ausreichende Aufklärungshilfe sein soll. Dem OGH zufolge ist die Bedeutung der Aussage des Täters für die Beweisführung maßgeblich.585 Die Literatur verlangt, dass das abgesprochene Geständnis inhaltlich umfangreich und präzise ist.586 Das abgesprochene Geständnis, welches sich prinzipiell in schlanker Form präsentiert, ist jedoch nicht geeignet, die Richtigkeit der Sachverhaltsannahmen zu verifizieren.587 Selbst ein ausführliches Geständnis verkümmert in seiner Beweisbedeutung zu einem dem „schlanken“ Geständnis vergleichbar schwachen Beweis, wenn es – wie in der Urteilsabsprachenpraxis üblich – anhand des Akteninhalts zugeschnitten und von der Verteidigung vorformuliert wird, um ein Scheitern der Urteilsabsprache zu verhindern.588 Wie ein Geständnis, das letztlich nur die Anklage bestätigt und gleichzeitig eine Beweisaufnahme entfallen lässt, wesentlich zur Wahrheitserforschung beitragen soll, erschließt sich nicht. Räumt der Angeklagte lediglich den aus den Akten bekannten Sachverhalt ein, bringt dies keinen neuen Erkenntniswert.589 Die Ermittlung des wahren Sachverhalts erleichtert der Angeklagte dadurch nicht.590 Bei der Suche nach der materiellen Wahrheit wird die Strafrechtspflege nicht unterstützt. An der Aufklärung des wahren Sachverhalts ist die Urteilsabsprachenpraxis aber auch gar nicht interessiert.591 Ein abgesprochenes, taktisches Geständnis muss deshalb als Aufklärungshilfe ausscheiden. Ein abgesprochenes, taktisches Geständnis bietet der Rechtspflege aber eine Verfahrensverkürzung. Grundsätzlich soll ein solch prozessökonomischer Grund wohl eine Strafmilderung rechtfertigen können.592 Die Honorierung wird vor allem mit ihren positiven Auswirkungen für das Ziel der 585  OGH 09.03.2004,

11 Os 3/04; 07.11.2007, 13 Os 112/07f. Tipold, Absprachen, 168 (179); ders./Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (148); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (131). Vgl. zum deutschen Recht Niemöller, GA 2009, 172 (178 f.). 587  Siehe oben, D. I. 1. b) bb) (1) (b) und D. I. 1. b) bb) (2). 588  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 589  Vgl. OGH 07.11.2007, 13 Os 112/07f. 590  A. A. wohl Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 45/5. 591  Dazu oben, D. I. 1. a). 592  Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 44. In der deutschen Literatur: SchmidtHieber, in: Wassermann-FS, 995 (997 f.); Niemöller, StV 1990, 34 (36 mit Fn. 16). Siehe dazu auch Weider, Vom Dealen, S. 177. 586  Siehe

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Generalprävention begründet, weil das Geständnis als eine Art Unterwerfung und damit Bestätigung der Norm gelte.593 Für die Annahme einer solchen Normrehabilitierung dürfen die eine Geständnisbereitschaft beeinflussenden Faktoren aber nicht unberücksichtigt bleiben.594 Bei einem abgesprochenen, taktischen Geständnis liegt es nahe, dass sich der Angeklagte allein deshalb unterwirft, weil er die vom Gericht in Aussicht gestellte, exakt bezifferte Strafe erhalten möchte.595 Es bleibt aufgrund der Unkontrollierbarkeit der heimlichen Gespräche auch stets der Verdacht, dass der Angeklagte erst unter Einsatz der Sanktionsschere zu einem Geständnis bereit war.596 Der Angeklagte unterwirft sich hier ausschließlich den richterlichen Machtmitteln und nicht dem Verfahren, das über ihn geführt wird.597 Die Unterwerfung vor der richterlichen Willkür ist mit der Unterwerfung vor dem Recht, das sich in einem konventionell durchgeführten Verfahren durchsetzt, nicht vergleichbar.598 Das Absprachegeständnis ist aber auch deswegen nicht als Normbestätigung zu interpretieren, weil ansonsten ebenfalls das erst nach Erreichen der Schuldspruchreife im förmlichen Beweisverfahren abgelegte Geständnis noch strafmildernd wirken müsste, was in einer Absprachenpraxis aber generell nicht der Fall ist.599 Normanerkenntnis ist damit im Rahmen einer Urteilsabsprache kein Gesichtspunkt. Ein abgesprochenes, prozesstaktisches Geständnis entfaltet auch nach § 34 Abs. 1 Nr. 17, 2. Alt. öStGB keine strafmildernde Wirkung. b) Aus Gründen des Opferschutzes § 34 Abs. 1 Nr. 15 öStGB ermöglicht eine Strafmilderung unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes.600 Das Entfallen einer Aussagepflicht des Zeugen vor Gericht ist keine Wiedergutmachung des verursachten Schadens im Sinne des § 34 Abs. 1 Nr. 15, 1. Alt. öStGB. Ob es als eine Verhinderung weiterer nachteiliger Folgen der Tat im Sinne der 2. Alt. verstanden werden darf, ist der Sekundärliteratur nicht eindeutig zu entnehmen.601 Darauf kommt es letztlich aber auch nicht an, da die in § 34 öStGB aufgezählten Strafmilderungsgründe nicht abschließend sind und § 34 Abs. 1 Nr. 15 öStGB 593  Pallin,

Strafzumessung, Rn. 25; Moos, RZ 2004, 56 (61). StGB I, § 34 Rn. 51 d. 595  Siehe dazu oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). 596  Hauer, Geständnis, S. 171. 597  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24. 598  Hauer, Geständnis, S. 171; so auch Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1015); Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (533). 599  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 21.5. 600  Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 39. 601  Siehe Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 40. 594  Mayerhofer,



III. Probleme mit dem materiellen Recht161

jedenfalls als dogmatischer Anknüpfungspunkt dafür dient, dass ein abgesprochenes Geständnis wegen einer Schonung des Opfers strafmildernd zu berücksichtigen sein könnte. Deswegen soll nach verbreiteter Ansicht das Geständnis dann strafmildernd wirken, wenn der Angeklagte dem mutmaßlichen Opfer eine weitere schädigende Traumatisierung, die sogenannte sekundäre Viktimisierung, die mit einer Vernehmung in der Hauptverhandlung verbunden sei, erspare.602 Gleichzeitig wird die mögliche Genugtuung eines Geständnisses für das mutmaßliche Opfer hervorgehoben.603 Das abgesprochene, taktische Geständnis kann zwar die Aussagepflicht des Zeugen entfallen lassen. Es fehlen aber objektive Anhaltspunkte, dass im Rahmen einer Urteilsabsprache das mutmaßliche Opfer dem Angeklagten als Motivation für sein Geständnis dient.604 Der Angeklagte lässt sich nicht aus Rücksicht und Verständnis für das Tatopfer und mit dem Ziel ein, dieses zu schonen.605 Er gesteht, um sich einen Strafrabatt zu sichern, nicht, um das dem mutmaßlichen Opfer zugefügte Unrecht auszugleichen.606 Das bloße Einräumen des Anklagevorwurfs ist als Mittel für Ausgleichsbemühungen ungeeignet und für die Interessen des mutmaßlichen Opfers unbrauchbar.607 Selbst die Justiz hat bei der Gewährung des Strafrabatts nicht hinreichend die Opferinteressen, sondern ihre eigene Arbeitsersparnis im Blick, was sich darin zeigt, dass Privatbeteiligte in die Verhandlungsgespräche nicht einbezogen werden.608 Wird als Rechtfertigung der Urteilsabsprachen auf Opferinteressen verwiesen, muss sich das mutmaßliche Opfer dazu instrumentalisiert fühlen, der Justiz einen kurzen Prozess und dem Angeklagten eine milde Strafe zu verschaffen. Eine Strafmilderung für das Absprachegeständnis aus Gründen des Opferschutzes muss ausscheiden. c) Im Hinblick auf einen besseren Resozialisierungseffekt Die strafmildernde Wirkung eines abgesprochenen Geständnisses wird gerne mit einem besseren Resozialisierungseffekt gerechtfertigt.609 Dem An602  Sautner, JSt 2009, 6; Anzenberger, RZ 2011, 164 (167); Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 20. Kritisch gegenüber einer solchen Viktimisierung durch Zeugenvernehmung etwa Wille, Aussage gegen Aussage, S.  53 f. m. w. N. 603  So bei Schmidt-Hieber, in: Wassermann-FS, 995 (998 f.). 604  Fischer, StraFo 2009, 177 (182); Murmann, in: Roxin-FS, 1385 (1393); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 22. 605  Fischer, StraFo 2009, 177 (182). 606  Dazu oben, D. III. 1. a). 607  Zum Beweiswert eines Absprachegeständnisses oben, D. I. 1. b) bb) (2). Zu den Opferinteressen im Rahmen der Urteilsabsprache ausführlicher oben, B. II. 3. 608  A. A. wohl Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 45/3. Siehe dazu oben, A. 609  Siehe etwa Meier, GA 1999, 1 (15); Krack, NStZ 2002, 120 (123).

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

geklagten werde bei einer Urteilsabsprache die Strafe nicht einseitig durch Machtausübung der Justiz auferlegt, sondern komme in einem kommunikativen Austausch zwischen ihm und den anderen Verfahrensbeteiligten zustande, was dem Angeklagten den Eindruck vermittle, auf die Strafe Einfluss gehabt zu haben, wodurch er sich schließlich in seiner Rolle als Prozesssubjekt bestärkt fühle und folglich die Strafe besser akzeptieren könne.610 Ein rasch rechtskräftig beendeter Prozess steigere zudem die Wirksamkeit der Strafe.611 Gegen eine bessere Resozialisierungswirkung lässt sich jedoch anführen, dass der Angeklagte bei einem kooperativen Verfahren den Eindruck gewinnen könnte, die von ihm begangene Straftat sei nicht so schwerwiegend, weil ihm die Strafe nicht aufgezwungen wurde, sondern die Justiz ihm quasi ein Mitwirkungsrecht zugestanden hat.612 Die Größe dieses Mitwirkungsrechts ist in seinen Augen entscheidend durch die Einsatzbereitschaft der Verteidigung zu beeinflussen, so dass der Angeklagte – anstatt Skrupel vor der Begehung einer neuen Straftat zu haben – vielmehr vermittelt bekommt, mit dem richtigen Verteidiger an der Seite auch bei der nächsten Normverletzung glimpflich davon kommen zu können.613 Das spricht auch gegen die Annahme, dass schnelleres Recht besseres Recht im Sinne der Resozialisierungsbereitschaft ist.614 Das Absprachegeständnis bekundet zudem keine geringere Gefährlichkeit des Täters, da es allein zur Vermeidung einer höheren Strafe abgelegt wurde, was keine innere Abkehr von der Tat demonstriert und somit auch keine positive Sozialprognose.615 Eine Strafmilderung wegen besserer Resozialisierungsvorzeichen kommt nicht in Betracht.

2. Grundsatz der Schuldangemessenheit Der Schuldgrundsatz aus § 32 Abs. 1 öStGB schließt im Kern eine Beeinflussung der Strafhöhe durch andere Kriterien als das Maß der Schuld aus. Die vereinbarte Strafe muss in einem angemessenen Verhältnis zur Tatschuld stehen.616 Die Gefahr der Inkompatibilität zwischen gewährtem Strafrabatt und 610  Schmidt-Hieber, Strafverfahren, Rn. 19; ders., StV 1986, 355 (357); Siolek, Verständigung, S. 67 f., 100 f.; siehe auch Weßlau, Konsensprinzip, S. 112. 611  Widmaier, StV 1986, 357 (358); Cramer, in: Rebmann-FS, 145 (148); Wolfslast, NStZ 1990, 409 (413). 612  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 33 (42 f.); Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (533). 613  Jeßberger, Kooperation, S. 90; Jähnke, ZRP 2001, 574 (577). Zum taktischen Vorgehen der Verteidigung oben, B. II. 2. c) und D. I. 1. c) bb) (1). 614  Hauer, Geständnis, S. 172. 615  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24. 616  Tipold, Absprachen, 169 (179); ders./Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (148); Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 128; Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24.



III. Probleme mit dem materiellen Recht163

gerechter Strafzumessung ist der Strafzumessungspraxis im Zuge von Urteilsabsprachen jedoch immanent.617 Mit Blick auf den Aktenumfang scheint bei einem Absprachegeständnis der Arbeitseinsatz den Maßstab für die Strafhöhe zu bilden.618 Maßgeblich ist deshalb auch der Zeitpunkt der Geständnisablegung: Je früher im Hauptverfahren das Geständnis abgelegt wird, umso größer der Strafrabatt.619 Allerdings darf der Angeklagte nicht den Fehler begangen haben und spontan ein Geständnis vor Eröffnung des Hauptverfahrens abgelegt haben, denn dann fehlt ihm dort sein Tauschobjekt gegenüber dem Gericht.620 Dass das taktisch motivierte Geständnis in der Hauptverhandlung mehr wert sein soll als das spontane Geständnis im Frühstadium des Ermittlungsverfahrens ist nicht richtig, weil ein Spontangeständnis deutlich mehr Aussagekraft über strafzumessungsrelevante Tatsachen besitzen kann.621 Des Weiteren ist der Einsatz der Sanktionsschere ein effektives Mittel, um den Angeklagten zu einer Einlassung zu bewegen.622 Zudem entscheidet die Verteidigung durch ihre Verhandlungskompetenz und Vertrauensstellung bei der Justiz über die Höhe des Strafrabatts mit.623 Demnach ist bei einem abgesprochenen Urteil nicht nur die Schuld des Täters für die Strafhöhe bestimmend, sondern auch der Grad der Arbeitserleichterung für die Juristen. Außerdem ist die Gleichheit der Strafzumessung für die Fundierung einer gerechten Strafe unabdingbar.624 Bemüht sich aber die Urteilsabsprachenpraxis darum nicht, sondern gibt diese vorsätzlich zugunsten eines unzulässigen Strebens nach Arbeitsverringerung preis, ist der Grundsatz einer schuldangemessenen Strafe tangiert.625 Erhält der Angeklagte bei einer Urteilsabsprache eine Sanktion, die er in einem streitigen Verfahren nicht erhalten würde,626 ist ein Handel 617  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134  f.); Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (148); Eser, ZStW 104 (1992), 361 (373); Freund, GA 2002, 82 (88); Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (532 f.); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 168; Müller, Martin, Probleme, S. 107. 618  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.13, 14.1. 619  Zu den sogenannten „Kurz‑, Mittel- und Langstreckentarifen“ oben, D. I. 2. a) bb). 620  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (71); Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (411). 621  Malek, StV 2011, 559 (566). 622  Siehe oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). 623  Weigend, JZ 1990, 774 (780); Terhorst, GA 2002, 600 (608); Wagner, in: Gössel-FS, 585 (591). Dazu auch oben, D. I. 1. c) bb) (1). 624  Ebner, in: WK-StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 4. 625  Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (72); Eschelbach, in: BeckOKStPO (01.04.2019), § 257c Rn. 21.4. 626  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70 f.); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51 f.); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–

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D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

über die Schuldfrage nicht ausschließbar.627 Wird dem Angeklagten sein Geständnis über den Anklagesachverhalt honoriert, ist die Schuldfrage betroffen.628

3. Ergebnis Zentraler Strafbemessungsgrund ist nach § 32 Abs. 1 öStGB die Schuld des Täters. Die Frage, ob ein im Zuge einer Urteilsabsprache abgelegtes, taktisches Geständnis strafmildernd berücksichtigt werden kann, wird nicht einheitlich beurteilt. Nach der hier vertretenen Auffassung lässt sich keine Rechtfertigung für die Strafmilderung eines Absprachegeständnisses finden. Es ist nach keinem der anerkannten Strafgründe und Strafzwecke ein Maßstab für die Festsetzung der Strafe.629 Das Geständnis darf aber nicht nur um seiner selbst willen strafmildernd bewertet werden. Demnach führt bereits die Berücksichtigung des Absprachegeständnisses zu einer nicht schuldangemessenen Strafe, da ein Rabatt gewährt wurde, der nicht hätte gewährt werden dürfen. Die Urteilsabsprachenpraxis stellt allein auf das Einsparen einer umfangreichen Beweisaufnahme ab, was im Strafzumessungssystem keine Bedeutung haben darf.630 Verfahrensumfang und Hauptverhandlungsdauer beeinflussen die Schuld des Täters nicht wesentlich, da eine Arbeitsersparnis die Tatschuld als Grundlage der Strafe nicht tangiert.631 Die durch die Straftat verursachte Misere darf nicht in der Aufbürdung von Kosten und Arbeit für die Justiz gesehen werden.632 Rein finan­ zielle Interessen eines (verschuldeten) Staates müssen ebenso hinten anstehen wie eine Bequemlichkeit der Richter.633 Konzediert eine Prozessordnung dem Angeklagten Abwehrrechte wie das Schweigerecht aus § 7 Abs. 2 öStPO, kann es nicht sein, dass der Verzicht des Angeklagten auf dieses 279 Rn. 17; Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 135; Schick, in: Miklau-FS, 451 (453). 627  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (70, 73); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51 f.). Diese These wird durch das Ergebnis des vom BVerfG in Auftrag gegebenen Gutachtens, Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 182, bestätigt; zu diesem Gutachten unten, F. I. 1. a) cc) (1); vgl. auch Fischer, in: KK-StPO, § 244 Rn. 30. 628  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (409). 629  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24; vgl. zum deutschen Recht exemplarisch Haas, in: Keller-GS, 45 (68 f.); Streng, in: Schwind-FS, 447 (449). 630  Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (58 f.). 631  Fischer, StraFo 2009, 177 (181 f.); Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (42); ders., in: Maiwald-FS, 829 (840). 632  Grünwald, StV 1987, 453 (454). 633  Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S.  267  f.; Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96).



IV. Ergebnis des Kapitels165

Recht bei der Strafzumessung aus arbeitsökonomischen Gründen in bestimmendem Maße honoriert wird.634 Ein Handel über die Schuld kann bei einem Tausch „Geständnis gegen mildere Strafe“ gerade nicht ausgeschlossen werden.

IV. Ergebnis des Kapitels Der österreichischen Strafrechtspraxis sollte im Umgang mit Urteilsabsprachen ein Streben nach Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundprinzipien nicht unterstellt werden. Je größer die individuellen Vorteile der Berufsjuristen sind, umso größer ist die Gefahr, dass ihretwillen die Grundprinzipien des österreichischen Strafprozessrechts missachtet werden. Die Überlegung, der OGH habe aus der Natur der Sache heraus nur mit den rechtlich bedenklichen und missbräuchlichen Fällen der Urteilsabsprachen zu tun, wodurch ein falsches, nämlich überkritisches Bild in Bezug auf Urteilsabsprachen entstehe, scheint zu kurz gegriffen und wird der Problematik nicht gerecht. Werden bei einer Urteilsabsprache ihre Konditionen typischerweise im Geheimen und ohne Beteiligung der Schöffen ausgehandelt, substanzlose Geständnisse erzeugt, die nur noch anhand des Aktenmaterials überprüft werden, und auf die Offenlegung und mündliche Erörterung von Ergebnissen in der öffentlichen Hauptverhandlung verzichtet, ist dies mit den Grundsätzen des förmlichen Beweisverfahrens unvereinbar. Urteilsabsprachen basieren gewöhnlich lediglich auf einer zu weitgehenden Beweis- und Ergebnisantizipation aufgrund der Aktenlage. Wird die Hauptverhandlung faktisch annulliert, bleibt der Anspruch auf Justizgewährung unerfüllt. In einem Rechtsstaat darf dies nicht geduldet werden. Tatsächlich schuldige Angeklagte müssen entlang des geltenden Rechts ihrer gerechten Strafe zugeführt werden; Unschuldige müssen eine realistische Chance auf Rehabilitierung haben. Der „kaufmännische Hintergrund“635 eines absprachekonformen Geständnisses verhindert die Feststellung eines dem Schuldgrundsatz entsprechenden Strafmilderungsgrundes, der die vom Gericht zugesagte Strafe und im Urteil vollzogene Strafmilderung rechtfertigen könnte. Materielle Rechtswidrigkeit ist die Folge. Es ist strafzumessungsrechtlich nicht begründbar, dass die Höhe der ausgeurteilten Strafe nicht vor allem von der Schuld des Täters, sondern wesentlich auch von der Arbeitserleichterung für die Justiz bestimmt wird.

634  So zum deutschen Recht Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (59); Weßlau, KJ 1993, 461 (466); Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 267; Eschelbach, in: SSW-StGB, § 46 Rn. 26. 635  Haas, in: Keller-GS, 45 (69).

166

D. Zulässigkeitsfragen von Urteilsabsprachen nach geltendem Recht

Prozessökonomische Aspekte gestatten es nicht, in einem Rechtsstaat erhebliche Verstöße gegen tradierte Prozessrechtsgrundsätze zu rechtfertigen.636 Ziel des österreichischen Strafprozesses ist immer noch die bestmögliche Ermittlung der materiellen Wahrheit. Die deshalb auf dem Weg zur Urteilsfindung zwingend zu beachtenden Verfahrensgrundsätze dienen zu­ allererst dem Schutz des Angeklagten vor Automatismen in der „Maschinerie der Strafverfolgung“637. Die Justiz soll daran gehindert werden, die ihr gegen den Angeklagten zur Verfügung stehenden Machtmittel missbräuchlich einzusetzen. Es kann deshalb nicht sein, dass die Justiz ihren Verstoß gegen diese rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze mit einer exorbitanten Arbeitsbelastung rechtfertigen darf, zumal sie zugleich Eigeninteressen verfolgt.638 Ebenso richtet sich das Beschleunigungsgebot vorrangig an die Arbeitsmoral der Justizjuristen und soll den Angeklagten vor einer überlangen Verfahrensdauer schützen. Dieses Gebot darf nicht dahin uminterpretiert werden, dass es ein Abgehen von den zum Schutz des Angeklagten bei der Urteilsfindung zwingend zu beachtenden Verfahrensvorschriften rechtfertigt. In der Justiz sind Recht und Gerechtigkeit die ethischen Zielsetzungen.639 Eine gerechte Entscheidung ergeht nur, wenn die Schutzrechte des Angeklagten auf dem Weg zur Entscheidung beachtet werden. Hauptanliegen der Justiz darf somit nicht die Sparsamkeit oder Prozessökonomie sein.640 In Deutschland konnte die angebliche Unverzichtbarkeit von Urteilsabsprachen das BVerfG641 nicht davon abhalten, informelle Urteilsabsprachen als unzulässig zu erklären und Urteilsabsprachen nur unter so engen Bedingungen für zulässig zu erachten, dass sich die Praxis damit kaum Arbeitsaufwand ersparen kann.642 Bewirken Urteilsabsprachen, dass Fehlverurteilungen rechtskräftig werden oder tatsächlich Schuldige so milde bestraft werden, dass die Strafe nicht mehr als Abschreckung wahrgenommen wird, dann sind ihre Auswirkungen verheerend.643 Der Verlust des Vertrauens der Allgemeinheit in die Zuverlässigkeit 636  So aber etwa Bogensberger, 7.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (37 f.); Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (69); Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (98); LuefKölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 273. Wie hier zum deutschen Recht Erb, StV 2014, 103 (105); Stuckenberg, in: LR-StPO, § 257c Rn. 2. 637  Moringer, 1. StrafverteidigerInnentag (2003), 38 (44). 638  Siehe dazu oben, B. II. 2. a) und b). 639  Ofner, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 50 (51). 640  Ofner, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 50 (52). In diese Richtung auch Danek, RZ 2004, 122; ders./Mann, in: WK-StPO (2017), § 232 Rn. 6/1. 641  BVerfGE 133, 168–241. Dazu unten, F. I. 1. a) cc) (2) und (3). 642  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (639 f.). 643  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.10; vgl. auch Fabricius, in: Dencker‑FS, 71 (91); Pfister, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 7 (2013), 250 (253–256).



IV. Ergebnis des Kapitels167

der österreichischen Justiz, der bei rasch, aber auf Kosten einer rechtsstaatlich akzeptablen Wahrheitssuche erledigten Prozessen eintritt, ist nicht kompensierbar. Als Gesamtfazit dieses Kapitels kann deshalb festgehalten werden, dass die gebräuchlichen Urteilsabsprachen nach der hier vertretenen Ansicht aufgrund ihrer aufgezeigten zahlreichen Gesetzesverstöße unzulässig sind.

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung Der BGH stand Urteilsabsprachen nicht seit jeher positiv gegenüber.1 Lange Zeit äußerte er sich nicht ausdrücklich zu dieser neuen, der deutschen Strafprozessordnung unbekannten Erledigungsart.2 Im Jahre 1991 hatte der 3. Strafsenat des BGH noch entschieden, dass es „kein ‚rechtsstaatliches Verfahren bei Absprachen zu dem Prozeßergebnis‘ “ geben könne.3 In der Folgezeit befassten sich verschiedene Strafsenate des BGH mit Detailfragen bei einseitigen und fehlgeschlagenen Verständigungen,4 wobei der 5. Strafsenat Verhandlungen außerhalb der Hauptverhandlung über das Strafmaß für unvereinbar mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens erklärte.5 Zu einer Offenlegung und Reglementierung von Urteilsabsprachen durch Richterrecht kam es erstmalig im Jahre 1997, nachdem repräsentative Umfragen bereits einige Zeit zuvor die Existenz der deutschen Absprachenpraxis eindeutig belegt hatten.6 Bis zu diesem Zeitpunkt fanden seit Beginn der 1980er Jahre auch in Deutschland Absprachen über das Verfahrensergebnis nur im Geheimen statt.7 In der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft wurden sie als Verstoß gegen elementare Prinzipien des deutschen Strafprozessrechts vehement attackiert.8 Der 4. Strafsenat des BGH vertrat in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1997 jedoch die Ansicht, bei Einhaltung der von ihm aufgestellten Richtlinien seien Urteilsabsprachen mit den tradierten Strafprozessrechts1  Zschockelt, in: Salger-FS, 435 (436–440); Hildebrandt, Regelung der Verständigung, S.  20 f. 2  Meyer-Goßner, in: Schünemann-Symposium, 235. Vgl. etwa die Entscheidungen BGH NStZ 1985, 36–37; BGHSt 37, 99–106, welche sich lediglich mit der Frage der Befangenheit des Gerichts im Zuge einer geheimen Urteilsabsprache befassen. Vgl. auch BGHSt 36, 210–216; 37, 10–14; 38, 102–105. Einen Überblick über die BGH-Rechtsprechung geben Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1035); Peters, Julia, Urteilsabsprachen, S. 33–42. 3  BGHSt 37, 298 (305). 4  BGHSt 38, 102 (104 f.); 42, 46 (91); BGH StV 1998, 175–176. 5  BGHSt 42, 46 (47 f.). 6  Schünemann, RichterInnenwoche (2010), 9 (18). 7  Dazu exemplarisch den Beitrag von Weider (Deal), StV 1982, 545–552. 8  Aus dem umfangreichen Schrifttum Schünemann, 58. DJT (1990), Band I; Rönnau, Absprache.



I. Grundsatzentscheidungen des BGH169

grundsätzen in Einklang zu bringen.9 Im Anschluss daran gingen auch die übrigen Strafsenate des BGH von der Zulässigkeit der Urteilsabsprachen aus, wobei die einzuhaltenden Grenzen nicht einheitlich beurteilt wurden.10 Im Jahre 2005 erklärte der Große Senat für Strafsachen Urteilsabsprachen für grundsätzlich zulässig und mit der deutschen Strafprozessordnung vereinbar, wenn die richterrechtlich entwickelten Voraussetzungen eingehalten werden.11

I. Grundsatzentscheidungen des BGH Im Folgenden geht es nicht darum, die Entwicklung der deutschen Rechtsprechung zu den Urteilsabsprachen erschöpfend zu erörtern.12 Vielmehr findet eine Konzentration auf das Grundsatzurteil des 4. Strafsenats13 von 1997 und dessen Bestätigung durch den Großen Senat für Strafsachen14 von 2005 statt. Denn es sind diese Entscheidungen, welchen im Rahmen der Absprachendiskussion von Seiten der österreichischen Literatur immer wieder eine Vorbildfunktion zugesprochen wird, an der sich der OGH zu orientieren habe.15 Bei der Betrachtung der Grundsatzentscheidungen des BGH ist zu beachten, dass der 4. Strafsenat des BGH zuerst – ohne Rücksicht auf die Grundsatzbedeutung der Fragestellung – ohne Anrufung des Großen Senats für Strafsachen gemäß § 132 GVG eine eigene Leitentscheidung aufstellte, der sich in der Folge kein anderer Strafsenat entgegenstellte, möglicherweise auch, weil ein sogenannter „horror pleni“ zu äußerster Zurückhaltung bei divergierenden Ansätzen führt.16 Der Große Senat für Strafsachen wiederum wurde nicht zur Generalfrage angerufen, sondern zu einer Detailfrage, worauf er die Grundsatzfrage aus eigenem Antrieb als Vorfrage aufgriff; das langjährig unwidersprochene Präjudiz des 4. Strafsenats entfaltete dabei eine erhebliche Suggestivwirkung.

9  BGHSt 43,

195 (208). BGHSt 48, 161; 49, 84; BGH StV 2004, 417; 470–471. 11  BGHSt 50, 40 (48). 12  Siehe dazu etwa Müller, Martin, Probleme, S. 177–280. 13  BGHSt 43, 195–212. 14  BGHSt 50, 40–64. 15  Etwa Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 (124); ders., RZ 2004, 56 (56 f.); Miklau, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 53 (54); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132, 136); Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38). 16  Zum „horror pleni“ Hamm, Revision, S. 46–48. 10  Vgl.

170

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

1. Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats Das erste offizielle Bekenntnis zum Praktizieren der Urteilsabsprachen wagte das Landgericht Dortmund, welches sich in den Urteilsgründen offen zu einer Urteilsabsprache bekannte und festhielt: „Sowohl die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe sind dabei in dieser Höhe im übrigen in öffentlicher Verhandlung mit den Angeklagten, den Verteidigern und der Staatsanwaltschaft bei gleichzeitiger vorläufiger Einstellung weiterer Anklagepunkte im Sinne einer verfahrensbeendenden Absprache abgestimmt worden.“17

Die gegen dieses Urteil auf das Strafmaß beschränkte und auf die Sachrüge gestützte Revision von einem der beiden Angeklagten wurde unter anderem damit begründet, dass „entgegen § 46 Abs. 1 S. 1 StGB nicht die Schuld des Täters, sondern die Absprache Grundlage für die Zumessung der Strafe gewesen sei und sich dies zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt habe.“18 Die daraufhin ergangene Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 28.08.199719 bildet den Wendepunkt in der deutschen Rechtsprechung zur Urteilsabsprachenproblematik. Der 4. Strafsenat konstatierte: „Eine Verständigung im Strafverfahren, die ein Geständnis des Angeklagten und die zu verhängende Strafe zum Gegenstand hat, ist nicht generell unzulässig.“20 In den Leitsätzen der als Grundsatzurteil konzipierten Entscheidung stellte der 4. Strafsenat folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Urteilsabsprache auf:21 „1.  […] Sie aber muß unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden; das schließt Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung nicht aus. 2. Das Gericht darf vor der Urteilsberatung keine bestimmte Strafe zusagen; es kann allerdings für den Fall der Ablegung eines Geständnisses durch den Angeklagten eine Strafobergrenze angeben, die es nicht überschreiten werde. Hieran ist das Gericht nur dann nicht gebunden, wenn sich in der Hauptverhandlung neue (d. h. dem Gericht bisher unbekannte) schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten ergeben haben; eine solche beabsichtigte Abweichung ist in der Hauptverhandlung mitzuteilen. 3.  Das Gericht hat ebenso wie bei der später im Urteil erfolgenden Strafbemessung auch bei der Zusage des Nichtüberschreitens einer Strafobergrenze die allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkte zu beachten; die Strafe muß schuldangemessen sein.

17  BGHSt 43,

195 (196). 195 (196). 19  BGHSt 43, 195–212. 20  BGHSt 43, 195. 21  BGHSt 43, 195. 18  BGHSt 43,



I. Grundsatzentscheidungen des BGH171 4.  Daß ein Geständnis im Rahmen einer Absprache abgelegt wurde, steht dessen strafmildernder Berücksichtigung nicht entgegen. 5. Die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts mit dem Angeklagten vor der Urteilsverkündung ist unzulässig.“

Zur Begründung und Präzisierung dieser Leitsätze formuliert der 4. Strafsenat weiter: In die Verständigung in der Hauptverhandlung seien alle Verfahrensbeteiligten, also auch die Laienrichter und der Angeklagte, einzubeziehen. Der Öffentlichkeitsgrundsatz müsse als elementare Einrichtung des Rechtsstaates gewahrt bleiben. Aus diesem Grund seien Absprachen in der Hauptverhandlung offen zu legen und dies sei in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen. Vorgespräche vor oder außerhalb der Hauptverhandlung zur Abklärung der Gesprächsbereitschaft und der jeweiligen Verhandlungsposition seien zulässig, wenn das Gericht den wesentlichen Inhalt und das Ergebnis dieser Gespräche in der Hauptverhandlung bekannt gebe.22 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung fordere eine freie und nicht durch die Absprache gebundene Entscheidungsfindung des Gerichts. Grundlage des Urteils müsse die Hauptverhandlung bleiben und eine verbindliche Zusage zur Höhe der zu verhängenden Strafe ausgeschlossen sein. Unschädlich sei deshalb nur die Benennung einer Obergrenze des Strafmaßes. Auch von dieser müsse das Gericht aber abweichen können, wenn sich nach der Absprache neue schwerwiegende Umstände ergeben, die dem Gericht bisher unbekannt waren und die Einfluss auf das Urteil haben können.23 Dass die ausgesprochene Strafe in vielen Fällen mit der benannten Obergrenze übereinstimme, sei unschädlich.24 Bei einer zustande gekommenen und protokollierten Absprache sei das Gericht an seine Zusage gebunden. Das folge aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens.25 Der „Boden schuldangemessenen Strafens“ dürfe nicht verlassen werden.26 Ein Geständnis könne im Rahmen einer Urteilsabsprache strafmildernd berücksichtigt werden, wenn es aus Reue und Schuldeinsicht abgelegt werde. Nach dem Grundsatz in-dubio-proreo, der auf Strafzumessungstatsachen Anwendung finde, seien Reue und Unrechtseinsicht als Beweggründe für das Geständnis auch in einem Abspracheverfahren nicht auszuschließen. Für die Berücksichtigung eines abgelegten Geständnisses spreche dessen Beitrag zur Sachaufklärung, die dadurch erreichte Förderung des Rechtsfriedens als Prozessziel und die Verfahrensabkürzung.27 Voraussetzung für die Honorierung eines Geständnisses sei die 22  BGHSt 43, 23  BGHSt 43, 24  BGHSt 43, 25  BGHSt 43, 26  BGHSt 43, 27  BGHSt 43,

195 195 195 195 195 195

(206). (210). (208). (210). (208). (208 f.).

172

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

Überzeugung des Gerichts von dessen Glaubhaftigkeit, da das Gericht dem Gebot der Wahrheitsfindung verpflichtet bleibe. Sich aufdrängende Beweiserhebungen dürften nicht unterbleiben.28 „Selbstverständlich ist, daß bei dem Bemühen der Beteiligten um das Zustandekommen einer Absprache die freie Willensentschließung des Angeklagten gewahrt bleiben muß und er insbesondere nicht durch Drohung mit einer höheren Strafe oder durch Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zu einem Geständnis gedrängt werden darf […].“29 Die freie Willensentschließung des Angeklagten sei aber nicht bereits dadurch verletzt, dass das Gericht dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafmilderung in Aussicht stelle. Unzulässig sei die Zusicherung einer Strafmilderung unter der Voraussetzung der Ablegung eines Rechtsmittelverzichts, so dass ein Rechtsmittelverzicht keinen zulässigen Inhalt einer Absprache darstelle.30

2. Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen Mit Beschluss vom 03.03.2005 entschied der Große Senat31 für Strafsachen die Frage, ob ein im Rahmen einer Urteilsabsprache abgelegter Rechtsmittelverzicht wirksam ist.32 Er legte fest, dass es dem Gericht sowohl verwehrt sei, an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts mitzuwirken, als auch auf einen solchen Verzicht hinzuwirken. Der Angeklagte könne zwar auch bei einer Urteilsabsprache auf Rechtsmittel verzichten. Er sei jedoch im Anschluss an das Urteil ausdrücklich – das heißt qualifiziert – darüber zu belehren, dass er ungeachtet der getroffenen Absprache in seiner Entscheidung frei sei, Rechtsmittel einzulegen.33 In seiner Entscheidung sah sich der Große Senat für Strafsachen dazu veranlasst, zur Zulässigkeit der Urteilsabsprachen im deutschen Strafprozess Stellung zu nehmen. Er erklärte Urteilsabsprachen für grundsätzlich zulässig und mit der geltenden Strafprozessordnung vereinbar und bestätigte damit die vorangegangene Entscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 43, 195.34 Es bestehe jedoch der „Anlaß, die der Absprachepraxis durch Verfassung und Strafprozeßordnung gesetzten, bereits in der Entscheidung BGHSt 43, 195 zusammengestellten Grenzen hervorzuheben und zu präzisieren.“35 28  BGHSt 43,

195 (204). 195 (204). 30  BGHSt 43, 195 (204). 31  Vgl. in Österreich: verstärkter Senat, § 8 OGHG. 32  BGHSt 50, 40–64. 33  BGHSt 50, 40 (40). 34  BGHSt 50, 40 (48). 35  BGHSt 50, 40 (48). 29  BGHSt 43,



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?173

Der Große Senat für Strafsachen stellte folgende Mindestvoraussetzungen auf:36 1.  „Das Gericht darf nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben […].“ 2. „Das bei einer Urteilsabsprache in der Regel abgelegte Geständnis muß auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Das Gericht muß von seiner Richtigkeit überzeugt sein.“ 3.  „Der Schuldspruch kann […] nicht Gegenstand einer Urteilsabsprache sein.“ 4. „Die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der bei einem ‚streitigen Verfahren‘ zu erwartenden Sanktion darf nicht so groß sein (‚Sanktionsschere‘), daß sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer angemessenen Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr erklärbar ist.“ 5. „Das Gericht darf über BGHSt 43, 195 (Leitsatz 2) hinaus nicht nur wegen neuer Erkenntnisse von seiner Zusage abweichen, sondern – nach entsprechenden Hinweis – auch dann, wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden […].“

Des Weiteren betonte der Große Senat für Strafsachen, dass die Zulassung von Urteilsabsprachen unter bestimmten Voraussetzungen im Wege richter­ licher Rechtsfortbildung deren Grenzen aufgrund der Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht überschreite und angebracht sei, um die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu gewährleisten sowie dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen.37 Zudem seien Regelungen durch den Gesetzgeber „konkret nicht abzusehen“.38 Dennoch wandte er sich an den Gesetzgeber: „Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei kommt ihm – auch von Verfassungs wegen – ein beachtlicher Spielraum zu […].“39

II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung? Es finden sich in der österreichischen Literatur Stimmen, die dem Versuch des BGH, eine Verfahrensordnung für Urteilsabsprachen aufzustellen, Vor36  BGHSt 50,

40 40 38  BGHSt 50, 40 39  BGHSt 50, 40 37  BGHSt 50,

(49 f.). (50; 53–55). (55). (64).

174

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

bildcharakter zusprechen.40 Anstatt das Phänomen der informellen Urteilsabsprachen zu negieren, sei der Versuch einer rechtlichen Bewältigung „ehrlicher“.41 Im Gegensatz zum OGH habe sich der 4. Strafsenat des BGH dem Themenkomplex der Urteilsabsprachen „vorbildhaft“ genähert.42

1. Vorlage für österreichische Rechtsprechungsleitlinien Ausgehend von den vom BGH aufgestellten Leitlinien hat Medigovic deshalb unter Einbeziehung der Ansicht Bertel43 Rechtsprechungsleitlinien für einen Konsens ausschließlich hinsichtlich der strafrechtlichen Reaktion skizziert, bei deren Einhaltung die Grenzen des § 164 Abs. 4 öStPO, das Prinzip der Schuldangemessenheit der Strafe, die Verfahrensgrundsätze sowie allgemein das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gewahrt bleiben sollen:44 Nach Anklageerhebung, aber vor Beginn der Hauptverhandlung sei das Ersuchen eines Gesprächs zwischen Angeklagtem bzw. Verteidigung und Richter sowie Staatsanwalt über die Schuldangemessenheit einer Strafe im Sinne einer Strafobergrenze für den Fall eines Geständnisses und dessen mögliche Akzeptanz durch den Angeklagten zulässig, sofern der Angeklagte bzw. seine Verteidigung keine Freispruchchancen sähen und der Angeklagte eine Verurteilung hinnehme. Zur Wahrung der Selbstbelastungsfreiheit dürfe aber keiner der Berufsjuristen den Angeklagten durch Druckausübung, insbesondere durch Androhung einer strengeren Strafe, zu einem Geständnis veranlassen. Zur Verhinderung schon des Anscheins einer Druckausübung, solle das Initiativrecht zu solchen Gesprächen nicht beim Richter, sondern beim Angeklagten liegen. Kämen die Verfahrensparteien zu einem Konsens im Sinne einer Strafobergrenze, dann dürfe auch der Richter seine Zustimmung erkennen lassen, jedoch keine bestimmte Strafe zusagen. Auch der Vorsitzende eines Schwurgerichtshofs dürfe mit den Verfahrensparteien entsprechende Gespräche führen. Öffentlichkeits- und Mündlichkeitsprinzip und der Grundsatz der Laienbeteiligung bedingten, dass die endgültige Absprache erst in der Hauptverhandlung unter Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligten, insbesondere auch der Laienrichter, getroffen werden dürfe. Das absprachenbedingte Geständnis dürfe aufgrund der Instruktionsmaxime nicht ohne Weiteres dem Urteil zugrunde gelegt werden, sondern müsse sich mit anderen 40  Siehe

die Nachweise in Fn. 15. Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132). 42  So Soyer, zitiert nach Kommenda, in: Die Presse v. 25.04.2005, S. 7. 43  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (14). 44  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (137  f.); dort auch zum folgenden Text. 41  So



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?175

Beweisergebnissen decken und glaubwürdig sein. Die Unschuldsvermutung verlange das Vorliegen hinreichend anderer Indizien nach Aktenlage für die Schuld des Angeklagten. Die übrigen Strafzumessungstatsachen müssten schon erhoben sein. Die Grenze zur unzulässigen Absprache über die Schuld dürfe nicht überschritten werden, indem ein Verzicht des Gerichts auf nach der Aktenlage angezeigte Beweisaufnahmen in Richtung eines weiteren oder strengeren Delikts ausgehandelt werde. Die Einbeziehung eines allseitigen Rechtsmittelverzichts in die Absprache sei statthaft, solange das Gericht einen solchen nicht fordere.45 Von dem Regelwerk des BGH unterscheiden sich diese Rechtsprechungsleitlinien nur gering: Die Initiative zu den Urteilsabsprachen soll von der Angeklagtenseite ausgehen und die Einbeziehung eines allseitigen Rechtsmittelverzichts in die Absprache ist möglich, solange das Gericht diesen nicht reklamiert. Die kritische Würdigung der BGH‑Richtlinien im Folgenden ist somit grundsätzlich auf diese Leitlinien übertragbar. Die erwähnten Abweichungen werden gesondert gewürdigt.

2. Kritische Würdigung der BGH-Rechtsprechung Um den Vorbildcharakter der BGH-Rechtsprechung zum Urteilsabsprachenphänomen beurteilen zu können, ist zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Leitentscheidungen des BGH sowohl unter inhaltlichen als auch unter rechtlichen Gesichtspunkten erforderlich. Zum anderen sind die Auswirkungen dieser BGH‑Rechtsprechung auf die deutsche Strafrechtspraxis in die Betrachtung miteinzubeziehen. a) Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats Ziel der Grundsatzentscheidung46 des 4. Strafsenats des BGH war eine Reglementierung und Domestizierung der bereits vorherrschenden informellen tatrichterlichen Verständigungspraxis, die angeblich nicht mehr abgeschafft werden konnte und deshalb nur noch zu kontrollieren, aber nicht zu verbieten war. Bei konsequenter Befolgung der aufgestellten Richtlinien seien Verstöße gegen die überkommenen Grundsätze des Strafverfahrensrechts der deutschen Strafprozessordnung nicht zu befürchten.47 Es findet sich auch in der deutschen Literatur die Behauptung, der 4. Strafsenat habe 45  Zum Ganzen Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (137 f.). 46  BGHSt 43, 195–212. 47  BGHSt 43, 195 (208).

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E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

sein Ziel erreicht.48 Dagegen sprechen allerdings schon die Feststellungen, dass sich die Praxis in weiten Teilen nicht an das Richterrecht gehalten hat.49 Im Folgenden soll veranschaulicht werden, warum das Unterfangen des 4. Strafsenats des BGH nicht gelingen konnte. aa) Inhaltliche Mängel Wann eine Urteilsabsprache vorgeschlagen wird, lag mangels Regelung weiterhin im richterlichen Ermessen. Kein Tatrichter kann dazu gezwungen werden, Erörterungen mit dem Ziel einer Urteilsabsprache aufzunehmen. Der Vorwurf einer Zweiklassenjustiz wird ohne garantierte gleichmäßige Rechtsanwendung i. S. d. Art. 3 GG nicht entkräftet und das Ansehen der Justiz in der Bevölkerung nicht gesteigert.50 Die Forderung des BGH, bei den Urteilsabspracheverhandlungen alle Verfahrensbeteiligten einzubeziehen und den wesentlichen Inhalt und das Ergebnis der Erörterungen in der Hauptverhandlung offenzulegen, stößt auf ein gegenläufiges Bedürfnis der Praxis nach Intransparenz.51 Das Abspracheergebnis wurde deshalb nach wie vor in Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung allein unter den Berufsjuristen ausgehandelt.52 Der Aushandlungsvorgang selbst blieb mit seinen Einzelheiten geheim und der Öffentlichkeit der Zugang zu wichtigen Informationen – etwa zur Frage, wer die Urteilsabsprache initiiert, welche Argumente dafür vorgebracht und wie sie erwidert wurden, ferner ob der Angeklagte sein Geständnis freiwillig oder unter Einsatz einer Sanktionsschere abgelegt hat – weiterhin verwehrt.53 Die negativen Folgen solcher informellen, lediglich unter den Berufsjuristen geführten Vorgespräche für die Grundsätze der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit54 und das Gebot des gesetzlichen Richters55 blieben bestehen. Eine Sicherung des Angeklagten hinsichtlich seiner Subjektstellung und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör56 fand nicht statt. Bedenken wegen der Freiwilligkeit seiner Kooperation und der rechtsstaatlichen Gültigkeit seines Geständnisses Böttcher, in: Meyer-Goßner-FS, 49 (56 f.). etwa Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 37 (44 f.); Schmitt, GA 2001, 411; Harms, in: Nehm‑FS, 289 (292); Fischer, StraFo 2009, 177 (180); ders., HRRS 2014, 324 (329); Stuckenberg, ZIS 2013, 212; Greco, GA 2016, 1 (3). Dazu auch Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 f.; Pilnacek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 132. 50  Harms, in: Nehm-FS, 289 (295 f.). Vgl. dazu auch oben, D. II. 2. 51  Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126. 52  Weigend, NStZ 1999, 57 (59). 53  Schünemann/Hauer, Deutsches AnwBl 2006, 439 (442). 54  Vgl. dazu oben, D. II. 7. 55  Vgl. dazu oben, D. II. 1. 56  Dazu oben, D. II. 3. 48  Exemplarisch 49  Siehe



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?177

als Urteilsgrundlage bestanden unvermindert weiter.57 Die Äußerungen des 4. Strafsenats zur Willensfreiheit des Angeklagten blieben dürftig.58 Einzig das vom Tatgericht nicht zu erfüllende Versprechen, den Angeklagten sofort in den offenen Strafvollzug aufzunehmen, wurde als unzulässige Einwirkung auf seine Willensfreiheit im Erkenntnisprozess qualifiziert. Neben den knappen und floskelhaften Ausführungen zu § 136a dStPO ging der Senat darüber hinweg, dass das In‑Aussicht-Stellen einer geringeren Strafe im Falle eines Geständnisses zugleich die Drohung beinhaltet, die Strafe falle ohne Geständnis höher aus.59 Dem Problem der Sanktionsschere ist der 4. Strafsenat aus dem Weg gegangen. Aus der Geständnisbereitschaft des Angeklagten kann auch nicht schematisch auf die Wahrheit seiner Tatsachenbehauptungen geschlossen werden.60 Die Frage der Art und Weise einer effektiven Glaubhaftigkeitskontrolle61 abgelegter Geständnisse wurde in der Entscheidung nicht ausgeschöpft. Die Tatsache, dass das Gericht weiterhin nach freiem Belieben sein Interesse an einer Urteilsabsprache bekunden und gleichzeitig die Größe des Strafrabatts bestimmen konnte, wurde nicht gewichtet.62 Der Angeklagte trug weiterhin einseitig das Risiko für das Zustandekommen einer Urteilsabsprache, weil sich die Justiz nach Nummer 2 der Leitsätze bei Vorliegen der weit formulierten Voraussetzungen von ihrer Absprachenvereinbarung lösen kann, obwohl der Angeklagte bereits ein Geständnis abgelegt und damit seine Verteidigungsposition aufgegeben hat.63 Zu einem Beweisverwertungsverbot des vorgeleisteten Geständnisses bei Scheitern der Urteilsabsprache äußerte sich der 4. Strafsenat nicht und problematisierte dementsprechend die Frage der Auswechslung des iudex a quo für den weiteren, streitigen Verfahrensteil nicht.64 Klärungsbedürftig war nach dem Richterrecht weiterhin, wie ein Richter vor Urteilsreife ein Strafmaß bestimmen und dennoch seine Neutralität bewahren können soll. Das zur teilweisen Erhaltung der Entscheidungsfreiheit ohne nähere Begründung postulierte Verbot der exakten Strafmaßzusage (sogenannte „Punktstrafe“) hat die Praxis partiell befolgt, indem sie lediglich eine Obergrenze 57  Zur Druckausübung auf den Angeklagten vgl. oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). 58  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 37 (44). 59  Weigend, NStZ 1999, 57 (59). 60  Zum falschen Geständnis oben, D. I. 3. 61  Vgl. oben, D. I. 1. b) bb) (2). 62  Siehe BGHSt 43, 195 (210). 63  Zum Problem der gescheiterten Urteilsabsprache vgl. oben, D. II. 5. 64  Zum Problem der Voreingenommenheit des absprachebeteiligten Richters im streitigen Verfahren vgl. oben, D. II. 9.

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E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

der zu erwartenden Strafe zusagte.65 Dabei gingen jedoch alle Verfahrensbeteiligten stillschweigend von der Übereinstimmung der später ausgeurteilten Strafe mit dieser Obergrenze aus.66 Das Bedürfnis nach Information über die genaue Strafhöhe im Fall der Urteilsabsprache konterkarierte das Verbot der punktgenauen Strafmaßabsprache. Ohne konkrete Kenntnis des zu erwartenden Strafmaßes lässt sich ein Angeklagter nicht ohne weiteres auf eine Absprache ein, die den „point of no return“ überschreitet.67 Ebenso kommt es der Staatsanwaltschaft auf das genaue Wissen um die zu erwartende Strafe an.68 Der 4. Strafsenat69 hielt die Deckungsgleichheit von verhängter Strafe und vereinbarter Obergrenze für zulässig.70 Die Verpflichtung des Gerichts zu einer Wahrheitssuche im konventionellen Sinne steht im Gegensatz zum Ziel jeder Urteilsabsprache, die Wahrheitssuche rasch zu beenden.71 Deshalb beantwortete die Rechtsprechung des BGH zu Unrecht nicht die entscheidende Frage, ob und wann dem Geständnis ein eigenständiger Beweiswert zugeschrieben werden kann, um es als Urteilsgrundlage ausreichen zu lassen.72 Das Postulat des 4. Strafsenats, das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit zu überprüfen, ging an den Inte­ressen der Praxis an einer größtmöglichen Verfahrensabkürzung und -erleichterung vorbei73 und blieb unbeachtet.74 Grundlage des Urteils war in der Folge nicht – wie § 261 dStPO fordert – die Beweiserhebung in der Hauptverhandlung, sondern blieb die Aktenlage, an der das Geständnis ausgerichtet wurde. Die Erkenntnis des 4. Strafsenats, eine Urteilsabsprache über die Schuld sei ausgeschlossen, da dessen Grundlage der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sei,75 nimmt Urteilsabsprachen die Grund­ lage,76 wenn auch eine Vereinbarung der Sachverhaltstat­sachen (sogenanntes „fact bargaining“) unzulässig ist.77 65  Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1035); Hamm, in: Nelles/Vormbaum, Forschung, 57 (72); Streng, JZ 2007, 154 (156). 66  Schmitt, GA 2001, 411 (423); Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (73). 67  Vgl. dazu oben, B. II. 2. d). 68  Kintzi, JR 1998, 249 (250). 69  BGHSt 43, 195 (208). 70  Wagner, in: Gössel-FS, 585 (596 f.). 71  Dazu oben, D. I. 1. a). 72  Hauer, Geständnis, S. 72; Müller, Martin, Probleme, S. 203. Zum Beweiswert von Geständnissen vgl. oben, D. I. 1. b) bb) (1) und (2). 73  Gössel, in: Böttcher-FS, 79 (88). Vgl. dazu oben, D. I. 1. a); D. I. 1. b) bb) (2). 74  Schmitt, GA 2001, 411 (420). 75  BGHSt 43, 195 (204). 76  Gössel, in: Böttcher-FS, 79 (87 f.). 77  Dazu Haller/Conzen, Das Strafverfahren, Rn. 644 mit Fn. 472.



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?179

Mit der grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Schuldangemessenheit78 bei abgesprochenen Urteilen beschäftigen sich die höchstrichterlichen Leitsätze ebenso wenig wie mit dem Problem einer nachvollziehbaren Bewertung des Geständnisses als Strafmilderungsgrund. Für die Anerkennung der strafmildernden Wirkung eines Geständnisses aufgrund dessen Bedeutung für die Sachverhaltsermittlung, Verfahrensbeschränkung und Rechtsfriedensstärkung finden sich in der Entscheidung keine Argumente, obgleich diese mehr als notwendig erscheinen, da eine solche Begründung in Deutschland neu war und sich gerade bei rein taktisch motivierten Absprachegeständnissen Reue und Einsichtigkeit kaum vermuten lassen.79 Das Gebot, die allgemeinen Strafzumessungsregeln zu beachten, geht ins Leere, da im Rahmen von Urteilsabsprachen die sonst allgemeingültigen Grundsätze der Strafzumessung nach hiesigem Standpunkt nicht zur Anwendung kommen können.80 Das Gericht hat die Möglichkeit, bei der Strafzumessung auf den prognostizierten Aufwand der Hauptverhandlung abzustellen und nicht nur auf die vom Angeklagten verschuldete Schädigung oder Gefährdung.81 Charakteristisch für eine Urteilsabsprache ist schließlich der Verzicht auf Rechtsmittel.82 Der Rechtsmittelverzicht wird in der Praxis aufgrund der Interessenlage der Juristen, das Verfahren mit dem geringstmöglichen Aufwand nicht nur schnell, sondern auch endgültig zu beenden, als derart selbstverständlich angesehen, dass er nicht einmal zwingend erklärt werden muss.83 Es werden aber auch deshalb keine Rechtsmittel eingelegt, weil sich die Berufsjuristen für die Zukunft das gute Verhandlungsklima erhalten wollen.84 Ein richterrechtliches Verbot des Rechtsmittelverzichts konnte in der Praxis keinen Anklang finden und Verstöße gegen die aufgestellten Rechtssätze hatten dementsprechend keine Folgen.85

78  Vgl.

dazu oben, D. III. 2. in: Keller-GS, 45 (66 f.); Hauer, Geständnis, S. 70 f. 80  Vgl. dazu oben, D. III. 1. 81  Hauer, Geständnis, S. 68. 82  Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126 f.; Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (123); dazu bereits oben, A. 83  Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, 335 (340); Hamm, in: Nelles/Vormbaum, Forschung, 57 (72); Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, Wirtschaftsstrafverfahren, S. 199–201. 84  Harms, in: Nehm-FS, 289 (293). Zu den Eigeninteressen der Berufsjuristen vgl. auch oben, B. II. 2. 85  Weigend, NStZ 1999, 57 (60); Weßlau, Konsensprinzip, S. 10. 79  Haas,

180

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

bb) Mangelnde Praxiskenntnis des BGH Neben diesen inhaltlichen Mängeln fehlte dem BGH zudem eine realistische Einschätzungsmöglichkeit der Urteilsabsprachenpraxis bei den deutschen Amtsgerichten, für die er nicht als Revisionsinstanz zuständig ist (§ 333 dStPO). Gleichfalls verhinderte die Nichteinlegung bzw. der Verzicht von Rechtsmitteln als notwendige Voraussetzung einer informellen Praxis die Befassung des BGH mit der Mehrzahl aller vorkommenden Urteilsabsprachenfälle.86 Im Jahre 1997, als der BGH seine richterlichen Leitsätze zu den Urteilsabsprachen formulierte, gelangten in Deutschland ca. 800.000 neue Strafverfahren zu Gericht. Etwa 14.000 dieser Verfahren wurden bei den Landgerichten als erstinstanzlichem Strafgericht anhängig. Die 3.500 Revi­ sionsverfahren vor dem BGH waren vor diesem Hintergrund somit nicht in der Lage, eine realitätsgetreue Beobachtung der Praxis zu bewirken. Diese tatsächlichen Voraussetzungen hatte der BGH bei der Etablierung seiner richterlichen Sätze ignoriert.87 b) Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen Im Ergebnis wurden der Entscheidung88 des Großen Senats für Strafsachen keine weiterführenden rechtstatsächlichen Erkenntnisse zu Grunde gelegt und keine wesentlich abweichenden Leitsätze formuliert. Das Ziel, die Leitlinien des 4. Strafsenats näher zu bestimmen, hat der Große Senat für Strafsachen verfehlt. Aus diesem Grund ähnelt die an dieser Entscheidung geübte Kritik derjenigen, welche das Urteil des 4. Strafsenats ausgelöst hat,89 so dass auf die obigen Ausführungen verwiesen wird. Allerdings schränkte der Große Senat für Strafsachen den Amtsermittlungsgrundsatz trotz Betonung seiner zentralen Bedeutung weiter ein,90 indem er erklärte: „Dazu muß das selbstbelastende, keinen besonderen Zweifeln im Einzelfall unterliegende Geständnis wenigstens so konkret sein, daß geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage steht, daß sich hiernach keine weiterge-

86  Hamm,

in: Meyer-Goßner-FS, 37 (45). in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 21 (22 f.); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 2.2. Zur angeführten Statistik: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Strafgerichte, Fachserie 10, Reihe 2.3 (2010), S. 14, 52, 150 [abrufbar unter: https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServ let/DEHeft_derivate_00006743/2100230107004.pdf;jsessionid=625FF4FB9DFBDAD F370FC471542AAB13 (abgerufen am: 31.08.2019)]. 88  BGHSt 50, 40–64. 89  Hauer, Geständnis, S. 74. 90  Müller, Martin, Probleme, S. 265. 87  Bernsmann,



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?181

hende Sachaufklärung aufdrängt.“91 Es erschließt sich nicht, wie im Abspracheverfahren eine Geständnisüberprüfung mittels Aktenlage genügen soll, wo doch im Strengbeweisverfahren die eigenständige Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung die Richtigkeit der Aktenlage kontrollieren soll.92 Das Vorleistungsrisiko des Angeklagten hatte der Große Senat für Strafsachen verschärft, da allein der Angeklagte die Folgen zu tragen hatte, wenn das Gericht bei seiner Strafmaßeinschätzung rechtliche oder tatsächliche Aspekte übersieht.93 Erst später hat der deutsche Strafprozessgesetzgeber insoweit ein Beweisverwertungsverbot für das vorgeleistete Geständnis als Kompensa­ tionsmittel eingeführt (§ 257c Abs. 4 S. 3 dStPO).94 c) Richterliche Rechtsfortbildung durch den BGH Das Ergebnis der Rechtsprechung des BGH zu den Urteilsabsprachen hinterlässt einen unbefriedigenden Eindruck. Die richterliche Ersatzgesetz­ gebung des 4. Strafsenats sollte nicht nur eine singuläre Normenlücke füllen, sondern ein komplexes Verfahrensreglement etablieren.95 Sie ging damit über den Aufgabenbereich richterlicher Rechtsfortbildung hinaus.96 Nach dem Gewaltenteilungsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG steht das Privileg, eine neue Prozessordnung für eine besondere Verfahrensart zu generieren, nur dem deutschen Gesetzgeber zu.97 Die Entscheidung des 4. Strafsenats ist in der deutschen Literatur deshalb bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen zu Recht auf Kritik gestoßen.98 Dem BGH fehlte die für eine richterliche Rechtsfortbildung erforderliche Legitimation. Der Verweis auf §  153a dStPO99 genügte nicht, da diese Ausnahmevorschrift ein anderes und den

91  BGHSt 50,

40 (49). nun auch BGH NStZ 2014, 170, wonach ein bloßer Abgleich mit der Aktenlage zur Geständnisüberprüfung nicht ausreicht. Der 2. Strafsenat des BGH folgt damit BVerfGE 133, 168 (209 f.); zur Entscheidung des BVerfG unten, F. I. 1. a) cc). 93  Zum Problem der gescheiterten Urteilsabsprache vgl. oben, D. II. 5. 94  Dazu unten, F. I. 1. a) bb). 95  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (647). 96  Schünemann, ZIS 2009, 484 (491): „per definitionem contra legem“. 97  Siehe dazu allgemein Scholz, ZG 2013, 105–120. 98  So etwa Weigend, in: 50 Jahre BGH-FG, 1011 (1016); Noak, StV 2002, 445 (446); Haas, in: Keller‑GS, 45 (73 f.); Duttge/Schoop, StV 2005, 421 (423); Schünemann, Wetterzeichen, S. 15; ders., RichterInnenwoche (2010), 9 (18 mit Fn. 29); Roxin/ders., Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 7; Fischer, NStZ 2007, 433 (435); Eschelbach, ZAP 2013, 1249. 99  BGHSt 43, 195 (203). 92  Vgl.

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E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

Beschuldigten weniger belastendes Verfahren regelt.100 Der Große Senat betonte, dass der deutschen Strafprozessordnung für die Ausgestaltung eines konsensualen Urteilsverfahrens zwar keine Maßstäbe entnommen werden könnten, Absprachen über das Verfahrensergebnis aber dennoch mit der Strafprozessordnung vereinbar und grundsätzlich zulässig seien.101 Bemüht, die Rechtsprechung des 4. Strafsenats zu rechtfertigen, propagierte er diese als gerade noch zulässige richterliche Rechtsfortbildung, war jedoch offenbar selbst nicht zweifelsfrei davon überzeugt.102 Der Große Senat für Strafsachen stellte nämlich auch fest, dass die deutsche Strafprozessordnung keine Urteilsabsprachen kenne.103 Dem BGH stand als Auslegungsgrundlage für eine Anerkennung der Urteilsabsprachen allein die Strafprozessordnung zur Verfügung. Fehlte es dort an interpretationsfähigen Normen, ist eine richterliche Rechtsfortbildung unzulässig.104 d) Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtspraxis Bei der Entwicklung der Richtlinien wurden die tatsächlichen Anliegen der Berufsjuristen und daraus resultierende Missverhältnisse zwischen diesen theoretischen Anforderungen und der Praxis ausgeblendet. Die vom BGH aufgestellten formalen Regeln widersprachen aus der Perspektive der Akteure auf der Ebene der Tatsacheninstanzen dem Sinn und Zweck informeller Urteilsabsprachen.105 Mit der Realität in der Praxis hatten sie nichts gemein,106 weshalb sie vielfach unbeachtet blieben.107 Fischer weist zu Recht darauf hin, dass es den Praktikern informeller Urteilsabsprachen eben nicht darum gegangen sei, „unter Anerkennung des geltenden formellen Rechts gewisse informelle ‚Erleichterungen‘  “ einzuführen.108 Mehr als eine „Scheinlö­ sung“109 wurde deshalb nicht präsentiert. Dies zeigt aber auch, dass eine rechtsprechungsrechtliche Integration der Urteilsabsprachen in die geltende deutsche Strafprozessordnung nicht möglich war.110 In Folge der richter100  Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (536–538); Moldenhauer, Verfahrensordnung, S.  267. A. A. etwa Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (245). 101  BGHSt 50, 40 (52 f.). 102  Rieß, StraFo 2006, 4 (13); ders., ZIS 2009, 466 (480); Saliger, JuS 2006, 8 (12); Müller, Martin, Probleme, S. 273. 103  BGHSt 50, 40 (52). 104  Müller, Martin, Probleme, S. 273. 105  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 37 (44 f., 48). 106  Weider, Vom Dealen, S. 139. 107  Dazu die Nachweise in Fn. 49. 108  Fischer, NStZ 2007, 433 (434). 109  Hauer, Geständnis, S. 355.



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?183

rechtlichen Legitimierung von Absprachen wurde allenfalls das Ergebnis der Urteilsabsprache in der Hauptverhandlung offengelegt und protokolliert.111 Andererseits fielen die letzten Skrupel bei der Teilnahme an dieser Praxis.112 Die weit gefassten Zulässigkeitsvoraussetzungen ermöglichten es, die bisher als zumindest zweifelhaft angesehene und daher tabuisierte Absprachepraxis unverändert fortzuführen.113 War die Verknüpfung von Sanktionshöhe und Kooperationsbereitschaft des Angeklagten von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Ansatz als rechtmäßig gebilligt, sanken auch die Bedenken, den Angeklagten für eine Kooperationsverweigerung zu bestrafen.114 Von diesem Ausgangspunkt war es nur ein quantitativer Schritt zu rechtsstaatswidrigen Übersteigerungen unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit.115 Tatrichter sahen sich offiziell zum Einsatz der Sanktionsschere gestattet, hatte es der BGH doch unterlassen, die Drohung mit einer Sanktionsschere als verbotene Vernehmungsmethode i. S. d. § 136a dStPO zu klassifizieren116 und nähere Aussagen dazu zu machen, wann eine unzulässige Sanktionsschere anzunehmen ist. Dagegen wurde die Gewährung eines Strafrabatts auch im Fall eines taktisch motivierten Geständnisses vom BGH gebilligt.117 Der vom Großen Senat für Strafsachen118 postulierte Abgleich des Geständnisses mit der Aktenlage wurde zu dem Mantra, dass lediglich der Aktenabgleich zur Glaubhaftigkeitsprüfung erforderlich sei.119 Für eine zurückhaltende Handhabung des Erledigungsinstruments der Urteilsabsprache bestand keine Gewähr mehr.120 Die BGH-Rechtsprechung führte damit zu keiner effektiven Zurückdrängung der Urteilsabsprachenpraxis und durch die Reglementierung wurde eine Ausbreitung eher begünstigt.121 Diese BGH-Rechtsprechung bleibt für die deutsche Strafverfahrenswirklichkeit kein erheblicher Gewinn.122

110  Weider, Vom Dealen, S. 139; vgl. auch Zschockelt, in: Salger-FS, 435 (436): „Der Richter der Strafprozeßordnung ist kein Handelspartner.“ 111  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 37 (46). 112  Velten, JSt 2009, 181 (182); Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (748 f.). 113  Fischer, NStZ 2007, 433 (434). 114  Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (749); vgl. auch Weßlau, Konsensprinzip, S. 11. 115  Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (749). 116  Velten, JSt 2009, 181 (182). 117  Velten, JSt 2009, 181 (182 f.). 118  BGHSt 50, 40 (49). 119  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 8.5. 120  Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (749). Vgl. auch die zitierten Rechtsprechungsbeispiele oben, D. I. 2. b) bb). 121  Velten, JSt 2009, 181 (182). 122  A. A. Kintzi, JR 1998, 249.

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E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

3. Kritische Würdigung der österreichischen Rechtsprechungsleitlinien Im Folgenden werden die anhand der Rechtsprechung des BGH von Medigovic skizzierten Leitlinien einer inhaltlichen und rechtlichen Prüfung unterzogen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Möglichkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung durch den OGH auf dem Gebiet der Urteilsabsprachen gelegt. a) Inhaltliche Mängel Die inhaltliche Kritik an den beiden Entscheidungen des BGH scheint auch Medigovic nicht ganz von der Hand weisen zu können, räumt sie doch ein, die von ihr aufgestellten Leitlinien seien nicht sehr „absprachefreundlich“, brächten dem Angeklagten aber zumindest den Vorteil einer milderen Strafe und dem Gericht immerhin eine arbeitsreduzierte Urteilsbegründung ein.123 Die an den BGH-Richtlinien geübte Kritik ist, wie erwähnt, grundsätzlich auf die von Medigovic skizzierten Richtlinien übertragbar. Das in Abweichung zu den BGH-Richtlinien von Medigovic geforderte exklusive Initiativrecht auf Angeklagtenseite124 wird in der Praxis Schwierigkeiten haben. Zwar kann der Angeklagte durchaus ein eigenes Interesse an einer Urteilsabsprache haben.125 Die an sich berechtigte126 Regelung des Initiativrechts lädt aber zu Umgehungsversuchen ein.127 So kann der Richter die mildernde Wirkung eines Geständnisses hervorheben und dadurch zwar nicht explizit, aber dennoch eindeutig zu einer Absprache auffordern.128 Ebenso kann die Verteidigung aufgrund eines „Superschulterschlusses“ mit der Justiz dem Angeklagten ein Initiativvorgehen als vorteilhafte Verteidigungsstrategie verkaufen.129 Zudem ist nicht auszuschließen, dass das Gericht während der Verhandlungsgespräche das Angebot der Verteidigung als unzureichend ansieht und ohne weitergehende Zugeständnisse das Scheitern der Absprache in 123  Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (138); vgl. dies., JBl 2011, 65 (66). 124  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (137  f.); so auch Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (14 mit Fn. 12). Vgl. auch BVerfG NJW 1987, 2662 (2663); zumindest nach dem Gesetzeswortlaut anders § 257c Abs. 3 S. 1 dStPO. 125  Dazu oben, B. II. 2. d). 126  Zum Problem der Initiativergreifung durch das Gericht oben, D. I. 2. a) bb). 127  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (18). 128  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (18). 129  Siehe oben, B. II. 2. c) und e).



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?185

den Raum stellt.130 Eine Differenzierung danach, wer das Angebot unterbreitet, vermeidet nicht die Möglichkeit einer Druckausübung auf den Angeklagten.131 Der Vorschlag, einen Rechtsmittelverzicht in der Absprache zuzulassen, solange das Gericht diesen nicht ausdrücklich zur Bedingung gemacht hat,132 kann aus den bereits zu den BGH‑Richtlinien angestellten Überlegungen nicht überzeugen.133 Zudem dürfte der Justiz der Bonus einer vereinfachten Urteilsbegründung nicht ausreichen, da nur der Wegfall der genauen Verhandlungsvorbereitung und der Durchführung der Beweisaufnahme eine komplexe zeit- und kraftzehrende Wahrheitssuche verhindert.134 b) Richterliche Rechtsfortbildung durch den OGH Richterliche Rechtsfortbildung ist grundsätzlich zulässig und der OGH als oberster Gerichtshof das dazu berufene Organ. Nach dem Prinzip der Gewaltenteilung gemäß Art. 94 Abs. 1 B‑VG ist sie allerdings nur in bestimmten Grenzen gestattet, nämlich wenn Höchstgerichte bestehende Gesetze auslegen und dort vorhandene Lücken schließen.135 Richterliche Rechtsfortbildung darf nur stattfinden, wo das geschriebene Recht ein Rechtsproblem nicht löst und eine Regelungslücke belässt. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch formelles Gesetz zu regeln. Zu diesen grundlegenden Bereichen zählt aufgrund seiner Grundrechtsrelevanz auch das Strafprozessrecht. Gleichfalls zwingt die Bindung der Richter an Recht und Gesetz (Art. 18 Abs. 1 B‑VG) den Gesetzgeber zur Vorgabe des strafprozessualen Fahrplans. aa) Erforderliche Legitimationsgrundlage Dem OGH steht für eine richterliche Rechtsfortbildung als erforderliche Auslegungsgrundlage das geltende Verfahrensrecht zur Verfügung. Dem vom Prinzip der Amtswegigkeit und dem Prinzip der materiellen Wahrheit geprägten Strafprozessrecht sind Urteilsabsprachen fremd; sie finden nicht ansatzweise im Gesetz Erwähnung.136 Auch ein Verbot der Urteilsabsprachen sucht 130  Zum

Problem der gescheiterten Abspracheverhandlung oben, D. II. 5. JZ 1988, 683 (687 f.); Tscherwinka, Absprachen, S. 137; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 279 f. Zur Drucksituation des Angeklagten oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). 132  Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (138). 133  Siehe oben, E. II. 2. a) aa). 134  Dazu bereits oben, D. I. 1. a). 135  Ferk, RZ 2009, 130 (132); Tomandl, ÖJZ 2011, 539 (544). 136  So auch Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181. 131  Seier,

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E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

man in der österreichischen Strafprozessordnung vergebens. Allerdings kennt sie seit längerem konsensuale Verfahren wie die Diversion (§§ 198 ff. öStPO), die „kleine“ Kronzeugenregelung (§ 41a öStGB) und seit 2011 die „große“ Kronzeugenregelung (§ 209a öStPO).137 Es wird deshalb behauptet, bereits die Existenz dieser konsensualen Elemente stelle ein ausreichendes Argument für die Zulässigkeit der gesetzlich nicht geregelten Urteilsabsprachen dar.138 Man könne Urteilsabsprachen nicht von vornherein als „völlig systemfremd“ bezeichnen.139 Urteilsabsprachen wurden in der Literatur bislang insbesondere als eine „Weiterentwicklung“ der Diversionsvorschriften nach §§ 198 ff. öStPO qualifiziert.140 Dementsprechend wird unter einer Diversion eine „Absprache zur vereinfachten Erledigung des Verfahrens“141 bzw. eine „verkürzte Form der Prozessabsprache bei einem Geständnis“142 verstanden. Aufgrund dieser Vergleichbarkeit seien auch Urteilsabsprachen zu akzeptieren.143 Ausdrücklich bemängelt wird, dass Urteilsabsprachen vom OGH vorrangig wegen ihres Verstoßes gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit für unzulässig erachtet werden, obwohl das gesetzlich anerkannte Strafrechtsinstitut der Diversion nach §§ 198 ff. öStPO ebenfalls eine Absage an das streng formalisierte Prinzip der mate­riellen Wahrheit bedeute.144 Daraus resultiere eine ungerechtfertigte Ungleich­behandlung zulasten der Urteilsabsprachen.145 Der OGH dürfe deshalb sein Verbot der Urteilsabsprachen nicht mit deren Durchbrechung des Prinzips der materiellen Wahrheit begründen.146 Richtig ist, dass bei einer diversionellen Verfahrenserledigung auf eine Hauptverhandlung verzichtet und bei der Suche nach der materiellen Wahrheit damit im Vergleich zum Normalverfahren ein geringerer Ermittlungsaufwand betrieben wird. Die Diversionsentscheidung kann mit einer Sanktion enden, die anhand der Aktenlage getroffen wird und bei der ein gemäß § 198 137  Siehe

dazu oben, B. III. 2. a) und b). etwa Oberhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 144 (145); Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (184–187). 139  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (58). 140  Mühlbacher, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 45 (49); ähnlich Philipp, Peter, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 114 (115); Oberhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 144 (145); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (66 f.). 141  Miklau, 8. Forum der Staatsanwälte (1999), 1 (3). 142  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (34). 143  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (34). 144  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (184 f.); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (66–68). 145  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (185). 146  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (186 f.). 138  So



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?187

Abs. 1 öStPO hinreichender Tatverdacht für den Tatnachweis ausreicht.147 Auf eine materiale Ergebnisrichtigkeit wird somit verzichtet. Dadurch kommt es zu einer Durchbrechung des Prinzips der materiellen Wahrheit. Tatsächlich lässt die wissenschaftliche Diskussion eine zureichende Thematisierung dieses Problems vermissen und behandelt die Diversion hauptsächlich unter den Aspekten einer weiteren Ausdehnung des Opportunitätsprinzips zulasten des Legalitätsprinzips und des Kompetenzverteilungsproblems zwischen Staatsanwaltschaft und rechtsprechender Gewalt.148 Dies mag damit zusammenhängen, dass der Regelfall einer Diversion eine rechtswirksame Vereinbarung zwischen Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft im Vorverfahren betrifft.149 Allerdings geht es bei der Diversion um die Legitimierung einer für den Beschuldigten belastenden Rechtsform. Sie ermöglicht nicht nur einen Strafverfolgungsverzicht, sondern verbindet diese Möglichkeit mit einer belastenden strafrechtlichen Reaktion. Beide Rechtsinstitute machen somit den Verstoß gegen die materielle Wahrheit zur Bedingung ihrer Möglichkeiten und erfordern im Vorfeld eine Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten.150 Diese Übereinstimmungen helfen aber nicht darüber hinweg, dass die Diversion etwas anderes ist als eine Urteilsabsprache.151 Bei der diversionellen Verfahrenserledigung wird nach dem Willen des Gesetzgebers ein Schuldspruch und die Verhängung einer Kriminalstrafe durch Urteil vermieden.152 Durch die Einstellung des Verfahrens ist sie ein Erledigungsverfahren ohne Schuldspruch.153 Die Schuldfrage bleibt bei der diversionellen Erledigung offen, weshalb eine bestmögliche Annäherung an die materielle Wahrheit entbehrlich ist. Bei der Diversion ist für die Feststellung des hinreichenden Tatverdachts eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ausreichend, da dieser Befund eine andere Funktion erfüllt als die für einen Schuldnachweis erforderliche Überzeugungsbildung des Gerichts im Urteilsverfahren.154 Die getroffene diversionelle Entscheidung ist auch in ihrer Wirkung einem Strafurteil nicht gleichgestellt, was sich positiv auf die Un147  Schroll,

in: Moos-FS, 259 (265). etwa Burgstaller, in: BMJ, Perspektiven, 123 (146–157); Hinterhofer, Diversion, S. 8–10. 149  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (184). 150  Zum konsensualen Element der Diversion oben, B. III. 2. a). 151  So auch deutlich OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127; a.  A. Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (58); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (245). 152  Hinterhofer, Diversion, S. 76; Höpfel, in: Jesionek-FS, 329 f.; Swoboda, RichterInnenwoche (2010), 86 (87). 153  OGH 15 Os 18/05v SSt 2005/21 = JBl 2007, 126 (127); Hinterhofer, Diversion, S. 4; Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (58). 154  Zur „Verurteilungswahrscheinlichkeit“ bei Diversion oben, B. II. 1. a) cc). 148  Siehe

188

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

schuldsvermutung auswirkt.155 Bei einer Urteilsabsprache wird dagegen durch ihre Qualifikation als Verfahren mit Schuldspruch eine Strafmilderung als Gegenleistung für kooperatives Verhalten des Angeklagten und seiner Verteidigung gewährt. Bei der Diversion erfolgt mit der Auferlegung von Auflagen und Weisungen eine andere staatliche Reaktion. Dieser Unterschied resultiert aus der dogmatischen Struktur der Diversion und ihrer kriminalpolitischen Zielsetzung. Gesetzgeberische Absicht war die Bereitstellung eines entkriminalisierenden Verfahrens für den Bereich der Bagatellkriminalität. Orientierungspunkt sind die modernen Strafzwecke der Resozialisierung und Wiedergutmachung. Primäres Ziel ist das außerstrafrechtliche Ausgleichsund Wiedergutmachungsinteresse.156 Der Beschuldigte soll freiwillig die Verantwortung auf sich nehmen, was seine Mitwirkung an der Suche nach einer für alle Verfahrensbeteiligten zufriedenstellenden Rechtsfolge voraussetzt.157 Der Beschuldigte erteilt seine Zustimmung zum Angebot der diversionellen Erledigung; die Ablegung eines Geständnisses ist durch das Entfallen einer expliziten Schuldfeststellung nicht erforderlich.158 Es wird als Mittel zur Klärung der Schuldfrage nicht benötigt, da die endgültige Aufklärung des tatsächlichen Geschehens von vornherein nicht angestrebt wird. Eine Vorleistungspflicht durch Geständnisablegung trifft den Beschuldigten daher im diversionellen Verfahren nicht, weshalb sich auch seine Situation bei Scheitern einer Diversion weniger verhängnisvoll darstellt als im Fall einer Urteilsabsprache, wo eine mögliche Verwertbarkeit des vorgeleisteten Geständnisses trotz Widerrufs im Raume steht.159 Ohne Geständnisablegungspflicht ist der nemo-tenetur-Grundsatz nicht in vergleichbarer Weise betroffen wie bei einer Urteilsabsprache.160 Der Beschuldigte muss nicht Beweismaterial gegen sich selbst beibringen.161 Mangels Schuldspruch gilt auch nach diversioneller Erledigung weiterhin die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) und es unterbleibt – anders als bei einer Verurteilung – eine Eintragung der Auflagen und Weisungen im Strafregister.162 Summa summarum stellt das diver­ sionelle Erledigungsverfahren im Vergleich zur Urteilsabsprache ein anderes, 155  Kienapfel/Höpfel/Kert,

Strafrecht AT, E 10 Rn. 32. in: Moos-FS, 259 (262). 157  Hinterhofer, Diversion, S. 75 f.; Höpfel, in: Jesionek-FS, 329 (329 f.); Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (27). 158  OGH 19.05.2004, 13 Os 16/04; 20.09.2011, 12 Os 102/11h; 12.08.2014, 14 Os 72/14s; RS0116299; Schroll, ÖJZ 2013, 861 (864). Siehe aber Hochmayr, RZ 2003, 275 (275–280). 159  Vgl. Obetzhofer, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (121). Siehe dazu oben, D. II. 5. 160  Zum nemo-tenetur-Grundsatz oben, D. I. 2. 161  Siehe dazu Reiter, RZ 2010, 103 (111). 162  Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 697 f. 156  Schroll,



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?189

weniger eingriffsintensives Rechtsinstitut dar. Die Diversion ist keine Durchbrechung des Prinzips der materiellen Wahrheit, das für das Strafverfahren gilt, soweit es auf eine strafrechtliche Verurteilung mit Schuldspruch und Strafausspruch abzielt. Die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung wird dadurch nicht berührt. Die Diversionsvorschriften nach §§ 198 ff. öStPO sind damit kein dogmatischer Anker für informelle Urteilsabsprachen. Auch die neuere Form diversioneller Erledigung, welche die Strafprozessordnung in der Vorschrift des § 209a öStPO seit dem Jahr 2011 kennt und die den Rücktritt von der Verfolgung wegen Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft regelt („große“ Kronzeugenregelung),163 stellt keine Legitimations­ grundlage für Urteilsabsprachen dar. In den Materialien zum StPRÄG II 2016, durch welches § 209a öStPO erheblich modifiziert wurde, findet sich der ausdrückliche Hinweis, dass die erfolgte gesetzliche Klarstellung in § 209a Abs. 1 öStPO, wonach der Täter ein reumütiges Geständnis ablegen und freiwillig die neuen Tatsachen oder Beweismittel als äußeres Zeichen einer inneren Abkehr vom eigenen kriminellen Verhalten offenbaren muss, verdeutliche, dass die Regelung des § 209a öStPO gerade nicht aus dem Gedanken einer Prozessabsprache abzuleiten sei, sondern auf erweiterten Strafzumessungserwägungen basiere.164 Ebenso beruhe die Neuformulierung auf dem auch die Strafaufhebung der tätigen Reue rechtfertigenden Gedanken der „goldenen Brücke“. Durch das Erfordernis des freiwilligen Herantretens des Täters an die Staatsanwaltschaft werde evident, dass die Regelung keine „Deals“ der Strafverfolgungsbehörden in Drucksituationen ermögliche, sondern das Initiativrecht ausschließlich beim potenziellen Kronzeugen liege.165 Der Gesetzgeber des StPRÄG II 2016 distanziert sich damit entschieden vom Institut der Urteilsabsprachen und verfolgt mit der überarbeiteten Formulierung insbesondere das Ziel, der Kritik des OGH166, die „große“ Kronzeugenregelung sei gleichermaßen wie Urteilsabsprachen als unzulässige Prozessabsprache abzulehnen, zu begegnen.167 Bereits aufgrund dieser nachdrücklichen Aussagen des Gesetzgebers ist es nicht möglich, aus der Existenz des § 209a öStPO einen Fixpunkt für Urteilsabsprachen herzuleiten. Es sei allerdings noch angemerkt, dass die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien, warum die „große“ Kronzeugenregelung aufgrund der Neuformulierung des § 209a öStPO nicht (mehr) auf den Gedanken eines „Deals“ 163  Siehe

zur „großen“ Kronzeugenregelung bereits oben, B. III. 2. b). BlgNR 25. GP 11 f. [abrufbar unter: https://www.parlament. gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01300/fname_566655.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 165  ErläutRV 1300 BlgNR 25. GP 11 (abrufbar unter: siehe Fn. 164). 166  OGH, Stellungnahme, 11/SN-201/ME 25. GP 2 [Internetquelle]; ders., Stellungnahme, 36/SN‑187/ME 24. GP 2 [Internetquelle]. 167  ErläutRV 1300 BlgNR 25. GP 11 (abrufbar unter: siehe Fn. 164). 164  ErläutRV 1300

190

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

rückführbar sein soll, nicht überzeugen.168 Aufgrund der Geständnis­ ablegungspflicht nach § 209a Abs. 1 öStPO über den eigenen Tatbeitrag (die Kronzeugentat)169 muss der potenzielle Kronzeuge Beweismaterial gegen sich selbst vorbringen, wodurch der nemo-tenetur-Grundsatz tangiert ist.170 Die Divergenz zu den Diversionsbestimmungen nach §§ 198 ff. öStPO stellt sich hier deutlich dar.171 Der Kronzeuge hat nun zwar gemäß § 209a Abs. 1 öStPO nach Ablegung seines Geständnisses unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf diversionelles Vorgehen, dieser Anspruch unterliegt aber der Vorprüfung (§ 209a Abs. 2 öStPO) und insbesondere der nachfolgenden Einzelfallprüfung (§ 209a Abs. 3 öStPO) durch die Staatsanwaltschaft sowie letztlich der Rechtsmittelberechtigung des Rechtsschutzbeauftragten (§ 209a Abs. 6 öStPO). Den Kronzeugen trifft daher eine Vorleistungspflicht durch Geständnisablegung,172 weshalb seine Situation bei Scheitern einer diversionellen Erledigung zumindest tendenziell vergleichbar mit einer fehlgeschlagenen Urteilsabsprache ist.173 Der Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist betroffen. Des Weiteren ist das nun ausschließlich auf Kronzeugenseite verankerte Initiativrecht (§ 209a Abs. 1 öStPO) nicht geeignet, den Anschein eines „Deals“ zu verhindern, sondern betrifft die Frage des freiwilligen Handelns auf Täterseite.174 Auch bei einer Urteilsabsprache muss die Initiative nicht zwingend vom Gericht ausgehen.175 Zudem erschließt sich nicht, warum die jetzt ausdrücklich festgeschriebene Reumütigkeit des Geständnisses (§ 34 Abs. 1 Nr. 17, 1. Alt. öStGB) die „Dealnähe“ entfallen lassen sollte, zumal die an dieses Merkmal gestellten Anforderungen vom potenziellen Kronzeugen auch fingiert werden 168  So auch Ruhri, Österreichisches AnwBl 2017, 157 (159). A. A. Pilnacek, in: Lewisch, Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit (2016), 9 (34). 169  Zum Begriff der Kronzeugentat: Schwaighofer, 39. Ottensteiner (2011), 5 (14); Leitner/Ulrich, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 209a Rn. 8; Schroll, in: WK-StPO (2016), § 209a Rn. 7. 170  Vgl. Komenda, JSt 2013, 66 (69); vgl. dazu auch Nimmervoll, JBl 2018, 696 (701 f.). Zum nemo‑tenetur-Grundsatz oben, D. I. 2. 171  Nimmervoll, JBl 2018, 623 (630 f.). Vgl. auch Haudum, Kronzeugen, S. 166; Leitner, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.01 2014), Vor §§ 198–209b Rn. 5; Schroll, in: WK-StPO (2016), § 209a Rn. 2. 172  BMJ, Handbuch Kronzeugenregelung, S.  18 [Internetquelle]; Nimmervoll, JBl 2018, 696 (698, 703); ÖRAK, Stellungnahme, 17/SN-201/ME 25. GP 3 f. [Internetquelle]. Vgl. auch Leitner/Ulrich, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 209a Rn. 44.  173  Vgl. dazu Komenda, JSt 2013, 66 (69). Siehe oben, D. II. 5. 174  Tipold, JSt 2016, 497 (498); vgl. auch Carrera, JBl 2015, 341 (350). Zum Problem möglicher Umgehungsversuche bei ausschließlichem Initiativrecht des Angeklagten oben, E. II. 3. a). 175  Dazu oben, A. I.; B. II. 2. d).



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?191

könnten.176 Aus der Gesetzessystematik scheint sich zu ergeben, dass der potenzielle Kronzeuge vor seinem Herantreten an die Staatsanwaltschaft noch kein Geständnis abgelegt haben darf.177 Das zu frühe Geständnis wäre demnach nicht mehr „kronzeugenfähig“, wobei sich doch gerade in einem Spontangeständnis Reumütigkeit zeigen kann.178 Ist damit die Herantretensweise an die Staatsanwaltschaft von wesentlichem Belang,179 scheint das Nachtatverhalten des potenziellen Kronzeugen (weiterhin) deutlich durch Kalkül beeinflusst. Dafür spricht auch die Empfehlung, das Anbahnungsgespräch zwischen potenziellem Kronzeugen und Staatsanwaltschaft sei zur Absicherung des Kronzeugen am sachdienlichsten durch einen Verteidiger zu vermitteln.180 Ebenso wird darauf hingewiesen, dass gerade ein Rechtsanspruch des potenziellen Kronzeugen auf diversionelles Vorgehen, wie nun in § 209a Abs. 1 öStPO vorgesehen, Gelegenheit zum Manövrieren biete.181 Dass der potenzielle Kronzeuge zum Zeitpunkt seines Herantretens an die Staatsanwaltschaft bereits Beschuldigter in einem gegen ihn wegen seiner Kronzeugentat geführten Ermittlungsverfahren sein darf,182 kommt als weiterer möglicher Strategieposten hinzu. Charakteristisches Merkmal der „großen“ Kronzeugenregelung bleibt deshalb auch nach der Neufassung des § 209a öStPO, dass der potenzielle Kronzeuge mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeitet, dadurch die Aufklärung von Straftaten Dritter unterstützt und somit der eigenen Bestrafung entgeht.183 Der neuformulierte § 209a öStPO vermag den Vorwurf einer dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechenden Allianz zwischen Staat und Rechtsbrechern nicht zu eliminieren.184 Rechtsstaatliche Bedenken an dieser Vorschrift bestehen fort;185 nach wie vor lässt sich beispielsweise die Verletzung des aus § 32 Abs. 1 öStGB zu entNimmervoll, JBl 2018, 623 (631). JBl 2018, 623 (631). 178  Vgl. Carrera, JBl 2015, 341 (350). 179  So Nimmervoll, JBl 2018, 623 (631). 180  So Nimmervoll, JBl 2018, 696 (698); vgl. auch ders., JBl 2018, 623 (629); Radasztics/Sackmann, ZWF 2017, 2; Lewisch, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 9.12. 181  So Komenda, JSt 2013, 66 zur alten Rechtslage. 182  ErläutRV 1300 BlgNR 25. GP 13 (abrufbar unter: siehe Fn. 164). 183  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2017, 157 (159). Vgl. Komenda, JSt 2013, 66 (67), der in Bezug auf die alte Rechtslage von einem „vom Gesetzgeber autorisierten Tauschhandel“ spricht. 184  Zur alten Rechtslage Paulitsch, ÖJZ 2010, 1092. 185  Siehe ÖRAK, Stellungnahme, 17/SN-201/ME 25. GP 2, 3 f. [Internetquelle]. Zur Kritik an der Vorschrift des § 209a öStPO a. F. siehe etwa Soyer, RichterInnenwoche (2010), 69 (76 f.); Schwaighofer, 39. Ottensteiner (2011), 5 (9–21). Zur Kritik an der deutschen Kronzeugenregelung (§ 46b dStGB): Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46b Rn. 2 m. w. N. 176  Vgl.

177  Nimmervoll,

192

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

nehmenden Schuldgrundsatzes mangels tatadäquater Strafe ebenso beanstanden wie das Ausbleiben eines sachlichen Grundes für die Ungleichbehandlung von Tätern mit und ohne für die Justiz relevantem Informationsstoff.186 Ähnelt sich nach dem vorstehend Ausgeführten somit die gegenüber der Vorschrift des § 209a öStPO und den informellen Urteilsabsprachen entgegengebrachte Kritik, bleibt es aufgrund der eindeutigen Ablehnung von Urteilsabsprachen durch den Gesetzgeber des StPRÄG II dennoch bei dem zuvor festgestellten Ergebnis, dass § 209a öStPO keine Legitimationsgrundlage für die informelle Rechtsfigur der Urteilsabsprachen bildet.187 Die Vorschrift ist Element einer problematischen Entwicklung in Richtung eines kooperativen Strafverfahrens. Sie beinhaltet als Ausnahmevorschrift aber nicht die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen. Ähnliches gilt für das Mandatsverfahren, welches zum 1. Januar 2015 in Gestalt des § 491 öStPO erneut in die österreichische Strafprozessordnung eingeführt wurde, nachdem es im Jahre 1999 aus rechtsstaatlichen Gründen gestrichen worden war.188 Dieses schriftliche Verfahren ermöglicht dem Gericht unter gewissen Voraussetzungen den Erlass einer Strafverfügung, mit der es eine Geldstrafe oder – wenn der Angeklagte verteidigt ist – eine ein Jahr nicht übersteigende, gemäß § 43 Abs. 1 öStGB bedingt nachzusehende Freiheitsstrafe verhängen kann, ohne dass eine Hauptverhandlung durchgeführt wird.189 Eine Hauptverhandlung findet nur statt, wenn der Angeklagte gegen die Strafverfügung Einspruch einlegt (§ 491 Abs. 8 öStPO). Lässt der Angeklagte die Einspruchsfrist verstreichen, steht die Strafverfügung einem Urteil gleich (§ 491 Abs. 9 öStPO). Hinsichtlich des Zeitpunktes gleicht die Situation, in welcher der für die Diversion erforder­ liche hinreichende Tatverdacht festgestellt werden muss, der Situation bei Erlass einer Strafverfügung im Mandatsverfahren. Der Wegfall der Hauptverhandlung bedingt bei beiden eine anhand des Aktenstoffs vorzunehmende Antizipation der Erkenntnislage, wie sie sich nach Durchführung einer Hauptverhandlung darstellen könnte. Allerdings genügt für den Erlass der Strafverfügung keine Prognose über eine Verurteilungswahrscheinlichkeit, da das Mandatsverfahren ein Verfahren mit Schuldspruch und nach § 8 öStPO bzw. Art. 6 Abs. 2 EMRK der gesetzliche Nachweis der Schuld unerlässlich 186  Vgl. Weratschnig, RichterInnenwoche (2010), 128 (133); vgl. auch Tipold, JSt 2016, 497 (498). 187  A. A. zur alten Rechtslage wohl Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (185– 187). 188  Siehe dazu die EBRV 1581 BlgNR 20. GP 22 f. [abrufbar unter: https://www. parlament.gv.at/PAKT/VHG/XX/I/I_01581/fname_140510.pdf (abgerufen am: 31.08. 2019)]. 189  Zu den Grundzügen des neuen Mandatsverfahrens nach § 491 öStPO unten, F. I. 2. h) aa).



II. Vorbildfunktion dieser BGH-Rechtsprechung?193

ist. Das Gericht muss deshalb aufgrund des in den Akten festgehaltenen Ermittlungsergebnisses von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein.190 Obwohl ein Geständnis keine zwingende Voraussetzung für eine Strafverfügung ist, soll es nach den Materialien ein „wesentliches Beurteilungskriterium“ für deren Erlass sein.191 Im Gegensatz zur Diversion regelt das Mandatsverfahren somit etwas Ähnliches wie die Urteilsabsprache. Es wird ­deshalb befürchtet, dass das Mandatsverfahren die Diversion bei der Frage um eine Legitimationsgrundlage für Urteilsabsprachen in Zukunft ablösen könnte.192 Einer solchen Argumentation wäre jedoch aus folgenden Gründen zu widersprechen: Zum einen bleiben die rechtsstaatlichen Bedenken gegen das Mandatsverfahren auch nach dessen Wiedereinführung aufrechterhalten.193 Zum anderen lässt sich aus den offensichtlichen Parallelen zwischen Mandatsverfahren und Urteilsabsprachen lediglich entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Absprache in Form des Mandatsverfahrens mit den im Gesetz näher bezeichneten Voraussetzungen zugelassen hat. Zu der Möglichkeit, ein Strafverfahren mittels einer Urteilsabsprache zu beenden, schweigt das Gesetz in § 491 öStPO. Zur Rechtfertigung der von seinem speziellen Anwendungsbereich nicht umfassten verfahrensbeendenden Absprachen kann das Mandatsverfahren nichts beisteuern. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber für die Verfahrensbeteiligten in der Strafprozessordnung vereinzelt die Möglichkeit einvernehmlicher Verfahrenserledigungen vorsieht, sagt noch nichts aus über die Rechtmäßigkeit von Urteilsabsprachen.194 Die der österreichischen Strafprozessordnung bekannten Ausnahmeverfahren scheiden deshalb als Legitimation für Urteilsabsprachen aus. Es fehlt an einer Regelungslücke für Urteilsabsprachen in der Strafprozessordnung, weil diese nur das konventionelle Urteilsverfahren, das Strafverfügungsverfahren und das diversionelle Verfahren vorsieht, aber keine Mischung aus diesen Verfahrensarten. In der österreichischen Strafprozessordnung existiert keine Norm, aus der sich die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen ableiten lässt.

190  Dazu

unten, F. I. 2. h) bb). BlgNR 25. GP 19 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXV/I/I_00181/fname_353785.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 192  So die Bedenken bei Tipold, 16/SN-38/ME 25. GP 9, 14 [Internetquelle]. 193  Venier, 10/SN-38/ME 25. GP 3 [Internetquelle]. Dazu eingehender unten, F. I. 2. h) bb). 194  Vgl. zum deutschen Recht Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (536–538); Gössel, in: Blomeyer-GS, 759 (764). 191  ErläutRV 181

194

E. Postulierte Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung

bb) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung Die Grenze einer richterlichen Rechtsfortbildung ist überschritten, wenn sie zur Veränderung eines Normgefüges führt. Mit den Urteilsabsprachen hat sich neben dem in der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahren eine weitere Prozessform entwickelt, die im Gegensatz zur grundsätzlich vergleichsfeindlich ausgestalteten Strafprozessordnung steht.195 Bei einer Zulässigkeitserklärung von Urteilsabsprachen geht es nicht um lückenfüllendes Richterrecht, sondern um die Legitimierung eines weiteren, mit dem geltenden Gesetzesrecht nicht zu vereinbarenden Verfahrenstyps. In einem demokratischen Rechtsstaat kann der Rechtsprechung aufgrund der Gewaltentrennung die Etablierung einer neuen Verfahrensart nicht zustehen. Setzt der Richter sich an die Stelle des Gesetzgebers und schafft neues Recht, liegt eine unzulässige Grenzüberschreitung vor. Dem OGH würde es somit auch an der erforderlichen Kompetenz fehlen, wenn er in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung selbst eine Verfahrensordnung für Urteilsabsprachen nach dem Vorbild des BGH schaffen wollte. c) Mutmaßliche Auswirkungen auf die österreichische Strafrechtspraxis Mit einem vergleichenden Blick nach Deutschland lässt sich konstatieren, dass auch in der österreichischen Verfahrenswirklichkeit richterrechtliche Richtlinien zur Handhabung von Urteilsabsprachen im Strafprozess ähnlich denjenigen des BGH wohl nicht eingehalten würden; denn sie durchkreuzen das Ziel von Urteilsabsprachen.196 Bereits aus diesem Grund ist eine Regulierung der Urteilsabsprachenpraxis durch den OGH abzulehnen. Hinzu tritt die Annahme, dass der OGH mit einer Etablierung richterlicher Leitsätze katalysatorisch auf eben solche Absprachen wirken könnte, denen er mit Rechtsprechungsleitlinien Einhalt gebieten wollte.197

III. Ergebnis des Kapitels Bestrebungen, der Problematik der Urteilsabsprachen durch richterrecht­ liche Vorgaben beizukommen, sind nicht erfolgsversprechend. Eine Verankerung der Urteilsabsprachen in das geltende System der Strafprozessordnung 195  Dohr,

13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111. Hamm, in: Meyer‑Goßner‑FS, 37 (44 f., 48); oben, E. II. 2. d). Zur grundsätzlichen Vergleichbarkeit informeller Urteilsabsprachen im deutschen und österreichischen Recht, Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14.3. 197  Vgl. Velten, JSt 2009, 181 (182). 196  Vgl.



III. Ergebnis des Kapitels195

ist weder praktisch noch dogmatisch zu leisten. Die Vorschriften zum Hauptstück der Strafprozessordnung sind keine tauglichen Anknüpfungspunkte für die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen, denn diese gründen sich auf diametralen Prinzipien wie dem der Formalisierung. Eine andere Möglichkeit zur Legitimierung der Urteilsabsprachen als deren Integration in die Strafprozessordnung stünde dem OGH als Höchstgericht jedoch nicht zur Verfügung. Eine fundamentale Umgestaltung der Strafprozessordnung ist nicht Aufgabe und Privileg der Rechtsprechung, wäre für eine Legitimierung der Urteilsabsprachen aber unausweichlich. Für ein Tätigwerden des österreichischen Gesetzgebers auf dem Gebiet der Urteilsabsprachen sind allerdings gegenwärtig keine Anzeichen erkennbar.198 Der OGH stand deshalb, wie seinerzeit der BGH, vor dem Dilemma, entweder den „Wildwuchs“199 der täglichen Praxis weiterwuchern zu lassen oder einzugreifen. Auf der Basis des geltenden Rechts ist das vom OGH200 ausgesprochene prinzipielle Verbot von Urteilsabsprachen konsequent, denn es entspricht der österreichischen Rechtskultur.201 Der OGH ist nicht mit denselben Kompetenzen und Möglichkeiten ausgestattet wie der Gesetzgeber. Es erscheint deshalb falsch, seine Grundsatzentscheidung zu den Urteilsabsprachen als realitätsfern zu bezeichnen.202 Zu Recht hält der OGH in Folgeentscheidungen an seiner Rechtsprechung fest.203 Die im Jahre 1997 mit der Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats des BGH aufgestellten Rechtsprechungsleitlinien besitzen aufgrund ihrer dargestellten Mängel keine Vorbildfunktion. Der OGH sollte am Beispiel der deutschen Absprachenkultur allerdings erkennen, dass es nicht genügen kann, Urteilsabsprachen zu verbieten und Berufsjuristen bei Zuwiderhandlung mit Sanktionen zu drohen.204

auch Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (183). NStZ 1988, 153 (154). 200  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127–128; dazu oben, C. I. 201  Obetzhofer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 119 (120). 202  So aber beispielsweise Arbeitsgruppe Strafrecht und Arbeitskreis Berufsrecht des ÖRAK, Österreichisches AnwBl 2007, 183 (187). 203  OGH 12.07.2006, 13 Os 70/06b; 13 Os 1/10m JBl 2011, 63–65. 204  Velten, JSt 2009, 181 (190). 198  So

199  Dahs,

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis Die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung prägt die Diskussion um das Thema der Urteilsabsprachen im österreichischen Strafverfahren.1 Behauptet wird, die Zulässigkeitsprobleme informeller Urteilsabsprachen könnten durch eine legislatorische Regelung behoben werden.2 Ob der österreichische Gesetzgeber auf dem Gebiet der Urteilsabsprachen tatsächlich zum Tätigwerden bereit ist, wird in der Literatur bezweifelt.3 Der Ressourcenmangel der Strafjustiz stellt allerdings in der Rechtspolitik eine nicht zu unterschätzende Triebfeder für solche Reformvorhaben dar.4 Würde sich der Gesetzgeber für eine Legalisierung entscheiden, stünde er vor keiner leichten Aufgabe, da Urteilsabsprachen in erheblichem Maße zum klassischen Prozessverständnis differieren und mit den Grundprinzipien des österreichischen Strafverfahrens kollidieren.5 Der Gesetzgeber könnte aber auch ein Machtwort sprechen und Urteilsabsprachen ausdrücklich verbieten. Dieses Kapitel befasst sich deshalb mit den beiden Alternativen einer gesetzlichen Regelung von Urteilsabsprachen: ihrer Legalisierung und ihrem Verbot.

I. Legalisierung von Urteilsabsprachen Wie einleitend angemerkt, ist für die Mehrzahl der Absprachenbefürworter die Legalisierung von Urteilsabsprachen unverzichtbar, um die Rechts­ sicherheit der österreichischen Strafrechtspraxis zu stabilisieren. In der Tat kann eine gesetzliche Regelung zu größerer Rechtssicherheit beitragen, da Gesetze nach allgemeinen Regeln ausgelegt werden und so eine gleichmäßige Rechtsanwendung garantieren sollen.6 Dies gilt allerdings nur, wenn das Gesetz die Rechtsprobleme des zu regelnden Sachkomplexes tatsächlich löst. Vorliegend müsste eine gesetzliche Regelung die festgestellten Zuläs­ sigkeits­probleme informeller Urteilsabsprachen durch deren Formalisierung konsequent bewältigen. Das erscheint zweifelhaft. Prozessökonomische As1  Siehe etwa Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38); Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132). 2  Dazu die Nachweise oben, C. II. 2. b), Fn. 46. 3  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (183, 198). 4  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (198). 5  Siehe dazu oben, D. 6  Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen197

pekte sind – wie bereits dargelegt7 – nicht geeignet, in einem Rechtsstaat Verstöße gegen verfassungsrechtliche Prinzipien und tradierte Prozessrechtsgrundsätze zu rechtfertigen. Der österreichische Gesetzgeber müsste eine gerechte Lösung für den Einzelfall finden und gleichzeitig den Instanzengerichten Grenzen setzen, innerhalb derer Urteilsabsprachen, insbesondere ohne Druckausübung auf den Angeklagten, zulässig sein sollen. Um den Forderungen der Absprachenbefürworter zu genügen, müsste der Gesetzgeber wiederum Rechtsregeln festlegen, die der Praxis ausreichend Spielraum belassen, um den gewünschten Entlastungseffekt weiterhin erzielen zu können.8 Rechtsklarheit und gleichmäßige Gesetzesanwendung sind zudem nur zu erwarten, wenn der Gesetzgeber möglichst genaue Kriterien formulieren würde, welche die Wahl zwischen dem herkömmlichen Verfahren der österreichischen Strafprozessordnung und der neuen Erledigungsform der Urteilsabsprachen determiniert. Trotz dieser enormen Hürden sind Gesetzesvorschläge unterbreitet worden, die für sich beanspruchen, die Zulässigkeitsprobleme informeller Urteilsabsprachen mit einem klaren, rechtliche Grenzen beinhaltenden Regelkonzept zu beheben. In einem ersten Schritt wird deshalb geprüft, ob sich Urteilsabsprachen in das Normalverfahren der österreichischen Strafprozessordnung integrieren ließen (F. I. 1.). Diesen Weg der Integration hat der Gesetzgeber des deutschen Verständigungsgesetzes gewählt, das vorliegend unter dem Gesichtspunkt begutachtet wird, ob es dem österreichischen Gesetzgeber bei der Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung als Vorbild dienen könnte. Als weitere Möglichkeit wird der Gesetzesvorschlag der deutschen Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) untersucht, welcher ein Konsensprinzip als neue Maxime im Strafprozess installiert und die bisherige Hauptverhandlung umgestaltet, indem er Urteilsabsprachen als alternatives Verfahrensmodell des Normalverfahrens einführt. In einem zweiten Schritt wird die Einführung von Sonderverfahren (F. I. 2.) beleuchtet. Diese Sonderverfahren verstehen sich als legislatorischer Gegenvorschlag zu den eben angeführten Integrationsmodellen. Ihr Ziel ist es, eine rechtsstaatliche Alternative zu informellen Urteilsabsprachen zu bieten. Es geht um die Legalisierung einer Verfahrensverkürzung, wie sie gegenwärtig durch das Praktizieren von informellen Urteilsabsprachen erreicht wird. Abschließend wird erörtert, ob der Gesetzgeber zur Integration von Urteilsabsprachen einen rein adversatorischen Prozesstyp einführen könnte (F. I. 3.). Dies würde eine Neuausrichtung der Prozessstruktur bedeuten. Die hier vorgenommene Darstellung und Würdigung von Regelungsvorschlägen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versucht, ver7  Oben, 8  Vgl.

D. IV. Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (51).

198

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

schiedene rechtliche Rahmen aufzuzeigen, die dem österreichischen Gesetzgeber bei der Einführung eines Abspracheverfahrens zur Verfügung stünden. Im Mittelpunkt der kritischen Würdigung dieser Modelle muss nach dem Gesagten die Frage stehen, ob die rechtlichen Probleme der informellen Urteilsabsprachen mit deren Formalisierung und Integration in das geltende Recht gelöst würden, beziehungsweise ob alternativ Sonderverfahren eine rechtsstaatlich vertretbare Verfahrensabkürzung gewährleisten könnten. Dies wird vornehmlich an den beiden Kernproblemen zu entscheiden sein: Der Vereinbarkeit mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit und der Beeinflussung der Entscheidungsfreiheit des Angeklagten durch die professionellen Verfahrensbeteiligten.9 Maßgeblich wird sein, ob sich die einzelnen Ausgestaltungsmöglichkeiten an der Realität der Strafrechtspraxis orientieren oder nur theoretische Modelle liefern.

1. Integration von Urteilsabsprachen in das Normalverfahren Als erstes wird eine mögliche Vorbildfunktion des deutschen Verständigungsgesetzes untersucht, das im Jahre 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist. Zweitens wird der Gesetzesvorschlag der BRAK dargestellt, die ein Konsensprinzip als neue Maxime im Strafprozess installiert, um Urteilsabsprachen als alternatives Verfahrensmodell des Normalverfahrens zu legitimieren. a) Vorbildfunktion des deutschen Verständigungsgesetzes Der Große Senat für Strafsachen hatte in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2005 den deutschen Gesetzgeber aufgefordert, zur Urteilsabsprachenpraxis Stellung zu beziehen.10 Dieser Appell wurde schließlich erhört. Mitte 2009 ist das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ in Kraft getreten.11 Das deutsche Integrationsmodell bettet Urteilsabsprachen als punktuelles Änderungsgesetz in das geltende Strafprozessrechtssystem ein, mit dem Ziel, weiterhin ein der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtetes Strafverfahren und die Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe sicherzustellen. Das Gericht bleibt danach auch bei einer Urteilsabsprache an die tradierten, den Strafprozess dominierenden Grundsätze ausnahmslos gebunden. In der österreichischen Literatur hat das deutsche Verständigungsgesetz viel Lob geerntet und wird seitdem als Vorbild für eine gesetzliche Reglementierung der Urteilsabsprachen im österrei9  Zu

diesen beiden Kernproblemen oben, D. I. 40 (64). Dazu oben, E. I. 2. 11  Vom 29. Juli 2009, dBGBl I 2009, S. 2353 f. (Verständigungsgesetz). 10  BGHSt 50,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen199

chischen Strafprozess gehandelt.12 Die angepriesene Vorbildfunktion des deutschen Verständigungsgesetzes ist deshalb zu überprüfen. aa) Normgefüge des deutschen Verständigungsgesetzes Die Gesetzesregelung besteht aus fünf neuen Paragraphen (§§ 160b, 202a, 212, 257b, 257c dStPO), die in die deutsche Strafprozessordnung eingefügt wurden. Zudem ergänzt sie die deutsche Strafprozessordnung an mehreren Stellen (§ 243 Abs. 4 dStPO; § 273 Abs. 1a dStPO; § 302 Abs. 1 S. 2 dStPO), das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (§ 78 Abs. 2 OWiG) ändert es minimal. Bereits an dieser formalen Ausgestaltung zeigt sich, dass die Regelung als Bestandteil des Systems der geltenden Strafprozessordnung verstanden werden will.13 Die Amtsaufklärungspflicht bleibt nach § 257c Abs. 1 S. 2 dStPO ausdrücklich unberührt.14 Die Bundesregierung beschreibt ihr Regelungskonzept in der Begründung ihres Regierungsentwurfs dahingehend, „dass für die Verständigung im Strafverfahren keine neue – dem deutschen Strafprozess bislang unbekannte – Form einer konsensualen Verfahrenserledigung, die die Rolle des Gerichtes, insbesondere bei seiner Verpflichtung zur Ermittlung der materiellen Wahrheit, zurückdrängen würde, wünschenswert ist. Es gelten weiterhin die Grundsätze des Strafverfahrens, namentlich, dass eine Verständigung unter Beachtung aller maßgeblichen Verfahrensregeln einschließlich der Überzeugung des Gerichtes vom festgestellten Sachverhalt und der Glaubhaftigkeit eines Geständnisses stattfinden muss, die Grundsätze des fairen Verfahrens und des recht­ lichen Gehörs, nicht zuletzt auch die Transparenz der Hauptverhandlung und der Unterrichtung der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung, gewahrt sein müssen, und dass insbesondere das Prinzip des schuldangemessenen Strafens nicht verlassen werden darf.“15

Zentrale Vorschrift der Regelung ist § 257c dStPO. Diese Norm typisiert die Verständigung und nennt ihre Voraussetzungen. Sie bestimmt die an einer Verständigung Beteiligten, den möglichen Verständigungsgegenstand und das Verfahren, in dem eine Verständigung zustande kommt und wieder aufgelöst wird. Sie regelt sowohl die Entstehung einer Verständigung als auch ihre Bindungswirkung mit deren Wegfall, deren Voraussetzungen und 12  Siehe etwa Soyer, JSt 2009, 37 (41); Mühlbacher, JSt 2009, 40 (41); Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243; Koenig, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 61 (69); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (69 f.). 13  Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG-K, Teil A Rn. 27. 14  Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG-K, Teil A Rn. 27. 15  BT-Drs. 16/12310, S. 8.

200

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

Folgen. Nach § 302 Abs. 1 S. 2 dStPO ist der Verzicht auf Rechtsmittel ausgeschlossen. bb) Kritische Würdigung der Regelung Das Verständigungsgesetz enthält mit § 257c dStPO eine zentrale Norm, die im Kern eine Kodifikation der von der Rechtsprechung entwickelten Grenzen in das Gesetz ist.16 Teilweise weicht die gesetzliche Regelung vom Richterrecht des BGH ab und geht darüber hinaus. Neu sind im Gesetz insbesondere die Formulierung von Mitteilungs‑, Dokumentations- und Hinweispflichten (§§ 243 Abs. 4, 257c Abs. 5, 273 Abs. 1a dStPO), die stärkere Ausformung des Verständigungsverfahrens (§ 257c Abs. 3 und 4 dStPO), die gesetzliche Begrenzung zulässiger Verständigungsinhalte (§ 257c Abs. 2 dStPO), die Einführung eines Beweisverwertungsverbots für das verständigungsbasierte Geständnis im Falle der Lösung des Gerichts von der Verständigung (§ 257c Abs. 4 S. 3 dStPO) sowie der Ausschluss des Verzichts auf Rechtsmittel gegen verständigungsbasierte Urteile (§ 302 Abs. 1 S. 2 dStPO). Die bereits erörterten Schwächen der Rechtsprechung sind größtenteils in das Gesetz übernommen;17 insbesondere sind der genaue Inhalt von Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung, die Ausgestaltung des verständigungsbasierten Geständnisses und seine Strafzumessungsbedeutung, ferner die Rechtsfolgenbedeutung von „Prozessverhalten“ als Verständigungsgegenstand nicht näher geregelt. Hierin liegen ungelöste Probleme des Gesetzes zur Verständigung im Strafverfahren,18 die zu divergierenden Entscheidungen des BGH19 und des BVerfG20 geführt haben. Der Gesetzgeber tut es dem BGH gleich und glaubt fälschlicherweise über eine bloße Formalisierung des Urteilsabspracheverfahrens durch weitreichende Hinweis- und Dokumentationspflichten dessen Probleme zu lösen, während er materiell-inhaltliche Fragen offen lässt. Dem Verständigungsgesetz ist deshalb die bereits an den BGH‑Richtlinien geübte Kritik entgegenzuhalten,21 worauf als Ergänzung zu den folgenden komprimierten, kritischen Ausführungen verwiesen wird. Der deutsche Gesetzgeber bestimmt insbesondere: 16  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (406); Bockemühl, 2. Dreiländerforum (2012), 199 (201); Schünemann, in: Wolter-FS, 1107 (1117). 17  Hierzu oben, E. II. 2. a) aa) und E. II. 2. b). 18  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (406). 19  BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 5 = BGH ZWH 2015, 367–370 mit Anm. Bittmann; BGH, Beschl. v. 10.12.2015 – 3 StR 163/15. 20  BVerfG NStZ 2015, 172–174; NJW 2015, 1235–1237; Beschl. v. 09.12.2015 – 2 BvR 1043/15 = NJW‑Spezial 2016, 121; Beschl. v. 16.02.2016 – 2 BvR 107/16; NStZ 2016, 422–425. 21  Hierzu oben, E. II. 2. a) aa).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen201

Nach § 257c Abs. 1 S. 1 dStPO soll auf Initiative des Gerichts22 die Verständigung in geeigneten Fällen zustande kommen. Der Gesetzgeber klärt nicht, was darunter zu verstehen ist.23 Solange es nicht um die nach § 257c Abs. 2 S. 3 dStPO ausgeschlossenen Maßregeln geht, ist nach dem von der Praxis bevorzugten Maßstab der Prozessökonomie praktisch jeder Fall geeignet.24 Das Zustimmungserfordernis der Staatsanwaltschaft nach § 257c Abs. 3 S. 4 dStPO kommt als eine weitere Inkonstante hinzu, denn nicht jeder Staatsanwalt ist gewillt, dem Angeklagten die Möglichkeit einer Urteilsabsprache einzuräumen.25 Gleichmäßige Rechtsanwendung ist nicht garantiert.26 Der Angeklagte hat keinen Anspruch auf eine Verständigung,27 sondern besitzt nach § 257c Abs. 3 S. 4 dStPO weiterhin lediglich zu Protokollierungszwecken ein Zustimmungsrecht für das Zustandekommen der Verständigung, dessen Freiwilligkeit nicht sichergestellt ist.28 § 257c Abs. 1 S. 2 dStPO behauptet zudem schlicht die Vereinbarkeit von der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 dStPO mit der Absprachenpraxis.29 Welchen Gewinn eine Absprache bringen soll, wenn die Aufklärungspflicht des Gerichts uneingeschränkt fortbesteht, erschließt sich nicht. Die Kernprobleme einer jeden Urteilsabsprache werden somit ignoriert und der Praxis nicht aus ihrer Misere geholfen.30 § 257c Abs. 2 S. 2 dStPO bestimmt lediglich, dass Gegenstand der Verständigung ein Geständnis sein „soll“. Der deutsche Gesetzgeber signalisiert damit, dass eine Verständigung auch ohne Geständnis funktionieren könnte,31 wenn beispielsweise auf Verteidigungshandlungen 22  Fezer, NStZ 2010, 177 (181); Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 257c Rn. 23a. Zum Problem des gerichtlichen Intitiativsrechts vgl. oben, D. I. 2. a) bb). 23  Gieg, GA 2007, 469 (471 f.); Hettinger, in: Müller-FS, 261 (281); Mellinghoff, in: ÖJK, Strafverfolgung, 145 (157); Malolepszy, ZStW 126 (2014), 489 (501). Siehe dazu BT‑Drs. 16/12310, S. 13. 24  Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, § 257c Rn. 6. 25  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.15, 28.1; so auch Kruse, in: Richter-FS, 331 (338); Graumann, HRRS 2008, 122 (128 f., 135). Zum Ausschluss der Staatsanwaltschaft von den Verhandlungsgesprächen Herrmann, JuS 1999, 1162 (1164). Vgl. auch BGHSt 38, 102; 42, 46. 26  Steinberg, DRiZ 2012, 19 (21  f.); Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 257b-257c ff. Rn. 19; v. Heintschel‑Heinegg, in: KMR-StPO (2009), § 257c Rn. 21. Die Forderung nach gleichmäßiger Rechtsanwendung wird gerne als Argument für eine gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachen verwendet, siehe etwa Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38). 27  Moldenhauer/Wenske, in: KK-StPO, § 257c Rn. 12. 28  Vgl. Müller, Martin, Probleme, S. 443 f. 29  Ambos/Ziehn, in: Radtke/Hohmann, StPO, § 257c Rn. 17; Busch-Gervasoni, in: Schiller-FS, 109 (111 f.); Malolepszy, ZStW 126 (2014), 489 (499 f.). 30  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.8 f. 31  Dies stellt auch Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (247) fest.

202

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

verzichtet wird.32 Ohne Geständnis fehlt es aber an einer Leistung des Angeklagten, die mit einer Strafmilderung belohnt werden könnte.33 Zur Frage der Qualität und Strafzumessungsbedeutung des Geständnisses wird keine Stellung genommen.34 § 257c Abs. 2 dStPO regelt den Gegenstand der Verständigung. Die Regelung geht über das nach bisherigem Richterrecht Zulässige hinaus.35 Gegenstand einer Verständigung ist der Strafausspruch (§ 257c Abs. 2 S. 1 dStPO), nicht aber der Schuldspruch36 oder ein Maßregelausspruch (§ 257c Abs. 2 S. 3 dStPO). Beim Verbot einer Verständigung über den Schuldspruch ist nicht eindeutig, ob auch die Feststellungen des zugrundeliegenden Sachverhalts Gegenstand einer Verständigung sein können. Verfügen die Beteiligten über Tatsachenerkenntnisse, dann bezieht sich die Verständigung oftmals indirekt auch auf den Schuldspruch,37 nicht zuletzt durch Zurücknahme von Beweisanträgen.38 Das Gericht „kann“ nach § 257c Abs. 3 S. 2 dStPO eine Ober- und Untergrenze für die prognostizierte Strafe angeben. Das Richterrecht des BGH hatte allein eine Obergrenze vorgesehen.39 Ob das nach dem Gesetz noch in Betracht kommt, ist der Regelung nicht sicher zu entnehmen.40 Warum überhaupt nur ein solcher „kleiner Strafrahmen“ genannt werden darf, aber keine erwartete „Punktstrafe“, wie dies nach dem deutschen Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. dStPO) möglich ist, lässt das Gesetz nicht erkennen; das frühere Richterrecht des BGH hatte dies behauptet,41 aber nie begründet. Durch die zusätzliche Angabe einer Untergrenze wird der Spielraum des Gerichts für eine erst nach Ende der Beweisaufnahme abschließende ungebundene Entscheidung i. S. d. § 261 dStPO weiter verringert und gleichzeitig daraus der Vergleichsgedanke der Regelung erkennbar.42 Wie groß der Abstand zwischen Ober- und Untergrenze sein darf, sagt das Gesetz nicht. Der Gesetzgeber gibt in § 257c Abs. 3 S. 2 dStPO nur die Beachtung der allgemeinen Strafzumessungsgründe des § 46 Abs. 1 dStGB vor, ohne 32  Rosenau,

in: Rosenau/Kim, Straftheorie, 45 (46). in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 41 e. 34  BT-Drs. 16/12310, S. 13 f. 35  Meyer-Goßner, in: Böttcher-FS, 105 (116). 36  So schon BGHSt 43, 195 (204); 50, 40 (50). 37  Fischer, ZRP 2010, 249 (250); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 11.7. 38  Vgl. dazu BVerfG NStZ 2016, 422–425 mit Anm. Bittmann. 39  BGHSt 43, 195 (207); 50, 40 (47). 40  Für eine Zulässigkeit: Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 21. Siehe aber BGH NStZ 2011, 648; StV 2012, 134 (134 f.). 41  BGHSt 51, 84 (86). 42  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 12. 33  Kinzig,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen203

dabei auf das Problem der Schuldangemessenheit abgesprochener Urteile näher einzugehen.43 Nach § 257c Abs. 4 dStPO kann die Bindung des Gerichts an die Zusage einer Verständigung entfallen. Bis auf die Mitteilungspflicht nach § 257c Abs. 4 S. 4 dStPO kann sich das Gericht nahezu barrierefrei von seiner Zusage lösen, womit zugleich, wie Eschelbach feststellt, ein rechtsstaatlich bedenkliches „Disziplinierungsmittel“ gegen den Angeklagten festgeschrieben wird.44 Die Vorbehalte gegen das mögliche Entfallen einer Bindung des Gerichts verstärken sich, wenn man die Unvollkommenheit des Verwertungsverbotes eines vorgeleisteten Geständnisses bedenkt.45 Zum einen, weil dem Gericht das Geständnis bekannt bleibt und somit unter psychologischen Aspekten zumindest unbewusst weiterwirkt, zum anderen, weil eine Fernwirkung in der deutschen Rechtsprechung regelmäßig verneint wird.46 Aus Fairnessgründen erscheint hier die Anerkennung von Folge- und Fernwirkungen angebracht.47 § 257c dStPO sieht unverständlicherweise keine Ersetzung des iudex a quo für den „streitigen“ Verfahrensteil vor, wenn die Urteilsabsprache scheitert.48 Neben dem allgemeinen Hinweis auf Vorgespräche ist nach der Protokollierungsregelung gemäß § 243 Abs. 4 dStPO und § 273 Abs. 1a dStPO lediglich der wesentliche Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis der eigentlichen Verständigung in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen. Das Herzstück der Vorgespräche, die Debatte zwischen den Berufsjuristen über Sach- und Rechtsfragen, sowie die Abwägungen des Gerichts zur Beweiswürdigung und zur Strafzumessungsentscheidung werden – wenn nicht ohnehin nur Ergebnisverhandlungen geführt werden – nicht dokumentiert, weshalb echte Transparenz nicht gewährleistet ist. Trotz Ausschluss des Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 S. 2 dStPO) bleibt die Nichteinlegung eines Rechtsmittels informelle Geschäftsgrundlage der Absprachenpraxis.49 Das Wiederaufnahmerecht erscheint als mögliche Gegenmaßnahme, um Urteile, die auf einer Ergebnisab43  Vgl.

hierzu oben, D. III. 2. in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 5. 45  Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 37. 46  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 5. Vgl. zur Fernwirkung BGH, Beschl. v. 27.04.2016 – 4 StR 52/16; OLG Düsseldorf NStZ 2017, 177– 180. Zum Problem der Geständnisvorleistung vgl. oben, D. II. 5. und 9. 47  Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 51; v. Heintschel-Heinegg, in: KMR‑StPO (2009), § 257c Rn. 52. 48  Isfen, ZStW 125 (2013), 325 (335); Velten, in: SK-StPO, § 257c Rn. 47; Paeff­ gen, in: SK-StPO, § 202a Rn. 9; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 5.2. 49  Nobis, StRR 2012, 84 (89). Dies wird in einer Studie bestätigt: Altenhain/ Dietmeier/May, Praxis, S. 183. Zum Rechtsmittelverzicht bereits oben, E. II. 2. a) aa). 44  Eschelbach,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

sprache beruhen, zu kontrollieren, weshalb der Weg zur Wiederaufnahme des Verfahrens großzügiger als bisher eröffnet werden müsste.50 Wiederaufnahmeanträge, die den verfahrensökonomischen Effekt der Urteilsabsprachen konterkarieren, werden von Gerichten zu oft „abgeblockt“.51 Das mutmaß­ liche Tatopfer wird im Verständigungsgesetz nicht erwähnt, obwohl die Einführung des Gesetzes auch mit Opferschutzinteressen begründet wurde.52 Abschließend bleibt festzuhalten: Der deutsche Gesetzgeber hat die Einführung des Verständigungsgesetzes schlicht als alternativlos bezeichnet und die Tatsache ignoriert, dass dadurch das überkommene System der Strafprozessordnung elementar umgewälzt wird.53 Auf diese Folge hatte die deutsche Literatur zwar stets hingewiesen,54 sie wurde aber missachtet und stattdessen fälschlicherweise behauptet, es fänden sich in der Literatur kaum noch Einwände gegen die positivrechtliche Regelung von Urteilsabsprachen.55 Ausgestattet mit einem mangelhaften Konzept war der deutsche Gesetzgeber bestrebt, das von der Rechtspraxis formulierte Regelungsbedürfnis zu realisieren, anstatt die der Absprachenpraxis zugrunde liegenden Probleme, auf die der Große Senat des BGH ausdrücklich hingewiesen hatte,56 zu lösen.57 Mit seiner bloßen Hoffnung, die Vorschrift des § 257c dStPO werde die Absprachenpraxis zugleich legitimieren und begrenzen, hat er den Konflikt zwischen Doktrin und Rechtswirklichkeit negiert.58 cc) Einschreiten des BVerfG Das BVerfG hat im März 2013 die Normen des Verständigungsgesetzes im Rahmen von Verfassungsbeschwerden mittelbar einer Kontrolle unterzogen und das Gesetz für derzeit verfassungskonform erklärt.59 Vor seiner Ent50  Dazu Eschelbach, HRRS 2008, 190 (201  f.); ders., in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 56; § 261 Rn. 69–71; Ruhs, Rechtsbehelfe, S. 422 f. 51  Vgl. Peters, Karl, in: Dünnebier-FS, 53 (72), der von einem „Abblocken“ spricht. Vgl. auch Wasserburg, ZRP 1997, 412. 52  Siehe BT-Drs. 16/12310, S. 14. 53  Siehe BT-Drs. 16/12310, S. 2, 8. 54  Beispielhaft Gössel, in: Böttcher-FS, 79 (92); Hettinger, in: Müller-FS, 261 (272); Weßlau, in: Müller-FS, 779 (794); Schünemann, in: DAV-FS, 827 (832); Murmann, ZIS 2009, 526 (534). 55  Siehe BT-Drs. 16/12310, S. 7 f. 56  BGHSt 50, 40 (56). 57  Fischer, StraFo 2009, 177 (178, 180). 58  Fischer, StraFo 2009, 177 (187 f.). 59  BVerfGE 133, 168–241. Einen Überblick über die verständigungsbezogene Rechtsprechung des BVerfG bis zum Jahr 2013 gibt Rabe, Verständigungsurteil, S. 11–27, 30–34.



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scheidung hatte das BVerfG im Jahre 2012 ein Gutachten eingeholt.60 Mit der empirischen Untersuchung sollte insbesondere herausgefunden werden, ob und inwieweit die Regelungen des 2009 in Kraft getretenen Verständigungsgesetzes von den Tatrichtern umgesetzt werden.61 Dieses Gutachten attestiert der Praxis erhebliche Umsetzungsdefizite. Das BVerfG meint allerdings, dies lediglich auf eine fehlende Verinnerlichung des Gesetzes zurückführen zu können. Dem deutschen Gesetzgeber obliege aufgrund der fest­ gestellten Defizite die Beobachtungs- und Kontrollpflicht bezüglich der Wirksamkeit der im Gesetz vorgesehenen Schutzmechanismen.62 Sollten sich künftig weitere Umsetzungsmängel zeigen, sei er zum Einschreiten verpflichtet.63 (1) Vom BVerfG in Auftrag gegebenes Gutachten Im Zuge der Erhebung wurden im Bundesland Nordrhein-Westfalen 190 Richter befragt, 117 bei Amtsgerichten und 73 Strafkammervorsitzende. Als Kontrollgruppen dienten 68 Staatsanwälte sowie 76 Fachanwälte für Strafrecht.64 Nach Einschätzung der Richter wurden 17,9 Prozent der Strafverfahren an Amtsgerichten und 23 Prozent der Strafverfahren an Landgerichten durch Verständigungen erledigt. Die Angaben der Staatsanwälte und Verteidiger ergaben höhere Werte.65 58,9 Prozent der Richter gaben an, mehr als die Hälfte ihrer Verständigungen „informell“ durchgeführt zu haben. 26,7 Prozent gaben an, stets so vorgegangen zu sein. 33 Prozent der Richter teilten mit, außerhalb der Hauptverhandlung Verständigungen geführt zu haben, ohne dies in der Hauptverhandlung offen zu legen. Demgegenüber bestätigten bei den Staatsanwälten 41,8 Prozent und 74,7 Prozent der Verteidigung, Beteiligter an einem solchen Vorgehen gewesen zu sein.66 Zur Glaubhaftigkeitsüberprüfung des Geständnisses befragt, gaben 61,7 Prozent der Richter an, die Glaubhaftigkeit eines Geständnisses immer zu überprüfen. 38,3 Prozent gaben zu, eine Überprüfung nicht immer, sondern nur häufig, manchmal, selten oder nie vorzunehmen. Unter den Richtern gaben 16 Prozent an, neben der Strafobergrenze grundsätzlich eine alter­ native Strafe für den Fall einer „streitigen“ Verhandlung zu nennen, 35,3 Prozent räumten ein solches Vorgehen ebenfalls ein. Der Erklärung von in Altenhain/Dietmeier/May, Praxis. Praxis, S. 5. 62  BVerfGE 133, 168 (235 f.). 63  BVerfGE 133, 168 (236). 64  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 25. 65  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 31–35. 66  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 36–39. 60  Veröffentlicht

61  Altenhain/Dietmeier/May,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

27,4 Prozent der Richter zufolge wird nach einer Verständigung weiterhin auf Rechtsmittel verzichtet. Bei 56,6 Prozent erfolgte der Rechtsmittelverzicht häufig; bei 14,7 Prozent immer. 16,4 Prozent der Richter und 30,9 Prozent der Staatsanwälte berichteten, sich im Zuge einer Verständigung auf eine ihrer Ansicht nach zu milde Strafe eingelassen zu haben. Nach Auskunft von 30,3 Prozent der Verteidiger haben diese schon eine ihrer Ansicht nach zu hohe Strafe akzeptiert. Das Gutachten belegt das unveränderte Praxisverhalten auf tatgerichtlicher Ebene trotz Einführung des Verständigungsgesetzes. Es bestätigt damit die Befürchtungen in der deutschen Literatur, dass ein Urteilsabspracheverfahren nach den Regeln des Verständigungsgesetzes der ökonomisierten Praxis kaum Gewinn bringen und deshalb in der Realität nicht eingehalten werden würde.67 Gleichzeitig bescheinigt es der deutschen Strafverfahrenspraxis ihre Rechtswidrigkeit in nicht unerheblichen Teilen, was als „rechtsstaatlicher Teilbankrott“ bezeichnet wird.68 Informelle Urteilsabsprachen jenseits der Regeln des Verständigungsgesetzes sind illegal.69 Sie unterscheiden sich im Wesen nicht von den in der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit praktizierten informellen Urteilsabsprachen. Beide bedienen sich des Erscheinungsbildes gewöhnlicher Prozesshandlungen, um das Verfahren mit einem heimlich ausgehandelten Urteil abseits der geltenden Gesetze endgültig zu beenden. (2) Urteil des BVerfG vom 19.03.2013 Die Beschwerdeführer der insgesamt drei Verfassungsbeschwerden wandten sich gegen ihre Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung. Die ersten beiden Fälle betrafen die Rüge der Nichtbelehrung nach § 257c Abs. 5 dStPO. Im dritten Fall wurde die Anwendung einer Sanktionsschere gerügt. Mittelbar richteten sich die Verfassungsbeschwerden auch gegen die gesetzliche Vorschrift des § 257c dStPO.70 Das BVerfG hat die Normen des Verständigungsgesetzes einer Kontrolle unterzogen. In dem am 19.03.2013 verkündeten Urteil71 stellt es unter Verweis auf die Umfrageergebnisse des von ihm in Auftrag gegebenen Gutachtens fest, „dass Gerichte, Staatsanwalt67  Siehe etwa Fischer, NStZ 2007, 433 (435 f.); ders., StraFo 2009, 177 (185); Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (368 f.); Murmann, in: Roxin-FS, 1385 (1401); Altvater, in: Rissing‑van Saan‑FS, 1 (7); Nobis, StRR 2012, 84 (89). 68  So Stuckenberg, ZIS 2013, 212 (214). Vgl. auch Fischer, HRRS 2014, 324 (330): „ein veritabler Skandal“. 69  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (641–644). 70  Zum Sachverhalt BVerfGE 133, 168 (180–186). 71  BVerfGE 133, 168 (233). Im Folgenden auch als Verständigungsurteil bezeichnet.



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schaften und Verteidigung in einer hohen Zahl von Fällen die gesetzlichen Vorgaben missachten“. Der „in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes“ führe allerdings derzeit noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.72 Der Gesetzgeber sei aber dazu berufen, die weitere Entwicklung zu beobachten und zu kontrollieren: „Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und sollten die materiellen und prozeduralen Vorkehrungen des Verständigungsgesetzes nicht ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen und dadurch die an eine Verständigung im Verfahren zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken […]. Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein.“73 (a) Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes Nach Ansicht des BVerfG könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung nicht festgestellt werden.74 Das Verständigungsgesetz sichere die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender Weise: § 257c Abs. 1 S. 2 dStPO schließe jede Disposition über Gegenstand und Umfang der Pflicht zur Aufklärung des Geschehens aus. Aufgrund des Hinweises in § 257c Abs. 1 S. 2 dStPO auf § 244 Abs. 2 dStPO bedürfe es keiner gesetzlichen Festlegung der an ein Geständnis zu stellenden Qualitätsanforderungen. Vielmehr genüge dieser Hinweis zur Verdeutlichung, dass auch in der Verständigungssituation ein inhaltsleeres Formalgeständnis oder die nicht einmal als Geständnis zu wertende schlichte Erklärung, der Anklage nicht entgegenzutreten, keine taugliche Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein könne. Vor dem Hintergrund des Regelungsziels, die Grundsätze der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts und der richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen, könne § 257c Abs. 1 S. 2 dStPO nur so verstanden werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit durch Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung zu überprüfen sei. Ein bloßer Abgleich mit der Aktenlage genüge nicht. Mit dem Kriterium der „geeigneten Fälle“ aus § 257c Abs. 1 S. 1 dStPO habe der Gesetzgeber vor allem sicherstellen wollen, dass das Gericht nicht vorschnell auf eine Verständigung ausweiche, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich und rechtlich überprüft zu haben.75 72  BVerfGE 133,

168 168 74  BVerfGE 133, 168 75  BVerfGE 133, 168 73  BVerfGE 133,

(233). (236). (203, 233). (207–210).

208

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

Das Regelungsziel des Gesetzgebers, neben den Tatsachenfeststellungen auch die rechtliche Würdigung des festgestellten Sachverhalts der Disposition der Beteiligten zu entziehen, finde in § 257c Abs. 2 S. 1 dStPO, der den zulässigen Gegenstand von Verständigungen auf die „Rechtsfolgen“ beschränke, unmittelbaren Ausdruck. Aus dieser Regelung folge auch, dass eine Strafrahmenverschiebung nicht Gegenstand einer Verständigung sein dürfe. Ferner finde das Regelungsanliegen Ausdruck in dem Verbot einer Verständigung über den Schuldspruch aus § 257c Abs. 2 S. 3 dStPO. § 257c Abs. 4 S. 1 dStPO baue auf der Amtsaufklärungspflicht auf. Die Bestimmung sei Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, zur Gewährleistung von Neutralität die richterliche Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen.76 Aus dem gesetzlichen Regelungskonzept folge zudem, dass ein wirksamer Rechtsmittelverzicht (entsprechend § 302 Abs. 1 S. 2 dStPO) dann ausgeschlossen sei, wenn sich die Beteiligten unter Verstoß gegen die gesetzlichen Bestimmungen verständigt hätten. Informelle Absprachen geböten gerade die Eröffnung einer Möglichkeit für effektiven Rechtsschutz. Eine solche regelwidrige und informelle Verständigung unterliege zudem der Protokollierungspflicht nach § 273 Abs. 1a S. 1 dStPO. Sollte in letzterem Fall ein Negativtest nach § 273 Abs. 1a S. 3 dStPO erteilt werden, wäre dies falsch und könne den Tatbestand der Falschbeurkundung im Amt erfüllen.77 Zur Sicherung der Fairness der Verständigung und dem Schutz der Autonomie des Angeklagten habe der Gesetzgeber das Verständigungsgesetz mit ausreichenden Schutzmechanismen versehen. So verlange § 257c Abs. 5 dStPO vor der Verständigung die Belehrung des Angeklagten über die Voraus­ setzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis. Das Verwertungsverbot aus § 257c Abs. 4 S. 3 dStPO ergänze diesen Schutz.78 Als besonderen Schwerpunkt des Regelungskonzepts hebt das BVerfG die Gewährleistung der Transparenz und Dokumentation des mit einer Verständigung verbundenen Geschehens als Voraussetzung für eine effektive Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht hervor.79 Dadurch würden sowohl eine Motivationsverschiebung beim erkennenden Gericht inklusive seines Interessengleichlaufs mit den übrigen Berufsjuristen zum Nachteil des Angeklagten als auch falsche Geständnisse aufgrund einer zugesagten wesentlichen Strafmilderung verhindert. Die Statuierung weitreichender Transparenz- und Dokumentationspflichten mit Bezug auf die Hauptverhandlung, die sogar über die Dokumentation von Verhandlungsinhalten der konventio76  BVerfGE 133,

168 168 78  BVerfGE 133, 168 79  BVerfGE 133, 168 77  BVerfGE 133,

(210–212). (222–225). (224 f.). (214).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen209

nellen Hauptverhandlung hinausreichten, zielten auf die Einführung der einer Verständigung vorausgehenden Vorgespräche in die Hauptverhandlung ab. Für alle Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung verlange § 243 Abs. 4 dStPO auch eine Mitteilung deren „wesentlichen Inhalts“. Die Mitteilungspflicht greife ein, sobald bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit einer Verständigung im Raume stehe. Im Zweifel sei zu informieren. Diese Mitteilung sei zudem gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 dStPO zu protokollieren. Demgegenüber seien hinsichtlich der Verständigung gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 dStPO der wesentliche Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis wiederzugeben. Die Protokollierungspflicht hinsichtlich der Verständigung gehe also im Detail über die Protokollierung der Mitteilung hinaus. Zum „wesentlichen Ablauf und Inhalt“ im Sinne des Protokollierungsgebots gehöre, wer die Anregung zu den Gesprächen gab und welchen Inhalt die einzelnen „Diskussionsbeiträge“ aller Verfahrensbeteiligten sowie der Richter hatten, insbesondere von welchem Standpunkt sie hierbei ausgingen und welche Ergebnisvorstellungen sie äußerten. Die Einbeziehung des zu einer Verständigung führenden Geschehens in die öffentliche Hauptverhandlung habe auch die Aufgabe, deren Funktion als alleinige Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung zu wahren. Der Grundsatz richterlicher Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung sei auch für die in das Geschehen einzubindenden Schöffen von Bedeutung, da der Gesetzgeber in § 257c Abs. 4 dStPO der Verständigung eine Bindungswirkung beigemessen habe.80 Mit dem Zustimmungserfordernis der Staatsanwaltschaft nach § 257c Abs. 3 S. 4 dStPO weise ihr der Gesetzgeber eine aktive Rolle zu. Deshalb könne der Gesetzgeber erwarten, dass die Staatsanwaltschaft sich gesetzwidrigen Vorgehensweisen verweigere und Gesetzesverstöße rüge.81 Ihre Weisungsgebundenheit und Berichtspflichten ermöglichten, einheitliche Standards für die Erteilung der Zustimmung zu Verständigungen sowie für die Ausübung der Rechtsmittelbefugnis durchzusetzen.82 Das BVerfG betont, dass mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine abschließende Regelung erfahren habe. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende informelle Absprachen seien prinzipiell unzulässig.83 Die vorgesehenen Schutzmechanismen bezweckten eine wirksame „vollumfängliche“ Kontrolle verständigungsbasierter Urteile durch das Rechtsmittelgericht.84 80  BVerfGE 133,

168 168 82  BVerfGE 133, 168 83  BVerfGE 133, 168 84  BVerfGE 133, 168 81  BVerfGE 133,

(214–219). (219 f.). (220 f.). (212). (221).

210

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

Ein Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten führe grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit einer Verständigung.85 (b) Kein verfassungswidriges strukturelles Regelungsdefizit Nach Ansicht des BVerfG führe der durch die Erhebung aufgezeigte defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes gegenwärtig nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung selbst.86 Verfassungswidrig wäre das Normgefüge nur, wenn die vorgesehenen Schutzmechanismen aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit eine informelle Absprachenpraxis förderten. Ein solch strukturelles Regelungsdefizit des Verständigungsgesetzes könne derzeit nicht konstatiert werden. Als Hauptursache für das Vollzugsdefizit werde in den empirischen Untersuchungen eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften, welche die Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gewährleisten sollen, angeführt. Insbesondere die Begrenzung des zulässigen Inhalts von Verständigungen, die Transparenz- und Dokumentationspflichten sowie das Verbot des Rechtsmittelverzichts würden genannt. Das gesetzliche Regelungskonzept befördere deshalb keine verfassungswidrige Praxis.87 (3) Kritische Würdigung des Urteils Das BVerfG ist auf die Grundsatzfragen zur Zulässigkeit von Urteilsabsprachen, die von der tatgerichtlichen Praxis, dem Richterrecht des BGH und dem Gesetzgeber umgangen wurden, eingegangen, hat sie aber nicht abschließend geklärt.88 Sachlich-inhaltliche Aspekte einer Verständigung blendet es weitestgehend aus und konzentriert sich auf reine Formalien. Die Würdigung der rechtstatsächlichen Situation bleibt oberflächlich.89 Den defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes kann das BVerfG nur deshalb auf eine fehlende Verinnerlichung des Gesetzes zurückführen, weil es die eigentlichen Ursachen für die Verständigungspraxis, wie Probleme der Überlastung und Überforderung der Strafjustiz, gar nicht erst berücksichtigt.90 Die Entscheidung des BVerfG ist aufgrund ihrer Schwächen nicht geeignet, die am deutschen Verständigungsgesetz geäußerte Kritik zu minimieren oder zu revidieren. 85  BVerfGE 133,

168 (223). 168 (233). 87  BVerfGE 133, 168 (234 f.). 88  Weigend, StV 2013, 424 (425–427); Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 749.8; Duttge, in: Schünemann‑FS, 875 (876 f.). 89  Schünemann, in: Wolter-FS, 1107 (1127 f.). 90  Meyer, NJW 2013, 1850 (1852). 86  BVerfGE 133,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen211

Eine auffallende Distanzierung des BVerfG von der bisherigen Rechtsprechung des BGH zeigt sich bei der Überprüfung des verständigungsbasierten Geständnisses.91 Nach dem BVerfG ist das „schlanke“ oder anwaltlich vorformulierte Geständnis, dem keine Befragung folgt, im Wesentlichen ohne Beweiswert, weil es ungeeignet ist, Fehler des Vorverfahrens zu korrigieren. Mit einem solchen Geständnis darf sich das Tatgericht nach der aktuellen Rechtsprechung nicht mehr begnügen. Geständnisse sind nach dem Verständigungsurteil zu überprüfen und zwar nicht anhand der Aktenlage.92 Das BVerfG hat zwar Selbstleseverfahren oder Protokollverlesungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 dStPO gestattet, aber dennoch eine Überprüfung des Geständnisses auf seine Richtigkeit durch zusätzliche Beweiserhebungen im förmlichen Beweisverfahren reklamiert, womit es über die Forderung des Gesetzgebers hinausgeht.93 Wie genau eine solche Überprüfung aussehen soll, ist indes nicht geklärt.94 Welche Bedeutung das – taktische – Geständnis als Beweismittel und Strafzumessungsfaktor haben kann und darf, bleibt ebenfalls diskutabel. Sollen die tradierten Prinzipien der Aufklärungspflicht, der richterlichen Überzeugungsbildung und der schuldangemessenen Strafzumessung weiter gelten, dann bietet das Verständigungsverfahren im Vergleich zum Normalverfahren für die Beteiligten keinen Gewinn, sondern bereitet durch seine weitergehende Formalisierung mehr Arbeit. Das einzuhaltende Normgefüge des Verständigungsgesetzes schmälert die Attraktivität förmlicher Verständigungen für die Praxis deutlich.95 Ohne jegliche Dokumentation unterstreicht das BVerfG die hinreichende Sicherstellung der Neutralitäts­ garantie des Gerichts durch die Begrenzung der Bindung nach § 257c Abs. 4 S. 1 dStPO. Mit verfahrenspsychologischen Faktoren und den daraus folgenden „Perseveranz‑, Inertia- und Schulterschlusseffekten“96 beschäftigt sich das Urteil nicht.97 Unklar bleibt die Gewährleistung eines fairen Verfahrens zudem im Hinblick auf die Rollen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft, die beide ein Eigeninteresse am Abspracheverfahren haben.98 Insbesondere 91  BVerfGE 133,

168 (209 f.). noch BGHSt 50, 40 (49). 93  Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 10; Rönnau, ZIS 2018, 167 (175); vgl. BT‑Drs. 16/12310, S. 14. 94  Greco, GA 2016, 1 (5 m. w. N.); vgl. etwa BGH NStZ 2013, 727. 95  Heger/Pest, ZStW 126 (2014), 446 (457); Busch-Gervasoni, in: Schiller-FS, 109 (113); Greco, GA 2016, 1 (5). Vgl. auch oben, E. II. 2. d). 96  Vgl. zu diesen Effekten oben, B. III. 3. 97  Vgl. dazu Jehle, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 7 (2013), 220 (228). 98  Weigend, StV 2013, 424 (426). Siehe auch BGH StV 2013, 199–200, wonach ein auf einseitigen Druck des Verteidigers zustande gekommener Rechtsmittelverzicht mangels Verständigung im Sinne von § 302 Abs. 1 dStPO wirksam ist. Vgl. auch oben, B. II. 2. 92  Anders

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

die vom BVerfG proklamierte Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit des Verfahrensablaufs erscheint auch aufgrund ihrer ständigen Arbeitsüberlastung99 unrealistisch, denn nach Expertenberichten legen deutsche Staatsanwaltschaften prinzipiell keine Rechtsmittel zugunsten eines Angeklagten ein.100 Ohne Beteiligung an den Ergebnisverhandlungen ist weiterhin die Überzeugungsbildung der Schöffen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung fraglich. Mangelhaft sind schließlich auch die Ausführungen zur Protokollierungspflicht. Dass Berufsjuristen ihre Rechtsverletzungen protokollieren, erscheint illusorisch.101 Das BVerfG kommt in seiner Appellentscheidung zu der Überzeugung, dass die Norm des § 257c dStPO zwar noch verfassungsgemäß sei, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Zukunft verfassungswidrig werden könne, und der Gesetzgeber deshalb die Entwicklung beobachten und die drohende Verfassungswidrigkeit des § 257c dStPO durch das Ergreifen legislativer Maßnahmen abwenden müsse.102 Im zweiten Leitsatz seines Urteils konstatiert es: „Die Wirksamkeit der vorgesehenen Schutzmechanismen hat der Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt sich, dass sie unvollständig oder ungeeignet sind, hat er insoweit nachzubessern und erforderlichenfalls seine Entscheidung für die Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen zu revidieren.“103 Wie in der deutschen Strafrechtswissenschaft verheißen,104 finden auch nach dem Verständigungsurteil des BVerfG informelle Urteilsabsprachen jenseits der Regeln des Verständigungsgesetzes weiterhin statt, da die Ursachen der Urteilsabsprachenentwicklung fortbestehen und informelles Handeln effizieren.105 Die verfassungsgerichtliche Pointierung106 der generellen Unzulässigkeit informeller Urteilsabsprachen hat daran nichts geändert, da Konsequenzen bei Zuwiderhandlungen wohl nahezu ausbleiben.107 Entgegen der Auffassung des BVerfG ist für die fortwährende Existenz informeller Urteilsabsprachen kein „unzureichend ausgeprägtes Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verständigungsgesetzes nicht geben darf“108, verantwortlich.109 Zudem konzediert das 99  Trück,

ZWH 2013, 169 (176 f.). Deutsches AnwBl 2013, 321 (322  f.); ZAP 2014 Fach 22, 727 (729). 101  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 4.1. 102  Kempf, StraFo 2014, 105 (106); Globke, JR 2014, 9. 103  BVerfGE 133, 168 (228 f.). 104  Exemplarisch Fezer, HRRS 2013, 117 (119). 105  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640). 106  BVerfGE 133, 168 (212). 107  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640). 108  BVerfGE 133, 168 (235). 109  Stuckenberg, ZIS 2013, 212 (217). 100  König/Harrendorf,

Eschelbach,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen213

BVerfG Absprachen nur unter derart hohen Prämissen, dass die ökonomisierte Praxis ihr Ziel größtmöglicher Arbeitsreduzierung nicht erreichen kann.110 Insbesondere der amtsrichterlichen Alltagspraxis ist die Vorschrift nicht dienlich.111 Der Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes hat mit der Vorschrift des § 257c dStPO eine Fülle neuer Einzelfragen geschaffen, die auch nach der verfassungsgeleiteten Auslegung durch das BVerfG ungeklärt bleiben.112 Die Geschichte der deutschen Absprachen lehrt, dass die Praxis bei der Entwicklung neuer Umgehungsstrategien auch dieses Mal nicht ermatten wird,113 so dass die Probleme informeller Urteilsabsprachen die deutschen Revisionsgerichte weiter beschäftigen.114 Auch aktuell besteht eine informelle Praxis ohne Befolgung des § 257c dStPO fort, strengste Geheimhaltung scheint jedoch nach Berichten von Praktikern (erneut) das Gebot der Stunde zu sein, was sich auf die Rechtsmittelkontrolle auswirkt.115 Eine 110  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640 f.); ähnlich Schünemann, in: Wolter-FS, 1107 (1128); vgl. auch Erhard, StV 2013, 655 (656). Vgl. dazu oben, D. I. 1. a). 111  Göttgen, Prozessökonomische Alternativen, S. 54. 112  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.6. 113  Malolepszy, ZStW 126 (2014), 489 (503–505); vgl. auch Kubiciel, HRRS 2014, 204 (205). 114  Zu den Umgehungsversuchen der tatgerichtlichen Praxis in Form von Gesprächen zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft, denen das Gericht nur beiwohnt, dem Verständigungsergebnis später dann aber faktisch folgt, vgl. BGHSt 59, 21 (24– 27); BVerfG NStZ 2016, 422–425 mit Anm. Bittmann; Norouzi, NJW 2014, 874 („Verständigungspantomime“); Knauer, NStZ 2014, 115–116; Kudlich, JZ 2014, 471–472; Landau, NStZ 2014, 425 (429); Schmitt, in: Tolksdorf‑FS, 399 (401); ­Paeffgen, in: SK-StPO, § 202a Rn. 3i; Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (640 f.). Zur Revisionskontrolle auch BGHSt 58, 310–314; 59, 172–177; 59, 252–260; 61, 43–48; BGH NJW 2014, 3385 f.; NStZ 2013, 722; NStZ 2014, 416–418; NStZ 2015, 358 f.; NStZ 2017, 299; 658–661; NStZ 2018, 420 f.; NStZ 2019, 169; NStZ-RR 2019, 27 f.; 57; NStZ 2013, 728 f. mit Anm. Radtke; NStZ 2017, 52–54 mit Anm. Claus; 658–661 mit Anm. Bittmann; NStZ 2018, 363–364 mit Anm. Bittmann; 487–488 mit Anm. Bittmann; NStZ-RR 2018, 355 mit Anm. Müller‑Metz; BGH, Beschl. v. 06.03.2018 – 5 StR 585/17; Beschl. v. 23.10.2018 – 2 StR 417/18; Beschl. v. 24.04.2019 – 1 StR 153/19. 115  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.2, 1.9; vgl. Ordner, wistra 2017, 50 (51); Ruhs, Rechtsbehelfe, S. 161 f. Siehe auch die vom deutschen BMJV im Dezember 2017 in Auftrag gegebene Evaluierung des Verständigungsgesetzes, bei der durch umfassende empirische Erhebungen überprüft werden soll, in welchem Umfang und in welchen Verfahrenssituationen die Gerichte Verständigungen durchführen und ob sie dabei die gesetzlichen Vorgaben einhalten, vgl. https://www. bmjv.de/DE/Ministerium/ForschungUndWissenschaft/EvaluierungVerstaendigung Strafverfahren/EvaluierungVerstaendigungStrafverfahren_node.html (abgerufen am: 31.08.2019). Die Ergebnisse der Studie sollen im Frühjahr 2020 vorliegen. Nach Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.5, dürfte diese Studie ihr Ziel verfehlen, weil das offene Eingestehen von Gesetzesverstößen deutscher Strafjuristen, wie es noch bei der Befragung im Rahmen des vom BVerfG in Auftrag gege-

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„Reparatur“ des § 257c-dStPO-Kon­strukts mit der Folge, dass informelle Urteilsabsprachen unterbleiben, ist angesichts der vorstehend erörterten, wesentlichen konzeptionellen Mängel der Norm wohl als aussichtslos zu bewerten.116 dd) Zwischenergebnis Mit der Vorschrift des § 257c dStPO als Kern des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren wird auf das herkömmliche System der Wahrheitserforschung eingewirkt, was der Gesetzgeber des Verständigungsverfahrens nicht wahrhaben will (§ 257c Abs. 1 S. 2 dStPO). Der deutsche Gesetzgeber hat versucht, die grundlegende Umstrukturierung des Strafverfahrensrechts zu vernebeln, indem er Urteilsabsprachen in formale Fesseln gelegt und als punktuelles Änderungsgesetz in das herkömmliche Beweisverfahren integriert hat. Dieser Versuch ist misslungen. In der deutschen Strafrechtspraxis wird neben dem streitigen Verfahren ein konsensuales Verfahren betrieben. Das Regelverfahren wurde dadurch nachhaltig demoliert, da in der Strafverfahrenspraxis das vorläufige Ergebnis nach Aktenlage generell nicht mehr hinterfragt zu werden scheint. In der Literatur wurde vergeblich prophezeit, dass ein Urteilsabspracheverfahren nach den Regeln des Verständigungsgesetzes aus Sicht einer ökonomisierten Praxis kaum Wert haben wird. Den Beleg dafür hat im Jahre 2013 – rund drei Jahre nach Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes – das vom BVerfG in Auftrag gegebene Gutachten zur deutschen Absprachenpraxis geliefert. Urteilsabsprachen ohne Einhaltung des § 257c dStPO werden weiter praktiziert. Das Verständigungsurteil des BVerfG hat an dieser Sachlage anscheinend nichts geändert. Der Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes hat die Standardprobleme der Urteilsabsprachenpraxis übergangen und mit der Vorschrift des § 257c dStPO neue Probleme geschaffen. Die Uneinheitlichkeit der Rechtsanwendung wird deshalb weiter Bestand haben. Das deutsche Verständigungsgesetz besitzt für den österreichischen Gesetzgeber keine Vorbildfunktion. Vielmehr könnten infolge der Appellentscheidung des BVerfG auch für den deutschen Gesetzgeber Überlegungen zu alternativen Abspracheregelungen wieder aktuell werden.117 Alterbenen Gutachtens der Fall war, nicht mehr zu erwarten sei, nachdem die Strafbarkeitsrisiken solchen Fehlverhaltens und die Urteilsaufhebungsgefahr informeller Absprachen in der Wissenschaft mittlerweile ausführlich diskutiert würden. Siehe dazu etwa die Untersuchungen von Ruhs, Rechtsbehelfe, S. 90 ff., 165 ff.; 211 ff.; Göttgen, Prozessökonomische Alternativen, S. 133 ff. Zu den Befragungsergebnissen des vom BVerfG veranlassten Gutachtens auch unten, G. 116  Siehe dazu die mit dem Ziel einer gleichmäßigen Rechtsanwendung ausdrücklich als „Notversorgung“ bezeichneten Änderungsvorschläge zum Verständigungsgesetz bei Rabe, Verständigungsurteil, S. 508–513. 117  So Kempf, StraFo 2014, 105 (106).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen215

native Regelungen eines Abspracheverfahrens sind – auch in der deutschen Wissenschaft – vorgeschlagen worden. Sie werden in den folgenden Abschnitten (I. 1. b; I. 2.) behandelt. b) Einführung eines Konsensprinzips Der Strafrechtsausschuss der deutschen BRAK legte im Jahre 2005 einen detaillierten Vorschlag zur gesetzlichen Regelung von Urteilsabsprachen vor.118 Empfohlen wird „die Ausgestaltung der Urteilsabsprache als eigenständiges prozessuales Institut mit spezifischen gesetzlichen Anforderungen bei gleichzeitiger Integration in das herkömmliche Verfahren“.119 Nach Ansicht der BRAK stehen Urteilsabsprachen in einem Spannungsverhältnis zu den tragenden Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens, die als Voraussetzung für eine gerechte Entscheidung gelten.120 Die teilweise Preisgabe dieser Prinzipien, insbesondere die Erforschung der materiellen Wahrheit, erfordere deshalb eine eigene Legitimation.121 Eine legitimatorische Grundlage für verfahrensbeendende Urteilsabsprachen erblickt die BRAK in dem ­Konsensprinzip, denn sie meint „Konsens schafft Frieden.“122 Gleichzeitig müsse sichergestellt werden, dass sich der Angeklagte freiwillig für oder gegen eine Urteilsabsprache entscheiden könne; erst dann enthalte der Konsens der Beteiligten eine spezifische Richtigkeitsgewähr und eine kontradiktorische Hauptverhandlung sei verzichtbar. Als Sicherungsmittel der Freiwilligkeit solle eine weitgehende Transparenz des Abspracheverfahrens dienen.123 Die BRAK stellt damit die beiden Kernprobleme124 der Urteilsabsprachenpraxis in den Mittelpunkt ihres Entwurfs.

118  Der Gesetzesvorschlag des Strafrechtsausschusses der BRAK zu einer Regelung der Urteilsabsprache im Strafverfahren samt Erläuterungen ist abrufbar unter: https:// www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2005 /september/stellungnahme-der-brak-2005–25.pdf (abgerufen am: 31.08.2019); abgedruckt in ZRP 2005, 235–241. 119  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 5  f. (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 120  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 3 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 121  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 3 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 122  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 4 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 123  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 4  f. (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 124  Dazu oben, D. I.

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

aa) Normgefüge des Gesetzesvorschlags Zentrale Norm des Gesetzesvorschlags ist § 243a-E dStPO, der durch weitere Normen ergänzt wird, welche insbesondere Vorerörterungen, Mitteilungs- und Protokollierungspflichten und Rechtsmittelfragen zum Inhalt ­haben. Das Konsensprinzip soll unter grundsätzlicher Beibehaltung der traditionellen Prinzipien des deutschen Strafverfahrens als neuer, gleichberechtigter Verfahrensgrundsatz in die Strafprozessordnung eingeführt werden und Urteilsabsprachen in Übereinstimmung mit den herkömmlichen Maximen institutionalisieren.125 Urteilsabsprachen werden durch eine Umgestaltung der Hauptverhandlung als alternatives Verfahrensmodell ins Strafprozessrecht eingefügt.126 Das einvernehmliche Verfahren bildet eine Möglichkeit des Normalverfahrens.127 bb) Kritische Würdigung des § 243a-E dStPO Bei der Bewertung der zentralen Vorschrift des § 243a-E dStPO steht ihre Tauglichkeit zur Behebung der Kernprobleme der informellen Urteilsabsprachenpraxis im Fokus. Allem voran müsste das Konsensprinzip als neuer Prozessrechtsgrundsatz in der Lage sein, die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage zu ersetzen. (1) Konsensprinzip als neue Prozessmaxime Nach § 243a-E Abs. 1 S. 2 dStPO kann Gegenstand einer Urteilsabsprache nicht nur ein Geständnis, sondern jede andere, der Verfahrensbeschleunigung dienende Leistung sein.128 Der Gesetzesvorschlag der BRAK bekennt sich zum Konsensprinzip, um Verstöße gegen die materielle Wahrheit zu legitimieren, die nach ihrer – zutreffenden129 – Ansicht im Rahmen einer Urteilsabsprache regelmäßig dadurch bedingt sind, dass dem Absprachegeständnis kein erheblicher Beweiswert zukommt.130 Der Angeklagte könne selbst bestimmen, ob er sich auf eine Urteilsabsprache einlasse und ein Geständnis ablege, was seine geringere Schutzbedürftigkeit zur Folge habe, solange er freiwillig handle.131 125  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 4 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 126  Huttenlocher, Dealen, Rn. 273. 127  Huttenlocher, Dealen, Rn. 273. 128  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 8 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 129  Zum Beweiswert eines Absprachegeständnisses oben, D. I. 1. b) bb) (2). 130  Ignor, in: BRAK-FS, 321 (328 f.).



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(a) Argumente für ein Konsensprinzip Nach den Stimmen in der Literatur, die ein Konsensprinzip befürworten,132 gehe es im Strafprozess nicht allein um die vollständige Erforschung der Wahrheit. Ziel des Strafverfahrens sei ein gerechtes Urteil, das Rechtsfrieden stifte.133 Mit dem Wandel des Strafzwecks fort von der Schuldvergeltung hin zur Generalprävention sei das Erfordernis materieller Ergebnisrichtigkeit entfallen und Abstriche bei der Wahrheitsfindung hinzunehmen.134 Ausschlaggebend für eine gerechte Entscheidung sei ihr Zustandekommen in einem fairen Verfahren.135 Eine schnellere Entscheidung steigere die Abschreckungswirkung und fördere die Verbrechensbekämpfung.136 Infolge der freiwilligen Mitwirkung und Zustimmung des Angeklagten habe die Strafe einen größeren Resozialisierungseffekt.137 Das mutmaßliche Opfer profitiere, wenn ihm eine öffentliche Konfrontation mit dem Täter erspart bleibe oder Wiedergutmachungsinteressen und Aussöhnung verfolgt würden.138 Die Tendenz zu mehr Kommunikation und Kooperation sei Ausdruck eines geänderten Staat‑Bürger‑Verhältnisses, weshalb es einem modernen, pluralistischen Demokratieverständnis entspreche, wenn ein Konflikt zwischen Staat und Bürger durch Kompromiss erledigt anstatt einseitig durch eine autoritäre Entscheidung gefällt werde.139 Der Verfahrensgegenstand sei zumindest insofern disponibel, als die gerichtliche Aufklärungspflicht von den anderen Verfahrensbeteiligten – bei der Verteidigung etwa durch das Stellen von Beweis­ anträgen – entscheidend mitbestimmt werde.140

131  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S. 4 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 132  Je nach nach konkreter Ausgestaltung befürworten dies etwa: Jahn, GA 2004, 272 (275–287); Landau/Bünger, ZRP 2005, 268 (270); Ignor, in: BRAK-FS, 321 (332 f.); Satzger, StraFo 2006, 45 (48 f.); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 38–45, 409–412; Müller, Martin, Probleme, S. 141–144. 133  Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 38–40, 111– 114. 134  Herrmann, JuS 1999, 1162 (1166 f.). 135  Volk, in: Salger-FS, 411 (417); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 111. 136  Cramer, in: Rebmann-FS, 145 (148); Wolfslast, NStZ 1990, 409 (413). 137  Müller, Martin, Probleme, S. 396; vgl. auch Schumann, Karl, Handel, S. 54. 138  Steinhögl, Konsensorientierung, S. 95; Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 127 f.; vorsichtiger Müller, Martin, Probleme, S. 396. 139  Jahn, GA 2004, 272 (274, 276); Müller, Martin, Probleme, S. 395. 140  Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 153; Weßlau, StraFo 2007, 1 (4).

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

(b) Kritische Würdigung In bemerkenswerter Weise hat das deutsche BVerfG die Aufklärungspflicht mit dem Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit aus dem Schuldgrundsatz und damit aus der Menschenwürdegarantie hergeleitet, weshalb eine Konsensmaxime verfassungswidrig sein soll.141 Dieser markante Standpunkt ist auch bei entsprechenden Diskussionen in Österreich zu berücksichtigen. Der Verweis auf die gewandelten Strafzwecke überzeugt als Argument für die Einführung eines Konsensprinzips nicht. Die Funktion der Strafe hat zwar einen Wandel weg von dem Schuldvergeltungsgedanken vollzogen142 und wird nach den herrschenden relativen Strafzwecktheorien heute vom Präventionsgedanken beherrscht.143 Für eine generalpräventive Wirkung genügt eine lediglich durch Verfahrensgerechtigkeit und Akzeptanz legitimierte Entscheidung aber nicht, denn eine faire Konsensfindung ist im Strafprozess aufgrund verfahrenspsychologischer Aspekte und eines die Waffengleichheit sabotierenden Machtgefälles utopisch.144 Wird dem Angeklagten der Eindruck vermittelt, mit einer ausgeklügelten Verteidigung eine milde Strafe erreichen zu können, leidet die Abschreckungswirkung erheblich, und auch eine Konfliktlösung zur Vermeidung erneuter Straffälligkeit muss mangels seiner Anwesenheit an den Verhandlungsgesprächen ausscheiden.145 Verhandelt der Verteidiger allein und holt anschließend die Zustimmung des Angeklagten zu dem mit der Justiz vereinbarten Ergebnis ein,146 dann schafft Konsens keinen Frieden. Allerdings ist die Sanktionierungsquote für eine generalpräventive Wirkung nicht unerheblich.147 Ob ein Verstoß gegen strafbewehrte Normen vorliegt, der die Verhängung einer Strafe zum Schutz der Rechtsgüter der Allgemeinheit erfordert, lässt sich aber nur dann beurteilen, wenn die Justiz mit voller rechtsstaatlicher Anstrengung nach der materiellen Wahrheit sucht.148 Deshalb darf ein Urteil die Richtigkeit des zugrunde 141  BVerfGE 133,

168 (204). Strafrecht AT, S. 121; Steininger, Strafrecht AT I, Kapitel 2 Rn. 14–16; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht AT, Z 2 Rn. 4–14. 143  Steininger, Strafrecht AT I, Kap 2 Rn.  16; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht AT, Z 2 Rn. 8. 144  Hauer, Geständnis, S. 223; hierzu oben, B. II. 2.; D. I. 1. c) bb). 145  Zur Resozialisierung bereits oben, D. III. 1. c), mit Fn. 613; zum Ausschluss des Angeklagten von den Verhandlungsgesprächen oben, D. II. 3. 146  Zur möglichen Druckausübung oben, B. II. 2. e); D. I. 2. b) aa) und bb); D. I. 2. a) bb). 147  Hauer, Geständnis, S. 218. 148  Dencker/Hamm, Vergleich, S. 57, 69 f.; Duttge, ZStW 115 (2003), 539 (552– 554); Hauer, Geständnis, S. 221. 142  Michel/Wessely,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen219

gelegten Sachverhalts nicht zugunsten der Prozessökonomie offen lassen. Im Strafverfahren dürfen fiskalische Interessen eines finanziell überlasteten Staates nicht in den Mittelpunkt rücken, da die Freiheitsrechte des Angeklagten und oftmalig seine Existenzgrundlage auf dem Spiel stehen.149 Der Generalprävention abträglich sind deswegen nicht die stets zurückbleibenden Erkenntnisdefizite bei der Wahrheitssuche, sondern das zu frühe Ablassen von weiteren Aufklärungsversuchen.150 Eine Stärkung des Rechtsvertrauens der Allgemeinheit ist nur möglich, wenn sie das Urteil als gerecht bewerten kann, was nach Schünemann im Rahmen von Urteilsabsprachen fraglich sei, da bei einer von ihm in Deutschland durchgeführten Umfrage rund 60 Prozent der Teilnehmer angaben, die Möglichkeit eines mit erheblichen Strafmilderungen honorierten Geständnisses für unvereinbar mit dem Prinzip der Gerechtigkeit zu halten.151 Ein Urteil ist nur dann gerecht, wenn es auf Wahrheit beruht. Auch ein modernes Strafrecht kann auf den Anspruch der materiellen Wahrheit im Sinne einer materiellen Ergebnisrichtigkeit nicht verzichten.152 Aus der Tatsache, dass selbst in einem konventionellen Verfahren nie alle denkbaren Beweismittel ausgeschöpft werden können und müssen, folgt kein anderes Ergebnis. In diesen Fällen richtet sich die Einstellung der Aufklärungsbemühungen nach allgemein geltenden, rechtsstaatlichen Regeln.153 Die Ermittlung des tatsächlichen Geschehens darf somit trotz rechtsstaatlich bedingter Aufklärungsmängel nicht unversucht gelassen oder verfrüht aufgegeben werden. Das mutmaßliche Opfer profitiert nicht, wenn an ihm vorbeiverhandelt wird und es mangels Beweisaufnahme entgegen seiner Intention nicht in der Öffentlichkeit aussagen darf.154 Die Einführung eines Konsensprinzips als Legitimationsgrundlage für Urteilsabsprachen ist deshalb abzulehnen. Dieses Prinzip ist nicht geeignet, die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage zu ersetzen. Der Vorschlag der BRAK muss bereits deshalb ausscheiden. (2) Sicherung einer freiwilligen Kooperation des Angeklagten Zur Sicherung einer freiwilligen Kooperation des Angeklagten liegt nach § 243a‑E Abs. 1 dStPO das Initiativrecht zu einer Urteilsabsprache aus149  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 7; Schünemann, in: Geppert-FS, 649. Zur Prozessökonomie als Rechtfertigungsgrund auch oben, D. IV. 150  Weßlau, Konsensprinzip, S. 182; Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht, 37 (44); Hauer, Geständnis, S. 222 m. w. N. 151  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 62. 152  Murmann, ZIS 2009, 526 (532). 153  Hierzu bereits oben, D. I. 1. c) bb) (3). 154  Siehe oben, B. II. 3.

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schließlich bei Staatsanwaltschaft und Angeklagtem.155 Im Gegensatz zum deutschen Verständigungsgesetz (§ 257c Abs. 1 S. 1 dStPO) wendet sich der Gesetzesvorschlag der BRAK damit vordergründig von einem richterzen­ trierten Modell ab. Diese Regelung wird durch § 243a‑E Abs. 6 dStPO entwertet, der Erörterungen zur Vorbereitung einer Urteilsabsprache außerhalb der Hauptverhandlung zulässt, denn der erste Schritt zu solchen Vorgesprächen, die letztlich die Absprache selbst darstellen,156 darf ausweislich der Entwurfsbegründung vom Gericht ausgehen.157 Die Regelung des Initiativrechts bleibt deshalb reine Maskerade. § 46b‑E dStGB, der eine obligatorische Strafmilderung bei Urteilsabsprachen festschreibt, gießt das Drohmittel der Sanktionsschere in Gesetzesform,158 denn das Wissen des Angeklagten um eine zwingende Strafmilderung im Falle einer Urteilsabsprache erhöht seinen Geständnisdruck.159 Auch ein gemilderter Strafrahmen erfasst eine Vielfalt von Strafen, die das Gericht aufgrund seines weiten Strafzumessungsermessens im Einzelfall begründen kann.160 Die Zusicherung einer Strafobergrenze stellt die BRAK nach § 243a‑E Abs. 1 dStPO zudem in das freie Ermessen des Gerichts. Das Problem richterlicher Willkür bleibt bestehen.161 Bereits aus diesen Gründen ist eine freiwillige Kooperation des Angeklagten nicht gewährleistet. Nach § 243a‑E Abs. 4 S. 2 Nr. 2, 2. Alt. dStPO entfällt die gerichtliche Bindungswirkung bei einem Widerspruch des Angeklagten. Daraus entstehende Nachteile muss der Angeklagte befürchten, denn eine Ersetzung des iudex a quo für den streitigen Verfahrensteil sieht der Entwurf nicht vor.162 Das Widerspruchsrecht der Staatsanwaltschaft nach § 243a‑E Abs. 4 S. 2 Nr. 2, 1. Alt. dStPO bedeutet für den Angeklagten eine zusätzliche Unabwägbarkeit und stärkt die Stellung der Staatsanwaltschaft: Übt die Staatsanwaltschaft ihr Widerspruchsrecht aus, entfällt die obligatorische Strafmilderung nach § 46b‑E dStGB, wodurch die Staatsanwaltschaft eine Dispositionsmöglichkeit über den anwendbaren Strafrahmen hat.163 Die uneingeschränkte Macht des Gerichts über die Rechtsanwendung in der 155  Zum

Problem des Absprachenangebots durch das Gericht oben, D. I. 2. a) bb). oben, D. II. 1., 3., 4., 7., 8. 157  Strafrechtsausschuss der BRAK, Gesetzesvorschlag, S.  12 (abrufbar unter: siehe Fn. 118). 158  Zur Sanktionsschere oben, D. I. 2. a) bb). 159  Schünemann/Hauer, Deutsches AnwBl 2006, 439 (443); Müller, Martin, Probleme, S. 312. 160  Weßlau, StV 2006, 357 (360); Hauer, Geständnis, S. 357 f. Zum österreichischen Strafzumessungsrecht unten, G. I. 2. c). 161  Hauer, Geständnis, S. 358; Meyer‑Goßner, StV 2006, 485 (487). 162  Siehe aber Huttenlocher, Dealen, Rn. 314. Zu diesem Problem oben, D. II. 5., 9. 163  Schünemann, ZRP 2006, 63 (64). 156  Dazu



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Hauptverhandlung wird dadurch ad acta gelegt.164 Die weiteren Möglichkeiten eines Bindungsverlusts nach § 243a‑E Abs. 4 dStPO entsprechen grundsätzlich § 257c Abs. 4 dStPO des deutschen Verständigungsgesetzes, so dass auf die dortigen kritischen Ausführungen verwiesen wird.165 Gleiches gilt für die Regelung des Verwertungsverbots eines Geständnisses nach § 243a‑E Abs. 5 dStPO bei Scheitern der Urteilsabsprache, die wortgleich mit § 257c Abs. 4 S. 3 dStPO ist. cc) Zwischenergebnis Im Gegensatz zum deutschen Verständigungsgesetz befasst sich der Gesetzesentwurf der BRAK inhaltlich mit den beiden Kernproblemen der Urteilsabsprachen. Eine akzeptable Lösung präsentiert er dennoch nicht. Vornehmlich die vorgeschlagene Einführung eines Konsensprinzips als neue Prozessmaxime ist nicht geeignet die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage zu ersetzen. Im Ergebnis glaubt auch die BRAK fälschlicherweise, über eine schlichte Formalisierung der Urteilsabsprachenpraxis deren Probleme zu beseitigen.166 c) Ergebnis Urteilsabsprachen lassen sich nicht in das Normalverfahren integrieren. Das Integrationsmodell des deutschen Verständigungsgesetzes bettet Urteilsabsprachen als punktuelles Änderungsgesetz unter Beibehaltung aller Verfahrensgrundsätze in die Strafprozessordnung ein. Dies kann nicht überzeugen, denn das Naturell der Urteilsabsprachen liegt in ihrer Kollision mit den wesentlichen Grundsätzen des Strafprozessrechts.167 Die tradierten Verfahrensgrundsätze unvermindert gelten zu lassen und mit der Einführung von Urteilsabsprachen gleichzeitig einen Gegenpol in den österreichischen Strafprozess zu integrieren, ließe erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung der österreichischen Strafrechtspflege und des Rechtsstaates insgesamt erwarten. Die deutsche Strafverfahrenswirklichkeit demonstriert dies. Die Einführung eines Konsensprinzips als neuer Verfahrensgrundsatz kann ungeachtet aller weiteren Schwächen des von der BRAK vorgeschlagenen Modells Urteilsabsprachen nicht legitimieren, da im Strafprozess ein Konsensprinzip die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage nicht ersetzen kann. Von beiden Modellen sollte sich der österreichische Gesetzgeber bei etwaigen Legalisierungs164  Schünemann,

ZRP 2006, 63 (64); Meyer‑Goßner, StV 2006, 485 (488). F. I. 1. a) bb). 166  Hauer, Geständnis, S. 358. 167  Vgl. Haas, in: Keller-GS, 45 (73). Dazu oben, D. I. und D. II. 165  Oben,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

vorhaben distanzieren. Der deutsche Gesetzgeber hatte sich seinerzeit zu Recht, aber fatalerweise substanzlos gegen das Konsensmodell ausgesprochen.

2. Einführung von Sonderverfahren Einen anderen Ansatzpunkt bei der Behandlung der Urteilsabsprachenproblematik wählen die Vertreter, die für die Einführung eines Sonderverfahrens plädieren. Es geht um die Legalisierung einer Verfahrensverkürzung, wie sie gegenwärtig im Wege informeller Urteilsabsprachen erzielt wird. Die Vorschläge verstehen sich als rechtsstaatliche Alternativen zu den informellen Urteilsabsprachen. Der Angeklagte soll auf die Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung verzichten können, ohne dass das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung aufgegeben werde. a) Verzicht auf Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung Die Vertreter der Einführung von Sonderverfahren gehen richtigerweise davon aus, dass das Ziel, im Strafprozess die materielle Wahrheit zu finden, nicht aufgegeben werden darf.168 Sie behaupten allerdings, dass der Angeklagte dennoch auf die schulmäßige Durchführung einer Hauptverhandlung verzichten könne, solange gewährleistet sei, dass er ausschließlich dann verzichte, wenn die Tatsachenbehauptung zutreffe.169 Es müsse deshalb durch wirksame Mechanismen verhindert werden, dass auf den Angeklagten Druck zur Abgabe einer Verzichtserklärung ausgeübt werden könne.170 Werde eine Druckausübung ausgeschlossen, dann könne der Angeklagte seinen Verzicht auf die Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung und damit auf eine an sich mögliche weitere Sachverhaltsaufklärung erklären.171 Denn das Ziel der materiellen Wahrheit sei nicht unabdingbar an die Instruktionsmaxime gekoppelt.172 Ob in einem Prozess der Verhandlungsgrundsatz oder die Instruktionsmaxime gelte, sei nur für die Vorgehensweise bei der Stoffsammlung von entscheidender Bedeutung und sage nichts darüber aus, ob mit dem Anspruch, die materielle Wahrheit zu finden, verhandelt werde.173 168  Dazu

oben, D. I. 1. d). Konsensprinzip, S. 99. 170  Hauer, Geständnis, S. 244 f. 171  Weßlau, Konsensprinzip, S. 229. 172  Zur Instruktionsmaxime oben, D. I. 1. 173  Weßlau, Konsensprinzip, S. 27  f.; Hauer, Geständnis, S. 238 f. m. w. N.; vgl. auch Eser, ZStW 194 (1992), 361 (390). 169  Weßlau,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen223

Nur unter der Prämisse einer vollständigen Dispositionsmöglichkeit der Verfahrensbeteiligten über Tatsachen gründe sich das Urteil auf eine formelle Wahrheit.174 Sei das Gericht aber nicht daran gebunden, unstreitig gestellte Tatsachen losgelöst von ihrem Wahrheitsgehalt zur Urteilsgrundlage zu ­machen, verfolge es trotz Verhandlungsgrundsatz das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung.175 Das Gericht treffe deshalb weiterhin die Ermittlungspflicht.176 Ausgehend von diesen Überlegungen sind mehrere vereinfachte Verfahrenserledigungen entwickelt worden, die unter verschiedenen Kautelen einen Verzicht auf die Durchführung einer konventionellen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ermöglichen wollen, ohne dabei das Ziel der materiellen Wahrheit aufzugeben. Sie beanspruchen für sich, rechtsstaatlich vertretbare Alternativen zur informellen Urteilsabsprachenpraxis darzustellen, mit der die Strafjustiz entlastet werden könne.177 Im folgenden Abschnitt wird eine Selektion der zur Regelung eines abgekürzten Verfahrens unterbreiteten Vorschläge deshalb daraufhin untersucht, ob sie den von den Fürsprechern abgekürzter Verfahren aufgestellten Voraussetzungen entsprechen. Vornehmlich wird geprüft, ob gewährleistet wird, dass der Angeklagte nur dann auf die schulmäßige Durchführung einer Hauptverhandlung verzichtet, wenn die Tatsachenbehauptung auch wirklich stimmt. Im Kern geht es um die Frage, ob der nemo-tenetur-Grundsatz – anders als bei informellen Urteilsabsprachen178 – gewahrt wird. Erst dann stellt sich die Frage, ob dieser Verzicht tatsächlich einen Abbruch der Sachverhaltsaufklärung rechtfertigen könnte, so dass kein Verstoß gegen die materielle Wahrheit vorliegt. b) Konnex aus „verfahrensbeendenden Absprachen“ und „abgekürztem Verfahren“ Die Problematik der Urteilsabsprachenpraxis beschäftigte auch die Arbeitsgruppe Strafrecht des ÖRAK, die im Jahre 2009 einen Entwurf zur ge174  Eser, ZStW 104 (1992), 361 (390); Volk, in: Salger-FS, 411 (416 f.); Weßlau, Konsensprinzip, S. 99; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 177; Hauer, Geständnis, S. 239. Zum Begriff der formellen Wahrheit oben, D. I. 1. c) aa). 175  Hauer, Geständnis, S. 240 f. m. w. N., mit Parallelziehung zum amerikanischen Strafverfahren. Zur Kritik, das plea bargaining des amerikanischen Prozesses als Modell für das deutsche Strafverfahren vorzuschlagen, Dielmann, GA 1981, 558 (571); Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 (777). 176  Hauer, Geständnis, S. 243, auch S. 241 f. mit Verweis auf Eser, ZStW 104 (1992), 361 (390); Dencker, StV 1994, 503 (507); Weßlau, Konsensprinzip, S. 229. 177  Siehe etwa Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (37); ders., RZ 2004, 56 (64). 178  Dazu oben, D. I. 2.

224

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

setzlichen Regelung von Verständigungen im Strafverfahren diskutierte. Die Ergebnisse dieser Erörterung hat Ruhri in konkreten Formulierungsvorschlägen resümiert.179 Dabei handelt es sich um keinen detaillierten Gesetzes­ vorschlag, sondern um eine Aneinanderreihung von zehn Punkten, die eine gesetzliche Regelung nach Ansicht des ÖRAK enthalten müsste. Die Arbeitsgruppe Strafrecht hat im Rahmen ihrer Diskussion ein Lösungsmodell entwickelt, das Elemente aus „verfahrensbeendenden Absprachen“ und „abge­ kürztem Verfahren“180 verbinden will.181 Partielle Übereinstimmungen mit den Bestimmungen des deutschen Verständigungsgesetzes sind deshalb kein Zufall.182 Zweck des Entwurfs ist es, ein abgekürztes Verfahren zu entwickeln, das – im Gegensatz zu den informellen Urteilsabsprachen – rechtsstaatlichen Anforderungen genügt.183 aa) Formulierungspunkte Die von Ruhri in zehn Formulierungspunkten zusammengefassten Grundzüge einer gesetzlichen Regelung gestalten sich wie folgt:184 Nummer 1 definiert Verständigungen als Vereinbarungen zwischen den Verfahrensparteien betreffend Strafhöhe und Rechtsfolgen einer Verurteilung. Ausgeschlossen vom Inhalt von Verständigungen seien nur die Frage der Schuld sowie Regelungen betreffend die Unterbringung (§§ 21 bis 23 öStGB). Nummer 2 regelt den Inhalt einer Verständigung und bestimmt, dass das Ergebnis von Verständigungen bezogen auf die Strafhöhe darin bestehe, dass ein von der gesetz­ lichen Bestimmung abweichender Strafrahmen durch Festlegung von Unterund Obergrenze vereinbart werde. Dieser durch Verständigung zustande gekommene Strafrahmen müsse den Grundsätzen der allgemeinen Strafzumessung entsprechen. Parteien der Verständigung sollen nach Nummer 3 Staatsanwaltschaft und Angeklagter sein und die Verständigung zu ihrer Rechtswirksamkeit der Genehmigung des Gerichts bedürfen. Diese Genehmigung sei zu erteilen, wenn das Gericht keine berechtigten Zweifel hege, dass der Angeklagte die strafbare Handlung, welche den Gegenstand der Verständigung bilde und für welche der Angeklagte ein Geständnis ablege, nicht begangen habe. Die Zustimmung dürfe nicht allein wegen der Höhe der Strafe oder der sonst festgelegten Rechtsfolgen unterbleiben. Nummer 4 legt 179  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (249 f.). Dazu auch ders., 2. Dreiländerforum (2012), 181 (192–194). 180  Zum abgekürzten Verfahren der Schweiz sogleich unten, F. I. 2. c). 181  So Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (192). 182  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243. 183  Siehe Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246–248). 184  Die nachstehend angeführten zehn Formulierungspunkte sind abgedruckt bei Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (249 f.).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen225

den Zeitpunkt des Zustandekommens einer Verständigung auf nach Rechtskraft der Anklageschrift oder nach Einbringen des Strafantrages fest; Gespräche zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem oder dessen Verteidiger könnten aber bereits vor diesem Zeitpunkt geführt werden und seien dann samt ihrem wesentlichen Inhalt im Akt festzuhalten. Nach Nummer 5 (Wegfall der Verständigung) habe eine Verständigung Gültigkeit, so lange die ihr zugrunde gelegten rechtlichen oder tatsächlichen Umstände kein Abgehen von der Verständigung erforderten. Sei ein Abgehen erforderlich, habe das Gericht von sich aus oder auf Antrag des Angeklagten oder des Anklägers den Bindungswegfall der Parteien an den Inhalt der zunächst rechtswirksam zustande gekommenen Verständigung zu erklären. Diese Mitteilung habe unverzüglich zu erfolgen, sobald das Gericht die Voraussetzungen dafür als gegeben ansehe. Nach Nummer 6 bedinge eine Verständigung die Ablegung eines Geständnisses über die Begehung der Tat, welches bei Wegfall der Verständigung nicht verwertet werden dürfe. Zur Öffentlichkeit bestimmt Nummer 7, dass jede erfolgte Verständigung in der Hauptverhandlung öffentlich zu machen und im Urteil darzulegen sei, sowie der Antrag auf Genehmigung der Verständigung durch das Gericht in der Hauptverhandlung zu erörtern und im Anschluss darüber zu entscheiden sei. Über Inhalt und Rechtsfolgen der Verständigung sei der Angeklagte durch das Gericht zu belehren. Eine verweigerte Genehmigung des Gerichts müsse dieses in der Hauptverhandlung mit nicht abgesondert anfechtbarem Beschluss aussprechen. Als Folge sei nach Nummer 8 der die gerichtliche Genehmigung einer zwischen den Parteien zustande gekommenen Verständigung ablehnende Verständigungsrichter vom gesamten weiteren Verfahren nach § 43 öStPO ausgeschlossen. Privatbeteiligte sind nach Nummer 9 vor der Entscheidung des Gerichts über eine Genehmigung anzuhören. Nummer 10 schließlich sieht als Rechtsmittelmöglichkeiten vor, dass die Verweigerung der Zustimmung mit der Nichtigkeitsbeschwerde (Berufung wegen Nichtigkeit) angreifbar sein soll und der Angeklagte Strafmaßberufung einlegen könne, wenn die Strafe seines Erachtens innerhalb des durch Verständigung festgelegten Rahmens zu hoch angesetzt worden sei. Der bei Verständigung vorab vereinbarte Rechtsmittelverzicht sei unwirksam.185 bb) Kritische Würdigung Der Entwurf des ÖRAK möchte die materielle Wahrheit unberührt lassen und das Gericht weiterhin zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts verpflichten.186 Dies kollidiert allerdings mit der Aussage, dass vom Ange185  Zum

Ganzen Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (249 f.). Österreichisches AnwBl 2010, 243 (244).

186  Ruhri,

226

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

klagten lediglich ein „schlankes“ Geständnis erwartet werde, welches in der Hauptverhandlung vom Gericht nur anhand der Akten zu überprüfen sei.187 Das Modell des ÖRAK müsste ausreichende Vorkehrungen treffen, dass der Angeklagte bezüglich seiner Geständnisbereitschaft nicht unter Druck gesetzt und trotz Verzicht auf die schulmäßige Durchführung einer Hauptverhandlung materielle Wahrheit gefunden werden kann:188 Nach Nummer 3 sind Parteien einer Verständigung Staatsanwaltschaft und Angeklagter bzw. Verteidigung.189 Das Gericht ist nach Nummer 8 Verständigungsrichter. Das bedeutet, dass es in einer abgekürzten Hauptverhandlung das Geständnis am Akteninhalt auf seine Richtigkeit überprüft (Nummer 6) und durch seine Genehmigung der Verständigung ihre Rechtswirksamkeit verleiht (Nummer 3).190 Damit wird für den Fall einer Verständigung das richterzentrierte Modell aufgegeben. Vorteil einer solchen Regelung ist die Verantwortlichkeit der Verständigungspartner gegenüber dem an den Verhandlungen unbeteiligten Gericht.191 Zudem scheint es dem Richter auf den ersten Blick nicht möglich, auf den Angeklagten Druck zur Geständnisablegung auszuüben.192 Allerdings legt innerhalb des nach Nummer 2 zwischen den Verhandlungsparteien ausgehandelten Strafrahmens das Gericht die konkrete Sanktion fest.193 Angeklagter und Verteidigung wissen demnach bei Abschluss der Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft nicht, welche genaue Strafe das Gericht im Urteil verhängt.194 Bei dieser Ausgangslage wird sich der Angeklagte realistischerweise auf keine Verständigung einlassen,195 solange nicht der Verteidiger mit dem Richter vorab die genaue Strafe ausgehandelt hat.196 Zugleich sollen nach Ruhri Vorgespräche im Vorfeld der Hauptverhandlung mit dem Richter zulässig sein.197 Der Richter bleibt des187  Diese Aussage trifft Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (247). Hierzu oben, D. I. 1. b) bb) (2); vgl. auch F. I. 1. a) cc) (3); BGH NStZ 2014, 170. 188  Vgl. Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (244). 189  Vgl. hierzu das abgekürzte Verfahren aus der Schweiz (Art.  359 Abs. 1 sStPO), unten, F. I. 2. c) aa). 190  So Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246, 247). 191  Schünemann, Wetterzeichen, S. 25. 192  Vgl. Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246). 193  Insoweit erscheint es folgewidrig, wenn Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (247) davon spricht, dass eine „Verweigerung der Genehmigung nur deshalb, weil der Verständigungsrichter der Höhe der von Staatsanwaltschaft und Angeklagten vereinbarten Strafe bzw der Vereinbarung hinsichtlich der darin festgelegten Rechtsfolgen nicht zustimmt,“ unzulässig sei; wie hier Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (409 mit Fn. 59). 194  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410). 195  Dazu bereits oben, B. II. 2. d). 196  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410). 197  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (247).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen227

halb „heimliche“ Verhandlungspartei und kann weiterhin das Prozessverhalten des Angeklagten lenken.198 Die Drohkulisse verschiebt sich lediglich in das Stadium der Vorgespräche, welche die eigentliche Verständigung pro­ duzieren.199 Die angeblich hohe Transparenz des Verfahrens200 ist nicht existent. Unklar ist, ob die Initiative zu solchen Erörterungen vom Gericht ausgehen könnte. Wäre dies der Fall, ist die freiwillige Kooperation des Angeklagten bereits deshalb gefährdet, wobei die Untersagung eines gerichtlichen Initiativrechts wegen möglicher Missachtungsversuche ohnehin nicht zu idealisieren ist.201 Hinzu kommt, dass Transparenz auch deshalb nicht gewährleistet ist, da nach Nummer 4 lediglich der wesentliche Inhalt von Vorgesprächen zu protokollieren ist. Außerhalb der Hauptverhandlung geführte Diskussionen werden auf diese Weise nicht korrekt wiedergegeben, weil Gesprächsinhalte auf ihre Ergebnisse reduziert dokumentiert werden.202 Auch die Behauptung, mit den in Nummer 7 formulierten Mitteilungs- und Dokumentationspflichten für die eigentlichen Verständigungsgespräche sei eine größtmögliche Transparenz und effektive Rechtsmittelkontrolle zu errei­ chen,203 ist nicht zutreffend, denn ohne Wortprotokoll kann der Meinungsaustausch nicht nachvollzogen werden. Scheitert eine Urteilsabsprache an der erforderlichen Genehmigung des Gerichts, ist zur Wahrung der Neutralität des erkennenden Gerichts nach Nummer 8 der Verständigungsrichter vom weiteren Verfahren ausgeschlossen.204 Im streitigen Verfahren tritt an seine Stelle ein Hauptverhandlungsrichter.205 Über den Wortlaut von Nummer 8 hinaus müsste dies auch gelten, wenn die Verständigung aufgrund anderer Ursachen scheitert bzw. nachträglich widerrufen wird, etwa dann, wenn der Angeklagte seine Zusage nicht erfüllt. Denn das Gericht hat durch die erteilte Genehmigung zum Ausdruck gebracht, dass es den Angeklagten für schuldig hält.206 Ist allerdings das Protokoll über die Verständigungsverhandlungen nach gescheiterter Absprache nicht zwingend zu vernichten, kann der Hauptverhandlungsrichter aus dem Akt entnehmen, dass sich der Angeklagte auf Verständigungsgespräche eingelassen hatte. Die Aufnahme von Verständigungsgesprächen bleibt dann ein „point of no return“, weil der Hauptverhandlungsrichter die Verständi198  Siehe

oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). Problem der Vorgespräche oben, D. II. 1., 3., 4., 7., 8. 200  So Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246). 201  Siehe dazu oben, E. II. 3. a). 202  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (246), fordert namentlich die Dokumentation von Gesprächsergebnissen. 203  Ruhri, Österreichisches AnwBl 2010, 243 (247). 204  Zum Problem der gescheiterten Urteilsabsprache oben, D. II. 5.; D. II. 9. 205  Vgl. dazu Zaponig, Strafprozess, S. 61 f. [Internetquelle]. 206  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410 f.). 199  Zum

228

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

gungsbereitschaft des Angeklagten als Schuldindiz werten wird.207 Ist dem Akt zusätzlich der Grund für das Scheitern der Urteilsabsprache zu entnehmen, muss der Angeklagte, der mit dem von der Staatsanwaltschaft angebotenen Strafrahmen nicht einverstanden war, befürchten, dass ein über die zusätzlich entstandene Arbeitsbelastung verärgerter Hauptverhandlungsrichter sein Verhalten sanktioniert.208 Das gilt erst recht, wenn eine Verständigung auch noch nach Beginn der Hauptverhandlung möglich sein soll,209 weshalb Ruhri eine Verständigung nach Anklageerhebung ablehnt.210 Das Problem des „Superschulterschlusses“211 zwischen den Berufsjuristen wird weder in den Formulierungspunkten noch in den Erläuterungen von Ruhri aufgegriffen.212 Bereits aus den dargestellten Gründen ist der Entwurf des ÖRAK zur Gestaltung eines abgekürzten Verfahrens untauglich, denn eine Druckausübung auf den Angeklagten in Richtung seiner Geständnisablegung wird nicht verhindert. Ein Vorteil gegenüber informellen Urteilsabsprachen ist nicht ersichtlich. Die Richtigkeit der vom Angeklagten zugestandenen Tatsachen darf nicht unterstellt werden. Ein mit dem Geständnis konkludent erklärter Verzicht auf die Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung ist deshalb nicht möglich. Keiner eingehenderen Erörterung bedürfen die einzelnen Formulierungspunkte, die inhaltlich mit dem deutschen Verständigungsgesetz übereinstimmen.213 Sie werden im Folgenden summarisch angeführt: Nummer 1 schließt den Schuldspruch und die Unterbringung (§§ 21 bis 23 öStGB) als zulässigen Verständigungsgegenstand aus und entspricht damit dem § 257c Abs. 2 S. 3 dStPO, so dass auf die Stellungnahme dazu verwiesen wird. Den Inhalt der Verständigung regelt Nummer 2 und ist dabei an § 257c Abs. 3 S. 2 dStPO angelehnt, weshalb bezüglich der Problematik einer Festlegung der Oberund Untergrenze sowie der Schuldangemessenheit einer ausgehandelten Strafe auf die dortige Kommentierung hingewiesen wird. Nummer 5 der Grundzüge belastet den Angeklagten, ähnlich wie § 257c Abs. 4 dStPO, einseitig mit dem Scheitern einer Urteilsabsprache, weil das Gericht die Urteilsabsprache nach Geständnisablegung auch dann für ungültig erklären kann, wenn die veranlassenden Umstände nicht aus der Sphäre des Angeklagten 207  Kier/Bockemühl,

Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410 f). Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410). 209  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (410). Die meisten Rechtsordnungen, die ein geregeltes konsensuales Verfahren kennen, legen zeitliche Grenzen fest: vgl. etwa zum italienischen Recht Orlandi, ZStW 116 (2004), 120–128. 210  Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (193). 211  Dazu oben, B. II. 2. e). 212  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (412). 213  Siehe dazu oben, F. I. 1. a) bb). 208  Kier/Bockemühl,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen229

herrühren.214 An dieser unangemessenen Benachteiligung ändert das Verwertungsverbot aus Nummer 6 Abs. 2 nichts, denn der Angeklagte hat zu diesem Zeitpunkt seine Verteidigungsmöglichkeiten bereits aufgegeben. Die in Nummer 10 normierte Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts würde nach den Erfahrungen aus Deutschland wohl nicht beachtet. Die sofortige Rechtskraft ist notwendiger Bestandteil eines Gesamtkonzepts, über den unter den Berufsjuristen unausgesprochen Einigkeit besteht.215 Im Ergebnis zeigt das österreichische Verständigungsmodell mit seiner Verbindung aus „abgekürztem Verfahren“ und „verfahrensbeendenden Absprachen“ insbesondere im Hinblick auf die Lösung der beiden Kernpro­ bleme informeller Urteilsabsprachen, den Grundsatz der materiellen Wahrheit und den nemo‑tenetur‑Grundsatz, Schwächen. Es kann rechtsstaatlich nicht überzeugen. c) Das abgekürzte Verfahren im schweizerischen Strafprozess (Art.  358 ff. sStPO) Zum 1. Januar 2011 ist in der Schweiz ein abgekürztes Verfahren in den Art. 358 ff. sStPO in Kraft getreten.216 Der Bundesrat konstatiert dazu: „Namentlich im Bereich der Wirtschaftskriminalität mit komplizierten Sachverhalten, umfangreichem Beweismaterial und mitunter unklarer Beweislage dürfte die Überlastung der Strafverfolgungsbehörden zunehmen. Dies dürfte dazu führen, dass die Neigung und Bereitschaft zu Absprachen zwecks Verfahrensvereinfachung auch ohne gesetzliche Regelung steigen wird. Nach Auffassung des Bundesrates ist es ehrlicher, für derartige Absprachen gesetzliche Regelungen zu schaffen und damit den bisherigen Grau- oder besser: Schwarzbereich zu beseitigen, anstatt ein solches Vorgehen zwar gesetzlich nicht vorzusehen, es aber in der Rechtswirklichkeit zu tolerieren.“217 Eine Vorbildfunktion des abgekürzten Verfahrens der schweizerischen Strafprozessordnung wird in der österreichischen Literatur seit einiger Zeit diskutiert.218 214  Vgl.

dazu auch oben, E. II. 2. b). oben, E. II. 2. a) aa) und F. I. 1. a) bb). 216  Einheitliche Schweizer Strafprozessordnung v. 5. Oktober 2007, BBl 2007 6977 (SR 312.0). 217  Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts v. 21. Dezember 2005, BBl 2006 1295; siehe auch Schmid, Niklaus, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Rn. 1375. Zur Existenz informeller Absprachen in der Schweizer Strafprozesswirklichkeit auch Braun, Robert, Absprachen im abgekürzten Verfahren, S. 4; Kunz, in: Müller-FS, 383 (384); Wohlers, StV 2011, 567 (568). 218  Siehe Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37–52; dies., Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 183–241, 265. 215  Vgl.

230

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

aa) Grundzüge Prägnant lässt sich das abgekürzte Verfahren auf folgende Weise beschreiben: Es „ist ein vereinfachtes, zur raschen Erledigung führendes Verfahren auf der Basis einer Vereinbarung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten, welche anschließend gerichtlich zu genehmigen ist.“219 Prototypisch geht es um „eine Art Tausch: Geständnis (zumindest bezüglich eines Teils der Tatvorwürfe) und Anerkennung der Zivilforderung (zumindest dem Grundsatz nach) aufseiten der beschuldigten Person gegen Beschränkung der Strafverfolgung und Strafminderung aufseiten der Staatsanwalt­schaft.“220 Bei diesem Verfahrensmodell „kommt es ohne umfassende Vor­untersuchung und ohne gerichtliches Erkenntnisverfahren zu deren summarischen Überprüfung durch das zuständige erstinstanzliche Gericht.“221 Das Rechtsinstitut des abgekürzten Verfahrens ist in fünf Artikeln formuliert.222 Das Initiativrecht zur Durchführung eines abgekürzten Verfahrens liegt nach Art. 358 Abs. 1 sStPO ausschließlich beim Beschuldigten, der dieses bis zur Anklageerhebung ausüben kann, wenn er geständig ist, die Zivilansprüche grundsätzlich anerkennt und nach Art. 358 Abs. 2 sStPO die Staatsanwaltschaft keine Freiheitsstrafe über fünf Jahren verlangt. Ein „schlankes“ Geständnis ist gemäß Art. 358 Abs. 1 und Art. 361 Abs. 2 lit. a sStPO ausreichend. Auf Antrag des Beschuldigten entscheidet die Staatsanwaltschaft nach ihrem freien Ermessen begründungslos und endgültig über die Einleitung des abgekürzten Verfahrens (Art. 359 Abs. 1 sStPO). Beschließt die Staatsanwaltschaft die Einleitung, muss die Anklageschrift die in Art. 360 Abs. 1 sStPO normierten Voraussetzungen enthalten, nach lit. h insbesondere den Hinweis an die Parteien, dass diese mit der Zustimmung zur Anklageschrift auf ein ordentliches Verfahren sowie auf Rechtsmittel verzichten. Mit Zustimmung der beschuldigten Person und der Privatklägerschaft wird die Anklageschrift als gemeinsamer Urteilsvorschlag der Parteien dem Gericht samt Aktenmaterial übermittelt (Art. 360 Abs. 4 sStPO), andernfalls muss die Staatsanwaltschaft gemäß Art. 360 Abs. 5 sStPO ein ordentliches Vorverfahren durchführen. Liegen die erforderlichen Zustimmungen vor, befragt gemäß Art. 361 Abs. 2 sStPO das Gericht die beschuldigte Person in einer abgekürzten Hauptverhandlung, ob sie den Sachverhalt, welcher der Anklage zugrunde liegt, anerkennt und prüft, ob die Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmt. Ein Beweisverfahren findet gemäß Art. 361 Abs. 4 219  Kunz,

in: Müller-FS, 383.

220  Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers,

Strafprozessrecht, S. 310. Strafprozessrecht, S. 310. 222  Zum Verfahrensablauf ausführlich Ruckstuhl, 2. Dreiländerforum (2012), 165 (167–176) und Nahrwold, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 86–185. 221  Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen231

sStPO nicht statt. Nach Art. 362 Abs. 1 sStPO überprüft das Gericht summarisch, ob die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmäßig ist, die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und den Akten übereinstimmt und die beantragten Sanktionen angemessen sind. Erachtet das Gericht diese Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten Verfahren als erfüllt, erhebt es die Straftatbestände, Sanktionen und Zivilansprüche der Anklageschrift zum Urteil (Art. 362 Abs. 2 S. 1 sStPO). Diese Entscheidung hat das Gericht nach Art. 362 Abs. 2 S. 2 sStPO summarisch zu begründen. Verweigert das Gericht die Genehmigung, muss die Staatsanwaltschaft ein ordentliches Vorverfahren durchführen (Art. 362 Abs. 3 S. 1 sStPO). Gemäß Art. 362 Abs. 4 sStPO dürfen die im abgekürzten Verfahren abgegebenen Erklärungen der Parteien im weiteren Verfahren nicht verwertet werden. Gegen ein Urteil im abgekürzten Verfahren kann von einer Partei nur Berufung eingelegt werden, wenn ihre (wirksame) Zustimmung zur Anklageschrift fehlt oder das Urteil der Anklageschrift nicht entspricht (Art. 362 Abs. 5 sStPO). Der Beschuldigte ist nach Art. 130 lit. e sStPO zu verteidigen. bb) Kritische Würdigung Das abgekürzte Verfahren ist durch die starke Stellung der Staatsanwaltschaft geprägt. Sie ist nicht nur Verhandlungspartei, sondern entscheidet nach Abschluss der Verhandlungen alleine, endgültig und ohne Begründung über die Einleitung des abgekürzten Verfahrens.223 Faktisch verfasst sie mit der Anklageschrift gemäß Art. 362 Abs. 2 sStPO bereits das spätere Urteil und ist demnach zugleich Ankläger und Richter, während dem Gericht eine Statistenrolle zukommt.224 Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt,225 verhindert die an sich berechtigte Regelung eines ausschließlich auf Beschuldigtenseite bestehenden Initiativrechts nicht, dass die Staatsanwaltschaft mehr oder weniger ausdrücklich auf die „Vorteile“ eines abgekürzten Verfahrens hinweist oder ein solches anregt. Die Staatsanwaltschaft besitzt deshalb gegenüber der beschuldigten Person erhebliches Druckpotenzial, um auf eine Geständnisablegung (Art. 358 Abs. 1 sStPO) und Zustimmung zur Anklageschrift (Art. 360 Abs. 2 sStPO) einzuwirken.226 Diese Machtverlagerung widerspricht dem Gewaltenteilungsprinzip.227 Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 191c BV, deren institu­ 223  Kunz, in: Müller-FS, 383 (390); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (50 f.). 224  Kunz, in: Müller-FS, 383 (389); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (49); Pieth, Schweizerisches Strafprozessrecht, S. 261. 225  Oben, E. II. 3. a). 226  Kunz, in: Müller-FS, 383 (388, 391). Zur Freiwilligkeit eines absprachenbasierten Geständnisses oben, D. I. 2. a). 227  Kunz, in: Müller-FS, 383 (391).

232

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

tionelle Komponente die Unabhängigkeit des Richters von den anderen Staatsgewalten garantiert, werden außer Kraft gesetzt. Die Verhandlungsgespräche zwischen Staatsanwalt und beschuldigter Person lässt der Gesetzgeber des abgekürzten Verfahrens ungeregelt.228 Anklagesachverhalt und Strafe werden deshalb unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelt. Transparenz wird nicht gewährleistet.229 Dokumentations- und Protokollierungspflichten sieht das abgekürzte Verfahren nicht vor. Sollten die allgemein gültigen Protokollierungs- und Dokumentationspflichten (siehe Art. 76, 77, 100 sStPO) im abgekürzten Verfahren zu beachten sein,230 besteht die Problematik von Verhandlungsgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung wegen Fragen des Umfangs und der Reichweite der Protokollierungspflicht sowie der Protokollierungskorrektheit fort. Ferner ist eine aus prozessökonomischen Gründen auf den wesentlichen Inhalt reduzierte Protokollierungspflicht für eine tatsächliche Kontrolle nicht ausreichend, zumal bereits das Kriterium der Wesentlichkeit einer Zensierung unterliegt.231 Der Schutz der Willensfreiheit der beschuldigten Person im Hinblick auf seine Geständnisbereitschaft ist nicht sichergestellt. Die Unwiderruflichkeit der Zustimmungserklärung (Art. 360 Abs. 2 S. 3 sStPO) verhindert Abspracheverhandlungen herkömmlicher Art nicht, denn zum Zeitpunkt der Zustimmung haben sich Staatsanwaltschaft und beschuldigte Person bereits verständigt. Folglich wird die Problematik der gebräuchlichen informellen Urteilsabsprachen mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass die Staatsanwaltschaft zugleich den Part des Gerichts übernimmt, in das Ermittlungsverfahren vorverlagert.232 Die Zustimmung zur Anklageschrift, welche nach Art. 360 Abs. 1 lit. h sStPO den Verzicht auf die Durchführung einer schulmäßigen Hauptverhandlung beinhaltet, ermöglicht den Abbruch weiterer möglicher Sachverhaltsaufklärungen nicht. Die Richtigkeit der von der beschuldigten Person zugestandenen Tatsachen darf nicht unterstellt werden. Der Verzicht auf die Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung ist nicht möglich. Das abgekürzte Verfahren nach Art. 358 ff. sStPO ist bereits deshalb 228  Nach der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts v. 21.12.2005, BBl 2006 1295, sei dies eine bewusste Entscheidung gewesen. 229  Kunz, in: Müller-FS, 383 (388); Luef-Kölbl, RichterInnenwoche (2010), 37 (49, 50 f.). Zum Problem der Vorgespräche oben, D. II. 1., 3., 4., 7., 8. 230  So BStGer 02.10.2013, SK.2013.24; Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers, Strafprozessrecht, S. 313 m. w. N.; a. A. wohl Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S.  332 f. 231  A. A. BStGer 02.10.2013, SK.2013.24; ebenso Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 332, die – von ihr so bezeichnete – „Resümee-Protokolle“ als ausreichend erachtet. 232  Kunz, in: Müller-FS, 383 (389 f.; 392 f.). Siehe auch Nahrwold, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 190 f.



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen233

abzulehnen. Ein Vorteil gegenüber informellen Urteilsabsprachen ist auch hier nicht ersichtlich. Hinzu kommt, dass dem Gericht im schweizerischen abgekürzten Verfahren insgesamt substantielle Kontrollmöglichkeiten fehlen, was dem Prinzip der materiellen Wahrheit zuwiderläuft.233 In der abgekürzten, öffentlichen Hauptverhandlung kann sich das Gericht zwar einen eigenen Eindruck von der Persönlichkeit der beschuldigten Person verschaffen. Im Wesentlichen kontrolliert das Gericht in der Hauptverhandlung jedoch die Zulässigkeits­ voraussetzungen des abgekürzten Verfahrens.234 Eine gerichtliche Kontrolle der Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Einleitung eines abgekürzten Verfahrens ist nicht möglich (Art. 359 Abs. 1 sStPO) und wäre bei fehlendem Begründungszwang fruchtlos.235 Mangels Beweisverfahren (Art. 361 Abs. 4 sStPO) bleibt die Prüfung, ob das abgekürzte Verfahren rechtmäßig und angebracht ist (Art. 362 Abs. 1 lit. a sStPO), tatsächlich auf die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen begrenzt.236 Wie bereits mehrfach erwähnt, scheidet eine wirksame Glaubhaftigkeitskontrolle „schlanker“ Geständnisse (Art. 358 Abs. 1 und Art. 361 Abs. 2 lit. a sStPO) anhand der Aktenlage aus,237 insofern ist die Regelung des Art. 361 Abs. 2 lit. b sStPO ohne Gehalt. Die Überprüfung der Angemessenheit der Sanktion (Art. 362 Abs. 1 lit. c sStPO) ist auf eklatante Missgriffe beschränkt.238 Im Rahmen einer solchen Hauptverhandlung kann auch die Öffentlichkeit ihre Kontrollfunktion nicht erfüllen.239 Dass das eigene Interesse des Gerichts an einer schnellen Verfahrensbeendigung zudem eine zurückhaltende gerichtliche Kontrolle erwarten lässt,240 sei noch am Rande bemerkt. Der mit der Zustimmung der beschuldigten Person zum abgekürzten Verfahren konkludent erklärte Verzicht auf Rechtsmittel gemäß Art. 360 Abs. 1 lit. h sStPO und die gemäß Art. 362 Abs. 5 sStPO eingeschränkte Berufungsmöglichkeit sind unvertretbar. Das Verwertungsverbot aus Art. 362 Abs. 4 sStPO für das weitere ordentliche Verfahren ist unzureichend, da dem verfahrensleitenden Staatsanwalt und dem ablehnenden Gericht das Geständnis der beschuldigten Person als Tatsache bekannt bleibt.241 Probleme der Folge- und Fernwirkung des 233  Zum

Prinzip der materiellen Wahrheit oben, D. I. 1. in: Müller-FS, 383 (388 f.). 235  Kunz, in: Müller-FS, 383 (390). 236  Kunz, in: Müller-FS, 383 (390). 237  Dazu oben, D. I. 1. b) bb) (2); vgl. F. I. 1. a) cc) (3); BGH NStZ 2014, 170. 238  Wohlers, StV 2011, 567 (571). Zur mangelhaften Transparenz des österreichischen Strafzumessungsrechts unten, G. I. 2. c). 239  Dazu oben, D. II. 7. 240  Kunz, in: Müller-FS, 383 (390). Dazu oben, B. II. 2. a). 241  Ruckstuhl, 2. Dreiländerforum (2012), 165 (176 f.). Vgl. dazu oben, D. II. 5.; D. II. 9. 234  Kunz,

234

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

Verwertungsverbots sind eklatant.242 Im Ergebnis beruht das Urteil im abgekürzten Verfahren auf keiner besseren Erkenntnisgrundlage als das Urteil im informellen Urteilsabspracheverfahren.243 Das abgekürzte Verfahren gemäß Art. 358 ff. sStPO bewältigt die Probleme der Urteilsabsprachenpraxis nicht und ist abzulehnen.244 d) Unterwerfungsverfahren Ein weiterer, in der deutschen Literatur viel beachteter Alternativvorschlag zu den informellen Urteilsabsprachen ist das Unterwerfungsverfahren, das als eigenständiges Verfahren in die Strafprozessordnung eingefügt werden soll.245 Zur gesetzessystematischen Klarstellung, dass es sich um ein strukturell anderes Verfahren als das Normalverfahren handele, wird auch empfohlen, das Unterwerfungsverfahren in einem gesonderten Abschnitt zu regeln.246 aa) Grundzüge Die Vorstellungen über die inhaltliche Ausgestaltung eines Unterwerfungsverfahrens variieren. Der wohl bekannteste Vorschlag stammt von Meyer‑Goßner247. Danach soll der Angeklagte bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung ein „schlankes“ Geständnis abgeben können.248 Das Geständnis soll zu einer allgemein verbindlich festgelegten Strafmaßreduzierung (Halbierung des Höchstmaßes) führen, unwi242  Ruckstuhl, 2. Dreiländerforum (2012), 165 (176  f.). Vgl. zum Problem der Folge- und Fernwirkung unverwertbarer Geständnisse oben, F. I. 1. a) bb). 243  Dazu auch Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts v. 21. Dezember 2005, BBl 2006 1294; Kunz, in: Müller-FS, 383 (385); Ruckstuhl, 2. Drei­ länderforum (2012), 165 (166 f.); Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Rn. 1494. 244  A. A. Nahrwold, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 334, wonach das abgekürzte Verfahren der Schweiz nur einzeln gegen Verfassungs- und Prozessgrundsätze verstoße und deutliche Vorzüge gegenüber dem deutschen Verständigungsgesetz aufweise. Unter dieser Prämisse hat Nahrwold eine eigene alternative Lösung für ein deutsches Verständigungsverfahren erarbeitet, S. 328 ff.; kritisch dazu Wasserburg, GA 2016, 222–224. 245  Siehe Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167–169; ders., ZRP 2004, 187–191; ders., NStZ 2007, 425–432; Siolek, Verständigung, S. 283–294; Küpper/Bode, JURA 1999, 393 (400); Wagner, in: Gössel‑FS, 585–604. 246  Wagner, in: Gössel-FS, 585 (602 Fn. 131). 247  Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168); ders., ZRP 2004, 187 (190); ders., NStZ 2007, 425 (431 f.). 248  Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187 (190).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen235

derruflich sein und die Beweisaufnahme über den Schuldvorwurf entfallen lassen.249 Mit seinem Geständnis erkläre der Angeklagte konkludent den Verzicht auf die Durchführung einer Beweisaufnahme. bb) Kritische Würdigung Der Ansicht, dass der Angeklagte den Entschluss auf eine Beweisaufnahme über den Schuldvorwurf zu verzichten nur fasse, wenn der Anklagevorwurf richtig sei, so dass kein Verstoß gegen das Prinzip der materiellen Wahrheit vorliege,250 ist nicht zuzustimmen. Dem Angeklagten wird für sein Geständnis eine Gegenleistung in Aussicht gestellt: ein Strafrabatt in Form eines gesetzlich halbierten Strafrahmens.251 Ein gesetzlich halbierter, unterer Strafrahmen bietet dem Gericht in einem ermessensorientierten Strafrecht genug Spielraum, um eine Strafe beliebig festzusetzen, wodurch die Verzichtsbereitschaft des Angeklagten zulasten seiner Entscheidungsfreiheit beeinflusst wird.252 Eine Halbierung des Strafrahmens erscheint deutlich zu hoch, um falsche Geständnisse soweit wie möglich zu verhindern.253 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass im Vergleich zu einer vom Gericht individuell eingesetzten Strafmaßschere im weiteren Verfahren der Geständnisdruck gesteigert werde.254 Bei Scheitern der Verhandlungen muss der Angeklagte befürchten, dass das Gericht im weiteren Verfahren ohne Geständnis dazu tendiert, die Strafe aus der oberen Hälfte des Strafrahmens abzuleiten.255 Auch das Vorleistungsrisiko bleibt bestehen.256 Ebenso wenig lassen sich durch die Unwiderruflichkeit der Unterwerfungserklärung des Angeklagten die der Urteilsabsprachenpraxis üblichen Verhandlungen verhindern,257 sondern werden in das Stadium vor Abgabe der Unterwerfungserklärung verlegt, denn der Angeklagte bleibt an solchen Gesprächen mit dem Gericht zur Ermittlung des tatsächlichen Geständniswerts in Form eines Endprodukts inte249  Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168); ders., ZRP 2004, 187 (190); ders., NStZ 2007, 425 (431 f.). 250  Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168). 251  Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168). 252  Hauer, Geständnis, S. 352 f.; Müller, Martin, Probleme, S. 292. 253  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 33 (40). Zur Gefahr falscher Geständnisse im Rahmen von Urteilsabsprachen oben, D. I. 3. Zur Druckausübung auf den Angeklagten oben, D. I. 2. a) bb) und D. I. 2. b) aa). Zu den diskutierten Prozentzahlen für geständnisbedingte Strafrabatte unten, G. I. 2. c). 254  Hamm, in: Meyer-Goßner-FS, 33 (40); zustimmend auch Hauer, Geständnis, S. 352. 255  Hauer, Geständnis, S. 352. 256  A. A. Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168). Siehe dazu oben, D. II. 5. 257  So aber Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 (168).

236

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

ressiert.258 Ein schlankes Geständnis besitzt kaum Beweiswert und kann einen Verzicht auf weitergehende Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung nicht legitimieren.259 Für die Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit und das Prinzip der materiellen Wahrheit wäre nichts gewonnen,260 weshalb die Einführung eines Unterwerfungsverfahrens abzulehnen ist. e) Summarisches Verfahren Moos sympathisiert mit der Einführung eines summarischen Verfahrens eigener Art für geständige Angeklagte, wodurch der mit der Diversion beschrittene Weg zu einem konsensualen Verfahren im österreichischen Strafprozess fortgesetzt werde.261 Der neue Verfahrenstyp soll sich zwischen die reguläre Hauptverhandlung und die Diversion schieben, wenn aus Gründen der Schuldschwere oder Prävention ein Schuldspruch ergehen müsse, eine reguläre Hauptverhandlung aber zu aufwändig sei und die Staatsanwaltschaft die Sachlage weitestgehend geklärt und die voraussichtliche Sanktion in ihre Erwägungen und Gespräche miteinbezogen habe.262 aa) Grundzüge Vereinbarten Staatsanwaltschaft und Beschuldigter im Vorverfahren die Ablegung eines Geständnisses, werde auf Antrag des Beschuldigten ein summarisches Verfahren eingeleitet.263 In einer abgekürzten, öffentlichen Hauptverhandlung überprüfe das Gericht das Geständnis des Angeklagten sowie die übrigen Voraussetzungen der Absprache anhand der Beweislage264 und verhänge nach seinem Ermessen die Sanktion innerhalb eines gesetzlich ­reduzierten Strafrahmens.265 Der Angeklagte unterwerfe sich unter den Schuld- und Strafausspruch.266 Das summarische Verfahren soll auf alle Strafverfahren anwendbar sein, da andernfalls die Absprachenpraxis im Ge258  Hauer, Geständnis, S. 353. Siehe dazu oben, B. II. 2. d). Zum Problem der Vorgespräche oben, D. II. 1., 3., 4., 7., 8. 259  Hierzu oben, D. I. 1. b) bb) (2); vgl. F. I. 1. a) cc) (3); BGH NStZ 2014, 170. 260  Hauer, Geständnis, S. 353. 261  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (35–38); ders., RZ 2004, 56 (64 f.). 262  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (64). 263  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (64 f.). 264  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (65); ders., Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (37). 265  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (64 f.). 266  Moos, Reinhard, RZ 2004, 56 (64), der auf Weigend, in: 50 Jahre BGH‑FG, 1011 (1040) verweist.



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen237

heimen unkontrolliert weiter existieren würde.267 Die abgekürzte Hauptverhandlung ermögliche in anderen, komplizierten Verfahren einen größeren Prozessaufwand.268 Rechtsstaatswidrige Urteilsabsprachen würden durch die gesetzliche Regelung eines solchen Verfahrenstypus mangels Bedürfnis aus der Strafverfahrenswirklichkeit verdrängt.269 bb) Kritische Würdigung Moos setzt in seinem Modell voraus, dass der Angeklagte geständig ist. Richtigerweise bezeichnet er sein Modell als eine Art Unterwerfungsverfahren.270 Die am Unterwerfungsmodell von Meyer‑Goßner geübte Kritik scheint deshalb grundsätzlich übertragbar.271 Eine freiwillige Geständnisablegung kann nicht garantiert werden, da vor der Geständnisbereitschaft des Angeklagten Absprachen herkömmlicher Art möglich und auch zu erwarten sind. Auch im summarischen Verfahren kann ein Geständnis nicht die Richtigkeit des Anklagevorwurfs bestätigen. Eine summarische Hauptverhandlung liefert keine deutlich bessere Erkenntnisquelle als das informelle Urteilsabspracheverfahren. Auch die Öffentlichkeit kann hier ihre Kontrollfunktion nicht in gleicher Weise erfüllen wie bei einer konventionellen Hauptverhandlung.272 Zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik ist die Einführung eines summarischen Verfahrens deshalb nicht geeignet. f) Schuldinterlokut im summarischen Verfahren Auch Schick schlägt ein summarisches Verfahren eigener Art für geständige Angeklagte im österreichischen Strafprozess vor, dessen Durchführung sowohl vom Angeklagten als auch vom Gericht initiiert werden könne.273 Im summarischen Verfahren führt Schick allerdings eine Art Schuldinterlokut ein, wodurch die abgekürzte Hauptverhandlung zweigeteilt werde.274

267  Moos, 268  Moos,

(64).

269  Moos,

Reinhard, RZ 2004, 56 (65). Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (37); ders., RZ 2004, 56

Reinhard, RZ 2004, 56 (60 f.). Reinhard, RZ 2004, 56 (64). 271  Dazu soeben, F. I. 2. d) bb). 272  Zum Öffentlichkeitsgrundsatz oben, D. II. 7.; vgl. dazu auch die Kritik am schweizerischen abgekürzten Verfahren oben, F. I. 2. c) bb). 273  Schick, in: Miklau-FS, 451 (459). 274  Schick, in: Miklau-FS, 451 (459 f.). 270  Moos,

238

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

aa) Grundzüge Bei Tatsachengeständnis des Beschuldigten und Zustimmung der Staatsanwaltschaft, welche den Sachverhalt aufgrund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens für ausreichend geklärt halte, komme es nach dem Anklagevortrag und einem kurzen Vortrag des Gerichts in der Hauptverhandlung zu einem Schuldinterlokut.275 In dem sich anschließenden zweiten Abschnitt des summarischen Verfahrens habe die Diskussion der Verfahrensbeteiligten über die Strafzumessung zu erfolgen, auch dann, wenn es zu einer vorherigen Absprache über die Sanktionsfolgen gekommen sei. Die Strafzumessungserwägungen seien als Begründung in das Endurteil aufzunehmen. Rechtsmittel könnten ausschließlich gegen die Strafbemessung eingelegt werden, nicht gegen den Schuldspruch. In diesem zweiten Verfahrensabschnitt seien gegebenenfalls Privatbeteiligte und mutmaßliche Opfer zu hören und ihre Ansprüche zu erörtern. Die zweigeteilte Hauptverhandlung sei öffentlich und mit notwendiger Verteidigung auszustatten.276 bb) Kritische Würdigung Ein Schuldinterlokut bedeutet die Zweiteilung der Hauptverhandlung in einen Abschnitt zur Schuld- und einen sich anschließenden Abschnitt zur Strafzumessungs- bzw. Rechtsfolgenfrage.277 In der österreichischen Strafrechtswissenschaft ist das Schuldinterlokut in den letzten Jahren im Rahmen der Reformvorschläge für eine neue Hauptverhandlung ausgiebig diskutiert worden,278 wobei die exakte Ausgestaltung nicht einheitlich beurteilt wird.279 Die für ein Schuldinterlokut vorgetragenen Argumente haben erhebliches Gewicht. So erhofft man sich durch eine erst nach Schuldfeststellung erfolgende öffentliche Erörterung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten 275  Schick,

in: Miklau-FS, 451 (460). Ganzen Schick, in: Miklau-FS, 451 (460). 277  Dölling, Zweiteilung, S. 2; Dahs sen., NJW 1970, 1705. 278  Siehe etwa Moos, Reinhard, ÖJZ 2003, 369 (377–379); Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 5 (9 f.) und 135 (136); ders., 15. ÖJT (2003), Band IV/1, S. 40– 43; Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (24–29); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (39 f.); Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (66–68); ders., 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51  f.); Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 127; Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 129; Pilnacek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 132 (133); Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 133 (134); Miklau, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 53 (54). 279  Dazu Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (67); Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/1, S. 41–43; Miklau, 3. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2005), 54. 276  Zum



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen239

einen besseren Schutz seiner Persönlichkeitsrechte.280 Die Voreingenommenheit des Gerichts bei der Schuldfrage – insbesondere bei bereits vorbestraften Angeklagten – werde vermieden.281 Die Verteidigung müsse aufgrund der Strukturierung der Hauptverhandlung nicht mehr ihr eigenes, auf einen Freispruch gerichtetes Plädoyer durch vorsorgliche Ausführungen zu einer milden Bestrafung negativ beeinflussen.282 Eine eigenständige Beweisaufnahme zu den Strafzumessungstatsachen führe zu einer Verbesserung der Rechtsfolgenverhandlung und stärkeren Verrechtlichung und Kontrollierbarkeit der Sanktionenentscheidung.283 Die österreichische Strafrechtspraxis steht der Einführung eines Schuld­ interlokuts dennoch mehrheitlich ablehnend gegenüber.284 Die geltende österreichische Strafprozessordnung kenne mit § 256 Abs. 2 öStPO bereits die Möglichkeit getrennter Plädoyers und Urteilsaussprüche zur Schuldfrage einerseits und zur Straffrage andererseits, von der die Praxis jedoch Berichten zufolge kaum Gebrauch mache.285 Eine transparente Rechtsfolgenentscheidung sei durch Änderungen im Sanktionenrecht sowohl im Rahmen der Entscheidungsfindung als auch der Begründungspflicht, etwa durch die Einführung erhöhter Begründungsanforderungen in § 270 Abs. 2 Nr. 5 öStPO, zu gewährleisten.286 Die detaillierte Ausgestaltung der einzelnen prozessualen, das Schuldinterlokut regelnden Vorschriften werfe komplexe und kaum lösbare Probleme auf, da sich die Verhandlungsmasse nur schwerlich nach Tatund Rechtsfolgenfrage fraktionieren lasse bzw. die beiden Komplexe untrennbar miteinander verbunden seien.287 Folge sei eine bedeutende Verzögerung der Hauptverhandlung, denn die obligatorische Zweiteilung führe zu

280  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (64  f.); Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (25). 281  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (65); Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (25); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (40). 282  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 1 (64); Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (25). 283  Moos, Reinhard, Strafrechtliche Probleme (2003), 64 (65; 68 f.); Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (25); Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (39 f.); Brandstetter, 15. ÖJT (2003), Band IV/1, S. 41 f.; Schick, in: Miklau-FS, 451 (460). 284  Siehe etwa Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (66–68); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 15; Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (25–29); Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 129; Ratz, ÖJZ 2010, 387 (388). 285  Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (66); ders./Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 15. 286  Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (26). Zum gegenwärtigen Strafbemessungsrecht unten, G. I. 2. c). 287  Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (27); Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (67 f); Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 126.

240

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

einem erhöhten Arbeitsaufwand für das Gericht, unabhängig von der Erforderlichkeit im Einzelfall.288 Ohne den dargestellten Disput entscheiden zu müssen, ist der Vorschlag von Schick zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik ungeeignet, denn in beiden Verfahrensabschnitten soll die Hauptverhandlung summarisch durchgeführt werden. Die festgestellten Mängel einer summarischen Hauptverhandlung disqualifizieren deshalb gleichzeitig den Vorschlag von Schick.289 Mutmaßlich würde, wenn der erste Verfahrensabschnitt der Hauptverhandlung, in dem die Schuldfrage geklärt wird, schulmäßig und nicht in abgekürzter Form durchzuführen wäre, die Interessenlage der Berufsjuristen an den Vorteilen einer Urteilsabsprache ebenfalls weiter bestehen290 und die heimliche Fortführung der für eine Urteilsabsprache üblichen Verhandlungsgespräche vor Eintritt in den ersten Verhandlungsabschnitt wäre zu erwarten.291 Die Einführung eines Schuldinterlokuts unterbindet daher ein Aushandeln der Schuldfrage nicht.292 g) Strafbescheidsverfahren Zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik wird in der deutschen Literatur auch ein Strafbescheidsverfahren vorgeschlagen.293 Ziel sei es, den legitimen Grundgedanken von informellen Urteilsabsprachen – die „reine verfahrensökonomische Erledigung“ – zu bewahren.294 Das Strafbescheidsverfahren wird als eine Umgestaltung des deutschen Strafbefehlsverfahrens nach §§ 407 ff. dStPO verstanden.295 Aus diesem Grund stimmen die zu einem Strafbescheidsverfahren unterbreiteten Vorschläge in einigen Punkten mit dem österreichischen Mandatsverfahren nach § 491 öStPO überein,296 denn der Gesetzgeber des Mandatsverfahrens hat sich ebenfalls am deutschen Strafbefehlsverfahren nach §§ 407 ff. dStPO orientiert.297 Im Unterschied 288  Kirchbacher, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 13 (27 f.); Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 55 (67 f.); Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 129; Ratz, ÖJZ 2010, 387 (388). 289  Siehe dazu oben, F. I. 2. e) bb). 290  Hierzu oben, D. I. 1. a). 291  Vgl. Schöch, Urteilsabsprachen in der Strafrechtspraxis, S. 213. 292  A. A. DAV, Stellungnahme 46/2006, S. 9 [Internetquelle]; Kempf, StraFo 2014, 105 (110). 293  Siehe Bode DRiZ 1988, 281 (287 f.); Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S.  162 f.; Weßlau, Konsensprinzip, S. 264. 294  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 160. 295  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 162. 296  Zum Mandatsverfahren sogleich unten, F. I. 2. h). 297  Vgl. Pilnacek, ÖJZ 2014, 433; Krückl, Österreichisches AnwBl 2014, 517 (522).



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen241

zum Mandatsverfahren nach § 491 öStPO soll das Strafbescheidsverfahren allerdings kein rein schriftliches Verfahren sein. Das Gericht soll den Strafbescheid nur erlassen können, wenn es den Antrag der Staatsanwaltschaft zuvor mit dem Beschuldigten und seinem Verteidiger298 eingehend erörtert hat. Substantielle Voraussetzung für ein Strafbescheidsverfahren soll der Ausbau der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren sein.299 aa) Grundzüge Das Strafbescheidsverfahren soll ein Kontrastprogramm zum Normalverfahren sein und sich nach Schünemann grundsätzlich folgendermaßen gestalten:300 Auf Antrag der Staatsanwaltschaft soll das Gericht nach Erörterung der Sach- und Rechtslage mit dem Beschuldigten und seinem Verteidiger einen Strafbescheid erlassen können, wobei die Anwendbarkeit des Strafbescheidsverfahrens auf alle Strafverfahren zu überlegen sei. Gegen diesen Strafbescheid soll der Beschuldigte binnen einer Woche Einspruch einlegen können. In diesem Fall sei im weiteren Verfahren eine vollständige Hauptverhandlung durchzuführen, wobei das Verbot der reformatio in peius gelten müsse, das nur entfalle, wenn bedeutende neue Umstände zu Tage träten, die zum Zeitpunkt des Strafbescheidserlasses nicht bekannt gewesen seien. Im weiteren Verfahren müsse der Beschuldigte die Kosten des Verfahrens tragen, während der Strafbescheid kostenfrei sei. Dies stelle sicher, dass die Motivation für den Verzicht auf die Rechtsmitteleinlegung eindeutig auf die belastende Beweislage zurückgeführt werden könne.301 Weßlau setzt in ihrem Vorschlag zur Ausgestaltung eines Strafbescheidsverfahrens alternativ voraus, dass dem Beschuldigten für seine Einverständniserklärung keinerlei Strafrabatt gegenüber dem Normalverfahren gewährt werden dürfe, da nur so eine Druckausübung auf den Beschuldigten zu verhindern sei.302 Zudem soll auch der Staatsanwaltschaft ein Einspruchsrecht zustehen, um ihre Strafmaßvorstellungen einfließen lassen zu können, denn das Vorschlagsrecht für das Strafmaß soll dem Gericht obliegen.303 Das Verbot der reformatio in peius gelte dann nicht. Um zu verhindern, dass die Staatsanwaltschaft dieses Verbot hemmen könne, seien die Einspruchsmög298  Die Verteidigung soll hier obligatorisch sein, Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 162. 299  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 161  f.; Weßlau, Konsensprinzip, S.  262 f. 300  Zum folgenden Text Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 162 f. 301  Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 163. 302  Weßlau, Konsensprinzip, S. 100, 247 f. 303  Weßlau, Konsensprinzip, S. 267.

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

lichkeiten zeitlich versetzt zu regeln. Die Staatsanwaltschaft müsse sich zuerst festlegen, damit der Angeklagte auf dieser Grundlage über sein Einspruchsrecht entscheiden könne.304 bb) Kritische Würdigung Bei der Strafbescheidslösung handelt es sich um eine vereinfachte Erledigungsform, bei welcher der Beschuldigte nicht mit einem Geständnis in Vorleistung geht.305 Die Vertreter eines Strafbescheidsverfahrens erkennen zu Recht, dass ein Verzicht auf die schulmäßige Durchführung einer Hauptverhandlung nur möglich sein könnte, wenn als Wahrheitsfindungsgarantie die Verteidigung über starke Rechte im Ermittlungsverfahren verfügen würde.306 Der Vorschlag, im Strafbescheidsverfahren die Gewährung eines Strafrabatts zu verbieten, dient dagegen lediglich in der Theorie dem Schutz der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten und orientiert sich nicht an der Realität der Strafrechtspraxis. Ohne Zusicherung eines bestimmten Strafmaßes wird der Angeklagte nicht auf die Durchführung einer Hauptverhandlung verzichten wollen.307 Gleichfalls wird das Gericht vor Unterbreitung seines Strafmaßvorschlags zur Minimierung der Einspruchswahrscheinlichkeit in vertraulichen Gesprächen erfahren wollen, welches Strafmaß der Angeklagte akzeptieren würde.308 Auch im Übrigen können die Sicherungsmechanismen nicht verhindern, dass unzulässige Abspracheverhandlungen herkömmlicher Art vor Erlass des Strafbescheids im Rahmen der Rechtsgespräche getroffen werden, allerdings mit dem Unterschied, dass das Vorleistungsrisiko weiterhin das Gericht trägt.309 Es ist nicht gewährleistet, dass der Angeklagte freiwillig auf seinen Einspruch verzichtet. Wegen dieser Gefahr kann die Richtigkeit der vom Angeklagten zugestandenen Tatsachen nicht unterstellt werden. Zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik ist ein Strafbescheidsverfahren ungeeignet. h) Das wiedereingeführte Mandatsverfahren (§ 491 öStPO) Seit Januar 2015 kann gemäß § 491 öStPO in Österreich ein Strafverfahren im Wege eines schriftlichen Verfahrens gegenüber dem Normalverfahren 304  Weßlau,

Konsensprinzip, S. 267. Vorleistungsrisiko oben, D. I. 2. b) cc); D. II. 5. 306  Hierzu oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc). 307  Dazu oben, B. II. 2. d). 308  Hauer, Geständnis, S. 362. 309  Hauer, Geständnis, S. 361; Müller, Martin, Probleme, S. 287 f. m. w. N. Dies schließt auch Weßlau, Konsensprinzip, S. 271 f., nicht aus. 305  Zum



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen243

vereinfacht erledigt werden.310 Ausdrückliches Ziel des StPRÄG 2014, mit dem das Mandatsverfahren eingeführt wurde, ist die „Steigerung der Effi­ zienz des strafrechtlichen Verfahrens und Verkürzung der Verfahrensdauer“.311 Der Gesetzgeber des Mandatsverfahrens stellt in seinen einführenden Bemerkungen keinen Bezug zu den Urteilsabsprachen her. Das Mandatsverfahren ist nicht als Modell zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik zu verstehen, was sich bereits an seinem begrenzten Anwendungsbereich nach § 491 Abs. 1 und Abs. 2 öStPO zeigt.312 Dennoch verfolgt der Gesetzgeber des Mandatsverfahrens das Ziel, eine Verfahrensverkürzung zu legalisieren, die mit den prozessrechtlichen Grundsätzen vereinbar sein soll. Das Mandatsverfahren wird als eine Annäherung an Absprachen im Strafprozess gewertet.313 Deshalb soll im vorliegenden Zusammenhang geprüft werden, ob das Mandatsverfahren nach § 491 öStPO den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren genügt, obwohl eine Hauptverhandlung entfällt. Nach Ansicht der Anhänger abgekürzter Verfahren müsste sichergestellt sein, dass die mate­ rielle Wahrheit auch ohne schulmäßige Durchführung einer Hauptverhandlung gefunden werden kann.314 Erste Voraussetzung wäre demnach, dass das Mandatsverfahren nach § 491 öStPO ausreichende Mechanismen zum Schutz der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten enthält. aa) Grundzüge Nach § 491 Abs. 1 öStPO kann in Strafverfahren vor dem Bezirksgericht oder dem Einzelrichter des Landgerichts bei Delikten, die mit Geldstrafe oder maximal einem Jahr bedingt nachzusehender Freiheitsstrafe geahndet werden, ein schriftliches Mandatsverfahren durchgeführt werden, was zur Folge hat, dass die Hauptverhandlung entfällt.315 Nach § 491 Abs. 1 öStPO ist allein die Staatsanwaltschaft antragsberechtigt. Das Gericht kann die beantragte Strafverfügung erlassen, wenn es sich um ein Vergehen handelt (§ 491 Abs. 1 Nr. 1 öStPO). Der Angeklagte muss zuvor gemäß § 164 öStPO 310  Zur möglichen Kompensierung des justiziellen Überlastungsproblems durch die Wiedereinführung des Mandatsverfahrens oben, B. II. 1. a) dd). 311  Vorbl. und WFA 181 BlgNR 25. GP 1 [abrufbar unter: https://www.parlament. gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_00181/fname_353784.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. Vgl. auch Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 312  Nemec, Martin, 13.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (109). 313  Schwaighofer, 5/SN-38/ME 25. GP 2 [Internetquelle]. 314  Siehe oben, F. I. 2. a). 315  Wie bereits festgestellt, hat sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Mandatsverfahrens am deutschen Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 ff. dStPO orientiert, siehe die Nachweise in Fn. 297.

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

oder § 165 öStPO zum Anklagevorwurf vernommen worden sein und nach Information über die Folgen ausdrücklich auf die Durchführung einer Hauptverhandlung verzichtet haben (§ 491 Abs. 1 Nr. 1 öStPO). Eine Diversion darf nach der Subsidiaritätsklausel des § 491 Abs. 1 Nr. 2 öStPO nicht möglich sein. Daneben muss das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Verbindung mit der Verantwortung des Angeklagten zur Beurteilung aller für die Schuld- und Straffrage entscheidenden Umstände durch das Gericht ausreichen (§ 491 Abs. 1 Nr. 3, 1. Hs. öStPO). Nach § 491 Abs. 3 öStPO ist eine richterliche Vernehmung des Angeklagten nur vorgesehen, wenn das Gericht dies zur Bewertung aller für die Entscheidung maßgebenden Umstände für erforderlich hält. Die Rechte und berechtigten Interessen der Opfer dürfen keine Beeinträchtigung erfahren (§ 491 Abs. 1 Nr. 3, 2. Hs. öStPO). Entscheidet sich das Gericht für den Erlass der Strafverfügung, regelt § 491 Abs. 4 öStPO deren inhaltliche Voraussetzungen. Der Tenor muss den Ausspruch des Gerichts über die Schuld des Angeklagten mit allen in § 260 öStPO angeführten Punkten enthalten. Die vom Gericht als erwiesen angenommenen Tatsachen müssen in gedrängter Darstellung sowie die für die Strafzumessung und gegebenenfalls die für die Bemessung des Tagessatzes (§ 19 Abs. 2 öStGB) maßgebenden Umstände in Schlagworten beschrieben werden. Gleichzeitig ist der Angeklagte über sein Recht, Einspruch gegen die Strafverfügung zu erheben mit dem deutlichen Hinweis zu belehren, dass die Strafverfügung mit allen Wirkungen einer Verurteilung in Rechtskraft übergeht und vollstreckt wird, wenn ein solcher nicht oder nicht rechtzeitig erhoben wird. Eine gemäß § 43 Abs. 1 öStGB bedingt nachzusehende Freiheitsstrafe darf das Gericht nur verhängen, wenn der Angeklagte durch einen Verteidiger vertreten ist (§ 491 Abs. 2 öStPO). Gemäß § 491 Abs. 5 öStPO ist die Strafverfügung dem Angeklagten samt Strafantrag mit dem Erfordernis des Nachweises des persönlichen Empfangs gemäß § 83 Abs. 3 öStPO zuzustellen, wobei in Fällen einer Verteidigung auch eine Zustellung an den Verteidiger zu erfolgen hat. Nach § 491 Abs. 6 öStPO können Angeklagter, Staatsanwaltschaft und Opfer, dem die Strafverfügung gemäß § 491 Abs. 5 öStPO ebenfalls zuzustellen ist, innerhalb von vier Wochen Einspruch gegen die Verfügung einlegen, was gemäß § 491 Abs. 8 öStPO die Anberaumung einer Hauptverhandlung zur Folge hat, wenn der Einspruch nach § 491 Abs. 7 öStPO zulässig ist. Für das Verfahren nach Einspruch ist der die Strafverfügung erlassende Richter gemäß § 491 Abs. 8, 2. Hs. i. V. m. § 43 Abs. 2 öStPO ausgeschlossen. Bleibt ein zulässiger Einspruch aus, steht die Strafverfügung nach § 491 Abs. 9 öStPO der Wirkung eines rechtskräftigen Urteils gleich. Der Angeklagte, der die Einspruchsfrist verstreichen lässt, akzeptiert somit das ihm unterbreitete Strafverfügungsangebot samt Inhalt.



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen245

bb) Kritische Würdigung Auf die Durchführung einer Hauptverhandlung kann der Angeklagte nach Ansicht der Anhänger abgekürzter Verfahren nur verzichten, wenn die Richtigkeit der von ihm zugestandenen Tatsachen unterstellt werden könnte. Eine Druckausübung auf den Angeklagten in Richtung eines etwaigen Geständnisses oder eines Einspruchsverzichts müsste die gesetzliche Regelung deshalb durch Sicherungsmechanismen unterbinden. Erst dann könnte es möglich sein, materielle Wahrheit ohne Hauptverhandlung zu finden. Die Besonderheit, dass es sich beim Mandatsverfahren nach § 491 öStPO um ein schrift­ liches Verfahren handelt, muss in die Bewertung miteinfließen. Eine ausreichende Absicherung zur Wahrung des nemo-tenetur-Grundsatzes scheint im Regelungswerk des Mandatsverfahrens nach § 491 öStPO allerdings nicht vorhanden. Die ausschließlich bei der Staatsanwaltschaft liegende Antragsrechtsberechtigung (§ 491 Abs. 1 öStPO) verleiht dieser ein zusätzliches Druckmittel gegen den Angeklagten. Vor allem aber kann das Antragserfordernis der Staatsanwaltschaft zur reinen Formsache werden. Unzulässige Abspracheverhandlungen herkömmlicher Art zwischen Verteidigung und Gericht vor Erlass der Strafverfügung werden nicht verhindert. Diese Gespräche bleiben für beide Verfahrensbeteiligte bedeutsam, denn das Gericht entscheidet über den Erlass der Strafverfügung nach seinem Ermessen und setzt die konkrete Strafe fest (§ 491 Abs. 1 öStPO). Dadurch ist nicht nur der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 7 Abs. 1 B‑VG, Art. 2 StGG betroffen.316 Will das Gericht zur Sicherstellung der Verfahrensverkürzung einen Einspruch des Angeklagten vermeiden, wird es mit ihm vorher über die zu verhängende Sanktion sprechen.317 Das mögliche Eigeninteresse des Richters am Wegfall der Hauptverhandlung und an der Ausfertigung eines verkürzten Urteils ist nicht außer Acht zu lassen.318 Die Absprachenproblematik besteht deshalb weiter.319 Die gerichtliche Vorleistungspflicht wird relativiert. Transparenz ist nicht gegeben. Es ist nicht feststellbar, ob der Angeklagte ein etwaiges Geständnis freiwillig abgegeben und freiwillig auf den Einspruch verzichtet hat. Ein Geständnis soll keine zwingende Voraussetzung für eine Strafverfügung sein, nach den Gesetzeserläuterungen aber ein „wesentliches Beurteilungskriterium“ für die Frage des Erlasses einer Strafverfügung darstellen.320 Will der Gesetzgeber damit andeuten, ein Geständnis schütze vor 316  Tipold,

JSt 2014, 97 (98 f.). in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 318  Venier, 10/SN-38/ME 25. GP 4 [Internetquelle]. 319  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 320  ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 19 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXV/I/I_00181/fname_353785.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]; vgl. 317  Tipold,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

Fehlurteilen, verkennt dies die strafprozessuale Realität bezüglich der Gefahr falscher Geständnisse.321 Zur Verhinderung des Einspruchs kann im Strafbescheid auch eine zu milde und damit schuldunangemessene Strafe festgesetzt werden. Gleichfalls ist der ausdrücklich zu erklärende Verzicht auf die Hauptverhandlung kein Gradmesser für die Korrektheit der zur Last gelegten Tat. Richtigerweise ist der die Strafverfügung erlassende Richter für das Verfahren nach Einspruch ausgeschlossen, da ansonsten die Neutralität des Gerichts (§ 3 Abs. 2 öStPO; Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) und die Unschuldsvermutung (§ 8 öStPO; Art. 6 Abs. 2 EMRK) verletzt würden.322 Aufgrund der Gleichstellung von Strafverfügung und Urteil (§ 491 Abs. 9 öStPO) sowie mangels gesonderter Regelung gilt das in § 16 öStPO normierte Verschlechterungsverbot (Verbot der reformatio in peius), wenn der Angeklagte Einspruch einlegt.323 Die Gefahr einer verfahrensbeendenden Absprache im ordentlichen Verfahren bleibt aber bestehen, da dem Gericht trotz Verschlechterungsverbot immer noch die Strafmaßschere nach unten zur Verfügung steht. Ferner darf nicht übersehen werden, dass die Staatsanwaltschaft nach dem Umkehrschluss aus § 16 öStPO mit ihrem Einspruch gegen den Strafbescheid das Verbot der reformatio in peius für die sich anschließende Hauptverhandlung beseitigen kann.324 Die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten ist nicht sichergestellt. Auch ohne Furcht vor einer Strafschärfung für das Verfahren nach Einspruch (§ 491 Abs. 9 i. V. m. § 16 öStPO) kann es viele Gründe geben, warum der Angeklagte die Strafverfügung akzeptiert.325 Namentlich Sprachbarrieren oder sonstige Ursachen für einen mangelhaften Sachverstand des Angeklagten werden vom Gericht nicht erforscht und dementsprechend auch nicht ausgeschaltet, weshalb in dem Ausbleiben eines Einspruchs auch kein nachträgliches Schuldeingeständnis erblickt werden darf, das dem Richter die Richtigkeit der erlassenen Strafverfügung vermitteln könnte.326 Es lässt sich im Mandatsverfahren bereits deshalb nicht unterstellen, dass die vom Angeklagten zugestandenen Tatsachen richtig sind.327 auch Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354 (354 f.). Kritisch dazu ÖRAK, Stellungnahme, 43/SN-38/ME 25. GP 5 [Internetquelle]. 321  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110; ders., 16/SN-38/ME 25. GP 9 f. [Internetquelle]. Zur Vielfältigkeit möglicher Ursachen falscher Geständnisse oben, D. I. 3. 322  Vgl. dazu oben, D. II. 9. 323  Tipold, JSt 2014, 97 (99). Zum Verbot der reformatio in peius auch oben, F. I. 2. g). 324  Vgl. Uran, Verschlechterungsverbot, S. 27–31 [Internetquelle]. 325  Tipold, JSt 2014, 97 (99); ÖRAK, Stellungnahme, 43/SN-38/ME 25. GP 5 [Internetquelle]. 326  Tipold, JSt 2014, 97 (99); ders., in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 327  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110.



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Hinzu kommt, dass der Richter dem Angeklagten vor Erlass der Strafverfügung keine Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss, obwohl nur so zu besorgen wäre, dass dem Entscheidungsträger das Vorbringen erschöpfend und ungetrübt zugeht.328 Der Angeklagte ist gemäß § 491 Abs. 1 Nr. 1 öStPO grundsätzlich nur nach § 164 öStPO zu vernehmen.329 Die Anwendung des § 491 Abs. 3 öStPO liegt im richterlichen Ermessen und bremst die mit einer Strafverfügung bezweckte Verfahrensbeschleunigung. Hat der Staatsanwalt den Antrag auf Erlass der Strafverfügung gestellt, kann der Angeklagte bis zum Erlass der Strafverfügung keinen Einfluss auf den Verfahrensverlauf oder die richterliche Entscheidung nehmen, was vornehmlich dann einem rechtsstaatlichen Verfahren entgegensteht, wenn eine bis zu einem Jahr bedingte Freiheitsstrafe verhängt wird (§ 491 Abs. 2 öStPO), zumal die Nachsicht widerruflich ist (§ 43 öStGB).330 Der Einspruch ist jedenfalls nicht zur Nachholung des rechtlichen Gehörs bestimmt. Eine solche Nachholung hätte nämlich zur Folge, dass das Gericht kontrollieren muss, ob die frühere Entscheidung zu korrigieren ist.331 Im Mandatsverfahren verpflichtet der Einspruch aber zur Durchführung einer Hauptverhandlung und nicht zur Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung. Das bedingt, dass die ohne Anhörung des Angeklagten getroffene, diesen beeinträchtigende Entscheidung des Richters nicht mehr überprüft wird, sondern unangreifbar ist.332 Der Angeklagte darf nur entscheiden, ob er auf den Einspruch verzichtet oder in einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht steht.333 Über die Strafverfügung wird der Angeklagte gemäß § 491 Abs. 5 i. V. m. § 83 Abs. 3 öStPO lediglich schriftlich durch förmliche Zustellung nach § 21 ZustG informiert. Sich aus dem Zustellungswesen ergebende Problematiken sind vorprogrammiert.334 Die Begründungspflicht gemäß § 491 Abs. 4 Nr. 3 und 4 öStPO soll dem Angeklagten alle für seine Entscheidung über die Einspruchseinlegung relevanten Informationen vermitteln. Gleichzeitig soll der Anschein vermieden werden, dass der Richter den Antrag der Staatsanwaltschaft ungeprüft zur Grundlage seiner Entscheidung macht.335 Die knappe Begründungspflicht ist jedoch nicht geeignet, um ein ausreichendes Beurteilungs- und HandlungsEser, JZ 1966, 660 (666). Stellungnahme, 18/SN-38/ME 25. GP 4 [Internetquelle]; Venier, 10/SN38/ME 25. GP 3 [Internetquelle]. 330  Tipold, 16/SN-38/ME 25. GP 10 [Internetquelle]; Amnesty International Österreich, Stellungnahme, 24/SN-38/ME 25. GP 2 f. [Internetquelle]. 331  Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 407 ff. Rn. 21. 332  Vgl. Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 407 ff. Rn. 21. 333  Vgl. Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 407 ff. Rn. 21. 334  Dazu mit Beispielen Tipold, 16/SN-38/ME 25. GP 7, 14 [Internetquelle]; ders., JSt 2014, 97 (100). 335  Dazu Tipold, 16/SN-38/ME 25. GP 8 f. [Internetquelle]. 328  Vgl.

329  OGH,

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vermögen des Angeklagten sicherzustellen. Es ist nicht gewährleistet, dass der Angeklagte begreift, dass er mit Rechtsgültigkeit der ihm lediglich in Schriftform übermittelten Strafverfügung vorbestraft ist, mit allen sich da­ raus ergebenden negativen, unter Umständen existenzbedrohenden Konsequenzen.336 Die beschränkte Auskunftserteilung aus dem Strafregister über die Verurteilung (§ 6 Abs. 2 TilgG) vermittelt keinen hinreichenden Schutz des Angeklagten. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK wird nicht gewahrt.337 Im Mandatsverfahren darf auch deshalb nicht unterstellt werden, dass die vom Angeklagten zugestandenen Tatsachen richtig sind.338 Zudem verlangt der Erlass einer zur urteilsgleichen Erkenntnis führenden Strafverfügung (§ 491 Abs. 9 öStPO) denselben Grad an Überzeugung wie bei einer Verurteilung. Eine solche Überzeugungsbildung allein anhand der angeblich eindeutigen Aktenlage scheint aber nicht möglich.339 Bereits der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und die Annahme der Richtigkeit des Akteninhalts sind fraglich.340 Eine Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren leidet stets an einem deutlichen Qualitätsminus gegenüber einer Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Speziell die Gefahr einseitig gefärbter polizeilicher Vernehmungsprotokolle ist gegeben. Ein Bild vom Angeklagten aus eigener Wahrnehmung muss sich der die Verfügung erlassende Richter gerade nicht verschaffen, der aber insbesondere für die Strafzumessung entscheidend ist.341 Selbst ein Geständnis des Angeklagten muss im herkömmlichen Verfahren auf seine Glaubwürdigkeit in der Hauptverhandlung überprüft werden, denn der Rückschluss von einem Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit verbietet sich.342 Die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen lässt sich nach aussagepsychologischen Maßstäben ohne persönlichen Eindruck von der Beweisperson nicht beurteilen.343 Aufgrund der Preisgabe strafprozessualer Maxime wie der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit

336  OGH, Stellungnahme, 18/SN-38/ME 25. GP 3 f. [Internetquelle]. Vgl. auch Brinek, in: Pilgermair, Wandel, 537 (539). 337  Venier, 10/SN-38/ME 25. GP 3 [Internetquelle]; OGH, Stellungnahme, 18/SN38/ME 25. GP 3 f. [Internetquelle]. 338  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110; ders., 43. Ottensteiner (2015), 5 (23). 339  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 37–39, 110. 340  Zum Grundsatz der Aktenvollständigkeit unten, G. I. 3. c) bb) (2). Zur Stoffsammlung und Fertigung des Aktenbestands im Vorverfahren oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa) und (cc). 341  OGH, Stellungnahme, 18/SN-38/ME 25. GP 4 f. [Internetquelle]. 342  Hierzu oben, D. I. 1. b) bb) (1). 343  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 39.



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und Öffentlichkeit lasse sich „kaum mehr von einem gerichtlichen Strafverfahren sprechen“.344 Abschließend bleibt festzuhalten, dass die verfahrensrechtlichen Besonderheiten des Mandatsverfahrens den Rechtsstaat im Vergleich zum Normalverfahren beschneiden und missbrauchsgefährdet sind.345 Die rechtsstaatlichen Bedenken, die im Jahre 1999 zur Abschaffung des alten Mandatsverfahrens nach §§ 460–462 öStPO a. F. geführt haben,346 beanspruchen weiterhin ihre Geltung.347 Auf die Gewährleistung der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten wird verzichtet, wodurch die Richtigkeit der vom Angeklagten zugestandenen Tatsachen nicht unterstellt werden darf.348 Die Möglichkeit zum Verzicht des Angeklagten auf die Durchführung einer Hauptverhandlung ist deshalb nicht gegeben. Der Gesetzgeber nimmt mit der Einführung des Mandatsverfahrens in Kauf, dass die Praxis der Verdachtsannahme aus den Akten ein stetig wachsendes Übergewicht beimisst. Das förmliche Beweisverfahren als Mittel einer Gegenkontrolle der behördlichen Hypothese nach Aktenlage (vgl. § 258 Abs. 1, 2 öStPO) wird praktisch aufgegeben. Unterbleibt eine gebührende Erforschung der materiellen Wahrheit zum Nachweis der Schuld, wird das Fehlurteilsrisiko ignoriert. i) Konsensuales summarisches Verfahren Ausgehend vom schweizerischen Absprachemodell ist von Luef-Kölbl im Jahre 2017 ein auf den österreichischen Strafprozess zugeschnittener Gesetzesvorschlag für ein sogenanntes „Konsensuales summarisches Verfahren“ unterbreitet worden.349 Erklärtes Ziel war der Entwurf eines echten konsensualen Verfahrensmodells „unter Abwägung der Vor- und Nachteile des deutschen und schweizerischen Regelungskonzepts sowie der alternativen Vorschläge in der österreichischen und deutschen Literatur und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des österreichischen Strafverfahrens“.350

344  Tipold,

in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. Stellungnahme, 18/SN-38/ME 25. GP 5 [Internetquelle]; Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 346  EBRV 1581 BlgNR 20. GP 22 f. [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XX/I/I_01581/fname_140510.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 347  Venier, 10/SN-38/ME 25. GP 3 [Internetquelle]. 348  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 349  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 265, 267–273. 350  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 264 f. 345  OGH,

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aa) Grundzüge Der Gesetzesentwurf besteht aus neun Paragraphen;351 er soll als besondere Verfahrensart im fünften Teil der österreichischen Strafprozessordnung eingefügt werden, um die Verschiedenartigkeit vom System des ordentlichen Verfahrens zu demonstrieren.352 Zudem sind Änderungen der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuchs und des Staatsanwaltschaftsgesetzes vorgesehen.353 Der Entwurf enthält einige, vom schweizerischen Modell abweichende Regelungen, insbesondere mit dem Ziel, Schutzmechanismen weiter auszubauen und in ihrer Wirksamkeit zu fördern. So soll nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 Gesetzesentwurf354 die Staatsanwaltschaft einem Antrag des Beschuldigten nur bei hinreichend geklärtem Sachverhalt stattgeben können, während das schweizerische abgekürzte Verfahren ein erforderliches Mindestmaß der Sachverhaltsaufklärung nicht bestimme.355 Die Beweisergebnisse des Ermittlungsverfahrens müssten zumindest die Überprüfung des Geständnisses des Beschuldigten und die Beurteilung der Straffrage ermöglichen.356 Eingeführt werden soll ebenso in § 61 Abs. 1 Nr. 8 Änderungsvorschlag‑­ öStPO357 eine notwendige Verteidigung ab Beantragung des Konsensual­ verfahrens und in § 97 Änderungsvorschlag‑öStPO358 eine verpflichtende Video­dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. Im Gegensatz zum abgekürzten Verfahren der Schweiz sieht das Verfahrensmodell in § 3 Gesetzesentwurf359 ferner besondere Protokollierungspflichten vor, die aber lediglich zu einer konzentrierten Erfassung von Inhalt und Ablauf der ab Antragsstellung zulässigen, zwischen Beschuldigtem bzw. Verteidigung und Staatsanwaltschaft geführten Gespräche verpflichten sollen und damit nicht so weitgehend wie die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten des deutschen Verständigungsgesetzes seien.360 Abweichend vom schweizerischen Konzept soll mit § 34 Abs. 1 Nr. 20 Änderungsvorschlag‑öStGB361 außerdem ein neuer Strafmilderungsgrund festgeschrieben werden, der allein die Kooperationsbereitschaft und den damit verknüpften Verzicht auf die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens belohne.362 351  Luef-Kölbl, 352  Luef-Kölbl, 353  Luef-Kölbl, 354  Luef-Kölbl, 355  Luef-Kölbl, 356  Luef-Kölbl, 357  Luef-Kölbl, 358  Luef-Kölbl, 359  Luef-Kölbl, 360  Luef-Kölbl, 361  Luef-Kölbl,

Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale Konsensuale

Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung, Verfahrensabkürzung,

S. 267–271. S. 274. S. 271–273. S. 268. S. 288. S. 289. S. 271, 309 f. S. 271. S. 268. S. 331. S. 273.



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen251

bb) Kritische Würdigung In seiner Grundstruktur ähnelt der Gesetzesentwurf dem schweizerischen Absprachemodell, welches von Luef-Kölbl als Konsensualverfahren eingestuft wird,363 so dass die Ausführungen zu dessen kritischer Würdigung auf das „Konsensuale summarische Verfahren“ vielfach applikabel erscheinen.364 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit ist an dieser Stelle deshalb auf die bereits angesprochenen divergierenden Punkte des Gesetzeskonzepts einzugehen: Das Erfordernis eines hinreichend geklärten Sachverhalts (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 Gesetzesentwurf)365 lässt keine bessere Sachverhaltsaufklärung erwarten, die der Suche nach der materiellen Wahrheit in einem Verfahren mit Schuldspruch gerecht werden könnte, denn Verfahrenseffizienz366 und Konsens367 können nach der hier vertretenen Ansicht – auch in Kombination miteinander – keinen vorzeitigen Abbruch möglicher weiterer Aufklärungsbemühungen rechtfertigen.368 Die vorgeschlagene besondere Protokollierungspflicht (§ 3 Gesetzesentwurf)369 ist kein ausreichender Schutzmechanismus. Aus prozessökonomischen Gründen auf den wesentlichen Inhalt reduzierte „Resümee-Protokolle“370 sind für eine tatsächliche Kontrolle der Verhandlungsgespräche ungenügend. Zudem müsste eine Protokollierungspflicht jede verständigungsbezogene Erörterung erfassen, worunter dann bereits das staatsanwaltschaftliche Anregungsgespräch fällt.371 Notwendige Verteidigung ab Beantragung des Konsensualverfahrens (§ 61 Abs. 1 Nr. 8 Änderungsvorschlag‑öStPO)372 und die Einführung obligatorischer Videoaufzeichnungen von Vernehmungen im Vorverfahren (§ 97 Änderungsvorschlag‑öStPO)373 sind zur Ausbalancierung des Ermittlungsverfahrens nicht ausreichend, um Überlegungen zu einem Konsensualverfahren ein Fundament zu bieten.374 Bei Scheitern des summarischen Verfahrens ist unter psychologischen Aspekten die Ausgeschlossenheit des erkennenden Gerichts (§ 8 Abs. 4 Geset­ 362  Luef-Kölbl,

Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 338. Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 244. 364  Zur Würdigung des schweizerischen abgekürzten Verfahrens oben, F. I. 2. c) bb). 365  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 268. 366  Dazu oben, D. IV. 367  Dazu oben, D. I. 1. c) bb). 368  A. A. Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 290–304. 369  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 268. 370  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 332. 371  A. A. Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 331. 372  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 271, 309 f. 373  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 271. 374  Vgl. dazu oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa) und (cc); unten, G. I. 3. c) bb). 363  Luef-Kölbl,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

zesentwurf)375 ein rechtsstaatlich notwendiger Schritt,376 aber nicht zulänglich, wenn der verfahrensleitende Staatsanwalt im weiteren Verfahren zuständig bleibt.377 Die Einführung eines neuen Strafmilderungsgrunds (§ 34 Abs. 1 Nr. 20 Änderungsvorschlag‑öStGB)378, der die Kooperation mit der Staatsanwaltschaft im summarischen Verfahren belohnt, scheint unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedenklich. Im Zentrum des justiziellen Kooperationsinteresses steht der Verzicht des Beschuldigten auf seine Verteidigungsrechte, wie etwa das Beweisantragsrecht (§ 55 öStPO).379 Die Honorierung von Prozessverhalten, das im Unterlassen von Verteidigungsmaßnahmen besteht, läuft im Umkehrschluss auf eine Bestrafung engagierter Verteidigung an sich hinaus.380 Diese die Verfahrensfairness betreffenden Bedenken verstärken sich unter der Berücksichtigung, dass das deutsche Beweisantragsrecht aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG abgeleitet wird.381 Im Ergebnis ist nach der hier vertretenen Ansicht der Entwurf eines „Konsensualen summarischen Verfahrens“ jedenfalls – ebenso wie das ihm zugrundeliegende schweizerische Absprachemodell – abzulehnen. j) Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE‑ASR) Ein Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer hat jüngst die Verständigung über das Strafmaß (§ 257c dStPO) für „unvereinbar mit einem rechtsstaatlichen Strafverfahren“ erklärt und deshalb die Abschaffung des § 257c dStPO gefordert, „da sich die […] Widersprüche zwischen dem Schuldprinzip und der Verpflichtung zur Sachaufklärung einerseits und der Festlegung des Verfahrensergebnisses durch Absprachen andererseits nicht aufheben lassen.“382 Die vom BVerfG vorgenommene verfassungsgeleitete Auslegung des Verständigungsgesetzes habe diese Diskrepanz noch verschärft,383 weshalb die derzeitige deutsche Verständigungspraxis von der Relativierung und Dezimierung des Schuldprinzips und 375  Luef-Kölbl,

Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 271. oben, D. II. 9. 377  So vorgesehen bei Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 377–380. 378  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 273. 379  Luef-Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 348. 380  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 17.1. Vgl. auch Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 257b‑257c ff. Rn. 17. 381  Siehe Perron, ZStW 108 (1996), 128 (131). 382  AE‑ASR, GA 2019, 1 (7). Zu dieser Inkonsequenz des deutschen Verständigungsgesetzes bereits oben, F. I. 1. a) bb). 383  AE‑ASR, GA 2019, 1 (49). Zum Verständigungsurteil oben, F. I. 1. a) cc) (2). 376  Dazu



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen253

der Amtsaufklärungspflicht lebe, was rechtspolitisch nicht tolerabel sei.384 Dies bedinge jedoch nicht die ersatzlose Streichung der Regelung des § 257c dStPO. Die Gesprächsbereitschaft des Angeklagten bzw. seiner Verteidigung resultiere insbesondere aus dem Informationsinteresse, zur Planung der weiteren Verteidigungstaktik die Einschätzung des Gerichts hinsichtlich Beweislage und Strafmaßerwartung zu erkunden;385 auf mögliche hinzutretende Eigeninteressen des Angeklagten an einer Urteilsabsprache wird hingewiesen.386 Der Interessenlage des Angeklagten aber auch dem justiziellen Bedürfnis nach Verfahrensabkürzung sei deshalb entgegenzukommen.387 aa) Grundzüge Unter vorstehender Prämisse hat der Arbeitskreis einen Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE‑ASR) ausgearbeitet.388 Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts wurden detaillierte Gesetzesvorschläge für ein Verfahren mit abgekürzter Hauptverhandlung vor dem Landgericht, dem Oberlandesgericht und dem Schöffengericht389 sowie für ein Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter390 formuliert. (1) Verfahren mit abgekürzter Hauptverhandlung In Verfahren vor dem Schöffengericht391, dem Landgericht392 und dem Oberlandesgericht393 soll es dem Angeklagten möglich sein, nach Eröffnung des Hauptverfahrens aber noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine vorläufige Entscheidung des Gerichts über die nach der Aktenlage zu erwartenden Rechtsfolgen zu beantragen, um den Weg zu einer abgekürzten Hauptverhandlung zu ebnen.394 Über dieses Recht soll der Angeklagte mit Zu­ 384  AE‑ASR, GA 2019, 1 (52). Zum Befund des vom BVerfG in Auftrag gegebenen Gutachtens und zu entsprechenden Praxisberichten oben, F. I. 1. a) cc) (1) und (3). 385  AE‑ASR, GA 2019, 1 (52–54). 386  AE‑ASR, GA 2019, 1 (53). Dazu oben, B. II. 2. d). 387  AE‑ASR, GA 2019, 1 (7, 52). Zu den Eigeninteressen der Justiz oben, B. II. 2. a) und b). 388  Der vollständige Gesetzestext des Alternativ-Entwurfs ist abgedruckt in AE‑ASR, GA 2019, 1 (114–128). 389  AE‑ASR, GA 2019, 1 (11 f., 49–83). 390  AE‑ASR, GA 2019, 1 (12, 84–106). 391  Vgl. §§ 24, 28 GVG. 392  Vgl. §§ 24, 74 f. GVG. 393  Vgl. §§ 120, 120b GVG. 394  AE‑ASR, GA 2019, 1 (11).

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

stellung des Eröffnungsbeschlusses belehrt werden (§ 212a Abs. 1 S. 2 dStPO‑AE). Bei entsprechender Antragstellung berate das Gericht stets unter Ausschluss von Schöffen über die zu erwartenden Rechtsfolgen und entscheide ohne ein schuldanerkennendes Geständnis des Angeklagten sowohl über die Höhe als auch die Art der zu erwartenden Strafe (§ 212a Abs. 2 S. 1 dStPO‑AE).395 Gleichzeitig soll die Regelung eingeführt werden, dass Erklärungen des Gerichts zu den zu erwartenden Rechtsfolgen nur nach entsprechendem Antrag des Angeklagten zulässig sind (§§ 202a Abs. 2, 257b Abs. 2 dStPO‑AE). Die Bekanntgabe der zu erwartenden Auswirkungen eines vor Beginn der Beweisaufnahme abzulegenden schuldanerkennenden Geständnisses auf die Zumessung der Strafe könne der Angeklagte gesondert beantragen (§ 212a Abs. 2 S. 2 dStPO‑AE). Ob das Gericht dem Antrag Folge leiste, soll in dessen Ermessen liegen, weil die Strafmilderung für ein qualifiziertes Geständnis nach dem Gesamtkonzept des Alternativ-Entwurfs für den Regelfall gesetzlich pauschal auf höchstens ein Drittel festzulegen sei (§ 46 Abs. 4 S. 1 dStGB‑AE), und die Verteidigung den Umfang der Strafmilderung somit selbst eintaxieren könne.396 Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 212a Abs. 3 S. 2 dStPO‑AE soll der Vorsitzende den Angeklagten mit Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung über die Möglichkeit belehren, sich selbst umfassend zur Anklage zu äußern und form- und fristgerecht eine abgekürzte Verhandlung zu beantragen, in welcher der Angeklagte ohne seine Zustimmung nicht zu höheren als den bekannt gegebenen Rechtsfolgen verurteilt werden dürfe. Beantrage der Angeklagte eine abgekürzte Verhandlung, dann werde die Beweisaufnahme durch die Einlassung des Angeklagten, mit der sich dieser selbst umfassend zum angeklagten Sachverhalt äußern muss, und einen Abgleich mit den Ermittlungsakten ersetzt (§ 212c dStPO‑AE).397 Erforderlich sei eine detaillierte Schilderung des Tathergangs durch den Angeklagten, eine nachfolgende persönliche Befragung, nicht aber die Anerkennung der eigenen Schuld, weil dies nur für die Strafmilderung nach § 46 Abs. 4 dStGB‑AE bedeutend sei.398 Lückenhafte Schilderungen soll der Vorsitzende durch geeignete Nachfragen versuchen zu schließen.399 Eine Verteidigererklärung sei mangels ausreichendem Beweiswert in keinem Fall zulänglich.400 Das BVerfG habe in seinem Verständigungsurteil lediglich festgestellt, dass der 395  AE‑ASR,

GA 2019, 1 (63 f.). GA 2019, 1 (65). 397  AE‑ASR, GA 2019, 1 (71). Zum substantiierten Geständnis oben, D. I. 1. b) bb) (1) (a). 398  AE‑ASR, GA 2019, 1 (69). 399  AE‑ASR, GA 2019, 1 (69). 400  AE‑ASR, GA 2019, 1 (69 f.). Hierzu auch oben, D. I. 1. b) bb) (1) (b). 396  AE‑ASR,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen255

Wahrheitsgehalt der Einlassung nicht allein aus der Übereinstimmung mit der Aktenlage abgeleitet werden dürfe, sondern die Einlassung in der Hauptverhandlung noch einmal umfassend gewürdigt und gegebenenfalls kritisch hinterfragt werden müsse.401 Das Gericht dürfe deshalb nur auf eine vollständige Hauptverhandlung verzichten, wenn sich weder aus der Einlassung noch aus der Aktenlage Anhaltspunkte für einen abweichenden Sachverhalt ergeben würden. Andernfalls sei ein Termin zur Hauptverhandlung zu bestimmen, wenn nicht ausnahmsweise ergänzende freibeweisliche Beweiserhebungen, die am gleichen oder an einem weiteren Verhandlungstag abgeschlossen werden können, möglich seien (§ 212c Abs. 2 dStPO‑AE).402 Auf eine Schöffenbeteiligung, die insbesondere für die Beweiswürdigung bedeutsam sei und der nach der Rechtsprechung des BVerfG403 kein Verfassungsrang zukomme, könne bei der abgekürzten Hauptverhandlung verzichtet werden, weil das abgekürzte Verfahren seine Überzeugungsbildung auch auf den Akteninhalt stütze und aufgrund des ausschließlichen Initiativrechts auf Angeklagtenseite keine streitigen Sachverhalte behandle.404 Eine Überschreitung der bekannt gegebenen Rechtsfolgen nach abgekürzter Verhandlung sei zur Verhinderung materiellrechtlich falscher Entscheidungen möglich, wenn der Angeklagte zustimme, ansonsten müsse ein Termin zur Hauptverhandlung bestimmt werden (§ 212d Abs. 2, 4 dStPO‑AE).405 Für die Einlassung des Angeklagten außerhalb der abgekürzten Verhandlung soll ein Verwendungsverbot bestehen, wonach bereits dessen Applikation als Ermittlungsansatz ausscheide (§ 212e dStPO‑AE). Eine Ersetzung des iudex a quo im streitigen Verfahren soll aus verfahrensökonomischen Gründen unterbleiben.406 Eine Berufung schließt der Entwurf aus, für die Revision sollen die allgemeinen Vorschriften gelten (§ 212f dStPO‑AE). Als besonderer Rechtsbehelf soll die Einspruchsmöglichkeit von Angeklagtem und Staatsanwaltschaft gegen den Rechtsfolgenausspruch eingeführt werden (§ 212g dStPO‑AE). (2) Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter Die abgekürzte Verhandlung wird von den Verfassern des AE‑ASR als zu aufwändig für strafrichterliche Verfahren beurteilt, weshalb der Entwurf zur Ergänzung das abkürzte Verfahren vor dem Strafrichter407 einführt, welches 401  AE‑ASR,

GA 2019, 1 (58). GA 2019, 1 (58 f.). 403  BVerfGE 14, 56 (73); 27, 312 (319); 48, 300 (317). 404  AE‑ASR, GA 2019, 1 (59). 405  AE‑ASR, GA 2019, 1 (72 f.). 406  AE‑ASR, GA 2019, 1 (61). 407  Vgl. §§ 24, 25 GVG. 402  AE‑ASR,

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

in Deutschland das seit langem kritisierte Strafbefehlsverfahren ersetzen soll.408 Wesentliches Ziel des AE‑ASR ist die Stärkung der Mitwirkungsrechte des Angeschuldigten.409 Antragsberechtigt soll neben der Staatsanwaltschaft deshalb auch der Angeschuldigte sein (§ 201a Abs. 1, 2 dStPO‑AE). Über einen mit der Anklage verbundenen Antrag der Staatsanwaltschaft werde der Angeschuldigte bei Mitteilung der Anklage in Kenntnis gesetzt und somit vor Ergehen einer Entscheidung des Gerichts (§ 201a Abs. 1 S. 1 dStPO‑AE). Der Überraschungseffekt soll so entfallen, mögliche Einwendungen des Angeschuldigten berücksichtigt und rechtliches Gehör möglichst umfassend gewährleistet werden.410 Der Angeschuldigte könne dem Antrag der Staatsanwaltschaft fristgebunden widersprechen (§ 201a Abs. 1 S. 2 dStPO), wodurch bei Fristwahrung eine Verurteilung ohne Hauptverhandlung grundsätzlich nicht mehr möglich sei und die Neutralität des Gerichts mangels ergangener Entscheidung für das weitere Verfahren gewahrt bleibe.411 Unterbleibe sein Widerspruch, prüfe der Strafrichter, ob eine Verurteilung ohne Hauptverhandlung möglich sei (§ 407 Abs. 1 dStPO-AE). Die für ein Verfahren mit Schuldspruch notwendige Überzeugung von der Schuld des Angeschuldigten bilde sich der Richter gemäß § 409 Abs. 1 dStPO‑AE anhand der Ermittlungsakten („Aktenüberzeugung“412) und etwaiger Stellungnahmen des Angeschuldigten, er könne aber auch eigene Beweise nach § 408 S. 1 dStPO‑AE erheben. Eine förmliche Vernehmung des Angeschuldigten sei aber nicht zugelassen, ein schriftliches Nachfragen des Gerichts zur Klärung einzelner Aspekte jedoch möglich.413 Zur Ressourcenschonung müsse nach Ansicht der Verfasser des AE‑ASR eine reine „Aktenüberzeugung“414 als mit § 261 dStPO („Inbegriff der Hauptverhandlung“) vereinbar gelten.415 Sei der Richter von der Schuld nicht überzeugt, müsse er in das Regelverfahren übergehen (§ 409 Abs. 4 dStPO‑AE), ansonsten setze das Gericht die Rechtsfolgen fest (§ 407 Abs. 2 dStPO‑AE), wodurch die ihm obliegende Prüfung der Ermittlungsergebnisse sichergestellt werde.416 Als Sanktion soll bei verteidigten Angeschuldigten auch eine zur Bewährung auszusetzende Freiheitsstrafe von zwei Jahren möglich sein (§ 407 Abs. 2 S. 2 dStPO‑AE). Nach § 409 Abs. 3 dStPO‑AE soll das Gericht den Angeschuldigten auch bei 408  AE‑ASR,

GA 2019, 1 (63, 84 f. m. w. N.). GA 2019, 1 (85). 410  AE‑ASR, GA 2019, 1 (87 f.). 411  AE‑ASR, GA 2019, 1 (88). 412  Fezer, ZStW 106 (1994), 1 (21). 413  AE‑ASR, GA 2019, 1 (94). 414  Fn. 412. 415  AE‑ASR, GA 2019, 1 (95). 416  AE‑ASR, GA 2019, 1 (86). 409  AE‑ASR,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen257

einer von der Anklage abweichenden rechtlichen Beurteilung ohne Hauptverhandlung verurteilen können. Dem verurteilenden Beschluss sollen sowohl Angeschuldigter als auch Staatsanwaltschaft widersprechen und so den Übergang in die Hauptverhandlung durchsetzen können (§ 410 dStPO‑AE). Bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen sei sogar die ausdrückliche Zustimmung des Angeschuldigten für die Rechtswirksamkeit des Beschlusses erforderlich (§ 410 Abs. 2 dStPO‑AE). Aus §§ 331, 358 Abs. 2 dStPO ergebe sich bereits, dass das Verbot der reformatio in peius nicht gelte.417 Im Urteil nach Widerspruch müsse festgehalten werden, welche Umstände zu einem Abgehen vom Strafmaß der nicht rechtskräftig gewordenen Verurteilung ohne Hauptverhandlung geführt haben, damit das Revisionsgericht die Begründung auf seine Trag­ fähigkeit überprüfen könne.418 Beantrage der Angeschuldigte ein Verfahren ohne Hauptverhandlung, soll das Verfahren prinzipiell den gleichen Regeln folgen (§  407 Abs.  1 dStPO‑AE). Die Staatsanwaltschaft habe aber grundsätzlich keine Möglichkeit, das Verfahren ohne Hauptverhandlung zu verhindern, ihr stehe nur das Widerspruchsrecht gegen die ergangene Entscheidung zu (§ 410 dStPO‑AE), weil sie ihrer rechtsstaatlichen Rolle entsprechend die Neutralität des Gerichts nach verurteilendem Beschluss nicht bezweifle.419 bb) Kritische Würdigung Ein wesentliches Ziel des Gesamtkonzepts soll die Einlösung zulässiger Verteidigungsanliegen des Beschuldigten sein.420 Gleichfalls möchte der Arbeitskreis bei beiden empfohlenen Verfahrensoptionen maßgeblich sicherstellen, dass der Beschuldigte freiwillig entscheiden könne, ob er die Möglichkeit zur Abkürzung des Verfahrens wahrnehme oder nicht.421 Eine Druckausübung auf den Beschuldigten müsste deshalb mit den Regelungsvorschlägen verhindert werden, damit diese als Konzept für den österreichischen Strafprozess überzeugen könnten.

417  AE‑ASR,

GA 2019, GA 2019, 419  AE‑ASR, GA 2019, 420  AE‑ASR, GA 2019, 421  AE‑ASR, GA 2019, 418  AE‑ASR,

1 1 1 1 1

(90). (90). (91). (7). (9).

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

(1) Verfahren mit abgekürzter Hauptverhandlung Unbestreitbar gewinnt das Verfahren nach Bekanntgabe der zu erwartenden Rechtsfolgen für den Angeklagten an Transparenz, weil er die nach Aktenlage drohende Strafe kennt und so seine Verteidigungstaktik danach ausrichten kann.422 Ebenso ist zu berücksichtigen, dass das Gericht auch ohne eine solche Bekanntgabe der Rechtsfolgen bei Aktensichtung stets eine Art Vorentscheidung trifft, die dem Angeklagten dann nur nicht bekannt wird. Der gewichtige Unterschied liegt jedoch darin, dass bei Bekanntgabe der zu erwartenden Rechtfolgen eine konkrete Entscheidung mit Außenwirkung getroffen wird. Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz erhärtet bereits die Ausrichtung vorläufiger Ergebnisse an der Aktenlage die Verdachtshypothese und ihre Mitteilung verschärft die Gefahr richterlicher Voreingenommenheit, die zu erheblichen Dissonanzreduktionen bei allen dem Verdacht entgegenstehenden Informationen führt;423 unabhängig davon, ob die Bekanntgabe eines vorläufigen Ergebnisses vom Gesetzgeber festgeschrieben oder vom Gericht autonom veranlasst wird. Jede Mitteilung vorläufiger Ergebnisse erschwert es dem Richter, den Verdacht nur anhand der Wahrnehmungen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu bewerten und diesen gegebenenfalls aufgrund neuer Beweise aufzugeben. Eine Regelung über die Bekanntgabe der Rechtsfolgen unterstützt deshalb die diskutierbare Ansicht, das Gericht kenne bereits vor Beginn der Hauptverhandlung aufgrund der Aktenlage das zu erwartende Ergebnis, obwohl es sich an einem nur scheinbar eindeutigen Akteninhalt orientiert, woraus dann eine erhöhte Neigung zum „konfirmatorischen Hypothesentesten“ resultiert.424 Die gesetzliche Einführung weiterer Ergebnisantizipationen ist daher zu vermeiden. Dass dieselben Richter nach Scheitern einer abgekürzten Verhandlung weiter Entscheidungsträger in der Hauptverhandlung bleiben, steht konträr zur Neutralitätsgarantie.425 Sind dem Angeklagten die zu erwartenden Rechtsfolgen konkret bekannt, steigt der jedem Strafverfahren nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB anhaftende Geständnisdruck signifikant an, denn der Angeklagte weiß jetzt zweifelsfrei, dass und zu welcher genauen Strafe er nach dem Aktenstand vom zur Entscheidung berufenen Gericht verurteilt werden würde.426 Hat somit die zu erwartende Strafe eine reale Gestalt angenommen, dann ist der Angeklagte einer besonderen Drucksituation ausge422  AE‑ASR,

GA 2019, 1 (54 f.). in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 7; Isfen, ZStW 125 (2013), 325 (328 f.). Zur Theorie der kognitiven Dissonanz oben, B. III. 3. 424  Vgl. dazu oben, D. I. 1. b) cc) (1), dort insbesondere (b) (aa) und (cc). 425  Vgl. hierzu oben, D. II. 5. und 9. 426  Hierzu oben, D. I. 2. a) bb). 423  Eschelbach,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen259

setzt, die sogar für einen Unschuldigen ein wesentlicher Anreiz zur Ablegung eines falschen Geständnisses sein kann, weil eine Freispruchverteidigung aussichtslos erscheint.427 Dass der Angeklagte die Rechtsfolgenbekanntgabe aktiv einfordert (§ 257b Abs. 2 dStPO‑AE), mindert das Problem nur unwesentlich. Der Angeklagte sollte sich erst gar nicht in solch erhebliche Drucksituationen manövrieren können. Wird der Angeklagte bei Bekanntgabe der Rechtsfolgen dann auch noch über die Möglichkeit der Antragstellung einer abgekürzten Hauptverhandlung belehrt (§ 212a Abs. 3 S. 2 dStPO‑AE), untermauert dies seine Befürchtung, ohnehin bereits verurteilt zu sein, und erzeugt zugleich den zusätzlichen Druck, dem Gericht den Entlastungseffekt eines abgekürzten Verfahrens zuteilwerden zu lassen und nicht zu querulieren. Entgegen der Ansicht des Arbeitskreises kann der angesprochene Problemkomplex wohl auch nicht durch ein sogenanntes „Informationsbedürfnis des Angeklagten“ rechtsstaatlich überlagert werden.428 Sollen die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten tatsächlich verbessert werden, dann wäre zuvorderst an die Gestaltung effektiver Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren zu denken, wodurch einer tendenziell auf die Verdachtshypothese ausgerichteten Stoffsammlung entgegengewirkt werden könnte.429 Muss nämlich, wie Lagodny feststellt, das gesamte Strafprozessrecht durch „die Brille des tatsächlich Unschuldigen betrachtet, analysiert und verstanden“ werden,430 dann erscheint die beschriebene Einbuße an Information geboten, um eine nicht mehr akzeptable Druckausübung zur Geständnisablegung auf den (unschuldigen) Angeklagten zu verhindern und die Neutralität des Gerichts zu sichern. Es stellt sich deshalb die Frage, ob nicht andere Möglichkeiten bestünden, Strafzumessung und Beweiswürdigung auch ohne Einbindung des zur Entscheidung berufenen Gerichts im Einzelfall kalkulierbarer zu machen. Im Schrifttum wird die gesetzlich festgelegte Bezifferung des Strafrabatts für ein substantiiertes Geständnis auch losgelöst von der Einführung einer anderen Verfahrensart als Beitrag zu einer transparenteren Strafbemessungspraxis diskutiert;431 allerdings erscheint eine Verringerung der Strafe um ein Drittel (§ 46 Abs. 4 dStPO‑AE) zu hoch, um noch von einer 427  Ebenso AE‑ASR, GA 2019, 1 (54). Wie bereits erwähnt [oben, D. I. 1. b) bb) (2), mit Nachweisen in Fn. 124], wird im deutschen Schrifttum zu Recht hervorgehoben, dass auch ein qualifiziertes Geständnis die Richtigkeit der zugestandenen Tatsachen nicht verbürge, weil selbst ein Unschuldiger Wege finde, das angeklagte Tatgeschehen umfänglich und glaubhaft zu schildern. 428  So aber die Argumentation bei AE‑ASR, GA 2019, 1 (52–55). 429  Hierzu oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc) sowie unten, G. I. 3. c). 430  Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (282); siehe bereits oben, D. II. 10., Fn. 547. 431  Hierzu näher unten, G. I. 2. c).

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

rechtsstaatlich akzeptablen Druckausübung auf den Angeklagten sprechen zu können.432 In der exklusiv vom Angeklagten beantragbaren433 abgekürzten Hauptverhandlung soll die Beweisaufnahme generell durch die Einlassung des Angeklagten und die Ergebnisse des vorbereitenden Verfahrens ersetzt werden und trotzdem eine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts garantieren.434 Das erscheint schwierig, da die Verdachtshypothese im Vorverfahren sämtliche Beweisergebnisse beeinflusst, weshalb das Aktenmaterial in der Hauptverhandlung vom Gericht durch eigene, neutrale Beweiserhebungen in einem förmlichen Beweisverfahren überprüft werden müsste.435 Dieser die Gerichte belastende Arbeitsaufwand erhöht die Quote rechtsstaatskonformer Urteile. Die weitere Zuständigkeit des judex a quo höhlt das Verwendungsverbot (§ 212e dStPO‑AE) der Einlassung aus und führt letztlich zur Überbewertung der Verfahrensökonomie gegenüber einer fairen Strafrechtspflege.436 Dem österreichischen Strafprozessrecht brächte das beschriebene abgekürzte Verfahren keine wirklichen Vorteile, da Österreich nicht mit einem Verständigungsgesetz zu kämpfen hat, dessen Zentralnorm die Krise des Rechtsstaats seit zehn Jahren befeuert und deshalb ersetzt werden soll. Zudem wird in der deutschen Literatur befürchtet, dass auch nach Einführung eines Verfahrens mit abgekürzter Hauptverhandlung informelle Urteilsabsprachen weiterhin stattfinden würden.437 (2) Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter Das Verfahren ohne Hauptverhandlung in Strafrichter-Sachen weist deut­ liche Übereinstimmungen mit dem Mandatsverfahren nach § 491 öStPO auf, weshalb die am Mandatsverfahren geübte Kritik vielfach übertragbar scheint.438 Allerdings unterscheiden sich die beiden Verfahren in wichtigen Schünemann, Wetterzeichen, S. 35. zum ausschließlichen Initiativrecht des Beschuldigten beim schweizerischen abgekürzten Verfahren oben, F. I. 2. c) bb). 434  AE‑ASR, GA 2019, 1 (71). 435  Dazu oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) und (2). Auch das BVerfG fordert eine Überprüfung des Geständnisses auf seine Richtigkeit durch zusätzliche Beweiserhebungen, BVerfGE 133, 168 (209 f.); hierzu oben F. I. 1. a) cc) (3). A. A. Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 13; dies., in: SK-StPO, Vor § 261 Rn. 27–29, § 261 Rn. 55; dies., in: Weßlau-GS, 391 (395–397). 436  Vgl. Frisch, in: Streng-FS, 685 (700); vgl. dazu oben, D. IV. Siehe auch AE‑ASR, GA 2019, 1 (61). 437  Hüls, KriPoZ 2019, 159 (164, 165 f.); vgl. auch AE‑ASR, GA 2019, 1 (9). 438  Zum Mandatsverfahren oben, G. I. 2. h). Zum Vergleich zwischen dem Alternativ-Entwurf für ein abgekürztes Strafverfahren ohne Hauptverhandlung und den 432  Vgl. 433  Vgl.



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen261

Punkten. Aufgegriffen seien hier die zur Stärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten bzw. des rechtlichen Gehörs des Angeschuldigten439 formulierten Regelungen: Im Gegensatz zum Mandatsverfahren soll dem Angeschuldigten ein Initiativrecht zur Antragstellung (§ 201a Abs. 2 dStPO‑AE) und ein Widerspruchsrecht gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 201a Abs. 1 S. 2 dStPO‑AE) zukommen, mit dem er die Durchführung eines Verfahrens ohne Hauptverhandlung verhindern kann. Antrags- und Widerspruchsrechte scheinen aber ein Einfallstor für informelle Abspracheverhandlungen zu sein, um die mögliche Verfahrensbeschleunigung zu erreichen. Das eigentlich berechtigte Widerspruchsrecht ermöglicht dem Angeschuldigten eine das rechtliche Gehör unterstützende (erneute) schriftliche Stellungnahme und hilft der Neutralitätsgarantie, weil das Gericht bei erfolgtem Widerspruch noch keine Entscheidung mit Außenwirkung gefällt haben kann. Dennoch steht der Antrag der Staatsanwaltschaft im Raum, weshalb der Angeschuldigte befürchten könnte, dass ihm seine Störung der Verfahrensbeschleunigung vom Gericht im weiteren Verfahren angelastet wird. Ferner würde die Antragstellung des Angeschuldigten einen „point of no return“ markieren, weil sie als Schuldanerkenntnis gewertet werden könnte.440 Ebenso wie im Mandatsverfahren wäre für den Beschluss mit seiner urteilsgleichen Wirkung konsequenterweise derselbe Grad an richterlicher Überzeugung erforderlich wie bei einer Verur­ teilung (§ 409 Abs. 1 Nr. 1 dStPO‑AE),441 jedoch erscheint eine qualitativ gleichwertige Überzeugungsbildung aufgrund einer reinen „Akten­ über­ zeugung“442 nach dem hier vertretenen Standpunkt nicht realisierbar.443 Eine „Verurteilung ‚zweiter Klasse‘ “444 kann sich ein Rechtsstaat eigentlich nicht leisten, zumal der Entwurf unter bestimmten Voraussetzungen die Festsetzung einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorsieht (§ 407 Abs. 2 S. 2 dStPO‑AE). Bei Verfahren mit Schuldspruch bleibt die Schuldfrage gerade nicht offen, weshalb Abstriche bei der Annäherung an die materielle Wahrheit unabhängig von der materiell-rechtlichen Sanktion (vgl. § 407 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 öStPO‑AE i. V. m. §§ 59 ff. dStGB‑AE)445 nicht

Diversionsbestimmungen nach §§ 198 ff. öStPO: Schmoller, GA 2019, 270 (276– 281). 439  Mit Anklageerhebung wird der Beschuldigte nach § 157 Nr. 1 dStPO zum Angeschuldigten; in Österreich wird der Beschuldigte nach Einbringung der Anklage gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 3 öStPO zum Angeklagten. 440  Vgl. zum „point of no return“ oben, D. II. 5. 441  AE‑ASR, GA 2019, 1 (95 f.). 442  Fezer, ZStW 106 (1994), 1 (21). 443  Vgl. hierzu oben, F. I. 2. h) bb). 444  Tipold, in: WK-StPO (2015), § 491 Rn. 110. 445  AE‑ASR, GA 2019, 1 (8, 10, 27–33).

262

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

entbehrlich scheinen.446 Auch eine bei besonders belastenden Rechtsfolgen notwendige ausdrückliche Zustimmung des Angeschuldigten (§ 410 Abs. 2 S. 1 dStPO‑AE) sollte letztlich nicht als Indiz für die Richtigkeit des Beschlusses herangezogen werden, weil diese ebenso aus Furcht vor einer Strafschärfung erteilt werden kann. Abschließend bliebe zu vermuten, dass das vorgeschlagene Verfahren ohne Hauptverhandlung in der österreichischen Praxis und Lehre auf ähnlich harte Kritik stoßen könnte wie das Mandatsverfahren. k) Zwischenergebnis Kein Konzept konnte uneingeschränkt überzeugen. Die dargestellten Sonderverfahren bieten keine Alternativlösung zur informellen Urteilsabsprachenpraxis. Im Vergleich zum Normalverfahren weisen die untersuchten Sonderverfahren erhebliche Schwächen auf. Ihr selbstauferlegtes Ziel, die materielle Wahrheit auch ohne schulmäßige Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung finden zu können, verfehlen die Vorschläge. Kein Sonderverfahren stellt die Freiwilligkeit der Kooperation des Angeklagten sicher. Durch die Alternativen von abgekürztem Verfahren und streitigem Verfahren entwickelt sich ein deutlicher Druck auf den Angeklagten, was die Gefahr falscher Geständnisse und richterlicher Fehlentscheidungen aufgrund zementierter Verdachtshypothese verschärft. Speziell das Problem, dass in der österreichischen Strafprozesswirklichkeit außerhalb der für ein vereinfachtes Verfahren aufgestellten Regeln um das Strafmaß gefeilscht wird, verhindert keines der untersuchten Modelle. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Strafprozess die materielle Wahrheit nur bei Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung finden können wird, solange nicht ersichtlich ist, dass ein der schulmäßig durchgeführten Hauptverhandlung in „ihrem Wahrheitsgarantiepotential gleichkommendes Surrogat“447 zur Verfügung steht. Dieses Ergebnis gilt auch für das Mandatsverfahren nach § 491 öStPO. Der Gesetzgeber des Mandatsverfahrens geht fälschlicherweise davon aus, Fälle geringer Komplexität, vornehmlich im Bereich der Massendelikte, kämen für ein rein schriftliches Verfahren wegen ihrer Standardisierung infrage. Dem Beschuldigten unterstellt er eine ausreichende Verhandlungs- und Beurteilungskompetenz, da Freiheitsstrafen nur verhängt werden dürfen, wenn der Beschuldigte anwaltlich vertreten ist. Die Verantwortung für die Legitimität der Entscheidung wird zu Unrecht auf die Verteidigung übertragen, ohne dass eine – insbesondere bei Entscheidungen nach Aktenlage – zwingend 446  Zur

Diversion als Verfahren ohne Schuldspruch oben, E. II. 3. b) aa). 58. DJT (1990), Band I, S. 146 [Hervorhebung im Original].

447  Schünemann,



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen263

erforderliche, qualitative Verbesserung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren als Wahrheitsfindungsgarantie erfolgt ist.448 Sollen drastische Rechtsfolgen wie die Freiheitsstrafe verhängt werden können, muss die Verantwortung für die Legitimität der Entscheidung ausschließlich bei der Justiz liegen. Der Gesetzgeber des Mandatsverfahrens hat demgegenüber eine rechtspolitische Entscheidung getroffen, die sich allein an vorgeblichen praktischen Bedürfnissen orientiert.

3. Einführung eines rein adversatorischen Prozesstyps Als gravierendste Möglichkeit bietet sich dem österreichischen Gesetzgeber die Einführung eines rein adversatorischen (auch akkusatorisch genannten) Prozesstyps, der eine komplette Umstrukturierung der Strafprozessordnung verlangt.449 Inquisitorisches und adversatorisches Modell unterscheiden sich bei ihrer Ausgestaltung des Strafverfahrens insbesondere in der Frage, wer das Verfahren dominiert und hinsichtlich der Unmittelbarkeit der Wahrheitserforschung.450 Die Inaugurierung eines rein adversatorischen Prozesstyps würde das System des Parteiprozesses in den österreichischen Strafprozess übertragen. Das Prinzip des Parteiprozesses versteht die Wahrheitsfindung vornehmlich als dialektischen Prozess gegensätzlicher Positionen.451 Der Staat überwacht lediglich die Auseinandersetzung zwischen Anklage und Angeklagtem bzw. Verteidigung. Das inquisitorische Prinzip begreift demgegenüber die Wahrheitserforschung als autonome Aufgabe der staatlichen Behörden unter Einsatz von Machtmitteln.452 Dem gegenwärtigen österreichischen Strafprozess liegt eine Mischform dieser beiden Grundstrukturen zugrunde.453 Vorwiegend ist er dem Inquisitionsprinzip mit einer amtswegigen Wahrheitsforschung verhaftet.454 Allerdings herrscht der in Art. 90 Abs. 2 B‑VG verfassungsrechtlich verankerte Anklageprozess. Anders als im reinen Inquisitionsprozess muss die Funktion des Richters von der des Anklägers getrennt sein.455 Die Verankerung eines rein adversatorischen Pro448  Zu den derzeitigen Verteidigungsrechten im Ermittlungsverfahren oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc). 449  Vgl. Miklau, in: Moos-FS, 283 (283 f.). 450  Hörnle, ZStW 117 (2005), 801 (804); dazu auch Ratz, Österreichisches ­AnwBl 2015, 276 (276–278). 451  Miklau, in: Moos-FS, 283 (283 f.). 452  Miklau, in: Moos-FS, 283; Harding, in: Eser/Rabenstein, Strafjustiz im Spannungsfeld, 10 (11). 453  Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (52). 454  Siehe dazu oben, D. I. 1. 455  Moos, Reinhard, in: ÖJK, Strafverfolgung, 19 (20 f.); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (53).

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F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

zesstyps wäre nur bei Anzeichen einer grundlegend modifizierten Sichtweise auf den österreichischen Strafprozess in Erwägung zu ziehen.456 Urteilsabsprachen werden in der österreichischen Strafverfahrenspraxis praktiziert.457 In der Literatur werden sie nicht selten kritisiert458 und vom OGH459 prinzipiell abgelehnt. Bedeutende Stimmen im Schrifttum befürworten die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen.460 In der österreichischen Debatte um die Urteilsabsprachen tritt derzeit aber niemand für die Einführung der Disposi­ tionsmaxime im Strafverfahren ein.461 Die Einführung eines rein adversatorischen Prozesstyps wird in Diskussionsbeiträgen entschieden abgelehnt und scheint deshalb in naher Zukunft nicht ernstlich in Betracht gezogen zu werden.462

4. Ergebnis Die untersuchten Modelle präsentieren kein für das österreichische Strafprozessrecht patentes Konzept zur Lösung der zentralen Probleme der Urteilsabsprachenpraxis. Festzuhalten ist insbesondere, dass wohl kein Lösungsmodell verhindern könnte, dass informelle Urteilsabsprachen weiterhin praktiziert werden. Dieses Resultat müsste ob der Appellentscheidung des BVerfG auch der deutsche Gesetzgeber bei der Eruierung von Alternativen zur bestehenden Gesetzeslage berücksichtigen.463 Es hat sich gezeigt, dass 456  Vgl. Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 366; Müller, Martin, Probleme, S. 399. 457  Siehe oben, B. I. und III. 458  Dazu oben, C. II. 2. a). 459  Oben, C. I. 460  Siehe oben, C. II. 2. b). 461  Siehe dazu Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43–64; Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65–76; Plöckinger, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 77–81; Schmieder, 13.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 101–105; Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (108 f.). 462  Exemplarisch Schick, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 15 (44); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (75 f.); vgl. dazu auch Ratz, ÖJZ 2010, 387 (388). 463  Gegenwärtig scheint allerdings nicht ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber legislatorische Alternativen zum Verständigungsgesetz in Betracht ziehen könnte; hierauf verweisen auch Busch‑Gervasoni, in: Schiller-FS, 109 (119); Rabe, Verständigungsurteil, S. 508; Ruhs, Rechtsbehelfe, S. 386. Insofern werden in der aktuellen deutschen Verständigungsliteratur Vorschläge präsentiert, die den Schutzmechanismen des Verständigungsgesetzes zur praktischen Wirksamkeit verhelfen sollen. Beispielhaft seien genannt: Zur Verfahrenstransparenz als Schutzmechanismus für ein faires Verständigungsverfahren: Henckel, Transparenz, S.  119 ff. Zum Anpassungsbedarf im Revisions- und Wiederaufnahmerecht: Ruhs, Rechtsbehelfe, S. 389 ff.; vgl. hierzu



I. Legalisierung von Urteilsabsprachen265

eine Integration von Urteilsabsprachen in das Normalverfahren nicht möglich ist. Die systemimmanente Integrationslösung des deutschen Verständigungsgesetzes stellt aufgrund ihrer erheblichen Mängel kein Vorbild für den österreichischen Gesetzgeber dar. Dieses Gesetz ist vielmehr Beispiel eines gesetzgeberischen Fehlgriffs. Die Einführung eines Konsensprinzips als neuen Prozessrechtsgrundsatz, wie es die BRAK in ihrem Gesetzesentwurf vorschlägt, um Urteilsabsprachen durch eine Umgestaltung der konventionellen Hauptverhandlung als alternatives Verfahrensmodell ins Strafprozessrecht einzufügen, ist nicht zielführend. Ein Konsensprinzip kann die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage nicht substituieren. Auch die untersuchten Sonderverfahren, die echte Alternativen zur Durchführung einer konventionellen Hauptverhandlung schaffen wollen, sind keine zureichenden Gegenvorschläge zu den derzeit praktizierten informellen Urteilsabsprachen. Im Vergleich zum Normalverfahren zeigen sie erhebliche Defizite. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Wiedereinführung des Mandatsverfahrens in § 491 öStPO trotz vehement vorgetragener, rechtsstaatlich begründeter Kritik nicht verhindert werden konnte. Die Vereinbarkeit dieser Form rascher Verfahrenserledigung mit den Verfahrensgrundsätzen, allen voran das den österreichischen Strafprozess dominierende Prinzip der Erforschung der materiellen Wahrheit mit dem bestmöglichen Beweis, wird vom Gesetzgeber begründungslos behauptet.464 Ebenso attestieren Befürworter von Urteilsabsprachen diesen ihre Kompatibilität mit der Aufklärungspflicht, ohne sie im Zusammenhang mit den anderen Verfahrensgrundsätzen zu erklären. Dieses Kernproblem ist somit struktureller Natur und verbirgt sich hinter dem unzutreffenden Gedanken, im Mandatsverfahren gestatte der Akteninhalt eine für Geldstrafen oder bedingte Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr halbwegs zuverlässige Ergebnisprognose. Das ohne Strengbeweisverfahren zur urteilsgleichen Erkenntnis führende Mandatsverfahren produziert letztlich kein rechtsstaatlicheres Verfahren als die Urteilsabsprachenpraxis. Solche Scheinlösungen müsste die österreichische Rechtspolitik konsequent verhindern, will sie erreichen, dass die Rechtsprechung in rechtlich und auch tatsächlich abgesicherter Weise den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit findet und so das allgemeine Vertrauen in das rechtsstaatliche Funktionieren der Strafrechtspflege stabilisiert wird. Die Einführung eines rein adversatoriauch Leibold, Deal, S. 220–223, die u. a. empfiehlt, eine neutrale, von den Verfahrensbeteiligten unabhängige Kontrollinstanz nach dem Vorbild der in der österreichischen Strafprozessordnung in § 23 öStPO geregelten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes einzuführen, dazu unten, G. I. 2. e). Siehe aber auch Göttgen, Prozessökonomische Alternativen, S. 146 ff., der für eine konsequente und umfassende Nutzung der §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 dStPO als prozessökonomische Alternativen zur Verständigung im Strafverfahren plädiert. 464  ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 18 (abrufbar unter: siehe Fn. 320).

266

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

schen Verfahrens würde eine Neuordnung der österreichischen Strafprozessstruktur bedeuten. Dieses Modell wird gegenwärtig nicht ernstlich in Betracht gezogen.

II. Verbot von Urteilsabsprachen Nachdem bisher kein Konzept zur Bewältigung der Urteilsabsprachenproblematik überzeugen konnte, sind die Erfolgsaussichten eines in Gesetzesform gegossenen schlichten Verbots von Urteilsabsprachen zu überprüfen. Häufig findet sich die Bemerkung, Urteilsabsprachen seien aus der österreichischen Strafrechtswirklichkeit nicht mehr weg zu denken und mit der tatsächlichen Befolgung ihres gesetzlichen Verbots in der Praxis aufgrund der gewaltigen justiziellen Überlastung nicht ernsthaft zu rechnen.465 Die Nichtbeachtung des vom OGH aufgestellten Absprachenverbots durch die tatgerichtliche Praxis kann allerdings allein kein Argument dafür sein, dem Gesetzgeber den Erlass eines gesetzlichen Verbots der Urteilsabsprachen zu verwehren. Tatsächlich gibt es Gründe, die grundsätzlich für eine höhere Beachtung einer gesetzlichen Regelung gegenüber Richterrecht sprechen: Richterrecht entsteht in keinem förmlichen Gesetzgebungsverfahren und erzielt aus diesem Grund keine gesetzesgleiche Bindungswirkung.466 Prinzi­ pieller Vorteil einer gesetzlichen Reglung ist deren Allgemeinverbindlichkeit und Allgemeingültigkeit. Zur Wiederherstellung des Gesetzesgehorsams der unterinstanzlichen Tatgerichte ist eine gesetzliche Regelung aber nur imstande, wenn sie als legislative Absicherung der OGH‑Rechtsprechung die Probleme des zu regelnden Sachkomplexes löst. Ein Urteilsabsprachen verbietendes Gesetz müsste dazu geeignet sein, sein Ziel wirksam und nachhaltig durchzusetzen. Fakt ist jedoch, dass ein schlichtes Verbot die wahren Missstände, welche die Praxis in informelle Urteilsabsprachen entweichen lassen,467 nicht beseitigt. Bleiben sowohl die Ursachen als auch die Möglichkeiten der Urteilsabsprachenpraxis bestehen, ist die Gefahr der Missachtung eines gesetzlichen Verbots real.468 Nichts könnte der österreichischen Strafprozesskultur aktuell mehr schaden als eine erneute Nichtbeachtung verbindlicher Verfahrensregeln. Denn Urteilsabsprachen, die mit dem geltenden Gesetz nicht in Einklang stehen und vom OGH verboten wurden, sind 465  Siehe 466  Siehe

(544).

467  Siehe

nur Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 (124). dazu Bydlinski, JZ 1985, 149–155; vgl. auch Tomandl, ÖJZ 2011, 539

dazu oben, B. II. und III. auch Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (41); Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 (124); ders., RZ 2004, 56 (61); Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (16). Gegen die Wirksamkeit eines Verbotsgesetzes in Deutschland: Weigend, NStZ 1999, 57 (63). 468  So



III. Ergebnis des Kapitels267

nicht weniger illegal als sie es unter Geltung eines Verbotsgesetzes wären. Ein gesetzliches Verbot stellt deshalb – zumindest für sich allein betrachtet – keine überzeugende Lösung der Urteilsabsprachenproblematik dar.469 Will man informelle Urteilsabsprachen verhindern, muss an ihren Ursachen und den Faktoren, welche das Praktizieren von Absprachen ermöglichen, im Rahmen eines Gesamtkonzepts angesetzt werden.

III. Ergebnis des Kapitels Die aktuellen Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass sich der österreichische Gesetzgeber nicht gutgläubig auf die Einhaltung gesetzlicher Grenzen verlassen sollte.470 „Das Bedürfnis nach Informalität, ist es einmal als Rechtsprinzip anerkannt, bahnt sich seinen Weg auch unter noch so niedrigen ‚Mindest-Anforderungen‘ hindurch“.471 Eine „Formalisierung des Informel­ len“472 behebt deshalb die Zulässigkeitsprobleme der Urteilsabsprachen nicht, sondern verkennt das Problem: Damit Urteilsabsprachen der ökonomisierten Praxis den erhofften Gewinn bringen, sind Regelungsfreiheit, Intransparenz, Heimlichkeit und Ausschaltung der Rechtsmittelmöglichkeiten ihre unentbehrlichen Charakteristika.473 Bei gesetzgeberischen Überlegungen zur Legalisierung der Urteilsabsprachenpraxis ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Quote falscher Geständnisse zumindest in einem psychologischen Experiment auf über 40 Prozent stieg, nachdem ein dem Strafrabatt ähnelndes Angebot gemacht wurde.474 In einem Rechtsstaat sind etwaige Gesetzesvorhaben bereits aus diesem Grund eigentlich aufzugeben.475 Auch die behandelten Sonderverfahren können keine Verfahrensverkürzung sicherstellen, die dem Rechtsstaat in ausreichendem Maße dient. Trotz dieses Befundes sollte der österreichische Gesetzgeber die existente Urteilsabsprachenpraxis nicht weiterhin ignorieren, denn er riskiert die fortschreitende Beeinträchtigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Straf469  In der deutschen Literatur sind für die Einführung eines Verbots von Urteilsabsprachen: Schünemann, in: Rieß-FS, 525 (532); Gössel, in: Blomeyer-GS, 759 (773); Haller, Klaus, DRiZ 2006, 277; Trüg/Kerner, in: Böttcher-FS, 191 (212); Roxin, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung in Strafsachen, 91 (93); Busch‑Gervasoni, in: Schiller-FS, 109 (115); Müller, Mark, Rechtsfolgen, S. 37. 470  Vgl. AE‑ASR, GA 2019, 1 (52). 471  Fischer, NStZ 2007, 433 (434) [Hervorhebung im Original]. 472  Kempf, StV 2009, 269 (270) unter Verweis auf Strafrechtsausschuss des DAV, StraFo 2006, 89, der die Frage aufwirft, ob der Gesetzgeber „Informelles formalisieren“ solle. 473  So zum deutschen Recht Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (641). 474  Dazu oben, D. I. 3. 475  Eschelbach, in: Rissing‑van Saan‑FS, 115 (125).

268

F. Gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachenpraxis

rechtspflege. Die Praxis wird sich Urteilsabsprachen zwar nicht einfach untersagen lassen, weshalb ein schlichtes Verbot ebenfalls keine Lösung der Urteilsabsprachenproblematik verspricht. Schwindet aber das Berufsethos dahin, weil es Ziel einer ökonomisierten Praxis ist, rechtsstaatlich notwendige Arbeit auszusparen, dann muss diesem Status entgegengewirkt werden. Das Aufzeigen möglicher (legislatorischer) Gegenmaßnahmen zur informellen Urteilsabsprachenpraxis ist deshalb das Thema des nächsten Kapitels.

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis Urteilsabsprachen scheinen in den letzten Jahren fester Bestandteil der österreichischen Strafprozessrechtswirklichkeit geworden zu sein. Dass Strafen trotz eines ausdrücklichen Verbots durch den OGH informell ausgehandelt werden, leugnet aktuell vermutlich niemand mehr. Diejenigen Stimmen in der österreichischen Literatur, die eine Absprachenregelung fordern, setzen in ihren Beiträgen allerdings mehr oder weniger explizit voraus, dass sich diese Entwicklung nicht mehr zurückdrängen lasse.1 Teilweise wird eine positivrechtliche Regelung als notwendiges Übel betrachtet, das es hinzunehmen gelte.2 Die vorliegende Untersuchung hat versucht aufzuzeigen, dass wohl keines der begutachteten Gesetzesmodelle die Probleme der Urteilsabsprachenpraxis rechtsstaatlich zufriedenstellend lösen könnte.3 Insbesondere ist nicht ersichtlich, wie Umgehungsversuche einer gesetzlichen Regelung in der Praxis verhindert werden könnten. Das vom BVerfG im Jahre 2012 in Auftrag gegebene Gutachten4 belegt eindrucksvoll, dass sich deutsche Richter und Staatsanwälte nicht an die Regeln des im August 2009 eingeführten Verständigungsgesetzes halten und weiterhin Urteile informell absprechen.5 Bemerkenswert an diesem Befund ist vor allem die Offenheit, mit der die befragten Richter und Staatsanwälte, die mit hoheitlichen Aufgaben betraut sind, ihr Fehlverhalten zugeben. 58 Prozent der interviewten deutschen Justizjuristen gaben in der Erhebung an, bewusst gegen die Vorgaben des § 257c dStPO und damit gegen das deutsche Recht zu verstoßen. Jeder dritte Richter am Amtsgericht gibt an, Absprachen zu treffen, sich dabei aber nie an das Gesetz zu halten. Drei Viertel der Amtsrichter beachten überwiegend bei Absprachen nicht das Gesetz.6 Bei diesen Gesetzesverstößen handelt es sich nicht um für einen Rechtsstaat unerhebliche Formalien, wie beispielsweise, ob man sich erhebt, wenn das Gericht den Verhandlungssaal betritt. Es geht um die Missachtung von Vorgaben, die den rechtsstaatlichen Ablauf eines 1  Etwa Medigovic, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (132); dies., Vorarlberger Tage (2007), 95 (100); Bogensberger, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 37 (38); Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012), 181 (197). 2  In diese Richtung etwa Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123  f.; ders., RZ 2004, 56 (60 f.). 3  Oben, F. 4  Dazu oben, F. I. a) cc) (1). 5  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 184. 6  Altenhain/Dietmeier/May, Praxis, S. 181.

270

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Strafverfahrens sicherstellen sollen. Verstoßen wird gegen fast alle Bestimmungen des Verständigungsgesetzes, auch gegen die Pflicht, die Absprache, wenn sie schon nicht in der Hauptverhandlung stattfindet, wenigstens ins Protokoll zu diktieren. Jeder dritte Richter gibt an, Absprachen schon einmal in der Hauptverhandlung nicht offengelegt zu haben.7 Drei von vier Verteidigern haben das bereits erlebt. Fast die Hälfte der Richter weist in den Urteilsgründen nicht auf die Absprache hin.8 Es scheint deshalb, dass namentlich diese freimütigen Angaben deutscher Richter deren verändertes Berufsverständnis signalisieren.9 Der Rechtsstaat stützt sich darauf, dass Juristen am Gesetz ausgebildet werden und sich in der Praxis an bestehende Gesetze halten. Es ist der Richter, der die Justizgewährungspflicht im einzelnen Verfahren durch die von ihm einzuhaltenden prozessualen Förmlichkeiten realisiert, so dass es von seiner Bindung an Recht und Gesetz abhängt, ob Justizgewähr gegenüber dem Justizbetroffenen erfolgt oder nicht.10 Die deutschen Justizjuristen scheinen sich nach dem Gutachtenbefund bei der Erledigung ihrer hoheitlichen Aufgaben indes für autorisiert zu halten, taktisch nach ihren Eigeninteressen zu handeln.11 Die für den deutschen Rechtsstaat fatalen Ergebnisse der vom BVerfG eingeholten Studie sind deshalb auch für die österreichische Rechtspolitik im Rahmen gesetzgeberischer Überlegungen zur Einführung eines Abspracheverfahrens von immenser Bedeutung. Die Kenntnis solcher Untersuchungsergebnisse aus Deutschland zwingt die österreichische Rechtspolitik, sich nicht auf die Befolgung in Gesetzesform gegossener Regeln zu verlassen.12 Es ist zu vermuten, dass auch die österreichischen Justizjuristen den bequemeren – informellen – Weg dem unbequemeren – formellen – Weg vorziehen.13 Die deutsche Erhebung dokumentiert, dass sich die Urteilsabsprachenpraxis entwickelt hat, um „Formen und Ergebnisse des ‚Verhandelns‘ aus den Fesseln des formellen Rechts so weit wie möglich zu befreien.“14 Jede gesetzliche Regelung erzeugt zwangsläufig neue Formalitäten, selbst wenn dies nur Dokumentations- und Protokollierungspflichten sind, die der bisherigen informellen Praxis mehr Arbeit bereiten, weshalb sie neue Wege suchen wird, um auch dieses Hindernis zu umgehen, denn ihr selbst attestiertes Bedürfnis 7  Altenhain/Dietmeier/May,

Praxis, S. 183. Praxis, S. 183. 9  Vgl. Weßlau, Konsensprinzip, S. 12. Vgl. dazu auch F. I. 1. a) cc) (3), Fn. 115. 10  Peters, Karl, in: Dünnebier‑FS, 53 (54 f.). 11  Auf diesen Gedanken verwies Weßlau, Konsensprinzip, S. 12, bereits im Jahre 2002. Vgl. auch Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 17. 12  Zu einem notwendigen Misstrauen in die Justiz zur Erhaltung des Rechtsstaats, Zitta, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 45 (47 f.). 13  Vgl. Danek, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 95 (96). 14  Fischer, NStZ 2007, 433 (434) [Hervorhebungen im Original]. 8  Altenhain/Dietmeier/May,



I. Vorschläge271

nach Aufwandsverringerung besteht unvermindert weiter.15 Demgemäß ist auch ein schlichtes Verbot zur Lösung der Urteilsabsprachenproblematik untauglich.16 Vielmehr gilt es an den mutmaßlichen Ursachen informellen Vorgehens anzusetzen.17 Das vorliegende Kapitel widmet sich deshalb den Vorschlägen, die unter dieser Prämisse Maßnahmen zur Zurückdrängung der Urteilsabsprachenpraxis präsentieren. Aus dieser Perspektive könnten auch entsprechende Diskussionen in Deutschland geführt werden, die nach der Appellentscheidung des BVerfG an Aktualität gewonnen haben könnten.18 Spätestens seitdem das Gutachten für das BVerfG den rechtsstaatlichen Abgrund infolge der Urteilsabsprachenpraxis hat sichtbar werden lassen und das Höchstgericht seine Erwartungen an den Gesetzgeber deutlich gemacht hat, ist die deutsche Rechtspolitik ­gefordert.19 Wenn empirischen Erkenntnissen zufolge eine Vielzahl deutscher Richter Urteile informell abspricht und diese Praxis ungeachtet des Ausspruchs eines prinzipiellen Verbots nicht beendet ist, scheinen auch im ­deutschen Strafverfahren (legislatorische) Gegenmaßnahmen zur informellen Absprachenpraxis angezeigt, um das verlorengegangene Vertrauen der (Fach-)Öffentlichkeit in die rechtstaatskonforme Durchführung von Strafverfahren zu regenerieren.

I. Vorschläge In der österreichischen und deutschen strafrechtlichen Literatur finden sich Beiträge, die explizit Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis unterbreiten oder aus deren Thematik Gegenmaßnahmen zumindest ableitbar sind. Diese Maßnahmen lassen sich jeweils einem der drei folgenden Ansatzpunkte zuordnen: Zum einen kann versucht werden, die Strafjustiz auf anderem Wege als durch Urteilsabsprachen zu entlasten (dazu unten, 1.). Zum anderen kommt in Betracht, die Grundlagen, welche Urteilsabsprachen ermöglichen, zu korrigieren (2.). Den dritten Ansatzpunkt bildet die Frage, wie die Berufsjuristen persönlich vom Praktizieren der Urteilsabsprachen abgehalten werden könn15  Hamm, in: Nelles/Vormbaum, Forschung, 57 (71 f., 78 f.). Dazu auch Weigend, StV 2013, 424 (427). In Deutschland vollführt die Praxis hierzu auch Handlungen, die den Anschein erwecken, es habe keine Verständigung stattgefunden; diesbezüglich bereits oben, F. I. 1. a) cc) (3), Fn. 114. 16  Dazu oben, F. II. 17  Weßlau, Konsensprinzip, S. 12. Zu den mutmaßlichen Ursachen oben, B. II. und III. 18  Vgl. Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (638). Dazu oben, F. I. 1. a) cc) (3). 19  Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (652 f.).

272

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

ten (3.). Hier sind auch mögliche Disziplinierungsmaßnahmen zu erörtern, wozu die Strafdrohung bei Teilnahme an einer Urteilsabsprache ebenso zählt wie die zivilrechtliche Anwaltshaftung für die Folgen einer „suboptimalen“ Urteilsabsprache. Am Ende dieses Kapitels werden keine ausgearbeiteten Gesetzgebungsvorschläge stehen. Aufgrund der Komplexität der Materie setzt sich die vorliegende Arbeit zum Ziel, anhand der erwähnten drei Ansatzpunkte den groben Rahmen aufzuzeigen, innerhalb dessen sich (legislatorische) Gegenmaßnahmen bewegen könnten.

1. Entlastung der Strafjustiz Hauptargument für die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen ist die Gewährleistung einer effizienten Strafrechtspflege.20 In Zeiten steigender Arbeitsüberlastung der Justiz könne die Praxis auf das Rechtsinstitut der Urteils­ absprachen nicht mehr verzichten ohne zum Erliegen zu kommen.21 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Urteilsabsprachen verzichtbar werden könnten, sobald die Strafjustiz auf anderem Wege entlastet wird. Die in Betracht kommenden Optionen werden im Folgenden erörtert. a) Beschränkung des materiellen Strafrechts Unter dem Motto „Einsparungen als Ausgleich“ soll nach Fuchs das ausufernde materielle Strafrecht wieder auf ein akzeptables Maß beschränkt werden.22 Dazu sollen Deliktstypen, die letztlich zu keiner Verurteilung führten, aber deren komplizierte Prüfung viel Zeit in Anspruch nehme, beseitigt werden. Erscheinungsformen mit unverhältnismäßigem Aufwand, wie die fahrlässige Körperverletzung ohne besondere Folgen, seien zu entkriminalisieren. Gleiches gelte für das Suchtmittelstrafrecht, das der Justiz viel Mühe bereite und teilweise auch von Verwaltungsbehörden bearbeitet werden könne. Insgesamt seien viele Tatbestände allzu komplex geraten und unklar formuliert, die Grenzen zwischen strafbaren und straflosen Verhaltensweisen zu fließend.23 Der Vorschlag versucht sowohl einer qualitativen als auch quantitativen Überforderung der Justiz entgegenzuwirken und läuft auf eine Reduzierung 20  Siehe

die Nachweise oben, C. II. 2. b), Fn. 47. mutmaßlichen Ursache der Überlastung und Überforderung der Justiz, oben B. II. 1. 22  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34); dort auch zum folgenden Text. Zum Anstieg der Regelungsdichte des materiellen Strafrechts bereits oben, B. II. 1. a) bb). 23  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34). 21  Zur



I. Vorschläge273

des materiellen Strafrechts hinaus. Der derzeitige kriminalpolitische Trend geht allerdings in die entgegengesetzte Richtung.24 So sieht man das Vertrauen der Allgemeinheit in die österreichische Strafjustiz zusätzlich gefährdet, wenn die Strafverfahren, in denen Urteilsabsprachen mutmaßlich ihren Anfang genommen haben, von der Verfolgung ausgenommen würden, denn in der Öffentlichkeit würde dadurch das Bild verstärkt, dass eine Bestrafung lediglich im „klassischen Kriminalitätsbereich“ erfolge, während eine Kon­ trolle der neuen Problemfelder, insbesondere der Wirtschaftskriminalität, weitestgehend unterbliebe.25 Im Zuge der Bekämpfung der modernen Kriminalitätsformen wie der Wirtschafts-, Umwelt- und Betäubungsmittelkriminalität und dem Problemfeld der Datenverarbeitung sei es unverzichtbar, dass die österreichische Justiz Strafverfolgung ebenso in sachlich und rechtlich komplexen Verfahren garantiere, in denen ein kurzer Prozess kaum möglich sei,26 auch, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Gleichheit des österreichischen Strafrechtssystems sicherzustellen.27 Diese Argumente sind nachvollziehbar; es ist allerdings ein Irrglaube der Politik, dass sich gesellschaftliche Probleme durch die Schaffung neuer Straftatbestände lösen lassen.28 Der Einsatz des Strafrechts zu präventiven, politischen oder gesellschaftlichen Zwecken überfordert das Kriminaljustizsystem, weshalb Fuchs zu Recht die Rückbesinnung des Gesetzgebers auf die Wurzeln des Strafrechts reklamiert. Das stetige legislative Trachten nach der Schließung von Strafbarkeitslücken im materiellen Recht bewirkt nichts, wenn in der Praxis aufgrund der festgestellten Überlastungs- bzw. Überforderungsproblematik der Justiz eine Verfolgung unterbleibt oder unzureichend, etwa mittels Urteilsabsprachen, stattfindet.29 Das Vertrauen der Allgemeinheit in die Strafrechtspflege wird dadurch nicht gestärkt. Gleichzeitig trägt der Gesetzgeber durch die Ausweitung des materiellen Strafrechts selbst zum Praktizieren von informellen Urteilsabsprachen bei.30 Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sollte das materielle Strafrecht deshalb – wie von Fuchs Schender, Österreichisches AnwBl 2019, 201–203. Peschorn, in: ÖJK, Strafverfolgung, 121 (121–123); Geyer, in: ÖJK, Strafverfolgung, 139 (139 f.); vgl. dazu auch Lewisch, 41. Ottensteiner (2013), 5 (6 f.). 26  Peschorn, in: ÖJK, Strafverfolgung, 121 (121 f., 125); Geyer, in: ÖJK, Strafverfolgung, 139 (141). 27  Pilgram, in: ÖJK, Strafverfolgung, 177 (177 f.); Brinek, in: Pilgermair, Wandel, 537 (539 f.). Zum Gleichheitsgrundsatz oben, D. II. 2. 28  Lewisch, 41. Ottensteiner (2013), 5 (7 f.); vgl. zum deutschen Recht Kempf, NJW 1997, 1729 (1735); Albrecht, DRiZ 1998, 326 (330); ders., ZRP 2004, 259 (261). 29  Oben, B. II. 1. 30  Dohr, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 111 (113). Dazu oben, B. II. 1. a) bb). So zum deutschen Recht auch Fischer, NStZ 1997, 212 (215). 24  Vgl.

25  Siehe

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

gefordert – gekürzt und auf das ultima-ratio-Prinzip zurückgeführt werden.31 Strafrecht ist auf das zu reduzieren, was wirklich Strafe verdient.32 Die Forderung nach Entkriminalisierung zur Entlastung des Strafverfahrens ist deshalb unter Inkaufnahme von Strafbarkeitslücken zu unterstützen. b) Beschränkung der Opferrechte Einen weiteren Grund für die Überlastung der Justiz sieht Fuchs in der Ausuferung der Opferrechte im Strafprozess.33 Seine Kritik gegen die Ausweitung der Beteiligungsrechte von Opfern richtet sich allgemein gegen die Aktivrechte34, im Besonderen gegen den Fortführungsantrag nach §§ 66 Abs. 1 Nr. 8, 195 Abs. 1 öStPO und die Möglichkeit, private Rechte im Strafverfahren nach § 69 Abs. 1 öStPO geltend machen zu können.35 Im Strafprozess gehe es um die Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten, welcher deshalb im Mittelpunkt des Verfahrens stehen müsse. Vor rechtskräftiger Verurteilung sei weder der Begriff des Täters noch der des Opfers zu verwenden.36 Opfern seien in diesem System lediglich Informationsrechte zuzugestehen. Für die Geltendmachung weitergehender Rechte sei das Opfer auf den Zivilrechtsweg zu verweisen. Durch extensive Opferrechte entstünde dem knapp bemessenen Strafjustizpersonal gegenwärtig ein kaum zu bewältigender Mehraufwand.37 Eine rechtsstaatlich vertretbare Sachverhaltsaufklärung verlangt effektive Verteidigungsmöglichkeiten. Die Zuschreibung der Opferrolle zu Beginn des Strafverfahrens bedingt die Feststellung der Täterschaft vor Stattfinden einer gerichtlichen Untersuchung.38 Die Ausweitung der Aktivrechte lehnt Fuchs aber nicht ausschließlich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ab, sondern 31  Vgl. auch Maleczky, Strafrecht AT II, S. 35. Vgl. auch Lagodny, Schranken, S. 531. 32  Kempf, NJW 1997, 1729 (1735). 33  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34  f.). Zu den Opferrechten bereits oben, B. II. 3. 34  Zu den Aktivrechten § 66 öStPO; für die Rechtsmittelrechte §§ 87, 106 öStPO. 35  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34 f.). Zur Kostentragung der Prozessbegleitung Gappmayer, Opferbegriff, Rn. 269. 36  Fuchs, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 102; ders., 13. ÖJT (1997), Band IV/1, 87. So auch Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (160). Vgl. auch Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (111). 37  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (35). 38  Dazu Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 108 (111); Sautner/Hirtenlehner, ÖJZ 2008, 574 (581 f.); Wille, Aussage gegen Aussage, S. 97 f.; Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (160). Vgl. auch Füssel, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 147 (147 f.). Siehe auch die Beschlüsse des 12. Österreichischen StrafverteidigerInnentages, 12. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2014), 209



I. Vorschläge275

auch wegen ihres hohen Mehraufwands. Tatsächlich ist es um die budgetäre Situation in Österreichs Haushaltskassen gegenwärtig schlecht bestellt und eine Aufstockung des Justizpersonals scheint schwierig.39 Die Zurückschneidung der Aktivrechte im Strafverfahren wird auch von anderen Autoren thematisiert und im Zuge dessen überlegt, ob nicht außerhalb des Strafverfahrens die besseren Chancen für die Verwirklichung eines Opferschutzes liegen könnten.40 Ein gebührender Interessenausgleich könne in Konzepten der Konfliktbewältigung durch Mediation und Wiedergutmachung erzielt werden.41 Nicht nur die Überlastung der Justiz, sondern auch die begrenzten Handlungsoptionen des Opfers im Strafverfahren sprächen dafür.42 Der Reformprozess der letzten 25 Jahre dokumentiert allerdings die Aufwertung des Opfers zum andauernden kriminalpolitischen Phänomen.43 Diese Tendenz hält – unterstützt durch die EU44 – weiterhin an,45 auch wenn das Budgetbegleitgesetz von 2009 die Ausweitung der Opferrechte aufgrund der dadurch bedingten Belastung der Justiz zurückgeschnitten hatte.46 Eine Beschränkung der Rechte mutmaßlicher Opfer im Strafprozess könnte die Strafjustiz somit entlasten. Dennoch wird eine Umsetzung dieses Vorschlags bei dem derzeitig herrschenden kriminalpolitischen Klima kaum Aussicht auf Erfolg haben.47

(210), wonach der Begriff des Opfers im Strafverfahren die Unschuldsvermutung verletze. 39  Dazu Griss, Österreichisches AnwBl 2012, 261–262. Siehe aber auch unten, G. I. 1. e). 40  So etwa Kunz, in: Burgstaller-FS, 541 (548); Kintzi, in: Weißer Ring  e. V., Opferschutz – unbekannt, 27 (28); dazu auch Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (160 f.). 41  So Kunz, in: Burgstaller-FS, 541 (548). 42  Kintzi, in: Weißer Ring e. V., Opferschutz – unbekannt, 27 (28). 43  Siehe dazu oben, B. II. 3. 44  Dazu kritisch Bock, Stefanie, ZIS 2013, 201–211. 45  Zur Umsetzung der RL 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten siehe das StPRÄG I 2016, öBGBl I 2016/26, in Kraft getreten am 01.11.2016; im Zuge dessen wurde etwa der Begriff der „besonderen Schutzbedürftigkeit“ von Opfern in den §§ 10 Abs. 2, 66a, 156 Abs. 1 Nr. 2, 172 Abs. 4 öStPO eingeführt und der Opferbegriff des § 65 Nr. 1 lit. a und b sowie die Opferrechte in den §§ 66 Abs. 1, 80 Abs. 1 öStPO erweitert. 46  Vgl. Kier, in: WK-StPO (2017), § 10 Rn. 16. 47  So auch Kier, Österreichisches AnwBl 2018, 221 (225), der an den Gesetzgeber appelliert, zumindest dem weiteren Ausbau der Opferrechte ein Ende zu bereiten.

276

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

c) Videodokumentation der Hauptverhandlung Die Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- oder Bildaufnahme in der Hauptverhandlung steht nach § 271a Abs. 1 S. 1 öStPO im Ermessen des Gerichts und ist von einer entsprechenden Ausstattung des Verhandlungssaales abhängig. Diese Einschränkungen widerstreiten dem eindeutigen Gewinn einer Videodokumentation gegenüber der schriftlichen und deshalb aufwendigen Protokollierung:48 Der Richter kann sich durch den Wegfall der Protokollierung oder des Diktierens verstärkt auf den Prozessablauf konzentrieren.49 Eine authentische Fixierung des gesprochenen Wortes verhindert Dispute über Protokollberichtigungsanträge und spekulative Anträge seitens der Verfahrensbeteiligten.50 Daneben würden bei mangelhafter Befragung durch das Gericht erweiterte Kontroll- und Angriffsmöglichkeiten sichergestellt.51 Bei Aufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung kann bisher unter den Voraussetzungen des § 271a Abs. 3 öStPO das Hauptverhandlungsprotokoll durch einen Vermerk ersetzt werden.52 Die Ausstattung der Gerichte mit entsprechenden technischen Vorkehrungen ist deshalb unverzichtbar.53 Im Schrifttum wird vorgeschlagen, der Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung eine über ihre die Protokollführung unterstützende Funktion hinausreichende Bedeutung zukommen zu lassen.54 Auch der Schutz des Angeklagten spricht hierfür.55 Eine prinzipielle Videodokumentation der gesamten Hauptverhandlung ist somit nicht nur zur Arbeitserleichterung geboten.56 Die Forderung nach einer Videodokumentation sollte außerdem ausnahmslos für jede Vernehmung bereits im Ermittlungsverfahren 48  Zu

den Vorteilen elektronischer Aufzeichnungen näher unten, G. I. 3. c) (4). Österreichisches AnwBl 2013, 217 (220). 50  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (220); vgl. auch Gerstberger, 1. Österreichischer StrafverteidgerInnentag (2003), 100 (101 f.); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (98). 51  Danek, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 50 (51); Mur­schetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (220); vgl. auch Mayer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 104 (105). 52  Schillhammer, Österreichisches AnwBl 2016, 348; Sautner, JBl 2019, 210 (219). 53  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (220); Stuefer, JSt 2014, 105 (115). Für eine akustische Aufzeichnung: Velten, JSt 2009, 181 (191); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (98 f.). Zum Vorteil von Video­aufzeichnungen unten, G. I. 3. c) (4). 54  Schillhammer, Österreichisches AnwBl 2016, 348 (349). 55  Sautner, JBl 2019, 210 (220). Dass Gespräche abseits der Kamera von der audiovisuellen Aufzeichnung nicht erfasst würden, so Sautner, JBl 2019, 210 (220), wäre kein Argument gegen eine prinzipielle Dokumentationspflicht, denn das bloße Protokoll bietet hier keine bessere Schutzvorrichtung. 56  Sautner, JBl 2019, 210 (220). 49  Murschetz,



I. Vorschläge277

gelten,57 wodurch wiederum eine deutliche justizielle Entlastung bewirkt würde, weil die Triebfedern für Diskurse über Ablauf und Inhalt von im Vorverfahren geführten Vernehmungen weitgehend eliminiert würden.58 d) Änderung des Bewertungssystems richterlicher Arbeit Die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 87 Abs. 1 B‑VG verbietet eine inhaltliche Bewertung richterlicher Arbeit. Aus diesem Grund orientiert sich die Gerichtsverwaltung bei der Bewertung der Arbeit der einzelnen Richter oder Kammern an der durch die Pensenberechnung nach der PAR ermittelten Zahl der erledigten Fälle innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens.59 Die Pensenbemessung nach den PAR‑Kennzahlen hintertreibt allerdings eine notwendige schulmäßige Fallbearbeitung, da für Vertiefungen dogmatischer Art und qualitätsorientierte Arbeit jedenfalls nach der etatmäßigen Arbeitszeit kaum Raum bleibt.60 Ein Bewertungssystem nach starren Erledigungszahlen und falschen Vorgabezeitwerten fördert deshalb auch die Ausbreitung von zeit- und arbeitssparenden Urteilsabsprachen.61 Ein verändertes Bewertungssystem könnte dem entgegenwirken, zumal absprachebereite Richter letztlich selbst einer Personalaufstockung gegensteuern.62 Denn sinkt die Bearbeitungsdauer des einzelnen Strafverfahrens, steigt gleichzeitig die vor­ gegebene Zahl der innerhalb einer bestimmten Zeit zu bearbeitenden Fälle, da der Gerichtsverwaltung kommuniziert wird, dass die Auslastungsgrenze noch nicht erreicht sei. Anhand der für die PAR gewonnen Daten wird nur derjenige Personalbedarf ermittelt, der bereits durch eine informell reduzierte Bearbeitungspraxis besteht und nicht der Bedarf, der bei stets gründ­ licher Fallbearbeitung entstünde. Das Bewertungssystem ist deshalb zu überdenken. e) Erwirken von Geldmitteln zugunsten der Strafjustiz Auffällig ist, dass als geeignetes Mittel zur Beseitigung strafjustizieller Arbeitsüberlastung stets die Urteilsabsprachen in Betracht gezogen wer57  Hierzu

unten, G. I. 3. c) (4). in: Lagodny, Herausforderungen, 167 (172); Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215). 59  Vgl. Kmetic, PAR, S. 224 f. 60  Kmetic, PAR, S. 227; Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (156). Zu den Qualitätsanforderungen an die Justiz Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (395). 61  Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (156). Dazu oben, B. II. 1. a) aa). 62  Vgl. Kmetic, PAR, S. 236. 58  Lagodny,

278

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

den.63 Eine Aufstockung des Strafjustizpersonals als alternativer Lösungsweg wird mit der auch für die Zukunft zu erwartenden schlechten Haushaltslage abgelehnt.64 Ist aber die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege tatsächlich ernstlich gefährdet, bleibt fraglich, warum nicht die Ressourcenverteilung überdacht und auch eine Umdisponierung des Justizpersonals innerhalb der Gerichtsbarkeiten in Erwägung gezogen wird.65 Im Vergleich zum Zivilverfahren kommt im Strafverfahren dem Ziel einer gerechten und fairen Entscheidung gegenüber dem Ziel einer schnellen und ökonomischen Verfahrensgestaltung eine besondere Bedeutung zu, denn die Auswirkungen strafrechtlicher Ergebnisse sind für Angeklagte nicht selten empfindlich.66 Sparversionen rechtsstaatlicher Strafverfahren sind deshalb unangebracht. Eine Umschichtung der Ressourcen zugunsten der Strafgerichtsbarkeit wäre zu erwägen.67 Ebenso könnte in diesem Zusammenhang die Abschaffung der Schöffenbeteiligung diskutiert werden.68 In der strafprozessualen Realität spielen Schöffen bei der Urteilsfindung – insbesondere bei ausgehandelten Urteilen69 – kaum eine Rolle, beanspruchen aber die knappen staat­ lichen Geldmittel.70 In diese Kosten-Nutzen-Rechnung gehört auch, dass Schöffen nach jüngerer Rechtsprechung des EGMR71 Aktenkenntnis haben dürfen, was die ihnen zugeschriebene Funktion der Sachverhaltsbeurteilung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung beeinträchtigt. Des Weiteren könnte auch die Berechtigung des Geschworenenverfahrens überprüft wer-

63  Siehe

dazu oben, D. IV. in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 139 (156 f.); Luef‑Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 262. Dazu auch Griss, Österreichisches AnwBl 2012, 261 (261 f.). 65  So der Vorschlag zum deutschen Recht von Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.12. 66  Lewisch, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 117 (119). 67  Zur kurzen Erledigungszeit im streitigen Zivilverfahren bei gleichzeitig geringem Budgetaufwand: Stawa, Österreichisches AnwBl 2011, 510 (511–513). 68  Auch darauf verweist in Deutschland Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 1.12. Siehe aber Pleischl, RichterInnenwoche (2010), 193 (199); ders., 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (92), wonach die Schöffenbeteiligung trotz deren nicht belegtem oder gar bewiesenem Nutzen derzeit außer Diskussion zu stellen sei. Für deren Abschaffung Huber, JAP 2010/2011, 132 (137); zu der dafür erforderlichen Verfassungsänderung des Art. 91 B‑VG: Reindl‑Krauskopf, Österreichisches AnwBl 2010, 224. 69  Dazu oben, D. II. 1. 70  Vgl. Huber, JAP 2010/2011, 132 (137). Kritisch gegenüber der Laienbeteiligung auch Aistleitner, 4. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2006), 78 (78–80, 83 f.). 71  EGMR NJW 2009, 2871 (2872). 64  Tipold/Wess,



I. Vorschläge279

den.72 Der Diskussion über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen wäre es zuträglich, das tatsächliche Ausmaß einer Gefährdung der Effizienz der österreichischen Strafrechtspflege zu untersuchen. Der Gesetzgeber hat auf das Überlastungs- bzw. Überforderungsproblem mit der Wiedereinführung des zweiten Berufsrichters beim Landgericht als Schöffengericht für Großverfahren oder sonst rechtlich oder tatsächlich komplexe Verfahren zum 1. Januar 2015 reagiert (§§ 32 Abs. 1 und Abs. 1a, 41 Abs. 1, 516 Abs. 10 öStPO)73, nachdem dieser durch das Budgetbegleit­ gesetz 200974 abgeschafft worden war.75 Der zweite Berufsrichter soll den Vorsitzenden vor allem in der Beratungssituation unterstützen und kontrollierend und fehlerverhindernd eingreifen können.76 Offensichtlich konnte die Haushaltslage in diesem Fall eine Personalaufstockung gestatten. Seit 1. Januar 2016 ist nach § 32 Abs. 1b öStPO77 ein beisitzender Richter stets beizuziehen, wenn es die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift oder der Angeklagte innerhalb der Einspruchsfrist verlangt haben. Diese Entwicklung ist erfreulich. Die Rechtspolitik sollte sich generell verstärkt bemühen, die Rahmenbedingungen für eine rechtsstaatlich arbeitende Strafjustiz zu garantieren. Eine funktionierende Strafrechtspflege muss in einem Rechtsstaat auf andere Weise als durch Urteilsabsprachen sichergestellt werden. Die Rechtspolitik darf sich mit einem gebetsmühlenartigen Hinweis auf den allgegenwärtigen Sparzwang nicht ihrer Verantwortung für die Gewährleistung einer rechtsstaatlich arbeitenden Strafrechtspflege entziehen.

2. Korrektur der Absprachen ermöglichenden Rahmenbedingungen Zur Verhinderung von Urteilsabsprachen ist eine Entlastung der Strafjustiz nicht ausreichend. Es müssten der Praxis auch ihre Grundlagen, welche den Einsatz von Urteilsabsprachen ermöglichen, entzogen werden. Diese liegen im österreichischen Strafverfahren begründet.

72  Für deren Abschaffung Huber, JAP 2010/2011, 4 (10); ders., JAP 2010/2011, 132 (136 f.); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (92– 95). A. A. jüngst Sadoghi, ÖJZ 2018, 257–261. 73  StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71. 74  Budgetbegleitgesetz 2009, öBGBl I 2009/52. 75  Dazu Danek/Mann, in: WK-StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 14; vgl. dazu auch Liebhauser‑Karl, in: ÖJK, Strafverfolgung, 131 (133). 76  ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 6 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXV/I/I_00181/fname_353785.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 77  StRÄG 2015, öBGBl I 2015/112.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

a) Disqualifizierung eines rein taktisch motivierten Geständnisses Velten fordert zur Eindämmung von Urteilsabsprachen eine Klarstellung im Strafzumessungsrecht, die eine Honorierung eines lediglich taktisch motivierten Geständnisses verbietet und mit Nichtigkeit sanktioniert.78 Auch nach hiesiger Ansicht kann es rein taktische Geständnisse geben, in der Literatur ist dies indes umstritten.79 Die Urteilsabsprachenpraxis scheint eine Produktionsmaschine rein taktisch motivierter, „schlanker“ Geständnisse zu sein.80 Eine Strafmilderungsfähigkeit absprachenbasierter Geständnisse ist nicht ersichtlich.81 Ohne strafzumessungsrelevantes Geständnis fehlt dem Angeklagten sein Handelsgut, denn Prozessverhalten alleine ist für eine Strafmilderung ohne Gewicht.82 Auf das Erfordernis einer transparenteren Strafbemessungspraxis ist noch einzugehen. b) Exkurs: Strikte Ablehnung des Geständnisses als Strafmilderungsgrund Bei konsequenter Ablehnung des Geständnisses als Strafmilderungsgrund würde die Urteilsabsprachenpraxis nicht funktionieren, denn der Angeklagte könnte das zur Arbeitserleichterung der Justiz Wesentlichste nicht beisteuern.83 Befürworter einer solchen, die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses verneinenden Ansicht tragen insbesondere vor, der Staat nehme über das Strafzumessungsrecht unzulässig Einfluss auf die Aussage- und Selbst­ belastungsfreiheit des Angeklagten, denn gestatte eine Rechtsordnung dem Angeklagten das Recht zu schweigen oder zu leugnen, stelle sie sich selbst in Frage, wenn der Angeklagte ohne Geständnis eine höhere Strafe erhalte.84 78  Velten,

JSt 2009, 181 (190); dies., in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24 f. Problem der Strafzumessungsrelevanz taktisch motivierter Geständnisse oben, D. III. 1. a) aa). 80  Siehe oben, D. I. 1. b) bb) (2). Zu den Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten oben, B. II. 2. 81  Hierzu oben, D. III. 3. 82  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 24. 83  Skeptisch bis ablehnend gegenüber der Strafzumessungsrelevanz eines Geständnisses in der deutschen Literatur etwa: Liepmann, ZStW 44 (1924), 647 (680); Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (538 f.); Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (56 f.); Hamm, ZRP 1990, 337 (342); Rzepka, Fairness, S. 394 f.; Stalinski, Aussagefreiheit, S. 128, 144; Rieß, in: Richter‑FS, 433 (443); Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 261, 270; Drews, Königin, S. 274 f.; Sickor, Das Geständnis, S. 367–372. 84  Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (538  f.); Stalinski, Aussagefreiheit, S. 105; 144; Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit, S. 267; Sickor, Das Geständnis, S. 369; vgl. Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (59); vgl. auch Eschelbach, in: Rissing‑van Saan‑FS, 115 (131). 79  Zum



I. Vorschläge281

Mit einer im Strafzumessungsrecht vorgesehenen Strafmilderung für ein Geständnis übe der Staat stets unzulässig Druck auf den Angeklagten aus.85 An der strafmildernden Wirkung des Geständnisses wird ferner die angebliche Unmöglichkeit kritisiert, in der Kürze der Hauptverhandlung, die für den Angeklagten eine Ausnahmesituation darstelle, die Motive für die Geständnisbereitschaft verlässlich zu ermitteln und auf die innere Einstellung des Angeklagten bei Tatbegehung zu schließen.86 Darüber hinaus komme es bei der Strafzumessung auf die Schuld zum Zeitpunkt der Tat an und diese könne nicht durch späteres Prozessverhalten eruiert werden.87 Die Honorierung einer Schonung des Opfers, etwa bei Entfallen der Zeugenaussagepflicht durch Geständnis, sei nicht im Strafzumessungsrecht zu verorten, denn dem schweigenden Angeklagten werde nicht nur eine durch sein Verhalten verursachte Zeugenvernehmung, sondern auch seine Geständnisverweigerung verübelt.88 Tatsächlich kann der Angeklagte unter der Prämisse, dass keine anderen Strafmilderungsgründe in Betracht kommen, nach dem geltenden österreichischen Strafgesetzbuch eine Strafmilderung nur durch ein Geständnis erreichen. Die Versagung einer Strafmilderung bei Schweigen oder Leugnen bedeutet für den Angeklagten notgezwungen eine härtere Strafe, auch wenn man diese als „Normalstrafe“89 bezeichnen könnte.90 Der Angeklagte muss sich entscheiden, ob er die gesetzlich vorgesehene Strafmilderung aus § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB erhalten will. Es ist deshalb richtig, dass nur bei einem Verzicht auf eine Strafmilderung für ein Geständnis gewährleistet wäre, dass sich der Angeklagte ohne psychischen Druck und damit völlig frei zur Ablegung eines Geständnisses entschließen kann. Dennoch erscheint diese radikale Forderung nicht durchsetzbar. Neben der Absprachenpraxis ist das Geständnis auch im Normalverfahren ein bedeutender Strafzumessungsfaktor.91 Vor allem steht eine solche Forderung im Gegensatz zur aktuellen österreichischen Gesetzeslage. Es überrascht folglich nicht, dass kritische 85  So die Kritik bei Verrel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 52 f.; vgl. auch Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (56); Weigend, JZ 1990, 774 (778); Hönig, Wirkung, S. 96; Möller, JR 2005, 314 (319). 86  Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (595 f.); Frisch, ZStW 99 (1987), 751 (779 f.); vgl. auch Moos, Ruth, Strafverfahren und Strafzumessung, S. 150. 87  Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (580, 590); Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (56); Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreihheit, S. 264. 88  Eidam, Strafprozessuale Selbstbelastungsfreihheit, S. 268  f. mit Verweis auf Weßlau, KJ 1993, 461 (463); Bosch, Aspekte, S. 201. Vgl. dazu RIS-Justiz RS0090897; Pallin, Strafzumessung, Rn. 26. 89  Weigend, JZ 1990, 774 (778 Fn. 57). 90  Siehe dazu oben, D. I. 2. a) aa). 91  Ebner, in: WK-StGB (2018), § 32 Rn. 44.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Auseinandersetzungen mit der strafmildernden Wirkung eines Geständnisses in der österreichischen strafrechtlichen Literatur schwer aufzufinden sind. Neben Österreich haben auch andere Rechtsordnungen die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses explizit gesetzlich geregelt.92 In Deutschland ist die Strafzumessungsrelevanz des Geständnisses ständige Rechtsprechung93 und wird von der vorherrschenden Literaturmeinung94 befürwortet. Unabhängig von seiner Motivation sei das Geständnis einer „sittlichen Leistung“ gleichzustellen, da der Geständige den Willen zeige, sich wieder in der Gesellschaft einzuordnen und die Norm anzuerkennen.95 Das Geständnis diene der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Rechtsfriedens in der Gemeinschaft96 oder erspare zumindest dem mutmaßlichen Opfer seine Vernehmung in der Hauptverhandlung.97 Es scheint allgemeine Meinung zu sein, dass ein Geständnis trotz des Lock- und Drohpotenzials seit jeher mit einer Strafmilderung zu belohnen ist.98 c) Transparentere Strafbemessungspraxis Die mangelnde Überprüfbarkeit der Strafmaßentscheidung ist eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Urteilsabsprachen. Obwohl auch die Strafbemessung gemäß §§ 32 ff. öStGB Rechtsanwendung ist, genießt der Tatrichter hier einen enormen Beurteilungsspielraum, denn die Strafbemessung gilt als Herrschaftsgebiet des Tatrichters.99 § 32 öStGB postiert als zentrale gesetzliche Bestimmung über die Strafbemessung lediglich fragmentäre Richtlinien für den äußerst vielschichtigen Vorgang der Strafbemessung.100 §§ 33 und 34 öStGB statuieren zwar jene Faktoren, die bei der Strafbemessung insbesondere zu beachten sind.101 Es mangelt aber an differenzierten Vorschriften über den Ablauf der Entscheidung und das Gewicht 92  Siehe

etwa für die Schweiz: Art. 48 lit. d sStGB. etwa BGHSt 1, 105 (106 f.); 14, 189 (192). 94  Theune, in: LK-StGB, § 46 Rn. 206; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 43; Streng, in: NK‑StGB, § 46 Rn. 78; Kempfer, in: HK‑GS, Teil 1 (StGB), § 46 Rn. 32; v. Heintschel‑Heinegg, in: v. Heintschel‑Heinegg, StGB, § 46 Rn. 58; Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 41 b; Fischer, StGB, § 46 Rn. 50. 95  Cramer, in: Rebmann-FS, 145 (148). 96  Schmidt‑Hieber, in: Wassermann‑FS, 995 (1000). 97  Jerouschek, JZ 2000, 185 (189). 98  Verrel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 53. 99  Ebner, in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 1–3 m. w. N.; vgl. Luef‑Kölbl, Konsensuale Verfahrensabkürzung, S. 338. 100  Ebner, in: WK-StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 1/1, 2. 101  Dazu ausführlich Ebner, in: WK-StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 28, § 32 Rn. 51–105; siehe auch Neumair, Strafrecht AT II, S. 15–21. 93  Vgl.



I. Vorschläge283

der Strafbemessungstatsachen untereinander.102 Bei der Strafbemessung verwendbare Anhaltspunkte aus dem Gesetz sind damit kaum vorhanden. Wie die in § 32 Abs. 2 öStGB vorgeschriebene Abwägung der Erschwerungs- und Milderungsgründe im Einzelnen geschehen soll, dazu sagt das Gesetz nichts. Ebenso schweigt das Gesetz zu der Frage, was ein Geständnis wert ist. Da es keinen nachvollziehbaren Maßstab für die Strafbemessung gibt, kann das Tatgericht mehr oder weniger intuitiv vorgehen.103 Aus diesem Grund kann die Verteidigung nicht verlässlich ermitteln, ob und welche Strafrabatte für ein Geständnis üblich sind. Sie weiß nicht, ob das abgelegte Geständnis tatsächlich berücksichtigt wird. Will der Verteidiger wissen, wie sich im konkreten Fall ein Geständnis auf das Strafmaß auswirken würde, muss er das Gespräch mit dem Tatrichter suchen, weshalb die Unvorhersehbarkeit des Strafmilderungswertes eines Geständnisses zur Absprachenbereitschaft von Verteidigung und Angeklagtem beiträgt.104 Die Aufführung eines Geständnisses in den Urteilsgründen lässt keine Schlussfolgerung auf die Differenz zu der Strafe ziehen, die das Gericht andernfalls – das heißt ohne Geständnis – ausgeurteilt hätte. Die Tatgerichte sind größtenteils von einer Begründungspflicht ihrer Strafmaßentscheidung befreit.105 Nach § 270 Abs. 2 Nr. 5 öStPO ist die Strafmaßentscheidung nicht eingehend zu begründen.106 Strafbemessungserwägungen sind nach dem Gesetz nicht aufzuführen.107 Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 270 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 öStPO kann sich das Tatgericht zur Feststellung der Erschwerungs- und Milderungsgründe mit einer schlagwortartigen Aufzählung begnügen, wovon die Tatgerichte regelmäßig Gebrauch machen.108 Was in den Urteilsgründen nicht aufgeführt ist, kann nicht überprüft werden. Eine Kontrolle der Strafbemessungsentscheidung findet allein anhand der Gründe des schriftlichen Urteils statt. Mangels Begründungspflicht ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, ob und inwieweit sich die Tatgerichte bei der Strafbemessung innerhalb ihres Beurteilungsspielraums bewegen.109 Die wirklichen – wohl nicht selten irrationalen – Gründe für den Strafrabatt, wie das Zustandekommen einer Urteilsabsprache, finden sich in den schriftlichen 102  Ebner,

in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 51. in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 5, § 32 Rn. 94. 104  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414). 105  Ebner, in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 4, § 32 Rn. 107 m. w. N.; für eine solche Pflicht unter Bezugnahme auf Art. 6 EMRK: Pallin, Strafzumessungsrecht, Rn. 179. 106  Danek, in: WK‑StPO (2009), § 270 Rn. 42 f. 107  Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 107 m. w. N. 108  Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 94. 109  Ebner, in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 4. 103  Ebner,

284

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Urteilsgründen ohnehin nicht wieder.110 Ohne rechtsfehlerhafte Formulierung beschränkt sich die Kontrolle der Strafhöhe durch die Rechtsmittelgerichte deshalb auf die Grenzen des Vertretbaren.111 Ohne Begründungszwang können Richter ihr Ermessen praktisch willkürlich ausüben, solange sie die eigentlichen, für die Strafbemessungsentscheidung maßgeblichen Gründe im Urteil hinter Begründungsfloskeln verstecken.112 Dem Erstgericht wird dadurch auch eine willkürliche Entscheidung hinsichtlich des Ob einer Strafmilderung ermöglicht. Das gilt trotz der obligatorischen Strafmilderung nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB, denn der konkrete Strafmilderungswert ist aus dem Urteil nicht in Erfahrung zu bringen. Zugleich wird das Gericht in die Lage versetzt, eine willkürliche Entscheidung hinsichtlich des Ausmaßes der Geständnishonorierung zu treffen. Eine nicht nachvollziehbare Bewertung des Geständnisses befähigt das Gericht zur Rechtfertigung einer deutlich unter oder über dem objektiven Unrechtsausmaß der Tat liegenden Strafe. Es gibt dem Gericht die Möglichkeit, Abspracheverhandlungen zu führen, bei denen die Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit durch den Einsatz der Sanktionsschere verletzt wird.113 Ist die konkrete Strafhöhe nach dem eben Gesagten nur zu beanstanden, wenn ihr Ausmaß absolut inakzeptabel erscheint, dann können Richter auch bei einer geplatzten Urteilsabsprache die eingesetzte Strafzumessungsschere im Urteil mit etwas sprachlichem Geschick verbergen.114 Die Urteilsabsprachenpraxis wird demnach durch die mangelnde Überprüfbarkeit der Strafmaßentscheidung entscheidend protegiert. Die Strafbemessung müsste deshalb so ausgestaltet werden, dass das Geständnis vom Gericht nicht willkürlich als „Transaktionsgut“ eingesetzt werden kann.115 Dazu müsste sich die Strafmaßentscheidung sowohl kalkulieren als auch kontrollieren lassen.116 Hilfreich gegen eine Willkürlichkeit der Strafbemessung wären effektive und allgemein anerkannte Leitlinien bzw. Bezugspunkte bei der Strafmaßbestimmung.117 Bislang fehlen zureichende gesetzliche und von der Rechtsprechung entwi110  Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 94. Vgl. dazu bereits Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 (541): „Wer die Geheimnisse des Beratungszimmers und die psychischen Bedingungen kennt, unter denen sich die Urteilsfindung regelmäßig vollzieht, weiß, in wie vielen Fällen das Strafmaß ‚rein gefühlsmäßig‘ ertastet wird, ohne daß eine klare verstandesmäßige Erwägung der Zumessungsgründe stattfindet.“ 111  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19). 112  Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 51, 94. 113  Zur Sanktionsschere oben, D. I. 2. a) bb). 114  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (19). 115  Vgl. BVerfGE 133, 168 (230). 116  So bereits Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414). 117  Vgl. Venier, in: Fuchs‑FS, 621 (632); Ebner, in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32– 36 Rn. 5, § 32 Rn. 94.



I. Vorschläge285

ckelte Grundsätze und Regeln, weshalb eine Gleichbehandlung ausbleibt und insbesondere regionale Unterschiede feststellbar sind.118 Eine Strukturierung sowie Standardisierung der Strafbemessung scheint angezeigt. Um die Strafmaßentscheidung kalkulierbarer zu machen, schlagen Kier/ Bockemühl vor, dass die OLGe in ihren Entscheidungen fixieren sollten, welcher zahlenmäßig konkrete Wert dem Geständnis als Milderungsgrund nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB zukomme.119 Die Verteidigung sei dann ohne Konsultation des Gerichts in der Lage, dem Mandanten mitzuteilen, ob und wie sich ein Geständnis rechnen könne. Erforderlich sei „eine konkret nachvollziehbare Strafbemessung einer – gegenüber der ersten Instanz – inhaltlich kritischen Rechtsmittelinstanz.“120 Tipold/Wess möchten in ihrem Vorschlag die Erstgerichte dazu bestimmen, jenen Teil, der durch das Geständnis gemildert wurde, im Urteil genau zu benennen und fordern eine verstärkte Begründungspflicht für die Strafzumessung von den Erstgerichten ein.121 Sowohl Kier/Bockemühl als auch Tipold/Wess gehen somit offenbar davon aus, dass sich ein Normalmaß der Strafe, das heißt ein Strafmaß ohne Geständnis, ermitteln lässt. Auch der OGH scheint dieser Ansicht zu sein, denn nur unter dieser Voraussetzung ist das Verbot der negativen Berücksichtigung eines fehlenden Geständnisses kontrollierbar.122 Tatsächlich erscheint es für die Vorhersehbarkeit und Überprüfbarkeit der Strafmaßentscheidung unerlässlich, dass sich ein Normalstrafmaß bestimmen ließe, von dem ausgehend für ein Geständnis ein milderes Strafmaß eingeräumt werden könnte.123 Aus diesem Grund wird in der deutschen Literatur auch die Schaffung eines objektiven Bewertungssystems vorgeschlagen, anhand dessen sich die Strafe berechnen und kontrollieren lasse.124 Voraussetzung für die Umsetzung dieses Konzepts sei die Entwicklung einer neuen Strafzumessungstheorie, die eine möglichst genaue Bestimmung der Strafhöhe anhand nachprüfbarer Kriterien erlaube.125 Das Geständnis sei dabei losgelöst von seiner Motivation zu berücksichtigen, denn die Feststellung der Motivation des 118  Ebner,

in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 4. Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414) mit Verweis auf Kier, in: WK‑StPO (2008), § 9 Rn. 40. 120  Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414). 121  Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (156) mit Verweis auf Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414). 122  Dazu die Nachweise oben, D. I. 2. a) bb), Fn. 300 f. 123  Hierzu Venier, in: Fuchs‑FS, 621 (632–636); Ebner, in: WK‑StGB (2018), § 32 Rn. 96–99; vgl. zum deutschen Recht Theune, StV 1985, 205 (207, 209 f.); Eschelbach, in: SSW‑StGB, § 46 Rn. 176–179. 124  Siehe Hauer, Geständnis, S. 364–368 zur deutschen Strafjudikatur. 125  Hauer, Geständnis, S. 314, 364–368. Zu den Strafbemessungstheorien Ebner, in: WK‑StGB (2018), Vor §§ 32–36 Rn. 18–26. 119  Kier/Bockemühl,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Angeklagten bedinge stets eine unkalkulierbare Entscheidung des Gerichts.126 Für ein Geständnis sei somit ein motivationsunabhängiger und auf einen bestimmten Prozentsatz begrenzter Strafrabatt zu gewähren, der bei einem Fünftel bis einem Viertel liegen solle.127 Auch von anderer Seite wird zumindest die Einführung eines gesetzlich festgeschriebenen Strafrabatts für den Fall eines substantiierten Geständnisses diskutiert.128 Vorgeschlagen wird ein Rabatt von einem Drittel,129 der allerdings niedriger angesetzt werden müsste, um noch eine freiwillige Geständnisablegung unterstellen zu können, zumal nicht gesichert ist, welche gesetzlich festgelegte Strafreduktion für die Selbstbelastungsfreiheit tatsächlich unschädlich wäre.130 Für einen geringen Strafnachlass würde auch sprechen, dass ein Geständnis als nachträgliches Ereignis die Tatschuld eigentlich unverändert lässt, und andernfalls der Vorwurf einer Überbewertung der Verfahrensökonomie im Raum stehen könnte.131 Dementsprechend wird erwogen, einen etwaigen legislativ festgelegten Strafabschlag auf 10 bis 15 Prozent zu begrenzen.132 Wie bereits im Vorschlag von Tipold/Wess angeklungen, ist die Kontrolle einer intuitiv vorgenommenen Strafbemessungsentscheidung ohne die Verpflichtung zur ausführlichen Darstellung der Strafbemessungsgründe nicht praktikabel.133 Müsste etwa das Geständnismotiv im Urteil abgehandelt werden, dann könnte dieser Arbeitseinsatz unter Umständen bei den Tatgerichten die Attraktivität von Geständnissen und damit auch von Urteilsabsprachen reduzieren.134 Grundvoraussetzung für eine substantiierte Auseinandersetzung mit einem Geständnis wäre allerdings eine entsprechende Ausbildung der Richter auf dem Gebiet der forensischen Beweislehre, die bisher nicht hinreichend sichergestellt ist.135 Gegenwärtig ist die Unzulässigkeit einer Strafmaßentscheidung kaum feststellbar. Die Rechtsmittelinstanz greift nur bei groben Wertungsfehlern ein. 126  Hauer,

Geständnis, S. 165. Geständnis, S. 247–251, 342; ebenso Schünemann, Wetterzeichen, S. 35. 128  Etwa Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (160); AE‑ASR, GA 2019, 1 (9 f., 14–20). 129  Nachweise in Fn. 128. Vgl. auch Velten, in: WK‑StPO (2015), Nach § 1 Rn. 34, wonach eine zulässige Differenz bei nicht mehr als einem Drittel liege. 130  Schünemann, Wetterzeichen, S. 35. 131  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14. 132  Putzke/Scheinfeld, Strafprozessrecht, Rn. 651; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14. 133  Für eine Verschärfung der Anforderungen an die Urteilsbegründung im Falle von Geständnissen auch Velten, JSt 2009, 181 (190 f.). 134  Zur Arbeitsersparnis des Gerichts oben, D. I. 1. a); D. I. 1. b) bb) (2). 135  Zur Notwendigkeit von Kenntnissen des Gerichts auf dem Gebiet der forensischen Beweislehre bereits oben, B. II. 1. b). 127  Hauer,



I. Vorschläge287

Der derzeit zugestandene Ermessensspielraum bei der Strafmaßfindung ermöglicht einen Missbrauch und verhindert eine Kontrolle. Solange das nicht nachvollziehbare Vorgehen der Strafbemessungspraxis gebilligt wird, kann und wird sich die Urteilsabsprachenpraxis dies zu Nutze machen. d) Sanktionsschere als verbotene Vernehmungsmethode In enger Relation zu der eben erörterten Forderung nach einer transparenten Strafmaßentscheidung steht der von Velten unterbreitete Vorschlag, den gerichtlichen Einsatz der Sanktionsschere als verbotene Vernehmungsmethode gemäß § 164 Abs. 4 i. V. m. § 245 öStPO zu qualifizieren.136 Strafmaßdifferenzen, die außer Verhältnis zu dem Milderungsgrund des Geständnisses stehen, lassen sich in keinem Fall mit dem nemo‑tenetur-Grundsatz vereinbaren und müssen daher verboten sein.137 Wann eine Sanktionsschere vorliegt, die zulässige von nicht mehr zulässigen Sanktionsalternativen für ein Urteil mit und ohne Geständnis unterscheiden soll, ist bisher weder von Seiten des österreichischen Gesetzgebers noch von Seiten der Rechtsprechung geklärt. Dies liegt daran, dass auch die Qualifikation der Sanktionsschere als unzulässige Vernehmungsmethode eine nachvollziehbare und nachprüfbare Strafbemessungspraxis voraussetzt.138 Solange der Strafabschlag für ein Geständnis dem Urteil nicht konkret zu entnehmen und die Angemessenheit der Strafe bei Verweigerung der Kooperation nicht objektiv feststellbar ist, kann nicht überprüft werden, wann ein Gericht noch innerhalb seines zulässigen Ermessensspielraums bleibt, so dass ein gesetzliches Verbot der Sanktionsschere außer bei eindeutigen Grenzüberschreitungen kaum greifen könnte. Die vorstehend erörterte Bezifferung des Strafrabatts für ein Geständnis scheint deshalb zur Unterbindung einer Sanktionsschere als Richtschnur dienlich.139

136  Velten, JSt 2009, 181 (190). Zur Sanktionsschere oben, D. I. 2. a) bb). Vgl. hierzu den Vorschlag von Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (156), in § 164 öStPO das Verbot zu regeln, ein „fixes Strafmaß“ bei Geständnis anzugeben. Vgl. ebenso die proponierte Regelung eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer, AE‑ASR, GA 2019, 1 (80), in § 257b dStPO folgenden neuen Abs. 2 einzuführen: „Erklärungen zu den nach den Ergebnissen des bisherigen Verfahrens zu erwartenden Rechtsfolgen darf das Gericht nur abgeben, wenn dies von dem Angeklagten oder seinem Verteidiger beantragt wird.“ 137  Medigovic, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 126 (134). Vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 (239 f.). 138  Dazu soeben, G. I. 2. c). 139  A.  A. BGH StV 2011, 202 (204) mit krit. Anm. Schlothauer, wonach die Grenze eines zulässigen Strafabschlags nicht bezifferbar sei.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

e) Kontrolle durch Wiederaufnahme des Verfahrens Der OGH betont in seinem Beschluss vom 04.03.2010140, dass eine vollzogene Urteilsabsprache, bei welcher ein Richter die nach der Sachlage gebotene (§ 3 öStPO) Beweisaufnahme pflichtwidrig unterlasse und die mit dem System des liberalen Strafprozesses auch deshalb unvereinbar sei, weil sie selbst bei von Rechtsprechung oder Gesetzgeber verlangter Dokumentation einer Kontrolle entgehe, einen Wiederaufnahmegrund nach § 353 Nr. 1 öStPO darstelle. Im Zeitalter von Urteilsabsprachen erlangt die Wiederaufnahme des Verfahrens einen besonderen Stellenwert,141 denn der Rechtsmittelverzicht ist ein solch integraler Bestandteil der Absprachenpraxis, dass er unter den Berufsjuristen nicht ausdrücklich erklärt zu werden braucht.142 Urteilsabsprachen funktionieren, weil die auf ihnen basierenden Urteile durch den Rechtsmittelverzicht unangreifbar gemacht werden. Die Rechtskraft steht aber insbesondere bei abgesprochenen Urteilen in Frage. Als weiterer Wiederaufnahmegrund könnte § 353 Nr. 2 öStPO Bedeutung erlangen. In der deutschen Literatur wird bei Geständniswiderruf die Möglichkeit einer Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 5 dStPO – der sich mit § 353 Nr. 2 öStPO vergleichen lässt – diskutiert, speziell seitdem informelle Urteilsabsprachen vom BVerfG143 für prinzipiell rechtswidrig erklärt wurden und eine Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung (§ 339 dStGB) nun deutlich im Raum steht.144 Bei objektiver Betrachtung müsse ein substantiierter Geständniswiderruf ein schlankes Geständnis, wenn es die einzige Beweisgrundlage eines informell, somit rechtswidrig abgesprochenen Urteils bilde, in seiner Beweiskraft generell weit übertreffen und als neue Beweistatsache behandelt werden.145 Eine Übertragung dieses Diskurses auf die österreichische Rechtslage erscheint wegen des höchstrichterlichen Ausspruchs der prinzipiellen Unzulässigkeit von Urteilsabsprachen samt artikulierter Strafdrohung zumindest erwägenswert.

140  OGH 13 Os 1/10m

JBl 2011, 63 (65). Begriff der Wiederaufnahme Schmoller, in: Hochmayr, Doppelverfolgungsverbot, 115 (119–121). Zur Schilderung von Fällen österreichischer Wiederaufnahmeverfahren Sello, Irrtümer der Strafjustiz, S. 209–248. Zur Darstellung deutscher Wiederaufnahmeverfahren und zur Beurteilung einzelner Fälle siehe die Untersuchung von Peters, Karl, Fehlerquellen I. 142  Vgl. hierzu oben, E. II. 2. a) aa). 143  BVerfGE 133, 168 (212); vgl. auch BGHSt 59, 21 (26). 144  Siehe Eschelbach, in: Paeffgen‑FS, 637 (648–651 m. w. N.); ders., in: BeckOK-­ StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 56–56.4 m. w. N. 145  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 56. Zur Neuheit von Tatsachen gemäß § 353 Nr. 2 öStPO: Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 472; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 1207 f.; Lewisch, in: WK‑StPO (2019), § 353 Rn. 56. 141  Zum



I. Vorschläge289

Das Institut der Wiederaufnahme des Verfahrens wird unter den absprachewilligen Berufsjuristen allerdings nicht beliebt sein, nimmt es ihnen doch die Sicherheit, in der sie sich mit Rechtskraft des Urteils wissen möchten.146 Das Wiederaufnahmegericht hingegen muss die Arbeit erledigen, die das absprachebereite Erstgericht umgangen hat.147 Die Wiederaufnahme ist daher ein unpopuläres, in einem Rechtsstaat jedoch essenzielles Element des strafprozessualen Kontrollsystems, welches bei einer an Urteilsabsprachen gewöhnten Praxis als Möglichkeit zur wirksamen Urteilskorrektur in den Fokus rückt.148 Die Wiederaufnahme darf deshalb namentlich unter Strafverteidigern nicht als nachrangiges Kontrollmittel angesehen werden, welches nur höchst ausnahmsweise anzuwenden ist.149 Voraussetzung für eine Kontrolle abgesprochener Urteile ist, dass sich wiederaufnahmebereite Verteidiger finden, die nicht an dem Erstverfahren mitgewirkt haben.150 Aus diesem Grund gilt es unter Strafverteidigern die Wiederaufnahme des Verfahrens als „neues“ Betätigungsfeld zu propagieren.151 Gleichzeitig müsste der Zugang zum Kontrollmittel der Wiederaufnahme erleichtert werden.152 In Zeiten von Urteilsabsprachen sollten die hohen Zulässigkeitsvoraussetzungen für Wiederaufnahmeanträge nach unten korrigiert werden. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass in der deutschen Literatur zur Kontrolle in rechtswidriger Weise informell ausgehandelter Urteile auch vorgeschlagen wird, eine neutrale Kontrollinstanz nach dem Vorbild der in § 23 öStPO geregelten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes einzuführen.153 Diese sogenannte Wahrungsbeschwerde bezieht sich im Gegensatz zur Wiederaufnahme nicht auf die Korrektur von Fehlern auf Tatsazum deutschen Recht Wasserburg, ZRP 1997, 412. OGH 25.04.2012, 15 Os 47/12v, der feststellt, dass durch die Wiederaufnahme des Verfahrens grundsätzlich in das Ermittlungsstadium eingetreten wird. Zur Arbeitsverschiebung zwischen den Instanzen auch Lewisch, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 117 (122 f.). 148  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (199  f.); Wasserburg, in: Brüssow/Krekeler/ Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, 653–723. 149  Hierzu auch Peters, Karl, Fehlerquellen III, S. 22: „Es müßte für uns Juristen unerträglich sein, daß die Rechtskraft die erkennbar gewordenen Mängel unter ihren schützenden Mantel nimmt.“ Zu den Mitwirkungspflichten der Staatsanwaltschaft im Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten vgl. Grüner/Wasserburg, NStZ 1999, 286–291. 150  Bock/Eschelbach/Geipel/Hettinger/Röschke/Wille, GA 2013, 328 (344). Vgl. dazu Ratz, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 16 (51). 151  Zu den Aufgaben der Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren Rohregger, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 17. Kapitel. 152  Vgl. zum deutschen Recht oben, F. I. 1. a) bb), mit Nachweisen in Fn. 50. 153  So der Vorschlag von Leibold, Deal, S. 220–223. Zur Wahrungsbeschwerde Ratz, ÖJZ 2016, 592–598. 146  Vgl. 147  Vgl.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

chenebene, sondern dient zur Überprüfung materieller und formeller Rechtsfehler, so dass sich beide Rechtsbehelfe ergänzen.154 Sie ist gemäß § 23 Abs. 1 öStPO unbefristet und auch nach Rechtskraft zulässig. Antragsberechtigt ist nach § 23 Abs. 1 öStPO ausschließlich die Generalprokurat (§ 22 öStPO); anregungsberechtigt ist nach § 23 Abs. 2 S. 2 öStPO jedermann. Die Bedeutung der Wahrungsbeschwerde nach § 23 öStPO zur Kontrolle von Gesetzesverletzungen bei absprachenbasierten bestandskräftigen Urteilen im österreichischen Strafprozess bedürfte jedenfalls – auch unter der Berücksichtigung, dass wohl nicht geklärt ist, ob dieser Rechtsbehelf zugleich der Individualgerechtigkeit dient155 – einer genaueren Untersuchung.

3. Personenbezogene Maßnahmen Bei der Evaluierung der Möglichkeiten, wie sich Urteilsabsprachen verhindern lassen, muss auch der einzelne Berufsjurist im Mittelpunkt stehen. Denn das Strafrecht und die Justizgewährungspflicht liegen in der Verantwortung von denjenigen Personen, die den Prozess durchführen.156 Es geht deshalb um die Frage, wie Berufsjuristen persönlich vom Praktizieren der Urteilsabsprachen abgehalten werden könnten.157 Einzugehen ist dabei zunächst auf die Sicherstellung der fachlichen Befähigung der Richter, als auch auf die in einem Rechtsstaat gebotene Effektivität der Verteidigungsrechte. Des Weiteren geht es um Disziplinierungsmaßnahmen, die zur Verfügung stünden, um Berufsjuristen vom Einsatz der Urteilsabsprachen abzubringen. Gemeint ist hier die Strafdrohung gegen Berufsjuristen wegen der Beteiligung an Urteilsabsprachen. Bei der Verteidigung kommt die zivilrechtliche Anwaltshaftung für die Folgen einer „suboptimalen“ Urteilsabsprache hinzu. a) Weitere Professionalisierung der Aus- und Fortbildung der Strafrichter Qualitative Überforderung provoziert die Absprachenbereitschaft von Strafrichtern.158 Einer möglichen Überforderung ist deshalb entgegenzuwirken. Zur Erfüllung seiner Justizgewährungspflicht ist der Rechtsstaat zur 154  Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 11.15; Lewisch, in: WK‑StPO (2019), Vor §§ 352–363 Rn. 64 f. 155  Bejahend Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 11.73; zweifelnd Ratz, in: WK‑StPO (2017), § 292 Rn. 4. 156  Peters, Karl, Strafrechtsgestaltende Kraft, S. 43; vgl. ders., in: Dünnebier‑FS, 53 (54 f.). 157  Zu den Eigeninteressen als eine mutmaßliche Ursache der Urteilsabsprachen oben, B. II. 2. 158  Dazu oben, B. II. 1. b).



I. Vorschläge291

Einsetzung qualifizierter Richter verpflichtet, die nicht nur zu einer fehlerfreien Anwendung des Rechts, sondern auch zur richtigen Sachverhaltsermittlung und entsprechenden Feststellungen in der Lage sind.159 Eine fundierte Ausbildung der Richter in der Beweislehre ist für eine versierte richterliche Beweiswürdigung unverzichtbar, gegenwärtig aber wohl nicht stets ausreichend gewährleistet.160 Namentlich die Würdigung von Aussagen muss der aussagepsychologischen Methodik folgen und Priorität vor der mit der aussagenden Person verknüpften Glaubwürdigkeit haben.161 Durch die Beachtung von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie sogenannter „Realkennzeichen“ und „Lügensignale“ könnte ein methodischer Ablauf der Beweiswürdigung ermöglicht und das Dilemma eines intuitiven Vorgehens vermieden werden.162 Idealiter würden Berufsrichter davon abgehalten, das Ermittlungsergebnis aus den Akten in Urteilsform zu gießen und Urteilsabsprachen als Lösungsweg zu nutzen. Korrekturen bei der Ausbildung von Richteramtsanwärtern bzw. bei der Weiterbildung von Berufsrichtern erscheinen deshalb erforderlich, allerdings nicht nur im Hinblick auf das Praktizieren von informellen Urteilsabsprachen.163 Ohne eine obligatorische Aus- und Fortbildung in der Beweislehre scheint nicht hinreichend sichergestellt, dass Richter sich der Notwendigkeit einer effektiven Geständnisüberprüfung prinzipiell bewusst sind. Dies könnte sich ändern, wenn sie die Folgen einer lückenhaften Geständniskontrolle (besser) kennen würden. Eine der Ursachen für Fehlurteile ist das schlichte Akzeptieren von Geständnissen, denn diese können aus den unterschiedlichsten Gründen falsch sein.164 Auch unschuldige Angeklagte können dazu bereit sein, ein Geständnis abzulegen, und zwar aus Gründen, die erst mittels einer Kontrolle im Strengbeweisverfahren aufzudecken sind. Es erscheint deshalb wichtig, Richtern die Erforderlichkeit eines „falsifikatorischen Hypothesentestens“ zu verdeutlichen.165 Die Pflicht, ihre Entscheidung methodengeleitet im Urteil 159  Peters,

Karl, in: Dünnebier-FS, 53 (54, 57). oben, B. II. 1. b); vgl. für Deutschland v. Heintschel‑Heinegg, in: Breidling‑FS, 143 (146). 161  Grafl/Stempkowski, ÖJZ 2017, 62 (63); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 9: „Die Beweislehre muss sich neuen Erkenntnissen öffnen, die ihr aus der Sozial‑, Aussage- oder Gedächtnispsychologie zufließen, aber auch aus dem Bereich der Wahrscheinlichkeitsforschung sowie der Angewandten Kriminologie […].“ Zur Aussagepsychologie auch Tews, RZ 2005, 58–62. 162  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 261 Rn. 3.4–3.7, 9.8; Grafl/ Stempkowski, ÖJZ 2017, 62 (63, 66–70 m. w. N.). 163  Vgl. dazu Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (99 f.); Jost‑Draxl/Herrnhofer/Prachner, RZ 2018, 126 (127). 164  Dazu oben, D. I. 3. 165  Velten, GA 2015, 387 (391, 398). Zum „falsifikatorischen Hypothesentesten“ oben, B. III. 3. 160  Dazu

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

nachvollziehbar zu begründen, würde eine Selbst- und Fremdkontrolle ermöglichen, ob auf dem Weg zur Urteilsfindung „Alternativhypothesen“ gebildet und getestet wurden.166 Denn es sind unbewusst wirkende psychologische Faktoren, welche sowohl die Suche nach als auch die Eintaxierung von Informationen und damit die Neutralität der Gerichte beeinflussen.167 Kein Richter trifft absichtlich eine falsche Entscheidung oder fällt gar absichtlich ein Fehlurteil. Wenn Richter bei ihrer Urteilsfindung von sogenannten Dissonanzreduktionen bestimmt werden, dann liegt das nicht in der Persönlichkeit des einzelnen Richters begründet, sondern ist den unbewusst wirkenden psychologischen Effekten geschuldet. Pilgermair konstatiert: „Auch von der Justiz kann nämlich noch mehr kritische Selbstreflexion, Kritikfähigkeit und Bereitschaft zur Veränderung, etwa in Richtung Qualitätssicherung, erwartet werden. Es braucht das Bewusstsein und das Selbstverständnis, dass Fragen der Qualitätssicherung und ‑kontrolle keine Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit darstellen, sondern ein für die hohen Ansprüche der Gerichtsbarkeit auch an sich selbst unabdingbares Erfor­dernis.“168 Die Machtbefugnisse des Richters bleiben allein durch seine rechtsstaatliche Aufgabenbewältigung gerechtfertigt.169 Denn es ist der Richter, der den Strafprozess formt.170 b) Änderung der Zugangsvoraussetzungen für den Richterberuf Weiter wäre zu erwägen, für die Bekleidung des Amtes des Strafrichters anwaltliche Erfahrungen vorauszusetzen.171 In Großbritannien etwa müssen Berufsrichter den Anwaltsberuf einige Jahre ausgeübt haben, um das Richteramt antreten zu können.172 Anwaltliche Erfahrungen im Umgang mit der Wahrheit könnten helfen, das Verständnis der Justiz für die Arbeit der Verteidigung zu stärken.173 Österreichischen Strafrichtern fehlen bislang obligatorische Erfahrungen in der Rolle der Verteidigung, die nach dem System der Strafprozessordnung wenig eigene Macht innehat.174 Besäßen Strafrichter 166  Zur Wirkung von Kontrollmechanismen auf Machtinhaber Velten, GA 2015, 387 (395 f.). 167  Sautner, ÖJZ 2017, 902 (907). Dazu und zu den „Alternativhypothesen“ oben, B. III. 3. Siehe hierzu auch Effer‑Uhe/Mohnert, Psychologie für Juristen. 168  Pilgermair, in: Pilgermair, Wandel, 493 (510). 169  Pilgermair, in: Pilgermair, Wandel, 493 (509). 170  Peters, Karl, Strafrechtsgestaltende Kraft, S. 43. 171  Vgl. Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (99); Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (32). In Deutschland fordert dies etwa Paeffgen, StV 1999, 625. 172  König, in: DAV‑FS, 623 (629). 173  So für Großbritannien Loewenstein, Grossbritannien, S. 11. 174  Zu dem prozessualen Machtgefüge oben, B. II. 1. a) ee).



I. Vorschläge293

eigene Erfahrung auf diesem Gebiet, wäre eine Verteidigung, die der Justiz Arbeit bereitet, vermutlich besser nachzuvollziehen und würde dem Angeklagten nicht verübelt.175 Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht die Einwände der Verteidigung gegen seine Argumentationslinie als Anzweiflung der richterlichen Position versteht und unterbindet, könnte verringert werden.176 Den Auswirkungen strafprozessualer Machtverhältnisse könnte entgegengewirkt werden.177 Ausgehend von konkretisierten Fällen belegen empirische Untersuchungen, dass Strafjustizjuristen dazu bereit sind, härtere Sanktionen zu verhängen als die Bevölkerung.178 Strafrichter sind demnach, wie Velten feststellt, strafbereiter als die durchschnittliche Bevölkerung und sie messen dem Strafverfolgungsinteresse enormes Gewicht bei, wodurch stets ihre Bereitschaft beeinflusst werde, „Schuldige freizusprechen, um das Freiheitsinteresse von Unschuldigen zu wahren“.179 Anwaltliche Erfahrungen könnten helfen, dem Richter seinen Auftrag, „im Interesse Unschuldiger als Schiedsrichter zwischen Anklage und Verteidigung zu fungieren“180, zu erleichtern. Ein konsolidiertes Verständnis der eigenen Aufgabe und der davon beeinflusste Umgang mit der verliehenen Macht seitens der Strafrichter bliebe nicht ohne Auswirkung auf das Verhalten der Verteidigung, die bei engagiertem Verteidigungshandeln bisher Bedenken haben könnte, den Unmut des Gerichts auf sich zu ziehen.181 Neben finanziellen Interessen fürchten Strafverteidiger aufgrund ihrer strafprozessual bedingten Machtunterworfenheit dem eigenen Mandanten zu schaden, sollte nicht das Einvernehmen mit dem Richter gesucht werden, wodurch ihre Absprachenbereitschaft gefördert wird.182 Ohne eine solche Besorgnis wäre eine Verringerung der Absprachenbereitschaft seitens der Verteidigung zumindest nicht auszuschließen. Ihr Ruf nach Urteilsabsprachen könnte schwächer werden.183 Desgleichen ist nicht auszuschließen, dass das Gericht Absprachenangebote seltener unterbreiten würde, um seine Neutralität zu wahren. 175  Zu entsprechenden Praxisberichten oben, B. II. 1. a) ee). Dazu auch Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955); Lewisch, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 117 (121 f.). 176  Vgl. dazu in der deutschen Ausbildungsliteratur für angehende Richter: Föhrig, Kleines Strafrichter‑Brevier, S. 32–34, 56. 177  Zur Stärkung des richterlichen Berufsethos durch regelmäßigen Austausch mit der Verteidigung Pilgermair, in: Pilgermair, Wandel, 493 (509). 178  Sessar, Wiedergutmachen oder strafen, S. 216–221, 250–253. 179  Velten, in: SK‑StPO, Vor § 261 Rn. 17; dazu auch dies., GA 2015, 387 (405 f.). 180  Velten, GA 2015, 387 (406). 181  Velten, GA 2015, 387 (397). Dazu oben, B. II. 1. a) ee). 182  Hierzu oben, B. II. 2. c). 183  Dazu oben, C. II. 1. Diese Möglichkeit erscheint insbesondere dann nicht ausgeschlossen, wenn gleichzeitig die Verteidigungsrechte im gesamten Strafverfahren ausgebaut werden, dazu unten, G. I. 3. c).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Es erscheint deshalb nicht undenkbar, dass ein veranschaulichtes Rollenverständnis Einfluss auf die Urteilsabsprachenpraxis haben könnte.184 In einem Rechtsstaat muss alles Zulässige unternommen werden, um die Neutralität des Gerichts sicherzustellen. Zur Wahrung der Neutralität müsste auch eine stärkere Trennung zwischen Richtern und Staatsanwälten stattfinden, die bereits durch ausreichend räumliche Distanz zu kennzeichnen wäre. Gegenwärtige rechtssoziologische Realität ist aber, dass beinahe jeder Strafrichter als Staatsanwalt tätig war, der Wechsel eines Rechtsanwalts in die Strafjustiz jedoch geradezu impraktikabel ist, da per Gesetzesänderung die Gleichwertigkeit zwischen Anwaltsprüfung und Richteramtsprüfung beseitigt wurde.185 Umgekehrt müssen Staatsanwälte die Ernennungserfordernisse zum Richteramt erfüllen und mindestens ein Jahr als Richter oder Staatsanwalt gearbeitet haben (§ 174 Abs. 1 i. V. m. § 26 RStDG).186 Richter und Staatsanwälte bilden demnach praktisch einen „gemeinsamen Berufsstand“187. Es verwundert daher nicht, wenn Richter und Staatsanwalt als Einheit und die Verteidigung als deren einsamer Gegner wahrgenommen werden. Ein „Schulterschluss“ der Justizjuristen ist zumindest – nicht nur in der Absprachenpraxis – systembedingt vorprogrammiert.188 Hinzutretende „Perseveranz- und Inertia­ effekte“ beeinflussen als weitere unbewusste Gegebenheiten die Ergebnis­ offenheit des Gerichts;189 die Folgen können für den Angeklagten drastisch sein.190 Eine Änderung der Zugangsvoraussetzungen zum Richterberuf wäre ein weiterer Schritt zur Wahrung der Neutralität des Gerichts.191 c) Verbesserung der Verteidigungsrechte Will man Urteilsabsprachen verhindern, sind auch die Gründe zu berücksichtigen, welche die Verteidigung zur einvernehmlichen Verfahrenserledi184  Vgl. dazu Velten, GA 2015, 387 (405–408). Zur Rolle des Richters vgl. auch Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (395 f.). 185  Weh, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 94 (95). Pilgermair, in: Pilgermair, Wandel, 493 (512), plädiert für eine „Durchlässigkeit“ zwischen dem Beruf des Richters und des Staatsanwalts. 186  Dazu Moos, Reinhard, in: ÖJK, Strafverfolgung, 19 (22). 187  Moos, Reinhard, in: ÖJK, Strafverfolgung, 19 (22) unter Verweis auf Strasser, in: Pilgermair, Staatsanwaltschaft, 385 (388); ähnlich Rech, 15.  ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (35): „Zugehörigkeit zum selben Berufsstand“. 188  Vgl. Stuefer, JSt 2014, 105 (113). Zum „Schulterschluss“ oben, B. III. 3; D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 189  Zu den Effekten oben, B. III. 3. 190  Vgl. dazu etwa das Beispiel bei Eschelbach, in: Rissing‑van Saan‑FS, 115 (115–118). 191  Vgl. Eschelbach, in: Rissing‑van Saan‑FS, 115 (142).



I. Vorschläge295

gung antreiben. Zum einen kann dies, wie bereits festgestellt,192 die Verfolgung eigener Interessen sein. Die Aussicht auf Arbeitsersparnis und finan­ zielle Aspekte machen Urteilsabsprachen für die Verteidigung äußerst attraktiv.193 Zum anderen kann der Grund allerdings in der Befürchtung liegen, dem eigenen Mandanten mangels wirksamer Verteidigungsmöglichkeiten zu schaden, wenn das Verfahren nicht einvernehmlich mit der Justiz beendet wird.194 Reformüberlegungen zur Erweiterung von Verteidigungsrechten im Vor- und Hauptverfahren berücksichtigen das gegenwärtige Konstrukt der Strafprozessordnung in seinen Grundprinzipien. Dazu zählt die Bedeutung der traditionellen Hauptverhandlung mit den sie leitenden Grundsätzen ebenso wie die Personenidentität zwischen dem die Hauptverhandlung vorbereitenden und dem erkennenden Vorsitzenden.195 Da es nicht der Zielsetzung dieser Arbeit entspricht, einzelne Korrekturvorschläge zur Behebung missständlicher Verteidigungsrechte in Hauptverhandlung und Vorverfahren heraus­zuarbeiten und zu bewerten, sind die folgenden Ausführungen nur als Hinweise auf das Problemfeld zu verstehen. aa) In der Hauptverhandlung Die aus § 3 öStPO folgende Verpflichtung zur Objektivität der am Strafverfahren beteiligten Strafverfolgungsorgane bietet keine Gewähr für eine umfassende Sachverhaltsaufklärung, bei der be- als auch entlastende Umstände gleichförmig ermittelt werden.196 Der Grundsatz der Waffengleichheit besagt als zentraler Bestandteil des Fairnessgebotes aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, dass einander gegenüberstehende Verfahrensbeteiligte gleichgestellt werden sollen.197 Verteidigung dient der Herstellung von Waffengleichheit, sodass eine Kontrolle des Schuldvorwurfs in einem fairen Verfahren erfolgen kann. Die Verteidigung agiert deshalb stets parteilich auf Beschuldigtenseite, denn nur so scheint eine Art Kompensation der prävalenten Machtmittel der Justiz möglich.198 Der Verteidigung kommt eine Aufklärungsfunktion

192  Oben,

B. II. 2. c). JSt 2010, 10 (11). 194  Zur Misslichkeit der Verteidigung, dem Mandanten den Strafmilderungswert für sein Geständnis nicht mitteilen zu können, oben, G. I. 2. c) und Kier/Bockemühl, Österreichisches AnwBl 2010, 402 (414). 195  Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 8.36. 196  Siehe oben, B. III. 3. und D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 197  Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 67; dazu auch Zöchbauer, Medien und Recht 2007, 65 (66). 198  So zum deutschen Recht Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 40. Ebenso Todor‑Kostic, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 2.43. 193  Essl,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

zu.199 Sie trägt maßgeblich zur Wahrheitsfindung im Strafprozess bei, denn es ist ihre rechtsstaatliche Aufgabe, entlastende Beweismittel zu präsentieren und darauf zu achten, dass der Grundsatz der Objektivität und Neutralität im Verfahren nicht vernachlässigt wird.200 Die Verteidigung ist als „Verkörperung der Alternativhypothese“201 verpflichtet, die Sicht der Strafverfolgungsbehörde im Interesse ihres Mandanten in Frage zu stellen.202 Eine aktive und sachkundige Verteidigung ist für eine kompetente Strafrechtspflege deshalb ebenso essenziell wie der unabhängige Richter.203 Nach dem normativen Programm der Strafprozessordnung hat Verteidigung in der Hauptverhandlung stattzufinden. Hier soll die Verteidigung Gelegenheit haben, die Beweisaufnahme zu beeinflussen und das Gericht auf Ermittlungsmängel des Vorverfahrens aufmerksam zu machen.204 Die der Verteidigung im Hauptverfahren eingeräumten Rechte sind jedoch unbefriedigend und ein kritisches Agieren gegenüber der Justiz unter Strafverteidigern deshalb anscheinend nur gering verbreitet.205 Vielmehr wird offenbar oftmals kapituliert und versucht, das Gericht möglichst milde zu stimmen, damit der Mandant beim Strafmaß nicht dessen Missfallen zu spüren bekommt. Unzureichende Rechte in der Hauptverhandlung machen die Verteidigung somit anfällig für ein gerichtliches Angebot zur einvernehmlichen Verfahrenserledigung und erhöhen gleichzeitig die Attraktivität der eigenen Initiativergreifung dazu. Eine Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung erscheint deshalb erforderlich. Als Reformvorschlag wird insbesondere das sogenannte „Wechselverhör“ – die Übertragung der vorrangigen Vernehmung vom Richter auf die Parteien – diskutiert, um eine bessere Verfahrensbalance zu erzielen und einem durch Dissonanzreduktionen kausierten „konfirmatorischen Hypothesen­ testen“206 des Richters bei der Befragung von Auskunftspersonen entgegen199  Jolmes, Verteidiger, S. 98. Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.30, spricht von „Überwachungs- und Schutzfunktion“. Zu den Funktionen der Verteidigung auch unten, G. I. 3. e). 200  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (187 f.); Wolff, in: Pilgermair, Wandel, 365 (366 f.); Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (159 f.); Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.33 f. 201  Velten, GA 2015, 387 (402). Zur „Alternativhypothese“ oben, B. III. 3. 202  Hirsch, 3.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 164; Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131 f.); Lagodny, RichterInnenWoche (2010), 239 (251); Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187. 203  Bertel, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 9 (19). 204  Zur Verteidigung in der Hauptverhandlung Stuefer, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 11. Kapitel. 205  Hierzu oben, B. II. 1. a) ee). 206  Zum „konfirmatorischen Hypothesentesten“ unten, B. III. 3.



I. Vorschläge297

zuwirken.207 Dass der Verteidigung im Rahmen von Vernehmungen das Fragerecht zuletzt erteilt wird, ist reguläre Praxis,208 läuft aber einer effektiven Verteidigung und dem Fairnessgebot aus Art. 6 EMRK zuwider, denn die strukturell bedingt vorgefasste Meinung des Gerichts kann auf diese Weise wegen unbewusst wirkender psychologischer Faktoren kaum mehr beeinflusst werden.209 Weitere Reformvorschläge betreffen etwa die Abschaffung der Aktenkenntnis des Gerichts aufgrund der einseitigen Informationsgewinnung durch die Ermittlungsbehörden,210 die Reduzierung der Anforderungen an aufzunehmende Beweisanträge (§ 238 i. V. m. § 55 Abs. 1, 2 öStPO)211 oder die verpflichtende Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung zu Kon­ trollzwecken.212 Nach der geltenden Rechtslage besteht weiterhin das Problem, ein unvoreingenommenes Tätigwerden des Sachverständigen in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Dies ergibt sich daraus, dass der von der Staatsanwaltschaft für das Ermittlungsverfahren bestellte Sachverständige vom Gericht wegen 207  Dazu insbesondere Moos, Reinhard, ÖJZ 2003, 369 (375–377). Zum Alternativvorschlag einer sogenannten „strukturierten Vernehmung“ Schmoller, in: WK‑StPO (2016), § 2 Rn. 28; ders., RZ 2011, 188–194; diesem zustimmend Schwaighofer, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung, 45 (46 f.). Beide Vorschläge ablehnend Danek/Mann, in: WK‑StPO (2017), Vor §§ 228–279 Rn. 16. Zu den Reformvorschlägen auch Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 31 (38); Lambauer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005), 46 (47 f.); Miklau, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005) 53 (53 f.); Venier, JSt 2009, 39; Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (59–64); Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (72 75); Plöckinger, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 77 (80 f.); Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (98); Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (108 f.). Vgl. auch die Beschlüsse des 13. Österreichischen StrafverteidigerInnentages, 13.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 153; Caspar‑Bures, JSt 2017, 99 (102). 208  Kirchbacher, in: WK‑StPO (2015), § 249 Rn. 22; Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (98); Caspar‑Bures, JSt 2017, 99 (101); Danek/Mann, in: WK‑StPO (2017), § 232 Rn. 11. 209  Caspar‑Bures, JSt 2017, 99 (101 f. m. w. N.). Zu den psychologischen Faktoren bei der Urteilsfindung oben, B. III. 3. 210  Venier, 7. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2009), 13 (26–34); Murschetz, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (59–64). 211  Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 65 (74); Stue­ fer, JSt 2014, 105 (112 f.). Zu den hohen Anforderungen im Hauptverfahren: Schmoller, in: WK‑StPO (2011), § 55 Rn. 31–37; ders., JSt 2017, 421 (424); Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (42–44); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 55 Rn. 1, 3–32; Bartl, JSt 2017, 461; Todor‑Kostic, JSt 2017, 470. 212  Stuefer, JSt 2014, 105 (115). Zu den Vorteilen audiovisueller Aufzeichnungen auch unten, G. I. 3. c) bb) (4); zur damit einhergehenden Entlastung des Gerichts oben, G. I. 1. c).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

des Ökonomiegebots aus § 126 Abs. 2c öStPO regelmäßig auch für das Hauptverfahren eingesetzt werden wird.213 Nach Anklageerhebung wird die Staatsanwaltschaft zur Partei. Im Ermittlungsverfahren agiert der Sachverständige somit für die künftige Anklagepartei.214 Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Objektivität (§ 3 öStPO) entschärft dieses Problem nicht, da ihr bereits aufgrund ihrer verfahrensrechtlichen Position – auch vom Gesetzgeber (vgl. § 101 Abs. 2 S. 2 öStPO) – nicht derselbe Grad an Objektivität zugestanden wird wie dem Gericht.215 Der VfGH hat zwar mit Erkenntnis vom 10.03.2015216 festgestellt, dass es einem Angeklagten nicht von vornherein verwehrt sein dürfe, im Hauptverfahren die Befangenheit eines Sachverständigen mit der Begründung geltend zu machen, dass dieser bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewesen sei. Die vom VfGH für verfassungswidrig erklärte Wortfolge „Sachverständigen oder“ in § 126 Abs. 4 S. 3 öStPO wurde deshalb durch das StRÄG 2015217 zum 1. Januar 2016 aufgehoben.218 An benannter Stelle konstatiert der VfGH jedoch zugleich, dass ein Sachverständiger auch weiterhin für die Bestellung in der Hauptverhandlung nicht allein deshalb ausgeschlossen werden könne, weil er bereits im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft beigezogen worden sei.219 Das Gericht habe vielmehr im Rahmen einer Einzelfallprüfung eine allfällige objektive Befangenheit anhand der Regelung des § 47 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 126 Abs. 4 S. 1 öStPO zu beurteilen.220 Die Maßstäbe dieser Prüfung bleiben allerdings offen.221 Privatgutachten können nach dem StPRÄG 2014222 nun zwar gemäß § 222 Abs. 3 S. 2, 2. Hs. öStPO in die Hauptverhandlung eingebracht wer213  Schmoller, JBl 2014, 340; Dietrich, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 5.48. 214  Prochaska/Preuschl, Österreichisches AnwBl 2014, 673 (674). 215  JAB 406 BlgNR 22. GP 14 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/ VHG/XXII/I/I_00406/fname_016814.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]; Świder­ski, ÖJZ 2014, 956 (960). Siehe dazu auch oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). Vgl. dagegen Schmoller, GA 2019, 270 (280). 216  VfGH 10.03.2015, G 180/2014 u. a. 217  StRÄG 2015, öBGBl I 2015/112. 218  Hierzu Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (348 f.); Prochaska/ Preuschl, Österreichisches AnwBl 2014, 673 (678); Wess/Rohregger, JSt 2014, 200 (207 f.); Riffel, RZ 2014, 238 (242–245). 219  Vgl. hierzu OGH 22.07.2015, 15 Os 147/14b; RIS-Justiz RS0130055; RS0130056. Vgl. auch Ratz, ÖJZ 2015, 835 (839). 220  VfGH 10.03.2015, G 180/2014 u. a. 221  Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (352). Hierzu auch OGH 22.07.2015, 15 Os 147/14b. Zum notwendigen Verteidigungsvorbringen Dietrich, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 5.52. 222  ÖBGBl I 2014/71, in Kraft getreten am 01.01.2015.



I. Vorschläge299

den. Jedoch besteht diese Möglichkeit nur, wenn sich auch die Anklage auf ein Sachverständigengutachten stützt. Das Bundesministerium für Justiz merkt in seinem Einführungserlass zum StPRÄG 2014 an, dass aus der Klarstellung des § 222 Abs. 3 S. 2, 2. Hs. öStPO kein Verlesungsgebot gemäß § 252 Abs. 2 öStPO für Privatgutachten in der Hauptverhandlung abgeleitet werden könne.223 Damit folgt es der ständigen Rechtsprechung des OGH, wonach Privatgutachten mangels eigenständigen Beweiswerts in der Hauptverhandlung nicht zu verlesen und im Urteil nicht zu erörtern seien, weil der kontinentaleuropäische Strafprozess kein Streit gleichberechtigter Parteien sei, sondern die richterliche Suche nach der materiellen Wahrheit.224 Privatgutachter seien keine Sachverständigen im Sinne der Strafprozessordnung, „aus welchem Grund ihre Schlussfolgerungen und Meinungen prozessual unbeachtlich sind“.225 Privatgutachten bleiben somit beweisrechtlich wertlos.226 Das dem Privatgutachter als Person mit besonderem Fachwissen gemäß § 249 Abs. 3 S. 2 öStPO jetzt eingeräumte unmittelbare Fragerecht an den gerichtlich bestellten Sachverständigen scheint zur Kompensation nicht ausreichend.227 Reformen der Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung stehen somit weiter aus. Zur Sicherstellung eines rechtstaatlichen Verfahrens erscheint die Verbesserung der Verteidigungsrechte in der Haupt-

223  Einführungserlass zum StPRÄG 2014, S. 29 (Einführungserlass abgedruckt bei: Tipold, StPO mit Strafprozessrechtsänderungsgsetz 2014). 224  OGH 11 Os 101/13g (11 Os 139/13w) Österreichisches AnwBl 2014, 506; 25.11.2014, 11 Os 103/14b (11 Os 104/14z); RIS-Justiz RS0115646; hierzu insbesondere 11 Os 26/16g Österreichisches AnwBl 2017, 14; vgl. auch jüngst OGH 13 Os 64/18p EvBl 2018/142, 975 (976). Lesenswert ebenfalls OLG Wien 19 Bs 300/16f JSt 2017, 370–374 mit Anm. Baier/Soyer. Vgl. auch Ratz, ÖJZ 2015, 23 (23 f.); Kirschenhofer, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.02 2015), § 126 Rn. 7a, 11a. A. A. aber Schmieder, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 101 (104). 225  OGH 13 Os 64/18p EvBl 2018/142, 975 (976); vgl. Ratz, in: WK‑StPO (2015), § 281 Rn. 435. 226  Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (349–351), der dies heftig kritisiert. Ähnlich Pleischl, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 85 (97 f.); Nemec, Martin, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 107 (108); Dietrich, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 5.62–5.64; Wiesinger, JSt 2017, 530 (534); Beschlüsse des 15. Österreichischen StrafverteidigerInnentages, JSt 2017, 472. Vgl. auch Schmoller, JSt 2017, 421 (425 f.), der einen eigenen Vorschlag zum Umgang mit Privatgutachten unterbreitet. Siehe allerdings auch OLG Wien 19 Bs 300/16f JSt 2017, 370 (372 f.) mit Anm. Baier/Soyer, wonach § 249 Abs. 3 öStPO (i. d. F. StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71) bei der Frage des Anspruchs eines Freigesprochenen auf Kostenersatz für einen beigezogenen Privatgutachter Beachtung finden müsse. 227  Vgl. dazu Dietrich, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 5.31; a. A. Ratz, ÖJZ 2015, 23; ders., ÖJZ 2018, 951 (958).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

verhandlung geboten, wenn ein verändertes Vorgehen der Verteidigung anvisiert werden soll. bb) Im Ermittlungsverfahren Bei der Forderung nach verbesserten Verteidigungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung sollte nicht vernachlässigt werden, dass das vom Gesetzgeber gezeichnete Bild der Hauptverhandlung als Zentrum des Strafverfahrens (§ 13 Abs. 1 öStPO) bei Lichte betrachtet überholt scheint. Die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens erschöpft sich heute nicht mehr allein in der Vorbereitung der Entscheidung, ob Anklage erhoben wird oder nicht (vgl. § 91 Abs. 1 öStPO). Insbesondere die grundsätzliche Zuweisung der Vernehmungskompetenz an die Staatsanwaltschaft bzw. Polizei (§ 101 öStPO) und die Diversionsregelungen (§§ 198 ff. öStPO), wonach der Staatsanwaltschaft weitreichende Einstellungsmöglichkeiten des Verfahrens ohne Zustimmungserfordernis des Gerichts zustehen, haben zur Expansion staatsanwaltschaft­ licher Machtbefugnisse geführt.228 Zudem ist die Hauptverhandlung häufig eine bloße Bestätigung des polizeilichen Ermittlungsergebnisses. Ein in der Praxis aufgrund von „Perseveranz‑, Inertia‑ und Schulterschlusseffekten“ nicht selten anzutreffendes „konfirmatorisches Hypothesentesten“ des Richters bei der Stoffsammlung und Beweiswürdigung zeigt, dass Fakten, die nicht schon im Ermittlungsverfahren, sondern erst in der Hauptverhandlung vorgetragen werden, den Richter bei seiner Urteilsfindung kaum mehr beeinflussen können.229 Ermittlungsfehler aus dem Vorverfahren kann die Verteidigung realistisch gesehen dann nicht mehr beseitigen. Verlässt sich der Staatsanwalt auf das polizeiliche Ermittlungsergebnis und übernimmt dies in seine Anklageschrift, sind letztlich die polizeilichen Annahmen auch für die Entscheidungsfindung des Gerichts bestimmend.230 Legt man dies zugrunde, dann bedeutet eigentlich jede Maßnahme im Vorverfahren einen Vorgang abschließender Beweisaufnahme, wodurch der Grundsatz der Unmittelbarkeit betroffen ist.231 Das Ermittlungsverfahren hat für den Beschuldigten neben den Auswirkungen auf sein soziales Umfeld insbesondere eine rechtliche Bedeutung, denn während eines laufenden Ermittlungsverfahrens bestehen viele Eingriffsmöglichkeiten in den Rechtskreis des Beschuldigten.232

228  Seiler,

Strafprozessrecht, Rn. 243 f.; vgl. dazu Venier, ÖJZ 2009, 591 (596). GA 2015, 387 (409); siehe oben, B. III. 3. 230  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (188); dazu oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 231  Richter II, StV 1985, 382 (386). 232  Richter II, StV 1985, 382 (385). 229  Velten,



I. Vorschläge301

Dem Beschuldigten bzw. der Verteidigung müssten deshalb bereits im Ermittlungsverfahren weitreichende Rechte zur Verhinderung bzw. Aufklärung von Ermittlungsirrtümern eingeräumt werden.233 Ein weiterer Ausbau der Verteidigungsrechte im Vorverfahren wäre unerlässlich, um dem Macht­ anstieg seitens der Staatsanwaltschaft zu begegnen. Eine Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ist gegenwärtig nicht gegeben. Die Herstellung vollkommener Waffengleichheit erscheint aufgrund des der Staatsanwaltschaft zustehenden Ermittlungsapparates (§§ 98 Abs. 1 S. 2, 99 Abs. 1 öStPO) zwar illusorisch. Indes verpflichtet der Grundsatz der Waffengleichheit den Strafprozessgesetzgeber, die Beziehung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die gemäß § 57 Abs. 2 S. 1 öStPO die Rechte für den Beschuldigten ausübt, zumindest prinzipiell gleichberechtigt zu regeln. Beschuldigter und Verteidigung können auf den Ablauf des Vorverfahrens heute in stärkerem Umfang einwirken. Zuletzt wurden die Verteidigungsrechte durch das StPRÄG I 2016234 und das StPRÄG II 2016235 verbessert. Dennoch besteht weiter Reformbedarf, denn die vom Gesetzgeber gewählten Lösungen kommen den im Schrifttum aufgestellten Forderungen nach Waffengleichheit nicht immer am nächsten.236 Die Verteidigung benötigt eine reale Chance, die Wahrheitssuche im Strafverfahren ihrer rechtsstaatlichen Rolle entsprechend zu beeinflussen und den Beschuldigten vor der „Maschinerie der Strafverfolgung“237 zu schützen. Dadurch könnte die Verteidigung davon abgehalten werden, in der Hauptverhandlung resigniert lediglich Schadensbegrenzung zu betreiben und das Einvernehmen mit dem Richter zu suchen. Zum anderen könnte die Verteidigung Urteilsabsprachen nicht mit der Ausrede praktizieren, in einer Hauptverhandlung wären Fehler bzw. Irrtümer aus dem Ermittlungsverfahren ohnehin nicht mehr zu beseitigen, weil der Ausgang des Strafverfahrens bereits im Vorverfahren ohne wirksames Zutun der Verteidigung besiegelt werde. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verlangt im Strafverfahren die Gewährleistung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten 233  Im Rahmen der Diskussionsbeiträge zum StPRefG 2004 forderten dies etwa Ainedter, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 23; Moringer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 38 (39 f.). Nach Gallauner, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 91 (93), kommen sowohl die entscheidendsten als auch die häufigsten Rechtsverstöße im Ermittlungsverfahren vor. Vgl. aber ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 37 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/ VHG/XXII/I/I_00025/imfname_001986.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 234  StPRÄG I 2016, öBGBl I 2016/26, in Kraft getreten am 01.11.2016. 235  StPRÄG II 2016, öBGBl I 2016/121, in Kraft getreten am 01.01.2017. 236  Siehe dazu etwa Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (33); Murschetz, ÖJZ 2010, 650 (655); Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (37, 46); Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (189 f.); Burgstaller, in: ÖJK, Strafverfolgung, 59 (84). 237  Moringer, 1. StrafverteidigerInnentag (2003), 38 (44).

302

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

zum frühestmöglichen Zeitpunkt.238 Als Verbesserungsvorschläge könnten im Hinblick auf die geforderte Waffengleichheit etwa in Betracht kommen: (1) Aufhebung der erheblichen Einschränkungen beim frühen Kontakt zwischen Beschuldigtem und Verteidigung Nach der bis zum 31.10.2016 gültigen Strafprozessordnung i.  d.  F. öBGBl I 2004/19 war der Beschuldigte bei der Hinzuziehung eines Verteidigers als Rechtsbeistand deutlich beschränkt, was heftig kritisiert wurde.239 Insbesondere § 59 Abs. 1 S. 2 öStPO a. F., wonach der festgenommene Beschuldigte bei seinem Verteidigerkontakt überwacht werden durfte, wurde bemängelt.240 Ebenso stand die weit gefasste Minimierungsmöglichkeit des Verteidigerkontakts auf eine allgemeine Rechtsauskunft gemäß § 59 Abs. 1 S. 2 öStPO a. F. im Widerspruch zu Art. 6 Abs. 3 lit. b und c EMRK sowie zum verfassungsrechtlichen Sachlichkeitsgebot und sie diskreditierte effektive Verteidigungsmöglichkeiten bereits am Anfang des Strafverfahrens.241 Dies widerstritt den in §§ 1–17 öStPO festgeschriebenen Grundsätzen des Strafverfahrens.242 In einem rechtsstaatlichen Verfahren muss dem Festgenommenen vor seiner Vernehmung eine nicht überwachte Verteidigerkommunikation zustehen.243 Eine Beschränkung des Verteidigerkontakts muss die absolute Ausnahme sein.244 Zum Teil wurde deshalb eine Begrenzung auf schwere Straftaten gefordert, oder eine Beschränkung auf Verfahren verlangt, die im Zusammenhang mit Terrorismus oder kriminellen Vereinigungen ste238  Schachermayer, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 86 (87); Schumann/Bruckmüller/Soyer, JSt 2011, 175 (175, 183). 239  Siehe z. B. Soyer, ÖJZ 2005, 555 (561); ders., Österreichisches AnwBl 2007, 21 (24 f.); ders., 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (135); Moos, Reinhard, in: Miklau‑FS, 331 (343–347); Venier, in: Miklau-FS, 609 (615); ders., 1. Dreiländerforum (2011), 187 (189); Heissenberger, RZ 2007, 82 (86–91); Schmoller, GA 2009, 505 (514); Lechner, Stellung, S. 79–95; Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (39 f.); Schünemann, RichterInnenwoche (2010), 9 (19); Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 147; Ruhri, in: ÖJK, Strafverfolgung, 87 (91). 240  Exemplarisch Moos, Reinhard, in: Miklau-FS, 331 (345 f.); Venier, ÖJZ 2009, 591 (594 f.); Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament, 29 (39 f.); Roitner, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 129 (159–172); Lagodny, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 265 (281 f.). 241  Moos, Reinhard, in: Miklau‑FS, 331 (346  f.); Venier, in: Miklau‑FS, 609 (615); ders., 1. Dreiländerforum (2011), 187 (189); Roitner, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 129 (164 f., 179). 242  Venier, in: Miklau‑FS, 609 (615). 243  Schmoller, GA 2009, 505 (514); Roitner, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 129 (158). 244  Roitner, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume, 129 (165).



I. Vorschläge303

hen.245 Des Weiteren übernahm im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung die Verteidigung nach § 164 Abs. 2 öStPO a. F. nur einen inaktiven Part, denn an der Vernehmung selbst durfte sie sich in keiner Weise beteiligen und sich mit dem Beschuldigten auch nicht über die Beantwortung einzelner Fragen besprechen, sondern erst nach Abschluss der Vernehmung ergänzende Fragen an den Beschuldigten richten.246 Nach § 164 Abs. 2 S. 3 öStPO a. F. konnte von der Verteidigerbeiziehung sogar gänzlich abgesehen werden. Eine Ton- oder Bildaufnahme war in diesem Fall gemäß § 164 Abs. 2 S. 4 öStPO a. F. nicht zwingend anzufertigen. § 164 Abs. 2 öStPO a. F. wurde deshalb – nicht zuletzt wegen seiner unbestimmten Rechtsbegriffe – missbilligt.247 Im Zuge der Umsetzung der RL 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2013248 wurde das Recht des Beschuldigten auf Beistand eines Verteidigers mit dem StPRÄG I 2016249 und dem StPRÄG II 2016250 ausgebaut und präzisiert, wodurch auch die Vorschriften der § 59 öStPO und § 164 Abs. 2 öStPO geändert wurden. So darf nun nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 59 Abs. 3 öStGB die Kommunikation zwischen Verteidigung und Beschuldigtem nicht mehr überwacht werden. § 59 Abs. 1 S. 1 öStPO bestimmt, dass dem festgenommenen oder zur sofortigen Vernehmung vorgeführten (§ 153 Abs. 3 öStPO) Beschuldigten vor seiner Vernehmung die Verständigung, Beiziehung und Bevollmächtigung eines Verteidigers zu ermöglichen ist. Die Beschränkungsvoraussetzungen des Kontakts zwischen festgenommenem Beschuldigten und Verteidiger bis zur Einlieferung in die Justizanstalt sind jetzt in § 59 Abs. 2 öStPO geregelt. Diese Neuformulierung der Beschränkungsvoraussetzungen des Verteidigerkontakts ist im Vergleich zur vorherigen Rechtslage restriktiver. Dennoch kann sie unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bereits deshalb nicht überzeugen, weil nicht näher konkretisiert wird, was genau eine die Beschrän245  Venier,

ÖJZ 2009, 591 (595); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 59 Rn. 6. u. a., Die Rechtspraxis, S. 147; Schumann/Bruckmüller/Soyer, JSt 2011, 175 (181 f.). 247  Siehe Fuchs, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 13 (21); Soyer, Österreichisches AnwBl 2007, 21 (25); ders., 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (135); Murschetz, ÖJZ 2010, 650 (655). 248  RL 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. Nr. L 294/1 v. 06.11.2013. 249  Siehe Fn. 234. 250  Siehe Fn. 235. 246  Birklbauer/Stangl/Soyer

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

kung rechtfertigende „erhebliche Beeinträchtigung“ darstellt.251 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bringt stets die Gefahr ihres extensiven Einsatzes mit sich. Die Rechte der Verteidigung während einer Beschuldigtenvernehmung bleiben in § 164 Abs. 2 öStPO geregelt. Allerdings darf sich die Verteidigung gemäß § 164 Abs. 2 S. 3 und S. 4 öStPO auch weiterhin an der laufenden Vernehmung ihres Mandanten nicht beteiligen. Über die Beantwortung einzelner Fragen darf sich der Beschuldigte mit der Verteidigung nicht beraten (§ 164 Abs. 2 S. 4 öStPO). Die Materialien252 zum Ministerialentwurf des StPRÄG 2015253 hatten sich noch für eine solche Beratung ausgesprochen.254 Die Verteidigung darf gemäß § 164 Abs. 2 S. 3 öStPO lediglich nach Abschluss der Vernehmung oder nach thematisch zusammenhängenden Abschnitten Fragen an den Beschuldigten richten und Erklärungen abgeben. Dieses Fragerecht ist nicht ausreichend.255 Ohne aktive Mitwirkungsrechte während der Befragung kann die Verteidigung ihre Beratungs- und Artikulierungsfunktion nicht erfüllen.256 Die RL 2013/48/EU schreibt zwar nur das Fragerecht der Verteidigung während der Beschuldigtenvernehmung fest, ohne einen Zeitpunkt für die Ausübung dieses Rechts zu benennen.257 Die RL 2013/48/EU fixiert in diesem Zusammenhang aber die effektive Verteidigerteilnahme an Beschuldigtenvernehmungen.258 Effektivität ist gerade nicht gewährleistet, wenn der Verteidigung ein Fragerecht erst nach Vernehmungsabschluss zusteht. Die aufgrund von „Inertia- und Perseveranzeffekten“ aufgestellte Täterhypothese des Vernehmungsbeamten beeinflusst auch die Fragerichtung bei Vernehmungen.259 Fragensteller sind bei Vernehmungen un251  Atzl,

(135).

ÖJZ 2017, 815 (818 f.); vgl. auch Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129

252  171/ME 25. GP Erläut 15  f. [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXV/ME/ME_00171/fname_480494.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]; 171/ME 25. GP WFA 9 [abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/ XXV/ME/ME_00171/fname_480496.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 253  ME StPRÄG 2015, 171/ME 25. GP [abrufbar unter: https://www.parlament.gv. at/PAKT/VHG/XXV/ME/ME_00171/fname_480493.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 254  Vgl. dazu auch BMJ, Arbeitsgruppe Strafprozess, Schlussbericht, S. 22 [Internetquelle]. 255  Atzl, ÖJZ 2017, 815 (818). 256  Schumann, Stefan, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung, 21 (25 f.). Zu den beiden Funktionen Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.24–1.28. Zu den Funktionen der Verteidigung auch unten, G. I. 3. e). 257  RL 2013/48/EU (siehe Fn. 248), Rn. 25. Darauf wird auch hingewiesen in 171/ME 25. GP Erläut 15 f. (abrufbar unter: siehe Fn. 252). 258  RL 2013/48/EU (siehe Fn. 248), Rn. 25. 259  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (193); ders., ZAP 2013 Fach 22, 661 (661 f.). Dazu bereits oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa).



I. Vorschläge305

entwegt suggestiven Einwirkungen ausgesetzt, weshalb Vernehmungssitua­ tionen so zu strukturieren sind, dass mittels anderer Informationen der materielle Sachverhalt erfragt werden kann.260 Ohne Einwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung auf die laufende Beschuldigtenvernehmung ist eine effektive Teilnahme der Verteidigung ihrer rechtsstaatlichen Funktion als „Verkörperung der Alternativhypothese“261 entsprechend nicht gegeben. Denn das Momentum der Informationsübermittlung ist entscheidend.262 Geltung beanspruchen vor dem Hintergrund der beschriebenen „Inertia- und Perseveranzeffekte“ deshalb auch im Ermittlungsverfahren die zum Fragerecht der Verteidigung in der Hauptverhandlung nach § 249 Abs. 2 öStPO angestellten Überlegungen, wonach die Wahrheitssuche maßgeblich dadurch moduliert wird, „wer wann welche Fragen stellen darf“263. Ein Fragerecht nach Vernehmungsabschluss besitzt kaum Wirkungsintensität. Dies gilt auch für ein Fragerecht nach jeweils thematisch zusammenhängenden Abschnitten, weil sich diese Abschnitte ausweislich der Materialien zum StPRÄG I 2016 als eigenständige, in sich abgeschlossene Vernehmungskomplexe begreifen lassen.264 Zudem erlangt ein Fragerecht nach Abschnitten wohl nur in Umfangsverfahren oder anderweitig komplexen Strafverfahren Bedeutung.265 Ebenso dürfen nach den Materialien die Erklärungen ausschließlich prozessualer Natur sein oder Verfahrensabläufe betreffen (z. B. Übersetzungsprobleme des beigezogenen Dolmetschers oder den Zeitmangel bei der Beratung vor der Vernehmung thematisieren), jedoch keine inhalt­ lichen Aspekte oder die Schuldfrage, weil andernfalls die Erklärung des Verteidigers an die Stelle der Aussage des Beschuldigten träte.266 Damit ist für die sachbezogene Verteidigung des Beschuldigten nichts gewonnen.267 Schließlich versäumt § 164 Abs. 2 S. 6 öStPO bei Vernehmungen des Beschuldigten, die auf Anordnung gemäß § 164 Abs. 2 S. 5 öStPO zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Ermittlungen oder einer Beeinträchtigung von Beweismitteln ohne Beiziehung eines Verteidigers stattfinden, die verpflichtende Anfertigung einer Ton- oder Bildaufnahme einzuführen.268 260  Pfaffenlehner, 13.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 131 (132 f.); vgl. auch Sautner, ÖJZ 2017, 902 (906 f.). 261  Velten, GA 2015, 387 (402). 262  Velten, GA 2015, 387 (402). 263  Lagodny, RichterInnenwoche (2010), 239 (251); hierzu oben, B. II. 1. a) ee). 264  ErläutRV 1058 BlgNR 25. GP 19 [abrufbar unter: https://www.parlament. gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01058/fname_517378.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 265  Vgl. ErläutRV 1058 BlgNR 25. GP 19. 266  ErläutRV 1058 BlgNR 25. GP 20. 267  Atzl, ÖJZ 2017, 815 (818). 268  Zur zwingenden Videoaufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen ohne Verteidigeranwesenheit vgl. auch die Beschlüsse des 13. Österreichischen Strafvertei-

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Dieser Aspekt wiegt umso schwerer als offen bleibt, was „eine erhebliche Gefahr für die Ermittlungen oder eine Beeinträchtigung von Beweismitteln“ sein soll, die das Unterbinden einer Verteidigerbeiziehung rechtfertigt.269 Bereits diese knappe Kritik an vereinzelten Neuregelungen270 sollte verdeutlichen, dass trotz Erweiterung der Verteidigungsrechte weiterhin rechtsstaatlich nicht vertretbare Beschränkungen bei der Hinzuziehung des Verteidigers als Rechtsbeistand des Beschuldigten bestehen. (2) Gewährung eines uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts und eines eigenen Beweisantragsrechts Effektive und professionelle Verteidigung verlangt umfassende Kenntnis der Aktenlage, was das Akteneinsichtsrecht zu einem zentralen Beschuldigtenrecht (§ 49 Nr. 3 öStPO) im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EMRK macht.271 Das Recht auf Akteneinsicht umfasst nach § 51 Abs. 1 öStPO grundsätzlich sämtliche Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Grundsatz der Aktenvoll­ ständigkeit).272 Seine Beschränkungsklausel hat § 51 öStPO in Abs. 2. Diese Klausel ermöglicht beispielsweise, dass bei einem geheim gehaltenen Einsatz von sogenannten kriminalpolizeilichen Vertrauenspersonen bzw. V‑Männern im Aktenbestand sämtliche Schriftstücke fehlen, welche auf ihren Einsatz schließen lassen. Die ungenaue Formulierung zum erforderlichen Gefährdungsgrad und die fehlende Begründungspflicht der Entscheidung über eine Akteneinsichtsbeschränkung in § 51 Abs. 2 öStPO begünstigen eine missbräuchliche Verwendung.273 Ohne erschöpfende Kenntnis vom Untersuchungsgang scheint eine qualifizierte Verteidigung kaum möglich. Auch sonst bestehen für die Verteidigung hinsichtlich der Aktenführung Unabwägbarkeiten. Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft sind zwar zu einer am Grundsatz der Aktenvollständigkeit orientierten Aktenbildung und Aktenführung verdigerInnentages, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 153. Hierzu auch unten, G. I. 3. c) bb) (4). 269  Vgl. Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (135). 270  Zu den weiteren Gesetzesänderungen durch das StPRÄG I 2016 und das ­StPRÄG II 2016 siehe die Übersichten zum StPRÄG I 2016 (abrufbar unter: https:// www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01058/index.shtml) und zum StPRÄG II 2016 (abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01300/in dex.shtml) (abgerufen am: 31.08.2019). 271  Lachinger, Akteneinsicht, S. 30–42; Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechts­ praxis, S. 162; Lechner, Stellung, S. 36, 38–49, 111–121; Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (189). 272  Nimmervoll, Festnahme, V. 7. A.; Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 95 Rn. 1; Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 51 Rn. 10. 273  Vgl. dazu OGH 140s 43/13z (115/13p, 116/13k) JBl 2014, 330–333 mit Anm. Venier.



I. Vorschläge307

pflichtet.274 An der Wirksamkeit des Grundsatzes der Aktenvollständigkeit bestehen aber Zweifel. Dieser Grundsatz gründet sich darauf, dass die Ermittlungsbeamten im Vorverfahren von Rechts wegen alle für und gegen den Beschuldigten sprechenden Gesichtspunkte aufklären (§ 3 öStPO). Bereits die Einhaltung dieser Voraussetzung ist, wie erläutert,275 nicht stets gewährleistet. Zudem steht der Grundsatz der Aktenvollständigkeit unter der Prämisse, dass die Ergebnisse des Freibeweisverfahrens in den Akten vollständig dokumentiert werden. Sogenannte „Spurenakten“ etwa werden der Verteidigung jedoch nur präsentiert, wenn die Ermittlungsbeamten sie als für das Verfahren relevant bewerten.276 Diese Bewertung der Ermittlungsbeamten ist notgedrungen durch die Erwartungshaltung aufgrund ihrer vorgefassten Verdachtshypothese beeinflusst.277 Aus Verteidigerperspektive kann die Beurteilung deshalb anders ausfallen. Ob dem so ist, lässt sich nicht aufklären. Denn ohne Aktenvermerk wird der Verteidigung die Möglichkeit divergenter Ermittlungsansätze genommen.278 Auch die Kenntniserlangung der Verteidigung von Ergebnissen geheimer Ermittlungsmaßnahmen ist nicht stets sichergestellt.279 Unzureichend ist auch der Ablauf des Akteneinsichtsrechts als solches, wonach der Verteidigung auf Antrag und gegen Gebühr angefertigte Kopien auszuhändigen sind (§ 52 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. öStPO). Es ist der Verteidigung nicht erlaubt, Aktenteile außerhalb des Amtsgebäudes zu verbringen.280 Ist § 52 Abs. 2 öStPO nicht einschlägig, richtet sich die Höhe der zu entrichtenden Gebühr nach Anmerkung 6 zu Tarifpost 15 GGG. Die aktuell abzuführenden 66 Cent pro Seite bei Fremdkopie bzw. 34 Cent bei Selbstkopie erscheinen immer noch relativ hoch, da je nach Aktenumfang die Kopierkosten den Beschuldigten und unter Umständen auch die in Vorlage gehende Verteidigung bereits zu Beginn des Verfahrens beeinträchtigen können.281 Ohnehin 274  Nachweise

in Fn. 272. D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 276  Nimmervoll, Festnahme, V. 7. A.; Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 51 Rn. 4, 10. 277  Eschelbach, HRRS 2008, 190 (192 f.). 278  Achammer, in: WK-StPO (2009), § 53 Rn. 13; siehe auch die Beispiele bei Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 385 f. 279  Schumann, Stefan, 6. Dreiländerforum (2016), 105 (118–120). Zum Aussortieren von Dokumenten, die geheim bleiben sollen, Lachinger, Akteneinsicht, S. 7. Zur Akteneinsicht in sichergestellte, aber noch nicht als verfahrensrelevant erkannte Unterlagen und elektronische Daten: Wess/Machan, in: Lewisch, Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit (2016), 167 (167–177). 280  Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.01 2014), § 52 Rn. 6a. 281  Zur Kritik an Anmerkung 6 zu Tarifpost 15 GGG i. d. F. öBGBl II 2011/242, wonach die Gebühr bei 1,10 Euro bzw. 60 Cent lag: Ruhri, in: ÖJK, Strafverfolgung, 87 (94); Schmidt, Hans‑Otto, in: ÖJK, Strafverfolgung, 189. 275  Oben,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

steht die Selbstkopie nach § 52 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. öStPO unter dem Vorbehalt der technischen Möglichkeiten. Nur die Herstellung von Kopien ohne jegliche Inanspruchnahme gerichtlicher Infrastruktur (also etwa unter Einsatz von Handscannern oder Kameras) ist nach dem GGG gebührenfrei (Art. VI Nr. 47 GGG).282 Ebenso wie das Akteneinsichtsrecht ist das Beweisantragsrecht des Beschuldigten bzw. seiner Verteidigung zentrales Instrument zur Herstellung der von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK geforderten Waffengleichheit. Ein eigenes Beweisantragsrecht des Beschuldigten bzw. seiner Verteidigung wurde erst im Zuge des StPRefG 2004283 in der Strafprozessordnung verankert (§ 55 öStPO). Zur Unterbindung einseitiger Ermittlungen und eines Beweismittelverlusts muss die Verteidigung frühestmöglich Einfluss auch auf die Ermittlungsrichtung nehmen können.284 Nach zutreffender Ansicht von Schmoller sei dem Antragsteller durch das Beweisantragsrecht eine „Einschätzungskompetenz“ des Beweiswerts zuzumessen, wodurch es zu einer Ausweitung der amtlichen Aufklärungspflicht und Veränderung der Beweiswürdigungsgrundlage komme.285 Der Beschuldigte kann nach § 55 Abs. 1 S. 1 öStPO die Aufnahme von Beweisen beantragen, denen unter bestimmten Voraussetzungen Folge zu leisten ist. Ihre Ablehnung ist nach § 55 Abs. 4 öStPO zu begründen und nach § 106 öStPO gerichtlich überprüfbar.286 Im Ermittlungsverfahren ist eine Erkundungsbeweisführung – anders als im Hauptverfahren287 – nicht ausgeschlossen.288 Die nach § 55 Abs. 3 öStPO bestehende Möglichkeit, ermessensabhängig die Aufnahme von Beweisen der Hauptverhandlung vorzubehalten, wird als einer effizienten Verteidigung abträglich 282  Vgl.

dazu VfGH 13.12.2011, G 85/11 u. a., V 77/11 u. a. öBGBl I 2004/19. 284  Kroschl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 3 Rn. 7; Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 55 Rn. 1. 285  Schmoller, JSt 2017, 421 (423 f.); vgl. zur deutschen Rechtslage Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45 Rn. 6 m. w. N. 286  Nach Roßmann, JSt 2017, 435 (436) sollten Beweisanträge direkt bei der Staatsanwaltschaft (§ 101 Abs. 1 öStPO) gestellt werden, auch weil der Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte der Kriminalpolizei seit 01.08.2017 (öBGBl I 2015/85) in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte (Art. 130, 131 B‑VG) falle. Zu § 106 öStPO unten, G. I. 3. c) bb) (7). 287  OGH 14 Os 35/07i SSt 2007/37; RIS-Justiz RS0099353; RS0118123; Ratz, in: WK‑StPO (2015), § 281 Rn. 330. 288  RIS-Justiz RS0097230. Zum Begriff des Erkundungsbeweises Hinterhofer/ Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 8.112. Vgl. dazu auch Bertel, in: Burgstaller‑FS, 239 (240 f.); Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (133); Fuchs, 36. Ottensteiner (2008), 5 (19); Gräf, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 87 (90); Sigl, Verteidigungsrechte, S. 95. Für eine Zulassung „echter“ Erkundungsbeweise Sautner, ÖJZ 2017, 902 (910). 283  StPRefG 2004,



I. Vorschläge309

kritisiert und dementsprechend die Umformulierung des Abs. 3 als Ausnahmevorschrift gefordert.289 Dem ist wohl zuzustimmen, weil erst dann von einem eigentlichen Beweisantragsrecht die Rede sein kann. Eine Verbesserung des Beweisantragsrechts ist schließlich auf eine Stärkung der Anwesenheitsrechte der Verteidigung bei den Beweiserhebungen angewiesen. (3) Erweiterte Benachrichtigungs‑, Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte Die Rechte der Verteidigung im Rahmen von Zeugenvernehmungen sind ungenügend. Der Beschuldigte und seine Verteidigung haben grundsätzlich kein Anwesenheitsrecht bei Vernehmungen (§ 160 Abs. 1 S. 1 öStPO). Laut empirischer Untersuchungen erfolgen Vernehmungen – der Konzeption der Strafprozessordnung entsprechend – in 96 Prozent der Fälle durch die Kriminalpolizei.290 Wie bereits beleuchtet, beeinflussen psychologische Mechanismen die Vernehmungsperson bei Zeugenvernehmungen im Vorverfahren.291 Auch dort bedürfte es deshalb der Verteidigung zum Aufzeigen von „Alternativhypothesen“, um den unbewusst wirkenden psychologischen Prozessen bei der Fragetechnik gegenzusteuern und beispielsweise Suggestivfragen zu verhindern, die umso fataler sind, als dass unbewusste Wahrnehmungs- und Gedächtniseinwirkungen in der Person des Zeugen ohnehin die Qualität ­seiner Aussage influenzieren.292 Es bliebe insofern die Aufgabe, konkrete Reformvorstellungen auszuarbeiten. Sollte ein prinzipielles Teilnahmerecht – unter Einschränkung der Gefährdung des Untersuchungszwecks – in Erwägung gezogen werden, müssten damit zu dessen Verwirklichung Benachrichtigungspflichten korrespondieren.293 Eine Ausnahme vom „Grundsatz der Alleinvernehmung“294 sieht § 165 Abs. 2 S. 2 öStPO bei der sogenannten kontradiktorischen Vernehmung vor, an der die Verfahrensbeteiligten teilnehmen und Fragen stellen können, wobei die Einschränkungen des Abs. 3 zu beachten sind. Gleichzeitig zieht die Durchführung einer solchen Vernehmung eine Befreiung von der Aussage289  Baier, JSt 2017, 464 (464 f.), mit Verweis auf Schmoller, in: WK-StPO (2011), § 55 Rn. 95; vgl. auch Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (133). 290  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 95, 180, 209, 214. 291  Oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 292  Vgl. Schmittat, JSt 2017, 444 (447–450). Zur Erinnerungsverfälschung durch Zeugencoaching: Eschelbach, ZAP 2014 Fach 22, 781–798. 293  Vgl. hierzu die Überlegungen bei Richter II, StV 1985, 382 (388). Zweifelnd ob des tatsächlichen Gewinns eines Anwesenheitsrechts Beulke, StV 2010, 442 (446). Zur möglichen Ausgestaltung einer Auskunftspflicht von Zeugen bei eigenem Vernehmungsrecht der Verteidigung: Park, Ro‑Seop, Wahrheitsfindung, S. 155 ff.; Schünemann, Wetterzeichen, S. 34. 294  Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 7.594.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

pflicht gemäß § 156 Abs. 1 Nr. 2 öStPO im weiteren Verfahren nach sich, wenn der Zeuge nach § 66a öStPO besonders schutzbedürftig ist. Mit dem StPRÄG I 2016295 wurde die notwendige Verteidigung bei kontradiktorischen Vernehmungen nach § 165 öStPO eingeführt, allerdings nur für jene Fälle, in denen in der Hauptverhandlung ebenfalls Anwaltszwang geboten wäre (§ 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO). Eine solche Erweiterung war in der Literatur seit längerem gefordert worden, denn bei verpasster Teilnahme gibt es keine erneute, gesetzlich geregelte Befragungsmöglichkeit des Zeugen, wenn dieser von der Aussage nach § 156 Abs. 1 Nr. 2 öStPO befreit ist und von seinem Befreiungsrecht gemäß § 165 Abs. 5 öStPO Gebrauch macht.296 Ist § 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO nicht einschlägig, weil in der Hauptverhandlung kein Anwaltszwang bestünde, dann bleibt es indessen bei einem Teilnahmerecht der Verteidigung, welches aber mangels notwendiger Terminkoordinierung nach § 165 Abs. 2 S. 2 öStPO letztlich ein Benachrichtigungsrecht ist. Angesichts der einschneidenden prozessualen Konsequenzen kontradiktorischer Vernehmungen für die Verteidigungsmöglichkeiten im gesamten Strafverfahren wäre darüber nachzudenken, ob bei Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung nicht stets Anwaltszwang bestehen sollte.297 Das Problem, dass ein Fragerecht im Ermittlungsverfahren aufgrund unzureichender Informa­ tionsdichte und möglicher Akteneinsichtsbeschränkung nach § 51 Abs. 2 öStPO nie denselben Qualitätsstandard erreichen kann wie ein Fragerecht im Hauptverfahren, bliebe freilich bestehen.298 Dieser Aspekt beansprucht namentlich unter der Berücksichtigung Geltung, dass das Aussagebefreiungsrecht von Zeugen im weiteren Verfahren gemäß § 156 Abs. 1 Nr. 2 öStPO nach Judikatur und herrschender Lehre auch dann gelten soll, wenn sich neue, zum Zeitpunkt der kontradiktorischen Vernehmung unbekannte Umstände ergeben, zu denen der Zeuge im Rahmen seiner Vernehmung nicht befragt wurde.299 Das ist mit dem in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK festgeschriebenen Beschuldigtenrecht auf Zeugenbefragung als besondere Ausprägung des Grundsatzes der Waffengleichheit nicht zu vereinbaren.300 Ebenso fehlt ein Anwesenheitsrecht der Verteidigung bei der kontradiktorischen Verneh295  Siehe

Fn. 234. etwa Oberschlick, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 109 (116); Tipold, 11/SN-171/ME 25. GP 3 [Internetquelle]. 297  So wohl auch Schwaighofer, in: Fuchs-FS, 529 (532, 538); vgl. bei Aussagegegen-Aussage-Konstellationen Wille, Aussage gegen Aussage, S. 113 f., 151 f. 298  Schwaighofer, in: Fuchs‑FS, 529 (531 m. w. N.). 299  RIS-Justiz RS0118084; zuletzt OGH 13 Os 120/17x JSt 2018, 247 mit abl. Anm. Schwaighofer; Bart, ÖJZ 1998, 818 (822); Hinterhofer, Zeugenschutz, S. 326; Kirchbacher, in: WK‑StPO (2013), § 156 Rn. 18. A. A. aber OGH 12 Os 152/14s JBl 2015, 608 (608 f.) mit zust. Anm. Schwaighofer. 300  Wille, Aussage gegen Aussage, S. 111 f., 115; Schwaighofer, in: Fuchs‑FS, 529 (531); ders., JSt 2018, 247 (247 f. m. w. N.); vgl. auch Hirsch, 4. Dreiländerforum 296  Siehe



I. Vorschläge311

mung des Mitbeschuldigten, obwohl hier das Falschaussagemotiv, insbesondere im Hinblick auf die „große“ Kronzeugenregelung (§ 209a öStPO),301 steigt.302 (4) Videodokumentation von Vernehmungen Zum Nachweis von Druckausübung auf den Angeklagten, zur Prophylaxe gegen Meinungsverschiedenheiten über Aussagen der Verfahrensbeteiligten und zur Sicherstellung eines gerechten Verfahrensergebnisses, empfehlen Experten im österreichischen Strafverfahren die elektronische Dokumentationsform einzuführen, bei der das gesprochene Wort exakt fixiert wird.303 Die Strafprozessordnung geht gemäß § 95 öStPO zuvorderst von der Schriftlichkeit als Grundregel für das Festhalten der wesentlichen Inhalte von Aussagen und anderen wichtigen Vorgängen im sogenannten „Amtsvermerk“ aus.304 § 97 öStPO sieht zwar vor, dass Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen mittels Tonaufnahmen oder Ton- und Bildaufnahmen festgehalten werden können. Da die Entscheidung hierüber jedoch im freien Ermessen des Vernehmungsbeamten liegt, existieren solche Dokumentationen in der Praxis kaum.305 Im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung ist nach § 164 Abs. 2 S. 6 öStPO selbst bei Abwesenheit des Verteidigers eine Ton- und Bildaufnahme nur „nach Möglichkeit“ zu erstellen, weshalb eine solche Aufnahme regelmäßig unterbleibt.306 Das widerspricht dem fair‑trial-Prinzip aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, das mit seinem Grundsatz der Waffengleichheit bei in Abwesenheit der Verteidigung durchgeführten Beschuldigtenvernehmungen zwingend deren elektronische Aufzeichnung verlangt.307 Zeugen können einer elektronischen Dokumentation ihrer Vernehmung zur Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte gemäß § 97 Abs. 1 S. 2 öStPO widersprechen, solange die Aufzeichnung nicht aufgrund anderer besonderer gesetzlicher (2014), 159 (162 f.). Zum Konfrontationsrecht des Angeklagten durch die EMRK Weigend, in: Wolter‑FS, 1145 (1150–1156). 301  Vgl. Soyer, RichterInnenwoche 2010, 69 (76); vgl. dazu auch Eschelbach, in: SSW‑StGB, § 46b Rn. 14. Zu § 209a öStPO oben, B. III. 2. b); E. II. 3. b) aa). 302  Zum Problem falscher Geständnisse oben, D. I. 3. 303  Exemplarisch Pilgermair, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 91 (96 f.); Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2012, 122 (124). 304  Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (212). 305  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219). 306  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219). 307  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219); Schillhammer, Österreichisches AnwBl 2016, 348 (349 f.); Schwaighofer, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung, 45 (47); Sautner, JBl 2019, 210 (218); vgl. auch die Beschlüsse des 13. Österreichischen StrafverteidigerInnentages, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 153.

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Bestimmungen, wie etwa nach § 165 öStPO, vorgeschrieben ist. Richtigerweise müssten die angeführten Persönlichkeitsverletzungen des Zeugen hier jedoch gegenüber dem Prozessziel der materiellen Wahrheit zurückstecken.308 Um ein Gegengewicht zur Ermittlungsmacht der Staatsanwaltschaft zu schaffen, sollte zur Kontrollierbarkeit des Ermittlungsverfahrens durch die Verteidigung stets eine lückenlose Videoaufzeichnung von jeglichen Vernehmungen gewährleistet werden.309 Die elektronische Aufzeichnung mittels Tonaufnahme- oder Videogeräten besitzt gegenüber der schriftlichen Protokollierung deutliche Vorteile und ist für die Wahrheitsfindung von immensem Nutzen.310 Sie schützt die sprachliche Authentizität des Aussagenden, da seine eigenen Worte unmittelbar konserviert werden.311 Das – unwillkürliche – Selektieren und Beurteilen des gesprochenen Wortes durch den Vernehmungsbeamten wird verhindert, denn Umformulierungen mit dem Problem einer über die Textbearbeitung hinausgehenden, inhaltlichen Modifizierung entfallen.312 Vor allem aber ermöglicht die Förmlichkeit eine Kontrolle und Disziplinierung der Berufsakteure.313 Dolmetscher werden sich um eine ursprüngliche Übersetzung bemühen.314 Der Vernehmungsbeamte wird vermehrt auf die eigene Professionalität achten, sowohl im Hinblick auf seine Fragetechnik, um etwa keine Suggestivfragen zu stellen, als auch auf seine Belehrungspflichten, da sich behauptete Vernehmungsmängel präzise überprüfen lassen.315 308  Murschetz,

Österreichisches AnwBl 2013, 217 (217 f.). Österreichisches AnwBl 2016, 348 (350), der den Einsatz von Videodokumentationen bei jeglichen Ermittlungstätigkeiten im Vorverfahren fordert. 310  Lagodny, in: Lagodny, Herausforderungen, 167 (172); Hinterhofer, in: Lagodny, Herausforderungen, 223 (238–242); Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215); Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (218 f.); dies., 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (56). Zur Mangelhaftigkeit schriftlich fixierter Zeugenaussagen im Polizeiprotokoll: Soeffner, Auslegung, S. 249. Zu den Grundproblemen von Vernehmungen auch Pfaffenlehner, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 131 (133–137). 311  Hinterhofer, in: Lagodny, Herausforderungen, 223 (239); Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215); Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (218); dies., 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (56). 312  Artkämper, Kriminalistik 2009, 417 (423 f.); Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2012, 122 (124 f.); Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (218); dies., 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015), 43 (56). 313  Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, S. 131; Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215); vgl. auch Velten, JSt 2009, 181 (191). Dass Gespräche abseits der Ton- und Videogeräte von der Aufzeichnung nicht erfasst werden, ist – wie bereits festgestellt [oben, G. I. 1. c), Fn. 55] – kein Argument gegen eine prinzipielle elektronische Dokumentationspflicht, denn das bloße Protokoll bietet hier keine bessere Schutzvorrichtung. 314  Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215). 309  Schillhammer,



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Der obligatorischen Einführung einer elektronischen Dokumentation von Vernehmungen wird jedoch stets das Kostenargument entgegengehalten.316 Den von Seiten der Justiz vorgebrachten Einwand der Unfinanzierbarkeit317 kann man heutzutage aber eigentlich nicht mehr erheben.318 Videogeräte und auch Tonaufnahmegeräte stellen in der heutigen Zeit keine Luxusobjekte dar. Im Kern geht es um die Umstellung auf den heutigen Stand der Technik. Die elektronische Dokumentation vereinfacht und entlastet das Strafverfahren an sich und die Vernehmung im Speziellen.319 Die vernommene Person muss in ihren Ausführungen nicht stets wegen des Diktats oder der Niederschrift unterbrochen werden.320 Die Protokollführung wird erleichtert, da § 97 Abs. 2 öStPO trotz seiner Verweise auf § 96 Abs. 1 und 3 sowie § 271 Abs. 6 öStPO dahingehend zu verstehen ist, dass nur der wesentliche Aussageinhalt der Vernehmung schriftlich zusammengefasst werden muss.321 Zudem ist eine Verringerung des Personalaufwands möglich.322 Jedenfalls verbietet sich aufgrund der unbestreitbaren Vorteile für die materielle Wahrheitssuche und für die nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK notwendig einzuhaltende Verfahrensfairness das immer wieder vorgebrachte Argument der Finanzierungsschwierigkeiten.323 Es schleicht sich deswegen die Vermutung ein, dass es tatsächlich nicht das Kostenargument ist, welches die Rechtspolitik von der Einführung einer verpflichtenden elektronischen Dokumentation abhält, sondern vielmehr die Angst der Strafverfolgungsbehörden, eine stetige und unwiderlegbare Kontrollmöglichkeit ihres beruflichen Agierens zu installieren.324 Vornehmlich zur korrekten Beurteilung der Aussage eines 315  Lagodny, in: Lagodny, Herausforderungen, 167 (172); Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215); Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219); Sautner, JBl 2019, 201 (220). Zu fremdsuggestiven Vorgaben von Polizeibeamten gegenüber Zeugen: Raske, Falscher Tatverdacht, S. 65–67; Sautner, ÖJZ 2017, 902 (906 f.). 316  So auch zum deutschen Recht Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215). Allgemein zum Kostenproblem bei Reformüberlegungen Burgstaller, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 88 (89). 317  Vgl. dazu Danek, in: WK‑StPO (2009), § 271a Rn. 1. 318  Dies wurde bereits im Jahre 1999 von Lagodny, in: Lagodny, Herausforderungen, 167 (172), prognostiziert. 319  Zur Entlastungsmöglichkeit durch eine Videodokumentation der Hauptverhandlung oben, G. I. 1. c). 320  Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S. 110; Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215). 321  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (218); Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 7.51; Sautner, JBl 2019, 210 (218 m. w. N.). 322  Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (215). 323  Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219). 324  So Brauneisen, Österreichisches AnwBl 2013, 209 (216).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

Geständnisses muss aber auf eine elektronische Dokumentation zurückgegriffen werden können. Sowohl Ton- als auch Videoaufzeichnungen leisten diese ungefärbte und zuverlässige Dokumentation.325 Die Videodokumentation ist einer Tonaufnahme allerdings eindeutig vorzuziehen, da sie neben dem gesprochenen Wort auch Mimik und Gestik des Aussagenden sowie weitere visuelle Faktoren der Vernehmung festhält, wodurch diese bewertet werden können.326 Eine verpflichtende, lückenlose Videodokumentation jeder Vernehmung – einschließlich der gesamten Hauptverhandlung327 – erscheint aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens dringend geboten.328 (5) Mitbestimmungsrecht bei der Auswahl des Sachverständigen und Teilnahmerecht an dessen Vornahme eines Augenscheins Auch nach Inkrafttreten des StPRÄG 2014329 wird der Sachverständige im Ermittlungsverfahren gemäß § 126 Abs. 3 S. 1 öStPO weiterhin von der Staatsanwaltschaft bestellt. Der Beschuldigte bzw. die Verteidigung hat keine Bestellungskompetenz. Ihm bzw. der Verteidigung wird kein Mitbestimmungsrecht bei der Auswahl des Sachverständigen und kein Teilnahmerecht an dessen Vornahme eines Augenscheins eingeräumt.330 Dabei ist der Sachverständige im Strafprozess nicht selten das „Zünglein an der Waage“, da er nach § 125 Nr. 1 öStPO aufgrund seines besonderen Fachwissens beweis­ erhebliche Tatsachen feststellt (Befundaufnahme) oder aus diesen rechtsrelevante Schlüsse zieht und diese begründet (Gutachtenerstattung). Ein Anwesenheitsrecht bei der Befundaufnahme wird deshalb richtigerweise als unerlässlich angesehen, „wenn hierbei das Beweismittel ‚verbrannt‘ wird“331. Unter den Voraussetzungen des § 126 Abs. 5 S. 1 öStPO kann der Beschuldigte nun zwar die Enthebung des für das Ermittlungsverfahren bestellten Sachverständigen wegen Befangenheit oder mangelnder Sachkunde beantragen. Regelmäßige Auftragsbeziehungen zwischen Staatsanwaltschaft und bestelltem Sachverständigen sollen jedoch keine Zweifel an der Objektivität 325  Murschetz,

Österreichisches AnwBl 2013, 217 (218 f.). in: Lagodny, Herausforderungen, 223 (236 f.); Murschetz, Österreichisches AnwBl 2013, 217 (219); vgl. auch Wasserburg, in: Richter‑FS, 547–562. Zur richtigen Kameraperspektive Sautner, JBl 2019, 210 (220). 327  Sautner, JBl 2019, 210 (220). Zur Entlastungsmöglichkeit oben, G. I. 1. c). 328  Vgl. auch Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2012, 122 (124 f.). 329  StPRÄG 2014, öBGBl I 2014/71, in Kraft getreten am 01.01.2015. Zur Kritik an der Rechtslage vor dieser Novelle Ratz, in: Fuchs‑FS, 377 (391–395). 330  Lechner, Stellung, S. 125; Schwaighofer, Sachverständigenbeweis, S. 21. 331  Richter II, StV 1985, 382 (388). 326  Hinterhofer,



I. Vorschläge315

des bestellten Sachverständigen begründen können.332 Es erscheint allerdings nicht unvorstellbar, dass insbesondere aus der wiederholten Sachverständigenbestellung durch die Staatsanwaltschaft die Gefahr einer Voreingenommenheit beim Sachverständigen resultieren kann, welcher die Staatsanwaltschaft dann bei ihrem Ziel der Anklage unter Umständen mit Gefälligkeitsgutachten unterstützt, denn das Ergebnis eines Gutachterauftrags lässt sich bereits dadurch beeinflussen, welchen Erkenntnismethoden der bestellte Gutachter folgt.333 Außerdem hat die Staatsanwaltschaft ein Recht auf Erkundungsbeweisführung (§ 103 Abs. 2 öStPO) und muss ihre Gutachtenaufträge nicht in einer bestimmten Weise begründen, wohingegen der Beschuldigte lediglich einen Beweisantrag bei der Staatsanwaltschaft auf Bestellung eines Sachverständigen einbringen kann, den er gemäß § 55 öStPO zu begründen hat.334 Zudem ist es dem Beschuldigten bzw. seiner Verteidigung nicht möglich, im Ermittlungsverfahren Privatgutachten einzubringen, obwohl durch deren Zulassung Anklageerhebungen der Staatsanwaltschaft und unbegründete Hauptverhandlungen abgewendet werden könnten.335 Der Beschuldigte hat nach § 126 Abs. 5 S. 1 öStPO allerdings das Recht, eine andere, nach den Kriterien der Sachkunde (§ 126 Abs. 2 öStPO) besser qualifizierte Person zur Bestellung vorzuschlagen. Ein solcher Umbestellungsantrag wird nach dem Wortlaut dieser Vorschrift jedoch nur Erfolg haben, wenn die fachliche Eignung des von der Staatsanwaltschaft bestellten Sachverständigen angegriffen werden kann, nicht aber bei regelmäßiger Auftragsvergabe zwischen Staatsanwaltschaft und bestelltem Sachverständigen.336 Des Weiteren kann der Beschuldigte nach §§ 126 Abs. 5 S. 1, 104 Abs. 1 öStPO die (Neu-)Bestellung und Führung eines Sachverständigen durch das Gericht beantragen.337 Nach Ansicht des OGH habe der Beschul332  Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (342 f.); ders., Sachverständigenbeweis, S.  33 f.; Rebisant, in: Liber Amicorum Ratz, 119 (132); Ratz, ÖJZ 2018, 951 (956). 333  Kier, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013), 74 (78 f. m. w. N.); ebenso Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (34); Bockemühl, JSt 2010, 59 (64); Schwaighofer, Sachverständigenbeweis, S. 21, 33 f. A. A. aber Riffel, RZ 2013, 232 (233 f.), wonach die Staatsanwaltschaft als objektivste Behörde niemals ein bestimmtes Ergebnis erwarte; ähnlich Jarosch, RZ 2013, 53. 334  OGH 17 Os 7/18k (17 Os 13/18t, 17 Os 14/18i) JBl 2019, 257 (258) mit Anm. Kier; Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (342 f.). Zum Erkundungsbeweis Ratz, in: Fuchs‑FS, 377 (392 f.). 335  Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (349). Zum Begriff des Privatgutachters Kirschenhofer, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Onlineaktualisierung 1.02 2015), § 126 Rn. 7. 336  Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (346). 337  Für eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts bei Sachverständigen­ bestellungen im Ermittlungsverfahren Ratz, in: Fuchs-FS, 377 (393); Schmoller,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

digte aber kein subjektives Recht auf Entscheidung über seinen Vorschlag einer besser qualifizierten Person und keinen grundrechtlich abgesicherten (Art. 6 Abs. 1 EMRK) Anspruch auf Begründung, weshalb eine solche Person nicht zum Sachverständigen bestellt wurde.338 Eine ernsthafte gerichtliche Instruktion des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren wird mangels konstanter Auseinandersetzung des Gerichts mit dem Akt indes angezweifelt und vielmehr befürchtet, dass die Führung faktisch bei der Staatsanwaltschaft verbleibt.339 Eine solche Eintracht innerhalb der Justiz lag einer aktuellen Entscheidung des OGH340 zugrunde; dort war der Verteidigung die Teilnahme an einer Besprechung zwischen Richter und gerichtlich bestelltem Sachverständigen, zu der auch die Staatsanwaltschaft in ihrer Eigenschaft als ermittelnde Behörde hinzugezogen wurde, verwehrt worden. Das Höchstgericht konstatiert hierzu:341 Stelle die Verteidigung einen Antrag auf Bestellung des Sachverständigen im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme (§ 126 Abs. 5 S. 1 öStPO), gingen sämtliche Bestellungs- und Führungskompetenzen auf das Gericht über und die Staatsanwaltschaft werde bezüglich dieser Beweisaufnahme (§ 104 öStPO) unmittelbar zur Partei, weshalb ihr nur noch dieselben Rechte wie der Verteidigung zustünden (§ 104 Abs. 1 i. V. m. § 55 öStPO). Dem Gericht sei es zwar unbenommen, mit dem von ihm geführten Sachverständigen auch ohne die Parteien zu kommunizieren. Erachte das Gericht aber die Beteiligung einer Partei an einem Gespräch mit dem Sachverständigen für erforderlich, habe es als Ausfluss des Grundsatzes der Waffengleichheit aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK der anderen Partei Gelegenheit zu geben, an diesem Gespräch teilzunehmen.342 Kier merkt zu dieser Entscheidung kritisch an, dass es grundsätzlich an einem effektiven Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren fehle, weshalb Verletzungen von Beschuldigtenrechten wie im gegenständlichen Fall für gewöhnlich zu spät und zu wenig erfolgversprechend geltend gemacht werden könnten.343 Ein Ungleichgewicht der Machtverteilung im Ermittlungsverfahren bleibt jedenfalls auch nach Einführung des StPRÄG 2014 feststellbar. Die RechtsJBl 2014, 340 (341); dagegen Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (345 f.). 338  OGH 17 Os 19/16x EvBl 2017/91, 623 (624); vgl. auch Riffel, RZ 2016, 26 (28–35). 339  So Schwaighofer, Österreichisches AnwBl 2015, 342 (348). 340  OGH 17 Os 7/18k (17 Os 13/18t, 17 Os 14/18i) EvBl 2018/136, 928–930 = JBl 2019, 257–258 mit Anm. Kier. 341  OGH 17 Os 7/18k (17 Os 13/18t, 17 Os 14/18i) EvBl 2018/136, 928 (929) = JBl 2019, 257 (258) mit Anm. Kier. 342  Vgl. auch Ratz, ÖJZ 2018, 952 (952 f.). 343  Kier, JBl 2019, 258 (259 f.).



I. Vorschläge317

politik scheint dies gegenwärtig nicht auszugleichen, da – ihrer Ansicht nach – im Ermittlungsverfahren keine Waffengleichheit geboten sei und auch Art. 6 EMRK nur verlange, dass das Verfahren insgesamt fair sein müsse.344 Mit dem StPRÄG 2014 wurde deshalb versucht, Waffengleichheit in der Hauptverhandlung herzustellen, um so dem Grundsatz des fair trial aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu entsprechen. Dies scheint aber, wie bereits ausge­ führt,345 nicht ausreichend geglückt. Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem bzw. Verteidigung ist demnach auch in der Hauptverhandlung nicht gewährleistet. Nach dem festgestellten Funktionsverlust der Hauptverhandlung346 erscheint die Ermöglichung einer Waffengleichheit erst im Hauptverfahren ohnedies zu spät. Fallen die Würfel bereits im Ermittlungsverfahren, dann muss sich der Sachverständigenbeweis dem Beschuldigten bzw. seiner Verteidigung weiter öffnen. (6) Stärkerer Ausbau der notwendigen Verteidigung Effektive Verteidigung im Ermittlungsverfahren hängt, wie bereits erläutert,347 vom Zeitpunkt der Verteidigerbeiziehung ab. Außer in den in § 61 Abs. 1 Nr. 1 und 2 öStPO normierten Ausnahmefällen war notwendige Verteidigung jedoch bisher in der ersten Instanz nur für die Hauptverhandlung vorgesehen. Seit dem StPRÄG I 2016348 besteht gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO bei der kontradiktorischen Vernehmung (§ 165 öStPO) für den Beschuldigten notwendige Verteidigung, wenn in der Hauptverhandlung nach § 61 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 öStPO notwendige Verteidigung bestünde.349 Mit Ausnahme dieser Neuerung, die als wichtiger Schritt zur Reduzierung der sich aus dem Funktionsverlust der Hauptverhandlung für den Beschuldigten ergebenden Nachteile gewertet wird,350 geht § 61 Abs. 1 öStPO – fälschlicherweise351 – weiterhin von der zentralen Stellung der Hauptverhandlung für das Strafverfahren aus. Notwendige Verteidigung muss zur Sicherung eines fairen Verfahrens auch im Ermittlungsverfahren gewährt werden, um die Einbuße des Beschuldigten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu kompensieren.352 Zwingend ist deshalb auch eine frühzeitige Unterrichtung dazu Schwaighofer, Sachverständigenbeweis, S. 41 f. oben, G. I. 3. c) aa). 346  Oben, B. III. 3. 347  Oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (cc). 348  Siehe Fn. 234. 349  Dazu oben, G. I. 3. c) bb) (3). 350  Siehe Tipold, 11/SN-171/ME 25. GP 3 [Internetquelle]. 351  Dazu oben, B. III. 3. 352  Zu den Funktionen des Verteidigers unten, G. I. 3. e). 344  Vgl.

345  Hierzu

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

des Beschuldigten über die Einleitung eines gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens (§ 50 öStPO) unabhängig von unbestimmten Rechtsbegriffen wie „sobald wie möglich“ oder sonstigen ermessensabhängigen Einschränkungen. Eng verbunden mit dem Ausbau einer notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren ist die Forderung nach direkter Entlohnung einer Verfahrenshilfe (§ 61 Abs. 2 öStPO).353 Engagierte Verteidigung ist zudem in jedem Verfahrensstadium abhängig von entsprechender Fachkenntnis auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafprozessrechts.354 (7) Einspruchsmöglichkeiten bei der Verletzung subjektiver Rechte Staatsanwaltliches Verhalten im Ermittlungsverfahren, das nicht vom Gericht bewilligt werden musste, ist der nachträglichen Kontrolle unterworfen (§ 106 Abs. 1 öStPO). In der strafprozessualen Realität wird ein Einspruch nach § 106 Abs. 1 öStPO grundsätzlich nur von der Verteidigung erhoben.355 An der Ausgestaltung der Vorschrift des § 106 Abs. 1 öStPO ist zu kritisieren, dass der im Rahmen der Beschuldigtenrechte grundsätzlich gewährte Ermessensvorbehalt gemäß § 106 Abs. 1 S. 3 öStPO wohl lediglich eine Willkürüberprüfung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen zulässt.356 Zudem hat der Beschuldigte selbst bei erfolgreichem Einspruch seine Verteidigerkosten selbst zu tragen, wodurch auch die Wirksamkeit dieses Kontrollmittels geschmälert wird.357 Mit Wirkung zum 1. August 2017 wurde in § 106 Abs. 1 S. 1 öStPO die Wortfolge „Kriminalpolizei oder“ gestrichen,358 nachdem der VfGH diese Wortfolge mit Erkenntnis vom 30.6.2015359 aufgehoben hatte. Für den Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte der Kriminalpolizei sind nach Art. 130, 131 B‑VG nun die Verwaltungsgerichte zuständig.360

353  Hierzu oben, B. II. 2. c); B. II. 1. a) ee); dazu auch Birklbauer/Stangl/Soyer/ u. a., Die Rechtspraxis, S. 228. 354  Dazu bereits oben, B. II. 2. c). 355  Birklbauer, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 80. 356  Pürstl, 5. Rechtsschutztag (2007), 109 (125); Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (137–140); ders./Kier, Österreichisches AnwBl 2008, 105 (109 f.); Roitner, juridicum 2014, 49 (53 f.); vgl. auch Venier, ÖJZ 2009, 591 (593 f.). 357  Bertel, in: Burgstaller‑FS, 239 (250); Venier, ÖJZ 2009, 591 (593); ders., JSt 2010, 121 (125). 358  ÖBGBl I 2015/85. 359  VfGH G 233/2014 u. a. VfSlg 19.991/2015. 360  Jantscher, ALJ 2017, 1 (2), der in diesem Aufsatz die Abgrenzung der beiden Rechtsschutzwege im Ermittlungsverfahren untersucht. Hierzu auch Lenzbauer, JBl 2015, 808–810.



I. Vorschläge319

(8) Verwendungsverbote Eine Beschneidung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren lässt sich auch aufgrund des Funktionsverlusts der Hauptverhandlung kaum mehr in rechtsstaatlicher Weise heilen. Fuchs fordert deshalb, Beweisergebnisse von der Verwendung in der Hauptverhandlung auszuschließen, wenn der Beschuldigte und die Verteidigung ungerechtfertigt von der Teilnahme an der Erlangung eines Sach- oder Personalbeweises ferngehalten oder wenn gewonnene Beweisergebnisse diesen nur unzulänglich zur Verfügung gestellt wurden.361 Das seit der Strafprozessreform im Jahre 2008 in § 166 öStPO geregelte Verwertungsverbot bei unzulässigen Vernehmungspraktiken sei unzureichend. Fuchs verweist hier auf den weitergehenden Diskussionsentwurf des Justizministeriums zur Vorbereitung der Gesamtreform des Ermittlungsverfahrens aus dem Jahre 1998, der in „§ Z 28“ vorgesehen hatte, dass im Rahmen von Vernehmungen getroffene Aussagen nicht verwendet werden dürften, wenn sie unter Verletzung von Vorschriften zur Sicherung eines fairen Verfahrens zustande gekommen seien.362 Nach Fuchs sei deshalb in die Beweisverbote des § 166 öStPO ausdrücklich aufzunehmen, dass ein ohne Verteidiger abgelegtes Geständnis als Beweismittel ausgeschlossen sei, wenn der Beschuldigte ohne Erfolg auf die Anwesenheit eines Verteidigers insistiert habe.363 Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten postuliert Fuchs ferner, im Wege der Erkundigung gemäß § 151 Nr. 1 öStPO erlangte Erkenntnisse in der Hauptverhandlung müssten als Beweismittel ausscheiden, weil diese Informationen ohne die bei einer Vernehmung (§ 151 Nr. 2 öStPO) zu beachtenden Förmlichkeiten, die der Absicherung der Verteidigungsrechte dienten, erlangt würden.364 Auch unter vorliegendem Aspekt sind somit diskussionswürdige Ansatzpunkte zur Verbesserung der Verteidigungsrechte ersichtlich, wobei wohl insgesamt die Grenzen der Beweisverbote genauer auszuleuchten wären.365

361  Fuchs,

RichterInnenwoche (2010), 25 (33 f.). „§  Z 28“ ist abgedruckt bei Schmoller, in: Kühne‑FS, 345 (351 f.). 363  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (33). Zur Reichweite und Umgehung von Verwertungsverboten Lechner, Stellung, S. 178–183, 183–190. Zum Verwertungsverbot infolge fehlerhafter Vernehmung Schmoller, in: Kühne-FS, 345 (345–349, 357–360). 364  Fuchs, RichterInnenwoche (2010), 25 (33); dazu auch ders., 5. Rechtsschutztag (2007), 79 (89–93). 365  Zur Gewährleistung von Waffengleichheit durch Beweisverwertungsverbote Bauer, Verwertungsverbote. 362  JMZ 578.017/2-II.3/1998;

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

cc) Zwischenergebnis Dieser grobe Überblick hat versucht zu zeigen, dass die derzeitigen Rechte des Beschuldigten bzw. seiner Verteidigung im Ermittlungsverfahren in entscheidenden Punkten nicht der von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK geforderten Waffengleichheit genügen. Auch in der Hauptverhandlung müssen die Verteidigungsrechte in ihrer Effektivität diesem Grundsatz entsprechen, weshalb die bereits entwickelten Reformvorstellungen weiter zu konkretisieren wären, um Verbesserungen bei den Verteidigungsinstrumenten zu erreichen. Wer allerdings darauf hinweist, Art. 6 EMRK verlange lediglich ein insgesamt faires Verfahren und somit eine Gewährleistung der Waffengleichheit erst im Hauptverfahren, stellt die Tatsache hintan, dass die Hauptverhandlung längst nicht mehr das Herzstück des österreichischen Strafprozesses ist, sondern diese Bedeutung heute dem Ermittlungsverfahren zukommt. Partielle Reformen des Ermittlungsverfahrens wären deshalb rechtspolitisch geboten. Zur Wahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens erfordern ferner die Mängel in der Hauptverhandlung die Einführung von Korrekturmechanismen auf der Ebene des Ermittlungsverfahrens. In die Entwicklung einer Strategie zur Verhinderung von Urteilsabsprachen gehört mithin auch die gesetzliche Bereitstellung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten im gesamten Ermittlungsverfahren. Den hier angeführten Reformüberlegungen wird wohl nicht selten das Erfordernis einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege entgegengehalten werden. Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für die persönliche Rechtssphäre des Beschuldigten und für den Strafprozess an sich mitsamt seiner das Urteil formenden Kraft scheint der Ausbau des Verteidigungsinstrumentariums dennoch unausweichlich. Als ein Charakteristikum des Rechtsstaats verlangt eine kompetente Strafverteidigung allerdings die vollumfängliche Nutzung der gegebenen Möglichkeiten.366 Das Ergebnis des Endberichts des PEUS367 belegt jedoch, dass die Verteidigung selbst die ihr gesetzlich zugewiesenen Rechte im Ermittlungsverfahren nicht immer in ausreichendem Maße wahrnimmt. Einer quantitativen Analyse der Verfahrenswirklichkeit dieser Untersuchung zufolge lag bei verteidigten Beschuldigten die anwaltliche Anwesenheitsquote bei Beschuldigtenvernehmungen lediglich bei neun Prozent.368 Akteneinsicht beantragte die Verteidigung im BAZ-Bereich in nur 65 Prozent der Fälle, im 366  Ruhri, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 73 f.; Fuchs, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008), 13 (32); Lorenz, 1. Dreiländerforum (2011), 204 (206). 367  PEUS steht für: Projekt zur wissenschaftlichen Evaluation der Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes 2004. Zum Endbericht des PEUS bereits oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 368  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 158.



I. Vorschläge321

­ t-Bereich sogar nur in 37 Prozent.369 Auffallend ist auch, dass pro Verfahren S durchschnittlich nur ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt wurde.370 Wie bei der Verteidigung insgesamt, ist auch zur Bewertung der Effektivität der Akteneinsicht der Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens, in dem erstmals Akteneinsicht beantragt wird, ausschlaggebend.371 Zwar lassen die der Erhebung zur Verfügung gestellten Daten nicht erkennen, wann genau Akteneinsicht genommen wurde. Je nachdem, ob die Akteneinsicht bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht stattgefunden hat, lässt sich aber ermitteln, ob Akteneinsicht zu Beginn des Verfahrens (bei der Polizei) oder später (bei Staatsanwaltschaft oder Gericht) erfolgte.372 Demnach wurde Akteneinsicht in 17 Prozent der Fälle bei der Polizei, in 24 Prozent bei der Staatsanwaltschaft und in 33 Prozent der Fälle bei den Gerichten genommen und damit mehrheitlich in einem späteren Verfahrensstadium.373 Das am wenigsten von der Verteidigung ausgeübte subjektive Recht des Angeklagten war das Beweisantragsrecht, denn den Projektergebnissen nach lag die Quote bei unter einem Prozent und zwar unabhängig von der sachlichen Zuständigkeit.374 Solche Prozentzahlen muten seltsam an, war doch das Klagen über die schlechte Stellung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Diskussionsbeiträge zum StPRefG 2004 groß. Rech mahnte bereits 2003 an: „Wir können nicht auf der einen Seite fordern und sobald es möglich wird, uns zurücklehnen und unsere Aufgabe nicht wahrnehmen. Und das ist unsere Aufgabe. Wer, wenn nicht wir, soll diese Aufgabe erfüllen?“375 Dieses Statement sollte selbstredend auch für die Aufgabenerfüllung im Hauptverfahren gelten. Neben der Sicherstellung theoretischer Voraussetzungen ist es notwendig, dass die Verteidigung die ihr eingeräumten Rechte in der Praxis auch tatsächlich in Anspruch nimmt. Die Ergebnisse des Endberichts des PEUS müssen indes nicht davon abhalten, die skizzierten rechtspolitischen Forderungen zu erheben. d) Strafbarkeit der beteiligten Berufsjuristen In der Diskussion um die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen wird die Frage möglicher strafrechtlicher Konsequenzen für die beteiligten Berufs­ 369  Birklbauer/Stangl/Soyer

u. a., Die Rechtspraxis, S. 165. u. a., Die Rechtspraxis, S. 163. 371  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 166. 372  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 166. 373  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 166 f. 374  Birklbauer/Stangl/Soyer u. a., Die Rechtspraxis, S. 169, 191. 375  Rech, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 63 (64). In diese Richtung auch Pleischl, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003), 67 (68 f.). 370  Birklbauer/Stangl/Soyer

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

juristen relevant. Nach der deutlichen Aussage des OGH können sich die an einer Urteilsabsprache beteiligten Justizjuristen nach § 302 öStGB strafbar machen.376 Den Strafjuristen muss deshalb bewusst sein, dass absprachenbedingte Verstöße gegen die österreichischen Strafprozessrechtsgrundsätze keine Bagatelle sind, sondern die Strafrechtspflege in ihren Grundfesten erschüttern. Durch die höchstrichterliche Ablehnung der Urteilsabsprachen und die in diesem obiter dictum enthaltenen mahnenden Worte ist die Gefahr einer Strafverfolgung aktuell. Die Tatsache, dass bisher wohl noch keine strafrechtliche Verurteilung eines Berufsjuristen wegen seiner Teilnahme an einer Urteilsabsprache bekannt geworden ist, ändert daran nichts.377 Daraus lässt sich mitnichten folgern, dass es im Rahmen einer Urteilsabsprache nicht zur Verwirklichung von Straftatbeständen kommen kann. Die Prüfung einer potenziellen Strafbarkeit verfolgt deshalb den Zweck, die strafrechtliche Relevanz der Urteilsabsprachenpraktik in das Bewusstsein der Berufsjuristen zu rücken, um die anscheinend verloren gegangene Disziplinierung wiederherzustellen.378 Das Aufzeigen der im Rahmen von Urteilsabsprachen zahlreich festzustellenden Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien379 scheint dazu nicht gleichermaßen geeignet, denn diese betreffen das Strafverfahren an sich. Im Folgenden wird deshalb eine Auswahl eventuell tangierter Straftatbestände behandelt. Es kann zwar nicht geleistet werden, die Problemfelder dieser Straftatbestände in ihrer ganzen Komplexität darzustellen. Die nachstehenden Ausführungen könnten aber als Anhaltspunkte für weitere Überlegungen dienen. aa) Mögliche Strafbarkeit der Justizjuristen Die potenzielle Strafbarkeit der an einer Urteilsabsprache beteiligten Justizjuristen scheint nach Ansicht des OGH ein möglicher Angelpunkt im Kampf gegen eine fortschreitende Ausbreitung der Urteilsabsprachen in der österreichischen Strafrechtswirklichkeit zu sein. Die Heimlichkeit des justiziellen Agierens fungiert dabei als Indikator für die Kenntnis der wesentlichen Bedeutung der im Rahmen von Urteilsabsprachen missachteten Normen. (1) Missbrauch der Amtsgewalt, § 302 öStGB Der wohl gravierendste, in Betracht kommende Vorwurf dürfte der des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 öStGB sein. § 302 öStGB ist ein 376  OGH 11 Os 77/04

JBl 2005, 127 (128). in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14.3. 378  Vgl. zum deutschen Recht Malek, StraFo 2005, 441 (444). 379  Dazu oben, D. 377  Eschelbach,



I. Vorschläge323

echtes Sonderdelikt.380 Richter und Staatsanwälte können gemäß § 74 Abs. 1 Nr. 4 öStGB als Amtsträger grundsätzlich taugliche Täter sein.381 (a) Objektiver Tatbestand Die Strafdrohung des § 302 öStGB soll die österreichische Strafrechtspflege vor Angriffen durch Amtsträger schützen. Diese sollen sich bei der Vornahme ihrer Amtsgeschäfte an das geltende materielle und prozessuale Recht halten. Delikttypisches Verhalten ist der Missbrauch der Befugnis, als Organ und im Namen des jeweiligen Rechtsträgers Amtsgeschäfte vorzunehmen. Entscheidend ist, dass der Beamte eine ihm zumindest abstrakt zustehende Befugnis durch konkret rechtswidriges Verhalten missbraucht, wohingegen unerheblich ist, ob er in rechtswidriger Weise untätig bleibt oder in einer solchen tätig wird.382 Rechtlich unvertretbares prozessuales Handeln liegt dann vor, wenn bei der zu entscheidenden Strafsache tragende Prinzipien der Strafprozessordnung unberücksichtigt bleiben.383 Nach dem bisherigen Ergebnis der vorliegenden Untersuchung schöpfen die Berufsjuristen im Zuge einer Urteilsabsprache nicht nur zulässige Spielräume der Strafprozessordnung aus, sondern es kommt zu einer Kollision mit deren Grundsätzen. Trotzdem wird behauptet, bei einer Urteilsabsprache könne niemals ein Amtsmissbrauch vorliegen.384 Urteilsabsprachen könne man jedenfalls nicht durch Strafverfolgungen innerhalb der Justiz eliminieren, zumal die Grauzone der Urteilsabsprachen faktisch kaum zu fassen sei.385 Spätestens in krassen Fällen einer Kollision mit den strafprozessualen Grundprinzipien und dem Strafzumessungsrecht muss jedoch auch nach dieser restriktiven Sichtweise die Grenze rechtlich vertretbaren Handelns überschritten sein. Etwa dann, wenn ein Gericht trotz gegenteiliger Überzeugung ein Geständnis akzeptiert, infolgedessen weitere Sachverhaltsermittlungen unterlässt und die Einlassung strafmildernd bewertet.386 Tatsächlich kann es bereits ausreichen, dass der Richter zur Realisierung einer Urteilsabsprache eine gebotene Beweisaufnahme pflichtwidrig unterlässt.387 Beispielsweise 380  Fabrizy,

StGB, § 302 Rn. 1. in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 20. 382  Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 94, 96. 383  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 76; Fabrizy, StGB, § 302 Rn. 16. Vgl. OGH 13 Os 29/08a SSt 2008/59; RIS-Justiz RS0096031, RS0097040. 384  So Philipp, Peter, 3.  Österreichischer Strafverteidigerinnentag (2005), 114 (118). 385  Moos, Reinhard, 15. ÖJT (2003), Band IV/2, 123 (124). 386  Rönnau, Absprache, S.  231 f. 387  OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63 (65); Fabrizy, StGB, § 302 Rn. 16. 381  Zagler,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

wenn ein Formalgeständnis ohne die Ausschöpfung weiterer brauchbarer Beweismittel als alleinige Urteilsgrundlage fungiert.388 Eigentlich bedient sich jeder Richter, der sich an einer Urteilsabsprache beteiligt oder eine solche initiiert, eines dem österreichischen Strafprozessrecht unbekannten und vom OGH eindeutig verbotenen Instruments.389 Die im Rahmen einer Urteilsabsprache zur Disposition gestellten Verfahrensgrundsätze – allen vorweg das Prinzip der amtswegigen Wahrheitserforschung und der nemo-tenetur-Grundsatz – sind vom Richter auf dem Weg zu seiner Urteilsfindung zwingend zu berücksichtigen und rechtfertigen gerade die Obliegenheit seiner verbindlichen Schuldfeststellung.390 Die grundrechtliche Verantwortlichkeit des Richters einer ersten Instanz liegt in der korrekten Anwendung des gesetzlichen Verfahrensrechts, denn der Prozess und seine Förmlichkeiten dienen der Gewährleistung der Grundrechte des Angeklagten im Sinne von Art. 6 EMRK.391 Erfüllt der Richter die ihm durch die Strafprozessordnung vorgeschriebenen Pflichten nicht, ist ein Missbrauch der Amtsgewalt deshalb richtigerweise auch in Betracht zu ziehen, wenn seine Entscheidung letztlich noch vertretbar ist.392 Vollzieht der Richter in der Hauptverhandlung lediglich das bereits vorher im Geheimen und ohne Anwesenheit des Angeklagten ausgehandelte Urteil, missbraucht er seine Befugnis zur Durchführung eines der Suche nach der materiellen Wahrheit verpflichteten Strafverfahrens und schädigt damit den Staat.393 Der an der Absprache beteiligte Staatsanwalt unterstützt den Richter zumindest in seinem Tun. Missachtet der Staatsanwalt seine ihm als öffentlicher Ankläger gesetzlich zugewiesenen Aufgaben oder nimmt er sie nicht pflichtgemäß wahr, kann auch er sich eines Missbrauchs seiner Amtsgewalt nach § 302 öStGB strafbar machen.394 Materiellrechtlich fehlerhaftes Handeln liegt vor, wenn gegen Strafzumessungsrecht verstoßen wird. Hält man – wie hier – die Strafmilderung für ein abgespro388  Rönnau, Absprache, S. 232. Vgl. auch die Beispiele bei Eschelbach, in: Paeffgen-FS, 637 (642). Hierzu auch oben, D. I. 1. b) bb) (1) (b). 389  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14.3. Vgl. dazu auch Fischer, HRRS 2014, 324 (334): „Wer jenseits der gesetzlich geregelten und vom BVerfG im Einzelnen verdeutlichten Regelungen ‚informelle‘ Absprachen sucht, initiiert oder trifft, beugt das Recht. Er kann sich nicht darauf berufen, eine solche Verfahrensweise für ‚angemessen‘ oder ‚richtig‘ zu halten, denn der Gesetzgeber und die obersten Gerichtshöfe des Bundes haben gerade diese Ansicht für unvertretbar erklärt.“ 390  Vgl. OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127–128. 391  Berka, RZ 2008, 114 (116). 392  So zum deutschen Recht Rönnau, Absprache, S. 230. 393  So bereits Ratz, ÖJZ 2009, 949 (952); ders., in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 161 (164); Marek, 41. Ottensteiner (2013), 75 (79 f.) mit Verweis auf OGH 13 Os 1/10m JBl 2011, 63–65. 394  OGH 12 Os 71/86 EvBl 1987/72, 284 (285) = SSt 57/85; RIS-Justiz RS0097029; Zagler, in: SbgK‑StGB (2002), § 302 Rn. 98.



I. Vorschläge325

chenes Geständnis für unzulässig,395 dann verstößt der Richter, der für das Absprachegeständnis einen Strafrabatt gewährt, gegen das geltende Strafzumessungsrecht und somit gegen das materielle Recht.396 (b) Subjektiver Tatbestand Der Beamte muss seine Befugnis wissentlich i. S. d. § 5 Abs. 3 öStGB missbrauchen und es zudem jedenfalls ernsthaft für möglich halten und sich damit abfinden, einen anderen an seinen Rechten zu schädigen.397 Der Beamte muss wissen, dass er seine Befugnis nicht richtig gebraucht, wobei ausreichend ist, dass sich der Beamte der rechtlichen Untragbarkeit seines Verhaltens bewusst war.398 Dass Urteilsabsprachen nach der gegenwärtigen Rechtslage verboten sind, hat der OGH in seinem obiter dictum unmissverständlich klargestellt.399 Bedient sich der Richter einer Urteilsabsprache, muss er wissen, dass er den für die Urteilsfindung gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Weg verlässt und deswegen rechtlich unvertretbar handelt. Er weiß, dass er die ein rechtsstaatliches Verfahren absichernden Kautelen der Strafprozessordnung bewusst außer Acht lässt, wenn er vor Durchführung einer Beweisaufnahme eine konkrete Strafe zusagt, aussagekräftige und greifbare Beweismittel bewusst un­ berücksichtigt bleiben und Urteilsgrundlage lediglich das abgesprochene, „schlanke“ Geständnis bildet. Die Annahme einer Fehlvorstellung auf Seiten der Richterschaft über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen scheint deshalb nicht begründbar. Gleiches muss für den Staatsanwalt gelten. Die Beteiligung an einer Urteilsabsprache ist umso verwerflicher, als sowohl Richter als auch Staatsanwalt beim Amtsantritt ihrer ersten Planstelle nach § 29 Abs. 1 RStDG folgenden Diensteid zu leisten haben: „Ich schwöre, daß ich die in der Republik Österreich geltende Rechtsordnung unverbrüchlich beachten und meine ganze Kraft in den Dienst der Republik stellen werde.“ Im Weiteren muss die Tat mit dem Vorsatz erfolgen, einen anderen an seinen konkreten Rechten zu schädigen, wobei auch hier nach ständiger Rechtsprechung keine genaue juristische Kenntnis des Täters vom Inhalt des verletzten konkreten staatlichen Rechts erforderlich ist, sondern eine laienhafte Vorstellung von diesem Recht genügt.400 Als konkrete Rechte kommen 395  Dazu

oben, D. III. 1. im Ergebnis auch Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 76. 397  Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 105. 398  Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 106; OGH JBl 1992, 56 (57). 399  OGH 11 Os 77/04 JBl 2005, 127 (128). 400  OGH 9 Os 16/78 EvBl 1979/82, 243 (246) = SSt 49/48; OGH 9 Os 84/79 JBl 1980, 385 (386); RIS‑Justiz RS0096702; Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 109. 396  So

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

auch öffentliche Rechte in Betracht.401 Nach Ansicht der Judikatur genügt jedoch die Feststellung der Verletzung einer bestimmten Rechtsvorschrift zur Annahme einer Schädigung nicht.402 Ein konkretes öffentliches Recht ist danach erst betroffen, wenn eine bestimmte in der Rechtsordnung festgelegte staatliche Maßnahme vereitelt und damit der Zweck behindert werde, den der Staat mit der Einführung der dieser Maßnahme zugrundeliegenden Vorschrift erreichen wolle.403 Essenz der strafprozessualen Verfahrensrechte ist der Grundrechtsschutz des Angeklagten.404 Die wesentlichen Prozessrechtsgrundsätze sind gerade deswegen nach dem förmlichen Programm der österreichischen Strafprozessordnung strikt durchzusetzen, um den Schutz der Subjektstellung des Angeklagten zu garantieren und Fehlurteile im Namen des österreichischen Volkes zu verhindern. Diesen hinter den Verfahrensgrundsätzen stehenden Zweck vereitelt der Richter, wenn er im Rahmen einer Urteilsabsprache den gesetzlich vorgeschriebenen Weg zur Urteilsfindung missachtet.405 Der an einer Urteilsabsprache beteiligte Richter weiß, dass er den Angeklagten mit dem informellen Prozedere in seinem Recht auf Durchführung eines justizförmigen, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen fair ablaufenden Verfahrens beschneidet. Zugunsten ihrer Arbeitsersparnis finden sich jedoch sowohl Richter als auch Staatsanwalt mit dieser Schädigung ab und lassen somit ihre Entscheidung von sachfremden Beweggründen beeinflussen, die auch nicht mit dem Argument der Effektivität der Strafrechtspflege aufzuwiegen sind.406 Nach anderer Ansicht sei bei der Prüfung des Schädigungsvorsatzes entscheidend, ob das Verfahrensergebnis nach Befinden des Richters bei rechtmäßigem Verhalten unter Umständen anders ausgefallen wäre.407 Das sei stets der Fall, wenn der Richter es ernstlich für möglich halte, dass es ohne Geständnis zu keiner Verurteilung gekommen wäre oder die weitere Sachverhaltserforschung einen schwereren Tatvorwurf belegt hätte.408 Urteilsabsprachen werden typischerweise dann praktiziert, wenn die Sach- und Rechtslage 401  Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 114; Schallmoser, RZ 2016, 210 (213–215). 402  Zagler, in: SbgK-StGB (2002), § 302 Rn. 116. 403  OGH 9 Os 16/78 EvBl 1979/82, 243 (245) = SSt 49/48; RIS‑Justiz RS0096270; Zagler, in: SbgK‑StGB (2002), § 302 Rn. 116; Marek, 41. Ottensteiner (2013), 75 (82). Vgl. auch Birklbauer, JSt 2014, 255. 404  Berka, RZ 2008, 114 (116). 405  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (952); ders., in: Neumayr, Beschleunigung von Zivilund Strafverfahren, 161 (164). 406  Zum Rechtfertigungsgedanken der Effektivität der Strafrechtspflege oben, D. IV. 407  So etwa Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 79 m. w. N. 408  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 79.



I. Vorschläge327

schwierig ist und die Beweisfragen komplex sind. Das Geständnis wird deshalb für eine Verurteilung gebraucht. Ohne weitergehende Sachverhaltsaufklärung muss der Richter es auch für möglich halten, dass das konventionelle Verfahren zu einer anderen Beurteilung geführt hätte. Das denkbare Argument, ein Richter werde sich nur auf eine Urteilsabsprache einlassen, wenn er den Ausgang des Verfahrens bereits anhand der Aktenlage beurteilen könne, geht – wie oben aufgezeigt409 – fehl, da es keine nach Aktenlage eindeutigen Fälle geben sollte. Damit wäre auch nach dieser Ansicht der Schädigungsvorsatz begründbar. Zu einem tatsächlichen Schadenseintritt muss es nach dem Gesetzeswortlaut nicht kommen,410 weshalb irrelevant ist, ob das Urteil bei objektiver Betrachtung nach einem gesetzeskonformen Verfahrensgang letztlich genauso ausgesehen hätte.411 (2) Bestechung, § 304 öStGB Auch bei dem Bestechungsdelikt nach § 304 öStGB sind Richter und Staatsanwalt als Amtsträger nach § 74 Abs. 1 Nr. 4 öStGB grundsätzlich taugliche Täter. Diesen Amtsträgern müsste als Gegenleistung für ihre Amtshandlung ein Vorteil zuwachsen, wobei auch immaterielle Vorteile ausreichen.412 Vorteil i. S. d. § 304 öStGB ist jede Zuwendung, auf die der Empfänger keinen Anspruch hat und die entweder ihn selbst als Beamten oder einen Dritten, wirtschaftlich, rechtlich oder sozial besser stellt, ihm damit objektiv nützlich ist.413 In dem für eine Urteilsabsprache signifikanten Tausch „Geständnis gegen Milde“ müsste demnach für die beteiligten Amtsträger ein immaterieller Vorteil i. S. d. § 304 öStGB erblickt werden können. So ein Vorteil könnte in dem bereits erörterten minimierten Arbeitsaufwand liegen. Durch eine Urteilsabsprache lässt sich die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung erheblich verkürzen, ja sogar ganz umgehen. § 270 Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 4 öStPO ermöglichen ein verkürztes Urteil. Allerdings wird eine solche Arbeitsersparnis des Richters in der deutschen Literatur zu Recht nicht als Zuwendung, die der Angeklagte der Justiz bzw. deren Amtsträgern erbringe, gewertet, sondern als „Reflex“ eines prozessualen Verhaltens bezeichnet, denn mit der Ablegung eines Geständnisses verfolge der Angeklagte bzw. seine Verteidigung ebenso eine Taktik wie mit dem Stellen von Beweis409  Oben,

D. I. 1. b) cc). 41. Ottensteiner (2013), 75 (81). 411  Marek, 41. Ottensteiner (2013), 75 (83). 412  Hauss/Komenda, in: SbgK-StGB (2014), § 304 Rn. 73. 413  OGH 17 Os 8/16d JBl 2016, 672 (676) mit Anm. Birklbauer; RIS-Justiz RS0130815; Hauss/Komenda, in: SbgK‑StGB (2014), § 304 Rn. 64; Marek/Jerabek, Korruption und Amtsmissbrauch, S. 89. 410  Marek,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

anträgen, so dass die Geldmittel der Justiz lediglich nebenbei geschont würden.414 Die Ausübung bzw. Nichtausübung von Verfahrensrechten unter den Vorteilsbegriff des § 304 öStGB zu subsumieren würde deshalb zu einer übermäßigen Ausweitung des Tatbestands führen.415 Für die Arbeitsersparnis der Staatsanwaltschaft muss freilich dasselbe gelten. Eine Anwendung des geltenden § 304 Abs. 1 öStGB scheidet somit aus. Dieses Ergebnis vermag jedoch vor dem Hintergrund, dass die Eigentümlichkeiten der Urteilsabsprachenpraxis das Ansehen der Justiz in den Augen der Allgemeinheit gefährden, nicht jeden zufrieden zu stellen. Entsprechend fordert im deutschen Schrifttum Erb vom deutschen Gesetzgeber die Einführung einer Sondervorschrift zur Sanktionierung illegaler Urteilsabsprachen im Strafverfahren, denn der Tauschcharakter solcher Absprachen stelle ein „ernstes Korruptionsphänomen“ dar.416 Dieser Vorschlag könnte unter Umständen auch seitens der österreichischen Legislative überdacht werden. Nun unterscheidet sich zwar das österreichische Strafprozessrecht im Umgang mit dem Urteilsabsprachenkuriosum deutlich vom deutschen Strafprozessrecht. Dennoch haben beide Länder mit dem Problem illegaler Urteilsabsprachen zu kämpfen. In Österreich deswegen, weil die geltende Strafprozessordnung die durch den OGH verbotenen und von der Strafrechtspraxis dennoch ausgeübten Urteilsabsprachen nicht einmal im Ansatz kennt; in Deutschland, weil sich die Strafjuristen nicht an die in § 257c dStPO und § 302 Abs. 1 S. 2 dStPO formulierten Grenzen halten. Nach Ansicht von Erb berge die Einführung einer Sondervorschrift jedenfalls die Chance, die deutsche Strafjustiz aufzurütteln und von ihren bisherigen Gepflogenheiten abzubringen, denn der ihre Integrität betreffende Vorwurf der Korruption würde die Justiz „ins Mark treffen“.417 Den Einwurf einer ultima‑ratio-Funktion des Strafrechts418 erklärt Erb richtigerweise für in diesem Fall ungültig, da sich die deutsche Justiz mit der Bedienung illegaler Urteilsabsprachen beharrlich ihrer Gesetzesbindung widersetze.419 Entsprechendes müsste für die österreichische 414  Erb,

StV 2014, 103 (108); Rönnau, Absprache, S. 235. zu §§ 331 ff. dStGB bereits Rönnau, Absprache, S. 235; Erb, StV 2014, 103 (108). 416  Erb, StV 2014, 103 (108). Vgl. zum deutschen Recht auch Stuckenberg, ZIS 2013, 212 (218); Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 13.1, 21.4. 417  Erb, StV 2014, 103 (108). Vgl. dazu auch Ratz, ÖJZ 2009, 949 (954). Zur Unbestechlichkeit als ethischer Grundsatz für die Justiztätigkeit Bosina, in: Pilgermair, Wandel, 387 (395). 418  So Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 (672). Zur ultima-ratio-Funktion des Strafrechts oben, G. I. 1. a). 419  Erb, StV 2014, 103 (108). Zur Nichtbeachtung des deutschen Verständigungsgesetzes oben, G. I. 415  So



I. Vorschläge329

Justiz gelten. In Österreich würde die Verfolgung solcher Korruptionsvorwürfe wohl nach §§ 20a, 20b Abs. 1, 3 öStPO der zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) übertragen werden.420 (3) Nötigung, § 105 öStGB Der Tatbestand der Nötigung nach § 105 öStGB erfasst die Gewaltanwendung und gefährliche Drohung gegen einen anderen, um diesen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, welches er ohne den Einsatz dieser Nötigungsmittel nicht will.421 Der zu Nötigende soll vor Angriffen auf die Freiheit seiner Willensbildung und Willensentschließung geschützt werden.422 Im Kontext der Drohung i. S. d. § 164 Abs. 4 öStPO wurde bereits dar­ gelegt,423 dass die geständnisbedingte Strafmaßankündigung des Gerichts zur Erfüllung der Drohungsalternative geeignet ist. Eine solche (immanente) Drohung des Gerichts mit einem höheren Strafmaß bei streitigem Weiterverhandeln wäre dann auch nach § 105 Abs. 1 i. V. m. § 74 Abs. 1 Nr. 5 öStGB gefährlich, da zumindest die Ehre des Angeklagten i. S. d. § 74 Abs. 1 Nr. 5 öStGB verletzt ist.424 Abgenötigtes Verhalten wäre die Geständnisablegung des Angeklagten,425 wozu dieser nach Art. 90 Abs. 2 B‑VG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und § 7 Abs. 2 öStPO nicht verpflichtet ist.426 Rechtswidrig nach § 105 Abs. 2 öStGB wäre die (immanente) Drohung auch deshalb, weil die Inanspruchnahme des dem Angeklagten durch die Strafprozessordnung eingeräumten Rechts auf vollständige Durchführung einer Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, wie oben erläutert,427 als strafschärfende Folge zu bewerten wäre. Das Gericht könnte sich demnach bei einer Urteilsabsprache einer Nötigung nach § 105 Abs. 1 öStGB strafbar machen.

420  Vgl. Ratz, ÖJZ 2009, 949 (954). Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Erb, StV 2014, 103 (109). 421  Seiler, in: SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 6, 7. 422  Seiler, in: SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 6. 423  Oben, D. I. 2. b) aa). 424  Vgl. Seiler, in: SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 38, 50. 425  Vgl. Seiler, in: SbgK-StGB (2005), § 105 Rn. 59 m. w. N. 426  Siehe dazu oben, D. I. 2. 427  Nach der Rechtsprechung des OGH ist die strafschärfende Berücksichtigung eines fehlenden Geständnisses unzulässig, dazu oben, D. I. 2. a) bb).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

bb) Mögliche Strafbarkeit der Verteidigung Nicht nur für Justizjuristen, auch für die Verteidigung besteht bei einer Urteilsabsprache die Eventualität einer Strafbarkeit. Eine Strafbarkeit des Verteidigers wegen Beteiligung am Amtsmissbrauch soll angesichts seiner fehlenden Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung (§ 3 öStPO) grundsätzlich, also auch bei dessen Initiativergreifung, ausgeschlossen sein, wenn nicht der unwahrscheinliche Fall einträte, dass der Verteidiger positiv wisse, dass der Vorsitzende ein seiner (des Vorsitzenden) Überzeugung zuwiderlaufendes Fehlurteil offeriere.428 Fraglich ist, ob die Verteidigung im Rahmen einer Urteilsabsprache als tauglicher Täter in Betracht kommen könnte. Die strafprozessrechtliche Stellung des Strafverteidigers ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, denn sie hilft bei der Bestimmung zulässigen Verteidigerhandelns.429 Nach österreichischem Schrifttum und Judikatur ist die Verteidigung Beistand des Beschuldigten bzw. des Angeklagten.430 Von diesem Rechtsverständnis geht auch der Gesetzgeber aus und bestimmt in § 57 Abs. 1 öStPO, dass die Verteidigung dem Beschuldigten beratend und unterstützend zur Seite steht.431 Ob der Verteidiger darüber hinaus auch Organ der Rechtspflege ist, wird unterschiedlich beurteilt.432 Vertreten wird überwiegend, der Verteidiger bleibe ausschließlich Rechtsbeistand.433 Dieser habe gemäß § 3 öStPO nicht an der Wahrheitsfindung, sondern nach § 9 Abs. 1 RAO lediglich an der Entlastung des Angeklagten mitzuwirken.434 Als Beistand habe der Verteidi428  Ratz, 18. ÖJT (2012), Band III/2, 16 (52), ders., in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil‑ und Strafverfahren, 161 (163–165); zustimmend Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354 (355), der jedoch aufgrund der Judikatur der Schöffengerichte zur subjektiven Tatseite eine Strafbarkeit für nicht stets völlig ausgeschlossen hält. 429  Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn.  10; siehe auch Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (110–114). 430  OGH Ds 35/37 SSt 17/122; aus der umfangreichen Literatur siehe etwa Jolmes, Verteidiger, S. 72 mit Fn. 3 m. w. N.; Grabenweger, Grenzen, S. 69 f.; Platzgummer, Grundzüge, S. 63; Kretschmer, Parteiverrat, S. 320 mit Fn. 3; Achammer, in: WK-StPO (2009), § 57 Rn. 36 m. w. N.; Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (113); Lechner, Stellung, S. 70; Haißl, in: Schmölzer/ Mühlbacher, StPO I (2013), § 57 Rn. 4; Fabrizy, StPO, § 57 Rn. 3 m. w. N. 431  Siehe auch ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 82 (abrufbar unter: siehe Fn. 233). 432  Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.17. 433  So etwa Grabenweger, Grenzen, S. 71; Lechner, Stellung, S. 70; Salzborn, Eduard, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (113); Lorenz, 1. Dreiländerforum (2011), 204 (206 f.); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 57 Rn. 1 f.; Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.17; Soyer/Schumann, in: WK-StPO (2017), § 57 Rn. 24. Dazu auch Kretschmer, Parteiverrat, S. 320 m. w. N. 434  Salzborn, Eduard, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (110 f.).



I. Vorschläge331

ger auch das Recht, zugunsten seines Mandanten nicht die Wahrheit zu sagen, solange er dabei keine Straftatbestände erfülle.435 Die Verteidigung ist bereits aufgrund ihrer Beistandsstellung dem öffentlichen Interesse an einem rechtsstaatlichen Strafverfahren zumindest bedingt verpflichtet, als die Rechtspflegedelikte des Strafgesetzbuchs (§§ 288, 289, 293, 295, 297, 299 öStGB) auch für den Verteidiger gelten.436 Die Verteidigung unterliegt nach § 57 Abs. 1 öStPO der Bindung an Gesetze und hat nach § 9 Abs. 1 RAO die Rechte ihrer Partei gegen jedermann mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit zu vertreten. Die Pflichtenbindung manifestiert sich etwa in dem Institut notwendiger Verteidigung (§ 61 öStPO), in der möglichen Ausschließung des Verteidigers nach § 60 öStPO und in der Sanktionierbarkeit von Fehlverhalten in der Hauptverhandlung nach §§ 236, 236a öStPO.437 Nach anderer Ansicht in der Literatur und auch in der Rechtsprechung ist der Verteidiger nicht ausschließlich Rechtsbeistand, sondern ihm wird auch eine Organeigenschaft zugesprochen.438 Die Definition des Begriffs Organ der Rechtspflege ist jedoch nicht geklärt.439 Mitunter wird der Ausdruck Organ der Rechtspflege verwendet, ohne inhaltliche Unterschiede zur Beistandsstellung vorzunehmen.440 Teilweise geht es aber auch um die Fixierung einer Wahrheitspflicht des Verteidigers, die mit dem Grundsatz „Alles, was 435  Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 57 Rn. 2. So auch Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (113), der ausführt, „dass soweit der Verteidiger antragsgemäß plädiert, Beweismittel vorlegt und Zeugen beantragt er letztlich nur als Sprachrohr seines Mandanten fungiert. Es ist nicht er, der bewusst und gewollt Unwahrheiten preisgibt. Die Diskussion ob der Verteidiger berechtigt sein soll zu lügen – ist entbehrlich. Wenn, lügt unter Umständen der Beschuldigte nicht sein Verteidiger, sofern er die Verantwortung des Beschuldigten dem Gericht offenbart.“ 436  ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 82 (abrufbar unter: siehe Fn. 233); Grabenweger, Grenzen, S. 71; Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 57 Rn. 7. 437  Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 57 Rn. 11, 18 f. 438  Roeder, Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes, S. 87; Platzgummer, Grundzüge, S. 64; Achammer, in: WK-StPO (2009), § 57 Rn. 17, 36 m. w. N.; Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55; Fabrizy, StPO, § 57 Rn. 3 m. w. N.; RISJustiz RS0116566: „Verteidiger ist nämlich nur eine vom Beschuldigten/Angeklagten verschiedene Person, die nicht bloß als dessen Vertreter schlechthin, sondern von ihm unabhängig als Organ der Strafrechtspflege einschreitet und im Übrigen die prozessualen Rechte nicht im Namen, sondern im Interesse des Angeklagten ausübt.“ Vgl. auch OGH Ds 35/37 SSt 17/122: „Der Verteidiger kann nie mit dem Verteidigten identifiziert werden. Er übt vielmehr eine im öffentlichen Rechte gegründete Befugnis im Interesse einer geordneten Rechtspflege aus.“ Dazu Jolmes, Verteidiger, S.  77 f. Siehe auch Grabenweger, Grenzen, S. 58–61 m. w. N. aus dem Schrifttum. 439  Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55; vgl. aus der älteren Literatur Jolmes, Verteidiger, S. 79–93. 440  Hierzu Jolmes, Verteidiger, S.  85–88 m. w. N.; Grabenweger, Grenzen, S. 59 f., 70. Vgl. auch Nemec, Martin, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 3.7.

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist“441 beschrieben wird.442 Diese Vertreter einer Organtheorie scheinen somit um eine weitere Typisierung der Rechtsstellung des Verteidigers bemüht und mit der Organeigenschaft eine besondere Verpflichtung des Verteidigers zu verbinden. Die Wahrheitspflicht verdeutlicht, dass der Verteidiger auch das öffentliche Interesse an der Effektivität der Rechtspflege zu vertreten haben soll.443 Zwar bleibt der Verteidiger bei der Zuerkennung einer Organeigenschaft konsequent parteiliche Unterstützung des Beschuldigten, er dient mit dieser strikten Parteilichkeit aber auch dem öffentlichen Interesse an der Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, denn auf diese Weise erscheint eine Kontrolle des Schuldvorwurfs in einem fairen Verfahren möglich.444 Jedenfalls könnte die sich in der Organstellung abmalende spezielle Verpflichtung des Rechtsbeistandes positiven Einfluss auf den in dieser Untersuchung bereits angemahnten Ausbau der Verteidigungsrechte haben.445 Denn wird dem Verteidiger nicht nur eine private, sondern auch eine öffentliche Funktion zugeschrieben, „weil die Gemeinschaft ein Interesse daran hat, dass im Strafverfahren auf der Beschuldigtenseite ein zusätzlicher Wächter fungiert“446, dann lässt sich der Ausbau der Verteidigerbefugnisse nicht so leicht mit dem Argument einer möglichen Missbrauchsgefahr verhindern. Die Organstellung präsentiert sich somit als Basis für eine Ausweitung der Verteidigerbefugnisse. Nach § 57 Abs. 2 S. 1 öStPO übt der Verteidiger die Verfahrensrechte für den Beschuldigten aus. In der Strafprozessordnung scheinen sich besondere Machtübertragungen an den Verteidiger nicht finden zu lassen. Eine Verbesserung der Rechtsstellung der Verteidigung ist aber nur schwer voranzutreiben, wenn im Verteidiger lediglich ein „Sprachrohr“447 des Mandanten gesehen wird. Indes könnte zumindest fraglich sein, ob es auch zukünftig bei der reinen Beistandsstellung des Verteidigers bleiben 441  Dahs, Handbuch, Rn. 53. Vgl. schon Friedmann, Die Kunst der Verteidigung, S. 112: „Alles, was der Verteidiger sagt, muß wahr sein, er braucht aber nicht alles zu sagen, was wahr ist.“ 442  Siehe Roeder, Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes, S. 87; zustimmend Achammer, in: WK-StPO (2009), § 57 Rn. 36; Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55. Für ein Verbot zu lügen, allerdings ohne Bezug zur Organtheorie Soyer/Schumann, in: Fuchs‑FS, 539 (550 f., 554). 443  So zum deutschen Recht Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 17. 444  Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 17. Vgl. auch Essl, JSt 2010, 10 (12); Fabrizy, StPO, § 57 Rn. 3 m. w. N. 445  Vgl. Soyer/Schumann, in: Fuchs-FS, 539 (550 mit Fn. 49). Vgl. zum deutschen Recht Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 17; vgl. aus der älteren deutschen Literatur auch Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 194–199. 446  Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 11. 447  Salzborn, Eduard, 8.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010), 107 (113).



I. Vorschläge333

wird, wenn die Verteidigerbefugnisse, dynamisiert durch die Harmonisierungsbemühungen der EU, weiter ausgebaut werden.448 Der mit dem ­StPRÄG I 2016449 erfolgte Wegfall der Überwachungsmöglichkeit des Kontakts zwischen Verteidiger und festgenommenem Beschuldigten (§ 59 Abs. 3 öStPO) illustriert, dass dem Verteidiger in höherem Maße Integrität zugemessen wird.450 Befragungen deutscher Strafverteidiger haben gezeigt, dass sie ihre Organstellung angesichts stärkerer strafprozessualer Rechte akzeptieren.451 (1) Begünstigung, § 299 öStGB Die Frage, ob sich die Verteidigung einer Begünstigung nach § 299 öStGB strafbar machen kann, wenn sie sich auf eine Urteilsabsprache mit der Justiz einlässt, ist nach dem vorstehend Ausgeführten vor dem Hintergrund ihrer prozessualen Rechte und Pflichten zu erörtern. Geschütztes Rechtsgut des § 299 öStGB ist die österreichische Strafrechtspflege.452 Diese müsste durch die Verteidigung bei einer Urteilsabsprache prozessordnungswidrig behindert werden. Prozessordnungsgemäßes Verteidigerverhalten ist nach herrschender Meinung nicht geeignet, den Tatbestand des § 299 öStGB zu erfüllen.453 Die Beurteilung prozessual zulässigen Verteidigerverhaltens bereitet allerdings nicht selten Schwierigkeiten.454 So wird eine Strafbarkeit des Verteidigers wegen Begünstigung etwa in Betracht gezogen, wenn er auf Freispruch plädiere, obwohl der Angeklagte auch seiner Meinung nach im Strafverfahren 448  Vgl. dazu Vargha, Vertheidigung, S. 350: „[…] er ist nicht nur seines Clienten, sondern auch des Staates Mandatar.“ 449  Siehe Fn. 234. 450  Vgl. Lagodny, JSt 2018, 358 (361 f.). 451  Mützelburg, in: Dünnebier‑FS, 277 (283  f.). Deutsche Strafverteidiger sind nach in der Rechtsprechung einhelliger und im Schrifttum herrschender Meinung neben Beistand des Beschuldigten auch unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO), mit der inhaltlichen Aussagekraft, dass sie additional dem Interesse einer am Rechtsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege dienen, dazu nur die Nachweise bei Wohlers, in: SK-StPO, Vor § 137 ff. Rn. 4 mit Fn. 17. Zur sogenannten „eingeschränkten Organtheorie“ nach Beulke siehe Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 14; Dornach, Mitgarant, S. 189. 452  Tipold, in: SbgK-StGB (2007), § 299 Rn. 4. 453  Tipold, in: SbgK-StGB (2007), § 299 Rn. 27 m.  w. N.; Soyer/Schumann, in: Fuchs-FS, 539 (549 f.); Pilnacek/Świderski, in: WK-StGB (2018), § 299 Rn. 16. Zur Rechtfertigungslösung Tipold, in: SbgK‑StGB (2007), § 299 Rn. 33 m. w. N. 454  Dazu die Beispiele bei Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 57 Rn. 9.

334

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

überführt worden sei, denn die Verteidigung agiere nur dann in Abstimmung mit dem in-dubio-pro-reo-Grundsatz, wenn die belastenden Beweise für eine Verurteilung nicht genügten.455 Wirkt der Verteidiger an einer Urteilsabsprache mit, ist es möglich, dass er eine objektiv gerechte Bestrafung seines Mandanten verhindert. Fraglich könnte sein, ob er sich in einem solchen Fall einer teilweisen Strafvereitelung nach § 299 Abs. 1, 2. Alt. öStPO strafbar machen kann. Nach Ratz dürfe der an einer prozessordnungswidrigen Urteilsabsprache mitwirkende Verteidiger seiner rechtsstaatlichen Rolle entsprechend auf eine tat- und schuldunangemessene Strafe bis zur Überführung des Angeklagten in der Hauptverhandlung hinzielen, auch wenn er den Angeklagten für schuldig und die höchstzulässige Strafe für angemessen erachte.456 Zur Suche nach der materiellen Wahrheit (§ 3 öStPO) sei der Verteidiger als Beistand des Angeklagten gerade nicht verpflichtet.457 Velten ist wohl so zu verstehen, dass der Strafverteidiger an der seinem Mandanten nach § 299 Abs. 2 öStPO zukommenden Privilegierung partizipiere und seine Rechtsstellung als Ausfluss des Grundsatzes der Waffengleichheit insofern akzessorisch zu derjenigen seines Mandanten sei, weshalb der an einer Urteilsabsprache mitwirkende Verteidiger grundsätzlich als möglicher Täter ausscheide.458 Dagegen knüpft eine deutsche Literaturmeinung an den auch im österreichischen Schrifttum459 von Anhängern der Organtheorie partiell vertretenen Grundsatz „Alles, was der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist“460 an und leitet daraus ab, der Strafverteidiger könne in der Freiheit seiner Verteidigerausübung insofern beschränkt sein, dass er zwar an unzulässigen Urteilsabsprachen mitwirken, aber andererseits nicht auf sie hinwirken dürfe.461 Dazu wird ausgeführt:462 Als Rechtsbeistand dürfe der 455  So Jolmes, Verteidiger, S. 92 mit Verweis in Fn. 121 auf Schuppich, in: Liebscher/Müller, Einhundert Jahre, 197 (204). 456  Ratz, Österreichisches AnwBl 2015, 276 (279). Ähnlich im deutschen Schrifttum Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 137 f.; Siolek, Verständigung, S. 220; Janke, Verständigung, S. 260. Zur sogenannten „Strafjustizvereitelung“ Jahn, in: SSW‑StGB, § 258 Rn. 25 m. w. N. Vgl. auch Fahl, in: Engländer/Fahl/Satzger/Swoboda, Stolpersteine, 17 (22), wonach der objektive Tatbestand des § 258 dStGB nicht schon dann erfüllt sei, wenn eine höhere Strafe objektiv gerecht gewesen wäre. 457  Ratz, Österreichisches AnwBl 2015, 276 (279). 458  Velten, in: WK-StPO (2015), Nach § 1 Rn. 80. 459  Hierzu die Nachweise oben, Fn. 442. 460  Oben, Fn. 441. 461  Siehe Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn.  123a; zustimmend Dießner, StV 2011, 43 (48). Zur grundsätzlichen Vergleichbarkeit informeller Urteilsabsprachen im deutschen und österreichischen Recht, Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14.3. 462  Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 123a; dort auch zum folgenden Text.



I. Vorschläge335

Verteidiger Vorschläge der Justiz billigen, selbst wenn nach seiner Meinung diese rechtswidrig seien und der Angeklagte dadurch zu milde bestraft würde. Derjenige Verteidiger, der die Initiative zu einer Urteilsabsprache ergreife, die eine unangemessen geringe Bestrafung bedinge, sei aber zumindest nicht von vornherein straflos. Eine Strafbarkeit käme zumindest in krassen Fällen in Betracht, etwa dann, wenn die vom Verteidiger initiierte Absprache die gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe noch unterschreite.463 Eine Straflosigkeit wäre nach dieser Auffassung somit nicht zwangsläufig, wenn man dem Verteidiger in seiner Organeigenschaft eine vorstehend beschriebene Wahrheitspflicht auferlegt.464 (2) Verletzung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses, § 122 Abs. 1 öStGB Ein großes Manko der Urteilsabsprachenpraxis ist die fehlende Einbeziehung des Angeklagten in die Verständigungsgespräche, gefolgt von der nicht auszuschließenden mangelhaften Information über deren Inhalt durch die Verteidigung.465 Der Angeklagte wird durch diese Nichteinbeziehung nicht nur offensichtlich benachteiligt, sondern läuft Gefahr, dass die Verteidigung innerhalb dieser vertraulichen Gespräche ihr bekannt gewordene Tatsachen, die für den Mandanten nachteilig sind, offenbart.466 Ist der Mandant bei derartigen Gesprächen, welche von allen beteiligten Berufsjuristen mit dem Ziel einer einvernehmlichen Verfahrenserledigung geführt werden, außer Reichweite, ist es nicht unvorstellbar, dass sich die Verteidigung dazu hinreißen lässt, auch kritische Äußerungen über den eigenen Mandanten zu tätigen, insbesondere, um den vereinbarten „Superschulterschluss“ mit den Justizjuristen zu untermauern.467 Auch solche Äußerungen müssten nach dem Schutzzweck der Norm unter die Vorschrift des § 122 Abs. 1 öStGB 463  Zum Ganzen Beulke/Ruhmannseder, Strafbarkeit, Rn. 123a. Zum Strafvereitelungsrisiko im Zusammenhang mit einer Urteilsabsprache auch BGH StraFo 2009, 158 mit Anm. Bockemühl. 464  In der deutschen Literatur wird die Frage, ob illegale Urteilsabsprachen, die keine objektiv zu geringe Bestrafung nach sich ziehen, eine Strafbarkeit des initiierenden Verteidigers begründen können, im Hinblick auf den Schutzzweck der Verfolgungsvereitelung, der nicht auf die Einhaltung der Prozessrechtsgrundsätze gerichtet sei, verneint, siehe Altenhain, in: NK‑StGB, § 258 Rn. 34; vorsichtiger Burhoff/Stephan, Strafvereitelung, Rn. 150 f. 465  Zum Problem des Ausschlusses des Angeklagten von den Verhandlungsgesprächen oben, D. II. 3. und 4. 466  Rönnau, Absprache, S. 241; Siolek, Verständigung, S.  222 f.; Fahl, in: Engländer/Fahl/Satzger/Swoboda, Stolpersteine, 17 (24). 467  Zum „Superschulterschluss“ oben, B. II. 2. e) und unten, G. I. 3. e).

336

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

(„zugänglich geworden“) subsumierbar sein, denn diese Aussagen werden durch einen persönlichen Kontakt mit dem Mandanten überhaupt erst ermöglicht.468 § 157 Abs. 1 Nr. 2 öStPO und § 9 Abs. 2 RAO ist zu entnehmen, dass der Verteidigung die Weitergabe der ihr anvertrauten Angelegenheiten und in ihrer beruflichen Eigenschaft bekannt gewordenen Tatsachen verboten sein muss.469 Ohne Schweigepflicht kann ein Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidigung nicht entstehen. Die Verteidigung darf Gespräche deshalb nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Angeklagten führen. Sie muss unmissverständlich abklären, welche Informationen sie an das Gericht weitergeben darf.470 Der Verteidiger ist an eingeholte Weisungen des Angeklagten gebunden, solange diese nicht gesetzeswidrig sind.471 Gegen diese Verpflichtung verstößt die Verteidigung bei der unautorisierten Mitteilung nachteiliger Mandanteninformationen. Eine Missachtung des Gebots einer umfassend informierten Mandantschaft zeigt sich drastisch bei der Kundgabe eines anvertrauten Geständnisses ohne Einverständnis des Mandanten, aber auch bereits bei der Signalisierung von Geständnisbereitschaft.472 Mit einem solchen Verhalten verstößt die Verteidigung gegen die aus § 157 Abs. 1 Nr. 2 öStPO und § 9 Abs. 2 RAO ableitbare Verschwiegenheitspflicht und verletzt damit ein Betriebsgeheimnis im Sinne von § 122 Abs. 1 i.  V. m. Abs. 3 öStGB. (3) Nötigung, § 105 öStGB Die Verteidigung kann sich keiner verbotenen Vernehmungsmethode i. S. d. § 164 Abs. 4 öStPO strafbar machen, der Tatbestand der Nötigung gemäß § 105 öStGB kann jedoch auch innerhalb eines Mandatsverhältnisses erfüllt sein. Eine Nötigung ist insbesondere dann in Betracht zu ziehen, wenn die Verteidigung den Mandanten zur Geständnisablegung drängt.473 Nach Erfahrungsberichten aus der deutschen Strafrechtspraxis liegt es sogar nicht außerhalb aller Realität, dass die Verteidigung den sich selbst als unschuldig be468  So zu § 203 Abs. 1 Nr. 3 dStGB („sonst bekanntgeworden“) Schünemann, 58. DJT (1990), Band I, S. 139 f.; zustimmend Siolek, Verständigung, S.  222 f. 469  Haißl, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (2013), § 57 Rn. 13. 470  Kretschmer, Parteiverrat, S. 321  f.; Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55. Hierzu auch Csoklich/Scheuba, in: Csoklich/Scheuba, Standesrecht, 49 (55 f.). Siehe auch unten, G. I. 3. e). 471  Kretschmer, Parteiverrat, S. 321; Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55. 472  Siolek, Verständigung, S. 223; zum „point of no return“ oben, D. II. 5. 473  So zum deutschen Recht Fahl, in: Engländer/Fahl/Satzger/Swoboda, Stolpersteine, 17 (26 f.).



I. Vorschläge337

zeichnenden Mandanten zu einer Geständnisablegung zu bewegen sucht.474 Wie schwerwiegend eine Einflussnahme der Verteidigung die Willensentschließungsfreiheit des Mandanten beeinflussen kann, zeigt die Tatsache, dass sogar die Parallele zu den alten Inquisitionsmethoden nicht gescheut wird, wenn Verteidigung und Justizjuristen gemeinsam auf den Angeklagten zur Geständniserlangung einwirken.475 cc) Zwischenergebnis Nach dem Ergebnis der bisherigen Untersuchung schöpfen die Berufsjuristen im Zuge einer Urteilsabsprache nicht nur strafprozessual zulässige Spielräume aus, sondern es kommt zu einer Kollision mit der Strafprozessordnung.476 Zumindest in krassen Fällen einer solchen Kollision mit den strafprozessualen Grundprinzipien und des Strafzumessungsrechts scheint die Grenze rechtlich vertretbaren Handelns überschritten. Würde sich unter den Berufsjuristen verbreiten, dass Grenzüberschreitungen im Kontext von Urteilsabsprachen bei Publikwerden als Straftat tatsächlich geahndet werden, schiene die Möglichkeit einer Disziplinierung nicht vollkommen ausgeschlossen.477 Die Wiederaufnahme des Verfahrens erscheint als probates Mittel, um abgesprochene Urteile aufdecken und so auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten beurteilen zu können.478 Die Berufsjuristen bewegen sich im Rahmen einer Urteilsabsprache jedenfalls auf dünnem Eis, das allzu leicht brechen kann. Die Folgen sind nicht nur für den Rechtsstaat drastisch. e) Zivilrechtliche Anwaltshaftung Nach ständiger Rechtsprechung des OGH haftet der Rechtsanwalt gegenüber seinem Mandanten, wenn er vorwerfbar sorgfaltswidrig handelt und dadurch ein nachteiliges Zivilurteil bewirkt: „Die hypothetische Betrachtung, ob der Kläger bei sachgemäßer anwaltlicher Vertretung den Vorprozess gewonnen hätte, betrifft nicht nur Rechtsfragen, sondern auch Tatsachenfeststellungen. Die Frage, wie der Vorprozess richtigerweise geführt und ent474  Siehe dazu BGHSt 59, 21–28, wonach der erstinstanzliche Verteidiger den Angeklagten nach dem Revisionsvorbringen des neuen Verteidigers zu einer Sacheinlassung gedrängt haben soll, die der Angeklagte in Wirklichkeit gar nicht gewollt habe. 475  Dazu oben, D. I. 2. b) bb). 476  Oben, D. IV. 477  So zum deutschen Recht Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (758); vgl. Ratz, ÖJZ 2009, 949 (954). 478  Zur Wiederaufnahme des Verfahrens oben, G. I. 2. e).

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

schieden werden hätte müssen, beantwortet das Regressgericht, das auch über die Durchführung der beantragten Beweisaufnahmen aus seiner Sicht und nach seinem Ermessen zu entscheiden hat, unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Das Regressgericht hat seiner Entscheidung den Sachverhalt zu Grunde zu legen, der dem Gericht des Vorverfahrens bei pflichtgemäßem Verhalten des Rechtsanwalts unterbreitet und von ihm aufgeklärt worden wäre.“479 Zur zivilrechtlichen Haftung eines Strafverteidigers stellte der OGH aktuelleren Datums480 hingegen fest: „Die Bindungswirkung eines rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteils hat zur Folge, dass eine Überprüfung des aufrechten Schuldspruchs, dh der Umstände, die die Schuldfrage betreffen, und der rechtlichen Subsumtion unter den zur Last gelegten Tatbestand, in einem nachfolgenden Zivilverfahren (hier: Schadenersatzprozess gegen den Verteidiger) ausgeschlossen ist. Der Verurteilte kann sich in einem nachfolgenden Zivilverfahren daher nicht erfolgreich darauf berufen, dass die Verurteilung falsch sei. Für eine derartige Überprüfung eines rechtskräftigen Strafurteils kann nur der Rechtsschutz im Strafverfahren, allenfalls in Form einer Wiederaufnahme, zur Verfügung stehen.“ In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte der Verteidiger seinem Mandanten in einem Steuerstrafverfahren mitgeteilt, dass ihm bei Geständnisablegung eine Geldstrafe, aber keine weiteren Nachteile drohten; der Mandant zeigte sich daraufhin geständig und wurde rechtskräftig verurteilt. Infolgedessen nahm allerdings das Finanzamt den Mandanten wegen der Abgabenschuld additional in Anspruch; er beglich dafür schließlich 190.000 Euro. Mit dem Argument, er habe sich nur wegen anwaltlicher Falschberatung schuldig bekannt, begehrte der Mandant diesen Betrag nun von seinem Verteidiger als Schadenersatz. Der OGH lehnte einen Schadenersatzanspruch ab. Eine rechtskräftige Verurteilung stelle keinen Schaden i. S. d. § 1293 ABGB dar, denn bis dieses Urteil nicht beseitigt sei, stehe für das Zivilgericht bindend fest, dass der Verurteilte die festgestellte Tat tatsächlich begangen habe. Für die Haftung des Strafverteidigers besagt dies somit, dass nach der Rechtsprechung des OGH die falsche Rechtsberatung des Angeklagten bezüglich der weiteren Rechtsfolgen einer Verurteilung und der Empfehlung zur Geständnisablegung keinen Schadenersatzanspruch herbeiführt, solange das strafgerichtliche Urteil nicht aufgehoben wurde.481 Dem zivilrechtlichen Haftungsrisiko des Strafverteidigers kommt danach keine große Bedeutung 479  RIS-Justiz

RS0127136. EvBl 2016/53, 368–370; RIS‑Justiz RS0130452. 481  JSt-NL VÖStV 2016/3 [abrufbar unter: http://strafverteidigung.at/wp-content/ uploads/2017/02/282_Newsletter-Nr-37-JSt_4_2016.pdf (abgerufen am: 31.08.2019)]. 480  OGH 8 Ob 89/15v



I. Vorschläge339

zu. Von Praktikern wird allerdings auf widersprechende Ansichten im Schrifttum hingewiesen.482 Nach Klicka leide das Urteil an einem „fundamentalen Mangel“, weil kein sachlicher Grund bestehe, warum in einer nachteiligen zivilgerichtlichen Verurteilung ein Schaden erblickt werden könne, in einer nachteiligen strafgerichtlichen Verurteilung aber nicht.483 Namentlich die vom OGH angenommene allseitige Rechtskraftwirkung finde, so Klicka weiter, ihre Rechtfertigung allein darin, dass das Strafurteil in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sei. Sei aber gerade ungeklärt, ob der Strafverteidiger zum Nachteil des Angeklagten rechtswidrig und schuldhaft gehandelt habe und stehe somit die Grundlage des Verfahrens selbst in Frage, dann sei die Explikation, wegen des durchgeführten Strafverfahrens könne der Verurteilte das für ihn nachteilige Urteil gegenüber seinem Verteidiger nicht als Schaden gelten machen, ein Zirkelschluss. Auch das Strafurteil sei ein Schaden, wenn es bei sorgfaltsgemäßer anwaltlicher Pflichtenerfüllung zu keiner Verurteilung gekommen wäre.484 Unter Zugrundelegung des vorstehend Ausgeführten wird Strafverteidigern deshalb allgemein zu penibler Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten geraten, wozu insbesondere die peinlich genaue Eruierung sämtlicher Folgen eines Schuldspruchs zähle.485 Speziell bei Urteilsabsprachen scheint die Gefahr einer ordnungswidrigen Pflichtenerfüllung der Verteidigung existent. Zu den anwaltlichen Pflichten aus § 57 öStPO gehört die ausführliche Prüfung der Sach- und Rechtslage anhand des Aktenbestands.486 Andernfalls ist eine der Beratungsfunktion der Verteidigung entsprechende, gehaltvolle Erörterung der Verfahrensrechte mit dem Mandanten zur Bestimmung einer effektiven Verteidigungstaktik, insbesondere zur Frage der Sacheinlassung, ausgeschlossen.487 Weitere Sachverhaltsermittlungen der Strafverfolgungsorgane sind unter Umständen durch Beweisanträge zu veranlassen.488 Eigene Ermittlungen der Verteidigung, etwa gemäß § 249 Abs. 3 S. 1 öStPO die Hinzuziehung eines Privat-

482  JSt-NL VÖStV 2016/3

(abrufbar unter: siehe Fn. 481). ÖJZ 2016, 381 (381 f.); dort auch zum folgenden Text. 484  Klicka, ÖJZ 2016, 381 (382). 485  JSt-NL VÖStV 2016/3 (abrufbar unter: siehe Fn. 481). 486  Danek, Österreichisches AnwBl 2015, 72 (73); Stuefer, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 11.9. Zu den anwaltlichen Grundwerten Benn‑Ibler, Österreichisches AnwBl 2011, 410 (413 f.). Zum Vertragsverhältnis Todor‑Kostic, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 2.39 f. 487  Jolmes, Verteidiger, S.  96 f.; Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.26, dort auch zu den weiteren Funktionen des Verteidigers: Rn. 1.24–1.32; vgl. ebenso Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 41–44. 488  Tipold, JSt 2010, 19 (19 f.); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 57 Rn. 2. 483  Klicka,

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G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

sachverständigen489, können geboten sein.490 Um ihrer Aufklärungsfunktion gerecht zu werden, muss die Verteidigung konstitutiv auf den Verfahrensablauf Einfluss nehmen.491 Der Mandant kann dem Verteidiger beim Verteidigungsvorgehen bindende Weisungen erteilen.492 In Zweifelsfällen über die richtige Verteidigungsstrategie zu entscheiden, bleibt dem umfassend informierten und beratenen Mandanten überlassen.493 Bei einer Urteilsabsprache nimmt die Verteidigung unter Ausschluss des Angeklagten an den Verhandlungen teil.494 Dadurch verhindert sie teilweise die Kontrolle ihrer Tätigkeit durch den Mandanten. Der Mandant ist zwar über den gesamten Gesprächsinhalt zu unterrichten.495 Stets darum bemüht, den guten Kontakt zur Justiz zu bewahren, wird die Verteidigung dem Angeklagten aber tendenziell das ausgehandelte Ergebnis als positiv präsentieren, denn ob die Verteidigung bei den Verhandlungen tatsächlich ein gutes Ergebnis erzielt hat, wird der Angeklagte nicht selbständig beurteilen können.496 Er muss sich auf die Information seiner Verteidigung verlassen. Bei einer Urteilsabsprache ist es jedoch nicht mehr Sache des Gerichts, dem Angeklagten das Urteil zu ­verkünden, vielmehr ist die Verteidigung dafür verantwortlich, das ausgehandelte Urteil dem Angeklagten zu überbringen und gleichzeitig dessen Einverständnis einzuholen.497 Die Verteidigung befindet sich in einer „Zwitterstellung“498. Sie ist plötzlich Garant für das unter den Berufsjuristen ausgehandelte Urteil und deshalb durch die Erwartungen des Gerichts beeinflusst.499 Trägt sie nicht zur Arbeitsentlastung des Richters bei, sondern verteidigt den Mandanten ihrer Aufklärungsfunktion entsprechend auch mit der Stellung von Beweisanträgen, dann versperrt sie sich unter Umstän-

489  Zur Rolle des Privatsachverständigen im Hauptverfahren oben, G. I. 3. c) aa); im Ermittlungsverfahren oben, G. I. 3. c) bb) (5). 490  Achammer, in: WK-StPO (2009), § 57 Rn. 12; Bockemühl, JSt 2010, 59 (64 f.); Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 57 Rn. 2; Soyer/Schumann, in: Fuchs-FS, 539 (553); dies., in: WK‑StPO (2017), § 57 Rn. 77–83. 491  Jolmes, Verteidiger, S. 98; Wess, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn. 1.30 f. Zur Aufklärungsfunktion bereits oben, G. I. 3. c) aa). 492  Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55; Bertel, in: Bertel/Venier, StPO, § 57 Rn. 2; Soyer/Schumann, in: Fuchs‑FS, 539 (548). 493  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (188 f.). 494  Dazu oben, D. II. 3. 495  Essl, JSt 2010, 10 (12); Ignor, in: Widmaier/Müller/Schlothauer, Anwaltshandbuch, § 13 Rn. 18. 496  Terhorst, GA 2002, 600 (607); Essl, JSt 2010, 10 (12). 497  Weider, Vom Dealen, S. 149, 156; Schoop, Rechtsmittelverzicht, S. 167. 498  Schoop, Rechtsmittelverzicht, S. 167, der von einer „Zwitterstellung – Sprachrohr des Gerichts einerseits und Berater des Angeklagten andererseits –“ spricht. 499  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955).



I. Vorschläge341

den für die Zukunft die Möglichkeit von Verhandlungsgesprächen.500 Dessen ist sie sich bei den informellen Verhandlungsgesprächen bewusst.501 Ratz berichtet von ihm zugetragenen Erfahrungen eines Strafverteidigers, wonach dieser Verteidiger in unzähligen Hauptverhandlungen erlebt habe, dass Kollegen „demonstrativ und nahezu unter Verbeugung vor dem Vorsitzenden ihr fortlaufendes Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht haben, weshalb ihr Mandant bei derart klarer Sachlage nicht gesteht.“502 Abspracheverfahren strapazieren das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidigung und Mandant.503 Drastisch ausgedrückt besteht die Gefahr des Verkaufs des Angeklagten durch seinen eigenen Verteidiger.504 Ratz505 stellt deshalb treffend fest: Das Problem der Urteilsabsprachen liegt auch in dem vom erkennenden Gericht ausgeübten Druck auf die Verteidigung. Zeigt sich die Verteidigung in einem Verfahren unkooperativ, muss sie die Missbilligung des Gerichts fürchten.506 Sie muss damit rechnen, in künftigen Verfahren keine guten Ergebnisse mehr erzielen zu können. Die Folge sind unzufriedene Mandanten. Letztlich kann auch der „gute Ruf“ auf dem Spiel stehen. Dennoch ist die Verteidigung dazu verpflichtet, diesem Druck standzuhalten. Ihre rechtsstaatliche Stellung gebietet es, dass sie ihre Eigeninte­ ressen an einer Urteilsabsprache hinter die Interessen des Mandanten stellt, damit dem Grundsatz der Waffengleichheit als zentralem Bestandteil des Fairnessgebots des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK genügt werden kann.507 Die Verteidigung muss sich stets auf der Seite ihres Mandanten positionieren,508 insbesondere bei einer Urteilsabsprache.509 Ein „Superschulterschluss“ mit der Justiz verbietet sich.510 Vor allem darf sie sich nicht dazu bestimmt se-

500  So Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955); vgl. auch Essl, JSt 2010, 10 (12); ähnlich, allerdings nicht explizit in Bezug auf Urteilsabsprachen, Kier, 1. Dreiländerforum (2011), 67 (77). 501  Vgl. Murko, Österreichisches AnwBl 2015, 354 (355). 502  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955); ähnlich Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (188). 503  Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung, 357 (389). 504  So Weider, Vom Dealen, S. 149; ähnlich Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung, 357 (359). 505  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955). 506  Ratz, ÖJZ 2009, 949 (955). 507  Vgl. Fabrizy, StPO, § 57 Rn. 2. Zu den Eigeninteressen der Verteidigung oben, B. II. 2. c). 508  Sigl, Verteidigungsrechte, S. 55; Kier, 1. Dreiländerforum (2011), 67 (68 f.); Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187; Todor‑Kostic, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, Rn.  2.43 f. 509  Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung, 357 (389). 510  Zum „Superschulterschluss“ oben, B. II. 2. e).

342

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

hen, dem Gericht Arbeit zu ersparen.511 Die Verteidigung muss sich bewusst sein, dass sie den „point of no return“ überschreitet, sobald sie der Justiz signalisiert, der Angeklagte sei zu Abspracheverhandlungen bereit.512 Der Verteidigung ist es auch untersagt, im Vorhinein auf eine Absprache zu spekulieren und deshalb etwa die Aktenlektüre zu vernachlässigen.513 Es ist ihre Obliegenheit, diejenigen Faktoren aufzuzeigen und Beweismittel zu benennen, die den Angeklagten entlasten, und so auf eine allumfassende Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken.514 Dadurch trägt sie entscheidend zur Wahrheitsfindung bei, denn Wahrheit kann in einem rechtsstaatlichen Verfahren nur bei Berücksichtigung aller Fakten ermittelt werden.515 Die aus § 3 öStPO folgende Verpflichtung zur Objektivität der am Strafverfahren beteiligten Strafverfolgungsorgane gewährleistet keine gleichförmige Ermittlung be- als auch entlastender Umstände.516 Die von Ratz geschilderten praktischen Erfahrungen aus der österreichischen Strafverfahrenswirklichkeit demonstrieren jedenfalls die Gefahr einer ordnungswidrigen Pflichtenerfüllung der Verteidigung im Rahmen von Urteilsabsprachen. Ist es aber so, dass der OGH die Bindungswirkung eines Strafurteils einzig mit dessen Beruhen auf einem ordnungsgemäß durchgeführten Strafverfahren rechtfertigt,517 dann könnte zumindest zu überlegen sein, ob auch auf der Basis der gegenständlichen Rechtsprechung des OGH für den Urteilsabsprachen praktizierenden Verteidiger eine mögliche Haftungsfrage virulent werden könnte. Denn anders als im Normalverfahren produzieren die Berufs­ juristen bei einer Urteilsabsprache bewusst ein Urteil, bei dessen Erstellung dem Schutz des Angeklagten dienende, rechtsstaatliche Grundsätze – allen voran das Prinzip der materiellen Wahrheitssuche – außer Acht gelassen werden.518 Es liegt gerade in der Natur einer solchen Absprache, die Durchführung eines Verfahrens entlang den Regeln der Strafprozessordnung zu torpedieren, was eigentlich Ausfluss auf die zivilgerichtliche Bindungswirkung des Strafurteils haben müsste. Ferner könnte eventuell das höchstrichterliche 511  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (188 f.); ähnlich Kier, 1. Dreiländerforum (2011), 67 (77). Vgl. dazu auch allgemein Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 85. 512  Zum „point of no return“ oben, D. II. 5. 513  Ignor, in: Widmaier/Müller/Schlothauer, Anwaltshandbuch, § 13 Rn. 13–15; Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 62. 514  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (187 f.); Wolff, in: Pilgermair, Wandel, 365 (366 f.); Hirsch, 4. Dreiländerforum (2014), 159 (159 f.). 515  Venier, 1. Dreiländerforum (2011), 187 (188); vgl. auch Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007), 129 (131 f.). 516  Dazu oben, B. III. 3. und D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). 517  So die Conclusio bei Klicka, ÖJZ 2016, 381 (382). 518  Hierzu oben, D. IV.



I. Vorschläge343

Verbot von Urteilsabsprachen und die den justiziellen Akteuren bei Zuwiderhandlungen aufgezeigte strafrechtliche Relevanz für eine solche Konsequenz sprechen.519 Wenn dem so wäre, dann dürfte auch unter diesem Aspekt das eben konturierte Haftungsrisiko des Verteidigers keinesfalls unterschätzt werden. Die haftungsrechtlichen Folgen eines pflichtwidrigen Verteidigerhandelns in Deutschland, wo laut Eschelbach ein „haftungsfreier Raum“ nicht bestehe,520 verdeutlicht folgender Beispielsfall:521 Ein Verteidiger unterließ im Rahmen einer Absprache den Hinweis an das Gericht, dass die vereinbarte zweijährige Freiheitsstrafe zur Bewährung nach § 59 Abs. 1 Nr. 2 BeamtVG zum Verlust der Ruhestandsbezüge des Angeklagten führt. Ohne dieses Versäumnis hätte das Gericht den Wegfall der Versorgungsbezüge entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BGH zu § 46 Abs. 1 S. 2 dStGB strafmildernd berücksichtigt. Im späteren Schadensersatzprozess war deshalb die Frage, ob bei entsprechendem Hinweis eine mildere Strafe hätte ausgehandelt werden können. Das Regressgericht bejahte eine Beweislast­ umkehr zulasten des Verteidigers. Danach hätte dieser beweisen müssen, dass die Strafe trotz seines Hinweises zum Wegfall der Versorgungsbezüge geführt hätte. Da ihm die Führung dieses Beweises nicht gelang, musste er Schadensersatz leisten. Dieses Exempel illustriert, dass der Urteilsabsprachenprozess das nur vermeintlich einfachere Verfahren darstellt und den Verteidiger von seinen allgemeinen Berufspflichten nicht entbindet. Der Verteidiger darf seine anwaltlichen Pflichten bei einer Urteilsabsprache nicht weniger ernst nehmen als im konventionellen Strafverfahren, weshalb eine Arbeitserleichterung bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung ausbleibt. Bei einem nicht von vornherein ausgeschlossenen Haftungsrisiko des Verteidigers im Rahmen von Urteilsabsprachen könnte zumindest die theoretische Möglichkeit bestehen, die Konsensfreudigkeit in der anwaltlichen Riege zu schmälern.522 Das Berufsethos allein konnte immerhin nicht verhindern, dass sich eine Praxis zur Verfahrenserledigung außerhalb der Strafprozessordnung gebildet hat, bei der die Mitwirkung der Verteidigung unverzichtbarer Bestandteil ist.523

519  Zu

dieser Rechtsprechung oben, C. I. in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 60. 521  OLG Nürnberg StV 1997, 481–485. 522  Vgl. dazu Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 60. 523  So zum deutschen Recht Terhorst, GA 2002, 600 (613). 520  Eschelbach,

344

G. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis

II. Ergebnis des Kapitels Ziel dieses Kapitels war es nicht, ein ausgefeiltes Konzept im „Kampf“ gegen Urteilsabsprachen vorzulegen. Es geht um das Aufzeigen von Möglichkeiten, mit denen der österreichischen Urteilsabsprachenpraxis – vornehmlich vom Gesetzgeber – entgegengetreten werden könnte. Die in dieser Untersuchung als tauglich bewerteten Gegenmaßnahmen vermögen allerdings erst in ihrer Gesamtheit einen Entwurf zur Bekämpfung der Urteilsabsprachenpraxis zu skizzieren, denn sie setzen an drei unterschiedlichen Punkten an: Der Entlastung der Strafjustiz, einer Korrektur der Urteilsabsprachen ermöglichenden Rahmenbedingungen und der Abkehr der einzelnen Berufsjuristen von der Teilnahme an Urteilsabsprachen. Auch erscheint es falsch, sich bei der Gegenwehr zur Absprachenpraxis in Schuldzuweisungen zu verlieren. Die Ursachen, die zum Praktizieren von Urteilsabsprachen geführt haben, sind vielmehr zu ermitteln, um „im Keim erstickt“ zu werden.524 Dass die Umsetzung solcher Gegenmaßnahmen von der österreichischen Praxis begrüßt würde, ist zu bezweifeln, denn sie stellt eine vielfach für unverzichtbar erklärte Stütze strafrechtlicher Verfahrenserledigung in Frage. Die Tatsache, dass Gegenmaßnahmen zu den Urteilsabsprachen möglich erscheinen, diskreditiert allerdings die angebliche Gebotenheit von Urteilsabsprachen für eine effektive Strafrechtspflege. Die Strafrechtspraxis darf die Effektivität der Strafrechtspflege nicht als Ausrede vorschieben, weil sie sich zur Arbeits- und Verantwortungsentlastung an einen für die Berufsjuristen einfacheren Weg gewöhnt hat. Gleiches gilt für die vermeintlich unüberwindbaren Sachzwänge zu einem informellen Vorgehen. Urteilsabsprachen müssen und dürfen nicht mit der Begründung ihrer vermeintlichen Alternativ­ losigkeit hingenommen werden. Denn die subjektive Vereinbarung eines Prozessergebnisses zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung lange vor Abschluss der Beweisaufnahme veruntreut ein ergebnisoffenes Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Behauptung, dieser Verfahrensverfall sei unumkehrbar, bedeutet nichts anderes als die Konkurserklärung des österreichischen Rechtsstaats. Dieses Ergebnis gilt selbst bei unterstellter Richtigkeit der These, dass sich Urteilsabsprachen angesichts der Realität des Faktischen und mangelnder Kontrollmöglichkeiten nicht völlig unterbinden lassen. Denn auch dann folgt daraus nicht zwangsläufig die Pflicht zu ihrer rechtlichen Anerkennung. Eine „Kapitulation des Rechts vor der Macht des Faktischen“525 erscheint als Handlungsalternative des österreichischen Gesetzgebers gegenüber einer positivrechtlichen Gestattung von Abspracheverfahren vorzugswürdiger. „[E]in 524  Zu

den mutmaßlichen Ursachen oben, B. II. in: Blomeyer-GS, 743 (749).

525  Erb,



II. Ergebnis des Kapitels345

Rest an schlechtem Gewissen“ beim Praktizieren einer Urteilsabsprache dürfte nämlich immerhin die Bereitschaft des Richters zum intensiven Einsatz einer weit geöffneten Sanktionsschere verringern.526 Wird die Absprache zu einem vom Gesetzgeber anerkannten Erledigungsinstrument, findet die Justiz leichter eine Entschuldigung für die Bestrafung des nicht geständnisbereiten Angeklagten, der die gewohnte Absprachenroutine stört. Vertiefungen rechtsstaatsgefährdender Verfahrensweisen sind zu befürchten, wenn das Missbrauchspotenzial einer Urteilsabsprache grundsätzlich nicht mehr diskutiert wird.527

526  Erb, in: Blomeyer-GS, 743 (749), unter Verweis auf Weigend, in: 50 Jahre BGH‑FG, 1011 (1042), der sich im Jahre 2002 noch wünschte, „daß der BGH die grundsätzlichen Probleme eines ‚konsensualen‘ Verfahrens nicht aus dem Blick verliert, sondern dazu beiträgt, daß den juristischen ‚Dealern‘ wenigstens ein Rest an schlechtem Gewissen erhalten bleibt.“ 527  Erb, in: Blomeyer‑GS, 743 (749). Vgl. auch Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, 139 (155).

H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen 1. Urteilsabsprachen gehören zum Alltagsgeschäft der Justiz: Informelle Urteilsabsprachen haben in der österreichischen Verfahrenspraxis längst Einzug gehalten. Wegen ihrer deutlichen Ablehnung durch den OGH spricht dies jedoch kein praktizierender Justizjurist offen aus.1 Wie viele der erstinstanzlichen Verfahren durch eine Urteilsabsprache erledigt werden, ist dementsprechend unbekannt. Die vollständige Durchführung einer Hauptverhandlung mit einem Strengbeweisverfahren als Mittel zur Kontrolle der behördlichen Verdachtsannahmen nach Aktenlage scheint aber immer seltener zu werden. Die hohe praktische Relevanz der Urteilsabsprachen lässt sich mutmaßlich auf mehrere Ursachen zurückführen:2 Die kontinuierlich steigende Arbeitsbelastung, die neben der wachsenden Vielschichtigkeit der Lebenssachverhalte auch der Gesetzgeber zu verantworten hat, weil er die Regelungsdichte des materiellen Strafrechts konstant heraufsetzt, sorgt für eine Überlastung bzw. Überforderung auf Seiten der Strafjustiz. Komplettiert wird dieser Druck durch ein Bewertungssystem richterlicher Arbeit, das sich ausschließlich an quantitativen Kriterien orientiert, und eine sowohl personell als auch sachlich nicht zufriedenstellend ausgestattete Strafjustiz. Allerdings haben zur Popularität der Urteilsabsprachen namentlich auch verfahrenspsychologische Aspekte – die Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten – beigetragen. So verfolgt die Strafjustiz eine größtmögliche Arbeits­ ersparnis, während die Verteidigung zumindest auch materielle Interessen – nicht ausschließbar sogar unter Inkaufnahme von Nachteilen für den Mandanten – im Blick hat. Nach Praxisberichten sind Urteilsabsprachen in annähernd alle Deliktsbereiche vorgedrungen. Neben dem Funktionsverlust der Hauptverhandlung ist die fortwährende Einbettung konsensualer Elemente in die österreichische Strafprozessordnung dafür ebenso verantwortlich wie die steigende Anzahl umfangreicher Großverfahren, insbesondere auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts.3 Eine solche Fehlentwicklung beschädigt das Bild von einer rechtsstaatlich arbeitenden Strafjustiz nicht nur gegenüber der Allgemeinheit. Verfolgt das Gericht mit Urteilsabsprachen keine sachlichen Verfahrensziele, belegt dies eine fundamentale Krise des österreichischen Strafprozesses. 1  Siehe

oben, B. I. und C. II. 1. diesen Ursachen oben, B. II. 3  Dazu oben, B. III. 2  Zu



H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen347

2. Urteilsabsprachen bedingen erhebliche Gesetzesverstöße: Strafverfahren entscheiden über das Rechts- und Lebensschicksal des Angeklagten. Im Zentrum jedweder Diskussion über das Phänomen der Urteilsabsprachen muss deshalb der Rechtsstaat stehen. Nach hier eingenommenem Standpunkt missachtet die Absprachenpraxis die herkömmlichen Garantien des formellen aber auch des materiellen Strafrechts entschieden.4 Diese Ansicht ist allerdings nicht unumstritten.5 Die Stimmen, welche zu belegen versuchen, warum und unter welchen Voraussetzungen gerade kein Verstoß gegen die betreffende Norm vorliegen soll, können jedoch nicht überzeugen. Denn die Absprachenpraxis ist nicht nach ihren angeblichen theoretischen Vorzügen, sondern nach den wirklichen Gründen für ihre Attraktivität zu bewerten. Der Zweck der Urteilsabsprachen besteht darin, sich über die Konzeption der geltenden Strafprozessordnung hinwegzusetzen, weil sie einem raschen Verfahrensablauf entgegensteht. Nach der geltenden Straf­ ­ prozessordnung gründen die Prozessrechtsregeln für die Hauptverhandlung – vornehmlich § 258 öStPO – darauf, dass nur der Inbegriff der Hauptverhandlung für das Urteil von Bedeutung ist, weshalb der Akteninhalt nicht Maßstab für die richterliche Ermittlung der materiellen Wahrheit sein darf. Die Urteilsabsprachenpraxis durchkreuzt dieses System und macht die Hauptverhandlung nahezu sinnlos, trotz des Bewusstseins, dass eine effektive Verteidigungsmöglichkeit im Vorverfahren fehlt. Urteilsabsprachen bewirken nicht nur dann einen Bruch mit dem geltenden Prozessrechtssystem, wenn sie ohne Verantwortungsbewusstsein praktiziert werden. Bei präziser Befolgung der in der geltenden Strafprozessordnung aufgestellten Grundsätze würde nämlich nicht nur der „Wildwuchs“6 ausgesondert, sondern Urteilsabsprachen wären aufgrund ihrer zahlreich konstatierten Verstöße gegen die geltenden Grundsätze des österreichischen Strafprozesssystems insgesamt keine Option für eine Verfahrenserledigung. Fehlt es an einer Vergünstigung für die Justiz, hat diese keinen Anlass, dem Angeklagten den – vermeint­ lichen – Vorteil einer Urteilsabsprache zukommen zu lassen. Selten werden die Fälle sein, in denen die tatsächlichen Umstände vollständig ermittelt sind und eine Kompromisslösung nur deshalb der gerichtlichen Entscheidung vorgezogen wird, weil niemand Interesse an der Klärung einer streitigen, entscheidungsrelevanten Rechtsfrage hat. Urteilsabsprachen bedingen eine Fehlerhaftigkeit der Strafprozessrechtsanwendung und brechen mit allem, was die österreichische Strafprozesskultur ausmacht. Eine Abkehr vom Tatschuldprinzip ist die Folge. Dem unschuldigen Angeklagten nimmt eine Ab-

4  Oben,

D. oben, C. II. 2. b). 6  Dahs, NStZ 1988, 153 (154). 5  Dazu

348

H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

sprachenroutine jede Möglichkeit, sich gegen den Vorwurf mit dem Ziel eines Freispruchs zu verteidigen. Mit der Behauptung der angeblichen Unvermeidbarkeit der Urteilsabsprachen zur Aufrechterhaltung einer effizienten Strafrechtspflege versuchen Absprachenbefürworter allerdings, insistierende Nachfragen zu ihren Rechtfertigungsbemühungen abzuwehren und rechtsdogmatische Unsicherheiten zu verbergen. Sicherlich können Urteilsabsprachen der Prozessökonomie dienen. Ein prozessökonomisches Vorgehen im Verfahren kann die Effektivität der Strafrechtspflege steigern. Verfahrensverstöße der Urteilsabsprachenpraxis rechtfertigen kann sie allerdings nicht.7 Prozessrechtsgrundsätze verbürgen die rechtsstaatliche Absicherung des Angeklagten. Die Einhaltung dieser Förmlichkeiten ist unverzichtbar, denn sie schützen nach ihrem fundamentalen Zweck den Menschen vor Grundrechtsbeeinträchtigungen im Strafverfahren, weshalb sie nicht wie unerhebliche Formalien behandelt werden dürfen.8 Die Behauptung, Wahrheit sei im Strafverfahren ohnehin nicht unbegrenzt zu verwirklichen, hat zur Konsequenz, dass bereits das Streben nach Wahrheit deutlich verringert wird. Für den Rechtsstaat ist dies desas­ trös. Der ökonomische Effekt der Urteilsabsprachen kann deshalb überhaupt nur solange hervorgehoben werden, wie man die daraus resultierenden Verluste bei der Qualität der Wahrheitssuche und Gerechtigkeit negiert. 3. Keine Vorbildfunktion der BGH-Rechtsprechung: Der an den OGH gerichtete Vorwurf, mit dem Verbot von Urteilsabsprachen die Augen vor der Realität zu verschließen,9 kann nicht überzeugen. Dem OGH steht nach der gegenwärtigen Gesetzeslage keine andere Handhabe als ein Verbot der Urteilsabsprachen zu, will er sich nicht – wie seinerzeit der BGH10 – einer grenzüberschreitenden und dazu noch vorhersehbar ineffektiven Rechtsfortbildung schuldig machen.11 Die im Verlauf dieser Arbeit aufgeworfene Frage, ob sich der OGH an dem Umgang des BGH mit der Urteilsabsprachenpraxis ein Beispiel nehmen sollte, ist somit entschieden zu verneinen. 4. Keine Legalisierung von Urteilsabsprachen: Ob der österreichische Gesetzgeber tatsächlich zur Legalisierung von Urteilsabsprachen bereit ist, bleibt offen. Die Wiedereinführung des Mandats7  Siehe

oben, D. IV. oben, G. I. 3. d) aa) (1) (a). 9  Dazu oben, C. II. 2. b). 10  Hierzu oben, E. II. 2. c) und d). 11  Siehe oben, E. II. 3. b) und c). 8  Dazu



H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen349

verfahrens in § 491 öStPO ist jedenfalls ein weiteres Bekenntnis zur Konsensualisierung des Strafverfahrens.12 Anders als der OGH ist der österreichische Gesetzgeber zwar nicht prinzipiell daran gehindert, von dem Modell einer inquisitorischen Hauptverhandlung unter gewissen Voraussetzungen Aus­ nahmen zu statuieren. Er müsste aber durch wirksame Schutzmechanismen gewährleisten, dass die rechtsstaatlichen Anforderungen gewahrt bleiben. Die in dieser Arbeit untersuchten Gesetzesmodelle zur Domestizierung der in­ formellen Urteilsabsprachenpraxis genügen diesen Anforderungen nicht.13 Sämtliche Schutzmechanismen scheinen praxisuntauglich, ihre Um­ gehung dementsprechend möglich und zudem wahrscheinlich. Denn eine rechtsstaatliche und zugleich aus der Perspektive der Praxis zweckmäßige Urteilsabsprache existiert nicht. Die ökonomisierte Praxis beabsichtigt an sich erforderliche Arbeit bei der Wahrheitserforschung auszusparen. Erhöhte Formalisierung und Transparenz behindern diesen Zweck. Der Praxis bleibt die Attraktivität von Urteilsabsprachen nur solange erhalten, wie gesetzliche ­ Bestimmungen nicht befolgt werden. Das hat der Gesetzgeber des deutschen Verständigungsgesetzes bei seiner systemimmanenten Integrationslösung schlicht ignoriert.14 Ebenso wenig kann ein Konsensprinzip als neue Prozessmaxime die materielle Wahrheit als Urteilsgrundlage ersetzen und Urteilsabsprachen legitimieren.15 Die dargestellten Sonderverfahren, mit denen versucht wird, eine Verfahrensverkürzung zu legalisieren, die derzeit im Wege der informellen Absprachenpraxis erreicht wird, sind kein akzeptables Gegenangebot zu den Urteilsabsprachen, denn sie verbürgen kein zureichend rechtsstaatliches Verfahren.16 Für die Einführung eines rein adversatorischen Prozesstyps tritt derzeit ernsthaft niemand ein.17 Aufgrund der dargelegten Verlockungen und Missstände darf der österreichischen Strafverfahrenspraxis im Umgang mit Urteilsabsprachen ein Streben nach Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundsätze nicht unterstellt werden. Die Fatalität eines solchen Fehlers zeigt die aktuelle Strafverfahrenswirklichkeit in Deutschland, wo erfolglos der informelle, sprich illegale Deal zu eliminieren versucht wird.18 Das vom BVerfG in Auftrag gegebene Gutachten belegt, wie stark der Anreiz zur normativen Missachtung ist.19

12  Zum

Mandatsverfahren oben, B. III. 2. c) und F. I. 2. h). F. I. 14  Dazu oben, F. I. 1. a) bb). 15  Zum Konsensprinzip oben, F. I. 1. b). 16  Zu den Sonderverfahren oben, F. I. 2. 17  Siehe oben, F. I. 3. 18  Hierzu oben, F. I. 1. a) cc) (3). 19  Zum Gutachten oben, F. I. 1. a) cc) (1); G. 13  Oben,

350

H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Das Postulat nach einer „Formalisierung des Informellen“20 erscheint dementsprechend nicht richtig. Es verkennt, dass die rechtsstaatswidrigen Zustände der Urteilsabsprachen – ihre Zulässigkeitsprobleme – auf diese Weise nicht beherrschbar sind. Vor diesem Hintergrund sollte der österreichische Gesetzgeber keine Entscheidung für die Zulässigkeit von Absprachen treffen. Bei gesetzgeberischen Überlegungen ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Quote falscher Geständnisse zumindest in einem psychologischen Experiment auf über 40 Prozent stieg, nachdem ein dem Strafrabatt ähnelndes Angebot gemacht wurde.21 5. Gesetzliches Verbot von Urteilsabsprachen ist unzureichend: Die Praxis der Urteilsabsprachen lässt sich mit einem kategorischen gesetzlichen Verbot nicht beenden, solange ihre Ursachen nicht beseitigt wurden.22 Ohne Behandlung ihrer Ursachen sieht sich die Urteilsabsprachenpraxis weiterhin in einer Notstandslage, die zum Einsatz dieses informellen Erledigungsinstruments berechtigen soll. Ein gesetzliches Verbot müsste deshalb zwecks Effektivität mit weiteren Maßnahmen korrespondieren. 6. Konstituierung und Aktivierung effektiver Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis: Urteilsabsprachen stellen nach glaubhaften Praxisberichten keine zu vernachlässigende statistische Bagatelle dar. Solange eine nicht verschwindend geringe Anzahl der Berufsjuristen im Einzelfall zu einer Urteilsabsprache gewillt ist, wird die Tauglichkeit des österreichischen Rechtsstaats gezielt in Gefahr gebracht. Mit der Behauptung, Urteilsabsprachen seien das Schicksal der heutigen Strafjustiz und eine Auflehnung dagegen ein aussichtsloses Unterfangen, sollte man sich nicht zufriedengeben. Vielmehr gilt es an den Punkten anzusetzen, die ein informelles Vorgehen verursachen und möglich erscheinen lassen. Strategisch wären Urteilsabsprachen aus drei Richtungen zu attackieren: Erstens müsste die Strafjustiz auf anderem Wege als durch Urteilsabsprachen entlastet werden.23 Hilfreich dazu wäre eine Reduzierung des mate­ riellen Strafrechts und der Rechte mutmaßlicher Opfer im Strafprozess, was allerdings dem derzeitigen kriminalpolitischen Trend widerspricht. Des Weiteren gehört hierzu die obligatorische Einführung einer Videodokumentation 20  Oben,

F. III., Fn. 472. oben, D. I. 3. 22  Siehe dazu oben, F. II. 23  Dazu oben, G. I. 1. 21  Dazu



H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen351

der gesamten Hauptverhandlung sowie die Änderung des Bewertungssystems richterlicher Arbeit. Schließlich ist zur Erwirkung von Geldmitteln zwecks Aufstockung des Strafjustizpersonals eine Umschichtung der Ressourcen zugunsten der Strafgerichtsbarkeit ebenso zu erwägen wie die Abschaffung der Schöffenbeteiligung. Zweitens müssten die Grundlagen, welche Urteilsabsprachen ermöglichen, korrigiert werden.24 Der Gesetzgeber könnte klarstellen, dass ein taktisches Geständnis, wie es Absprachen regelmäßig zugrunde liegt, keinen Strafmilderungsgrund nach § 34 Abs. 1 Nr. 17 öStGB begründen kann. Erforderlich erscheint eine Reformierung des Strafbemessungsrechts, das transparenter zu gestalten ist. Erst unter dieser Voraussetzung wäre eine Regelung, wonach der Einsatz der Sanktionsschere eine verbotene Vernehmungsmethode nach §§ 164 Abs. 4, 245 öStPO darstellt, zielführend. Damit abgesprochene Urteile trotz des stets erklärten Rechtsmittelverzichts kontrolliert werden können, müsste der Zugang zum Institut der Wiederaufnahme des Verfahrens erleichtert werden. Nach dem derzeitigen österreichischen Strafprozessrecht sind Urteilsabsprachen rechtswidrig, denn was wahr ist, darf nicht vereinbart werden. Absprachenbedingte Urteile können darum keinen Bestand haben. An einer beanstandeten Urteilsabsprache nicht beteiligte Verteidiger, die mit der Justiz im konkreten Fall keine Schicksalsgemeinschaft bilden, sind zur Einlegung von Rechtsmitteln und Stellung von Wiederaufnahmeanträgen aufgerufen, um den zuständigen Instanzen die Ausübung ihrer Kontrollfunktion zu ermöglichen und Urteile nach Absprachen anzugreifen. Auf die Staatsanwaltschaft ist zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit des Verfahrensablaufs wegen ihrer Absprachebeteiligung kein ausreichender Verlass. Gleichfalls wirkt eine solche Funktionszuweisung aufgrund ihrer chronischen Arbeitsüberlastung ineffektiv. Drittens müsste der einzelne Berufsjurist auch persönlich vom Praktizieren der Urteilsabsprachen abgehalten werden.25 Dazu könnten Verbesserungen in der Aus- und Fortbildung von Richtern – auch durch entsprechende Änderungen bei den Zugangsvoraussetzungen zum Richterberuf – beitragen. Ebenso müssten dem Beschuldigten bzw. der Verteidigung im gesamten Strafverfahren zum frühestmöglichen Zeitpunkt effektive Rechte eingeräumt werden. Aufgrund des festgestellten Funktionsverlustes der Hauptverhandlung bedarf in diesem Zusammenhang insbesondere das Ermittlungsverfahren weiterer Reformen. Im Justizalltag dienen heute die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht nur im Rahmen von Absprachen als Urteilsgrundlage.26 Prekär ist daran, dass im Ermittlungsverfahren die polizeiliche Ver24  Dazu

oben, G. I. 2. oben, G. I. 3. 26  Siehe oben, B. III. 3. 25  Dazu

352

H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

dachtsannahme, die infolge unbewusst bleibender „Perseveranz- und Inertiaeffekte“ nach dem Prinzip der „selektiven Informationssuche“ und der sich daraus ergebenden „konfirmatorischen“ Informationsbeschaffung lediglich auf einseitig geführten Ermittlungen beruhen kann, durch die Staatsanwaltschaft regelmäßig nicht kontrolliert wird.27 Das Ermittlungsverfahren ist deshalb ein Herd für polizeiliche Ermittlungsfehler und ‑irrtümer. Die Verteidigung ist mangels effektiver Rechte in diesem Verfahrensstadium gegen deren Perpetuierung machtlos. Auch in der Hauptverhandlung lassen sich diese Defekte kaum mehr beseitigen. Zum einen fehlen der Verteidigung hier ebenfalls wirksame Rechte. Zum anderen kann auch das Gericht den angeführten psychologischen Effekten erliegen. Der „Schulterschluss“ mit der Staatsanwaltschaft kommt erschwerend hinzu. Die Verteidigung scheint dadurch dem Wohlwollen des Gerichts ausgeliefert.28 Die faktische Vorverlagerung der Wahrheitsfindung in das Ermittlungsverfahren verlangt bereits nach dem Fairnessgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK einen größtmöglichen Ausgleich der Rechte der Verfahrensbeteiligten in diesem frühen Verfahrensstadium; gleichzeitig würde zur Behebung anwaltlicher Frustration und Re­ signation beigetragen.29 Daneben stehen Disziplinierungsmaßnahmen zur Verfügung, die Berufsjuristen vom Einsatz der Urteilsabsprachen abbringen könnten.30 Hierzu gehört die Strafbarkeit der Berufsjuristen wegen ihrer Mitwirkung an Urteilsabsprachen. Bei einem nicht von vornherein ausgeschlossenen zivilrechtlichen Haftungsrisiko der Verteidigung für die Folgen einer „suboptimalen“ Urteilsabsprache könnte ferner zumindest die theoretische Möglichkeit bestehen, die Konsensfreudigkeit in der anwaltlichen Riege zu schmälern. Gegenmaßnahmen zur Urteilsabsprachenpraxis scheinen somit möglich. Dieses Ergebnis müssten auch diejenigen zur Kenntnis nehmen, die behaupten, Urteilsabsprachen ließen sich angesichts der Realität des Faktischen und mangelnder Kontrollmöglichkeiten nicht vollends unterbinden.31 Denn wird die Urteilsabsprache zu einem vom Gesetzgeber anerkannten Erledigungsinstrument, findet die Justiz leichter eine Entschuldigung für die Bestrafung des nicht geständnisbereiten Angeklagten, der die gewohnte Absprachenroutine stört. Wird das Missbrauchspotenzial einer Urteilsabsprache grundsätzlich nicht mehr diskutiert, ebnet dies den Weg für die Intensivierung illegaler Handlungsformen.32 So konstatierte auch schon Radbruch: „Denn 27  Dazu

oben, D. I. 1. b) cc) (1) (b) (aa). oben, B. II. 1. a) ee); B. III. 3. 29  Hierzu oben, G. I. 3. c) bb). 30  Siehe oben, G. I. 3. d) und e). 31  Dazu oben, F. 32  Siehe oben, G. II. 28  Siehe



H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen353

ein guter Jurist kann nur der werden, der mit einem schlechten Gewissen Jurist ist.“33 In Deutschland jedenfalls ist dieses schlechte Gewissen auf Seiten der „dealenden“ Justiz mit Einführung der vom BGH aufgestellten Zulässigkeitsrichtlinien anscheinend kontinuierlich verschwunden.34 Unter dem Mantel ihrer angeblichen Rechtsstaatlichkeit stand einer ungenierten Ausbreitung der gewohnten Urteilsabsprachenpraxis fortan nichts mehr im Wege. Die Sensibilität für das enorme Missbrauchspotenzial der Urteilsabsprachen ist dabei auf der Strecke geblieben.35 Praxisberichte belegen, dass informelle Urteilsabsprachen jenseits der Regeln des Verständigungsgesetzes im deutschen Strafprozess auch nach dem Ausspruch eines generellen Verbots weiterhin stattfinden.36 Die Geschichte der deutschen Absprachenentwicklung ließ dies erwarten. Es kann deshalb für das österreichische Recht nicht der richtige Weg sein, rechtswidrige Zustände, die man nicht in den Griff bekommt, zu legalisieren. „Man muss nicht alles nachmachen, was jenseits der Grenze ausgebrütet worden ist und auch dort nicht funktioniert! Wir können uns ruhig darauf beschränken, dass wir uns eigene Dinge einfallen lassen.“37 Informelle Urteilsabsprachen, die sich im Kern nicht von den in Österreich praktizierten Absprachen unterscheiden,38 werden auch die deutsche Rechtswirklichkeit solange prägen, wie ihre Ursachen fortbestehen und Regelverstöße nahezu ohne Konsequenzen bleiben. Die in dieser Untersuchung beleuchteten Gegenmaßnahmen könnten daher zugleich dem deutschen Gesetzgeber eine infolge der Appellentscheidung39 des BVerfG aktuell gewordene Alternative im Umgang mit (informellen) Urteilsabsprachen illustrieren. In jüngerer Vergangenheit war auf österreichischen Fachtagungen und in der österreichischen Strafprozessliteratur ein Rückgang von Urteilsabsprachen thematisierenden Darstellungen zu verzeichnen gewesen. Aufgrund der Brisanz des Themas war diese Entwicklung mit Skepsis zu betrachten. Die Einführung des Mandatsverfahrens nach § 491 öStPO hat jedoch der Urteilsabsprachendiskussion neuen Auftrieb gegeben. Urteilsabsprachen sind noch längst nicht „ausdiskutiert“ und sollten keinesfalls ignoriert werden.

33  Radbruch,

in: Schmidt, Gedenkrede, 19 (24). dazu oben, E. II. 2. d). 35  Siehe oben, D. I. 2. b) bb). 36  Dazu oben, F. I. 1. a) cc) (3). 37  Ofner, in: ÖJK, Strafverfolgung, 183 (186). 38  Eschelbach, in: BeckOK-StPO (01.04.2019), § 257c Rn. 14.3. 39  Dazu oben, F. I. 1. a) cc) (2) und (3). 34  Siehe

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1. Band: Einführung und Dokumentation, 1970 (zit.: Peters, Karl, Fehlerquellen I)

2. Band: Systematische Untersuchungen und Folgerungen, 1972 (zit.: Peters, Karl, Fehlerquellen II)

3. Band: Wiederaufnahmerecht, 1974 (zit.: Peters, Karl, Fehlerquellen III)

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390 Literaturverzeichnis recht: Referate und Diskussionsbeiträge, Braucht unser Strafprozess ein neues Rechtsmittelsystem?, Wien 2012, 16–53 (zit.: Ratz, 18. ÖJT (2012), Band III/2) Ratz, Eckart: Zur Reform der Hauptverhandlung und des Rechtsmittelverfahrens, ÖJZ 2010, 387–397 Ratz, Eckart: Verfahrensbeendende Prozessabsprachen in Österreich, ÖJZ 2009, 949–955 Ratz, Eckart: Workshop, Grundrechtsjudikatur im Strafrecht, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Justiz und Menschenrechte/RichterInnenwoche 2007, in Bad St. Leon­hard, 21. bis 25. Mai 2007, Wien/Graz 2008, 223–227 (zit.: Ratz, Richter­ Innenwoche (2007)) Ratz, Eckart: Der Vergleich im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren aus der Sicht des Richters, in: Leitner (Hrsg.), Finanzstrafrecht 1996–2002, Aktualisierte Beiträge der Finanzstrafrechtlichen Tagung 1996–2002, Wien 2006, 788–806 (zit.: Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006)) Ratz, Eckart: Welche Veränderung des Rechtsmittelverfahrens gegen Urteile erfordert das Strafprozessreformgesetz?, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag, Innsbruck/ Wien/Bozen 2006, 411–431 (zit.: Ratz, in: Miklau-FS) Ratz, Eckart: Der Vergleich im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren aus der Sicht des Richters, in: Leitner (Hrsg.), Finanzstrafrecht 2002: Absprachen/Vergleiche im Abgaben- und Finanzstrafrecht; mit neuester Rechtsprechung und Literatur zum Finanzstrafrecht, Wien 2003, 99–115 (zit.: Ratz, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2002)) Rebisant, Günther: Zur systematischen Auslegung der Strafprozessordnung, in: Lewisch/Nordmeyer (Hrsg.), Liber Amicorum Eckart Ratz, Wien 2018, 119–142 (zit.: Rebisant, in: Liber Amicorum Ratz) Rech, Elisabeth: Reform des strafprozessualen Hauptverfahrens aus der Sicht des Verteidigers, in: Vorstand des Österreichischen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 15. Österreichischen Juristentages 2003 in Innsbruck, Band IV/2, Strafrecht: Referate und Diskussionsbeiträge, Zur Reform des strafprozessualen Hauptverfahrens, Wien 2004, 31–53 (zit.: Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2) Rech, Elisabeth: Diskussion, in: Vorstand des Österreichischen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 15.  Österreichischen Juristentages 2003 in Innsbruck, Band IV/2, Strafrecht: Referate und Diskussionsbeiträge, Zur Reform des strafprozessualen Hauptverfahrens, Wien 2004, 74–154 (zit.: Rech, 15. ÖJT (2003), Band IV/2) Rech, Elisabeth: Statement, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Realität und Vision/ 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Wien, 21./22. März 2003, Wien/ Graz 2003, 63–64 (zit.: Rech, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003)) Reichert, Christoph: Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien: eine Untersuchung mit Bezug auf die „sentencing guidelines“ in den USA, Berlin 1999 (zit.: Reichert, Intersubjektivität)

Literaturverzeichnis391 Reindl-Krauskopf, Susanne: Argumente gegen die Geschworenengerichtsbarkeit, Österreichisches AnwBl 2010, 224–227 Reindl-Krauskopf, Susanne: Strukturelle Probleme im neuen strafprozessualen Vorverfahren, ecolex 2008, 207–210 Reiter, Richard: Das Recht zu schweigen und sich nicht selbst beschuldigen zu müssen gemäß Art. 6 EMRK („Nemo tenetur se ipsum accusare“), RZ 2010, 103–111 Richter II, Christian: Zum Bedeutungswandel des Ermittlungsverfahrens – Bestandsaufnahme und Reformtendenzen, StV 1985, 382–389 Rieß, Peter: Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009, 466–483 Rieß, Peter: Gedanken über das Geständnis im Strafverfahren, in: Kempf/Jansen/Müller (Hrsg.), Festschrift für Christian Richter II, Verstehen und Widerstehen, Baden‑Baden 2006, 433–445 (zit.: Rieß, in: Richter-FS) Rieß, Peter: Zur aktuellen Entwicklung des Strafverfahrensrechts, StraFo 2006, 4–14 Rieß, Peter: Überlegungen zur künftigen Ausgestaltung der Verfahrenseinstellung gegen Auflage, in: Brüssow (Hrsg.), Strafverteidigung und Strafprozess, Festgabe für Ludwig Koch, Heidelberg 1989, 215–228 (zit.: Rieß, in: Koch-FG) Rieß, Peter: Entwicklung und Bedeutung der Einstellungen nach § 153a StPO, ZRP 1983, 93–99 Riffel, Robert: Die Sachverständigen-Vorschlagsmöglichkeit des Beschuldigten nach § 126 Abs 5 StPO idF StPRÄG 2014, RZ 2016, 26–35 Riffel, Robert: Die Entscheidung 12 Os 90/13x, Oder ein möglicher Weg zur Beseitigung grundrechtlicher Spannungen bei der Sachverständigenfrage nach den (derzeit noch) geltenden Bestimmungen der Strafprozessordnung, RZ 2014, 238–246 Riffel, Robert: Der Sachverständigenbeweis und die diesbezüglichen Garantien der aktuellen StPO zur Wahrung der Verfahrensfairness, RZ 2013, 232–243 Roeder, Hermann: Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes, 2. Auflage, Wien 1976 Rogall, Klaus: Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, Ein Beitrag zur Geltung des Satzes „Nemo tenetur se ipsum prodere“ im Strafprozess, Berlin 1977 (zit.: Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel) Rohregger, Michael: 17. Kapitel, Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Wien 2017, 455–475 (zit.: Rohregger, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung) Rohregger, Michael: Kollateralschäden im Strafverfahren – Was darf der Staat dem Beschuldigten zumuten?, JBl 2017, 219–233 Roitner, Florian: Die Überwachung des Gespräches zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger im Lichte der EMRK, in: Lagodny (Hrsg.), Strafrechtsfreie Räume in Österreich und Deutschland, Ergebnisse eines rechtsvergleichenden Lehrprojekts, Wien 2015, 129–185 (zit.: Roitner, in: Lagodny, Strafrechtsfreie Räume)

392 Literaturverzeichnis Roitner, Florian: Der Einspruch wegen Rechtsverletzung gegen kriminalpolizeiliches Handeln – Volume 2, juridicum 2014, 49–54 Rönnau, Thomas: Der Schöffe als „Marionette“ im Verständigungsverfahren, in: Barton/Fischer/Jahn/Park, Festschrift für Reinhold Schlothauer zum 70. Geburtstag, München 2018, 367–379 (zit.: Rönnau, in: Schlothauer-FS) Rönnau, Thomas: Das deutsche Absprachemodell auf dem Prüfstand – zwischen Pest und Cholera, ZIS 2018, 167–177 Rönnau, Thomas: Die Absprache im Strafprozeß – Eine rechtssystematische Untersuchung der Zulässigkeit nach dem geltenden Strafprozeßrecht –, Baden-Baden 1990 (zit.: Rönnau, Absprache) Rosenau, Henning: Die Absprachen im deutschen Strafverfahren, in: Rosenau/Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit, Deutsch‑Japanischer Strafrechtsdialog, Frankfurt am Main u. a. 2010, 45–74 (zit.: Rosenau, in: Rosenau/Kim, Straftheorie) Roßmann, Sabine: Beweisantrag und Rechtspraxis, JSt 2017, 435–443 Roxin, Claus: Die Beiträge von Praxis und Wissenschaft zur Strafrechtskultur (Schlusswort), in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Theorie und Praxis – zwei Seiten einer Medaille? Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog 2013, Köln 2013, 91–94 (zit.: Roxin, in: Jahn/ Nack, Rechtsprechung in Strafsachen) Roxin, Claus/Schünemann, Bernd: Strafverfahrensrecht, 29. Auflage, München 2017 Rückel, Christoph: Verteidigertaktik bei Verständigungen und Vereinbarungen im Strafverfahren, NStZ 1987, 297–304 Rückert, Sabine: Unrecht im Namen des Volkes, Hamburg 2008 Ruckstuhl, Niklaus: Konsensuale Erledigung von Strafverfahren: Das abgekürzte Verfahren nach Art. 358 – 362 der schweizerischen StPO im Vergleich zur Verständigung nach § 257c der deutschen StPO, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV/Forum Strafverteidigung/ua (Hrsg.), Strafverteidigung auf neuen Wegen?, 2. Dreiländerforum Strafverteidigung, in Regensburg, 15./16. Juni 2012, Wien/ Graz 2012, 165–180 (zit.: Ruckstuhl, 2. Dreiländerforum (2012)) Ruhri, Gerald: Kronzeugenregelung im österreichischen Straf- und Strafprozessrecht, Österreichisches AnwBl 2017, 157–160 Ruhri, Gerald: Verständigung im Strafverfahren, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV/Forum Strafverteidigung/ua (Hrsg.), Strafverteidigung auf neuen Wegen?, 2. Dreiländerforum Strafverteidigung, in Regensburg, 15./16. Juni 2012, Wien/ Graz 2012, 181–198 (zit.: Ruhri, 2. Dreiländerforum (2012)) Ruhri, Gerald: Ausgewählte Fragen zum Ermittlungsverfahren nach der StPO-Reform aus der Sicht des Verteidigers, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Strafverfolgung auf dem Prüfstand, 2.–4. Juni 2011, Attersee, Wien 2012, 87–95 (zit.: Ruhri, in: ÖJK, Strafverfolgung) Ruhri, Gerald: Verständigung im Strafverfahren, Österreichisches AnwBl 2010, 243– 250

Literaturverzeichnis393 Ruhri, Gerald: Vorbemerkung zu den Referaten und Statements, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Realität und Vision/1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Wien, 21./22. März 2003, Wien/Graz 2003, 73–74 (zit.: Ruhri, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003)) Ruhs, Florian: Rechtsbehelfe bei Verständigungen. Das Schicksal rechtswidriger Verständigungen im Revisions- und Wiederaufnahmeverfahren, Baden-Baden 2018 (zit.: Ruhs, Rechtsbehelfe) Rzepka, Dorothea: Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, Frankfurt am Main 2000, (zit.: Rzepka, Fairness) Sadoghi, Alice: Update Geschworenengerichtsbarkeit, ÖJZ 2018, 257–261 Saliger, Frank: Anm. zu BGH (GS), NJW 2005, 1440, Absprachen im Strafprozess an den Grenzen der Rechtsfortbildung, JuS 2006, 8–12 Salzborn, Christina: Der Liveticker, Berichterstattungen aus dem Gerichtssaal, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Medienlandschaft 2015 – Herausforderungen für die Justiz/RichterInnenwoche 2015, in Kitzbühel, 04.–08. Mai 2015, 105–107 (zit.: Salzborn, Christina, RichterInnenwoche (2015)) Salzborn, Eduard: Statement, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Ethik und Erfolg/8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Salzburg, 19./20. März 2010, Wien/Graz 2010, 107–114 (zit.: Salzborn, Eduard, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010)) Satzger, Helmut: Braucht der Strafprozess Reformen?, StraFo 2006, 45–51 Satzger, Helmut/Schluckebier, Wilhelm (Hrsg.)/Widmaier, Gunter (Begr.): StGB, Strafgesetzbuch, Kommentar, 4. Auflage, Köln 2019 (zit.: Bearbeiter, in: SSWStGB) Sauer, Dirk/Münkel, Sebastian: Absprachen im Strafprozess, 2. Auflage, Heidel­berg u. a. 2014 Sautner, Lyane: Videotechnologie im Strafverfahren: Kommunikation, Dokumenta­ tion und Reproduktion, JBl 2019, 210–224 Sautner, Lyane: Reversible und irreversible Prägungen des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2017, 902–910 Sautner, Lyane: Bedeutung und Spannungsfelder einer opferorientierten Strafrechtspflege, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 37. Ottensteiner Fortbildungs­ seminar aus Strafrecht und Kriminologie, 25. bis 27. Februar 2009, Wien/Graz 2010, 13–29 (zit.: Sautner, 37. Ottensteiner (2009)) Sautner, Lyane: Opferinteressen und Strafrechtstheorien, Innsbruck/Wien/Bozen 2010 (zit.: Sautner, Opferinteressen) Sautner, Lyane: Was bedeutet eine opferorientierte Strafrechtspflege? Wie weit darf eine solche gehen?, JSt 2009, 6–7 Sautner, Lyane/Hirtenlehner, Helmut: Bedürfnisse und Interessen von Kriminalitätsopfern als Maßstab des Strafprozessrechts, Bericht von der Linzer Opferbefragung, ÖJZ 2008, 574–581

394 Literaturverzeichnis Schachermayer, Alexandra: Statement, in: Stuefer/Ruhri/Soyer (Hrsg.), Strafver­tei­ digung und Psyche/11.  Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Graz, 15./16. März 2013, Wien/Graz 2013, 86–89 (zit.: Schachermayer, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013)) Schallmoser, Nina Marlene: Zum Schädigungsvorsatz des § 302 StGB nach der Rechtsprechung des OGH, RZ 2016, 210–216 Scheiber, Oliver: Mission impossible: Ist Justiz wandelbar?, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz, Wien 2013, 473–491 (zit.: Scheiber, in: Pilgermair, Wandel) Scheiber, Oliver: Statement, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – neue Schwerpunkte/6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Linz, 28./29. März 2008, Wien/ Graz 2008, 50–53 (zit.: Scheiber, 6. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2008)) Schemm, v., Katja/Dreger, Britta/Köhnken, Günter: Suggestion und konfirmatorisches Testen sozialer Hypothesen in Befragungssituationen, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Band 2 (2008), 20–27 (zit.: v. Schemm/Dreger/Köhnken, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie) Schender, Rüdiger: Verschärfung der Strafenpraxis: Sind neue Tatbestände und höhere Strafen notwendig?, Österreichisches AnwBl 2019, 201–203 Scheumer, Maike: Videovernehmung kindlicher Zeugen. Zur Praxis des Zeugenschutzgesetzes, Göttingen 2007 (Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen) Schick, Peter J.: „Als Nächstes kommt die Hauptverhandlung dran“ (Anonymus) – Überlegungen zur Fortsetzung der Strafprozessreform, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel: Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 451–465 (zit.: Schick, in: Miklau-FS) Schick, Peter J.: Die neue Hauptverhandlung: Parteienprozess oder Inquisition, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Ringen um Fairness/3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Graz, 11./12. März 2005, Wien/Graz 2005, 15–45 (zit.: Schick, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005)) Schild, Wolfgang: Psychologie der Strafverteidigung, in: Stuefer/Ruhri/Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung und Psyche/11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Graz, 15./16. März 2013, Wien/Graz 2013, 11–46 (zit.: Schild, 11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2013)) Schillhammer, Ernst: Videodokumentation der Hauptverhandlung. Gegenwart und Zukunft, Österreichisches AnwBl 2016, 348–350 Schlosser, Hans: Neuere Europäische Rechtsgeschichte, 3. Auflage, München 2017 Schlothauer, Reinhold: Anm. zu BGH, Beschl. v. 20.10.2010 – 1 StR 400/10, StV 2011, 202–204, StV 2011, 205–207 Schlothauer, Reinhold/Weider, Hans-Joachim: Erweiterte Handlungsspielräume – gesteigerte Verantwortung der Verteidigung im künftigen Ermittlungsverfahren, StV 2004, 504–517 Schlüchter, Ellen: Zur Relativierung der gerichtlichen Aufklärungspflicht durch Verständigung im Strafverfahren, in: Seebode (Hrsg.) Festschrift für Günter Spendel

Literaturverzeichnis395 zum 70. Geburtstag am 11. Juli 1992, Berlin/New York 1992, 737–756 (zit.: Schlüchter, in: Spendel-FS) Schmid, Niklaus: Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013 (zit.: Schmid, Niklaus, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts) Schmid, Sebastian: Grundrechte im strafgerichtlichen Verfahren, RZ 2009, 153–162 Schmidt, Hans-Otto: Podiums- und allgemeine Diskussion, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Strafverfolgung auf dem Prüfstand, 2.–4. Juni 2011, Attersee, Wien 2012, 189–190 (zit.: Schmidt, Hans-Otto, in: ÖJK, Strafverfolgung) Schmidt, Jens: Der Ermittlungsführer als (Universal-)Zeuge der Anklage?!, NZWiSt 2014, 121–126 Schmidt-Hieber, Werner: Absprachen im Strafprozeß – Privileg der Wohlstandskriminellen?, NJW 1990, 1884–1888 Schmidt-Hieber, Werner: Der strafprozessuale „Vergleich“ – eine illegale Kungelei?, StV 1986, 355–357 Schmidt-Hieber, Werner: Verständigung im Strafverfahren, München 1986 (zit.: Schmidt-Hieber, Strafverfahren) Schmidt-Hieber, Werner: Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses, in: Broda/Deutsch/Schreiber/Vogel (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, Darmstadt/Neuwied 1985, 995–1005 (zit.: Schmidt‑Hieber, in: Wassermann-FS) Schmieder, Mario: Stärkung des adversatorischen Elements in der Hauptverhandlung, in: Soyer/Ruhri/Stuefer (Hrsg.), Strafverteidigung – Die Hauptverhandlung/13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Linz, 20./21. März 2015, Wien/Graz 2015, 101–105 (zit.: Schmieder, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015)) Schmieder, Mario: Statement, in: Stuefer/Ruhri/Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung und Psyche/11. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Graz, 15./16. März 2013, Wien/Graz 2013, 117–121 (zit.: Schmieder, 11. Österreichischer Strafverteidiger­ Innentag (2013)) Schmitt, Bertram: Die Verständigung im Strafprozess nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013, in: Dencker/Galke/Voßkuhle (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tolksdorf, zum 65. Geburtstag, Köln 2014, 399–412 (zit.: Schmitt, in: Tolksdorf-FS) Schmitt, Bertram: Zur Rechtsprechung und Rechtswirklichkeit verfahrensbeendender Absprachen im Strafprozess, GA 2001, 411–426 Schmittat, Susanne M.: Psychologische Grundlagen der Beweisführung, JSt 2017, 444–450 Schmoller, Kurt: Einvernehmliche Verurteilung oder Diversion? Nachträgliche Überlegungen zum Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE‑ASR), GA 2019, 1–128; 270–281 Schmoller, Kurt: Beweiskraft und Beweiswürdigung, JSt 2017, 421–434

396 Literaturverzeichnis Schmoller, Kurt: Ne bis in idem und die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, in: Hochmayr (Hrsg.), „Ne bis in idem“ in Europa, Praxis, Probleme und Perspektiven des Doppelverfolgungsverbots, Baden-Baden 2015, 115–144 (zit.: Schmoller, in: Hochmayr, Doppelverfolgungsverbot) Schmoller, Kurt: Medienöffentlichkeit und Strafverfahren, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Opferrechte und Medienjustiz, 4. Dreiländerforum und 12. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Salzburg, 31. Januar/1. Februar 2014, Wien/ Graz 2014, 79–94 (zit.: Schmoller, 4. Dreiländerforum (2014)) Schmoller, Kurt: Anm. zu OGH 12 Os 90/13x JBl 2014, 336–340, JBl 2014, 340–342 Schmoller, Kurt: Freie Beweiswürdigung und in dubio pro reo – Grenzbereiche, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 41. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, 20. bis 22. Februar 2013, Wien/Graz 2014, 45–73 (zit.: Schmoller, 41. Ottensteiner (2013)) Schmoller, Kurt: Verwertungsverbot infolge fehlerhafter Vernehmung – der österreichische Weg, in: Esser/Günther/Jäger/Mylonopoulos/Öztürk (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag am 21. August 2013, Heidelberg u. a. 2013, 345–360 (zit.: Schmoller, in: Kühne-FS) Schmoller, Kurt: Zur Reform der Vernehmung in der Hauptverhandlung, RZ 2011, 188–194 Schmoller, Kurt: Neues Strafprozessrecht in Österreich, GA 2009, 505–528 Schmölzer, Gabriele/Mühlbacher, Thomas (Hrsg.): StPO, Strafprozessordnung Kommentar, Band 1 (§§ 1–209b StPO): Ermittlungsverfahren, Wien 2013 (zit.: Bearbeiter, in: Schmölzer/Mühlbacher, StPO I (Stand)); Band 2 (§§ 210–296a StPO): Haupt- und Rechtsmittelverfahren, Wien 2017 (zit.: Bearbeiter, in: Schmölzer/ Mühlbacher, StPO II (Stand)) Schöch, Gabriele: Urteilsabsprachen in der Strafrechtspraxis, Berlin 2007 Scholz, Rupert: Der gesetzgebende Richter, ZG 2013, 105–120 Schönke, Adolf/Schröder, Horst (Begr.): Strafgesetzbuch Kommentar, 30. Auflage, München 2019 (zit.: Bearbeiter, in: Schönke/Schröder, StGB) Schoop, Christian: Der vereinbarte Rechtsmittelverzicht, Baden‑Baden 2006 (zit.: Schoop, Rechtsmittelverzicht) Schroll, Hans Valentin: Judikatur zu den Anwendungsvoraussetzungen der Diversion, ÖJZ 2013, 861–870 Schroll, Hans Valentin: Diversion als Ausdruck eines Paradigmenwechsels der Strafrechtsdogmatik, in: Huber/Jesionek/Miklau (Hrsg.), Festschrift für Reinhard Moos zum 65. Geburtstag, Wien 1997, 259–282 (zit.: Schroll, in: Moos-FS) Schulz, Joachim: Sachverhaltsfeststellung und Beweistheorie, Elemente einer Theorie strafprozessualer Sachverhaltsdarstellungen, Köln 1992 (zit.: Schulz, Sachverhaltsfeststellung) Schumann, Karl F.: Der Handel mit Gerechtigkeit, Funktionsprobleme der Strafjustiz und ihre Lösungen, am Beispiel des amerikanischen plea bargaining, Frankfurt am Main 1977 (zit.: Schumann, Karl, Handel)

Literaturverzeichnis397 Schumann, Stefan: Rechtstatsachenforschung, Zugang zu anwaltlichem Beistand bei Festnahme und polizeilicher Beschuldigtenvernehmung – Zugleich eine Anmerkung zum Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016, in: Stuefer/Pleischl (Hrsg.), Strafrecht und Strafverteidigung, Beiträge zum Symposium für Richard Soyer zum 60. Geburtstag, Wien 2016, 21–30 (zit.: Schumann, Stefan, in: Stuefer/ Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung) Schumann, Stefan: Handlungsspielräume der Verteidigung bei geheimen Untersuchungen, in: Forum Strafverteidigung (CH)/Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen (Ö)/Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e. V.  (D)/Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V.  (D) (Hrsg.), Strafverteidigung und Inquisition, 6. Dreiländerforum Strafverteidigung, in Basel, 10./11. Juni 2016, Wien/Graz 2017, 105–125 (zit.: Schumann, Stefan, 6. Dreiländerforum (2016)) Schumann, Stefan/Bruckmüller, Karin/Soyer, Richard: Anwaltlicher Beistand im Ermittlungsverfahren – Entscheidungsfaktoren für Inanspruchnahme oder Rechtsverzicht. Ergebnisse einer Rechtstatsachenforschung, JSt 2011, 175–183 Schünemann, Bernd: Gedanken zur zweiten Instanz in Strafsachen, in: Geisler/Kraatz/ Kretschmer/Schneider/Sowada (Hrsg.), Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag am 10. März 2011, Berlin u. a. 2014, 649–664 (zit.: Schünemann, in: Geppert-FS) Schünemann, Bernd: Die Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen?, in: Zöller/Hilger/Küper/Roxin (Hrsg.), Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, Berlin 2013, 1107–1029 (zit.: Schünemann, in: Wolter-FS) Schünemann, Bernd: Reformaspekte des strafrechtlichen Haupt- und Rechtsmittelverfahrens, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens/RichterInnenwoche 2010, in Geinberg, 17.–21. Mai 2010, Wien/Graz 2011, 9–23 (zit.: Schünemann, RichterInnenwoche (2010)) Schünemann, Bernd: Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Struktur des Strafverfahrens, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 25 Jahre, Baden-Baden 2009, 827–845 (zit.: Schünemann, in: DAV-FS) Schünemann, Bernd: Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren, ZIS 2009, 484–494 Schünemann, Bernd: Bundesrechtsanwaltskammer auf Abwegen, ZRP 2006, 63–64 Schünemann, Bernd: Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, Die Urteilsabsprachen im Strafprozess als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, Berlin 2005 (zit.: Schünemann, Wetterzeichen) Schünemann, Bernd: Zur Entstehung des deutschen „plea bargaining“, in: Lorenz/ Trunk/Eidenmüller/Wendehorst/Adolff (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, München 2004, 1177–1193 (zit.: Schünemann, in: HeldrichFS)

398 Literaturverzeichnis Schünemann, Bernd: Die Absprachen im Strafverfahren – Von ihrer Gesetz- und Verfassungswidrigkeit, von der ihren Versuchungen erliegenden Praxis und vom dogmatisch gescheiterten Versuch des 4. Strafsenats des BGH, sie im geltenden Strafprozeßrecht zu verankern, in: Hanack/Hilger/Mehle/Widmaier (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002, Berlin/New York 2002, 525– 546 (zit.: Schünemann, in: Rieß-FS) Schünemann, Bernd: Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlusseffekt, StV 2000, 159–165 Schünemann, Bernd: Polizei und Staatsanwaltschaft – Teil 2, Kriminalistik 1999, 146–152 Schünemann, Bernd: Hände weg von der kontradiktorischen Struktur der Hauptverhandlung!, StV 1993, 607–609 Schünemann, Bernd: Die informellen Absprachen als Überlebenskrise des deutschen Strafverfahrens, in: Arzt/Baum/Brehm (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag, 22. Juni 1992, Bielefeld 1992, 361–382 (zit.: Schünemann, in: Baumann‑FS) Schünemann, Bernd: Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des achtundfünfzigsten Deutschen Juristentages, Teil B, Band I (Gutachten B), München 1990 (zit.: Schünemann, 58. DJT (1990), Band I) Schünemann, Bernd: Diskussionsbeiträge zum Thema: Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Sitzungsbericht L zum 58. Deutschen Juristentag, Band II, München 1990, S. 94–102 (zit.: Schünemann, 58. DJT (1990), Band II) Schünemann, Bernd: Die Verständigung im Strafprozeß – Wunderwaffe oder Ban­ krotterklärung der Verteidigung, NJW 1989, 1895–1903 Schünemann, Bernd: Informelle Absprachen und Vertrauensschutz im Strafverfahren, JZ 1989, 984–990 Schünemann, Bernd/Hauer, Judith: Absprachen im Strafverfahren, Deutsches ­AnwBl 2006, 439–446 Schuppich, Walter: Anklage und Verteidigung, in: Liebscher/Müller (Hrsg.), Einhundert Jahre österreichische Strafprozeßordnung 1873–1973, Wien/New York 1973, 197–206 (zit.: Schuppich, in: Liebscher/Müller, Einhundert Jahre) Schuster, Harald: Der inhaftierte Mandant aus österreichischer Sicht, in: Soyer/Stuefer (Hrsg.), Effektive Strafverteidigung, 1. Dreiländerforum Strafverteidigung, in Innsbruck, 18./19. Februar 2011, Wien/Graz 2011, 142–147 (zit.: Schuster, 1. Dreiländerforum (2011)) Schütz, Hannes: Strafgerichtliche Diversionsentscheidungen, in: Reindl‑Krauskopf/ Zerbes/Brandstetter/Lewisch/Tipold (Hrsg.), Festschrift für Helmut Fuchs, Wien 2014, 505–527 (zit.: Schütz, in: Fuchs-FS) Schwaighofer, Klaus: Anm. zu OGH 13 Os 120/17x JSt 2018, 247, JSt 2018, 247–248

Literaturverzeichnis399 Schwaighofer, Klaus: Wahrheitsfindung im Strafprozess, in: Stuefer/Pleischl (Hrsg.), Strafrecht und Strafverteidigung, Beiträge zum Symposium für Richard Soyer zum 60. Geburtstag, Wien 2016, 45–49 (zit.: Schwaighofer, in: Stuefer/Pleischl, Strafrecht und Strafverteidigung) Schwaighofer, Klaus: Anm. zu OGH 12 Os 152/14s JBl 2015, 608–609, JBl 2015, 609–611 Schwaighofer, Klaus: Never ending story: Unreformierbarer „reformierter“ Sachverständigenbeweis, Österreichisches AnwBl 2015, 342–352 Schwaighofer, Klaus: Der Sachverständigenbeweis im Strafverfahren, Wien 2014 (zit.: Schwaighofer, Sachverständigenbeweis) Schwaighofer, Klaus: Kontradiktorische Vernehmung und Verteidigung, in: Reindl‑Krauskopf/Zerbes/Brandstetter/Lewisch/Tipold, (Hrsg.), Festschrift für Helmut Fuchs, Wien 2014, 529–538 (zit.: Schwaighofer, in: Fuchs-FS) Schwaighofer, Klaus: Diversion im Abwind? Ursachen des Rückgangs und Überlegungen zur Ausweitung, JSt 2013, 102–109 Schwaighofer, Klaus: Die Arbeit im Menschenrechtsbeirat und Probleme polizeilicher Vernehmungen, Österreichisches AnwBl 2012, 122–125 Schwaighofer, Klaus: Die neue Kronzeugenregelung – effizientes Aufklärungsinstrument oder Kapitulation des Rechtsstaats?, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 39. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, 23. bis 25. Februar 2011, Wien/Graz 2011, 5–24 (zit.: Schwaighofer, 39. Ottensteiner (2011)) Schwaighofer, Klaus: Gefährliche Drohung oder Warnung? – Zur Strafbarkeit des Vortäuschens einer Gefahr, JSt 2005, 86–90 Schwaighofer, Klaus: Die Wechselwirkung zwischen Vorverfahren und Hauptverhandlung, in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft im 21. Jahrhundert, Aufgaben und Positionen und Perspektiven, Wien 2001, 239–265 (zit.: Schwaighofer, in: Pilgermair, Staatsanwaltschaft) Seier, Jürgen: Der strafprozessuale Vergleich im Lichte des § 136a StPO, JZ 1988, 683–688 Seiler, Stefan: Strafprozessrecht, 17. Auflage, Wien 2018 Seiler, Stefan: Die Stellung des Beschuldigten im Anklageprozess, Wien 1996 (zit.: Seiler, Anklageprozess) Sello, Erich: Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen, 1. Band, Berlin 1911 (zit.: Sello, Irrtümer der Strafjustiz) Sessar, Klaus: Wiedergutmachen oder strafen, Einstellungen in der Bevölkerung und der Justiz, ein Forschungsbericht, Pfaffenweiler 1992 (zit.: Sessar, Wiedergutmachen oder strafen) Sickor, Jens Andreas: Von den Gebrechen des reformierten Strafverfahrens, StV 2015, 516–521 Sickor, Jens Andreas: Das Geständnis, Tübingen 2014

400 Literaturverzeichnis Sigl, Christoph: Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren, unter Einbeziehung der Rechtspraxis des Ermittlungsverfahrens nach der Strafprozessreform und des ­VfGH-Erkenntnisses vom 16.12.2010, G 259/09, über die Aufhebung eines einheitlichen Rechtsschutzes, Wien/Graz 2011 (zit.: Sigl, Verteidigungsrechte) Singelnstein, Tobias: Confirmation Bias – Die Bestätigungsneigung als kognitive Verzerrung bei polizeilichen Ermittlungen im Strafverfahren, StV 2016, 830–836 Siolek, Wolfgang: Verständigung in der Hauptverhandlung, Baden-Baden 1993 (zit.: Siolek, Verständigung) Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags – der Alltag der Auslegung, Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, 2. Auflage, Konstanz 2004 (zit.: Soeffner, Auslegung) Sommer, Ulrich: Der moderne Strafverteidiger und die neuen Deal-Strategien. Plädoyer für eine engagierte und kämpferische Verteidigung, Deutsches AnwBl 2010, 197–199 Soyer, Richard: Gerechtigkeit – Absprachen – Korruption, JSt 2013, 37–42 Soyer, Richard: Kronzeugen, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens/RichterInnenwoche 2010, in Geinberg, 17.–21. Mai 2010, Wien/Graz 2011, 69–77 (zit.: Soyer, RichterInnenwoche (2010)) Soyer, Richard: Wahrheit im Strafprozess – Die Perspektive des Verteidigers, in: ­Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Ethik und Erfolg/8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Salzburg, 19./20. März 2010, Wien/Graz 2010, 78–90 (zit.: Soyer, 8. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2010)) Soyer, Richard: Strafprozessreform: Erste Erfahrungen, Probleme und Kritikpunkte, Referat, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 36. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, 27. bis 29. Februar 2008, Wien/Graz 2008, 94–97 (zit.: Soyer, 36. Ottensteiner (2008)) Soyer, Richard: Anwesenheitsrechte – Zur Funktion und zur Regelung des Rechts auf Verteidigung bei der ersten Beschuldigtenvernehmung aus österreichischer Verteidigerperspektive, Österreichisches AnwBl 2007, 21–25 Soyer, Richard: Beschuldigtenrechte sichern – der Rechtsanwalt in der StPO-Reform, in: Bundesministeriums für Inneres (Hrsg.), Neue Wege im Strafverfahren/ 5. Rechtsschutztag des Bundesministeriums für Inneres, in Wien, am 6. November 2007, Wien/Graz 2008, 129–142 (zit.: Soyer, 5. Rechtsschutztag (2007)) Soyer, Richard: Der Vergleich im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren aus der Sicht des Verteidigers, in: Leitner (Hrsg.), Finanzstrafrecht 1996–2002, Aktualisierte Beiträge der Finanzstrafrechtlichen Tagung 1996–2002, Wien 2006, 762–787 (zit.: Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2006)) Soyer, Richard: Strafverteidigung im europäischen Raum. Neue Entwicklungen und Herausforderungen aus österreichischer Verteidigerperspektive, ÖJZ 2005, 555– 562 Soyer, Richard: Vorbemerkungen zu den Referaten und Statements, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Ringen um Fairness/3. Österreichischer StrafverteidigerInnen-

Literaturverzeichnis401 tag, in Graz, 11./12. März 2005, Wien/Graz 2005, 111–113 (zit.: Soyer, 3. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2005)) Soyer, Richard: Diskussion, in: Vorstand des Österreichischen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 15.  Österreichischen Juristentages 2003 in Innsbruck, Band IV/2, Strafrecht: Referate und Diskussionsbeiträge, Zur Reform des strafprozessualen Hauptverfahrens, Wien 2004, 74–154 (zit.: Soyer, 15. ÖJT (2003), Band IV/2) Soyer, Richard: Vorstellungen zur „Hauptverhandlung neu“, in: Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Realität und Vision/1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Wien, 21./22. März 2003, Wien/Graz 2003, 80–87 (zit.: Soyer, 1. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2003)) Soyer, Richard: Der Vergleich im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren aus der Sicht des Verteidigers, in: Leitner (Hrsg.), Finanzstrafrecht 2002: Absprachen/Vergleiche im Abgaben- und Finanzstrafrecht; mit neuester Rechtsprechung und Literatur zum Finanzstrafrecht, Wien 2003, 73–98 (zit.: Soyer, in: Leitner, Finanzstrafrecht (2002)) Soyer, Richard: Strafprozeß und Tatausgleichsverfahren im Spannungsfeld von divergierenden Wahrheitsansprüchen, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram (Hrsg.), Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 1994, Ausweg aus dem Strafrecht – der „außergerichtliche Tatausgleich“, Überlegungen anläßlich eines „Modellversuchs“ im österreichischen (Erwachsenen-) Strafrecht, Baden-Baden 1994, 191–198 (zit.: Soyer, in: Hammerschick/Pelikan/Pilgram, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie (1994)) Soyer, Richard: Ermittlungsrecht und Ausschließung des Verteidigers, Österreichisches AnwBl 1991, 71–73 Soyer, Richard: Wenn Milde gegen Kooperation getauscht wird, in: Die Presse, v. 10.7.1991, S. 18, Zeitungsnummer: 13003 Soyer, Richard/Kier, Roland: Die Reform des Strafverfahrensrechts, Grundzüge der Strukturreform und der neuen Verteidigungs- und Opferrechte, Österreichisches AnwBl 2008, 105–119 Soyer, Richard/Schumann, Stefan: Grundsätze der Strafverteidigung, Zugleich Überlegungen zum Verhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem, in: Reindl‑Krauskopf/Zerbes/Brandstetter/Lewisch/Tipold (Hrsg.), Festschrift für Helmut Fuchs, Wien 2014, 539–555 (zit.: Soyer/Schumann, in: Fuchs-FS) Soyer, Richard/Stangl, Wolfgang: Regionale Disparitäten in der Strafrechtsanwendung und die neue Stellung des Staatsanwaltes im Vorverfahren. Überlegungen zur Qualitätssicherung in der Strafrechtspflege durch Ressourcen- und Rechtsfolgenorientierung, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 523–540 (zit.: Soyer/Stangl, in: Miklau-FS) Stadler, Max: Die Staatsanwaltschaft im liberalen Rechtsstaat, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Strafverfolgung auf dem Prüfstand, 2.–4. Juni 2011, Attersee, Wien 2012, 11–15 (zit.: Stadler, in: ÖJK, Strafverfolgung)

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Literaturverzeichnis403 Stübinger, Stephan: Anm. zu BGH, Beschl. v. 06.11.2007 – 1 StR 370/07, JZ 2008, 796–798, JZ 2008, 798–800 Stuckenberg, Carl-Friedrich: Zur Verfassungsmäßigkeit der Verständigung im Strafverfahren, ZIS 2013, 212–219 Stuefer, Alexia: 11. Kapitel, Verteidigung in der Hauptverhandlung einschließlich deren Vorbereitung, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Wien 2017, 255–294 (zit.: Stuefer, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung) Stuefer, Alexia: Verteidigung in der Hauptverhandlung – zweiter Teil erster Abschnitt: Lösungsansätze, JSt 2014, 228–230 Stuefer, Alexia: Bedarf es einer Reform des Rechtsmittelverfahrens im Strafverfahren?, JSt 2014, 105–118 Stuefer, Alexia: Verteidigung in der Hauptverhandlung – Kurzanalyse der gesetzlichen Regelungen und deren Umsetzung in der Praxis – erster Teil, JSt 2014, 31–32 Stuefer, Alexia: Zerstört der Deal das Recht?, JSt 2013, 245–247 Stuefer, Alexia: Überlegungen zur Reform der Hauptverhandlung, JSt 2009, 46–47 Stuefer, Alexia/Ruhri, Gerald: Verständigungen im Strafverfahren, Betrachtungen de lege ferenda, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 38. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, 24. bis 26. Februar 2010, Wien/ Graz 2010, 61–74 (zit.: Stuefer/Ruhri, 38. Ottensteiner (2010)) Świderski, Szymon: Zur Unparteilichkeit des Richters, ÖJZ 2019, 13–20 Świderski, Szymon: Ist die Bestellung und die Führung des Sachverständigen im Strafverfahrensrecht verfassungsrechtlich unbedenklich?, ÖJZ 2014, 956–961 Swoboda, Wolfgang: Workshop Absprachen, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens/RichterInnenwoche 2010, in Geinberg, 17.–21. Mai 2010, Wien/Graz 2011, 86–89 (zit.: Swoboda, Richter­ Innenwoche (2010)) Täubl, Elisabeth: Workshop Absprachen, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens/RichterInnenwoche 2010, in Geinberg, 17.–21. Mai 2010, Wien/Graz 2011, 89–95 (zit.: Täubl, RichterInnenwoche (2010)) Terhorst, Bruno: Kriterien für konsensuales Vorgehen im Strafverfahren – freie Wahl für Urteilsabsprachen?, GA 2002, 600–614 Tews, Günter: Aussagepsychologie – ein verfemtes Fachgebiet in Österreichs Strafjustiz?, RZ 2005, 58–62 Thaman, Stephen C.: Diskussion, in: Vorstand des Österreichischen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 15. Österreichischen Juristentages 2003 in Innsbruck, Band IV/2, Strafrecht: Referate und Diskussionsbeiträge, Zur Reform des strafprozessualen Hauptverfahrens, Wien 2004, 74–154 (zit.: Thaman, 15. ÖJT (2003), Band IV/2) Theile, Hans: Strafrechtliche Hypertrophie und ihre Folgen, Das Beispiel der verfahrenserledigenden Urteilsabsprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, MschKrim 2010, 147–163

404 Literaturverzeichnis Theuer, Eberhart: Darf die Polizei Entlastendes verschweigen? Zu Irrlehren aus dem Tierschützerprozess, JSt 2011, 205–213 Theune, Werner: Grundsätze und Einzelfragen der Strafzumessung, aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, StV 1985, 205–210 Tipold, Alexander: Strafprozessrechtsänderungsgesetz II 2016 – die Regierungsvorlage, JSt 2016, 497–499 Tipold, Alexander: Überlegungen zum neuen Mandatsverfahren, in: Bundesministe­ rium für Justiz (Hrsg.), 43. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, 25. bis 27. Februar 2015, Wien/Graz 2016, 5–24 (zit.: Tipold, 43. Ottensteiner (2015)) Tipold, Alexander: Neuerungen durch die Strafprozessnovelle 2014, JSt 2014, 97–104 Tipold, Alexander: StPO mit Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014, Textausgabe mit Materialien und Einführungserlass, Wien 2015 (zit. Tipold, StPO mit Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014) Tipold, Alexander: Anm. zu OGH 12 Os 27/12f JBl 2013, 126, JBl 2013, 126–127 Tipold, Alexander: Von Rügen und Anträgen, Der Verteidiger als Beistand des Gerichts, JSt 2010, 19–26 Tipold, Alexander: Absprachen im Strafprozess, Archivum Iuridicum Cracoviense, Vol. XXXI‑XXXII, 1998–1999, 169–191 (zit.: Tipold, Absprachen) Tipold, Alexander/Wess, Norbert: „Absprachen im Strafverfahren“ – ein Mittel zur Beschleunigung im Strafverfahren? in: Neumayr (Hrsg.), Beschleunigung von Zivil- und Strafverfahren, Zwischen Richtigkeitsgewähr, Fairness und Effizienz, Wien 2014, 139–160 (zit.: Tipold/Wess, in: Neumayr, Beschleunigung von Zivilund Strafverfahren) Todor-Kostic, Alexander: 2. Kapitel, Verteidiger und Mandant, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Wien 2017, 21–39 (zit.: Todor-Kostic, in: Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung) Todor-Kostic, Alexander: Die Beweisantragspflicht im Spannungsverhältnis zur amtswegigen Wahrheitserforschung, JSt 2017, 470–471 Tomandl, Theodor: Im juristischen Methodendschungel, ÖJZ 2011, 539–545 Trebuch, Filip/Eilenberger, Barbara: Gratisarbeit im Gerichts„jahr“?, RZ 2011, 3–5 Triffterer, Otto/Rosbaud, Christian/Hinterhofer, Hubert (Hrsg.): StGB, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Loseblattsammlung, 39. Lieferung, Stand: 19.12.2018, Wien (zit.: Bearbeiter, in: SbgK‑StGB (Stand)) Trück, Thomas: Strafprozessuale Verständigungen auf dem Prüfstand des BVerfG – mehr Fragen als Antworten, ZWH 2013, 169–180 Trüg, Gerson: Erkenntnisse aus der Untersuchung des US-amerikanischen plea bargaining‑Systems für den deutschen Absprachendiskurs, ZStW 120 (2008), 331– 374 Trüg, Gerson: Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US‑amerikanischen Strafverfahren, Tübingen 2003 (zit.: Trüg, Lösungskonvergenzen)

Literaturverzeichnis405 Trüg, Gerson/Kerner, Hans-Jürgen: Formalisierung der Wahrheitsfindung im (re­ formiert-) inquisitorischen Strafverfahren, in: Schöch/Helgerth/Dölling/König (Hrsg.), Recht gestalten – dem Recht dienen: Festschrift für Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag am 29. Juli 2007, Berlin 2007, 191–212 (zit.: Trüg/Kerner, in: Böttcher‑FS) Tscherwinka, Ralf: Absprachen im Strafprozeß, Frankfurt am Main u. a. 1995, (zit.: Tscherwinka, Absprachen) Tzannetis, Aristomenis: Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses, ZIS 2016, 281–294 Vacarescu, Wolfgang: Das Bedürfnis des Beschuldigten (Angeklagten) nach einem adversatorischen Strafverfahren, in: Soyer/Ruhri/Stuefer (Hrsg.), Strafverteidigung – Die Hauptverhandlung/13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag, in Linz, 20./21. März 2015, Wien/Graz 2015, 65–76 (zit.: Vacarescu, 13. Österreichischer StrafverteidigerInnentag (2015)) Vargha, Julius: Die Vertheidigung in Strafsachen, historisch und dogmatisch dargestellt, Wien 1879 (zit.: Vargha, Vertheidigung) Velten, Petra: Das Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren – Der lange Arm des Ermittlungsverfahrens, in: Herzog/Schlothauer/Wohlers/Wolter (Hrsg.), Rechtsstaatlicher Strafprozess und Bürgerrechte, Gedächtnisschrift für Edda Weßlau, Berlin 2016, 391–411 (zit.: Velten, in: Weßlau-GS) Velten, Petra: Fehlentscheidungen im Strafverfahren, GA 2015, 387–409 Velten, Petra: Das neue österreichische Strafverfahren: auf dem Weg der Besserung?, in: Schünemann (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, Berlin 2010, 29–50 (zit.: Velten, in: Schünemann, Risse im Fundament) Velten, Petra: Die Geister, die ich rief – oder wie Deutschland vergeblich versucht, die Folgen einer BGH‑Entscheidung zu revidieren, JSt 2009, 181–191 Velten, Petra: Ein Plädoyer für die Nebenklage, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 585–608 (zit.: Velten, in: Miklau-FS) Venier, Andreas: Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Strafbemessung: Eine rechtspolitische Betrachtung, in: Reindl‑Krauskopf/Zerbes/Brandstetter/Lewisch/Tipold (Hrsg.), Festschrift für Helmut Fuchs, Wien 2014, 621–640 (zit.: Venier, in: Fuchs-FS) Venier, Andreas: Anm. zu OGH 14 Os 43/13z (115/13p, 116/13k) JBl 2014, 330–333, JBl 2014, 333–336 Venier, Andreas: Vorbemerkung des Vorsitzenden, in: Soyer/Stuefer (Hrsg.), Effektive Strafverteidigung, 1. Dreiländerforum Strafverteidigung, in Innsbruck, 18./19. Fe­ bruar 2011, Wien/Graz 2011, 187–190 (zit.: Venier, 1. Dreiländerforum (2011)) Venier, Andreas: Die Kriminalpolizei und der Schutz der Grundrechte nach der Reform der StPO, JSt 2010, 121–126 Venier, Andreas: Das neue Ermittlungsverfahren, Eine Reform und ihre Mängel, ÖJZ 2009, 591–599

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408 Literaturverzeichnis Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, Berlin 2013, 1145–1165 (zit.: Weigend, in: Wolter-FS) Weigend, Thomas: Anm. zu BVerfG, Urt. v. 19.03.2012 – 2 BvR 2628/10, NJW 2013, 1058–1071, StV 2013, 424–427 Weigend, Thomas: Verständigung in der Strafprozessordnung: Auf dem Weg zu einem neuen Verfahrensmodell?, in: Bloy/Böse/Hillenkamp/Momsen/Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag, Berlin 2010, 829–848 (zit.: Weigend, in: Maiwald-FS) Weigend, Thomas: Strafverteidigung im Zeitalter abgesprochener Urteile, in: Weigend/Walther/Grunewald (Hrsg.), Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen, Denkanstöße aus sieben Rechtsordnungen, Berlin 2008, 357–394 (zit.: Weigend, in: Weigend/Walther/Grunewald, Strafverteidigung) Weigend, Thomas: Bedenken gegen das Dealen. Auch eine rechtsvergleichende Betrachtung, in: Goldbach (Hrsg.), Der Deal mit dem Recht, Absprachen im Strafprozess, Hofgeismarer Vorträge 2004, 37–50 (zit.: Weigend, in: Goldbach, Der Deal mit dem Recht) Weigend, Thomas: Der BGH vor der Herausforderung der Absprachepraxis, in: Roxin/ Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV. Strafrecht, Strafprozessrecht, München 2000, 1011–1042 (zit.: Weigend, in: 50 Jahre BGH‑FG) Weigend, Thomas: Eine Prozeßordnung für abgesprochene Urteile?, Anmerkungen zu den Entscheidungen BGHSt 43, 195 und BGH, NStZ 1999, 92, NStZ 1999, 57–63 Weigend, Thomas: Abgesprochene Gerechtigkeit – Effizienz durch Kooperation im Strafverfahren?, JZ 1990, 774–782 Weratschnig, Bernhard: Workshop Kronzeugen, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens/RichterInnenwoche 2010, in Geinberg, 17.–21. Mai 2010, Wien/Graz 2011, 128–135 (zit.: Weratschnig, RichterInnenwoche (2010)) Wess, Norbert: 1. Kapitel, Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren, in: Kier/ Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Wien 2017, 1–19 (zit.: Wess, in: Kier/ Wess, Handbuch Strafverteidigung) Wess, Norbert/Machan, Markus: Akteneinsicht in sichergestellte, aber noch nicht als verfahrensrelevant erkannte Unterlagen und elektronische Daten?, in: Lewisch (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit. Jahrbuch 2016, Wien/ Graz 2017, 167–177 (zit.: Wess/Machan, in: Lewisch, Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit (2016)) Wess, Norbert/Rohregger, Michael: Der Sachverständige im Strafverfahren – Jüngste Entwicklungen in der Rechtsprechung des OGH, JSt 2014, 200–208 Weßlau, Edda: Strategische Planspiele oder konzeptionelle Neuausrichtung? Zur aktuellen Kontroverse um eine gesetzliche Regelung der Absprache im Strafverfahren, in: Jung/Luxenburger/Wahle (Hrsg.), Festschrift für Egon Müller, Baden-Baden 2008, 779–795 (zit.: Weßlau, in: Müller-FS)

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Sachverzeichnis Abspracheverhandlung –– Ablauf  22–24 –– Ausschluss der Schöffen  23, 139 f. –– Ausschluss des Angeklagten  23, 55, 142 f., 144, 340 –– Ausschluss des mutmaßlichen Opfers  23, 58 f., 161, 219 –– Scheitern  73 f., 116, 123, 127, 144 f., 152 f., 177, 184 f., 188, 190, 203, 221, 227 f., 235, 251 f., 258 Adversatorisches Verfahren  263 f. AE-ASR  252 ff. Akteneinsichtsrecht  306–308 Akteninhalt –– als Urteilsgrundlage  97–99, 147, 265 –– Stoffsammlung  102–106, 107 f., 258 Aktenkenntnis –– der Verteidigung  306 f. –– des Gerichts  67–70, 74, 149–153, 258, 297 Aktenvollständigkeit, Grundsatz der  99, 248, 306 f. Alternativhypothese  69, 292, 296, 305, 309 Ankereffekt  123, 153 Anwaltshaftung  337 ff. Appellentscheidung des BVerfG  212, 214, 264, 271 Arbeitsgruppe Strafrecht des ÖRAK  223 ff. Aufklärungspflicht, richterliche  85 ff. Ausbildung und Fortbildung der Richter  46–48, 157, 286, 290–292 Aussagepsychologie  47, 96, 97 f., 137, 157, 248, 291

Beschleunigungsgebot  37 f., 166 Beweisantragsrecht  252, 297, 308 f., 315, 321 Beweisaufnahme –– im Ermittlungsverfahren  102–106, 107 f. –– in der Hauptverhandlung  106 f., 296 Beweislehre, forensische  46 f., 157, 286, 291 Beweisverwertungsverbot  117, 144 f., 177, 181, 200, 203, 229, 233 f., 319 Beweiswürdigung, freie  46, 68 f., 94, 146, 148 f., 151, 291 Bewertung richterlicher Arbeit siehe PAR Bindungswirkung der Urteilsabsprache  131 f., 148 f. Bundesgerichtshof, deutscher –– Beschluss des Großen Senats für Strafsachen v. 03.03.2005 172 f., 180 f. –– Grundsatzentscheidung des 4. Straf­ senats des BGH v. 28.08.1997  170–172, 175 ff.

Befangenheit –– des Gerichts siehe Neutralität –– des Sachverständigen  297 f., 314 f.

Effektivität der Strafrechtspflege siehe Funktionsfähigkeit/-tüchtigkeit der Strafrechtspflege

Chancengleichheit der Absprachebeteiligten  113 f., 115 f., 119 Dissonanzreduktion  69, 105, 152, 258, 292, 296 f. Diversion  38 ff., 61 ff., 65 f., 185–189, 192 f., 236, 300 Drohung –– mit inquisitionsähnlichen Methoden  128 ff. –– mit Strafschärfung  126 f. –– mit Voreingenommenheit  127 f.

Sachwortverzeichnis415 Ermittlungsverfahren –– Funktion  66 f., 101, 300 –– Verteidigungsrechte  107 f., 301 ff. Fact bargaining  178 Fairnessgebot  132, 144, 203, 252, 295, 297, 313, 341 Falsifikatorisches Hypothesentesten  69, 291 Funktionsfähigkeit/-tüchtigkeit der Strafrechtspflege  28, 81, 117, 173, 278 f., 320, 326, 344 Generalprävention  160, 217, 219 Gesetzlicher Richter  139 f. Geständnis –– Begriff  88 –– Beweismittel  89 ff., 92 –– Beweiswert  93–96 –– Beweiswert eines Absprachegeständnisses  97–99 –– falsches  135–138 –– Freiwilligkeit  120 –– Freiwilligkeit eines Absprache­ geständnisses  121 ff. –– Glaubwürdigkeitsprüfung  94–99 –– Motivation  120 ff., 155 ff. –– schlankes  95 f. –– Strafmilderung siehe Strafrabatt –– Strafmilderungsgrund  280 ff. –– Strafmilderungsgrund eines Absprachegeständnisses  155 ff. –– substantiiertes bzw. qualifiziertes  95 –– taktisches  98, 115, 125, 133, 138, 155 ff., 179, 183, 211, 280 –– Verwertbarkeit  144 f., 177, 181, 203, 208, 221, 225, 229, 231, 233 f. Gleichbehandlungsgrundsatz  140 f., 192 Gutachten zum deutschen Verständigungsgesetz  205 f., 269 f. Hauptverhandlung –– Funktion  66, 101 –– Funktionsverlust  66–70, 317

–– Verteidigungsrechte  41 f., 295–300 –– Verzichtbarkeit  222 f. In-dubio-pro-reo-Grundsatz  149, 156 ff., 171, 334 Inertiaeffekt siehe Perseveranzeffekt Konfirmatorisches Hypothesentesten  68 ff., 99, 105, 109, 258, 296 f., 300 Konfliktverteidigung  40 ff. Konsensprinzip  216 ff. Konsensustheorie  112 ff. Kontradiktorische Vernehmung  309–311, 317 Korrespondenztheorie  111 f., 116 ff. Kriminologie  46 f. Kronzeugenregelung –– große  64 f., 158, 186, 189–192, 311 –– kleine  65, 186 Laienrichter siehe Schöffen Legalitätsprinzip  145 f. Leitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft  102–106 Mandatsverfahren  40, 65 f., 192 f., 240 f., 242 ff., 260–263, 265 Materielles Strafrecht –– Ausweitung  37 f. –– Reduzierung  272 ff. Mündlichkeitsgrundsatz  147 Nemo-tenetur-Grundsatz  119 ff., 188, 190, 223, 281, 284, 287 Neutralität des Gerichts  150–153, 177, 208, 211, 227, 246, 256 f., 258 f., 261, 292, 293 f. Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes  289 f. Oberster Gerichtshof, österreichischer –– Beschluss v. 04.03.2010  73–75 –– Grundrechtsbeschwerde v. 12.07.2006  73 –– Grundsatzentscheidung v. 24.08.2004  72 f.

416 Sachwortverzeichnis Öffentlichkeitsgrundsatz  146 Opferrechte  56 f., 274 f. Opferschutz  58 f., 117, 160 f., 204, 217, 219, 281 f. Opportunitätsprinzip  187 Overcharging  114, 145 f. PAR  35 f., 49, 277 Perseveranzeffekt  67, 69, 105 f., 108, 110, 145, 211, 294, 300, 304 f. PEUS  103 f., 106, 320 f. Point of no return  54, 144, 150, 178, 227, 261, 336, 342 Privatbeteiligter  23, 35, 161, 225 Privatgutachten  298 f., 315 Prozessökonomie  28, 39 f., 80 f., 117, 141, 159, 166, 196 f., 201, 218 f., 251, 255, 260, 286 Punktstrafe  171, 177, 202 Rechtliches Gehör  142 f. Rechtsmittelverzicht  24, 29, 36, 49, 172, 175, 179, 180, 185, 200, 203, 206, 208, 210, 211, 225, 229, 230, 233, 241, 267, 288 Rechtsschutz gegen Akte im Ermittlungsverfahren  106, 318 Ressourcen der Justiz  28, 106, 196, 256, 277 f. Richterliche Rechtsfortbildung –– durch den BGH  181 f. –– durch den OGH  185 ff. Sachverständigenbeweis –– im Ermittlungsverfahren  314 ff. –– in der Hauptverhandlung  297 ff. Sanktionsschere  124 f., 126, 127, 128, 160, 163, 173, 176, 177, 183, 220, 284, 287, 345 Schöffen  23 f., 139 f., 148, 209, 212, 254, 255, 278 Schuldangemessenheit der Strafe  162 ff., 174, 179, 198 f., 202 f., 211, 228, 300 Schuldinterlokut  237 ff.

Schulterschlusseffekt  55, 59, 68, 69, 70, 107, 110, 145, 294 Schweizerisches abgekürztes Verfahren  229 ff., 249 ff. Selektive Informationssuche  68, 105 Sonderverfahren  222 ff. Strafbarkeit der Absprachebeteiligten –– Justizjuristen  322 ff. –– Verteidigung  330 ff. Strafbefehlsverfahren  40, 202, 240, 243, 255 f. Strafbemessung –– Grundsätze siehe Geständnis, Strafmilderungsgrund eines Absprachegeständnisses; Schuldangemessenheit der Strafe –– Transparenz  122, 203, 239, 259, 280, 282 ff. Strafbescheidsverfahren  240 ff. Strafmaßangebot  54, 98, 121–123, 126 f., 132, 134, 136, 141, 150 ff. Strafmaßzusage  23, 27, 98, 125, 126 f., 131 ff., 148 f., 150 ff., 157, 170 f., 173, 174, 177 f., 203, 325 Strafmilderung siehe Strafrabatt Strafrabatt –– diskutierte Größe  259 f., 285 f. –– Geständnisdruck  98, 120 ff., 241 –– Straftarife  124 f., 163 Strafrechtsausschuss der BRAK  215 ff. Summarische Verfahren  236 f., 237 ff., 249 ff. Superschulterschlusseffekt  55, 59, 70, 123, 130, 144, 184, 228, 335, 341 Theorie der kognitiven Dissonanz  68, 105, 149, 151–153, 258 Überforderung der Justiz  45 ff., 59, 272 f., 290 ff. Überlastung der Justiz  34 ff. Überzeugungsbildung des Gerichts  108 f., 148 f. Unmittelbarkeitsgrundsatz  146 f.

Sachwortverzeichnis417 Unschuldsvermutung  75, 149 f., 153 f., 187 f. Unterwerfungsverfahren  234 ff. Urteilsabsprache –– Abgrenzung  25 ff. –– Ausbreitung  59 ff. –– Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten  48 ff., 109, 114 f., 121 f., 137, 143 f., 151 f., 161, 166, 179, 208, 211 f., 233, 240, 245, 253, 270, 295, 341 –– Existenz  33 f. –– Initiative  22 f., 53 f., 121–123, 127, 149–151, 153, 174 f., 184 f., 189 f., 201, 219 f., 227, 296, 330, 335 –– Mutmaßliche Ursachen  34 ff. –– Prototyp  27 –– Zulässigkeitsfragen  83 ff. Verdachtsannahme/-hypothese  69, 104 ff., 109, 149, 249, 258–260, 262, 307 Verfahrenshilfe  44, 51 f., 318 Verfahrensökonomie siehe Prozess­ ökonomie Verhandlungsatmosphäre/-klima  53, 55, 99, 179 Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils  131 ff. Verständigungsgesetz, deutsches  198 ff., 220 f., 224, 228 f., 252 f., 269 Verständigungsurteil des BVerfG  204 ff., 254 f. Verteidigererklärung  97 f., 254 Verteidigung –– Beschuldigtenkontakt  302–304

–– Beschuldigtenvernehmung  108, 304–306 –– Funktion und Pflichten  295 f., 339–342 –– notwendige  317 f. –– Recht des Angeklagten auf  143 f. –– Rechte im Vorverfahren  107 f., 300 ff. –– Rechte in der Hauptverhandlung  40–43, 295 ff. –– Rechtliche Stellung  330–333 Videodokumentation –– der Hauptverhandlung  276 f., 297 –– von Vernehmungen  311 ff. Vorleistung des Beschuldigten  23, 132, 144 f., 181, 188, 190, 242 Vorspiegelung als verbotene Vernehmungsmethode  134 f. Waffengleichheit  218, 295, 301 f., 308, 310, 311, 316 f., 320, 334, 341 Wahrhaftigkeit der Absprachebeteiligten  113 ff. Wahrheit –– formelle  112, 223 –– materielle  84 ff., 159, 165 f., 185–189, 215–219, 221, 312 Wechselverhör  296 f. Wiederaufnahme des Verfahrens  203 f., 288 ff., 337 Zeugenaussage  105, 106 f., 309 Zeugenvernehmung  41, 99, 105 f., 309 ff., 311 f. Zugangsvoraussetzungen zum Richterberuf  292 ff. Zweiklassenjustiz  141, 176