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German Pages [416] Year 2011
Olaf Krämer, geboren 1963, studierte Evangelische Theologie in Hamburg, Gettysburg und Washington D.C. und schloss sein Studium in den USA ab. Er arbeitete in der Altenheimseelsorge, ist seit 9 Jahren Pastor in der Trauerarbeit und sitzt dem Kuratorium einer Stiftung in Hamburg-Eilbek vor, die u. a. Trägerin einer Altenpflegeeinrichtung ist. ISBN 978-3-631-61831-8
Olaf Krämer
Olaf Krämer · Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege
Die Arbeit untersucht Lebensbedingungen und seelsorgerliche Herausforderungen in Altenpflegeheimen. Eine nähere Betrachtung stationärer Einrichtungen lässt das verbale Verstummen Pflegebedürftiger als ein zentrales Merkmal dieser Lebenswelt hervortreten. Das Nonverbale gewinnt im stationären Kontext somit an Bedeutung. Die Seelsorge wird genötigt, sich körpersprachlicher Ausdrucksformen zu bedienen. Dies wirft die Frage auf, wie eigentlich Seelsorgende in der Praxis nonverbal kommunizieren. Im Rahmen einer Multiple-Case-Fallstudie werden gefilmte Besuche von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Heimen unterschiedlicher Trägerschaft ausgewertet mit dem Ziel der Generierung einer gegenstandsbezogenen, praxistauglichen poimenischen Theorie.
XXIII/917
Europäische Hochschulschriften
Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege Analysen, Beobachtungen und poimenische Postulate
Peter Lang
www.peterlang.de
eHS-23 914-Kra�mer-261831-a5BrD-aK.indd 1
07.03.11 11:09:34 Uhr
Olaf Krämer, geboren 1963, studierte Evangelische Theologie in Hamburg, Gettysburg und Washington D.C. und schloss sein Studium in den USA ab. Er arbeitete in der Altenheimseelsorge, ist seit 9 Jahren Pastor in der Trauerarbeit und sitzt dem Kuratorium einer Stiftung in Hamburg-Eilbek vor, die u. a. Trägerin einer Altenpflegeeinrichtung ist.
Olaf Krämer
Olaf Krämer · Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege
Die Arbeit untersucht Lebensbedingungen und seelsorgerliche Herausforderungen in Altenpflegeheimen. Eine nähere Betrachtung stationärer Einrichtungen lässt das verbale Verstummen Pflegebedürftiger als ein zentrales Merkmal dieser Lebenswelt hervortreten. Das Nonverbale gewinnt im stationären Kontext somit an Bedeutung. Die Seelsorge wird genötigt, sich körpersprachlicher Ausdrucksformen zu bedienen. Dies wirft die Frage auf, wie eigentlich Seelsorgende in der Praxis nonverbal kommunizieren. Im Rahmen einer Multiple-Case-Fallstudie werden gefilmte Besuche von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Heimen unterschiedlicher Trägerschaft ausgewertet mit dem Ziel der Generierung einer gegenstandsbezogenen, praxistauglichen poimenischen Theorie.
XXIII/917
Europäische Hochschulschriften
Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege Analysen, Beobachtungen und poimenische Postulate
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Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege
Europäische Hochschulschriften Publications Universitaires Européennes European University Studies
Reihe XXIII Theologie Série XXIII Series XXIII Théologie Theology
Bd./Vol. 917
PETER LANG
Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Wien
Olaf Krämer
Nonverbale Seelsorge im Kontext stationärer Pflege Analysen, Beobachtungen und poimenische Postulate
PETER LANG
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 2011
Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.
D8 ISSN 0721-3409 ISBN 9783653006438 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2011 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de
Meinem Vater, der nach neunmonatigem Pflegeheimaufenthalt 2007 starb. Meiner Mutter, die 2008 unerwartet starb.
Vorwort Die vorliegende Schrift wurde im Wintersemester 2010 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Zu danken habe ich Frau Prof. Dr. Sabine Bobert für die Übernahme des Erstgutachtens. Frau Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong schrieb das Zweitgutachten und förderte diese Arbeit über alle Maßen. Ihr gilt mein besonders herzlicher Dank. Ein Drittgutachten erstellte Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann (Hamburg), dessen freundliches Votum mich ebenfalls dankbar stimmt. Zu danken habe ich vor allem den mutigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die mich an ihrem Dienst am pflegebedürftigen Menschen teilhaben und sich filmen ließen. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht entstanden aber ebenso wenig ohne die liebenswerten Pflegebefohlenen, die Teil des Seelsorgegeschehens waren und ihre Einwilligung zur Beobachtung durch mich gaben. Angeregt wurde diese Arbeit durch meinen Dienst als Seelsorger am Pflegeheim Oberaltenallee in Hamburg. Die unzähligen Begegnungen mit den dort Lebenden wurden mir zu einem unvergessenen Schatz. Ihnen sowie meinen verstorbenen Eltern widme ich diese Arbeit. Mannigfache Hilfestellungen waren mir in den Jahren des Schreibens von unschätzbarem Wert: Frau Dr. Gudrun Haase diskutierte mit mir, gab kostbare Anregungen, opferte Zeit und ermutigte in den Phasen der Mattheit. Frau Sieglinde Kaes fahndete unermüdlich nach Fehlern und karrte Literatur herbei. Dr. h.c. David Long BSc. bereitete den Text kompetent und engagiert für die Verlagsveröffentlichung auf. Freunde und Weggefährten glaubten an das Gelingen, ließen mich schreiben und waren geduldig. Sie alle haben ihren Anteil am Werden dieses Buches. Hamburg, im Februar 2011
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Inhaltsverzeichnis Einleitung ......................................................................................................... 13
Teil I. Das Feld ................................................................................................ 23 A. Die Stellung der Pflegeheimseelsorge in Theologie und Kirche an zwei ausgewählten Beispielen ..................................................................... 24 1. Publikationen der theologischen Literatur seit 1990................................. 24 1.1. Monografien ........................................................................................ 24 1.2. Periodika .............................................................................................. 26 2. Beobachtungen zur Heimseelsorge am Beispiel eines großstädtischen Sprengels: Freie und Hansestadt Hamburg ......................... 28 B. Das Altenpflegeheim als Lebensraum......................................................... 32 1. Angebot und Bedarf vollstationärer Betreuung, Pflegequoten ................. 36 2. Trägerschaft und Größe der Einrichtungen ............................................... 38 3. Art der Versorgung.................................................................................... 39 4. Personalsituation........................................................................................ 41 5. Häufige somatische Erkrankungen............................................................ 46 6. Häufige psychische Erkrankungen ............................................................ 47 7. Emotionales Befinden der Pflegebefohlenen in der Einschätzung des Pflegepersonals........................................................................................ 56 8. Soziale Kontakte und Aktivitäten.............................................................. 57 8.1. Soziale Kontakte.................................................................................. 57 8.2. Aktivitäten ........................................................................................... 59 9. Der Heimübergang .................................................................................... 61 9.1. Kennzeichnende Merkmale ................................................................. 61 9.2. Verweilzeiten ....................................................................................... 62 9.3. Heimeintrittsalter ................................................................................. 63 9.4. Eingewöhnung und Bewältigungsmechanismen................................. 63 9.5. Auswirkungen von Institutionalisierung ............................................. 64 10. Kommunikation in der Altenpflege......................................................... 68 11. Bettlägerigkeit ......................................................................................... 75 12. Körperzentriertheit................................................................................... 81 13. Verlust und Scham................................................................................... 84 14. Feminisierung .......................................................................................... 86 15. Religiosität............................................................................................... 88 16. Bürokratismus.......................................................................................... 96 17. Gewalt.................................................................................................... 100 18. Demenz .................................................................................................. 103 19. Sterben ................................................................................................... 108 20. Potenziale und Kompetenzen Hochaltriger und Pflegebedürftiger....... 114 9
C. Politisch-Struktuelle und gesellschaftliche Einflüsse................................ 120 1. Wirkungen der Pflegeversicherung ......................................................... 121 1.1. Begrüßenswerte Wirkungen .............................................................. 121 1.2. Kritisch zu beurteilende Wirkungen.................................................. 123 2. Das Pflegeverständnis ............................................................................. 128 3. Weitere Einflüsse der Politik auf die Pflegesituation.............................. 134 4. Altersbilder – Gesellschaftliche Bewertung der Hochaltrigkeit ............. 136 D. Das Pflegeheim als Heterotopos................................................................ 144 E. Theologische Begründungen der Heimseelsorge und ihre praxisrelevanten Potenziale ............................................................................ 147 1. Anthropologische Fundierung der Heimseelsorge .................................. 149 2. Elemente christlicher Anthropologie....................................................... 150 2.1. Menschenwürde................................................................................. 150 2.2. Geschöpflichkeit ................................................................................ 153 2.3. Sozialität ............................................................................................ 158 2.4. Leiblichkeit ........................................................................................ 160 3. Praxishilfen .............................................................................................. 162 4. Nonverbale Kommunikation ................................................................... 164
Teil II. Empirischer Ansatz ......................................................................... 173 A. Theorien zum Nonverbalen ....................................................................... 173 B. Methodologische Vorüberlegungen .......................................................... 182 1. Wissenschaftstheoretische Überlegungen – Angewandte Methoden – Vorgehen ................................................................................. 182 2. Erhebung der Daten ................................................................................. 193 3. Die Pflegebefohlenen und die Besuchskonstellationen .......................... 195 4. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger........................................................ 196 4.1. Seelsorgerin I (Sozialpädagogin Braune).......................................... 196 4.2. Seelsorgerin II (Pastorin Pape) .......................................................... 197 4.3. Seelsorger III (Diakon Hamberg) ...................................................... 199 4.4. Seelsorger IV (Diakon Stempel)........................................................ 200 4.5. Seelsorger V (Pastor Laurenz)........................................................... 201 5. Das Datenmaterial ................................................................................... 202 6. Liste der Besuche..................................................................................... 204 C. Darstellung................................................................................................. 208 1. Beschreibung der Interaktionsweisen des einzelnen Seelsorgers/der einzelnen Seelsorgerin und idealtypische Komponenten der individuellen Besuchsgestalt ......................................... 209 1.1. Seelsorgerin I ..................................................................................... 209 1.2. Seelsorgerin II.................................................................................... 214 10
1.3. Seelsorger III ..................................................................................... 219 1.4. Seelsorger IV ..................................................................................... 225 1.5. Seelsorger V....................................................................................... 229 2. Inhaltsanalytische Auswertung................................................................ 235 2.1. Erste Explikation: Psychologisch-kulturelle Deutung ...................... 235 2.1.1. Körpersignale............................................................................... 236 a. Blickverhalten ................................................................................. 236 b. Mimik.............................................................................................. 242 c. Handbewegungen ............................................................................ 245 d. Körperhaltung ................................................................................. 247 e. Körperkontakt ................................................................................. 249 f. Räumliches Verhalten...................................................................... 253 g. Äußere Erscheinung........................................................................ 254 2.1.2. Verhalten...................................................................................... 255 a. Besuchsdauer................................................................................... 255 b. Handreichungen und Hilfestellungen ............................................. 258 c. Singen und Musizieren.................................................................... 260 d. „Sharing“: Gemeinsames Betrachten eines Gegenstandes ............. 261 e. Segnen, Beten, Zitieren ................................................................... 264 f. Schweigendes Verweilen................................................................. 266 g. Reden und Schweigen..................................................................... 267 2.2. Zweite Explikation: Theologisch-poimenische Deutung .................. 270 2.2.1. Körpersignale............................................................................... 271 a. Anschauen ....................................................................................... 271 b. Lächeln............................................................................................ 274 c. Hinwenden des Gesichtes ............................................................... 277 d. Berühren.......................................................................................... 279 e. Nähe ................................................................................................ 283 2.2.2. Verhalten...................................................................................... 285 a. Besuchen: Die Besuchsdauer .......................................................... 285 Exkurs: Auffällige Patientenreaktionen im Krankenhaus ................. 287 b. Handreichungen und Hilfestellungen ............................................. 289 c. Sharing ............................................................................................ 293 d. Singen und Musizieren ................................................................... 296 e. Schweigen als Gottesnähe............................................................... 300 D. Strukturierende Gesamtauswertung .......................................................... 305 1. Auffälligkeiten......................................................................................... 306 1.1. Idealtypische Kommunikationsweisen .............................................. 306 1.2. Sprachsubstituierende Funktion der Körpersprache.......................... 308 1.3. Bedeutungspotenzierungen................................................................ 310 1.4. Aktionslosigkeit................................................................................. 311 11
1.5. Rituallosigkeit.................................................................................... 312 1.6. Analogien und Anspielungen ............................................................ 314 1.7. Zielgerichtetheit ................................................................................. 317
Teil III. Folgerungen .................................................................................... 321 A. Pflegeheimseelsorge als nonverbale Verkündigung ................................. 321 1. Besuchsdauer ........................................................................................... 325 2. Impulsgebung .......................................................................................... 329 B. Pflegeheimseelsorge als ressourcenorientierte Applikation christlicher Anthropologie.............................................................................. 333 1. Konkretionen der Leibsorge .................................................................... 340 1.1. Leibsorge als Pflege des Visuellen.................................................... 340 1.2. Leibsorge als Pflege des Olfaktorischen ........................................... 341 1.3. Leibsorge als Pflege des Taktilen...................................................... 342 1.4. Leibsorge als Pflege der Motorik ...................................................... 344 1.5. Leibsorge als Pflege des Gustatorischen ........................................... 345 1.6. Leibsorge als Pflege des Spielerischen.............................................. 346 1.7. Leibsorge als Pflege des Musischen.................................................. 348 1.8. Leibsorge als Pflege des Atems......................................................... 351 1.9. Leibsorge als Pflege des Unterbewussten ......................................... 353 2. Pflegebedürftigkeit und Lebensqualität................................................... 355 C. Pflegeheimseelsorge als Alltagsdiakonie .................................................. 361 1. Veränderte Wahrnehmung....................................................................... 365 2. Verwöhnen............................................................................................... 369 D. Zusammenfassung und Folgerungen......................................................... 374
Teil IV. Ausblick ........................................................................................... 377 A. Die Untersuchungsergebnisse in ihrer Bedeutung für andere Seelsorgefelder ............................................................................................... 377 B. Die Relevanz der Heimseelsorge für Gesellschaft und Kirche ................. 380 C. Schlussbemerkungen ................................................................................. 394 Literaturverzeichnis........................................................................................ 398
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Einleitung Die vorliegende Arbeit erhielt ihren ersten Impuls von der bedrängenden Frage eines Heimseelsorgers, die vielen Besuchern in Pflegeheimen vertraut sein dürfte: Wie soll man sich verhalten angesichts von Schwachheit, Verfall, Hilflosigkeit, Mattheit, Nachlassen des Kognitiven, Verstummen oder Verwirrtheit, die hier allenthalben begegnen? Welche Gestalt ist der Seelsorge gemäß, wenn die Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, so ganz andere sind, als die dem Gemeindepfarramt vertrauten? Der Praktische Theologe in mir wiederum fragte: Was ist Seelsorge im Pflegeheim? Von welcher Theorie kann sich das praktische Handeln an diesem Ort bestimmen lassen? Die Seelsorge im Pflegeheim ereignet sich ja in einer „fremden Welt“1, die vor besondere Herausforderungen stellt. Die zunehmende Bedeutung von Heimen darf daher nicht übersehen werden: Die Zahl Pflegebedürftiger, die künftig ihren Lebensabend in stationären Einrichtungen der Altenpflege verbringen werden, nimmt aufgrund eines markanten, nie dagewesenen Trends der westlichen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts kontinuierlich zu. Demnach wird mit einem überproportionalen Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung zu rechnen sein, wie es in einer grafischen Darstellung des Bevölkerungsaufbaus deutlich wird (Veränderung vom „Tannenbaum“ zum „Pilz“). Diese demografische Verschiebung wird einen unübersehbaren Anstieg von Pflegebedürftigkeit mit sich bringen. Auch gesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. Veränderungen der Familien- und Wohnstrukturen oder zunehmende Mobilität der Bevölkerung, dürften einen begünstigenden Einfluss auf die Inanspruchnahme von Pflegeeinrichtungen haben, weshalb mit einer Abnahme des familialen Pflegepotenzials zu rechnen ist2 und die häusliche Versorgung Pflegebedürftiger somit erschwert wird. Schätzungen schwanken zwischen einer Zahl von 3,17 und 5,88 Mio. Pflegebedürftiger im Jahr 2050.3 Das wäre ein Anstieg vollstationärer Versorgung zwischen 50 % und 145 % gegenüber 1999.4 Bereits heute lässt sich ein Trend zur professionellen Pflege ausmachen.5 Ein Vergleich der Jahre 2005 und 2007 zeigt einen Anstieg um 4,2 % bzw. 27.000 bei den vollstationär Dauerversorgten.6 1 2
3 4 5 6
Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, Bern (1997). Vgl. Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik, Drucksache 14/8800 (2002), 237ff. Ebd., 236. Ebd. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2005, Wiesbaden (2007), 4. Ebd., 5.
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Zu den Voraussetzungen einer sachgemäßen Würdigung und Gewichtung stationärer Pflegeeinrichtungen gehören allerdings fundierte Kenntnisse dieses spezifischen Lebensraumes. Seelsorge, die sich in dieser Welt engagieren will, muss sich zunächst üben in einer aufmerksamen Wahrnehmung des stationären Pflegemilieus mit seinen spezifischen Determinanten. Eine „SystemKompetenz“ mit realistischem Kontextbezug gehört zu den unverzichtbaren Voraussetzungen seelsorgerlichen Wirkens,7 zu der die Praktische Theologie befähigen will. Bislang weist sie bei der Erforschung des Pflegeheims jedoch eine Lücke auf, zu deren Schließung diese Arbeit beitragen möchte. Sinnvolle Impulse, die die Praktische Theologie zu einer möglichst wirklichkeitsbezogenen Gestaltung kirchlicher Praxis freisetzen will, können erst aus der genauen Kenntnis des jeweiligen Feldes erwachsen, auf dem zu handeln ist. Es fällt indessen auf, dass die wenigen Beiträge zum Thema Pflegeheim ohne eine solche Analyse des Feldes auskommen mit der Folge, dass eine Vielzahl der ohnehin überschaubaren theologischen Veröffentlichungen sich bevorzugt mit Fragen der Gottesdienstgestaltung oder des Rituellen beschäftigt. Damit blenden sie jedoch wichtige Phänomene (Themen, Merkmale, Herausforderungen) der Lebenswirklichkeit von Pflegeheimen aus. Gesichtspunkte, die eine gründliche Analyse der Pflegesituation zutage fördern würden, bleiben übersehen. Aspekte, die das seelsorgerliche Handeln beeinflussen könnten, werden nicht wahrgenommen. Die Frage, um was für ein Gebilde es sich bei Pflegeheimen handelt, findet keine Antwort. So wird auch nicht thematisiert, dass Pflegeheime seit Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes (1995) einem bemerkenswerten Wandel unterlagen und vom Altenheim zum Pflegeheim mutierten.8 Dies stellt die Seelsorge an Pflegebefohlenen jedoch vor neue Herausforderungen. Die nähere Betrachtung der stationären Pflegewelt lässt indessen eine Auffälligkeit in den Vordergrund treten: das Verstummen der Pflegebefohlenen. Mehrere zum Teil miteinander zusammenhängende Faktoren begünstigen das Nachlassen oder völlige Versiegen der verbalen Kommunikation in Institutionen der Altenpflege. Viele, die mit Gepflegten zu tun haben, werden durch diesen Umstand verunsichert und meiden die Schweigenden. Sie konzentrieren sich auf die „noch Ansprechbaren“ und pflegen seelsorgerliche Formen, die insbesondere die Rüstigen und Mobilen erreichen. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass Pflegeheime als eine „verstummende Welt“ zu beschreiben sind, stellte sich die Frage, wie mit dieser Tatsache seelsorgerlich umzugehen sei, will man die sprachlos gewordenen Menschen in Heimen nicht vernachlässigen oder preisgeben. 7 8
14
Vgl. Nauer, D., Seelsorge, Stuttgart (2007), 268ff. Klie, T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J. (Hg.), Pflege ohne Gewalt?, KDA, Köln (2005), 16.
In einem Kontext, der von Verstummen und Beeinträchtigung der verbalen Kommunikation geprägt ist, muss das Nonverbale zwangsläufig einen erhöhten Stellenwert bekommen, der unter anderem die Frage aufwirft, wie denn an diesem spezifischen Ort überhaupt kommuniziert wird. Was könnten Beobachtungen seelsorgerlicher Besuche zutage fördern, und welche Folgerungen ergäben sich daraus für die Seelsorgetheorie? Es soll hiermit der Versuch unternommen werden, auf der Basis empirischen Materials ein Profil der Seelsorge im Pflegeheim zu beschreiben. Eine empirisch fundierte Theoriebildung setzt jedoch eine Analyse des zu erforschenden Feldes voraus, denn die Beobachtungen können nicht unter Absehen vom Kontext gewonnen und dargestellt werden. Der erste Hauptteil fungiert somit zugleich als Vorlauf zur empirischen Arbeit. Er führt ein in die Beschaffenheit der spezifischen Kultur, in der die Beobachtung stattfindet. Sowohl praktisch-theologische als auch sozialwissenschaftlich-methodische Notwendigkeit macht den ersten Arbeitsschritt (I.) erforderlich. Die vorliegende Untersuchung ist somit von einem doppelten Interesse bestimmt: Erstens will sie zur Schließung einer Wahrnehmungslücke beitragen, indem das Pflegeheim unter zwei verschiedenen Blickwinkeln näher erfasst wird: Der Lebensraum Pflegeheim wird zum einen durch Belege aus der Literatur (I. Hauptteil) als auch durch empirische Befunde auf der Basis qualitativer Forschungsmethoden9 umrissen (II. Hauptteil). Erkenntnisse aus dem „Feld“, gewonnen durch Beobachtungen von Seelsorgesituationen, sind zugleich der Versuch, einen Ausschnitt stationärer und kirchlicher Wirklichkeit zu erfassen und vorzustellen. Zweitens geht es dieser Untersuchung darum, auf der Basis empirischer Befunde eine gegenstandsbezogene Seelsorgetheorie10 für das Altenpflegeheim zu erarbeiten, die als Grundlage für die konkrete seelsorgerliche Arbeit vor Ort dienen kann. Bei der Untersuchung nonverbaler Phänomene beschränke ich mich auf die Beobachtung nur eines der Interagierenden. Aus unterschiedlichen Gründen sollen nur die Seelsorgenden, nämlich hauptamtlich in Pflegeheimen Tätige, in den Blick kommen: Ein ganz praktischer Grund ließ es anfänglich ratsam scheinen, nur eine der am Dialog beteiligten Personen in den Fokus zu rücken, da es schwierig sein würde, mit der Kamera beide gleichzeitig zu erfassen. Auch wäre zu viel Bewegung in die Besuche hineingekommen durch ein unvermeidliches Hin- und Herschwenken der Kamera im Reagieren auf Veränderungen des 9 10
Näheres zu der in dieser Arbeit angewandten qualitativen Sozialforschungsmethode im Kap. II.B.1. Zur gegenstandsbezogenen Theoriebildung vgl. ebenfalls II.B.1.
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Nähe- und Distanzverhaltens. Die Natürlichkeit der Situation wäre dadurch verfälscht und Besuchte wie Besuchende unentwegt an die Beobachtungssituation erinnert worden. Hinzu kam eine ethische Erwägung, die mich Abstand nehmen ließ von dem Gedanken, die pflegebedürftigen Menschen zu filmen. Auch wenn von Anfang an eine Transkription des Bildmaterials beabsichtigt war und die Aufzeichnungen der Kamera nur im Rahmen des Übertragungs- und Auswertungsschrittes durch mich bzw. die daran Beteiligten gesichtet werden sollten, gebot doch die Rücksichtnahme eine größtmögliche Diskretion mit Blick auf die Pflegebefohlenen. Schließlich kristallisierte sich ein gewichtiger inhaltlicher Grund für eine Konzentration auf die Person der Seelsorgenden heraus, denn im Laufe der Untersuchung zeigte sich, dass im bisherigen poimenischen Diskurs das Nonverbale aufseiten der Seelsorgenden in seiner Funktion und Bedeutung nicht umfassend genug wahrgenommen wird. Aus unterschiedlichen, noch aufzuzeigenden Gründen11 ist vor allem die/der Seelsorgebedürftige im Fokus der Seelsorgeliteratur. Eine Forschungslücke kann demnach benannt werden, die zur Folge hat, dass die nonverbale Kommunikation der Seelsorgerinnen und Seelsorger mit ihren Potenzialen für die Heimseelsorge bisher nicht zum Gegenstand von Untersuchungen werden konnte. Die vorliegende Arbeit stößt in diese Lücke vor und will zu einem Perspektivwechsel anregen durch Fokussierung auf die Person der Seelsorgenden sowie durch Thematisierung des Nonverbalen für die Interaktion mit Pflegebedürftigen. Der Konzentration auf das Nonverbale, mit einer Kamera Dokumentierbare, liegen theoretische Annahmen zugrunde, die erklären, warum dieser spezielle Untersuchungsgegenstand besonders aufschlussreich ist. Folgende Prämissen setze ich in dieser Arbeit voraus: 1. Das Nonverbale ist wegen seines quantitativen Anteils an der Kommunikation (ca. 70%) und seiner Bedeutung für die Eindrucksstimulation von besonderer Aussage- und Suggestivkraft. Deshalb eignet sich die Untersuchung des Verhaltens in der seelsorgerlichen Situation in besonderer Weise, um Erkenntnisse hinsichtlich unterschiedlichster Fragestellungen zu generieren. 2. Jedes Zeichen ist als Mitteilung zu deuten, da es gemäß des watzlawickschen Axioms unmöglich ist, nicht zu kommunizieren. Der „Performancecharakter“ eines seelsorgerlichen Besuches, der einer Art „Bühnensituation“ (Goffman) gleicht, lädt das Nonverbale zusätzlich kommunikativ auf. Interakti11
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Vgl. I.E.4.
on und Kommunikation werden in dieser Arbeit deshalb synonym gebraucht. Diese Gleichsetzung erklärt, warum sich bei der Untersuchung nonverbaler Phänomene Elemente finden, die zunächst als Kommunikation gar nicht in den Sinn kommen, wie z.B. die Besuchsdauer, Sharing oder Handreichungen und Hilfestellungen. Die Besonderheit des pflegerischen Milieus mit seinen Auffälligkeiten wie Verstummen, Schweigen, Kommunikationsfeindlichkeit usw., lässt zudem vermuten, dass der nonverbalen Kommunikation eine besondere Funktion in diesem spezifischen Umfeld zukommt, die ihr damit eine gesteigerte Relevanz verleiht. 3. Die Theorie des symbolischen Interaktionismus spielt ebenfalls eine Rolle, da sie das Nonverbale in seiner Kulturbezogenheit verstehbar macht. Dieser Gesichtspunkt ist für die Interpretation des seelsorgerlichen Verhaltens bedeutsam, da er es erlaubt, das beobachtete Verhalten auch vor dem Hintergrund der religiösen Kultur zu verstehen, auf deren Grundlage die Seelsorgerinnen und Seelsorger agieren. Deren Herkommen aus der christlich-abendländischen Religionskultur beeinflusst z.B. das Berufsethos und dürfte auch die Interaktionsweisen mitbestimmen. Außerdem ist davon auszugehen, dass auch die Pflegebedürftigen durch christliche Einflüsse geprägt sind, sofern sie nicht aus einer nicht-christlichen Kultur migrierten. So dürfte ein Großteil der Besuchten im Laufe des Lebens auf irgendeine Weise mit christlichen Vorstellungen, Werten, Konzepten in Berührung gekommen sein. Sie wurden konfrontiert mit ethischen oder dogmatischen Ansätzen durch den Kontakt zu Kirche und Gemeinde, durch die christliche Feiertagskultur, die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit in Rundfunk und Fernsehen oder die Inanspruchnahme diakonischer Angebote. Dadurch eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, die Verhaltensweisen der zu Besuchen Kommenden einzuschätzen und zu „dechiffrieren“. Aus einer gewissen Vertrautheit mit dem Christlichen wäre es denkbar, dass sie das Verhalten der Seelsorgenden vor eben diesem Hintergrund zu deuten wissen. Es ist bei diesem Interpretationsprozess allerdings weniger an eine exakte kognitivintellektuelle „Übersetzung“ der einzelnen Kommunikationsfiguren zu denken als vielmehr an ein unbewusst-emotives Erfassen. Die „Interpretation“ der seelsorgerlichen Verhaltensweisen, so vermute ich, dürfte sich für eine pflegebedürftige Person also daraus speisen, dass sie die nonverbalen Stimuli aufgrund des gemeinsamen kulturellen Herkommens in ihrer religiösen Dimension (unterbewusst, affektiv) zu erschließen vermag. Noch einmal anders gedeutet: Da es einem überwiegenden Teil der besuchten Pflegebefohlenen möglich sein müsste, die Besuchenden als Geistliche bzw. Gesandte einer Religionsgemeinschaft zu identifizieren, ist es denkbar, dass die Verhaltensweisen der Seelsor-
17
genden bei den Besuchten Assoziationen an religiöse Glaubensinhalte wecken bzw. mit einer religiösen Konnotation belegt werden. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger wiederum können aufgrund der kulturellen Gemeinsamkeiten, die sie mit den Pflegebefohlenen teilen, davon ausgehen, dass einige oder gar mehrere der Interaktionsmodi vom Gegenüber in ihrem religiösen Gehalt erfasst werden. Es wäre möglich, dass die pastorale Körpersprache zumindest in ihrer Gesamtwirkung bzw. Summe „beeindruckt“ und sich dazu den Kontext, in dem die sich ereignet, zunutze macht. 4. Eine wichtige Funktion der Körpersprache besteht für Goffman in der Selbstdarstellung der Kommunizierenden im Sinne einer „Erläuterung durch den Körper“ („body-gloss“)12. Diese Funktion werde evoziert in einer einem „Bühnenauftritt“ gleichenden Interaktionskonstellation. Auch eine seelsorgerliche Besuchssituation trägt einen solchen darstellenden, eine Wirkung intendierenden Charakter. Es liegt deshalb im Interesse der Seelsorge, einen Eindruck zu vermitteln und Verhaltensweisen zu wählen, die geeignet scheinen, die seelsorgerliche Intention oder die religiöse „Mission“ zu veranschaulichen. Seelsorgerlicher Grundsatz und kirchliche (religiöse) Sendung fordern angemessene Interaktionsweisen. Mit Goffman gehe ich deshalb davon aus, dass eine Idealisierung der nonverbalen Darstellung unter Zuhilfenahme verschiedener Techniken zu erwarten ist. Eine solche erhält einen weiteren Impuls durch das Wissen der Geistlichen, im Bewusstsein des Kirchenvolkes eine besondere Stellung einzunehmen. Da sie „Kirche in personaler Präsenz“13 verkörpern, stehen sie somit unter einem gewissen Erwartungsdruck, der das Nonverbale mitbestimmen dürfte. Das Phänomen der Idealisierung macht somit die beobachteten Interaktionsweisen besonders aussagekräftig – auch hinsichtlich der angestrebten Theoriebildung. 5. Mit Goffman nehme ich an, nonverbale Kommunikation diene auch der Beeinflussung. Dieser Aspekt ist insbesondere angesichts des Seelsorgecharakters eines Besuches im Pflegeheim bedeutsam, denn es muss den Besuchenden darum gehen, eine „wohltuende“ Wirkung zu befördern und etwas Hilfreiches zu „bewirken“. Auch hierdurch erhält das Nonverbale Gewicht und bietet sich für einen Erkenntnisgewinn an, der auf der Basis von beobachtetem Verhalten angestrebt wird.
12 13
18
Vgl. Goffman, E., Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt a.M. (1974), 32. Vgl. Hild, H. (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung, Gelnhausen (1974), 279.
Auf der Suche nach gegenstandsbezogenen Postulaten für die Seelsorgearbeit im Altenpflegeheim wird das empirische Material in mehreren Schritten betrachtet: 1. Auf einer rein phänomenologisch-deskriptiven Ebene wird zunächst untersucht, welche nonverbalen Elemente im seelsorgerlichen Verhalten zu verzeichnen sind. 2. Sodann wird nach der theologischen Dimension dieser Elemente gefragt, um sie als Phänomene der Seelsorge bzw. theologische Interaktionsfiguren verstehbar zu machen. 3. Schließlich wird der Versuch unternommen, den Typ einer Besuchsgestalt der Heimseelsorge zu beschreiben, denn die Forschungsstrategie der hier angewandten Grounded Theory14 zielt auf die Entdeckung von Kategorien und Dimensionen im Datenmaterial. Auf diese Weise sollen empirische Phänomene auf einer abstrakten Ebene als Ausformungen bzw. ‚Typen‘ einer Handlungspraxis theoretisch beschrieben werden. 4. Anders als von Glaser/Strauss für die gegenstandsfundierte Sozialforschung gefordert,15 steht am Ende der Untersuchung keine völlig neue Theorie. Vielmehr werden die erhobenen Typen der Seelsorge unter Rückgriff auf theologische Kategorien gebildet und mithilfe theologischer Konzepte ausgewertet. Die Forschungslogik der qualitativen Untersuchungsmethode wird aber insofern beibehalten, als in die abschließende Typenbildung neue seelsorgetheoretische Postulate einfließen. Gemäß dem qualitativen Forschungsdesign führt der Untersuchungsgang somit vom Konkreten zum Abstrakten. Auf diesem Weg wird (hypothetisch) Typisch-Kennzeichnendes der Lebenswelt stationärer Pflegeeinrichtungen als auch dort praktizierter Seelsorge beschreibbar. Zum anderen lassen sich lebensweltlich gegründete Theorieansätze entwickeln, die den Vorzug großer Wirklichkeitsnähe aufweisen. Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: Im ersten Teil (I) geht es darum, das Feld zu erkunden, in dem geforscht und Seelsorge geübt werden soll. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird eine Annäherung an den Gegenstand des Interesses, das Pflegeheim, versucht. Dieser wird umkreist durch vier Fragestellungen, die mir geeignet scheinen, die Institution Pflegeheim näher kennenzulernen und die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen zu evaluieren: Erstens, indem nach der Stellung der Heimseel14
15
Die Grounded Theory (= gegenstandsbezogene Theorie) geht zurück auf die Soziologen Glaser/Strauss, die als Begründer der Qualitativen Sozialforschung gelten können, vgl. Fußnote 744. Vgl. ebd.
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sorge in Theologie und Kirche an zwei ausgewählten Beispielen gefragt wird (A); zweitens, indem wichtige Determinanten und Faktoren des Lebensraums Pflegeheim vorgestellt werden (B); drittens, indem maßgebliche politischstrukturelle Rahmenbedingungen sowie gesellschaftliche Bewertungen (von Hochaltrigkeit) zur Sprache kommen (C); viertens, indem gezeigt wird, wie Seelsorgetheorie und –praxis auf die beschriebene Situation in Pflegeheimen reagieren (D). Im ersten Hauptteil der Arbeit zeigt sich die zunehmende Relevanz stationärer Versorgung Pflegebedürftiger. Ebenfalls werden die kirchliche Vernachlässigung des Pflegeheims belegt und prägende, charakteristische Merkmale eines Lebens in stationärer Obhut beschrieben, in denen eine seelsorgerliche Herausforderung in Pflegeeinrichtungen zu sehen ist. Der zweite Teil (II) besteht aus der empirischen Untersuchung seelsorgerlicher Besuche von fünf in Pflegeheimen tätigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Es wird gefragt, wie diese sich im „Feld“ bewegen und wie sie mit den Pflegebedürftigen nonverbal kommunizieren. Verhalten und Körpersprache der fünf werden mit den Methoden qualitativer Sozialforschung beschrieben und unter einer theologisch-seelsorgerlichen Perspektive interpretiert. Dabei zeigt sich, in welchem Maße selbst unscheinbarste Elemente der Interaktion bzw. Körpersprache einen theologisch-seelsorgerlichen Gehalt kommunizieren können und möglicherweise auch kommunizieren sollen. Bei der Suche nach nonverbalen Seelsorgeweisen ist demzufolge selbst subtilsten Nuancen der Körpersprache noch Bedeutung beizumessen. Aus den Beobachtungen des ersten und zweiten Hauptteils erwachsen im dritten Teil (III) Folgerungen für die Seelsorge in stationären Pflegeeinrichtungen. Drei Profile bzw. Typen dieser kirchlichen Arbeit werden umrissen: Heimseelsorge als nonverbale Verkündigung (A); Heimseelsorge als ressourcenorientierte Applikation des christlichen Menschenbildes (B); Heimseelsorge als Alltagsdiakonie (C). Die Arbeit schließt mit Erwägungen zur potenziellen Relevanz der Untersuchungsergebnisse für andere Seelsorgefelder sowie mit Betrachtungen zur gesellschaftlichen und kirchlichen Relevanz der Heimseelsorge (IV). Dieser Gedankengang betont die – bisher verkannte – Bedeutsamkeit der Heimseelsorge für Kirche und Gesellschaft. Auch das Potenzial des Pflegeheims, als „Sprachschule“ nonverbaler Ausdrucksformen zu fungieren, macht diesen Zweig kirchlicher Arbeit besonders wertvoll. Darüber hinaus kommen in diesem Kapitel gesellschaftskritische Gesichtspunkte zur Sprache, die das kirchliche Engagement an stationär Versorgten impliziert.
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Zu dieser Arbeit gehört ein Materialband, in dem die 45 seelsorgerlichen Besuche, die die Grundlage des empirischen Ansatzes bilden, dokumentiert sind. In ihm finden sich nähere Schilderungen zur jeweiligen Besuchssituation sowie detaillierte Angaben zu den beobachteten nonverbalen Ausdrucksformen (Zeitreihenprotokolle, Messung der Quantitäten, nonverbale Kommunikationsweisen).
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Teil I. Das Feld Eine wichtige Funktion der Praktischen Theologie besteht in der präzisen Erfassung der Wirklichkeit. Die vorliegende praktisch-theologische Arbeit zur Heimseelsorge ist deshalb nicht denkbar ohne Betrachtung des ‚Raumes‘, in dem die Seelsorge sich ereignet. Praxisrelevante Handlungsimpulse und wirklichkeitsbezogene Theoriebildungen können nur erwachsen aus einer zuvor erfolgten Analyse des Feldes, in dem kirchliche Arbeit sich betätigen will. Der erste Hauptteil dieser Untersuchung hat deshalb eine explorierende Funktion: Das Feld, in dem geforscht wird, soll durch Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln und unter verschiedenen Fragestellungen näher erfasst werden. Eine erste Annäherung an den Gegenstand des Interesses wird unternommen, indem zunächst aus einer ‚entfernteren‘ Perspektive nach der Stellung des Pflegeheims bzw. der Pflegeheimseelsorge in Theologie und Kirche gefragt wird (A.). Die Frage soll beantwortet werden, indem sowohl ein Blick auf die Theorie (poimenische Literatur) als auch auf die Praxis (Gestaltung kirchlicher Heimseelsorge) geworfen wird in der Annahme, dass beide Gesichtspunkte einander interpretieren und ergänzen. Zugleich fungieren die Ergebnisse beider Fragestellungen als Indizien, die, da aus unterschiedlichen Quellen stammend, fundierte Postulate hinsichtlich der Bedeutung der Heimseelsorge im Ensemble kirchlicher Dienste zulassen. In einem zweiten Schritt kommt es zu einer ‚näheren‘ Betrachtung des Pflegeheims, die nunmehr in stationäre Einrichtungen hineinblickt und mit deren „Beschaffenheit“ bzw. wichtigen quantitativen und qualitativen Determinanten vertraut macht (B.). Es werden Strukturen, Merkmale und Themen der stationären Pflegekultur identifiziert, in denen Herausforderungen für die kirchliche Seelsorge zu finden sind. Dabei wird sich ein Thema von besonderer seelsorgerlicher Relevanz herausschälen, das schließlich die Begründung für den empirischen Ansatz des zweiten Hauptteils liefert. Dieser knüpft an ein zentrales Ergebnis des ersten Hauptteils an und führt zu der Fragestellung, die das weitere Vorgehen bestimmt.
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A. Die Stellung der Pflegeheimseelsorge in Theologie und Kirche an zwei ausgewählten Beispielen 1. Publikationen der theologischen Literatur seit 1990 1.1. Monografien Ein Blick in Jochheims‚ Bibliographie zur evangelischen Seelsorgelehre und Pastoralpsychologie‘16, die eine Übersicht über die Literatur zur evangelischen Seelsorgelehre des 19. und 20. Jahrhunderts gibt, zeigt folgenden Befund: Es finden sich nur wenige Publikationen zu den Stichworten ‚Altenheim‘, (Alten-)Pflegeheim‘, ‚Pflegebefohlene‘ o.ä. Unter der Rubrik „Seelsorge in Institutionen“17, in der neun Institutionen aufgeführt werden18, findet sich an erster Stelle das Altenheim mit insgesamt drei Literaturangaben, eine davon aus dem Jahr 1937. Zum Vergleich: Unter „Diakonische Einrichtungen“ finden sich 8, unter „Krankenhaus“ 91, „Kinderkrankenhaus“ 10, „Psychiatrie“ 29, „Strafvollzug“ 41, „Militär“ 5, „Schule“ 8 Literaturangaben, sowie unter „Polizei“ eine. Auch das Kapitel „Seelsorge an besonderen Personengruppen“19 zeigt keinen anderen Befund: weder Alte, Hochbetagte noch Pflegebefohlene sind als eigenständiges Thema verzeichnet, freilich „Kranke“ und „Sterbende“. Das Kapitel „Gesellschaftliche Herausforderungen an die Seelsorge“20 gibt ebenfalls keinen Hinweis auf den Seelsorgebereich Alten- oder Pflegeheim. Es gibt noch eine Rubrik „Seelsorge an verschiedenen Altersgruppen“. Hier finden sich 13 Literaturangaben, davon erschienen in der Zeit bis 1980 fünf Titel, in der Zeit bis 1989 vier Titel, sowie in der Zeit bis 1993 vier Titel.21 Schließlich ein Blick auf den zweiten Hauptteil der Bibliografie, in dem „Humanwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und theologische Beiträge zu Lebensthemen der Seelsorge“22 aufgeführt werden: Hier findet sich die Rubrik ‚Alter‘ mit immerhin 54 Titeln im Zeitraum von 1934 – 1995. Von diesen 16 17 18 19 20 21 22
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Jochheim, M., Bibliographie zur evangelischen Seelsorgelehre und Pastoralpsychologie, Bochum (1997). Ebd., 109 – 116. Pflegeheim, Diakonische Einrichtungen, Krankenhaus, Kinderkrankenhaus, Psychiatrie, Strafvollzug, Militär, Schule, Polizei. Ebd., 90ff. Ebd., 117ff. Ebd., 89. Ebd., 433 – 467.
wiederum sind lediglich 11 in den Jahren seit 1990 erschienen, darunter ein Beitrag aus dem Jahr 1995, der sich mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen23 beschäftigt. Jochheims Bibliographie macht bereits deutlich, dass die poimenische Auseinandersetzung mit der Institution Pflegeheim stark vernachlässigt ist. Beiträge zum Thema verbergen sich entweder hinter einem anderen Schlagwort, z.B. ‚Kranke‘ oder ‚Sterbende‘, oder es hat als eigener Gegenstand bislang keine rechte Beachtung gefunden. Selbst wenn die gesuchten Themen unter einem anderen zu finden wären, z.B. ‚Pflegebefohlene‘ unter ‚Kranke‘ oder ‚Sterbende‘, so wäre bereits diese Tatsache aufschlussreich für die Beurteilung des Stellenwertes der Seelsorge an Pflegebefohlenen im Sinne einer unzureichenden Wahrnehmung der ganz eigenen „Themen“ schwer- und schwerstpflegebedürftiger hochbetagter Menschen in Heimen. Die Tendenz, (hochbetagte) Pflegebedürftige in Heimen als eigenständige Personengruppen mit spezifischen seelsorgerlichen Themen und Herausforderungen zu übersehen, wird darüber hinaus exemplarisch an einer Veröffentlichung jüngeren Datums deutlich: In Ziemers ‚Seelsorgelehre‘24, einem Studienbuch der Seelsorge, werden im letzten Kapitel auch spezielle Seelsorgedienste in Institutionen berücksichtigt. Erwähnt werden lediglich sechs Arbeitsfelder: Krankenhausseelsorge, Gefängnisseelsorge, Seelsorge an Soldaten, Notfallseelsorge, Kur- und Urlauberseelsorge sowie Telefonseelsorge. In den letzten Jahren ist das Erscheinen einiger Praxisbücher zu verzeichnen.25 Die Schriften widmen allesamt dem Symbol und dem Ritual größte Aufmerksamkeit, wobei dem Gottesdienst, wie schon anhand mancher Titel deutlich wird, eine besondere Stellung zukommt. Insbesondere die Publikationen, die den Schwerpunkt auf das Feiern von Gottesdiensten und Andachten legen, scheinen dabei jene Pflegebefohlene im Blick zu haben, die körperlich und mental noch fähig sind, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen bzw. sich 23 24 25
Ebd., 435. Ziemer, J., Seelsorgelehre – Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen (2000). Gärtner, H. Menschen im Alter verstehen und begleiten, Gütersloh (2006); Lödel, R. (Hg.), Seelsorge in der Altenhilfe, Düsseldorf (2003); Muntanjohl, F., Ich will euch tragen bis zum Alter hin – Gottesdienste, Ritual und Besuche im Pflegeheim, Gütersloh (2005); Pagel, M., Jeder Tag hat seine Würde: Gottesdienste mit dementen Menschen in Alten- und Pflegeheimen, Regensburg (2007); Pechmann, B., Durch die Wintermonate des Lebens, Gütersloh (2007); Peglau, D./Prey, K. + N., Gottesdienste im Altenheim: Arbeitshilfen für die Praxis, Bielefeld (2000); Schildknecht, S., Mit sprechenden Gesichtern: Gottesdienste in Altenheimen, Gütersloh (2000, 2. Aufl.); Wilkening, K./Kunz, R., Sterben im Pflegeheim: Perspektiven und Praxis einer neuen Abschiedskultur, Göttingen (2003).
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dorthin zu begeben und auch dem Geschehen folgen zu können. Dass in einigen Buchtiteln vom Altenheim und nicht vom Pflegeheim die Rede ist, dürfte als Indiz gewertet werden, dass die Autorinnen und Autoren noch immer von der Vorstellung des „klassischen“ Altenheims mit seiner ausgewogenen Mischung von vier Pflegestufen26 und entsprechend einem großen Anteil einer durchaus noch mobilen und geistig regen Bewohnerschaft geleitet sind, während hingegen, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird27, von einer erheblich veränderten Situation auszugehen ist. Wenngleich den Praxisbüchern zahlreiche Anregungen für eine sinnliche Gestaltung gottesdienstlicher Feiern zu entnehmen ist, so bleiben sie freilich sprachbezogen und dem Kognitiven verhaftet. Ein verkürzter Blickwinkel ist zu verzeichnen, da andere, nicht-liturgische Sprach- und Ausdrucksformen, wie sie im Pflegeheim zwingend geboten sind, unberücksichtigt bleiben. Die besagten Publikationen sind auch vermutlich von einem Seelsorgeverständnis geleitet, das auf äußere Identifizierbarkeit setzt und kerygmatisch orientiert ist.
1.2. Periodika Die sich in Aufsätzen niederschlagende praktisch-theologische Beschäftigung mit dem Thema Pflegeheim zeigt einen ähnlich kargen Befund wie schon die Monographien: Eine Übersicht der Literatur des Zeitraums von 1990 – 200728, in der ‚Pflege’ – auch nur als Teil eines Wortes – zu verzeichnen war, förderte insgesamt 15 Aufsätze sehr unterschiedlicher Themenstellungen zutage: Strukturelle bzw. gesellschaftspolitische Fragestellungen bestimmen die Beiträge durchweg (z.B. Personal-, Finanzierungs-, Organisationsfragen), spezifisch theologische Themen sind nicht auszumachen. Die verzeichneten Artikel finden sich zudem – mit zwei Ausnahmen29 – allesamt in der Zeitschrift Diakonie30 der Jahrgänge 1990 (zehnmal), 1994 (zweimal) bzw. 1995 (einmal). Da sich möglicherweise das Pflegeheim betreffende Fragestellungen hinter anderen Stichwörtern verbergen, wurden zudem die Publikationen zum Thema ‚Altenheim‘‚ ‚Alter‘, ‚Hochbetagte‘ oder ähnlich relevanter Stichwörter gesich26 27 28
29 30
26
Pflegestufe 0 – 3. Vgl. Kapitel ‚Das Pflegeheim als Lebensraum’. Durchgesehen wurden die evangelischen Periodika Diakonie (bis Jahrgang 2002), Evangelische Kommentare, Lutherische Monatshefte (weitergeführt unter dem Titel ‚Zeitzeichen’), Pastoraltheologie, Wege zum Menschen sowie die katholischen Publikationen Lebendige Seelsorge und Diakonia. Ein Beitrag 1996 in Lutherische Monatshefte sowie 2000 in Wege zum Menschen. Eine „Zeitschrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie“.
tet. Es fanden sich knapp 30 Beiträge, die im weitesten Sinne als relevant für die Beschäftigung mit dem Pflegeheim angesehen werden können, darunter ebenfalls zahlreiche, die sich mit gesellschaftspolitischen (z.B. neue BewohnerGeneration; Strukturwandel des Alters; Bedeutung der Kurzzeitpflege), organisationsstrukturellen (z.B. Pflegenotstand; Mitarbeitergewinnung; Unternehmenskultur, alternative Wohnformen) oder – zum Teil sehr spezifischen – seelsorgerlichen Fragen beschäftigen (z.B. späte Partnerschaften; Einsamkeit; Alterssuizid). Mehrere Publikationen widmen sich dem Verständnis des (Dritten und Vierten) Alters und seiner spezifischen Herausforderungen31 sowie der Demenz32. Insgesamt ist die Zahl der Publikationen überschaubar. Die Durchsicht des Materials erweckt nicht den Eindruck, dass das Altenpflegeheim als eigenständiger, von unverwechselbaren Prägungen gekennzeichneter Lebensraum wahrgenommen oder als letzte, gar zu bejahende Möglichkeit einer Versorgung Pflegebedürftiger gesehen wird. Die charakteristischen Herausforderungen der Seelsorge im Pflegeheim werden nicht thematisiert, die (zumeist hochbetagten) Pflegebefohlenen kommen mit ihren spezifischen Bedürfnissen nicht in den Blick33, von einer Pflegeheimseelsorge wird nicht gesprochen.
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Z.B. widmet die Zeitschrift Diakonia dem Vierten Lebensalter eine Ausgabe, vgl. 34 (1/2003). Z.B. Dabrock, P., Lebenswertes Leben – Wie mit Patientenverfügungen von dementen Menschen umgegangen werden sollte, in: Zeitzeichen, 4 (2007), 54 – 57; Kießling, K., Schlimmer als das Vergessen: vergessen zu werden, in: Wege zum Menschen, 59 (2007), 461-473; Zimmermann, M. u. R., Multidimensionalität und Identität in der Seelsorge – Die poimenische Herausforderung durch altersverwirrte Menschen, in: Pastoraltheologie, 88 (1999), 404 – 421. Charakteristisch scheinen mir drei Aufsätze, die sich mit den „jungen“, „neuen“ oder auch „Jungsenioren“ genannten Alten beschäftigen, vgl. Müller, J., Die sogenannten ‚neuen Alten‘ als Herausforderung der Pastoral, in: Lebendige Seelsorge, 43 (1992), 237 - 240; Schnetter, O., Die Alten werden gebraucht, in: Deutsches Pfarrerblatt 11 (1995), 590 - 591; Hochhuth, G., Was wollen die jungen Alten? Sieben Thesen, in: Deutsches Pfarrerblatt 11 (1995), 592 - 593. Auch eine Ausgabe der Lebendigen Seelsorge (2002) widmet sich mit 22 Beiträgen dem Thema der ‚Alten‘, darunter immerhin zwei zum Thema ‚Altenheim‘ sowie ‚Altenpflege‘, vgl. Moser, U., Geistliche Begleitung im Altenheim, in: ebd., 243 – 245; Linemann, F., Altenpflege, in: ebd., 274 – 276.
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2. Beobachtungen zur Heimseelsorge am Beispiel eines großstädtischen Sprengels: Freie und Hansestadt Hamburg Es ist aufschlussreich, spezielle Arbeitsfelder der Seelsorge miteinander zu vergleichen, um ermessen zu können, ob und in welcher Ausprägung kirchliches Engagement in den unterschiedlichen Bereichen Beachtung findet. Im Folgenden werden Ergebnisse meiner Auswertung referiert, die die Pflegeheimseelsorge des Sprengels Hamburg unter verschiedenen Gesichtspunkten in den Blick nahm. Berücksichtigt wurden dabei die Zahl der Pfarrstellen, der Umfang der Stellen, die Verweildauer des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin auf der jeweiligen Stelle, das Besetzungsverfahren, die Qualifikationsanforderungen an Bewerberinnen und Bewerber – sofern sie sich aus einer Stellenausschreibung ermitteln ließen – die Messzahl für die Zuweisung einer Pfarrstelle, die Trägerschaft der Einrichtung und Zuweisung einer Pfarrstelle, das Verhältnis von Frauen und Männern in der Seelsorge sowie die Anbindung der Heim- oder Krankenhausseelsorge an eine Gemeindepfarrstelle. Ich gehe davon aus, dass eine solche exemplarische Analyse der Ausstattung kirchlicher Arbeit in Pflegeheimen Charakteristisches zutage fördert und die Ergebnisse verallgemeinerungsfähig sind bzw. einen allgemein-kirchlichen Trend aufzeigen können. Keineswegs verkenne ich dabei, dass städtische und ländliche Gebiete sich hinsichtlich dieser Ergebnisse in einigen Punkten unterscheiden dürften und auch von regionalen Differenzen auszugehen ist.34 Bei der Betrachtung der Ausstattungsmerkmale der Heimseelsorge lag die Vermutung nahe, dass dieses Arbeitsfeld in seiner personellen Ausstattung im Vergleich zu anderen Bereichen, wie z.B. Behindertenheimen, Aids-, Gefangenen-, Notfall-, Hospiz- oder Telefonseelsorge, besser abschneiden würde, da es mehr Alte, Hochbetagte und Pflegebedürftige gibt als Menschen in den besagten Arbeitszweigen erreichbar sind bzw. sie in Anspruch nehmen. Die Zahl der zu betreuenden Personen (Messzahl) hat immerhin einen maßgeblichen Einfluss auf die Bemessung seelsorgerlicher Ressourcen. Ein alleiniger Vergleich der Zahl der beschäftigten Seelsorgerinnen und Seelsorger ginge allerdings nicht tief genug. Es scheint sinnvoll, die Pflegeheimseelsorge außerdem zu vergleichen mit einem Arbeitsfeld, das möglichst viele Gemeinsamkeiten mit ihm aufweist und auch inhaltlich annähernd vergleichbar ist, wie z.B. Polizei- mit Feuerwehrseelsorge oder die Seelsorge beim Bundes34
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Auch diesbezüglich gilt, was an anderer Stelle zur Methodologie der qualitativen Sozialforschung mit ihrem Bemühen um Aufdeckung von ‚Typischem’ ausführlicher dargelegt wird, vgl. II.B.1.
grenzschutz mit der Militärseelsorge. Es bot sich ein Vergleich der Institutionen Pflegeheim und Krankenhaus aus verschiedenen Gründen an, denn • beide Einrichtungen können (tendenziell) charakterisiert werden als „totale Institutionen“ im Sinne Goffmans35 • sprachlich weist der häufig gebrauchte Pleonasmus „alt und gebrechlich“ bereits darauf hin, dass beide Gruppen (Alte und Gebrechliche) durch ein gemeinsames Thema verbunden sind, nämlich Krankheit oder Pflegebedürftigkeit • Krankheit ist ein bestimmendes Phänomen beider Einrichtungen (Krankheit ist schließlich der den Übergang ins Pflegeheim unvermeidlich werden lassende Faktor) • medizinisches Personal ist in beiden Institutionen vorherrschend, der Beruf des Krankenpflegers bzw. der Altenpflegerin weisen wiederum zahlreiche Gemeinsamkeiten auf: Die Ausbildung zur Krankenpflegerin qualifiziert zugleich für eine Tätigkeit in der Altenpflege (umgekehrt ist es allerdings nicht der Fall) • beide Institutionen finanzieren sich zu einem Großteil aus Zahlungen der Krankenkassen • die Kapazität beider Institutionen wird herkömmlich gemessen an der Anzahl ihrer ‚Betten‘. In Hamburg ist die Zahl der vorhandenen Krankenhaus- und Pflegeheimbetten annähernd gleich, beide haben eine Kapazität von etwa 14.000 Plätzen36, so dass sich auch diesbezüglich eine gute Grundlage für einen Vergleich bietet. Die Auswertung fördert zutage, dass die Ausstattung der Krankenhausseelsorge im Vergleich zur Heimseelsorge um ein Vielfaches besser ist, sowohl hinsichtlich der personellen Ausstattung (Betreuungsrelation), der Qualität der Stellen (großer Anteil an ganzen Stellen; keine Kombination mit einer anderen Tätigkeit wie etwa Gemeindearbeit), der Qualifikation der Stelleninhaberinnen und -inhabern (KSA, Besetzungsverfahren! usw.) wie auch dem Grad ihrer „Vergemeinschaftung“ bzw. institutionellen Zusammenfassung unter dem Dach eines gemeinsamen Trägers mit den sich daraus ergebenden Vorteilen. Damit erklärt sich, dass die durchschnittlichen Dienstzeiten auf einer Pfarrstelle unterschiedlich ausfallen. In der Heimseelsorge sind sie ein gutes Drittel 35 36
Goffman, E., Asyle, Frankfurt (1973). Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg – Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Krankenhausplan 2005, 2 -12. Zugrundegelegt ist eine Bettendichte von 80,7 Betten pro 10.000 Einwohnern, was eine Zahl von 13.719 Betten ergibt; vgl. auch: dies., Rahmenplanung der pflegerischen Versorgungsstruktur, E-8 (hier wird für das Jahr 1998 die Zahl der stationären Pflegeplätze mit 14.559 angegeben).
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kürzer als in der Krankenhausseelsorge, da es offensichtlich attraktiver ist, im Krankenhauskontext Dienst zu tun als im Heim. Die kürzeren Verweilzeiten in der Heimseelsorge haben vermutlich eine weitere Ursache darin, dass für die dort Tätigen die Arbeit im Heim oftmals ein dienstliches Intermezzo darstellt, Stellen im Pflegeheim also gelegentlich genutzt werden für personalpolitische Maßnahmen (dazu zählt auch die Kombination einer Gemeindetätigkeit mit einer Tätigkeit im Pflegeheim mit dem Ziel der Schaffung einer ganzen Stelle für einen Pastor oder eine Pastorin). Für diese Vermutung spricht auch, dass die Besetzung der Pfarrstellen der Heimseelsorge nur zu einem guten Viertel (27 % = 3 von 11 Stellen) durch Ausschreibung im Amtsblatt der Kirche zustande kam (Krankenhausseelsorge: 51 % = 16 von 31), die Pfarrstellen demnach leichter verfügbar waren für entsprechende Maßnahmen kirchlicher Gremien. Somit kann auch auf besondere seelsorgerliche Qualifikationen, wie sie in der Krankenhausseelsorge weitaus häufiger gefordert werden und mittlerweile Standard sind, leichter verzichtet werden. Es fällt weiter auf, dass ein bemerkenswerter Anteil der Pflegeheimpfarrstellen (54,54 % = 6 von 11) an eine Kirchengemeinde angebunden ist – sei es als Trägerin der Stelle oder in Verknüpfung mit einer Gemeindetätigkeit –, was für die Krankenhausseelsorge (noch) eher die Ausnahme ist. Dieses Faktum weist auf ein Verständnis von Heimseelsorge hin, das diese als gut vereinbar/gut zu verbinden mit weiteren Aufgaben auffasst. Selbst wenn einige Kirchengemeinden lediglich die Finanzierung einer Pfarrstelle übernehmen ohne den geringsten Anspruch an den Heimseelsorger bzw. die Heimseelsorgerin auf Mitarbeit in der Gemeinde, so zeigt doch die Praxis, dass eine völlige Abstinenz vom Gemeindeleben nicht durchzuhalten bzw. nicht wirklich vorgesehen ist. Ansprüche an den Mann oder die Frau im Pflegeheim bleiben nicht aus, sei es, dass eine Mitwirkung im Kirchenvorstand, eine Unterstützung bei Gottesdiensten und Amtshandlungen, Vertretungsdienste, Projekte (z.B. Konfirmandenfreizeiten) usw. von Pflegeheimseelsorgenden erwartet werden. Dem Gemeindeleben wohnt eine ganz eigene Dynamik inne, der man sich schlecht entziehen kann. Die Entscheidung, ob Pflegeheimseelsorge eine Parochie- oder Partnerzentrierte Seelsorge37 sein sollte, fällt – anders als für das Krankenhaus38 – 37
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Diese Unterscheidung geht auf Riess zurück, der zur Beschreibung klinischer Seelsorge zwei Handlungsmodelle anbietet, vgl. Riess, R., Seelsorge. Orientierung, Analysen, Alternativen, Göttingen (1973), 186ff. Selbstbewusst und regelmäßig wird in den Formulierungen der Standards der Krankenhausseelsorge die Eigen-ständigkeit dieses kirchlichen Arbeitszweigs hervorgehoben und betont, dass Krankenhausseelsorge keine Variante der Gemeindeseelsorge sei, vgl. Konferenz für Krankenhausseelsorge in der EKD, Konzeption und Standards in der Krankenhausseelsorge, in: Wege zum Menschen 46 (1994), 430 – 432; Arbeitsgemein-
bezüglich des Pflegheims zumeist ganz selbstverständlich zugunsten der Parochiebezogenheit aus, wie es die hier geschilderten Beobachtungen deutlich machen, aber auch regelmäßig in der poimenischen Literatur zu lesen ist.39 Die Zugehörigkeit der Pfarrstellen in der Heim- und Krankenhausseelsorge zu einem staatlichen, gemeinnützigen oder privaten Träger lässt keine besonderen Auffälligkeiten erkennen und ist für das Krankenhaus wie für das Pflegeheim etwa gleich: Jeweils die Hälfte der Pfarrstellen sind staatlichen Heimen und Krankenhäusern, die andere Hälfte freien Trägern zugeordnet. Hinsichtlich der Besetzung der Pfarrstellen mit Männern und Frauen fällt auf, dass der Anteil der Männer in der Krankenhausseelsorge mit 64,51 % überwiegt (20 von 31), während dieser in der Heimseelsorge bei nur 45,45 % liegt (5 von 11). Frauen machen in der Krankenhausseelsorge 35,48 % aus (11 von 31), in der Heimseelsorge hingegen 54,54 % (6 von 11). Ob die Heimseelsorge eher als die Krankenhausseelsorge eine Domäne der Frauen ist, müsste anhand repräsentativerer Zahlen genauer untersucht werden.40 Zusammenfassend lassen sich anhand des hier untersuchten kirchlichen Sprengels folgende Thesen formulieren: Seelsorge im Pflegeheim .... ... ist ein stark vernachlässigter Bereich kirchlicher Arbeit. ... hat – im Gegensatz zur Krankenhausseelsorge – keine starke Lobby. ... wird jedem Pastor, jeder Pastorin zugetraut, unabhängig von einer speziellen seelsorgerlichen Kompetenz (KSA o.ä.). ... steht häufig im Dienst personalpolitischer Maßnahmen. ... wird als eine Aufgabe angesehen, die nicht alle Ressourcen erschöpft, sondern noch (viel) Raum lässt für weitere Tätigkeiten. ... ist ein kirchlicher Arbeitszweig, der im Zuständigkeitsbereich der Parochie angesiedelt wird. ... ist für die in ihr Tätigen weniger attraktiv als die Krankenhausseelsorge.
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schaft für Krankenhausseelsorge in Bayern, Krankenhausseelsorge: eine volkskirchliche Herausforderung. Positionspapier zur Krankenhausseelsorge in Bayern, Wildbad Rothenburg (1992). Als exemplarisch kann der Satz aus dem Praxisbuch von B. Pechmann gelten: „Die Aufgabe der Gemeinde ist gerade in Zeiten knapper werdender finanzieller Ressourcen groß! Auch droht einer Gemeinde, die sich nicht um die dementen Menschen in ihrer Mitte oder an den Rändern kümmert, selbst verwirrt zu werden“, a.a.O., 17. Immerhin passen die hier ermittelten Zahlen zu der an anderer Stelle beschriebenen Charakteristik des Pflegeheims als einer „Welt der Frauen“, vgl. I.B.14.
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B. Das Altenpflegeheim als Lebensraum Unter einer ‚näheren‘ Perspektive soll nun gefragt werden, was es bedeutet, im Pflegeheim zu leben bzw. mit welchen Koordinaten an diesem Ort zu rechnen ist. Die Welt der Pflege will gut erfasst sein, bevor Seelsorgerinnen und Seelsorger sich in ihr bewegen. Eine System-Kompetenz, die eine seelsorgerliche Schlüsselkompetenz der Spezial- bzw. Zielgruppenseelsorge darstellt, ist unerlässlich. Kenntnisse des Systems und der in ihm wirksamen Kräfte erlauben u.a. ein Verständnis der Logik der Organisation und erleichtern die Einschätzung dessen, was möglich ist und was nicht, was wann passt und wann nicht, mit welchen Bedürfnissen, Seelsorgethemen und Herausforderungen im jeweiligen Betätigungsfeld zu rechnen ist und mit welchen nicht. Im folgenden Kapitel wird deshalb der Lebensraum bzw. das „System“ Pflegeheim skizziert. Dabei soll keineswegs unterstellt werden, es gebe das Pflegeheim. Doch auch wenn Heime sich durchaus nach Trägerschaft, Leitung, Personal, Bewohnerschaft, Lage, Alter, Größe, kurz: in ihrer pflegerischen „Unternehmenskultur“ unterscheiden, so finden sich zahlreiche objektivierbare (soziologische, psychologische, strukturelle) Kennzeichen, von denen anzunehmen ist, sie seien in allen Pflegeeinrichtungen mehr oder weniger wirksam. Insgesamt wird die stationäre Lebenswelt von den vorzustellenden Größen (mit) bestimmt und bildet in ihrer Summe ein charakteristisches ‚Milieu‘ mit mutmaßlichem Einfluss auf die hier Lebenden und Arbeitenden. Die Beschreibung der stationären Pflegekultur unter statistischen und thematischen Gesichtspunkten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr stellen die angesprochenen ‚Eckdaten‘ den Versuch dar, aus der Fülle der gesichteten Publikationen markante Themen herauszufiltern, von denen anzunehmen ist, dass sie Pflegeheime besonders prägen. Die aufgeführten Gesichtspunkte versuchen, ein möglichst „repräsentantes“41 Koordinatensystem abzubilden, innerhalb dessen Pflegebedürftige sich normalerweise bewegen, ohne freilich von jedem einzelnen der sie umgebenden Determinanten gleichermaßen tangiert sein zu müssen. Nicht alle wichtigen Themen im Pflegeheim sind für jede und jeden ein ‚Thema‘.
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Die Qualitative Sozialforschung unterscheidet zwischen ‚Repräsentativität‘ und ‚Repräsentanz‘. Erstere bezeichnet im statistisch-messbaren Sinne die Eigenschaft einer Zufallsstichprobe, welche die Gesamtheit, der sie entnommen ist, widerspiegeln (repräsentieren) soll. Letzterer geht es um das ‚Typische‘, welches nicht zweifelsfrei und eindeutig (mit Messungen) ermittelbar ist. Die Eruierung des ‚Typischen‘ erfordert vielmehr einen längeren Bearbeitungsprozess unter Anwendung geeigneter Methoden bzw. eines Methodenmixes.
Neben eine äußerlich-statistische tritt eine inhaltlich-„qualitative“ Beschreibung der Situation. Es wird einleuchten, dass die meisten verhandelten Punkte (‚Sprechen/Verstummen‘, ‚Bettlägerigkeit‘, ‚Körperzentriertheit‘ ‚Feminisierung‘, ‚Verlust‘, ‚Demenz‘ und ‚Sterben‘) wichtige Faktoren der „Milieubildung“ stationärer Pflegekultur sind, die schon bei einer vordergründig-quantitativen Wahrnehmung unübersehbar sind. Hinzu kommen die Themen ‚Religiosität‘, ‚Bürokratismus‘ und ‚Gewalt‘. Die Frage nach dem Stellenwert von Religion im Heimalltag versteht sich im Rahmen einer theologischen Arbeit von selbst. Sie ist aber auch von der Sache her naheliegend, in diesem Fall jedoch via negationis, denn, so ist zu resümieren, Religion spielt im Heimalltag so gut wie keine Rolle. ‚Bürokratismus‘ in Heimen tritt weniger offenkundig in Erscheinung, wird aber seit Einführung der Pflegeversicherung von Pflegenden selbst unüberhörbar thematisiert. Bürokratie, die auch ein Merkmal „totaler Institutionen“42 ist, regelt und reguliert pflegerisches Verhalten, hemmt Spontaneität und beschneidet Zeit für zwischenmenschliche Zuwendung, längeren Austausch oder Sterbebegleitung. Für das Thema ‚Gewalt‘ entschied ich mich aus zwei Gründen: Ersten spielt es in der medialen Berichterstattung regelmäßig eine Rolle; zweitens ist Gewalt in der Institution Pflegeheim strukturell angelegt, auch wenn sie sich mitunter nur in subtiler Form – sowohl bei Pflegenden als auch bei Gepflegten – entlädt. So nimmt Gröning43 an, latente Gewalt sei der Institution Pflegeheim aufgrund psychodynamischer Verwicklungen der Interagierenden sogar immanent. Angesichts der Gefahr, Pflegeeinrichtungen ausschließlich unter dem Aspekt des Verfalls, des Verlustes und des Versagens wahrzunehmen, schien es mir geboten, auch den Gesichtspunkt der Potenziale und Kompetenzen bei der Beschreibung des stationären Lebensraumes mit zu berücksichtigen. Damit trage ich zugleich dem pflegerischen Grundsatz der Rehabilitation und Mobilisation Rechnung, der eine (freilich theoretisch bleibende) Forderung an die stationäre Pflege ist und sie zur Wahrnehmung nicht ausgeschöpfter Ressourcen der Pflegebedürftigen herausfordert. Eine Pflegeheim-Seelsorge, die zudem einen Anspruch auf – begrüßenswerte – ‚Ganzheitlichkeit‘ stellt, wie er in zahlreichen Konzeptionen begegnet, ist meines Erachtens gefordert, auch nach Stärken, Kompetenzen und Ressourcen zu fragen, die zu einer nicht-einseitigen, möglichst umfassenden Wahrnehmung Pflegebedürftiger beitragen könnten. Ein
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Näheres zum Konzept der Totalen Institution vgl. I.D. Vgl. insbesondere Gröning, K., Entweihung und Scham, Frankfurt a.M. (1998), 87 – 106.
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solcher Ansatz, der also nach Potenzialen und Kompetenzen Hochaltriger und Pflegebedürftiger fragt, beschließt den Abschnitt I.B. Als „qualitativ“ bezeichne ich die aufgeführten Topoi aus folgenden Gründen: Erstens ist nicht „objektiv“ nachweisbar, ob es sich bei den verhandelten Themen tatsächlich um typische (prägende, einflussreiche, repräsentative) Größen im Kontext von Pflegeheimen handelt; zweitens geht die Beschäftigung mit dem jeweiligen Gegenstand über das Quantifizierbare hinaus. Es wird versucht, Dimensionen zu ergründen, Sachverhalte zu verstehen44, wichtige ‚Eckdaten‘ zu erfassen und auf der Basis von Plausibilität seelsorgerliche Gesichtspunkte in den Blick zu bekommen. Im Verlauf meines Versuchs, wichtige Merkmale der Pflegekultur einzukreisen und Gesichtspunkte zu identifizieren, die das Heimleben maßgeblich bestimmen und kennzeichnen, fiel auf, dass mehrere der aufgeführten Punkte durch einen inneren Aspekt, nämlich den des Verstummens, miteinander verbunden sind. Diese Gemeinsamkeit lässt sie einmal mehr für eine Untersuchung zur Seelsorge im Pflegeheim interessant werden, in der das Verstummen der Pflegebefohlenen als eine zentrale Herausforderung in Heimen aufgedeckt wird: Die hier beschriebenen Merkmale stationärer Pflegekultur haben einen potenziellen Einfluss auf die verbale Kommunikation. Sie beeinträchtigen die Fähigkeit des Sprechens und begünstigen das Verstummen. Offenkundig ist dieser Zusammenhang bei den Themen Bettlägerigkeit, Körperzentriertheit, Demenz und Sterben: Bettlägerigkeit begünstigt Müdigkeit, Mattheit und Schwäche, lässt die in der Horizontalen ihr Leben Verbringenden passiv(er) werden, Erinnerungen an die Anfänge des Lebens werden wach, der Körper tritt in seiner Bedeutung (wieder) in den Vordergrund, Körperzentriertheit ist die Folge. Diese Fokussierung Pflegebefohlener auf das Körperliche trifft in den strukturellen wie auch individuell-pflegerischen Prioritätensetzungen Pflegender wiederum auf positive Erwiderung, sie wird durch das pflegerische Handeln potenziert, das Handeln und Umgehen mit dem Körper, auch eine pflegebezogene Kommunikation45, beansprucht in der Interaktion viel Raum und lässt das Verbale (den Dialog, den gleichberechtigten, tiefergehenden, differenzierten Austausch) in den Hinter44
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Der Qualitativen Sozialforschung geht es um ‚Verstehen‘ der beobachteten Sachverhalte, welches sie vom ‚Erklären‘ unterscheidet: Ziel dieses wissenschaftlichen Bemühens muss demnach das Erfassen von Bedeutungen und Sinngehalten sein und nicht das Erklären bestimmter Erscheinungen im Sinne einer Kausalität von Ursache und Wirkung, vgl. Lamneck, S., Qualitative Sozialforschung, Bd.1, Weinheim (1995, 3. Aufl.), Bd. 1, 219 – 221. Vgl. Sachweh, S., Schätzle hinsitze!, Frankfurt a.M. (1996).
grund treten. Demenzen, aber auch Depressionen, führen häufig wiederum zu reaktivem Gesprächsverhalten oder völligem Verstummen.46 Auch der Sterbeprozess führt zu einem Nachlassen des Verbalen. Selbst die Phänomene Verlust/Scham, Bürokratismus und Gewalt lassen sich noch in Verbindung setzen mit dem systemtypischen Verstummen in stationären Pflegeinrichtungen, da der Mensch auf Scham häufig mit Schweigen und innerem Rückzug reagiert, wie an Opfern und Tätern gleichermaßen zu beobachten ist, was insbesondere aber für die Welt stationärer Pflege gilt. Auch der Körper, dem im Pflegeheim so viel Aufmerksamkeit zukommt, erregt oft Scham, da er nicht mehr beherrschbar ist und in seiner „Naturhaftigkeit“ so krass hervortritt. Schamerregend ist dies vor allem, wie ich vermute, für Frauen jener Generation, die in stationären Einrichtungen im Jahr 2009 überwiegend anzutreffen sind, die also Emanzipation und Freizügigkeit im Umgang mit Leiblichkeit und Sexualität nicht erlebten, wie nach ihnen Geborene. Eine Lebenswelt schließlich, die wesentlich durch Bürokratie mitbestimmt ist, lässt entweder (verbal) rebellieren (wenn die Kräfte und das Selbstbewusstsein es zulassen), verstummend resignieren, schweigsam hinnehmen, regredieren oder sich mit Gewalt zur Wehr setzen. Die folgenden quantitativen und qualitativen Betrachtungen machen deutlich, dass mit einer Fülle von Faktoren zu rechnen ist, die zur charakteristischen Milieubildung im Sinne einer Minimierung des Verbalen beitragen. Sie erklären, warum das Pflegeheim eine Welt des Schweigens und Verstummens ist: Häufig anzutreffende somatische und psychische Krankheitsbilder, pflegetypische Kommunikationsmuster und –maximen, institutionstypische Aphasien, Sozialverhalten, Aktivitäten und strukturelle Gegebenheit usw. wirken auf das pflegebedürftige Individuum ein und konstituieren in ihrer Summe eine unverwechselbare Kultur verbaler Gedämpftheit. Ein pflegetypischer Sprachverlust in stationären Einrichtungen kann demnach postuliert und als seelsorgerliche Herausforderung identifiziert werden. Das Thema der Kommunikation in stationären Pflegeeinrichtungen wird somit im Folgenden in einem gesonderten Punkt ebenfalls verhandelt. Mit diesen einleitenden Bemerkungen ist zugleich eine zentrale, den Gang dieser Arbeit bestimmende Entdeckung vorweggenommen. Dies ist durchaus beabsichtigt, denn es soll der Leserin, dem Leser dazu verhelfen, die Lektüre des folgenden Abschnitts insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation zu lesen und den jeweiligen Topos in seinem Potenzial für die charakteristische Milieubildung in Pflegeheimen im Sinne eines Beitrags zum Verstummen zu erfassen. 46
Ebd., 217.
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Da Pflege nicht nur durch pflegende Individuen, sondern in demselben Maße durch politische Vorgaben und strukturelle Rahmenbedingungen beeinflusst wird, kann die Seelsorge nicht absehen von den sozialen Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen zu handeln ist.47 In einem dritten Abschnitt ist deshalb von wichtigen politisch-strukturellen Rahmenbedingungen zu sprechen, die die Situation der Pflege maßgeblich mitbestimmen. Selbst für diese gilt, dass sie das Pflegeheim-typische Verstummen strukturell begünstigen und dazu beitragen, dass verbale Kommunikation in stationären Einrichtungen vernachlässigt und behindert wird, etwa indem es zu einer einseitigen, verrichtungsbezogenen Kommunikation kommt, Pflegedokumentation Zeit, Kraft und Konzentration bindet, Hektik und fehlende Muße das Sprechen erschweren und das Rollenverständnis der Pflegenden den verbalen Dialog in seiner Bedeutung für die Pflege in den Hintergrund treten lassen. Ein viertes Kapitel beschreibt den ‚Lebensraum Pflegeheim‘ mit Hilfe eines Konzeptes von Foucault, das die Merkmale dieses gefürchteten Ortes als ‚Heterotopos‘ noch einmal unter einer spezifischen philosophischen Perspektive betrachtet. Gesellschaftliche Bewertungen des (hohen) Alters und der Alten, von denen wiederum Pflegebefohlene, An- und Zugehörige als auch Pflegekräfte unvermeidlich beeinflusst sind, werden im fünften Abschnitt vorgestellt. Dieser beschließt den ersten Hauptteil.
1. Angebot und Bedarf vollstationärer Betreuung, Pflegequoten In der Bundesrepublik gab es im Jahr 2005 rund 9.400 vollstationäre Pflegeeinrichtungen mit einem Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI.48 In diesen Einrichtungen lebten 644.165 Personen.49 Von den im Sinne des Pflegegesetzes (SGB XI) insgesamt 2,13 Millionen Pflegebedürftigen desselben Jahres wurde demnach ein gutes Drittel in Pflegeheimen betreut.50 Diese – für manchen überraschend niedrige – Zahl vollstationär Versorgter verführt dazu, die Bedeu47
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Vgl. dazu Luther, H., Diakonische Seelsorge, in: Wege zum Menschen, 40 (1988), 475 - 484; auch Pohl-Patalong, U., Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft, Stuttgart/Berlin/Köln (1996). Statistisches Bundesamt, a.a.O., 7. Ebd., 26. Ebd., 4.
tung von Pflegeheimen zu unterschätzen, da es sich nur um einen Anteil von gut 4 % an der Gesamtbevölkerung gleichen Alters handelt. Zieht man indessen weiteres Zahlenmaterial hinzu und fragt nach der Wahrscheinlichkeit, mit zunehmendem Alter in ein Pflegeheim wechseln zu müssen, so zeigt sich, dass „ein Heimaufenthalt ... insbesondere für viele hochbetagte Menschen eine durchaus gängige Lebensform“51 ist: Demnach lebten gemäß einer Studie von 1982 8,34 % der 80-84-Jährigen, 15,14 % der 85-89-Jährigen, und 21,43 % der 90-Jährigen und älteren in einem Heim.52 Dieser Trend hat sich seitdem deutlich verstärkt, denn die Zahl der in Heimen versorgten Hochbetagten hat deutlich zugenommen.53 Gegenüber 1999 ist ein Anstieg um 103.000 bzw. 18 % zu verzeichnen, während der Anteil der zu Hause Gepflegten zwischen 1999 und 2005 um 3,4 % zurückging.54 Die Zahl der Heime mit vollstationärer Dauerpflege stieg zwischen 2003 und 2005 um 7,3 % bzw. 640 Einrichtungen.55 Dass Hochaltrigkeit ein Phänomen stationärer Pflegeeinrichtungen ist, zeigt auch ein Blick auf die sog. „Pflegequoten“, die den Anteil Pflegebedürftiger an der Gesamtbevölkerung beschreiben und die Pflegewahrscheinlichkeit der jeweiligen Altersgruppe indiziert: In den statistischen Erhebungen des Jahres 2003 ist ein deutlicher Sprung in der Gruppe der 75-80-Jährigen (8,5% [männlich] bzw.10,6 % [weiblich]) sowie der 80-85-Jährigen (16,1 % [m.]/22,5 % [w.]) und 85-90-Jährigen (29,4 % [m.]/43,4 % [w.] zu verzeichnen.56 Die Pflegequote der Frauen ist mit 3,4 % mehr als doppelt so hoch wie die der Männer. Die Pflegequote der über 90jährigen Männer liegt bei 40 %, die der Frauen bei 65 %.57 Dieser geschlechtsspezifische Unterschied ist einerseits auf einen schlichten „Mengeneffekt“ zurückzuführen (geringe Anzahl hochaltriger Männer insgesamt). Andererseits dürften gesundheits- und lebensstilbedingte Faktoren hier eine Rolle spielen. Studien begründen die These, dass Frauen stärker von langfristiger krankheitsbedingter Invalidität, Männer hingegen
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53 54 55 56
57
Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, Stuttgart/Berlin/Köln (1997), 37. Rückert, W., Die Versorgung Pflegebedürftiger im Heim und im Haushalt, zit. in: Kruse, A./Wahl, H.-W., Altern und Wohnen im Heim, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle (1994), 70. Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 37. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 4. Ebd., 9. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, Jugend (im Folgenden abgekürzt: BMFSFJ), Erster Bericht über die Situation der Heime und die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner, Berlin (2006), 103. Ebd.
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vermehrt von akut lebensbedrohlichen, zum Tode führenden Erkrankungen betroffen sind.58 Diese Zahlen machen deutlich, dass der Versorgung hochbetagter Pflegebefohlener durch stationäre Einrichtungen größeres Gewicht zukommt, als es der Blick auf die absoluten Zahlen zunächst vermuten lässt. Ein deutlicher Trend hin zur professionellen Pflege hochbetagter Menschen ist nicht zu übersehen.59 Dabei handelt es sich bei 68 % der stationär Versorgten um Personen, die älter als 80 Jahre sind.60 Bereits jede dritte Frau über 90 stirbt heute in einer Pflegeeinrichtung.61
2. Trägerschaft und Größe der Einrichtungen Pflegeheime in Deutschland liegen zu 7 % in öffentlicher, zu 55 % in freigemeinnütziger (insbesondere kirchlicher [Caritas und Diakonie]) sowie zu 38 % in privater Trägerschaft.62 Gegenüber 1994 lässt sich dabei eine zunehmende Strukturverschiebung zulasten der öffentlichen (minus 6 %) und zugunsten der privaten (plus 7 %) erkennen, eine Folge des politischen Willens, der sich in entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen niederschlägt (SGB XI, § 11 Abs. 2). Den freigemeinnützigen und privaten wird gesetzlich inzwischen ein Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern eingeräumt.63 Im Hintergrund steht dabei das Subsidiaritätsprinzip, möglicherweise aber auch das Ziel, den Staat von Aufgaben bzw. finanziell zu entlasten. Im Jahr 1998 hatten 40 % der Pflegeeinrichtungen unter 50 Bewohnerinnen/Bewohner, 51 % 50 – 149 Bewohnerinnen/Bewohner und 9 % 150 und mehr Bewohnerinnen/Bewohner.64 Stationäre Einrichtungen nach Trägerschaft und Größe zeigen folgende Verteilung: • Öffentliche Träger: 6 % unter 50 Pflegebefohlene, 12 % 50 – 149 Pflegebefohlene, 24 % 150 und mehr Pflegebefohlene; 58 59 60 61 62
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38
Ebd., 104. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 4. BMFSFJ, Erster Bericht, 105. Wilkening, K./Kunz, R., a.a.O., 18. In diesen Zahlen enthalten sind auch die teilstationären Einrichtungen (Tagespflege), die aufgrund ihrer geringen Zahl den Wert jedoch nur unwesentlich verfälschen, vgl. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, München (1999), 124f. Ebd., 125. Ebd., 126. Leider finden sich keine aktuelleren Zahlen zur Größe von Pflegeeinrichtungen. Die Situation dürfte sich aber nicht gravierend verändert haben.
• Freigemeinnützige Träger: 39 % unter 50 Pflegebefohlene, 64 % 50 – 149 Pflegebefohlene, 61 % 150 und mehr Pflegebefohlene; • Private Träger: 55 % unter 50 Pflegebefohlene, 24 % 50 – 149 Pflegebefohlene, 16 % 150 und mehr Pflegebefohlene.65 Durchschnittlich versorgt ein Heim 65 Pflegebedürftige.66 Es zeigt sich dabei eine Konzentration der privaten Träger auf kleinere Einrichtungen, welche im Schnitt 53 Pflegebedürftige betreuen.67 Heime freigemeinnütziger Träger sind mit durchschnittlich 80 Plätzen mittelgroß, die in öffentlicher Trägerschaft mit durchschnittlich 90 Plätzen am größten.68 Es ist jedoch eine Entwicklung hin zu kleineren Einrichtungen in freigemeinnütziger sowie zu größeren in privater Trägerschaft zu erkennen.69
3. Art der Versorgung Ein zentrales Ziel der Pflegeversicherung ist die Stabilisierung der häuslichen Pflege70 durch den Grundsatz ‚ambulant vor stationär’, eine bereits 1983 im BSHG empfohlene (§ 3a; 3 [2]), nun aber bindende Prioritätensetzung, die weniger einer vermeintlichen Humanität geschuldet ist als vielmehr der Schonung finanzieller Ressourcen. Demnach sollen Pflegebedürftige so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung verbleiben, was von jedem auf Pflege Angewiesenen natürlich stets angestrebt wurde, nun aber eine stärkere finanzielle und strukturelle Unterstützung findet: Pflegende (Angehörige) können sich je nach Pflegestufe ein nach Pflegestufen gestaffeltes Pflegegeld (€ 215/420/665) auszahlen lassen,71 Pflegebedürftigen stehen bei häuslicher Pflege Sachleistungen durch professionelle Pflegekräfte zu (€ 420/980/1470).72 Die Zahl der ambulanten Pflegedienste sowie der von ihnen Beschäftigten nahm mit Einführung des PVGs. deutlich zu.73 Die Vermutung liegt nahe, dass diese 65 66 67 68 69 70 71
72 73
Ebd., 127. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 7. BMFSFJ, Erster Bericht, 44f. Ebd., 44f. Ebd. Schneekloth, U./ Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 85. Bis zum Jahr 2012 werden diese Sätze stufenweise angehoben auf € 235/440/700, von 2015 im dreijährigen Rhythmus entsprechend der allgemeinen Kostenentwicklung steigend. Bis zum Jahr 2012 ebenfalls stufenweise ansteigend auf € 450/1100/1550, von 2015 an im dreijährigen Rhythmus entsprechend der allgemeinen Kostenentwicklung steigend. Schneekloth, U./ Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 85f., 121f. Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung nahm im Zeitraum
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finanziellen und strukturellen Maßnahmen geeignet sind, den Wechsel in ein Pflegeheim länger als bisher hinauszuzögern, so dass es zu einer Verlegung ins Heim erst kommt, wenn die Kapazitäten häuslicher Pflege erschöpft sind und der Zustand der ins Heim Übersiedelnden demnach weitaus schlechter ist, als vor Einführung des PVGs. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass in der stationären Pflege seit Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes „die veränderte Bedarfssituation zu einem steigenden Heimeintrittsalter und einem zunehmenden Schweregrad der Pflegebedürftigkeit der Heime geführt“74 hat. Die Heime bestätigen diese Veränderung der Situation durchweg. Von 2003 bis 2005 nahm die Zahl der Pflegebedürftigen mit Pflegestufe III entsprechend um 1,7% zu.75 Insgesamt zeigt sich im Jahr 2005 folgende Verteilung der stationär Versorgten auf die drei Pflegestufen: • 20,9 % der Versorgten vollstationärer Einrichtungen waren in die Pflegestufe III eingestuft (= schwerstpflegebedürftig), • 43,4 % in die Pflegestufe II (= schwerpflegebedürftig), • 34,2 % in die Pflegestufe I (= erheblich pflegebedürftig), • 1,6 % bisher ohne Zuordnung.76 Mehr als die Hälfte der im Pflegeheim Lebenden ist demnach schwer- oder schwerstpflegebedürftig. Dabei gilt folgende Definition der jeweiligen Pflegestufen: „Pflegebedürftige der Pflegestufe I sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
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von 4/1995 bis 4/1996 die Zahl der in der ambulanten Pflege Beschäftigten um mindestens 67.000 Personen zu, vgl. ebd., 122. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/8800 (März 2002), 257, Sp. 1. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 26. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 11.
Pflegebedürftige der Pflegestufe III sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grund- und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt • in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, • in der Pflegestufe II mindestens 3 Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen, • in der Pflegestufe III mindestens 5 Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen“.77
4. Personalsituation In stationären Pflegeeinrichtungen waren 2005 insgesamt 546.00078 Personen beschäftigt, davon 85 %79 Frauen. Dieses Personalvolumen entspricht einem Vollzeitäquivalent von 405.000 Stellen.80 38 % der Beschäftigten sind in Vollzeit tätig, Teilzeitkräfte machen 54 % aus.81 Differenzieren lässt sich diese Gesamtzahl nach Berufsgruppen: Der Anteil der Pflegekräfte lag bei 36 % der Beschäftigten, 18 % sind in der Hauswirtschaft tätig. Verwaltung, Haustechnik und sonstige Bereiche machen 9 % aus. 4 % des Personals stand für soziale Betreuung zur Verfügung.82 Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse spielen eine große Rolle bei der Berufsgruppe der Therapeuten und Sozialarbeiterinnen, da es aufgrund der geringen Bewohnerzahl vielen Einrichtungen nicht möglich ist, diese in Vollzeit zu beschäftigen.83 Die Relation von Pflegepersonal und Pflegebedürftigen ergibt eine Zahl von 32,1 Vollzeitpflegekräften auf 100 Bewohnerinnen/Bewohner. Dies bedeutet eine Verbesserung um eine Vollzeitkraft gegenüber 1994, während die Beschäftigungszahlen bei den hauswirtschaftli-
77 78 79 80 81 82 83
SGB XI, § 15. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 8. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 162f.
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chen und Verwaltungskräften entsprechend abnahmen.84 Der durchschnittliche Personalbestand an Pflegefachpersonal liegt in den Einrichtungen bei 20 Mitarbeitenden85, was häufig zu Engpässen führt, wenn Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter (kurzzeitig oder länger) ausfallen. Die Betreuungsrelation, die ein wichtiger Aspekt der Gewährleistung und Sicherstellung der Pflegequalität und Betreuung ist und sich ermittelt aus der Summe der Pflegekräfte und des therapeutischen Personals ggf. inkl. Zivildienstleistenden, ergibt für das Jahr 1998 eine Zahl von 2,8 Pflegebedürftigen der Stufen 0 – III je fest angestellter Betreuungskraft bzw. 2,6 Pflegebedürftigen je fest angestellter Betreuungskraft inkl. Zivildienstleistender.86 Dabei fällt auf, dass die Relation des pflegerischen und therapeutischen Personals je 100 Pflegebefohlenen entsprechend der Trägerschaft einer Einrichtung schwankt. Folgende Zahlen lassen sich ermitteln: Öffentliche Träger = 27,4 bzw. 1,1, gemeinnützige Träger 31,6 bzw. 1,2, private Träger 36,3 bzw. 1,4 Vollzeitkräfte in den beiden Bereichen.87 Private Einrichtungen kompensieren demnach die geringere Zahl Zivildienstleistender durch Aufstockung des Anteils der Pflegekräfte sowie durch Absenkung der im hauswirtschaftlichen Bereich Tätigen. Freigemeinnützige Einrichtungen hingegen halten weniger Pflegekräfte vor, verfügen über mehr Zivildienstleistende und beschäftigen einen größeren Anteil hauswirtschaftlich Tätiger.88 Es lassen sich verschiedene Be- und Entlastungsindikatoren benennen, die zur Einschätzung der Personalsituation in der Pflege herangezogen werden und recht objektiv Auskunft über die Arbeitsverdichtung der pflegerischen Tätigkeit geben. Als Belastungsindikatoren fungieren die Anzahl der Überstunden, die Häufigkeit der Krankheitsausfälle sowie deren Dauer; als Entlastungsindikatoren Aushilfen sowie die Fachkraftquote. Hinsichtlich der Belastung pflegerischer Tätigkeit wird die Einschätzung bekundet, die Personalsituation stationärer Einrichtungen gleiche einem „Druckkessel“89, da eine Zahl von 9 Millionen Überstunden geleistet wird, was einem Volumen von 5000 Vollzeitstellen entspricht.90 Auch sind eine Erhöhung der Krankheitsausfälle sowie längere Ausfallzeiten zu verzeichnen.91 Der 84 85 86 87 88 89 90 91
42
Ebd., 164. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, Pflegethermometer 2003, Köln (2003), 20. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 168. Ebd., 165. Ebd., 165. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, Pflegethermometer 2003, 20. Ebd., 14. Ebd.
verstärkte Einsatz von Aushilfskräften schafft sicherlich Erleichterung, für die Jahre 2002/2003 wird auf der Basis von Befragungen ein durchschnittlicher „Entlastungsindikator“ von 23 bzw. 20 % errechnet.92 Als Möglichkeit der Kompensation von Arbeitsbelastung kann auch die gesetzlich vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 % insofern angesehen werden, als sie es erlaubt, eine Hälfte des Personalbestandes mit geringfügig (und damit weniger kostenintensiven) Qualifizierten zur Bewältigung des Arbeitsaufwandes anzustellen. Da die gesetzlich geregelte Fachkraftquote jedoch nach Einschätzung des Pflegethermometers „in der überwiegenden Mehrzahl der befragten Einrichtungen übertroffen“93 werde, sei es möglich, über diesen Mechanismus „aufzuatmen“, indem verstärkt niedriger qualifiziertes Personal eingestellt und so der Mehraufwand an Arbeit zu gleichem Preis bewältigt werde.94 Die Personalsituation wird von den Heimen „überwiegend kritisch gesehen“95. Die Mehrheit der Einrichtungen sieht Verschlechterungen der Personalund Arbeitssituation, die mit der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes in Zusammenhang gebracht werden.96 Das vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) in einem Bundesmodellprojekt getestete, aus Kanada stammende Instrument zur Bemessung notwendigen Pflegebedarfs, PLAISIR® (=Planification Informatisée des Soins Inirmiers Requis), ermittelte einen erheblichen Mehrbedarf notwendiger Pflege. Dokumentiert wurden insbesondere eine mangelhafte Personalausstattung sowie die Unangemessenheit der Pflegestufen zur Einschätzung des individuellen Pflegebedarfs.97 Dabei muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Einrichtungen nicht frei über Stelleneinführungen verfügen, sondern an gesetzliche Vorgaben gebunden sind. Eine bundeslandbezogene Personalbemessung stellt die Grundlage dar, an die die Finanzierung der Pflegekosten gekoppelt ist. Die Ermittlung des Pflege- und Personalbedarfs steht somit vor der Schwierigkeit, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse und rechtliche Vorschriften zur Finanzierung der Pflege miteinander in Einklang zu bringen. Fachwissenschaftliche Standards, betriebswirtschaftliche Kalkulationen und die berechtigten Interessen der Pflegebefohlenen sind miteinander zu verbinden. Nach geltendem Recht orientiert sich die Personalbemessung an Personalrichtwerten gemäß § 75 SGB XI. Für zugelassene Pflegeeinrichtungen gelten die 92 93 94 95 96 97
Ebd., 16. Ebd., 17. Ebd. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 170. Ebd. Vgl. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, Pflegethermometer 2003, 13. Näheres zu den Ergebnissen der Studie unter http://www.awo.org/pub/senpflege/pflege/ /plaisir.pdf 19.06.2003.
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Festsetzungen der Rahmenverträge der Pflegekassen mit den Leistungserbringern und Sozialhilfeträgern, die von Bundesland zu Bundesland variieren. Damit erklären sich auch die unterschiedlichen Personalrichtwerte der jeweiligen Bundesländer.98 Vielfach ist in den vergangenen Jahren von einem „Pflegenotstand“ berichtet worden99, den Andrea Blome100 als Personalnotstand definiert. Sie beanstandet, dass in Pflegeheimen weniger als die Hälfte des Personals zur Verfügung stehe als in Krankenhäusern bei gleicher Versorgungsdichte. Kritisch sieht sie auch die unzureichende Orientierung an Heimgröße, Heimbelegung und Pflegestufen zur Ermittlung des Personalbedarfs bzw. die Ausblendung der Faktoren Aktivierung und Rehabilitation zur Bemessung des Pflegeschlüssels.101 Als Folge dieses Defizits seien ärztliche Unterversorgung, fehlende psychische Betreuung, mangelnde Rehabilitationsmaßnahmen, nicht zu leistende individuelle Pflege, Bevormundung und Entmündigung, gesellschaftliche Isolation sowie unzureichende Sterbebegleitung zu beklagen.102 Jüngste Ergebnisse qualitativer Untersuchungen bestätigen, dass die Personalbemessung in Pflegeheimen als zu knapp beurteilt wird. Es herrscht große Übereinstimmung, „dass die Arbeitsbelastung des Pflegepersonals zwar zu bewältigen gewesen, aber nichtsdestotrotz als hoch angesehen“103 wird. Die Folge solcher Arbeitsbelastung sei eine Reduktion der Pflege auf eine bloße „Aufrechterhaltung der Basisfunktionen des Körpers“, eine bewohnerorientierte Pflege sei somit nur in sehr begrenztem Umfange zu leisten.104 Für intensivere Gespräche, persönliche Zuwendung, über den Small Talk hinausgehende Kommunikation „bleibe keine Zeit“105. Auch der Einsatz nicht zwingend notwendiger freiheitsentziehender
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101 102 103 104 105
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Näheres zu den jeweiligen Zahlen der länderspezifischen Personalrichtwerte in: BMFSFJ, Erster Bericht, 93 – 95. Z.B. DER STERN 31/2002, 46 –62; Hamburger Abendblatt v. 9.05.2001 „Jedes dritte Heim hat Mängel – Pflege in Hamburg: Zu wenig Personal ...“; Hamburger Abendblatt v. 31.08.2001 „Wege aus der Pflege-Krise“; Hamburger Abendblatt v. 20.08.2002 „Notruf aus den Pflegeheimen“. Blome, A., Frau und Alter, Gütersloh (1994), 75; in Hamburg zuletzt auf der Titelseite des Hamburger Abendblattes beklagt in dem Artikel vom 15./16. September 2007: „Not in Hamburger Heimen: 340 Pfleger gehen aus Protest”. Blome, A., ebd., vgl. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 162 – 172. Blome, A., a.a.O., 75. Klie, T./Pfundstein, T./Stoffer, F.J., a.a.O., 64. Ebd. Ebd., 65.
Maßnahmen wird in Zusammenhang mit großer Arbeitsbelastung und knapper Personalbemessung gebracht.106 Hinsichtlich der Personalsituation der Heime ist noch zu bedenken, dass in Zukunft mit einem erheblichen Mehrbedarf an Pflegekräften zu rechnen ist. Manche Prognosen gehen von einem Bedarfszuwachs von rund 170.000 zusätzlichen Vollzeitstellen bis zum Jahr 2050 aus.107 Zahlreiche Wissenschaftler sind der Ansicht, dass aufgrund unterschiedlicher Einflüsse wie etwa sinkender Jugendquotienten infolge des demografischen Wandels108, der mangelnden Attraktivität des Pflegeberufes109 oder einer Abnahme des familialen Pflegepotenzials110 die Gewinnung von Pflegepersonal zunehmend erschwert wird. Was die Qualifikation der Beschäftigten in stationären Pflegeeinrichtungen angeht, so ist auf die Heimpersonalverordnung (HeimPersV) hinzuweisen, nach der in Heimen mindestens 50 % des in der Pflege beschäftigten Personals qualifizierte Fachpersonen sein müssen. Fachkräfte im Sinne dieser Verordnung sind Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung, die Kenntnisse und Fähigkeiten zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung der von ihnen ausgeübten Funktion und Tätigkeit besitzen. Altenpflegehelferinnen bzw. –helfer oder Krankenpflegehelferinnen bzw. -helfer sowie vergleichbare Hilfskräfte sind keine Fachkräfte im Sinne dieser Verordnung (HeimPersV § 6). Entgegen der bereits zitierten Einschätzung des Pflegthermometers 2003 gehen manche lediglich von einer Quote von 62 % aller Einrichtungen aus, bei der die Fachkraftquote eingehalten wird, während 11 % der Einrichtungen sogar weniger als 40 % an Fachkräften beschäftigen.111 Einrichtungen in privater oder freigemeinnütziger Trägerschaft unterscheiden sich diesbezüglich nicht, während in den – relativ wenigen – Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft ein Anteil von über 80 % zu ermitteln ist.112 Festzustellen ist ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen Größe einer Einrichtung und dem Anteil der Fachkräfte, welches demnach die Fachkraftquote bei zunehmender Größe einer Pflegeeinrichtung sinken lässt.113 106 Ebd. Vgl. auch den Artikel zur Praxis des Einsatzes von Magensonden in Altenpflegeheimen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 24, 15.06.2008, 1 – 3. 107 Vgl. Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, 257f. 108 Ebd., 258. 109 Ebd. 110 Ebd., 237ff. 111 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 111ff. 112 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 112. 113 Ebd., 113.
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5. Häufige somatische Erkrankungen Die häufigsten somatischen Erkrankungen bei Pflegebedürftigen der Pflegestufen I – III lassen sich zwei großen Krankheitsgruppen zuordnen: Erstens Erkrankungen des kardio- und zerebrovaskulären Systems (z.B. Schlaganfälle, Parkinson)114, zweitens Erkrankungen des Bewegungsapparates115. Schlaganfälle gehören zu den sechs häufigsten Krankheitsbildern bei älteren Menschen und führen bei 65-79-Jährigen zu 61%, und bei 80-Jährigen sowie Älteren in 81 % aller Fälle zur Pflegebedürftigkeit.116 Schlaganfälle gehen oft einher mit Aphasien (Sprachbeeinträchtigungen) unterschiedlicher Grade und Typen. Grob unterschieden werden können motorische (Wörter können nicht aus- oder nachgesprochen werden), sensorische (Sprache und Schrift werden nicht verstanden) und amnestische Aphasien (Wörter werden nicht gefunden, aber verstanden). Sogenannte „flüssige“ Aphasien bezeichnen diejenigen, bei denen die Patienten in grammatischer und prosodischer Hinsicht unauffällig sprechen117, „nicht flüssige“ diejenigen, bei denen die Kommunikation aufgrund gegenseitiger Verständnisschwierigkeiten massiv gestört ist. Behindert wird hier die Kommunikation z.B. durch Paragrammatismus (Verdoppelungen und Verschränkungen von Sätzen und Satzteilen), Störungen der Wortwahl, Sprachverlangsamung oder das völlige Ausbleiben sprachlicher oder sprachähnlicher Äußerungen.118 Auch die Parkinsonerkrankung führt häufig zu Beeinträchtigungen der Sprachfähigkeit, insbesondere hinsichtlich der Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke und Deutlichkeit der Artikulation, da die Krankheit mit einer zunehmenden Starre der Gesichts- und Köpermuskulatur einhergeht.119 Dauerhafte bzw. chronische Bewegungseinschränkungen machen 57,1 % aller Diagnosen aus, gefolgt von Erkrankungen des Herzens und des Kreislaufs mit 44,2 % sowie Kontrollverlusten von Wasser und Stuhl mit 39 %.120 Starke Sehbehinderung wird bei 20,7 % aller Diagnosen festgestellt, Schwerhörigkeit oder Taubheit bei 22 %.121 Mobilitätseinschränkungen bei den in Alteneinrichtungen Lebenden, insbesondere in Pflegeheimen, machen das grundlegende Profilmerkmal dieser 114 Besonders hoch ist das Risiko der Pflegebedürftigkeit bei Schlaganfallpatienten, vgl. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 147, Sp. 2. 115 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 73. 116 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 147. 117 Vgl. Sachweh, S., a.a.O., 194. 118 Vgl. ebd., 194ff. 119 Ebd., 212. 120 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige, 144. 121 Ebd.
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Einrichtungen aus: 62 % können sich unmöglich allein baden (19 % nur mit Schwierigkeiten), 44 % können sich nicht allein duschen (25 % nur mit Schwierigkeiten), 32 % können nicht allein die Toilette benutzen (17 % nur mit Schwierigkeiten). 31 % sind nicht in der Lage, Wasser und Stuhl zu halten (19 % nur mit Schwierigkeiten).122 Stürze (definiert als ein ungewolltes Zu-BodenGehen ohne äußere Ursache) werden von einem Drittel aller 65-Jährigen erlitten.123 Zu den Risikofaktoren insbesondere wiederholten (und von Pflegeheimen gefürchteten) Hinfallens zählen insbesondere das Alter, das weibliche Geschlecht, Alleinleben, körperliche Inaktivität, Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens sowie vorangegangene Stürze.124 Weitere medizinische Risikofaktoren sind kognitive Defizite, ein vorangegangener Schlaganfall, eine Parkinsonerkrankung, Depression, Inkontinenz und Arthrose.125 Bei den eher hauswirtschaftlich-instrumentellen Fähigkeiten gilt für 66 % der Personen in Pflegeeinrichtungen, dass sie unmöglich einkaufen können, 49 % finden sich draußen nicht mehr allein zurecht, 31 % können nicht allein telefonieren.126 Festzuhalten ist: „Pflegebedürftigkeit korreliert in hohem Maße mit Erkrankungen, die zum Verlust von Mobilität bzw. motorischen Fähigkeiten führen“127.
6. Häufige psychische Erkrankungen Zum psychischen Gesundheitszustand alter bzw. institutionalisierter Menschen lässt sich feststellen, dass etwa ein Viertel der über 65-Jährigen an einer psychischen Erkrankung leidet, wobei trotz altersabhängiger Zunahme von Demenzerkrankungen die psychische Gesamtmorbidität mit 25 % in der Gruppe der 65Jährigen und Älteren nicht höher ist als in jüngeren Altersgruppen.128 Es ergeben sich allerdings unterschiedliche Verteilungen der psychischen Erkrankungen in den verschiedenen Lebensphasen: Demenzen und depressive Störungen treten im Alter am häufigsten auf. Die Wahrscheinlichkeit einer demenziellen Erkrankung steigt erheblich mit zunehmendem Alter, von 22,1 % bei den 60 - 79-Jährigen und 33,3 % bei den 80 - 89-Jährigen, bis zu 35,7 % bei den über 90-Jährigen.129 Hinsichtlich der drei 122 123 124 125 126 127 128 129
Ebd., 47. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 159. Ebd. Ebd. Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige, 48. BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 86. BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 86. Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige, 145.
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Typen von Alten- und Pflegeeinrichtungen kann festgestellt werden, dass in reinen Pflegeheimen mit 60 % fast zwei von drei Pflegebefohlenen, bei den Bewohnerinnen/Bewohnern von Heimplätzen (Mischform aus Altenwohnheim und Pflegeeinrichtung) mit 32 % jede dritte Person und bei den Bewohnerinnen/Bewohnern von Altenheimplätzen (reine Altenwohnheime ohne Pflegeabteilung) mit 24 % bei fast jeder vierten Person eine demenzielle oder sonstige psychische Störung vorliegt.130 Die Bundesregierung geht davon aus, dass etwa 50%131 der in Pflegeeinrichtungen Lebenden demenzkrank sind und prognostiziert für die Zukunft von Pflegeheimen: „Altenpflege wird somit zunehmend zur gerontopsychiatrischen Sozialpflege“132. Kitwood bezeichnet die Demenz sogar als das bedeutsamste epidemiologische Merkmal des 21. Jahrhunderts. Im Gegensatz zur Einschätzung der Sachverständigenkommission des Dritten Altenberichts gehen Buijssen/Hirsch von einer deutlichen Verkennung der Prävalenz von Angststörungen bei alten Menschen aus. Diese seien weit häufiger als zumeist angenommen.133 Sie beziffern die Häufigkeit von Angstzuständen bei über 60-Jährigen auf mindestens 30 %.134 Zahlreiche – gerade im Pflegeheim vorkommende Erkrankungen – gehen zudem mit Angstsymptomen einher (sog. Komorbidität, z.B. bei Demenzen). Bei Frauen tritt diese Störung zweimal so häufig auf wie bei Männern135, so dass im Pflegeheim als einer überwiegend von Frauen bewohnten Einrichtung mit dem Phänomen Angst zu rechnen ist. Frauenbezogene Gesundheitsforschung macht darauf aufmerksam, dass Frauen stärker als Männer körperlich auf Spannungen reagieren, in höherem Maße als diese unter Befindlichkeitsstörungen leiden, stärker als diese von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen betroffen sind und in einem größeren Maße psychosoziale Beratungsdienste in Anspruch nehmen.136 Was die Prävalenz der Depression angeht, kann davon ausgegangen werden, dass die Quote depressiver Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen um
130 Ebd., 48. 131 Deutscher Bundestag, Drucksache 13/5257; geteilt wird diese Einschätzung auch von anderen, z.B. Bruder, J./Wojnar, J., Betreuungs- und Behandlungskonzepte in Langzeiteinrichtungen für Demenzkranke, in: Hamburger Ärzteblatt 52 (1999), 243. 132 Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V., a.a.O., 23 [Kursiv O.K.]. 133 Buijssen, H.P.J./Hirsch, R.D., Probleme im Alter, Weinheim (1997), 188. Die Autoren gehen davon aus, dass Angststörungen sogar häufiger vorkommen als Depressionen, vgl. 301. 134 Ebd., 188. 135 Ebd. 136 Blome, A., a.a.O., 71.
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ein Vielfaches höher als außerhalb dieser Einrichtungen liegt.137 Untersuchungen ermittelten einen 10 – 20 % Prozent höheren Anteil an Patienten, die an einer major depression erkranken.138 Eine repräsentative Studie aus Deutschland kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und ermittelt einen Anteil von knapp 25 % depressiv Erkrankter in Pflegeeinrichtungen.139 Depressive Störungen treten bei Frauen etwa doppelt so häufig auf wie bei Männern.140 In Pflegeheimen ist demnach insbesondere mit drei psychischen Krankheitsbildern zu rechnen: Demenzen, Depressionen und Angststörungen. Dabei kann als gesichert gelten, dass depressiv sein „im Alter zu den häufigsten Umgehensweisen mit Schwierigkeiten“141 gehört. Da später das – die Welt der Pflegeheime erheblich bestimmende – Phänomen Demenz noch einmal gesondert angesprochen wird142, soll zunächst den Depressionen und Angststörungen weitere Beachtung geschenkt werden: Bei Depressionen handelt es sich um Beeinträchtigungen der Stimmungslage, die über einen konkreten, die Stimmung aus nachvollziehbaren Gründen trübenden Anlass hinausgehen und für einen längeren Zeitraum das Leben eines Menschen bestimmen oder ihn gar zeitlebens prägen.143 Bei einer „depressiven“ Stimmung fühlt der Mensch sich leer, tot, ausgebrannt, gleichgültig, hoffnungslos, erlebt ein Nichtfühlen-Können und ist als umso depressiver zu beurteilen, je weniger er selbst Schmerz, Angst oder Trauer empfinden kann.144 Der Antrieb ist gehemmt, die Initiative gelähmt, Entscheidungen fallen schwer.145 Das Denken tritt grübelnd auf der Stelle, eine Selbstblockierung und Selbstniederschlagung des Antriebs mit quälender innerer
137 Vgl. auch Harrison, R./Sawa, N./Kafetz, K., Dementia, depression and physical disability in a London borough: a survey of elderly people in and out of residential care and implications for future developments, in: Age and Ageing 19, 97 –103, zit. in: Kitwood, T., Demenz, Bern (2005, 4. Aufl.), 53. 138 Buijssen, H.P.J./Hirsch, R.D., a.a.O., 301. 139 Wörle, J. et al., Demenz und Depression bei Altenpflegeheimbewohnern, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und –psychiatrie, 5 (1992), 179 – 190; ebenso Bruder, J./Wojnar, J., Betreuungs- und Behandlungskonzepte in Langzeiteinrichtungen für Demenzkranke, 243. 140 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 154. 141 Dörner, K./Plog, U., Irren ist menschlich, Bonn (1984, 4. Aufl.), 419. 142 Vgl. I.B.18. 143 Vgl. Lungershausen, E., Depressive Verstimmung, in: Platt, D. (Hg.), Handbuch der Gerontologie, Bd. 5, Neurologie und Psychiatrie, Stuttgart/New York (1989), 274. 144 Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 200. 145 Ebd.
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Unruhe und Angestrengtheit sind charakteristisch.146 Untätigkeit und „Faulheit“, hektisches Hin- und Hergehen („agierte Depression“) oder auswegloses Klagen („Jammerdepression“) können beobachtet werden.147 Auch die kommunikative Neigung kann in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Vitalgefühle und vegetativen Funktionen sind häufig beeinträchtigt: Ständige Müdigkeit, Schlaf- oder Appetitlosigkeit kennzeichnen etwa den depressiven Gemütszustand.148 Die Asthenie (Schwäche und Kraftlosigkeit) kann sogar als das häufigste Symptom einer Depression angesehen werden.149 Ermüdung ist in neun von zehn Fällen Anzeichen eines depressiven Gemütszustandes.150 Es lassen sich endogene (konstitutionelle) und psychogene (reaktive) Formen der Erkrankung unterscheiden. Endogene Depressionen können ihre Ursache z.B. in Störungen des Hormonhaushaltes oder der Organe haben. Auch genetisch bedingte Depressionen sind zu diesem Formenkreis zu zählen. Psychogene Depressionen hingegen sind als (im Grunde natürliche) Reaktionen auf Ereignisse und Erlebnisse verstehbar. Drei Unterformen151 können demnach unterschieden werden: Reaktive Depressionen, Erschöpfungsdepressionen und neurotische Depressionen. Diese drei Typen sind auch mit Blick auf das Alter und Altwerden besonders relevant: Reaktive Depressionen sind, wie der Name erkennen lässt, längere und dauerhafte Stimmungseintrübungen, die vor allem als Folge von Belastungssituationen auftreten und nur schwer von den Betroffenen zu verarbeiten sind. Ein schwerwiegendes Ereignis (z.B. Tod eines nahestehenden Menschen, Familienangehörigen) oder auch eine Serie aufeinanderfolgender (kleinerer) Ereignisse können dazu führen, dass die Grenze der individuellen Belastbarkeit überschritten wird und einen Zusammenbruch zur Folge hat. Die Depression stellt sich ein. Auch Wohnortwechsel oder der Wechsel in eine Pflegeeinrichtung können zu einer entsprechenden, anhaltenden depressiven Reaktion führen. Es handelt sich bei solchen Depressionen im Grunde um eine quantitative Steigerung der normalen Traurigkeit. Erschöpfungsdepressionen sind die Folge einer belastenden Situation, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, etwa infolge einer schweren Krankheit, eines Krankenhausaufenthaltes oder kräftezehrender Pflege eines Angehö-
146 147 148 149 150 151
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Ebd. Ebd. Ebd. Dongier, M., Neurosen, Frankfurt a. M. (1983), 82. Ebd., 83. Kruse, A., Psychologie, in: Bergener, M. (Hg.), Depressive Syndrome im Alter, Stuttgart/New York (1989), 1 – 25.
rigen, wie sie häufig von Ehepartnern oder Familienangehörigen geleistet wird, bis die Zuhilfenahme professioneller (stationärer) Hilfe unvermeidlich wird. Neurotische Depressionen stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Belastungssituationen, sondern haben ihren Ursprung häufig in früheren Lebensphasen.152 Sie sind das „Resultat gehemmter Entwicklungsprozesse“ und ungelöster Konflikte.153 Befürchtungen und Sorgen, die sich mit der Vorstellung vom Alter verbinden, können ebenfalls eine Ursache depressiver Verstimmung sein.154 Häufig entwickeln sie sich mit zunehmendem Alter als Folge von Befürchtungen angesichts des bevorstehenden Lebensabschnitts. Werden solche Ängste noch genährt durch einsetzende (schwere, lebensbedrohliche) Krankheiten, so bekommt diese Form der Depression zweifelsohne einen Schub. Es ist auffällig, dass 60 % aller Schlaganfallpatienten eine Depression entwickeln.155 Hieraus lässt sich folgern, dass körperliche Erkrankungen, insbesondere wenn sie zu einer Einschränkung der Autonomie oder gar zu deren völligem Verlust führen, das Risiko von Depressionen deutlich begünstigen. Ein erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken, hängt auch damit zusammen, wie stark ein Mensch über enge und vertrauensvolle Beziehungen verfügt. Die Verwundbarkeit nimmt zu, je weniger ein tragfähiges, soziales Netzwerk besteht.156 Insgesamt ist hinsichtlich des Alters davon auszugehen, dass sich „die Anlässe, depressiv zu handeln, häufen“157. Auch ist bei alten Menschen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit festzustellen, sich das Leben zu nehmen.158 Kann der Freitod nicht verwirklicht werden, treten an seine Stelle häufig Suizidäquivalente, wie z.B. Therapie- oder Nahrungsverweigerung, wie sie für das Senium charakteristisch sind.159 Diese Lebensphase bringt zudem einen eigenen Typ der Depression hervor, der als Altersdepression bezeichnet wird.160 Hauptsymptom dieses depressiven Formenkreises ist die Asthenie (Kraftlosigkeit, Müdigkeit), 152 153 154 155 156 157 158 159
160
Ebd., 41. Ebd. Lungershausen, E., a.a.O., 277. Bruder, J., Gerontopsychiatrische Erkrankungen, in: Olbrich, E./Sames, K./Schramm, A. (Hg.), Kompendium der Gerontologie Landsberg (1994), 45. Vgl. Moser, T., Identität, Spiritualität und Lebenssinn, Würzburg (2000), 138; vgl. auch I.B.8. Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 419. Ebd., 419f. Vgl. Püschel, K., Suizide im Senium, in: Zeitschrift für Gerontologie, 24 (1991), 12 – 16; Schmidtke A./Weinacker, B., Suizidraten, Suizidmethoden und unklare Todesursachen, in: Zeitschrift für Gerontologie, 24 (1991), 3 – 11. Dongier, M., a.a.O., 189.
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aber auch Gefühle der Wertlosigkeit, Ängste, Schlaflosigkeit, Appetitmangel und Passivität können auf eine Depression hindeuten.161 Gelingt es dem Menschen nicht, die altersspezifischen Belastungen und Herausforderungen zu bewältigen und zu einer geeigneten, positivhoffnungsvollen Perspektive vorzudringen, erscheint dieser Lebensabschnitt nur noch als eine Abwärtsentwicklung. Es werden dann ausschließlich Verluste, Einbußen und Einschränkungen wahrgenommen. Hiermit erklärt sich u.a., warum der Gebrauch von Alkohol, Analgetika, Barbituraten und Tranquilizern als Mittel gegen Gefühle der Einsamkeit und Sinnlosigkeit bei alten, unter depressiver Niedergeschlagenheit leidenden Menschen ansteigt.162 Im Zentrum der Depressionen des Alters steht daher ganz entscheidend der Verlust der Hoffnung.163 Hinzukommt die Zahl der im Alter zu verkraftenden, deutlich zunehmenden Kränkungen. Dabei ist allerdings zu betonen, dass diese Kränkungen „wesentlich nicht durch das Alter bedingt (sind), sondern durch die psychische und soziale Situation alter Menschen“164. Zu solchen Kränkungen gehören etwa:165 1. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, wie es sich u.a. entwickelt durch den Zwang, aus dem Berufsleben scheiden zu müssen. 2. Das Gefühl finanzieller Unsicherheit, wie es insbesondere bei verwitweten Frauen leicht aufkommt. 3. Das Gefühl, unbrauchbar zu sein, wie es durch den Wegfall der Berufstätigkeit mit dem dadurch entstehenden Zeitloch entsteht. Der seiner Arbeit beraubte Mensch gerät häufig in eine tiefe Krise. 4. Einsamkeit, da man nicht seinesgleichen findet und keinen Gesprächspartner/-partnerin hat. 5. Langeweile und Ziellosigkeit, die aus dem „Mangel eines Ziels“166 folgen. 6. Plötzliche Veränderungen (die zudem Desorientiertheit und Verwirrtheit begünstigen). 7. Komplexität der Anforderungen. 8. Angst vor dem Tod. Es liegt nahe, dass sich solche Gefühle in der Situation der Pflegebedürftigkeit noch potenzieren. Das Angewiesensein eines Menschen begünstigt zweifellos das Empfinden größter Wertlosigkeit.
161 162 163 164 165 166
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Ebd. Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 420. Moser, T., a.a.O., 349. Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 415. Zum Folgenden vgl. Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 415ff. Das Phänomen fehlender Perspektiven bei Pflegebedürftigen in Heimen wird auch bei Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, Bern (1997), erwähnt: „Im Gegensatz zur beobachteten Rückbesinnung der BewohnerInnen, mit der sie die Gegenwart füllen und ihren Selbstwert gewinnen, fällt die Abwesenheit von an der Realität orientierten Plänen und Wünschen für die Zukunft, für die Zeit bis zum Tod auf“, 93.
Wie bereits erwähnt, beschweren auch Angstsyndrome das Leben Pflegebefohlener in stationären Einrichtungen. Drei Gruppen von Störungen, deren herausragendes Merkmal das Angstgefühl ist, sind zu unterscheiden: Phobische Störungen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsreaktionen.167 Bei dieser Differenzierung sollte allerdings berücksichtigt werden, dass die „Typen des Auslebens“ der Angst normalerweise „meist gemischt“ auftreten.168 Phobien sind charakterisiert durch ein ständiges Vermeidungsverhalten, das auf irrationalen Ängsten vor einer spezifischen Situation, einem Objekt oder einer Aktivität beruht.169 Die Betroffenen erkennen dabei, dass ihre Angst irrational ist. Angst, die familiäre Umgebung zu verlassen und unter fremden Menschen zu sein (Agoraphobie) oder Angst vor geschlossenen Räumen (Klaustrophobie) gehören beispielsweise zu diesem Typ der Phobie. Auch Hunde-, Mäuse-, Schlangen- oder Insektenphobien sind zu diesem Formenkreis zu zählen. Bei Angstzuständen kann noch einmal unterschieden werden zwischen dem Paniksyndrom, dem generalisierten Angstsyndrom und dem Zwangssymptom.170 Beim Paniksyndrom kommt es zu plötzlichen starken Angstattacken, bei denen die Betroffenen große Besorgnis, Angst oder drohendes Verderben fühlen.171 Beim generalisierten Angstsymptom besteht eine ständige und allgemeine Ängstlichkeit für mindestens einen Monat, wobei die spezifischen Symptome einer Phobie oder die Panikattacken des Paniksyndroms nicht vorliegen.172 Das Zwangssyndrom (auch „Zwangsneurose“ genannt) ist durch ständig wiederkehrende Gedanken oder Zwänge charakterisiert.173 Wiederholtes Händewaschen, Überprüfen oder Berühren sind typische Merkmale. Bei dieser Störung wird die Angst in zwanghafte Gedanken oder Handlungen umgewandelt.174 Posttraumatische Belastungsreaktionen können entweder akut, chronisch oder verzögert verlaufen.175 Es handelt sich bei ihnen um eine natürliche Reaktion auf ein identifizierbares, Stress auslösendes Ereignis, das für jeden Menschen eine schwere Belastung wäre. Oft wird das Trauma emotional wiederholt erlebt, sei es in überwältigenden Erinnerungen, wiederkehrenden Träumen oder dem 167 168 169 170 171 172 173 174 175
Dieterich, M., Handbuch Psychologie und Seelsorge, Wuppertal/Zürich (1989), 358. Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 305. Dieterich, M., a.a.O., 358. Ebd., 359. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 361.
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plötzlichen Gefühl, das traumatische Ereignis werde sich noch einmal ereignen.176 Auch die Übersiedlung in ein Pflegeheim, die zumeist den Charakter einer Notfallreaktion177 hat, kann als ein kritisches, traumatisierendes Lebensereignis gedeutet werden, „das mit routinemäßig zur Verfügung stehenden Strategien in der Regel nicht ausreichend bearbeitet werden kann“178. Ängste spielen vor allem bei einer Demenz eine große Rolle. Sie gehören zu den häufigsten sekundären Symptomen dieser Erkrankung179 (während Depressionen eher vorübergehend und flüchtig auftreten180). Im Verlauf einer demenziellen Erkrankung sind insbesondere Verlustängste bedeutsam.181 Unterschiedliche Typen können identifiziert werden: Die Angst vor Verlust der Kommunikationsfähigkeit, vor Erschütterung des Selbstwertgefühls, die Angst vor Verlust der sozialen Stellung, von Status und Position, Autonomie, Geachtet-werden, die Angst, sich selbst zu verlieren oder beherrscht zu werden, die Angst, anderen zur „Last“ zu fallen oder sich schämen zu müssen.182 Da Demenzkranke nicht nur zu Beginn der Erkrankung, sondern auch in deren weiterem Verlauf ihre Leistungseinbußen bis zu einer mittelschweren Demenz in bemerkenswert differenzierter Weise erkennen können, reagieren sie u.a. häufig mit Ängstlichkeit auf diese Wahrnehmung.183 Als einen typischen Versuch von Angstbewältigung kann dabei die Suche nach dem guten Objekt gedeutet werden, zu der beispielsweise das Weglaufen, Schreien oder Rufen gehört. Die Erkrankten versuchten auf diese Weise, zu einem guten Objekt zurückzukehren, es herbeizurufen oder durch Fortlaufen zu ihm zu gelangen.184 Meist handelt es sich dabei um die Mutter oder Großmutter. Derartige Mechanismen, wie sie im Pflegeheim regelmäßig begegnen, stehen ebenfalls „im Dienste der Angstbewältigung“185. Aus ethnologischer Perspektive lässt sich zum Phänomen Angst in Pflegeeinrichtungen ein typisches verängstigtes Suchen nach Verlorenem beobachten:186 Wertvolle Gegenstände werden vermisst, Dinge, die dem pflegebedürftigen Menschen kostbar sind, kommen abhanden. Aber die Dinge verschwinden 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186
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Ebd., 361f. Vgl. Moser, U., a.a.O., 115. Ebd., 117. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 173f. Ebd., 174. Haupt, M./Kurz, A., Alzheimersche Krankheit: Erleben, Empfinden und Reaktionsformen der Kranken, in: Zeitschrift für Gerontologie, 23 (1990), 213. Ebd., 211ff. Ebd. Gröning, K., Entweihung und Scham, 77. Ebd., 75. Zum Folgenden vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, Bern (2001), 75ff.
nicht einfach, sie werden gestohlen. Es gibt eine Angst, immer mehr zu verlieren. So versucht eine Frau krampfhaft, in zwei Handtaschen die wenigen Habseligkeiten zusammenzuhalten, die ihr bleiben, um sie vor dem Zugriff der anderen zu schützen. Unterschiedliche Befürchtungen und Verlustängste werden artikuliert: Dass die Angehörigen nicht mehr zu Besuch kommen, dass das Geld nicht reicht, dass ins Heim eingebrochen wird usw. Koch-Straube stellt zur Diskussion, ob die von ihr beobachteten Ängste des Bestohlenwerdens als Folge einer demenziellen Erkrankung und einer allgemeinen Desorientierung zu verstehen sind. Sie fragt aber zugleich, warum die Erkrankten gerade dieses Symptom entwickelten, welche Sprache es spricht und welchen Sinn es vermittelt. Die Äußerungen des Verlustes sind ihrer Ansicht nach zu deuten als Ausdruck des gravierenden Einschnitts im Lebenslauf, der mit dem Einzug in ein Heim einhergeht. „Frau Müller sucht ihre Uhr, die Zeit geht ihr verloren, die Chronologie, die Kontinuität ihres Lebens“, deutet Koch-Straube die Äußerung einer Pflegebedürftigen. Sie weist auch darauf hin, dass die heute in Heimen Gepflegten jener Generation angehörten, die um ihr Leben betrogen bzw. bestohlen wurden: Lebensmöglichkeiten wurden genommen, Beziehungen durch Krieg, Kriegsdienst, Vertreibung usw. zerstört, Hab und Gut ging (mehrmals) verloren, Berufswünsche konnten nicht realisiert werden, die körperliche Gesundheit nahm (im Krieg, im Flüchtlingslager, im KZ) Schaden. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches wiederum bedeutete einen Verlust der politischideologischen Heimat, deren Bedeutung nach dem Krieg zudem vertuscht oder verdrängt werden musste. Es gab keinen Raum für Verarbeitung oder Trauer um die verlorenen Jahre. Die Vermutung scheint deshalb berechtigt, dass das furchtund angsterregende Motiv des Verlierens, welches auch in einer Variation des Bestohlen-werdens begegnet, sich im (veränderten) seelischen Erleben eines pflegebedürftigen Menschen Raum schafft. In der Symbolsprache artikulieren sich Ängste, die in abstrakter Sprache nicht ausgedrückt werden können. Ängste kommen auch zum Ausdruck in der Vorstellung vom Heimaufenthalt als Strafe, wie sie im Heim ebenfalls oft begegnet. Diese Vorstellung verbindet sich leicht mit solchen von Sanktionen, die aus der Kindheit bekannt sind und zu jener Zeit noch praktiziert wurden: Arrest, Isolieren, Einsperren im Zimmer/Schuppen/Keller, oder die Drohung, bei Missachtung der elterlichen Autorität in ein Heim gesteckt zu werden. Man könnte meinen, Ängste würden im Pflegeheim auch durch die Nähe zum Tod genährt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Angst vor dem Tod mit zunehmendem Alter eher abnimmt.187 Hinzuweisen ist auf den gar nicht 187 Schmitz-Scherzer, R., Sterben und Tod im Alter, in: Baltes, P.B./Mittelstraß, J. (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, Berlin/New York (1992), 549.
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ängstlich wirkenden Wunsch vieler alter Menschen, über das Sterben, die Art ihrer Beerdigung oder auch ihre Ängste offen sprechen zu können, ohne dabei jedesmal auf eine entsprechende Gesprächsbereitschaft zu stoßen.188 Die Thanato-Psychologie wiederum zeigt, wie sehr das Verhältnis zu Sterben und Tod individuell variiert und weniger von Merkmalen wie Beruf, Alter oder Geschlecht abhängt als vielmehr von negativ erlebten Lebenssituationen, biografischen Entwicklungen, mangelnden Zukunftsperspektiven oder mangelnder sozialer Integration.189 Auch ist eine charakteristische Gelassenheit zu beobachten, bisweilen sogar eine Sehnsucht Pflegebefohlener, sterben zu dürfen.190 Es kann davon ausgegangen werden, dass Todesangst vor allem auftritt, so lange ein alter Mensch sich in einem relativ guten Gesundheitszustand befindet. Ist jedoch die Todeskrankheit fortgeschritten und der Daseinswille des Menschen unterhöhlt, mit der Folge, dass die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten stark beeinträchtigt sind, verliert der Gedanke an den Tod oftmals seinen Schrekken.191 Das entscheidende psychologische Moment für die Bereitschaft zum Sterben ist vermutlich in der Hoffnungslosigkeit, noch einmal zu einem erfüllten Leben bzw. zu einer Lebensentfaltung zu gelangen, zu finden. Diese Hoffnungslosigkeit führt häufig zu Lethargie, nicht jedoch zur Angst.192
7. Emotionales Befinden der Pflegebefohlenen in der Einschätzung des Pflegepersonals Befragungen von Pflegekräften, wie sie das emotionale Befinden der Versorgten beurteilen, erbrachte folgende Einschätzung: 40,1 % der Pflegebefohlenen seien als „ausgeglichen“, 38 % „emotional auffällig“ (häufig ängstlich/besorgt, traurig oder einsam) und 20,1 % als „emotional fehlangepasst“ (häufig leicht reizbar/aggressiv) zu bezeichnen.193 Es sei davon auszugehen, dass „Personen mit häufigeren Kontakten innerhalb der Einrichtung und etwas höherem Aktivitätsniveau (heimbezogene und außerhäusliche Aktivitäten) als emotional ausgeglichen charakterisiert werden“ können.194
188 189 190 191
Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 417. Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, Paderborn (1996), 207. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 80. Jores, A., Leitsymptom: Angst, in: Zwingmann, C. (Hg.), Zur Psychologie der Lebenskrisen (1962), 251f., zit. bei: Seibert, H., Diakonie, 90. 192 Ebd. 193 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 75. 194 Ebd., 74 [Hervorhebung O.K.].
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Charakteristisch für die Bewältigungsversuche älterer Menschen im Umgang mit Belastungen sind emotionsregulierende Strategien.195 Solche unterscheiden sich von problemlösenden Verhaltensweisen durch den Versuch, mit Hilfe innerpsychischer Bemühungen eine emotionale Antwort auf belastende Ereignisse zu finden. Intrapsychische und kognitive Mechanismen spielen somit bei älteren Menschen eine größere Rolle. Später wird deshalb danach gefragt, ob es möglich ist, dass auch Religiosität im Alter einen Einfluss auf die Bewältigung von Belastungen hat.
8. Soziale Kontakte und Aktivitäten 8.1. Soziale Kontakte Eine Untersuchung aus dem Jahr 1997 ermittelte folgende Werte zur Frage der sozialen Kontakte von Heimbewohnern: Es erhielten Besuche von außerhalb 11 % täglich, 36 % ein- bis mehrfach wöchentlich, 23 % ein- bis mehrfach monatlich, während immerhin 30 % (jede dritte Person) seltener oder sogar nie Besuch bekam.196 Diese Zahlen sind umso bemerkenswerter, als die Heime angeben, dass 86 % der stationär Versorgten noch Verwandte haben, davon 60 % sogar enge Verwandte.197 Besuche durch Vertreterinnen oder Vertreter der Kirche richteten sich „nur selten an den einzelnen Bewohner, meist an das Kollektiv der Heimbewohner in Form von Kaffeenachmittagen“198. Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Größe einer Pflegeeinrichtung und sozialen Kontakten nach innen oder außen feststellen, dem zufolge die sozialen Bindungen mit zunehmender Größe einer Einrichtung abnehmen.199 Viel häufiger als Kontakte zu Personen außerhalb des Heims sind solche zu Pflegebefohlenen der eigenen Station bzw. des Wohnbereiches: Für 70 % der Bewohnerschaft einer Pflegeeinrichtung sind diese der wichtigste soziale Bezugspunkt.200 Es ist jedoch zu fragen, ob die Sozialkontakte innerhalb des Pflegeheims – mögen sie quantitativ noch so gewichtig sein – von derselben 195 Folkman, S./Lazarus, R. S./Scott, P., Age Differences in Stress and Coping Process, in: Psychology and Aging 2 (1987), 171 – 184. 196 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 71. 197 Ebd. 198 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 181. 199 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 72; so auch Saup, W., Alter und Umwelt, Stuttgart/Berlin/Köln (1993), 157. 200 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 71. So auch Moser, U., a.a.O., 110.
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qualitativen Bedeutung wie die zu Personen (Bekannten, Freunden, Zugehörigen) des einstigen Lebensumfeldes sind. Eine Reihe von Befunden legt vielmehr nahe, dass der Grad der Lebenszufriedenheit im Heim mit der Häufigkeit außerinstitutioneller Sozialkontakte zunimmt, während inner-institutionelle Bindungen nicht annähernd das Potenzial haben, dieselbe Lebenszufriedenheit zu bewirken.201 Zu den häufigsten Klagen im Pflegeheim gehört so auch die über fehlende oder unzureichende Kontakte zu den außerhalb des Heims lebenden Angehörigen oder Bekannten. Der Mangel an solchen Besuchen führt zu einem Gefühl abgeschoben, einsam oder bedeutungslos zu sein.202 Enge Beziehungen nach „draußen“ sind für eine gelingende Bewältigung der Heimübersiedlung auch deshalb erforderlich, weil die Umwelt der Pflegebedürftigen auf die räumlichen Grenzen der Einrichtung geschrumpft ist: Durchschnittlich 90 % der Zeit wird innerhalb des Heims verbracht, davon wiederum 67 % im eigenen Zimmer (10 % Tages- und Aufenthaltsraum, 9 % Korridore),203 für viele sogar im Bett. Die Beziehungspflege zu nicht im Heim Lebenden erhält vor diesem Hintergrund eine ganz neue Funktion im Sinne einer Erweiterung ihrer räumlich-sozialen ‚Umwelt‘ durch Repräsentanten der Welt vor den Toren des Heims. Im Rahmen der Frage der sozialen Kontakte sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Pflegebefohlene in Heimen nicht nur aufgrund gesellschaftlicher Einflüsse (wie eingangs skizziert) in der Gefahr der Isolation stehen, sondern ebenso aufgrund inner-institutioneller Mechanismen: Hinzuweisen ist auf das Phänomen der Schaffung einer Subkultur durch die Beschäftigten, „in der sie die schwerkranken oder behinderten Menschen ihrerseits isolieren“204, indem sie zwischen „drinnen und draußen“ trennen und eine – z.B. vor Kritik durch Angehörige oder die Gesellschaft schützende – Abschottung fördern. Dieses bewirkt unter anderem, „die eigene Arbeit und die Anstrengungen aufzuwerten, indem die MitarbeiterInnen sich als Beschützer der alten Menschen einordnen“205. Auch das vielfach beobachtete Klagen über die Schwere und Fülle der Arbeit kann vor diesem Hintergrund gesehen werden.206 Die regelmäßige sensationslüsterne Kritik der Medien an Missständen in Pflegeheimen (die unter 201 Vgl. Wahl, H.-W./Reichert, M., Psychologische Forschung in Alten- und Altenpflegeheimen in den achtziger Jahren. Teil 1: Forschungszugänge zu den Heimbewohnern, in: Zeitschrift für Gerontologie und –psychiatrie 4 (1991), 245. 202 Vgl. Moser, U., a.a.O., 127. 203 Saup, W., Altenheime als ‚Umwelten‘, in: Kruse, A../Wahl, H.-W., Altern und Wohnen im Heim, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle (1994), 56f. 204 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 143. 205 Ebd. 206 Ebd.
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Pflegenden – wie Koch-Straube es formuliert, geradezu eine Art „kollektives Schuldgefühl“ auslösen muss) tut wiederum das Ihre, Abschottungstendenzen zu begünstigen und einen Schutzmechanismus zu etablieren (die Pflegenden lassen sich nicht „in die Karten schauen“, verstehen sich selbst als „Experten“ bzw. „Expertinnen“ der Pflege usw.).207 Zu fragen ist, ob Alten- und Pflegeheime künftig in zunehmendem Maße, wie einige meinen, zu einer Wohnstätte für Kontaktarme, Entwurzelte, Alleinstehende und Desintegrierte mutieren werden.208 Eine derartige Entwicklung wäre aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Trends, wie z.B. Verstädterung, Kleinfamilie, Bevorzugung des Alleinlebens und ähnlicher Entwicklungen durchaus vorstellbar.209 Dieser Trend deutet sich bereits in dem oben angesprochenen Umstand an, dass schon jetzt ca. ein Drittel der in Heimen Lebenden selten oder nie Besuch bekommt.
8.2. Aktivitäten Im Pflegeheim Lebende unterscheiden sich in ihren Aktivitäten nicht grundsätzlich von Menschen gehobenen Alters, die nicht im Heim leben.210 Zu den mit Abstand häufigsten Tätigkeiten gehört mit 76,9 % der Fernsehund Radiokonsum.211 Im Pflegeheim trifft diese Beschäftigung auf ein Milieu der Passivität, wie es z.B. erkennbar wird im Bevorzugen des Aufenthalts im eigenen Zimmer, dem viel zu seltenen Verrichten grobmotorischer Tätigkeiten oder dem Mangel an sozialer Interaktion.212 In einem Kontext wie dem Pflegeheim vermag Radio- und Fernsehkonsum sicherlich keine Aktivität (oder gar Gemeinschaft) zu fördern, sondern vielmehr Passivität und Schläfrigkeit. Die unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf ein Radio oder einen Fernsehapparat im eigenen Zimmer führt (fast zwangsläufig) dazu, dass die Heimbewohnerinnen
207 Ehrenamtliche, die sich in Pflegeheimen engagieren und sich evtl. in einem Bereich betätigen möchten, der von den hauptamtlich Pflegenden nur unzureichend abgedeckt wird (z.B. Sterbebegleitung, seelsorgerliche Gespräche), werden nicht selten zunächst einen gewissen Widerstand vonseiten des Personals erleben, sei es aus einem Bedauern, selbst nicht genügend Zeit für diese Dinge zu haben, sei es aus einem Empfinden von Konkurrenz oder gar Furcht vor dem Einblick „hinter die Kulissen“. 208 Rieben, E., Kosten in der offenen und geschlossenen Altershilfe, Bern/Stuttgart (1982), D 15. 209 Ebd., D 16. 210 Vgl. Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 73f. + 153. 211 Ebd., 153. 212 Vgl. Saup, W., Alter und Umwelt, 158f.
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und –bewohner diese Geräte bevorzugt in ihren eigenen Räumen nutzen und zu diesem Zweck seltener oder gar nicht einen Gemeinschaftsraum aufsuchen.213 In vielen – zumal größeren – Pflegeeinrichtungen ist es üblich, die Zimmer und Flure mit Radioübertragungen oder Musik zu beschallen. Es ist zu fragen, welche Absicht damit verfolgt wird: Soll eine Anregung der Sinne erfolgen durch eine vermeintliche Vermeidung einschläfernder Stille? Oder soll durch die Dauerberieselung eine Schläfrigkeit begünstigt werden? Auch Schwerstpflegebedürftige, Bettlägerige und Sterbende sind solcher akustischen Berieselung ausgesetzt. Dabei wird die Bedeutung von Geräuschen bzw. einer indifferenten Geräuschkulisse gerade für Sterbende verkannt.214 Es wird nicht gesehen, dass sie eine/n Sterbende/n mitunter stören kann. Einen deutlich positiven Einfluss haben anregende Umweltbedingungen auf das Aktivitätsniveau Pflegeheimbefohlener:215 So wurden in einem Experiment Spiele und andere Materialien im Aufenthaltsraum ausgelegt und die Pflegebedürftigen animiert, davon Gebrauch zu machen. An anderen Tagen lag hingegen nichts aus. Es konnte beobachtet werden, dass es große Unterschiede hinsichtlich des Aktivitätsniveaus der Bewohnerschaft gab: An Tagen, an denen die Materialien auslagen, waren 74 % der Pflegebefohlenen mit irgendeiner Beschäftigung oder Aktivität befasst, während an jenen Tagen, an denen nichts auslag bzw. nach dem Material gefragt werden musste, nur 20 – 25 % in irgendwelche Aktivitäten involviert waren. Das Beispiel zeigt, wie sehr schon kleinste mikroökologische (räumliche, soziale, organisatorische) Bedingungen das Wohlbefinden, Aktivität oder Passivität deutlich beeinflussen können: „Durch mehrere empirische Forschungsarbeiten wird die Bedeutung von Anregung und Stimulierung aus der Umwelt für das individuelle Befinden unterstrichen. Bei einem Vergleich von drei unterschiedlich geführten Altenheimen konnte beobachtet werden, dass dort die geringsten psychischen Institutionalisierungsfolgen auftraten, wo „Wechsel“ statt „Gleichförmigkeit“ am stärksten ausgeprägt war. McClannahan ... machte durch ihre Interventionsstudie deutlich, dass durch anregende Bedingungen wie das Auslegen von Spielmaterialien im Altenheim die soziale Interaktion zwischen Heimbewohnern und ihr Aktivitätsniveau gefördert werden konnten“.216
213 Prahl, H.-W./Schroeter, K.R., Soziologie des Alterns, 181. 214 Vgl. Howe, J., Sterbebeistand, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 28 (1995), 254. 215 McClannahan, L.E., Recreation programs for nursing home residents, in: Therapeutic Recreation Journal (1973), 26 – 31, zit. in: Saup, W., Alter und Umwelt, Stuttgart/Berlin/Köln (1993), 159. 216 Saup, W., Alter und Umwelt, 86.
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9. Der Heimübergang Der folgende Abschnitt nimmt die spezifischen, in Zusammenhang mit der Übersiedelung in ein Pflegeheim stehenden Faktoren in den Blick.
9.1. Kennzeichnende Merkmale Es fällt auf, dass ein Großteil der Bewohnerschaft von Pflegeheimen direkt von einem Krankenhaus in die Pflegeeinrichtung wechselte. Nur 20 % der ins Heim Übersiedelnden kamen aus Privathaushalten, während die übrigen aus anderen Versorgungseinrichtungen wechselten, darunter 53 % aus Allgemeinkrankenhäusern, 25 % aus Altenwohn-einrichtungen.217 Ausschlaggebend für eine Verlegung ins Heim waren überwiegend gesundheitliche Gründe der Pflegebedürftigen.218 Der Wechsel in ein Heim erhält damit den Charakter einer Notfallreaktion, häufig mit entsprechenden – geschilderten – psychischen Auswirkungen. Er ist jedoch nicht nur durch medizinische Faktoren bestimmt, sondern ebenso von sozialen Gegebenheiten219 wie z.B. dem Familienstand, dem Geschlecht oder den Wohnverhältnissen. Der Familienstand spielt dabei eine erhebliche Rolle: Verwitwete, Ledige und Geschiedene sind in einem Pflegeheim deutlich überrepräsentiert. Einer Statistik aus Baden-Württemberg zufolge waren lediglich 4,3 % der weiblichen Bewohnerschaft sowie 4,5 % der männlichen verheiratet, obwohl der Anteil an der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung 19,7 % (Frauen) und 26,8 % (Männer) betrug.220 Die Wahrscheinlichkeit einer Heimunterbringung im Alter ist bei Unverheirateten demnach um ein 5,7-faches höher als bei Verheirateten, bei über 90-Jährigen sogar um ein 8,5-faches gegenüber den unter 70-Jährigen.221 Der Wechsel ins Pflegeheim resultiert demzufolge – wie bereits anklang – zum großen Teil aus einer schwachen sozialen Verankerung der Betroffenen. Verhältnismäßig früh wechseln jene in ein Altersheim, „die bereits im Leben draußen weniger integriert waren oder durch den Verlust des Partners entscheidende Hilfskontakte verloren“222. 217 218 219 220
Moser, U., a.a.O., 115. Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 41. Ebd., 42. Brandenburg, H., Soziologie des Heims, in: Kruse, A./Wahl, H.-W., Altern und Wohnen im Heim, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle (1994), 71. 221 Ebd. 222 Rieben, E., a.a.O., D 16.
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9.2. Verweilzeiten In pflegeorientierten Einrichtungen verstirbt jede fünfte Person innerhalb von sechs Monaten nach ihrem Heimeintritt.223 Es ist sogar davon auszugehen, „dass der Anteil der Personen, der bereits kurzfristig nach Übergang in das Heim verstirbt, stetig zunimmt“224. Es findet sich auch die Einschätzung, dass jeder zweite Pflegebedürftige innerhalb der ersten 75 Tage verstirbt.225 Eine Untersuchung aus dem Jahr 1983 kommt zu dem Ergebnis, dass von 317 Bewohnern eines Pflegeheims nach Ablauf eines halben Jahres jeder zweite verstorben war, davon 58 (also knapp 20 %!) bereits innerhalb des ersten Monats.226 Dieser Trend dürfte sich nicht zuletzt infolge der Wirkung der Pflegeversicherung noch verstärken. Auf jeden Fall ist mit einer erhöhten Mortalitätsrate in den ersten sechs Monaten nach Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung zu rechnen.227 Dabei ist natürlich, wie schon in anderem Zusammenhang zur Sprache kam, die große Vulnerabilität vieler Hochbetagter, die in einem Pflegeheim aufgenommen werden, zu berücksichtigen. Die hohe Mortalitätsrate in den ersten Monaten lässt sich sicherlich auch mit den häufig konflikthaften Übersiedlungs- und den völlig andersartigen Lebensumständen im Pflegeheim erklären, die ein Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit bei den Pflegebedürftigen begünstigen und zu deren Selbstaufgabe beitragen.228 Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Pflegeheimen, die statistisch jedoch nicht exakt ermittelbar ist229, kann mit etwa 36 Monaten angegeben werden.230 Das BMFSFJ geht von einer durchschnittlichen Verweildauer von 30 – 40 Monaten aus.231
223 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 45. 224 Ebd. 225 Meier-Baumgartner, H.P., Rehabilitation in Pflegeheimen, in: Kruse, A./Wahl, H.-W. (Hg.), Altern und Wohnen im Heim, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle, 126. 226 Mautner, S. L./Standl, A./Pillau, H., Wer überlebt im Pflegeheim? In: Zeitschrift für Gerontologie 26, 149-156. 227 Vgl. Saup, W., a.a.O., 148. 228 Saup, W., Alter und Umwelt, 148f. 229 Vgl. BMFSFJ, Erster Bericht, 108. 230 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 45. 231 BMFSFJ, Erster Bericht, 108.
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9.3. Heimeintrittsalter Das durchschnittliche Alter bei Eintritt ins Pflegeheim liegt bei 81232 Jahren, das Durchschnittsalter der Bewohnerschaft wurde im Jahr 2003 mit 82233 ermittelt.
9.4. Eingewöhnung und Bewältigungsmechanismen (Copingverhalten234) Der Prozess des Einlebens in die neue Lebenssituation kann, wie von einigen Fachleuten angenommen wird, nach verschiedenen Phasen ausdifferenziert werden.235 Die ersten Wochen stellen naturgemäß den kritischsten Zeitraum dar, in dem die entscheidenden Weichen für eine erfolgreiche Bewältigung (Coping) des Übersiedlungsprozesses und die Entwicklung eines „Heimurvertrauens“ gestellt werden und sich dementsprechend die Wahrscheinlichkeit erhöht, die nächsten zwölf Monate zu überleben.236 Die Pflegewissenschaft spricht vom First month syndrome in dieser Zeit, das sich ausdrückt in einer ausgeprägten Hoffnungslosigkeit, starker Präokupation mit dem eigenen Körper, Verminderung der Lebenszufriedenheit wie auch einer Erhöhung des Unfallrisikos (insbesondere beim Ins-Bett-Legen und Bettverlassen, der Benutzung der Toilette sowie der Nutzung von Stühlen).237 Der Psychologie sind folgende Bewältigungsstrategien der Übersiedlung in ein Heim bekannt:238 • Instrumentell-orientierte Strategien (z.B. Schwierigkeiten und Probleme mit den Zuständigen besprechen und lösen). • Affektive Strategien (Ärger ohne aktives Handeln). • Sozialer Rückzug. • Behaviorale Anpassung (widerspruchslose Anpassung ans Heimleben). • Kognitive Anpassung (Zurückstellen eigener Bedürfnisse). 232 Ebd. 233 Ebd., 100. 234 Der engl. Begriff Coping (von to cope = bewältigen, meistern, fertig werden) bezeichnet die Art und Weise der Bewältigung einer Krisensituation. 235 Vgl. Saup, W., a.a.O., 147f. 236 Kruse, A../Kröhn,R./Langerhans, G. et al. kommen in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die positive Verarbeitung des Heimzuzugs „als die vielleicht wichtigste Determinante für eine erfolgreiche ‚Heimkarriere‘“ anzusehen ist, in: Konflikt- und Belastungssituationen in stationären Einrichtungen der Altenhilfe und Möglichkeiten ihrer Bewältigung - Studie im Auftrag des BMFSFJ, Stuttgart (1992), 194. 237 Saup, W., a.a.O., 147. 238 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 179f.
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• Vergleich mit den Nachteilen des früheren Lebens („da hatte ich es nicht so gut“). • Evasives Verhalten (Konflikten aus dem Weg gehen u.a.). • Akzeptanz von Verlusten. • Vergleich mit anderen belastenden Lebenssituationen. • Einnehmen eines kompromisslosen Standpunktes. • Kolonialisierung (die vorhandene Außenwelt wird ignoriert und das Heim als seine ganz eigene Welt betrachtet). • Umwandlung/Conversion (das Urteil der Außenwelt über die eigene Person wird übernommen bei gleichzeitigem Bemühen, die Erwartungen anderer (des Heims) zu übernehmen. Der Zusammenhang zwischen Bewältigungsverhalten und Überlebenswahrscheinlichkeit ist bislang nur unzureichend erforscht, einige Untersuchungen geben jedoch erste Anhaltspunkte: Eine besondere Bedeutung scheint in einer Strategie zur Regulierung von Privatheit zu liegen. Es konnte beobachtet werden, dass diejenigen, die rasch eine räumliche Distanz zu anderen Heimbewohnern entwickelten, höhere Überlebenschancen hatten als jene, welche zu einem solchen raumbezogenen Bewältigungsverhalten nicht in der Lage waren.239 Übersiedelnde, die vor ihrer Heimaufnahme als energischer und aggressiver beschrieben wurden, haben demzufolge eine ebenfalls höhere Wahrscheinlichkeit, die ersten zwölf Monate im Heim zu überleben als Personen mit passiver Persönlichkeit.240 Auch wird die Heimübersiedlung besser bewältigt von Menschen, die durch ein Akzeptieren von Verlusten geprägt wurden.241
9.5. Auswirkungen von Institutionalisierung Die psychischen Auswirkungen eines Wechsels ins Pflegeheim sind erheblich und mit einem Kulturschock vergleichbar. Da eine (zumeist unfreiwillige) Verlegung des Lebensmittelpunktes242 – nicht selten nach Jahrzehnten eines Lebens in derselben Wohnung – mit einem erheblichen Stressfaktor belegt ist243, begegnet sehr häufig Heimweh, unabhängig von der Dauer des Heimaufenthal239 240 241 242
Saup, W., a.a.O., 147. Ebd. Ebd., 147f. Grond geht davon aus, dass etwa 60% der in ein Heim Wechselnden unfreiwillig dorthin verlegt werden, vgl. Grond, E., Die Pflege verwirrter alter Menschen, Freiburg (1988, 4. Aufl.), 218. 243 Vgl. Tobin, Sh. et al., Last Home for the aged : Critical Implications of Institutionalization, San Francisco (1976).
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tes. Auch Verwirrtheit ist eine häufige Schutzreaktion auf den Stress des Wechsels.244 Eine erhebliche Verlusterfahrung ist zu verkraften: Der „alte verpflanzte Baum“ muss sich in einer neuen Umwelt einleben, was nur schwer gelingt. Alten Menschen, die im Alter zunehmend zurückgezogen oder gar isoliert gelebt haben, fehlt es oftmals an Konflikt- und Verbalisierungsfähigkeit, um die neue Situation zu bewältigen. Dies wird noch erschwert, wenn die Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt ist durch (altersbedingte) Gebrechen wie Schwerhörigkeit, Sprachstörungen, Parkinson usw. Vielen kommt beim Wechsel ins Heim zu Bewusstsein, dass die neue Umgebung „Endstation“ ist. Das beängstigt und macht traurig.245 Der Umzug bringt einen Verlust von Rollen und Verantwortlichkeiten mit sich, über die der Mensch sich bisher definierte.246 Der Verlust über die Kontrolle des Körpers, die eigene Zeit, die Umwelt, das Eigentum, der Verlust an Lebensqualität, Individualität oder von Vertrautem, machen das Eingewöhnen in die neue Umgebung zu einer nur schwer zu bewältigenden Aufgabe.247 Die Heimbewohner werden vor allem wahrgenommen als defizitäre Wesen und reduziert auf die Pflegebedürftigkeit (Rollenfestlegung), was das Empfinden von Selbstwert reduziert.248 Selbst ein übermäßig guter Wille des Pflegepersonals, den Anbefohlenen das Beste angedeihen zu lassen, kann sich im pflegerischen Setting negativ auswirken: Unter dem Stichwort ‚Overcare‘ und ‚Infantilisierung‘ verbergen sich Phänomene wie ‚Überpflege‘, ‚patronisierendes Verhalten‘, ‚Beförderung der Passivität und Abhängigkeit‘, oder ‚Unterforderung‘ des anvertrauten Menschen.249 Die Folge kann ein Verlernen von Eigenverantwortung, Selbstständigkeit, sozialer Fähigkeiten sowie von Aktivität und Initiative sein.250 Dabei steht abhängigkeitsförderndes Verhalten in einem proportionalen Verhältnis zu einem primär auf Management und Körperpflege ausgerichteten 244 Grond, E., Die Pflege verwirrter alter Menschen, 218 – 222. Der Autor geht davon aus, dass „ein Drittel der unfreiwillig Eingewiesenen mit Verwirrtheit“ reagiert, vgl. 218. 245 Vgl. Kemper, J., Alternde und ihre jüngeren Helfer, München (1990). 246 Vgl. Funk, L., Hilfsbedürftige und Helfende, Freiburg (1983). 247 Vgl. Wilcox, J.R., et al., Communication in nursing homes, in: Carmichael/Botan/Hwakins, Human Communication and the aging process, Prospect Heights (1988). 248 Vgl. Schmitz-Scherzer, R., Pflegebedürftigkeit oder die mangelnde Berücksichtigung der Potenziale und Kompetenzen von kranken älteren Menschen, in: Zeitschrift für Gerontologie, 23 (1990), 284 – 287. 249 Vgl. Whitbourne, S. K./Wills, K.-J., Psychological issues in institutional care of the aged, in: Holdsmith, S. (Hg.), Long-term care administration handbook, Gaithersburg (1993), 19 – 32. 250 Vgl. Matthes, W., Fördern durch Fordern: Aktivierende Pflege vermeidet ‚hausgemachte Hilflosigkeit’, in: Altenpflege, 12 (1989), 705 – 710.
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Heim, d.h., es ist häufiger anzutreffen in Einrichtungen, die auf Pflegebedürftige spezialisiert sind, während in Alteneinrichtungen mit Mischform (Pflege und Wohnen) oder vorrangiger Wohnorientierung einer Alteneinrichtung dieses Phänomen seltener begegnet. Diese Tatsache ist leicht zu erklären, da die Passivität der Bewohnerschaft die Reibungslosigkeit sämtlicher institutioneller Abläufe begünstigt.251 Eine Untersuchung aus dem Jahr 1986 förderte so auch zutage, dass in deutschen und US-amerikanischen Pflegeheimen unabhängigkeitsförderndes Verhalten am seltensten begegnet.252 Das Phänomen ‚Overcare‘ steht in einer Wechselwirkung zu dem der ‚Infantilisierung‘, was die Gleichsetzung und Gleichbehandlung alter Menschen mit Kindern bedeutet. Es überrascht, dass viele Pflegekräfte dazu stehen, die alten Menschen entweder routinemäßig oder doch bei bestimmten Anlässen wie Kleinkinder zu behandeln.253 Diese Behandlung lässt sich in vielen Bereichen des Heimlebens beobachten und reicht von der Kleidung (Schleifchen im Haar), den Freizeitangeboten (Malen, Basteln), der Gestaltung der Räume (Mobiles; überfrachtete Weihnachtsdekoration; Tierbildchen an den Wänden) bis hin zur Sprache der Pflegenden, die Sachweh254 in einer linguistischen Arbeit eingehend untersucht. Für das Auftreten von Infantilisierung in Einrichtungen der Altenhilfe lassen sich vor allem zwei Erklärungen finden: Zum einen ergeben sich für Pflegende Assoziationen mit Kleinkindern fast von selbst, da sie die hilfebedürftigen alten Menschen in den seltensten Fällen noch als selbstständige und kompetente Erwachsene erlebt haben. Zum andern wird nicht selten auch die (bewusste) Überzeugung vertreten, in Alteneinrichtungen Lebenden würde eine solche
251 Vgl. Whitbourne, S. K. et al., Infantilization of the elderly: consequences and interventions, Washington (1992). 252 Vgl. Baltes, M. et al., Further observational data on the behavioral and social world of institutions for the aged, in: Psychology and aging, 2 (1987), 390 – 403; so auch Kruse, A./Wahl, H.-W., Entwicklungen in der stationären Altenarbeit, in: Altern und Wohnen im Heim, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle (1994), 239f. Auch der Vierte Altenbericht der Bundesregierung weist auf diverse Untersuchungen hin, die „große Schwierigkeiten im Umgang mit der Selbständigkeitsförderung“ belegen. „Pflegenden ... fällt es offensichtlich leichter, sich unselbstständigkeitsfördernd als selbstständigkeitsfördernd zu verhalten“, 277, Sp. 1. Eine Begründung dafür dürfte darin liegen, dass sich viele Pflegeheime noch immer „offen oder verdeckt ... am längst widerlegten Defizitmodell orientieren“, so Prahl, H.-W./Schroeter, H.R., Soziologie des Alterns, 170. 253 Vgl. Ransen, D.L., Some determinants of decline among institutionalized aged: Overcare, in: Cornell Journal of Social Relations, 13 (1978), 61 – 74. 254 Vgl. Sachweh, S., a.a.O., insbesondere das Kapitel 4.3 ‚Secondary Baby Talk‘, 145 ff.
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Behandlung guttun, was nach meiner Wahrnehmung für einen Teil der Pflegebefohlenen durchaus zutrifft.255 Weitere Auswirkungen auf die psychische Verfassung gehen von der Reizarmut und Langeweile in den Heimen, sowie der übermäßigen Passivität des Daseins aus.256 Die Bewohnerschaft eines Heims ist nur unzureichend beschäftigt, und die wenigen angebotenen Aktivitäten sind häufig fremdbestimmt.257 Das soziale Umfeld der Bewohnerschaft beschränkt sich vor allem auf Mitbewohner und –bewohnerinnen oder das Personal,258 Kontakte zur Außenwelt sind viel seltener. Das Empfinden von Isolation ist weit verbreitet. Es begegnet ein starker Anpassungs- und Unterordnungsdruck, auch Ohnmachtsgefühle, angesichts der ausgesprochenen oder latent vermittelten Erwartungen des Heims, sich anzupassen (an die Gemeinschaft, den Lebensrhythmus, die Heimregeln usw.).259 Ein weiterer negativer Effekt der Heimunterbringung liegt darin, dass im Heim Lebende im Gegensatz zu alten Menschen in Privathaushalten „kein Verantwortungsgefühl in der Umwelt hervorrufen“260, weil die Umwelt die Gepflegten gut versorgt wähnt. Damit erhöht sich die Gefahr des Nachlassens oder Abreißens bisheriger Beziehungen. Isolation und damit einhergehende Gefühle von Einsamkeit sind die Folge. Institutionalisierung bringt auch die Gefahr eines beschleunigten Verlustes des Identitätsgefühls mit sich, da durch den Einzug ins Heim die Zahl wichtiger Repräsentanzen des vergangenen Lebens, die zum Erhalt der Identität beitrugen (Raum, Bilder, Einrichtungsgegenstände, Accessoires)261, stark dezimiert ist. Es können aber auch positive Institutionalisierungseffekte benannt werden: Für isoliert oder vereinsamt Lebende kann ein Heimeintritt eine wünschenswerte Erweiterung ihrer sozialen Kontakte sein. So begegnen in der Heimseelsorge immer wieder Menschen, die sich aus einem solchen Grund ganz bewusst zu
255 Eine viel geführte Diskussion in Pflegeheimen beschäftigt sich mit der Frage, ob die Bewohnerinnen und Bewohner des Heims mit dem Vornamen angesprochen werden sollen. Wie ich immer wieder erleben konnte, geht eine solche Initiative durchaus von den Pflegebefohlenen aus und bringt das Personal in Verlegenheit, wenn dieses durch Vorgaben der Einrichtungen angewiesen ist, die Pflegebefohlenen zu siezen. 256 Vgl. Funk, L., a.a.O. 257 Vgl. Voss, H., Motivation und Organisation im Altenheim, Hannover (1990). 258 Vgl. Funk, L., a.a.O. 259 Vgl. Braun, U./Halisch, R., Lehrbuch der Altenpflege, Hannover (1989). 260 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 133, Sp. 2. 261 Blimlinger, E./Ertl, A./Koch-Straube, U./ Wappelshammer, E., Lebensgeschichten. Biographiearbeit mit alten Menschen, Hannover (1996, 2. Aufl.), 3.
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einem Umzug ins Heim entschieden haben. Dasselbe Motiv führt mitunter zur Bevorzugung eines Zwei-Bett-Zimmers. Für manchen Pflegebefohlenen kann das Wissen um die mit der Heimunterbringung einhergehende Entlastung der Angehörigen ebenfalls zu einer Entlastung werden („man möchte niemandem zur Last fallen“).262 Mancher erhofft sich eine Entlastung bei beschwerlichen Aktivitäten wie Einkaufen, Treppensteigen, Arbeiten im Haushalt oder die Wiedererlangung verloren gegangener Fertigkeiten durch regelmäßiges Arbeiten mit professionellen Kräften. Gewiss hängt die Wirkung eines Wechsels in ein geschlossenes („totales“) System wie das Pflegeheim ganz entscheidend auch von der Persönlichkeit des Einzelnen ab und von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe,263 der ein pflegebedürftiger Mensch angehört.
10. Kommunikation in der Altenpflege Pflegeheime zeichnen sich durch eine bestimmte – von vielen gefürchtete – Atmosphäre aus, in der auf charakteristische Weise kommuniziert bzw. nicht (mehr) kommuniziert wird und als „allgemeine Gedämpftheit“264 beschrieben werden kann: Ruhe, Stille, Bewegungslosigkeit, stummes, in sich gekehrtes, dösendes oder schlafendes Beieinandersitzen, oft mit hängendem Kopf, kennzeichnet viele Pflegeeinrichtungen.265 Dabei handelt es sich nicht um eine Ausnahme, sondern um eine für den stationären Bereich typische Erscheinung. Es kann regelrecht von einer „kommunikationsfeindlichen Umgebung“266 gesprochen werden, die die Passivität des Daseins, das Verkümmern des Verbalen und das Verstummen befördert. Untersuchungen, die nicht unter der speziellen Fragestellung der Kommunikation durchgeführt wurden, bestätigten eine „karge Kommunikation“, die u.a. durch eine „zügige Versorgung“ der Pflegebedürftigen bedingt sei, die nicht viel Raum für einen wirklichen Dialog lasse.267 Bei Pflegebefohlenen, die in eine stationäre Einrichtung übersiedeln, ist oft ein erschreckend rasanter Verfall zu beobachten, der auch vor dem verbalen 262 Schneekloth, U./Müller, U. ermittelten, dass bei 11% aller Personen, die in ein Pflegeheim übersiedelten, dieses Motiv ausschlaggebend war; vgl. Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 41. 263 Näheres zum Zusammenhang von Bewältigung der Heimsituation und sozialer Stellung bei: Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 187f. 264 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 70. 265 Ebd., 68. 266 Sachweh, S., a.a.O., 48. 267 Klie, T./Pfundstein, T./Stoffer, F.J., a.a.O. 64f.
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Sprechen nicht halt macht. Pastorin Pape, eine der fünf begleiteten Seelsorgerinnen dieser Untersuchung, spricht von einem „inneren Rückzug“ und einer gewissen „Teilnahmslosigkeit“ Pflegebedürftiger in Heimen.268 Tatsächlich ist das charakteristische Verstummen Pflegebefohlener in stationären Einrichtungen mit einer „Flucht in einen inneren Raum, in dem die BewohnerInnen sich vor den Zugriffen, Einblicken und Manipulationen der anderen .... schützen können“269, gut erklärbar. Da die Pflegebefohlenen sich physisch und psychisch ständig „entblößen“ müssen und sich der „Kontrolle der anderen“ kaum entziehen können, bleibt ihnen als einzige Möglichkeit des Schutzes der Rückzug270 oder die Regression.271 Zur Kommunikation in Institutionen272 lässt sich sagen, dass sie „in jedem Fall Arbeitscharakter“ hat. Sie ist bestimmt durch die Pflege und die Reihenfolge der alltäglichen pflegerischen Verrichtungen wie Aufstehen, Körperpflege, Anziehen, Toilettengang usw. Kennzeichnend für institutionelle Kommunikation sind Tendenzen der Depersonalisierung, Anonymisierung, Ritualisierung bzw. Formalisierung sowie Rationalisierung und Harmonisierung, welche eine Folge des Bemühens der Institution um Objektivität und Rationalität sind. Auch das Bestreben, Aggressionen und andere Emotionen zu unterbinden, begünstigt die besagten Kennzeichen institutioneller Kommunikationsweisen. Die Gesprächsführung liegt zumeist – abhängig vom Grad der geistigen Wachheit eines Pflegebedürftigen – in der Hand der Pflegenden. Zur Kommunikation in der Altenpflege lässt sich feststellen, dass Pflegebedürftige in Heimen mit mindestens drei Kommunikationshemmnissen zu kämpfen haben: Mit altersbedingten Verschlechterungen der Sinnesorgane bzw. Reduktion der vorhandenen Kommunikationskanäle (Altersblindheit, Schwerhörigkeit); mit einer Isolierung von der Umwelt durch den Wechsel ins Pflegeheim (geringere Anzahl und Verschiedenheit potenzieller Gesprächspartner); mit selbstregulativen Konventionen, die in einem Pflegeheim gelten. Letztgenanntes bezeichnet heimspezifische Kommunikations- und Interaktionsregeln, die sich den Pflegebedürftigen auf subtile Weise durch Personal oder andere Pflegebefohlene vermitteln und Einfluss nehmen auf die eigene kommunikative Disposition. Kommunikation im Pflegeheim wird ebenfalls behindert durch fehlende Privatsphäre, Anpassung an die Rolle eines Pflegebedürftigen, Passivität und 268 269 270 271 272
Vgl. II.C.1.b. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 71. Ebd. Ebd., 82. Zum Folgenden vgl. Sachweh, S., a.a.O.
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unausgesprochene Regeln, die von den Pflegekräften aufgestellt werden mit dem Anspruch, der Pflege dienlich zu sein. Pflegebefohlene „unterwerfen sich in der Regel auch in kommunikativer Hinsicht der ihnen auferlegte passive Rolle“ und warten auf Signale bzw. Initiativen durch die Pflegenden, ob diese kommunikationsbereit sind, Interesse haben oder eine freundschaftliche Beziehung suchen. Sie bleiben abwartend, statt selbst initiativ zu werden. Die in Pflegeeinrichtungen Lebenden vermeiden häufig die Kommunikation mit anderen Heimbewohnerinnen und –bewohnern, z.B. aus Prestigegründen, da sie sie nicht für „ebenbürtig“ halten („Langweiler“, „Tratschtanten“, „Alte“). Pflegebedürftige in Heimen wollen lieber mit „normalen“ Leuten kommunizieren, die interessant sind, Zeit haben und aktiv zuhören. Eine Beobachtung aus dem Jahr 1968 konnte in späteren Untersuchungen der Jahre 1994 und 1996 bestätigt werden:273 Viele Bewohnerinnen und Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen dösen lieber den ganzen Tag oder stieren ins Leere, als sich mit anderen zu unterhalten. Im Laufe der Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung lernen die dort Versorgten, „ihre kommunikativen Erwartungen erheblich zu bescheiden“, auch weil es in der Regel an geeigneten Räumlichkeiten für ungestörte Unterhaltungen fehlt. Aus Angst, Besprochenes könne weitergetragen oder belauscht werden, finden viele Gespräche häufig nur sehr kontrolliert statt. Stereotypie und knappes Reagieren auf Gesprächsangebote sind eine naheliegende Folge solcher Befürchtung. Stationär Betreute sind sich zudem „in hohem Maße“ der heiminternen Kommunikationsregeln bewusst, die bestimmen wo, wann, mit wem und welcher Art kommuniziert werden darf. Vier Konversationsmaximen scheinen in Pflegeeinrichtungen häufig wirksam zu sein: Es wird von den Pflegebefohlenen erwartet, sich nicht zu beklagen oder das Heim zu kritisieren; Kommunikation mit dem jeweils anderen Geschlecht soll unterbunden bzw. kurz und formal gehalten werden; Einsamkeit, Sterben und Krankheit sind tabu; vor allem sollen die Betreuten nicht zu viel reden. Schweigen im Pflegeheim kann aus der Sicht von Pflegebefohlenen auch dazu dienen, geistige Selbstbeherrschung und Regheit zu demonstrieren, da Gesprächigkeit im Heimkontext von der Bewohnerschaft oft als Zeichen fortgeschrittener Senilität interpretiert wird. Eine selbstauferlegte Abstinenz der Kommunikation soll demnach deutlich machen, dass der schweigsame Mensch noch nicht zu den „Senilen“ gehört. Einige wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Gesprächsthemen institutionalisierter Menschen: Lubinski meint, Gespräche im Heim seien für die meisten wenig bedeutungsvoll, da Unterhaltungen mit Personal und anderen Pflegebefohlenen nur eine sehr begrenzte Anzahl von eher uninteressanten Themen zulasse. Zudem gebe es 273 Vgl. ebd.
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ohnehin nicht viel zu reden, so dass man sich an neutrale, „sichere“ Themen halte, wie z.B. das Essen, über das sich trefflich klagen oder streiten lasse. Der Sozialpsychologe Nussbaum hingegen ist der Ansicht, die Gesprächsthemen institutionalisierter und nicht institutionalisierter Menschen seien identisch und umfassten bei beiden Personengruppen typischerweise die Bereiche Familie, Religion, persönliche Probleme und die Vergangenheit. Die von ihm angeführten Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein wichtiger Faktor für das Kommunikationsverhalten von Menschen in Heimen auch die „Unternehmenskultur“ bzw. „Kommunikationspolitik“ einer Pflegeeinrichtung ist. Mit anderen Worten: Die Kommunikation innerhalb einer Pflegeeinrichtung wird maßgeblich durch das (Pflege-)Personal beeinflusst, welches wiederum durch Kurse, Schulungen, Supervision, aber auch durch institutionelle Vorgaben usw. in seiner kommunikativen Kompetenz gefördert wird bzw. mangelnde Kompetenz besitzt, wenn solche Maßnahmen nicht gefördert werden. In der Art, wie das Personal kommuniziert, spiegelt sich somit auch etwas von der Philosophie eines Pflegeheims. Wünschenswert für eine begrüßenswerte Kommunikationskultur wäre insbesondere ein Abgehen von pflegehandlungszentrierter Kommunikation zwischen Pflegenden und Gepflegten, wie sie in vielen Einrichtungen praktiziert wird. Dermaßen eingeschränkte Dialoge zwischen Pflegenden und Gepflegten sind nicht geeignet, ein Vertrauen zu den Pflegekräften wachsen zu lassen, welches aber die Grundlage für Gesundheit und Lebenszufriedenheit der pflegebedürftigen Menschen bildet. Bezüglich des kommunikativen Verhaltens der Pflegekräfte führt Sachweh ebenfalls zahlreiche Untersuchungen an. Demnach werden Gespräche dem Umfang und der Häufigkeit nach begrenzt, aus Zeitgründen und anderen Motiven vermieden und sind in der Regel als oberflächlich und bedeutungslos zu beschreiben. Institutionstypische Kommunikationsweisen lassen sich im Pflegeheim gut beobachten, insbesondere Fokussierung auf die Pflege (pflegebegleitende Kommunikation). Je weniger eine Person pflegebedürftig ist, desto mehr Raum bleibt für ein nicht aufgabenfokussiertes Gespräch. Es ist in der Pflege ein „ökonomischer Sprachstil“ zu beobachten, der Aushandlungen mit den Hilfsbedürftigen (Verhandeln, Abwägen, Diskutieren) oder offene Fragen (aus Zeitgründen) vermeidet und bevorzugt Routinefragen oder oberflächliche, nicht heikle Themen anspricht. Dabei ist, wie eine Untersuchung hervorhebt, das Pflegepersonal „um eine stets gleichbleibende Fröhlichkeit bemüht“. Eine Auffälligkeit der Kommunikation zwischen Pflegenden und Gepflegten zeigt sich auch darin, dass die Pflegenden „gegenüber den alten Menschen wenig Persönliches von sich preisgeben“. Einige Untersuchungen meinen, dies lasse sich vor allem mit einem mangelnden Interesse an den Pflegebefohlenen erklären, obwohl das Pflegepersonal durchaus versuche, Respekt zu signalisieren. Ein 71
Hindernis gelungener Kommunikation in der stationären Altenhilfe ist ein unzureichendes Wissen – insbesondere weniger gut ausgebildeter Pflegekräfte – über kommunikative Prozesse. Eine Paradoxie kann beobachtet werden: In einer Befragung von Pflegehelferinnen gaben diese an, der größte Teil der demenzkranken Betreuten sei nicht mehr in der Lage, einem Gespräch zu folgen, so dass mehr als 60 % der Kommunikation in der Einschätzungen der Pflegenden aus Grußfloskeln bestünden. Andererseits waren dieselben Pflegekräfte davon überzeugt, ihre Gespräche mit den Pflegebedürftigen nähmen einige Stunden der gesamten Arbeitszeit in Anspruch und seien zudem noch als „effektiv oder gar sehr effektiv zu bezeichnen“. Hier zeigt sich ein gewisser Widerspruch, auch wird eine Diskrepanz deutlich zwischen Selbstwahrnehmung und dem, was Untersuchungen zum Kommunikationsverhalten zutage fördern. Sinnvoll wäre deshalb m.E. eine Supervision von Pflegekräften, die es erlaubt, die tatsächliche Verhaltensweise zu reflektieren. Eine weiteres Hindernis für die Kommunikation ist, wie einige Untersuchungen hervorheben274, darin zu finden, dass die Pflegeeinrichtung für die Bewohnerinnen und Bewohner der einzige, letzte Lebensraum, ein Zuhause ist, für das Pflegepersonal jedoch nur ein Arbeitsplatz. Das Interesse der Pflegebefohlenen an den Pflegekräften kann somit eher als ein „existenzielles“ bezeichnet werden, während die Betreuten für das arbeitende Personal nicht dieselbe Bedeutung haben. Bisweilen gehen Pflegekräfte auch davon aus, die alten Menschen würden sich nicht mehr für Geschehnisse außerhalb des Heimes interessieren. Auch kann gelegentlich beobachtet werden, dass vom Personal in Anwesenheit eines/einer Pflegebedürftigen in der dritten Person über sie gesprochen wird. Es kommt vor, dass Willensäußerungen Dementer „systematisch missachtet“ werden in Heimen, in denen typischerweise Institutionen-Deutsch gesprochen wird (z.B. „Inkontinenzfall“, „Gerontos“, „Abgang“ [= Verstorbene/r]). Die Anrede stellt ein besonders heikles Thema der Kommunikation im Pflegeheim dar, wie sich bei Besuchen leicht beobachten lässt. Viele Einrichtungen versuchen deshalb durch Weisungen die Mitarbeiterschaft diesbezüglich zu regulieren, da eine Vielzahl von Irritationen und Missverständnissen möglich ist. Pflegebefohlene in Heimen werden z.B. aus Unsicherheit oft nicht namentlich angesprochen. Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pflegen wiederum die betreuten alten Menschen zu duzen bzw. mit dem Vornamen anzusprechen, vermutlich um eine vertraute, familiäre Atmosphäre zu schaffen oder Solidarität zu kommunizieren. Die Gefahr besteht jedoch, dass diese Form der Anrede als Respekt- oder Distanzlosigkeit erscheint. Auch der Gebrauch des Kranken274 Vgl. ebd.
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schwestern-Wir kann zu unterschiedlicher Interpretation Anlass geben und unterschiedlichen Motiven entspringen: Untersuchungen zu diesem Sprachgebrauch275 zeigen sowohl eine inklusive als auch exklusive, eine solidarische und nicht solidarische Verwendung des ‚Wir‘. Auch eine Gebrauchsweise, die mit dem Widerstand Pflegebefohlener gegen die institutionelle Routine rechnet, lässt sich nachweisen: Indem der Schein einer gemeinsamen Situation mit gemeinsamen Interessen geweckt und ein liebevoller Ton gebraucht wird, werden die tatsächlichen Machtverhältnisse verdeckt, nicht jedoch die Ohnmacht der versorgten Menschen verringert. Immer wieder begegnen in der Interaktion Pflegebefohlenen somit auch autoritäre Kommunikationsweisen. Sprechen mit Schwerhörigen wie mit Senilen, Baby-Talk mit Dementen und häufig vorkommendes patronisierendes Sprechen sind in der Altenpflege regelmäßig zu beobachten. Sprachliche Strategien, negativen Gefühlsäußerungen oder Klagen der Pflegebedürftigen auszuweichen, sind ebenfalls bekannt, wie z.B. Entpersonalisierung: Die Äußerungen werden als typisch für alle Alten/Pflegebedürftigen hingestellt und damit in ihrer Bedeutung geschmälert. Sachweh fasst die Befunde der unterschiedlichen (zumeist aus dem angelsächsischen Sprachraum stammenden) Untersuchungen dahin gehend zusammen, dass „weltweit bis in die 90er Jahre hinein das Bestreben, vor allem von der Seite der institutionellen Verwaltung und Leitung aus, eher der Vermeidung denn der Förderung von Kommunikation galt“. Es gibt viele Gründe für die Annahme, die Situation habe sich seitdem nicht wesentlich geändert, wenngleich Beiträge, wie z.B. Sachwehs, zweifellos einen Einfluss auf die Ausbildung von Altenpflegerinnen und -pflegern und in stationären Einrichtungen Tätigen ausüben. Zudem ist zu berücksichtigen, dass viele der kommunikationsfeindlichen Hemmnisse, wie sie in den angeführten Beobachtungen zur Sprache kommen, zu einem erheblichen Teil durch Zeit- oder Personalmangel, strukturelle Widrigkeiten, Ausbildungsdefizite, aber auch durch Stereotypien, Einstellungen zu Alten und Pflegebedürftigen usw. bedingt sind. So dürfte die Einschätzung von der „kommunikationsfeindlichen Umgebung“ von Pflegeheimen selbst dann noch Gültigkeit haben, wenn sich ein stärkeres Bewusstsein und eine größere Kenntnis kommunikativer Prozesse in der Altenpflege durchgesetzt haben sollten. Nach wie vor begegnet deshalb die These von der auch die Beschäftigten „stumm“ machenden Pflege oder von einer „institutionellen Aphasie“, die u.a. durch die Faktoren ‚Hierarchie‘, ‚Konkurrenz‘, ‚Arbeitsteilung‘ oder ‚Erschöpfungs- und Frustrationsregression‘ bedingt sei.276 275 Vgl. ebd. 276 Vgl. Rudnitzki, G./Voll, R., Institution als Tagesveranstaltung. Erfahrung im Spannungsfeld zwischen aktuellem Auftrag und der Aphasie in Institutionen, in: Gruppen-
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Je älter ein Mensch ist, desto häufiger greift er zudem auf die Vergangenheit, das „Früher“ zurück, denn „ansprechbar bleibt am längsten, was Kontinuität bis in die Kindheit, also auch die frühe Sozialisation aufweist“277. Dies gilt für Orientierte wie Verwirrte gleichermaßen. Selbst der stufenweise Abbau vom ganzen Satz zu Zwei-, schließlich Ein-Wort-Äußerungen und die Zunahme vorsprachlicher Ausdrucksformen wie Schreien, Lallen oder Laute-von-sichGeben bei Dementen können verstanden werden als eine Rückkehr zu frühkindlichen Kommunikationsformen. Der Abbau der verbalen Möglichkeiten verhält sich dabei spiegelbildlich zum kindlichen Funktionserwerb.278 Parasprachliche Faktoren wie Stimmqualität, Sprechmelodie, Sprachtempo, aber auch nonverbales Verhalten wie Mimik, Gestik, Nähe- und Distanzverhalten gewinnen so eine ganz neue Bedeutung für die Interaktion mit Menschen, deren verbale Kommunikation beeinträchtigt ist. Zugleich kommt dem Haptischen damit eine wichtige (neue) Bedeutung auch für das Verstehen zu.279 In der Kultur des Pflegeheims kann ein weiteres bemerkenswertes sprachliches Phänomen registriert werden: Neben dem Nachlassen der verbalen Kommunikation bzw. ihrem völligen Verstummen kommt es häufig zu einer „religiösen Sprache des Alters“ sowie einer Symbolsprache Sterbender.280 Alte Menschen bedienen sich religiöser Sprache demnach nicht deshalb, weil sie im Alter kirchlicher/religiöser werden, sondern weil sich ihr Erleben zunehmend „Bereichen annähert, die nicht benennbar sind, sprachlos machen oder für die zumindest jede Einübung in sprachliche Handhabung fehlt“281. In Krisen- und Grenz-
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psychotherapie und Gruppendynamik (1991), Heft 27, 141 – 152; vgl. auch Gröning, K., Entweihung und Scham, 109ff. Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters, in: Uni-Magazin – Die Zeitschrift der Universität Zürich, 1/1999, 3. Aus der Perspektive ethnologischer Beobachtung schreibt Koch-Straube: „Die BewohnerInnen fühlen sich den Anforderungen und der Komplexität der Situation nicht mehr gewachsen, sie ziehen sich in sich zurück, sie regredieren: Sie phantasieren sich in frühere Lebensphasen, sie verhalten sich teilweise, als ob sie das Erwachsensein weit hinter sich gelassen hätten. Sie kehren in ‚frühere Entwicklungsformen des Denkens, der Objektbeziehungen und der Strukturierung des Verhaltens’ (Laplanche) zurück“, Fremde Welt Pflegeheim, 82. Vgl. Depping, K., Altersverwirrte Menschen seelsorgerlich begleiten, Hannover (1997, 2. Aufl.), 33. Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters, 4. Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters; auch Söhngen verweist auf die Symbol- und Signalsprache Kranker, vgl. Söhngen, M., Ziele, Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge in der Gerontopsychiatrie, in: Praktische Theologie, 1997, 275; vgl. auch Lückel, K., Begegnung mit Sterbenden, Gütersloh (2001, 5. Aufl.). Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters, 2.
situationen brechen im Menschen anscheinend „tiefere Sprachschichten unversehens auf“282. Die herkömmliche, alltägliche Sprache reicht dann nicht mehr aus, um unter krisenhaften Bedingungen die innere Befindlichkeit und das Erleben auszudrücken. Eine neue Ausdrucksweise ist vonnöten und wird von Alten und Sterbenden gefunden. Bei Sterbenden zeigt sich oftmals eine Vermischung symbolischer und nicht-symbolischer, religiöser und profaner Sprache. Alltägliches wird zum Symbol, Profanes zum Gleichnis, damit dem Unfassbaren, Ungewissen und Unsagbaren283, für das es keine originäre Sprache gibt, Ausdruck verliehen werden kann, wie ich an einigen Beispielen veranschaulichen möchte:284 Da klagt etwa ein Sterbender, er werde mit seinem Kohlevorrat nicht über den Winter kommen; ein anderer insistiert, die Bäume im Garten müssten unbedingt gefällt werden, es sei an der Zeit; jemand fürchtet sich vor Inflation und Geldverlust; der Wunsch wird bekundet, unbedingt noch eine weite Reise zu machen – nach Jerusalem!; eine sterbende Frau beginnt, nach ihren Hundertern – also den größeren Geldscheinen – zu suchen; eine andere Frau spricht vom Essen und regt die Krankenhausseelsorgerin an, ihr eine Birne in feine Scheibchen zu schneiden. Während sie diese der Patientin reicht, merkt sie, dass es der Frau um ein gemeinsames Essen geht. Sie isst ebenfalls von der Birne und trinkt mit der Besuchten aus einem Glas. Die Situation bekommt den Charakter eines Abendmahles. Kurz darauf verstirbt die Patientin.
11. Bettlägerigkeit Wer einen Besuch im Pflegeheim macht, wird beobachten, dass viele Pflegebefohlene auch tagsüber im Bett liegen. Der Anteil der Bettlägerigen schwankt von Heim zu Heim und hängt u.a. vom Pflegegrad, der Personalsituation, aber auch der „Unternehmenskultur“ einer Einrichtung ab. In den meisten Heimen kann beobachtet werden, dass am frühen Abend (z.T. schon am späten Nachmittag) damit begonnen wird, diejenigen ins Bett zu bringen, die dazu eine Hilfestellung benötigen. Es handele sich hier um einen systemimmanenten (organisatorischen) Sachzwang, wie immer wieder zu hören ist, wenn man Pflegeeinrichtungen auf diesen Umstand anspricht. Einige Gründe sprechen für die Annahme, dass künftig – bei etwa gleichbleibenden Rahmenbedingungen in der Pflege (Personalschlüssel, Finanzie282 Piper, H.- Chr., Gespräche mit Sterbenden, Göttingen (1990, 4. Aufl.), 160. Vgl. dort auch die eindrucksvollen Beispiele solcher Symbolsprache, 160 – 164. 283 Vgl. insbesondere Lückel, K., a.a.O., 80 – 112; auch Piper, H.- Chr., a.a.O., 160. 284 Die folgenden Beispiele stammen von Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters, 5.
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rungs- und Leistungsstrukturen, Definition von ‚Pflege’ usw.) noch mit einem Ansteigen von Bettlägerigkeit zu rechnen ist, da eine zunehmende Bereitschaft des Pflegepersonals vermutet werden kann, Entlastung zu schaffen mit Hilfe des Belassens im Bett als einer Variante „sanfter Fixierung“285. Dies geschieht keineswegs in böswilliger Absicht, sondern vielmehr als Folge vielfältiger Sachzwänge der stationären Altenpflege. Auch begünstigt die hohe Rate an Knochenbrüchen286 die Bereitschaft, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Meine Vermutung einer künftig ansteigenden Zahl Bettlägeriger lässt sich durch zahlreiche Indizien erhärten: 1. Wie schon die Schilderungen zum Gesundheitszustand Pflegebedürftiger in diesem Kapitel zeigten, gehören Mobilitätseinschränkungen287 zu den häufigsten Krankheitsbildern stationärer Einrichtungen. Pflegebefohlene, die von solchen Einschränkungen betroffen sind, stehen in der Gefahr, nicht mehr aus dem Bett geholt zu werden, da ihr Radius ohnehin erheblich reduziert ist und ihre motorischen Möglichkeiten beschränkt sind. Der „Aufwand“, eine mobilitätseingeschränkte Person aus dem Bett zu holen, „nur“ damit sie den Tag in einem Stuhl sitzend verbringt, scheint unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsökonomie oftmals in keinem Verhältnis zu den notwendigen Zeit- und Energieinvestitionen zu stehen. Ein Belassen der/des Pflegebedürftigen im Bett senkt zudem die in Pflegeheimen auffallend hohe und gefürchtete Hüftfrakturrate, die bei 50 pro 1000 Bewohnerjahren.288 Eine solche Verletzung führt regelmäßig zum Tod. Eine Studie im Auftrag der Stadt München – die nicht repräsentativ sein muss und doch auf etwas Typisches hinweist – macht deutlich, wie verlockend es ist, zu Mitteln zu greifen, die reibungslosere Arbeitsabläufe im Pflegealltag begünstigen: Die Untersuchung stellt fest, dass „jeder zweite Heimbewohner mit 285 Als „Fixierung“ bezeichnet in der Pflege den Einsatz freiheits- oder bewegungseinschränkender Maßnahmen wie z.B. eines Bauchgurts oder Bettgitters bei Pflegebefohlenen, die vor Verletzung geschützt werden sollen. 286 In der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 38 (2005), 33, wird die Hüftfrakturrate bei Heimbewohnern auf 50 pro 1000 Bewohnerjahre geschätzt. Zum Problem der Sturzgefahr bei alten Menschen vgl. Downton, J. H., Wenn alte Menschen stürzen – Ursachen und Risiko – Pflege und Prävention, München (1995). 287 Im Jahresbericht 2003 der Georg-Behrmann-Stiftung, Trägerin eines Hamburger Altenund Pflegeheim mittlerer Größe (106 Pflegebefohlene), findet sich eine interessante Feststellung: „Für die Bewohner ... möchten wir den Aktionsradius erweitern. 1994 waren ca. 8 – 10 % auf eine Gehhilfe angewiesen. Heute sind es ca. 70 – 80 %“ [Kursiv O.K.]. Da sich die Rahmenbedingungen der Pflege seitdem nicht nennenswert geändert haben (Stellenschlüssel usw.), kann vermutet werden, dass auf diese Entwicklung zunehmender Mobilitätseinschränkungen u.a. auf die besagte Weise reagiert wird. 288 Zeitschrift für Gerontologie und Psychiatrie, Bd. 38, Heft 1 (2005), 33.
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Medikamenten ruhig gestellt wird und rund 40 Prozent in ihren Betten ‚fixiert‘ werden“289. Damit lässt sich für die Stadt München eine Zahl von ca. 40 % Bettlägeriger erschließen. Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass 40 – 50% der Heimbewohner durch potenziell bewegungseinschränkende Psychopharmaka behandelt werden.290 Leider gibt es keine Statistik, die über die Zahl bettlägeriger Pflegebefohlener Auskunft gibt291; freilich wäre diese Zahl auch Schwankungen unterworfen. Eigene Beobachtungen lassen aber vermuten, dass der Anteil Bettlägeriger in Heimen durchaus zwischen 30 % und 40 % liegen könnte. Hier sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich.292 2. Ein Widerspruch zwischen (gesetzlich verankerter) aktivierender und mobilisierender Pflege einerseits und sich daraus ergebender Herabstufung der Pflegebedürftigkeit mit entsprechender Absenkung des Pflegesatzes andererseits führt zu einem systemimmanenten Dilemma mit der Folge, dass die Neigung zu einer aktivierenden Pflege (aus ökonomischen Gründen!) nur sehr begrenzt sein dürfte. Folgendes ist zu berücksichtigen: „Bettlägerigkeit des Pflegebedürftigen (wird häufig) als Indikator für einen relativ hohen Personalbedarf angesehen. Eine aktivierende Pflege, die den Bewohner aus dem Bett bringt und begleitende 289 Zit. in Publik-Forum 1 (2003), 18. Eine Untersuchung in Basel kam zu dem Ergebnis, dass 80 % aller Dauerkatheder medizinisch nicht erforderlich sind. Er wird aber häufig eingesetzt aus demselben Grund, weil es nämlich zu aufwendig ist, die alten Menschen auf die Toilette zu bringen, vgl. Gronemeyer, R., Die Entfernung vom Wolfsrudel, 114 (Düsseldorf, 1989 (2)). Andrea Blome weist ebenfalls darauf hin, dass fast alle Medikamente und pharmazeutischen Produkte „in überdurchschnittlich großen Mengen in Altenpflegeheimen verordnet werden“, Frau und Alter, Gütersloh (1994), 75. Die Verabreichung von „potenziell bewegungseinschränkenden Psychopharmaka“ bei „ungefähr 40-50 % der Heimbewohner“ wird auch unterstellt in dem Aufsatz „Effektivität einer multifaktoriellen Intervention zur Reduktion von körpernaher Fixierung bei demenzerkrankten Heimbewohnern“, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 38, Heft 1 (2005), 33. 290 Koczy. P. et al., Effektivität einer multifaktoriellen Intervention zur Reduktion von körpernaher Fixierung bei demenzkranken Heimbewohnern, in: ebd.; vgl. auch die Studie aus Hamburg [2006]. 291 Schreiben des BMFSFJ vom 13.09.2001 an mich. 292 Bei drei Stichproben am 29. + 30. 11. 2001 (der Woche vor dem 1. Advent) besuchten eine Vikarin und eine Ehrenamtliche mit mir drei Hamburger Pflegeheime von unterschiedlicher Trägerschaft und mittlerer Größe, um Adventsgestecke zu Pflegebedürftigen zu bringen („ein Adventsgruß von der Kirche“), an zwei Tagen gegen 11 Uhr, ein weiteres Mal gegen 15 Uhr. Dabei wurde zugleich registriert, ob die Besuchten im (nicht nur auf!) dem Bett liegend angetroffen wurden und somit als bettlägerig anzusehen wären. In jedem Heim wurden jeweils zwei Flure besucht, insgesamt je Einrichtung ca. 50 Personen. Die Zahl der Bettlägerigen insgesamt belief sich auf knapp 40 %.
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Hilfestellung leistet, ist jedoch viel personalintensiver als reine Verwahrpflege. Der Erfolg aktivierender Pflege wird also durch eine Verschlechterung des Personalschlüssels bestraft“293. Dieser Widerspruch wird auch von anderen bemängelt.294 3. Die Pflegeversicherung führte zu einem zusätzlichen Verwaltungsaufwand, der in (seelsorgerlichen) Gesprächen immer wieder unüberhörbar thematisiert und von zahlreichen empirischen Untersuchungen belegt wird.295 Wenngleich wissenschaftlich (noch) nicht exakt quantifiziert wurde, wie viel Zeit für den zusätzlichen Verwaltungsaufwand vom Kontingent der Pflege abzuziehen ist, so ist zumindest die Klage des Pflegepersonals über die zusätzliche Belastung durch die Pflegedokumentation genau ermittelbar. Ein Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erwähnt, es habe bei der Erhebung der für die Arbeit erforderlichen Daten Schwierigkeiten gegeben, da die angefragten Pflegeeinrichtungen die erbetenen Auskünfte mit dem Hinweis verweigerten, „dass die Pflegeversicherung jetzt mit einem schier unübersehbaren Verwaltungsaufwand verbunden sei, der das Maß des Erträglichen deutlich überschritten hätte“296. Diese Tatsache lässt vermuten, dass das (nicht nur) vom PVGs. angestrebte Ziel der Aktivierung und Mobilisierung unter den gegebenen Bedingungen schwer zu realisieren sein wird. Die Tendenz, Pflegebefohlene im Bett zu belassen ist, also unter den derzeitigen Gegebenheiten eine arbeitsökonomisch naheliegende Reaktion auf das Problem reduzierter Pflegekapazitäten. „Zu enge finanzielle Spielräume, daraus resultierend Personal- und Zeitknappheit führen dazu, dass ökonomische Erwägungen den Vorrang vor professionellen Qualitätserwägungen haben“297, resümiert der Dritte Altenbericht. Eine weitere strukturelle Widrigkeit erschwert die Rehabilitation Pflegebedürftiger: Rehabilitationsleistungen werden von der Krankenkasse finanziert und müssen von den Pflegekassen beantragt werden. In der Regel kommt es zu einer die Rehabilitation nicht selten erschwerenden Verzögerung beim Antrag auf entsprechende Maßnahmen, die zur Folge hat, dass „in vielen Fällen eine Rehabilitation gar nicht oder nicht rasch genug eingeleitet wird“298. Eine „Zer293 Brandt, H., Therapie und Pflege kranker und hilfloser Heimbewohner; zit. bei Frisk, S., Kosten und Finanzierung in der Altenhilfe, 63. 294 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 106, Sp.2; vgl. auch Rothgang, H., Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, Frankfurt (1997), 300. 295 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 171. 296 Ebd., 9. 297 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 120, Sp. 2; ähnlich Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, 245. 298 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 93, Sp. 1.
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splitterung unterschiedlicher Finanzierungsquellen“ mit entsprechend zeitverzögernden Zuständigkeitskontroversen zulasten der Hilfeempfänger muss kritisch konstatiert werden.299 4. Es liegt nahe, dass die personelle Ausstattung eines Heims (neben der architektonischen und atmosphärischen) einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, ob Pflegebedürftige im Bett verbleiben oder nicht. Wenngleich eine durchschnittliche Betreuungsrelation von 2,8 Pflegebefohlenen je fest angestellter Betreuungskraft gegeben und damit eine leichte, aber unerhebliche Verbesserung des Personalschlüssels zu verzeichnen ist,300 beurteilen stationäre Einrichtungen die Entwicklung der Personalsituation gleichwohl „überwiegend kritisch“ und sind der Ansicht, die Pflegeversicherung habe die Personalsituation „eher verschlechtert“.301 Begründet wird dies vor allem mit fehlerhaften Einstufungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) und daraus resultierenden zu niedrigen Leistungsentscheidungen mit geringeren Pflegesätzen. Dies wiederum führe dazu, dass weniger Personal beschäftigt werden könne.302 Auch ein deutliches Ansteigen der Zahl Schwerstpflegebedürftiger und eine daraus resultierende Zunahme der Pflegeintensität habe – nach Einschätzung der Pflegeeinrichtungen – zu einer Verschlechterung des Personalschlüssels geführt, die in bloßen Zahlen der Betreuungsrelation keinen Niederschlag finde.303 Geht man davon aus, dass die Gewinnung von Pflegepersonal nicht Schritt halten kann mit dem Bedarf an Personal (Schätzungen schwanken zwischen einem Bedarfszuwachs von 110.000304 und 295.000305 Vollzeitstellen bis zum Jahr 2050), sich also nicht proportional zum Anstieg der Pflegebedürftigkeit entwickeln wird, und berücksichtigt man ferner, dass in den kommenden Jahrzehnten aufgrund sinkender Geburtenzahlen immer weniger Auszubildende in der Pflege verfügbar sein werden306, so ist auch dies ein Indiz für die von mir vertretene Prognose eines Anstiegs der Bettlägerigkeit.
299 300 301 302 303 304
Ebd., 107, Sp. 2. Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 168. Ebd., 170. Ebd., 170f. Ebd., 171. So das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/8800, 257. 305 So Blinkert, B./Klie, T. in ihrer Expertise im Auftrag der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/8800, 257. 306 Deutscher Bundestag, Drucksache 14/8800, 258. Es gibt also in Deutschland ein „doppeltes Demografieproblem“, indem dem überproportionalen Anteil alter Menschen
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Wenn es stimmt, dass zur Gewährleistung einer rehabilitativen Pflege ein Pflegeschlüssel von 1:2 gefordert werden müsse,307 so lässt diese Einschätzung vermuten, dass die Verwirklichung des im Gesetz verankerten Anspruchs werde noch lange auf sich warten lassen wird. 5. Sollte es zutreffen, wie regelmäßig zu vernehmen ist, dass unsere Gesellschaft als tendenziell altersdiskriminierend zu beschreiben ist,308 und dass – trotz zunehmender Differenzierung der Wahrnehmung der „Alten“ und des Alters309 – negative Altersstereotypien weitgehend bestimmend sind,310 so dürfte auch dieses Auswirkungen auf die Praxis des Belassens im Bett haben. Gespeist werden diese Stereotype u.a. von der Gleichsetzung von Alter und Krankheit (vgl. den häufig gebrauchten Pleonasmus „alt und krank“) sowie der Nähe des Alters zum Tod. Von den Pflegekräften in stationären Einrichtungen kann nicht erwartet werden, dass sie diese Stereotype mit Betreten des Heims ablegen, oder dass sie von der bedrückenden Wirklichkeit ihres Arbeitsalltags absehen. „Ist nicht die Versuchung für alle groß, in dieser Massierung von Leiden an einem Ort vorrangig Alter, Krankheit und Behinderung wahrzunehmen und viel weniger die Besonderheit jedes einzelnen?“311 Damit aber werden Bemühungen um Rehabilitation und Mobilisation konterkariert, und es ergibt sich von selbst, dass sich die Altenpflege auf Körperpflege und Versorgung konzentriert312 und auf diese Aspekte reduziert. So lange Altersstereotype vorherrschen, die pessimistisch sind und die Förderung der Potenziale alter (und pflegebedürftiger) Menschen untergraben, kann auch eine Vermeidung von Bettlägerigkeit keine Priorität des pflegerischen Handelns sein. Eine reine ‚Verwahrpflege‘ ist demnach ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der sie sich ereignet. 6. Der gesundheitspolitische Versuch, im Krankenhaus Kosten zu senken durch Vergütungspauschalen für die Behandlung von Krankheiten („Fallpau-
307 308 309
310 311 312
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an der Gesamtbevölkerung keine entsprechende Zahl an jüngeren aus der nachwachsenden Generation gegenübersteht. Meier-Baumgartner, H.P., Rehabilitation in Pflegeheimen, in : Kruse, A./Wahl, H.-W. (Hg.), a.a.O., 123. Vgl. das Kapitel ‚Altersbilder – Gesellschaftliche Bewertung der Hochaltrigkeit‘, II.C.4. Besonders gut zu beobachten im Spiegel der Werbung: „Alte sind inzwischen als wichtige Konsumenten und Geldanleger ins Visier der Werbemacher gerückt. Immer öfter tauchen konsumfreudige, mobile und gesunde alte Menschen in der Werbung auf. .... Alte Menschen sind als Marketingsegment auf breiter Front von der Werbung entdeckt worden ...“, Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., a.a.O., 82. Vgl. II.C.4. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 343. Vgl. ebd., 231. An anderer Stelle charakterisiert die Autorin die von den Pflegekräften in Heimen geleistete Pflege als „vorwiegend um elementare Aufgaben der Grund- und Behandlungspflege“ sich drehend, 141.
schale“) hatte eine deutliche Verkürzung der Verweilzeiten in Krankenhäusern zur Folge. Insbesondere bei alten, hochbetagten Patienten kommt es deshalb häufig zu verfrühten Krankenhausentlassungen313 mit entsprechender (körperlicher) Hinfälligkeit. Bettlägerigkeit ist dann oftmals unvermeidlich.
12. Körperzentriertheit In der Literatur findet sich gelegentlich die Annahme einer Parallelität zwischen Lebensanfang und Lebensende, Säuglingen und Hochbetagten bzw. Sterbenden. Beide, so die These, hätten ähnliche Bedürfnisse. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass das Ende des Lebensprozesses viel mit seinem Anfang gemein hat, woraus zu folgern wäre, dass Sterbenden guttut, was auch Säuglingen Wohlsein bereitet.314 Zu dieser Parallelität gehört eine Vielfalt nonverbaler Kommunikationsweisen315 sowie die Tatsache der „Gebundenheit des Menschen an ein Gegenüber“, wie es in der extremen Abhängigkeit des Säuglings von Vater und Mutter besonders anschaulich wird. Dabei kommt dem Körper in dieser Abhängigkeitsbeziehung eine einzigartige Bedeutung zu, wie er sie in seinem Leben nur zweimal erlangt: Als Säugling und als Pflegebedürftiger. Könnte man in Abwandlung des bekannten Wortes mit Blick auf den Säugling sagen, ‚Ich esse und verdaue, also bin ich‘, so könnte es für den pflegebedürftigen Menschen lauten: ‚Ich schmerze, also bin ich’‘ Der spürbare, auf Pflege angewiesene Körper ist somit nicht (mehr) nur ein Medium, dessen sich der Mensch zur Kommunikation mit seiner Umwelt bedient, und dem sein ‚Selbst’ (‚Ich‘, ‚Geist‘, Intellekt usw.) gleichsam „gegenübertreten“ könnte, er erlangt in der Pflegesituation eine ganz neue Rolle und auch Würde: Er dient nun – mehr denn je – der Vergewisserung der eigenen Existenz in einer einzigartigen Weise. So gerät der Körper ganz neu in den Blick und verdient im Folgenden weitere Beachtung. Wenngleich der Körper in der Heimpflege natürlicherweise eine große Rolle spielt, da er sich mit seinen Beeinträchtigungen, den vielfältigen Merkmalen des Alters und der Krankheit geradezu aufdrängt, so versteht sich doch nicht von 313 Vgl. Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP), 23. 314 Petzold, H., Integrative Therapie – Der Gestaltansatz in der Begleitung und Psychotherapeutischen Betreuung sterbender Menschen, in: Rösling, I./Petzold, H. (Hg.): Die Begleitung Sterbender. Theorie und Praxis der Thanatotherapie, Paderborn (1992), 442; vgl. auch Rest, F., Sterbebeistand – Sterbebegleitung – Sterbegeleit, Stuttgart/Berlin/Köln (1992, 2. Aufl.), 80f. 315 Vgl. zum Folgenden Babanek, A., Nonverbale Kommunikation mit Sterbenden, Köln (2001).
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selbst, dass, wie beobachtet werden kann316, die meiste Zeit des Kontaktes zwischen Pflegenden und Gepflegten von körperbezogenen Tätigkeiten verbraucht wird und nicht andere Interaktionen oder Gesprächsinhalte die Pflegebeziehung mitbestimmen. Der Körper ist allgegenwärtig und –mächtig: Er ist Hauptgesprächsgegenstand unter Pflegenden317; Medikamente und Hilfsmittel (Stock, Gehgestell, Rollstuhl, medizinisches Gerät und Apparate an gewaltigen, speziellen Betten, Stützung durchs Personal usw.) unterstützen, Ausscheidungen erinnern an ihn, die Unbeweglichkeit des alten und versteiften Körpers weckt ein intensives Bemühen um das Körperliche. Pflege ist vor allem Körperpflege.318 In dieser Konzentration auf das Somatische zeigt sich, dass in der Altenpflege inzwischen rezipiert wurde, was für die Krankenpflege längst prägend wurde, nämlich das somatische Modell der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts mit seiner Konstruktion eines „Nur-Körpers“319, der domestizierbar ist und repariert werden kann, mit der Folge, den Körper isoliert zu betrachten und ihn nicht (mehr) als leibseelisches Gebilde zu sehen. Das gesellschaftliche und individuelle Interesse ist demnach vor allem auf die Beseitigung von Krankheiten gerichtet und weniger auf die viel komplexere Behandlung von Kranken. Das Krankheitsverständnis erweist sich als reduktionistisch und dürfte auch das Pflegeverständnis im Sinne einer einseitig dem Körper zugewandten Aufmerksamkeit beeinflusst haben. Die Körperzentriertheit der stationären Pflege hat indessen zwei Seiten: Sie verführt einerseits zu einer Wiederherstellungsideologie, die im Geist des technisch-medizinischen Fortschritts zu einem unkritischen Glauben an die medizinisch-pflegerische Machbarkeit verlockt. Die Neigung, einem „ausgepowerten“ Organismus noch die letzten Reserven (und noch mehr) zu entlocken, ist groß: „In Konzepten eines reparaturfähigen ‚Nur-Körpers‘ hat auch der Tod keinen Platz, muss verdrängt oder mit allen Mitteln bekämpft werden“320. Andererseits birgt sie eine Chance und kann von Nutzen für Pflegende, Gepflegte, aber auch Seelsorgende sein. Der ‚Nutzen’ der Körperzentriertheit stationärer Pflege kann für den pflegebedürftigen Menschen in drei Dingen liegen: 316 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 119. 317 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, beobachtet: „Die psychische Situation der BewohnerInnen, ihre Aktivitäten, ihre nicht körperbezogenen Verhaltensweisen, ihre sozialen Kontakte (Binnen- und Außenkontakte) füllen in viel geringerem Maße die Übergabezeit“, 205. 318 Vgl.ebd., 202ff. 319 Vgl. ebd., 231. 320 Ebd., 232.
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1. „Die Konzentration auf den Körper nährt die Hoffnung oder die Illusion, dass dem zunehmenden Verfall des Körpers mindestens Einhalt geboten werden kann“321. 2. Der Körper bietet dem pflegebedürftigen Menschen die letzte verbleibende Möglichkeit, seine eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich seiner Existenz zu versichern: „Den Arm, das Bein wieder ein wenig mehr bewegen, Ausscheidungen produzieren, Krankheiten zum Stillstand bringen. Der spürbare Körper hilft somit dem alten Menschen, sich der eigenen Existenz zu versichern“322. 3. Der pflegebedürftige Körper dient als eine Art letzter „Anker in die Außenwelt“, mit Hilfe dessen die/der auf Pflege Angewiesene den Kontakt zu anderen – insbesondere den Pflegenden – hält. Mittels der Körperlichkeit kann Hilfe eingeklagt und sogar Macht ausgeübt werden, denn Hilfestellung und Pflege sind zentrale, im Heim geltende Werte, denen sich niemand entziehen kann.323 Auch psychoanalytisch lässt sich erklären, warum Körperzentriertheit im Pflegeheim-milieu eine durchaus sinnvolle Haltung sein kann, denn der Körper ist geradezu zum „Instrument der seelischen Selbstheilung prädestiniert“324. Es lässt sich ein Mechanismus beschreiben, der mit Hilfe der Krankheit oder den Altersbeschwerden dem Ich die Möglichkeit verschafft, sich wieder als Zentrum der Welt zu fühlen. Die Krankheit oder der Schmerz sind Mittel, das Gefühl der Selbstentfremdung zu begrenzen, indem der Körper sich dem Ich auf radikale Weise entgegenstellt und das Fühlen den Sieg über die Krankheit erzwingt. Dieser innere Vorgang, der auch bei jüngeren und gesunden Menschen in Gang kommt, z.B. beim Verlust von Personen oder Beziehungen (und damit der Abnahme von Chancen zur Befriedigung emotionaler, sozialer und sinnlicher Bedürfnisse) mit der Folge einer stärkeren Besetzung des Körpers und seiner Funktionen, wird als ‚Somatisation‘ bezeichnet. Der die ganze Aufmerksamkeit des Ich fordernde Körper ermöglicht es einem Individuum, sich wieder grandios, einmalig oder als Mittelpunkt der Welt zu fühlen. Auch ein sekundärer Gewinn, der in der Fürsorge durch die Umwelt oder der Erfüllung von Passivitätswünschen gefunden wird, ist zu konstatieren. Somatisation begrenzt demnach das Gefühl von Entfremdung und Taubheit.325
321 322 323 324 325
Ebd., 229. Ebd. Ebd. Vgl. zum Folgenden Beck, D., Krankheit als Selbstheilung, Frankfurt a.M. (1985). Gröning, K., Entweihung und Scham, 40.
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Für Pflegende kann die Konzentration auf den Körper gleichermaßen von Nutzen sein: 1. Indem körperpflegerische Tätigkeiten im Vordergrund stehen, helfen sie, Frustrationen und Überforderungen abzumildern, die eine Folge des Versuchs wären, „seelische Wunden, Ängste und Verzweiflungen zu behandeln“326 bzw. den pflegebedürftigen Menschen ganzheitlich zu sehen und zu betreuen. 2. Da „körperbezogene Pflege sichtbar und gegenwärtig nachweisbar“327 ist, dient sie auch dem beruflichen Selbstwertgefühl und vermutlich ebenfalls dem Versuch der gesellschaftlichen Aufwertung der pflegerischen Tätigkeit, da der Altenpflegeberuf kein großes Ansehen genießt und regelmäßig beeinträchtigt wird durch negative mediale Berichte über Missstände in Pflegeheimen. 3. Erfolgserlebnisse stellen sich bei einer körperbezogenen Pflege schneller und häufiger ein. Sie täuschen insofern über die immer aussichtsloser werdende Situation Pflegebefohlener, ihre zunehmende Schwäche, Krankheiten und Sterblichkeit hinweg, lenken von ihnen ab und dienen somit einmal mehr der bereits an anderer Stelle angesprochenen Verdrängung des Todes.328
13. Verlust und Scham Das Älterwerden zeichnet sich aus durch eine Kulmination von Trennungs- und Verlusterfahrungen329 (alltägliche Verluste, Identitäten, Beruf, Fähigkeiten, Personen, Gesundheit usw., bei Demenzkranken zudem: Gedächtnis, Urteilsund Kritikfähigkeit, logisches Denken, Kombinieren, Erfassen von Sinnzusammenhängen). Die (spirituelle) Herausforderung des Alters besteht demnach in einer außergewöhnlichen „Verzichtleistung“330. Der Wechsel ins Pflegeheim spitzt diese Aneinanderreihung von Verlusten auf dramatische Weise zu, indem nun auch noch der persönlichste Schutzraum, die Wohnung, verloren geht, die für das späte Erwachsenenalter und hohe Alter in einem Umfang den „Mittelpunkt alltagsweltlicher Lebenserfahrung“ darstellt, „wie dies wohl für keine andere der unterscheidbaren Lebenslaufphasen zutrifft“.331
326 327 328 329
Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 229. Ebd. Ebd., 229f. Vgl. auch 351f. Vgl. auch Bons-Storm, R., Zeit der Veränderungen und Abschiede, in: Diakonia, 30 (1999), 416 – 421. 330 Winkler, K., Alter als Verzichtleistung?, in: Wege zum Menschen, 44 (1992), 386 – 401. 331 Saup, W., a.a.O., 18.
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Gröning332 zählt Verlust und Scham zu den fundamentalen Größen im Pflegeheim und sieht in ihnen zwei „lebensweltliche Dimensionen der Pflegebeziehung“333. Sie deutet den Schameffekt und das Schamgefühl neben dem Angstund Trauerphänomen als das „bedeutsamste Gefühl“ des hohen Alters und der Pflege und erkennt eine Trias von Verlust, Angst und Schamerfahrung im Prozess des Alterns. Ihre Beiträge zum Verständnis der (institutionellen) Pflegesituation beruhen auf psychoanalytischen Theorien. Auf dieser Grundlage beschreibt sie die „Traumatisierung“, die ausgelöst wird durch den kontinuierlichen, unwiederbringlichen Verlust wichtiger, zum Ich dazugehörender Objekte, Bezugspersonen, körperlicher Fähigkeiten und Eigenschaften (z.B. Ehepartner, Eltern, Kinder, Schönheit, Beruf, Wohnung). Da diese Objekte, anders als in früheren Lebensphasen, jetzt nicht mehr zu ersetzen sind, beanspruche die Trauer längere Zeit. Da der alternde Mensch auch körperliche Beeinträchtigungen erfahre, komme es zugleich zu einer Selbstentfremdung bzw. einem Sich-fremdWerden.334 Der alternde Mensch entwickle ein Entfremdungsgefühl, der Blick in den Spiegel zeige nichts Bestätigendes und Wiederzuerkennendes, sondern Fremdes und Entblößendes. Infolge des Auseinandertretens von innerem Selbstbild und tatsächlichem (Eben-)Bild stelle sich somit ein „schmerzliches Gefühl des „Bloßgestelltseins“ und der „Selbstentfremdung“ ein, „wir schämen uns, wenn unser aktuelles Bild von unserem Selbstbild abweicht“, denn psychoanalytisch gedeutet veränderten die mannigfachen Verluste nicht nur die in den Spiegel schauende Person, sondern auch das Bild, das andere von ihr entwikkeln, indem die Hilfsbedürftigkeit sich nun auch öffentlich und gewissermaßen „amtlich“ manifestiere. Gröning beschreibt die gesellschaftliche Bedeutung der Verluste, die als Zeichen eines Mangels gewertet werden und damit in der modernen Gesellschaft zugleich Ehre und Würde einer Person tangierten. Verluste, die zudem den Körper beträfen, verstärkten das Schamgefühl, da sich in ihnen die Naturhaftigkeit, ja das „Tierhafte“ im Menschen zeige. Die Folge sei ein Empfinden vom eigenen „Liebesunwert“ und Depressionen. Gefordert wird deshalb, die Entwicklungspsychologie müsse die dialektische Spannung des Verlustes in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen, da es unzureichend sei, die im Lebenslauf angehäuften Verluste lediglich als Probleme der Trauerarbeit zu verstehen.335 332 Zum Folgenden vgl. Gröning, K., Entweihung und Scham. 333 Gröning, K., Qualität der Pflege als Problem der Organisationskulturen, in: Wege zum Menschen, 52 (2000), 439. 334 Gröning rekurriert auf Amérys Studien über das Alter, vgl. Améry, J., Über das Altern, Stuttgart (1976). 335 Gröning, K., Entweihung und Scham, 37ff.
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Aus psychoanalytischer Perspektive erklärt Gröning zugleich das im Pflegeheim charakteristische regressive Verhalten (Rückzug aus der Gemeinschaft oder der realen Situation hin zu einem ‚Früher‘) als einen Selbstheilungsversuch: Aufgrund einer Vielzahl von Traumatisierungen und Neurotisierungen komme es zu einer Reduktion von Ich-Leistungen, wodurch dem Ich immer weniger und zudem primitivere Abwehrmechanismen zur Verfügung stünden. Die schlichteren Mechanismen der Krisenbewältigung würden zudem verstärkt genutzt, was den alten Menschen auffällig mache und ihn andersartig wirken lasse. Charakteristisch sei etwa die Verweigerung von Pflegeheimbewohnern, an Festlichkeiten und Aktivitäten im Heim teilzunehmen, ein Verhalten, das als ein primitiver Abwehrmechanismus der Vermeidung erklärbar ist, da eine Teilnahme „die Wunschproduktion in Gang setzen und damit auch die Unerfüllbarkeit verschiedener Wünsche verdeutlichen“ würde. Die Erkenntnis, wie viele Wünsche offenbleiben, lasse die Vermeidung zur einzig möglichen Antwort werden. Ich-Beschädigungen mündeten demnach in regressive Verhaltensweisen. Die Regression sei angesichts der vielfältigen Verluste deshalb eine der „bedeutendsten Entwicklungsdeterminanten“ des hohen Alters.
14. Feminisierung Das Pflegeheim ist eine Welt alleinstehender Frauen: Im Jahr 2003 lag der Anteil weiblicher Gepflegter bei rund 79 %, davon waren 66 % verwitwet, 19 % ledig, 7 % geschieden, 5 % verheiratet.336 Auch hinsichtlich der Pflegekräfte gilt die Feststellung einer „Feminisierung“ der Pflegekultur: 2005 waren 85 % aller Beschäftigten Frauen (ca. 41 %337 davon unter 30 Jahren).338 Zwischen 1999 und 2003 stieg die Quote weiblicher Beschäftigter sogar leicht an.339 Pflege ist demnach unverändert eine weibliche Domäne. Auch das Milieu eines Pflegeheims wird als „weiblich“ beschrieben, da in ihm ein „fürsorglich-mütterlicher Anspruch“ herrsche und Tätigkeiten dominierten („Kümmerarbeit“, „Jederfraufähigkeiten“), die bisher weitgehend Frauen vorbehalten waren und von ihnen maßgeblich geprägt wurden (Konzentration auf elementare Versorgungsleistungen; Interaktion im Intimbereich; Füttern, Heben und Stützen wie bei Säuglingen und Kleinkindern; fürsorglicher Umgang mit den Schutzbefohlenen; Wünsche „von den Lippen ablesen“; Einfühlungs336 337 338 339
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BMFSFJ, Erster Bericht, 107. Prahl, H.-W./Schroeter, H. R., a.a.O., 160. Statistisches Bundesamt, a.a.O., 8. BMFSFJ, Erster Bericht, 73.
vermögen; „Hingabe“; Bereitschaft zu totalem Einsatz usw.).340 An diesen „femininen“ Prägungen stationärer Lebenswelt zeigt sich zugleich die ursprünglich sozialpflegerische, nichtmedizinische Ausrichtung und Herkunft des Altenpflegeberufes.341 Hinzu kommt, dass zur Bewältigung des Wechsels in ein Pflegeheim sowie zur inneren Verarbeitung eines Lebens in dieser „fremden Welt“ Strategien und Handlungsmuster der Pflegebedürftigen festzustellen sind, die gesellschaftlich eher der weiblichen Rolle zugeschrieben werden. Seelsorgerinnen und Seelsorger in Pflegeheimen werden beobachten, dass Courage, Aufmüpfigkeit oder Wehrhaftigkeit sehr viel ungewöhnlicher sind, ja geradezu ein auffälliges Verhalten darstellen, während Anpassung, Anspruchslosigkeit, Fatalismus, Gleichgültigkeit, Apathie, Antriebslosigkeit, Resignation, Klagen, Enttäuschung oder Verbitterung viel häufiger in Erscheinung treten. Dies lässt sich erklären aus einem entsprechenden Sozialisationsprozess, der ein „spezifisch weibliches Denken, eine weibliche Moral“ als „Grundlage für Duldsamkeit und Verfügbarkeit“ hervorbringt.342 „Weibliche Harmonisierungsstrategien“343 prägen das Milieu sowohl vonseiten der Gepflegten als auch der Pflegenden. Sie lassen das Pflegeheim zu einem Ort werden, an dem Widerstand gegen Missstände und Widrigkeiten eher die Ausnahme sind, denn Unterordnung ist hier ein entscheidendes Prinzip.344 Mit diesem Umstand wird u.a. die mangelnde Attraktivität des Altenpflegeberufes für Männer, die tendenziell weniger zu solcher Unterordnung bereit sind, erklärt.345 Für die im Heim lebenden Frauen bringt der hohe Anteil weiblicher Pflegebefohlener die Schwierigkeit mit sich, einen neuen Partner zu finden. Erschwerend kommt die noch immer in der Öffentlichkeit verbreitete Sicht hinzu, der zufolge eine aktiv nach einem Partner Suchende auffällt. Dabei wäre gerade im Heim ein Kennenlernen neuer Lebensgefährten und das Eingehen neuer Partnerschaften wünschenswert, um die schlechte soziale Verankerung der im Heim lebenden Frauen (aufgrund von Verwitwung, Scheidung, Ledigsein oder zunehmend auch Kinderlosigkeit) zu kompensieren. Es fällt auf, dass das gravierende Faktum des Pflegeheims als einer Frauenwelt in der Literatur so gut wie keine Beachtung findet. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Geschlechtlichkeit im Heimleben keine Bedeutung beigemessen wird, das Heim als eine asexuelle Zone gilt und die in ihm Leben340 341 342 343 344 345
Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 365f. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 285f. Sp. 2. Vgl. Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, 365. Ebd., 369. Vgl. II.B.9.e. Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, 369.
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den als Neutren betrachtet werden. Es ist naheliegend, dass in einem solchen Umfeld – trotz aller Wiederkehr des Körperlichen – die Sexualität zugleich ausgeblendet wird. Diese Ausblendung bekommt zusätzliche Nahrung durch die allgemein gängige Annahme, im Alter bilde sich das Bedürfnis nach Intimität und Sexualität zurück. Diese Auffassung ist von der Gerontologie, Sozialphysiologie und -psychologie inzwischen allerdings widerlegt worden.346
15. Religiosität Da etwa 70 % unserer Bevölkerung einer christlichen Konfession angehören, soll gefragt werden, in welcher Weise christliche Religiosität im Heimleben in Erscheinung tritt. Es soll bei dieser auf die christliche Religion begrenzten Fragestellung nicht übersehen werden, dass ein ansteigender Prozentsatz unserer Bevölkerung anderen Religionsgemeinschaften angehört. Es kann m.E. aber davon ausgegangen werden, dass an den Aussagen zur christlichen Religiosität exemplarisch veranschaulicht werden kann, was auch für nicht christliche Religiosität im Pflegeheim zutreffen dürfte. Ein paradoxes Verhältnis zwischen (immer noch) hoher Kirchenzugehörigkeit und dem Stellenwert der Religion im Pflegeheim ist zu verzeichnen: So kommt ethnologische Forschung zu dem Befund, Religiosität trete im Heimalltag „selten in Erscheinung“347. Typischerweise konnte Koch-Straube in einem Pflegeheim beobachten, dass regelmäßig katholische und evangelische Gottesdienste im Aufenthalts- oder Speiseraum, also einem „wenig kontemplativen,
346 Vgl. Kruse, A./Wahl, H.-W., in: dies. (Hg.) , Altern und Wohnen im Heim, 93f. Man beachte dort die Hinweise auf die Untersuchungen von Rosenmayr, L., Sexualität, Partnerschaft und Familie älterer Menschen, in: Baltes, P./Mittelstraß, J. (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin (1992); sowie Schneider, H. D., Sexualität im Alter, in: Platt, D./Oesterreich, K. (Hg.), Handbuch der Gerontologie, Bd. 5, Stuttgart (1989). Auch in der Seelsorgeliteratur lässt sich eine Vernachlässigung (wenn nicht sogar Irrelevanz) des Themas Geschlechtlichkeit (und Sexualität) beobachten, mit Ausnahme weniger geschlechterspezifischer Fragestellungen (z.B. Gynäkologie/Geburtshilfe), als handele es sich in der seelsorgerlichen Begegnung zumal am Kranken- oder Pflegebett nicht um eine höchst intime Situation (z.B. indem die Besuchten nur in ein Nachthemd gekleidet sind, in ihrem Bett sitzen oder liegen, gelegentlich unbekleidete Körperteile zu sehen sind usw.). E. Naurath kommt das Verdienst zu, diese Themen zum Gegenstand poimenischer Reflexion gemacht zu haben: vgl. Seelsorge als Leibsorge – Per-spektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, Stuttgart (2000). 347 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 162.
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andachtsvollen Raum“348 stattfanden. Auch fiel in der von ihr erforschten Einrichtung auf, dass die „MitarbeiterInnen“ „beim Gottesdienst nicht anwesend und beteiligt“ sind und sie ergänzt diese Wahrnehmung um die Feststellung, dass es sich anders verhalte bei der Musiktherapie. Dort beteilige sich das Personal in großer Zahl und gehe der Therapeutin tatkräftig zur Hand.349 Anders als im angelsächsischen Raum spielt Religion in Heimalltag und Gerontologie in Deutschland keine große Rolle, ja sie scheint sogar tabuisiert.350 Diese Einschätzung lässt sich u.a. an Lehrplänen, Ausbildungsschwerpunkten und gerontologischer Lektüre ablesen aber auch an anderen Indizien: So findet das Thema beispielsweise keine Erwähnung in wichtigen Publikationen von Sachverständigen mit ihren Einschätzungen und Empfehlungen für die Politik: Weder der Dritte Altenbericht der Bundesregierung, noch der Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ (2002) schenken der Religion trotz aller Gründlichkeit der Analysen Beachtung. Ausführlich widmet sich der Dritte Altenbericht der Beschreibung von vielfältigen Ressourcen des Alters, lässt dabei aber unberücksichtigt, dass auch Religiosität dazuzuzählen wäre, woraus sich dann möglicherweise auch Konsequenzen für Pflegeheime ergeben würden. Immerhin erwähnt der Vierte Altenbericht (2002) in einem knappen Absatz das soziale Unterstützungspotenzial durch „Glaubensgemeinden“, auch finden sich kurze Anmerkungen zum Bewältigungspotenzial der Religion in belastenden Lebenslagen.351 Es fehlen jedoch grundlegende Erwägungen zur religiösen Dimension des Menschen oder zur potenziellen Bedeutung von Spiritualität und Religion im Kontext von Pflege und Institutionalisierung. So wäre etwa darüber nachzudenken, ob Geistliche bzw. Seelsorgekräfte zum festen Personalbestand einer Pflegeeinrichtung gehören müssten, oder ob geeignete architektonische Überlegungen bzw. die Schaffung von Sakralräumen (Kapellen, Abschiedsräume) bei der Gestaltung von Pflegeheimen zu berücksichtigen wären. Es wird diesbezüglich in den angeführten Veröffentlichungen ein Defizit von Forschung und Politik erkennbar. Möglicherweise kommt hier aber auch ein unzureichender Einfluss der Kirchen auf beide Bereiche zum Tragen,352 der erklärt werden könnte mit der im ersten Kapitel dieser Arbeit 348 Ebd. 349 Ebd. 350 Vgl. Grom, B., Religionspsychologie, München/Göttingen (1992), 14. Auch in dem in dieser Arbeit mehrfach zitierten Standartwerk für Altenpflegeberufe: Soziologisches Grundwissen für Altenpflegeberufe von Schroeter, K. R./Prahl, H.-W., Weinheim/Basel (1999) findet sich kein Hinweis auf Religion/Religiosität. 351 BMFSFJ, Vierter Altenbericht (2002), 211. 352 Während meines Studienaufenthaltes in den USA gewann ich den Eindruck, dass es dort eine stärkere Einbindung der Kirche bzw. kirchlicher Seelsorge in Krankenhäuser
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skizzierten Vernachlässigung des Pflegeheims (bzw. der gerontologischen Forschung) durch Theologie und Kirche.353 Zahlreiche Hinweise deuten darauf hin, dass ein seelsorgerliches Angebot im Pflegeheim bei einem beachtlichen Teil der Bewohnerschaft als durchaus bedeutsam erlebt wird. Einer Studie zufolge wertete mehr als die Hälfte der Pflegebefohlenen seelsorgerliche Begleitung als „Zuwachs an Lebensqualität“354. Zwei Drittel der Befragten bekundeten ein „Interesse am religiösen Angebot der Einrichtung“, wobei die Teilnahme an Gottesdiensten, die Feier der Krankenkommunion und des Abendmahls als zentrale Angebote am häufigsten herausgestellt wurden.355 Linguistische Forschung wiederum stellte fest, dass der Glaube eines von sechs „vorherrschenden Themen der Alten in Gesprächen mit den Jungen“356 ist. Diese Hinweise geben Anlass zu der Frage, ob Religion/Religiosität hilfreich sein könnte zur Bewältigung von Belastungssituationen und zur Verarbeitung des kritischen Lebensereignisses eines Wechselns in Pflegeheim. Möglicherweise kann der Glaube zu einem gelingenden Einleben in die neue „fremde Welt“ beitragen. Es ist für die Situation der Gerontologie in Deutschland charakteristisch, dass qualifizierte Untersuchungen zum Bewältigungspotenzial von Religiosität ausschließlich aus den USA stammen.357 Diese Ergebnisse sind somit nur unter einem Vorbehalt auf die Lage in Deutschland übertragbar. Wie bekannt ist, haben die US-Amerikaner ein eigenes, kulturell geprägtes Verhältnis zur Religion, das sich u.a. auch auszeichnet durch Abweichungen im Teilnahmeverhalten, Mitgliedschaftsformen oder theologisch-spirituellen Prägungen. Andererseits gibt es zahlreiche kulturelle Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen beiden Ländern. Beide haben dieselben historischen Wurzeln und wurden geprägt durch das Christentum. Die im Folgenden referierten Ergebnisse
353 354 355 356 357
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und Pflegeheimen gibt. Es konnte auch eine größere Berücksichtigung der seelsorgerlichen Herausforderungen durch Pflegeheime registriert werden. Vgl. I.A. Tepe, G., Qualitätssicherung in der stationären Altenhilfe, Frankfurt a.M. (1997), 139. Ebd., 141. Vgl. Sachweh, S., a.a.O., 31. Vgl. Moser, U., a.a.O., 203. Erste Ansätze zu einer Beschäftigung mit dem Thema des religiösen Krisenbewältigungspotenzials sowie der Frage eines Beitrags der Religion zur Lebensqualität sind allerdings wahrzunehmen, vgl. Lublewski-Zienau, A./Kittel, J./Karoff, M., Religiosität, Klinikseelsorge und Krankheitsbewältigung – Wie wird Seelsorge von kardiologischen Rehabilitanden angenommen, in: Wege zum Menschen, 57 (2005), 283 – 295; Ruff, W., Glauben und seine Heilkraft, Psychoanalytische Erkundungen zu verschiedenen Glaubensformen, in: a.a.O., 43 – 54; Zwingmann, Chr., Spiritualität/Religiosität als Komponente der gesundheitsbezogenen Lebensqualität?, in: a.a.O., 68 – 80.
der Untersuchungen dürften deshalb auch für die hiesige Situation interessant sein, bei aller gebotenen Vorsicht der Übertragung auf deutsche Verhältnisse: Moser358 führt zahlreiche Studien zum Themenkomplex ‚Religion und Bewältigungspotenzial’ an. Einigkeit besteht bei vielen Forschern des angelsächsischen Bereiches hinsichtlich des positiven Potenzials der Religion zur Bewältigung von Krisensituationen. Es wurde untersucht359, welche Bewältigungsmechanismen (engl. coping) von älteren Menschen als besonders hilfreich eingeschätzt wurden. Im Ergebnis konnten 25 unterschiedliche Typen der Krisenbewältigung identifiziert werden. Am häufigsten war mit 17 % das religiöse Bewältigungsverhalten zu verzeichnen. Dabei spielten die Komponenten „Vertrauen und Glauben an Gott haben“ mit 31 %, „Beten“ mit 27 %, sowie „Hilfe und Kraft von Gott bekommen“ mit 16 % eine herausragende Rolle. Die Studien zeigen, dass die ermittelten Typen der Krisenbewältigung bei Personen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund anzutreffen sind. Auch Unterschiede des Geschlechts oder der geografischen Herkunft scheinen diesbezüglich keine nennenswerte Rolle zu spielen. Es wird aus den Untersuchungen der Schluss gezogen, dass das Nachlassen persönlicher Ressourcen oder der Gesundheit, die Einschränkung der finanziellen Mittel oder der sozialen Kontakte einen Bedeutungszuwachs religiöser Bewältigungsmechanismen zur Folge habe. Es wird auch versucht zu ergründen, auf welche Weise dieser Mechanismus wirke. Dabei wird die Auffassung vertreten, religiöse Vorstellungen ermöglichten Deutungen für ansonsten Unerklärliches oder Sinnloses. Damit sei es leichter, sich in eine schwierige Situation zu fügen und ihr einen Sinn abzuringen. Eine weitere Studie (Durham VA Mental Health Survey) geht ebenfalls der Frage des religiösen Krisenbewältigungspotenzials nach.360 Untersucht wird darin auch der Einfluss von Religiosität auf Depressionen.361 Befragt wurden 1011 ausschließlich männliche Personen im Alter zwischen 20 und 39 und 65 bis 102 Jahren unter verschiedenen Fragestellungen und unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Techniken. Die Teilnehmer waren zur Zeit der Untersuchung Patienten eines Krankenhauses von Virginia. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Studie gehört, dass jeder Vierte auf die offene Frage, was eine belastende Situation bewältigen helfe, eine religiöse Antwort gab. Jeder fünfte Mann 358 A.a.O. 359 Koenig, H./George, L./Siegler, I., The Use of Religion and Other Emotion-Regulating Coping Strategies among Older Adults, in: The Gerontologist 28 (1988), 303 – 310, zit. in: Moser, U., a.a.O., 190f. 360 Ebd., 192f. 361 Ebd., 193.
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erklärte, Religion sei der wichtigste Faktor bei der Bewältigung von Belastungssituationen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mehr als vier von zehn Männern über 65 Jahren eine signifikante Änderung der eigenen Einstellung zur Religion mit Erreichen des 50. Lebensjahres an sich wahrgenommen hatten. Sie griffen häufiger auf religiöses Copingverhalten zurück als diejenigen ohne religiöse Erfahrung. Es scheint, dass religiöse Erfahrungen, die im Erwachsenenalter gemacht werden, einen stärkeren Einfluss auf das Krisenbewältigungspotenzial haben, als solche, die auf die Kindheit und Jugend zurückgehen. Aus der Untersuchung geht auch hervor, dass bei der Mehrheit der Befragten mit zunehmendem Alter die Bedeutung der Religiosität zugenommen hatte. Diese Gruppe war im Vergleich zu den nicht-religiösen Teilnehmern weniger depressiv und zeigte ein besseres Bewältigungsverhalten. Die Untersuchungen legen auch einen Zusammenhang zwischen der Dauer einer Krankheit und dem Stellenwert einer religiösen Bewältigungsform nahe: Je länger eine Krankheit dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Patientin/der Patient der Potenziale der Religion bedient. Bezüglich des Zusammenhangs von religiösem Coping und Depression lässt sich ein deutlich positiver Einfluss der Religiosität feststellen: Eine depressive Symptomatik ist bei Personen mit ausgeprägter Religiosität geringer als bei anderen. Diese Einschätzung wurde von den Befragten selbst gegeben und durch äußere Beurteilung bestätigt. Eine Korrelation kann also angenommen werden zwischen der Wahrscheinlichkeit, an einer schweren Depression zu erkranken und der Fähigkeit, religiöse Bewältigungsmechanismen zu mobilisieren. Dabei spielt die Hoffnung eine Schlüsselrolle in diesem Wirkmechanismus: Der Verlust der Hoffnung spielt bei der Entwicklung einer depressiven Symptomatik eine Schlüsselrolle. Da religiöse Menschen ein höheres Hoffnungspotenzial haben, steht ihnen so eine hilfreiche Ressource zur Vermeidung oder Bewältigung von Depressionen zur Verfügung. Koenig weist allerdings darauf hin, dass der Glaube von einer bestimmten, und zwar „reifen“ Qualität sein müsse, damit er das wünschenswerte Potenzial entfalten könne. Er denkt dabei an eine Integration und tiefere Einbindung des Religiösen in die Motivationen, Ziele und Aktivitäten eines Menschen. Der günstige Einfluss der Religion auf das Krisenbewältigungspotenzial sei auch mit deren sozialer Komponente erklärbar: Da religiöse Menschen – gerade im US- amerikanischen Raum – häufig in ein religiös-soziales Netzwerk eingebunden sind (Gruppen, Gemeinde, Kirche usw.), könne die soziale Dimension des Glaubens Depressionen abschwächen oder verhindern. Dieser Aspekt spiele besonders für Personen mit einer chronischen Erkrankung eine Rolle, wie die Studie herausfindet. Sie kommt zu dem Ergebnis, das durch zahlreiche weitere Untersuchungen erhärtet werden konnte: Langeweile, Verlust an Interessen, 92
sozialer Rückzug, Gefühle von Niedergeschlagenheit und Depression, Ruhelosigkeit, Gefühle des Überflüssigseins, Hoffnungslosigkeit oder das Gefühl, schlechter als andere Menschen dran zu sein, trete bei Menschen mit religiösem Bewältigungsverhalten signifikant seltener auf als bei Personen mit nicht religiösen Bewältigungsstrategien.362 Es ist angesichts dieser Resultate nicht zu übersehen, dass eine individuelle, über längere Zeit erfolgte religiöse Prägung ein wichtiger Faktor für das Bewältigungspotenzial eines Menschen sein kann. Die Erkenntnisse der Studie zeigen freilich, dass in einer Belastungssituation Religiosität nicht im Nu einfach zu wecken ist, auch nicht mit noch so gut gemeintem missionarischem Eifer. Es bedarf, wie bereits deutlich wurde, einer tieferen Verankerung des Religiösen in die Werte- und Vorstellungswelt („reifer Glaube“). Eine weitere erhellende Studie über den Zusammenhang von Religiosität und psychischer/physischer Gesundheit findet sich im Yale Health and Aging Project aus dem Jahr 1982.363 Dabei handelt es sich um eine repräsentative Studie, bei der 2756 Personen mit einem Durchschnittsalter von 75 Jahren untersucht wurden. Das Forschungsprojekt untersucht auf Basis der Theorie eines positiven Einflusses von Religiosität auf Psyche und Körper, womit dieser günstige Einfluss erklärbar sei. Vier Erklärungen wurden gefunden und als Hypothesen formuliert: 1. Die Verhaltenshypothese erklärt den Zusammenhang mit einer gesünderen Lebensweise religiöser Menschen (Verzicht auf Nikotin, Alkohol, Mäßigung im Lebensstil usw.). 2. Die Bindungshypothese sieht einen Zusammenhang zwischen einer stärkeren sozialen Einbindung religiöser Personen. Begünstigend komme hinzu, dass die religiösen Netzwerke ein viel breiteres Spektrum an sozialer Interaktion bieten als andere: Gegenseitige Hilfe sei erfahrbar, unterschiedliche Generationen kämen miteinander in Kontakt, verschiedene Grade von Nähe und Distanz seien in religiöser Gemeinschaft erlebbar, das Erlebnis von Gemeinsamkeit habe einen günstigen Effekt. 3. Die Kohärenzhypothese sieht einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Gesundheit auf der Ebene des Kognitiven. Die Religion biete ein System von Sinnkonstrukten und Zusammenhängen, die eine hilfreiche Ressource darstellten, einen Lebenssinn zu finden und die gemachten Erfahrungen 362 Koenig, H./Cohen, H./Blazer, D., Religions Coping and Cognitive Symptoms of Depression in Elderly Medical Patients, in: Psychosomatics 36 (1995), 369 – 375, zit. in: Moser, U., a.a.O., 194. 363 Idler, E., Religious Involvement and the Health of the Elderly: Some Hypotheses and an Initial Test, in: Social Forces 66 (1987), 226 – 238, zit. in: Moser, U., a.a.O., 195.
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einzuordnen. Dieses Interpretationsschema helfe, Unsicherheit zu mindern und Orientierung zu finden in Höhen und Tiefen des Lebens. Ein Gefühl des Vertrauens stelle sich ein in Folge einer Kohärenz, die einen Zusammenhang erkennt zwischen Lebensereignissen und Entwicklungen. Der Wert und die Bedeutung von Lebenssituationen werde erkannt und die Welt als eine ‚stabile‘ erlebt. Der Mensch erlebe sich nicht als ein den Kräften des Zufalls und Glücks hoffnungslos Ausgesetzter, sondern als einer, der eingebunden ist in steuernde, gute Mächte. Einer fatalistischen Sicht des Lebens werde damit gewehrt, ein Erleben von Sinnhaftigkeit begünstigt. Auch wenn die Zusammenhänge nicht alle im Einzelnen durchschaubar seien, fördere die religiöse Haltung das Vertrauen zum Leben, das für die psychische/physische Gesundheit unentbehrlich sei. 4. Die Theodizee-Hypothese geht davon aus, Religion reduziere Belastungen, indem die belasteten Menschen ihr Leiden in einen umfassenden Zusammenhang einordnen könnten, wodurch es annehmbar(er) werde. Pargament364 sieht drei Zusammenhänge zwischen der Religiosität und ihrem Krisenbewältigungspotenzial: Religiosität könne selbst ein Element innerhalb eines Bewältigungsprozesses sein, wie z.B. mit Blick auf religiöse Riten an einschneidenden Wendepunkten des Lebens zum Ausdruck komme. Da Religiosität destruktive Verhaltensweisen (z.B. übermäßigen Alkoholkonsum, Drogenkonsum usw.) sanktioniere, könne diese insofern als ein indirekter Beitrag zum Coping gedeutet werden. Schließlich könne Religion selbst das Ergebnis einer Bewältigungsaufgabe sein. Eine Bekehrung etwa sei verstehbar als Folge einer Krise. Pargament/Ensing/Falgout365 kommen zu dem Ergebnis, religiöse Krisenbewältigung könne auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden: Auf der interaktionalen Ebene (Beziehungen zu anderen/zu Gott), auf der Verhaltensebene (Änderungen des Lebensstils, Teilnahme am religiösen Leben), auf der emotionalen Ebene (Gefühle) und der motivationalen Ebene (Suche nach religiöser Entwicklung, Selbstverwirklichung). Auch auf die Frage, welche Art von Religiosität günstig für das Bewältigungspotenzial sei, finden sie drei wichtige Antworten:
364 Pargament, K., God Help Me: Toward a Theoretical Framework of Coping for the Psychology of Religion, in: Research in the Social Scientific Study of Religion 2 (1992), 195 – 224, zit in: Moser, U., a.a.O., 199. 365 Pargament, K./Ensing, D./Falgout, K., God Help Me: Religious Coping Efforts as Predivtors of the Outcome of Significant Negative Life Events, in: American Journal of Community Psychology 18 (1990), 793 – 824, zit. in: Moser, U., a.a.O., 199f.
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1. Für Personen, die an einen gerechten und liebenden Gott glauben, erschließt sich mit diesem Vertrauen ein größeres Bewältigungspotenzial als für jene, die ein Leid bringendes Ereignis als Strafe Gottes werteten. 2. Erlebe jemand Gott als „unterstützenden Partner“ bzw. als hilfreiche Kraft bei der Bewältigung eines negativen Ereignisses, habe dieses einen günstigen Einfluss auf das Coping-Potenzial der Religiosität. 3. Auch die Inanspruchnahme religiöser Rituale habe einen günstigen Einfluss auf die Verarbeitung von Krisen. Diese wirkten auf unterschiedliche Weise: Ihnen komme eine entlastende Funktion zu, sie vermittelten Sinngebung, soziale Integration und persönliche Identität. Die Gewissheit, das eigene Leben läge in Gottes guter Hand, könne das Streben nach persönlicher Kontrolle über eine belastende Situation mindern. Das schaffe Entlastung durch Vertrauen. Die referierten Ergebnisse zeigen, auf welche Weise ein Zusammenhang zwischen unterschiedlicher Religiosität und dem Umgang mit Belastungssituationen unterstellt werden kann. Die Autoren folgern, dass religiöses Coping für manche Typen von älteren Menschen hilfreicher sei als für andere und dass es nicht für alle Arten von Problemen, Krisen und seelischen Konflikten gleichermaßen wirke. Die Ergebnisse der Forscher machen deutlich, dass mit erheblichen intraindividuellen Unterschieden bei der Wirksamkeit religiösen Copings zu rechnen ist. Möglich sei ebenfalls, dass unterschiedliche Krisen bei ein und derselben Person unterschiedliche Copingmechanismen aktivieren. Es wurde auch die Frage untersucht, welchen Beitrag Religiosität zur Herausforderung des Alterns leisten könne, Ich-Integrität zu bewahren angesichts der zahlreichen inneren und äußeren Bedrohungen des Älterwerdens (Verluste, Veränderungen).366 Es wird postuliert, Religiosität ermögliche potenziell das Erleben von Integrität und Kontinuität trotz gravierender Veränderungen, die das Alter mit sich bringe. Es wird auch konstatiert, dass eine religiöse, sich „fügende“ Lebenshaltung im Alter angesichts zunehmender Abhängigkeit deshalb günstig sei, weil die in jüngerem Alter genutzten problemlösenden Verhaltensweisen im fortgeschrittenen Alter kaum noch etwas bewirkten. Der sich (Gott) fügende Mensch gewinne neue „Sicherheit“, indem er jene Sicherheit preisgebe, die er bis dahin durch eigenes Leisten und Problemlösen gewonnen hatte. Hervorgehoben wird von den Forschern auch der Beitrag der Religiosität zur Bewältigung der eigenen Sterblichkeit. Indem die Religion den Menschen darin vergewissere, sein Leben bleibe auch im Tode noch in Gottes Hand geborgen 366 Pargament, K./Van Haitsma, K./Ensing, D., Religion and Coping, in: Kimble, M./McFaddern, S./Ellor, W., Aging, Spirituality, and Religion, Minneapolis (1995), 47 – 67, zit. in: Moser, U., a.a.O., 201f.
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und erhalten, werde die Furcht vor dem Verlust all dessen gelindert, was als kostbar erachtet werde. Die Ergebnisse der besagten Studie stellen auch die Bedeutung der Intimität für das Potenzial religiösen Copings heraus: Die Religion ermögliche eine Kompensation der vielfältigen Verluste nahestehender Menschen, indem sie ein Gefühl intimen Vertraut-seins mit der religiösen Gemeinschaft und mit Gott vermittle und mit Hilfe der über (lange Zeit) gewachsenen Glaubensgewissheiten. Einer drohenden Isolierung des Alters werde damit begegnet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Frage eines potenziell positiven Beitrags der Religion zur Krisenbewältigung aufgrund zahlreicher Studien aus den USA zu bejahen ist. Ein großer Konsens der US-amerikanischen Gerontologie hinsichtlich des Copingpotenzials des Religiösen ist festzustellen. Unterschiede bestehen hinsichtlich der gefundenen Erklärungen zum Wirkmechanismus religiösen Bewältigungsverhaltens. Auch machen die angeführten Untersuchungen deutlich, in welchem Maße Menschen, die eine Krisensituation zu bewältigen haben, Hilfe und Unterstützung in der Religion suchen. Es scheint deshalb erstrebenswert, die in Pflegeheimen Tätigen stärker mit der Religiosität und ihren hilfreichen Potenzialen vertraut zu machen und Religion fest in die Welt der Pflege zu integrieren, ohne den Glauben damit zu instrumentalisieren.
16. Bürokratismus Arbeitsabläufe, Institutionen und Verwaltungen haben die Tendenz der Ausdehnung (Parkinson-Gesetz367), ein Phänomen, das für die Lebenswirklichkeit in Pflegeheimen von Bedeutung ist. Deimling368 weist auf einen Sachverhalt hin, der bei der Beschreibung der Lebenswirklichkeit in Pflegeheimen kaum Beachtung findet, und zwar den (seit etwa dem 18. Jahrhundert) auch in Kirche und Diakonie „beschleunigten Bürokratisierungsprozess“, in welchem sich eine „allgemeine Rationalisierung 367 Benannt nach dem britischen Historiker und Soziologen Cyril Northcote Parkinson (geb. 30.07.1909), der in seiner Schrift „The Pursuit of Progress“ (1958) ausgehend von der Beobachtung, dass jede Arbeit so lange dauere, wie Zeit für sie zur Verfügung stehe („Work expands so as to fill the time available for its completion“) , Konsequenzen für die Bemessung von Arbeitsaufwand und Dauer von Arbeitspaketen aufzeigte. Als ein Effekt des Parkinson-Phänomens wurde von ihm die Gesetzmäßigkeit der Aufwandsverlängerung sowie –ausdehnung von Arbeitsprozessen ausgemacht, welche stets zu einem steigenden Bedarf an Personal und Ressourcen führe („Overhead“-Phänomen). 368 Zum Folgenden vgl. Deimling, G., Bürokratisierung in der Altenpflege?, in: Evangelische Impulse 3 (1997), 13 – 15.
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der Gesellschaft“ ausdrücke. Mit dem „Handlungsprinzip Bürokratismus“ als einem erschwerenden Faktor ist somit auch im Bereich stationärer Pflege zu rechnen. Merkmale von Bürokratisierung sind u.a. eine entpersönlichte und versachlichte Beziehung zwischen ohnmächtigem Menschen und kaltem Apparat, die Verrechtlichung aller Lebensbereiche des Bürgers, ein an spezifische Regeln gebundener Betrieb von Geschäften, die Zuständigkeit für sachlich abgegrenzte Bereiche von Leistungspflichten, das Vorhandensein von Dienstvorgesetzten mit festen Kompetenzen sowie das Prinzip der Amtshierarchie und der Aktenmäßigkeit der Verwaltung. Es ist voraussichtlich mit zunehmenden Bürokratisierungstendenzen der (exekutiven, legislativen, judikativen) Organe der Europäischen Union, die einen europaweiten „Bürokratisierungsschub auch im sozialpolitischen Bereich“ mit sich bringen dürften, zu rechnen. Ziel des Bürokratismus ist der „organisatorische Perfektionismus“369 auf der Basis einer „zweckrationalen Verantwortungsethik“370. Dass Altenpflegeeinrichtungen tatsächlich enorm reglementierte und bürokratisierte Gebilde sind, zeigt sich unter anderem, wie bereits angesprochen, an der Intensivierung der Pflegedokumentation371 seit Einführung des PVGs, aber auch an vielfältigen Verordnungen und Gesetzen, die in der Pflege wirksam sind.372 Schließlich kann ein enormer „bürokratischer Aufwand“ insbesondere in den Verwaltungen der gemeinnützigen Träger von Pflegeeinrichtungen festgestellt werden, da diese immer wieder von neuem darlegen müssen, dass sie keine – verbotenen – Gewinnabsichten verfolgen.373
369 Ebd., 14. 370 Ebd. 371 § 13 des Heimgesetzes (HeimG) regelt die Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht der Pflegedokumentationen. Zu den Unterlagen, die erstellt und aufbewahrt werden müssen gehören detaillierte Angaben über die Pflegebedürftigen, Aufzeichnungen über die Medikation (aufbewahrte oder verabreichte Pharmazeutika), Pflegepläne und Pflegeverläufe, Förder- und Hilfepläne bei behinderten Personen, Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und –förderung, Dokumente über freiheitsentziehende Maßnahmen (z.B. richterliche Anordnungen, medizinische Gut-achten), Angaben über die Verwaltung von Wertsachen usw. 372 Um nur einige zu nennen: Das Heimgesetz, das Altenpflegegesetz, das Pflegeversicherungsgesetz, das Pflegelei-stungs-Ergänzungsgesetz, Pflege-Qualitätssicherungsgesetz, Heimpersonalverordnung, Heimmitwirkungsverordnung, Heimmindestbauverordnung, Heimsicherungsverodnung usw. mit ihren jeweiligen Ausführungsbestimmungen. 373 So H. Pieper, Unternehmensberater in Berlin und spezialisiert auf die Beratung von Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, in einem Interview mit der Zeitung DIE WELT am 22.09.04, 16.
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Ein typisches Dilemma der Altenpflege besteht darin, dass die Spezialisierung, Hierarchisierung und Reglementierung der Arbeitsabläufe eine Einengung und Vernachlässigung der individuellen Bedürfnisse der Pflegebefohlenen mit sich bringen.374 Erschwerend kommt eine allzu starke Orientierung der Altenpflege an Leitvorstellungen der Krankenpflege hinzu,375 obwohl die Zielvorstellungen wie auch der Aufbau beider Einrichtungen grundlegend divergieren. Während sich das Krankenhaus durch einen wesentlich höheren Grad an Spezialisierung der Hierarchie auszeichnet, kommt es hingegen im Alten- und Pflegeheim darauf an, sich um einen „wohlbefindlichen Lebensraum der Bewohner“ zu bemühen. Pflegebefohlene wie Pflegekräfte gleichermaßen leiden unter dieser Subordination der Altenpflege unter medizinische Leitkategorien. Es liegt nahe, dass Pflegeheime, die in den vergangenen Jahren Gegenstand erhöhter (medialer) Aufmerksamkeit wurden und deren kleinste Mängel mitunter zu Berichterstattungen auf Titelseiten von Zeitungen führen, eine Neigung zur Unangreifbarkeit entwickeln. Dies geschieht z.B. durch einen ‚organisatorischen Perfektionismus‘ (Deimling), die Betonung der Fachkompetenz der Pflegenden (woraus wiederum eine regelrechte ‚Expertokratie‘ erwächst) oder eine Abschottung376 nach außen, die ebenfalls als Reaktion auf die beschriebene mediale „Bedrohung“ denkbar ist.377 374 375 376 377
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Prahl, H.-W./Schroeter, H. R., a.a.O., 168. Vgl. Prahl, H.-W./Schroeter, H. R., a.a.O., 195f. Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 52 ff. Bei meiner Suche nach Heimpastorinnen und –pastoren, deren seelsorgerliche Besuche ich durch Videoaufzeichnungen dokumentieren wollte, holte eine Angesprochene zunächst eine Genehmigung von verschiedenen Instanzen ein (Heim-, Pflegedienst-, Stationsleitung, sogar von der eigenen Dienstvorgesetzten (Pröpstin), auch Angehörige), obwohl mein klar formuliertes Anliegen darin bestand, ausnahmslos die Seelsorgerin bzw. den Seelsorger ins Bild zu nehmen und auch sonst in keiner Weise die Identität des Pflegebefohlenen preiszugeben. Meiner Ansicht nach wäre nur zwischen Besuchendem und Besuchtem zu klären gewesen, ob die besuchte Person einverstanden gewesen wäre, dass eine Kamera (bzw. eine dritte Person) der Situation beiwohnt, hätte ich doch ebenso wenig erwartet, dass im Fall der Dokumentation z.B. eines Geburtstagsbesuches in einer Wohnung der Vermieter, Verwalter oder Hausmeister um eine Genehmigung ersucht worden wären. Auch wenn das Vorgehen der von mir angefragten Seelsorgerinnen und Seelsorger durchaus nachvollziehbar ist (weil sie nämlich vor dem Hintergrund kritischer Medienberichterstattung Irritationen im Heim vermeiden wollten, wenn eine Kamera entdeckt worden wäre!), so lässt das Vorgehen dennoch Anzeichen von Bürokratisierung i.S. der von Gerhard Deimling aufgezeigten Phänomene erkennen, wie ‚Verrechtlichung‘, ‚Entpersönlichung‘ (der unmittelbar betroffene Mensch (= Pflegebefohlene) trifft nicht souverän die Entscheidung für seine seelsorgerliche Situation, vielmehr sind andere ‚Instanzen‘ ebenso ‚zuständig‘), ‚Vorhandensein von Dienstvorgesetzten mit festen Kompetenzen‘.
Bürokratie geht mit der Gefahr einer zunehmenden „Immobilität und Schwerfälligkeit“ pflegerischen Handelns einher, die sich proportional zur Größe einer Pflegeeinrichtung verhält. Die Fähigkeit, flexibel zu reagieren, droht verloren zu gehen.378 Das sehen auch Prahl/ Schroeter: „Das Personal wird nicht nach seiner Person, sondern nach seiner Leistung und Funktion bewertet. Es wird als Inhaber einer konkreten Position gesehen, die einen bestimmten Teil seiner Person ausschließt und ihn damit austauschbar macht ... Für die Pflegesituation bedeutet das eine Reduzierung der sozialen Hilfe auf – durch Erfolg messbare – Leistung. ... Während das übergeordnete Personal Entscheidungsverantwortung trägt und dabei bestrebt ist, möglichst viel zu entscheiden und zu kontrollieren, gebührt dem untergeordneten Personal lediglich die Ausführungsverantwortung. Bei ihm kommt es weniger darauf an, eigene Entscheidungen zu treffen ... als vielmehr Anweisungen entgegenzunehmen und bestmöglich auszuführen. Ihm bleibt nur eine eingeschränkte Eigeninitiative, die oftmals inneren Rückzug, Scheu vor Kritik und Verantwortung, Arbeitsunlust und Resignation hervorruft“.379
Darüber hinaus sind „Auswirkungen auf das Ethos der Mitarbeiter“ zu vermuten, die von einer Deckungsgleichheit von diakonischem und bürokratischem Handeln ausgehen könnten, als sei ein funktionsgerechter, qualitativ auf höchstem Niveau stehender Vollzug von (pflegerischen) Handlungen eo ipso ‚diakonisch‘ oder ‚kirchlich‘. Deimling befürchtet deshalb eine „Schrumpfung der religiösen Vitalität [in Pflegeeinrichtungen, O.K.]“, die sich in „auffälligem Kontrast zu der organisatorischen Expansion“ vollziehe.380 Der pflegerische Bürokratismus ist auch von der ethnologischen Feldforschung wahrgenommen und in Gestalt regelmäßig zu beobachtender Versachlichung identifiziert worden: „Das Prinzip der ‚Pflege im Hier und Jetzt‘ .... wird ergänzt durch weitgehende Sachlichkeit im Umgang mit versteckt oder offen zutage tretenden Gefühlen und Emotionen der BewohnerInnen“381. Auch sei gelegentlich „der Austausch des Teams [über Ängste und Trauer der Neuzugezogenen, O.K.] wichtiger als die Begleitung des neuen Bewohners“382. In den beobachteten Verhaltensweisen (‚Versachlichung‘ sowie ‚Austausch über ...‘) bekundet sich vielleicht nicht nur ein legitimes psychologisches Interesse an Entlastung (Abgrenzung, Distanzierung) der Pflegenden, es zeigt sich hier möglicherweise auch eine Spur jener Charakteristika, die bürokratisches Handeln auszeichnen (Dinge werden „sachlich“, „nüchtern“, distanziert betrachtet; man bespricht sich und konferiert, anstatt zu handeln). In diesen Zusammenhang 378 379 380 381 382
Deimling, G., a.a.O., 14. Prahl, H.-W./Schroeter, H. R., a.a.O., 169f. [Kursiv O.K.]. Deimling, G., a.a.O., 14. Koch-Straube, U., a.a.O., 256 [Kursiv O.K.]. Koch-Straube, U., a.a.O., 256 [Kursiv O.K.].
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ist sicherlich auch das Sprechen (der Pflegenden) in Kürzeln, das in stationären Einrichtungen häufig begegnet, zu sehen. Dieses Phänomen kann als ein Versuch erklärt werden, die pflegerische Tätigkeit zu „versachlichen“, indem die Gepflegten zu „Vorgängen“ werden, „organisatorische Rationalität“ die Arbeit bestimmt und alles entsprechend routiniert verrichtet wird. Die Persönlichkeit der Pflegebefohlenen tritt mit solchen Sprachformen in den Hintergrund und Distanz zwischen den Interagierenden wird somit gefördert. 383
17. Gewalt Die Institution Pflegeheim ist nicht zuletzt durch spektakuläre Medienberichte384 über Gewalt, Altentötungen und Altenmisshandlungen in Verruf geraten. Das Thema ‚Gewalt‘ ist allerdings aus zwei Gründen nicht leicht zu erschließen: Erstens handelt es sich bei dem Terminus um einen unpräzisen Begriff, der in der öffentlichen Diskussion bzw. Hysterie entsprechend indifferent und plakativ gebraucht wird. Zweitens liegt es in der Natur der Sache, dass dieser Bereich der Pflege nur schwer systematisch erforschbar ist, da es zumeist aus naheliegenden Gründen an der notwendigen Beteiligung der Pflegeeinrichtungen (Leitung, Pflegepersonal) mangelt, wie eine jüngste Untersuchung zum Thema verdeutlicht.385 Es ist sinnvoll, den Begriff nicht zu eng zu fassen im Sinne von aktivem Handeln oder körperlicher Gewalt. Selbst wohlwollender Paternalismus kann noch eine gewaltsame Dynamik beinhalten und in subtilsten Formen einen Ausdruck finden. Differenziert werden müsste der Gewaltbegriff zudem in vielfältiger Weise, z.B. nach physischer, psychischer, struktureller, kultureller, legitimer, legaler, offener, versteckter, stiller, politischer usw. Gewalt. Dieck386 unterscheidet unter Rückgriff auf den englischen Sprachgebrauch Misshandlung (abuse) und Vernachlässigung (neglect), wobei sie noch einmal unterscheidet zwischen aktiver und passiver Vernachlässigung (bewusstes Verweigern bzw. 383 Ebd., 261 [Kursiv O.K.]. 384 Im November 1994 erregte ein Auszug aus dem Buch von Temsch in der Wochenzeitung DIE ZEIT große Aufmerksamkeit, in dem dieser von seinen Erfahrungen als Zivildienstleistender in einem Pflegeheim berichtet, vgl. Temsch, J., Das wird schon wieder, Hamburg (1996). In jüngster Zeit sorgte das Buch von Markus Breitscheidel, Abgezockt und totgepflegt, Berlin (2005, 5. Aufl.) über den „Alltag in deutschen Pflegeheimen“ – so der Untertitel - für große Aufregung, zu dem Günter Wallraff das Vorwort schrieb. Es liest sich wie ein einziger Bericht über Gewalt gegen Pflegebefohlene, obwohl es noch ein eigenes Kapitel zum Thema beinhaltet, vgl. 33ff. 385 Vgl. Klie, T./Pfundstein, T., a.a.O. 386 Dieck, M., zit. in Klie,T./Pfundstein, T., a.a.O., 9.
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Nichterkennen einer Bedarfssituation). Sie beschränkt ihre Definition allerdings auf ein Modell interagierender Personen, die es in der Altenpflege miteinander zu tun bekommen und angesichts einer längeren Verweildauer Pflegebefohlener je ihre eigene Beziehungsdynamik entwickeln, nicht zuletzt auch infolge des hohen Grades an Intimität im pflegerischen Kontakt. Gröning vermutet zudem, Gewalt sei dem System Pflegeheim unter den gegebenen Bedingungen immanent und Folge einer unentwegten „Spirale eines Ressentiments“387. Diese sei das Ergebnis der „Fordisierung“ der Pflege, womit sie die Vergegenständlichung und Objektivierung der Pflege bezeichnet, die von ihr kritisiert werden. Sie sieht auf der Ebene der Ablauforganisationen und der Monetarisierung der Pflege Formen der „Nichtanerkennung“ und „Entwertung“, die im Gegensatz zum Leitbild der Pflegeversicherung ständen, das Liberalität suggeriere. Diese Phänomene hätten jedoch eine „Verschlechterung der Pflegequalität bis hin zur „Gewalt“ zur Folge. Gröning beschreibt hinsichtlich der Kundenorientierung der Pflegeversicherung eine gravierende Veränderung: Während es früher die Pflegebedürftigen gewesen sind, die wie Objekte ihrer Helfer behandelt wurden, seien es nun die Schwestern und Pfleger, die zu Objekten der Kunden gemacht würden. Solches Zum-Objekt-gemacht-Werden trage den Keim des Ressentiments (der Pflegenden gegenüber den Gepflegten) in sich und berge die Gefahr der Gewalt.388 Ethnologische Forschung kommt zu ähnlichen Befunden, die darauf hindeuten, dass die Interpretationen Grönings zutreffend sind.389 Bei der Betrachtung der Gewaltproblematik darf freilich nicht übersehen werden, dass Gewalthandlungen nicht allein vom Pflegepersonal, sondern ebenfalls von Gepflegten390 ausgehen können. In einer Befragung gaben 59 % der Pflegerinnen und Pfleger an, mindestens einmal psychische oder verbale Aggression durch Pflegebefohlene erlebt zu haben. Besonders häufig wurden Bespucken, Tritte, Beißen und sexuelle Belästigung angeführt.391 Eine neuere, breit angelegte Pflegepersonalbefragung förderte zutage, dass 79 % der Pflegekräfte innerhalb der vergangenen zwölf Monate mindestens einmal gewaltsame Handlungen begangen hatten, darunter Anschreien (46 %), absichtliches Ignorieren (35 %), Zurückweisung (32 %) und Beschimpfung (25 %), auch Verweigerung von legitimem Pflegebedarf wurde als Reaktion auf ärgerliches Bewoh387 388 389 390
Gröning, K., Qualität in der Pflege als Problem der Organisationskulturen, 446f. Ebd., 444. Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 147 -149. Beim Besuch SIV-1 (Markierung 0’31’’ff) macht der Pflegebefohlene eine deutlich aggressive Armbewegung, um die Berührung des Seelsorgers abzuwehren. Dieser schreckt deutlich zurück. 391 Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J., a.a.O., 17.
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nerverhalten oder Überlastungsempfinden angegeben.392 Man sollte aus diesen Zahlen allerdings keine falschen Folgerungen ziehen und meinen, Pflegeheime seien anfälliger für gewaltsame Übergriffe als häusliche Pflege, oder Gewalt sei hier an der Tagesordnung. Studien dokumentieren einen durchaus „sehr netten“, „friedlich-freundschaftlichen“, sogar „liebevollen“ Umgang des Pflegepersonals mit den anvertrauten Menschen.393 Andererseits ist zu bedenken, dass sich hinter dieser freundlichen Haltung ein Habitus – und nicht wirkliche, echte, empfundene Freundlichkeit – verbergen kann, da es sich zwischen Gepflegten und Pflegenden um eine Dienstleistungsbeziehung handelt, Pflege somit ein Produkt ist, das verkauft wird und die/der Pflegebedürftige als ein Leistung nachfragender Kunde gesehen wird, den es freundlich zu behandeln gilt.394 Mindestens so wichtig wie die Kenntnisnahme individueller Übergriffe von miteinander interagierenden Personen ist jedoch auch die strukturelle Dimension von Gewalt im Pflegeheim. Hilfesuchende bei Beschwerdestellen oder Notruftelefonen lassen erkennen, dass „ein Großteil der Beschwerden auf strukturelle Defizite“395 hinweist. Die im 21. Jahrhundert gängige Kollektivversorgung Schwerstpflegebdürftiger in Heimen brachte ein „Spannungsverhältnis von Strukturbedingungen und Individualrechten“ mit sich, welches „den Anspruch an Menschenwürde und Selbstbestimmung potenziell gefährdet“.396 Gewalt im Pflegeheim ist deshalb „in seiner strukturellen Dimension institutionsimmanent“397. Es wird deshalb gefordert, institutionelle Zwänge zu minimieren, Individualrechte zu sichern und fürsorglichen Zwang zu meiden. Diesem Ziel näherzukommen sei vor allem eine Leistungs- und Managementaufgabe, die die Bedarfs- und Bedürfnisaspekte der Pflegebefohlenen erkenne, strukturelle Zwänge abbaue, einfühlend Überforderungssignale der Personals wahrnehme, den Umgang mit knappen Ressourcen optimiere und die Kooperation mit Angehörigen, Ärzten, Betreuern und Laienhelfern anstrebe.398 In Zusammenhang mit dem Thema Gewalt in der Pflege ist außerdem zu bedenken, dass Pflegeheime – im Gegensatz zur privaten Sphäre – stärker öffentlich kontrolliert und verrechtlicht sind, was für die Pflegebefohlenen insofern ein Vorteil ist, als dieses eine Schutzwirkung hat. So ist auch nicht 392 Ebd. 393 Ebd., 65. Aufgrund meiner über mehrere Jahre in einem größeren staatlichen Pflegeheim als Seelsorger gesammelten Eindrücke sowie intensiver Erfahrungen mit der Pflegekultur im privaten Bereich, teile ich diese Einschätzung. 394 Vgl. Gröning, K., Entweihung und Scham, 97ff. 395 Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J., a.a.O., 16. 396 Ebd. 397 Ebd. 398 Ebd., 15.
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einzusehen, warum häusliche Pflege eo ipso weniger anfällig für Gewalt sein sollte. Man denke nur an die enorme Überforderung pflegender Angehöriger, die sich nicht selten verbindet mit problematischen Beziehungsmustern, Übertragungsmechanismen, Animositäten oder latenten Rachegelüsten für erlittene Kränkungen (z.B. in Eltern-Kind-Beziehungen).399 Zudem sind Pflegeheime infolge ihrer Verträge mit den Pflegekassen und Pflegebefohlenen zu einer optimalen Pflege nach den anerkannten Standards verpflichtet und müssen infolge der zum 1. Juli 2008 in Kraft getretenen Neuregelungen des Pflegeversicherungsgesetzes mit unangemeldeten Kontrollen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) rechnen. Auch dies hat gewaltpräventive Wirkung, wie sie in der häuslichen Pflege nicht wirksam werden kann. Zu den in jüngster Zeit bekannt gewordenen Skandalen zum Thema Gewalt in der Pflege gehören insbesondere Vernachlässigungen in Form von Bedarfsverkennungen sowie eine defizitäre Dekubitusprophylaxe.400 Auch der Einsatz von Psychopharmaka (am häufigsten Neuroleptika, Antidepressiva und Benzodiazepine)401 und anderen Medikamenten mit dem Ziel der Intervention bei Verhaltensstörungen oder Unruhe und potenziell freiheitsbeschränkender Wirkung402 ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die Gefahr solcher Maßnahmen liegt insbesondere darin, dass eine einmal gewählte Maßnahme, die zu einem bestimmten Zeitpunkt durchaus sinnvoll war, schnell zu einer nicht mehr hinterfragten Routine wird.403
18. Demenz Eine besondere Herausforderung der Seelsorge im Pflegeheim ist der hohe Anteil der Demenzkranken, der auf 50 % geschätzt wird.404 Es ist in Deutschland seit dem Jahr 2000 mit einer Zahl von einer Million Betroffener zu rechen.405 Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit zunehmendem Alter an einer Demenz erkranken, ist davon auszugehen, dass dieses Krankheitsbild die Lebenswelt stationärer Pflegeeinrichtungen künftig zunehmend bestimmen wird. Unter Umständen erweist sich die Demenz als das 399 Das ARD-Magazin ‚Monitor‘ am 24.04.2008 berichtete ausführlich über das vernachlässigte und übersehene Thema Gewalt in häuslicher Pflege, das nicht zuletzt auf Überforderung pflegender Angehöriger zurückzuführen sei. 400 Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J., a.a.O., 19. 401 Ebd., 59. 402 Näheres bei Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J., a.a.O., 55 – 60, 131 – 176. 403 Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J., a.a.O., 58. 404 Vgl. Fußnote 129. 405 Vgl. Grond, E., Die Pflege verwirrter alter Menschen, 24.
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bedeutsamste epidemologische Merkmal des 21. Jahrhunderts406, so dass kirchliche Seelsorge sich auf diese Herausforderung unbedingt einzustellen hat. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Demenz als „eine erworbene globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensomotorischer und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen ohne ausgeprägte Bewusstseinstrübung“.407
Gemäß der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (International Classification of Diseases, 10. Revision, kurz: ICD-10) kann von einer Demenz gesprochen werden, wenn folgende Merkmale vorliegen: 1. Abnahme des Gedächtnisses (die kognitiven Leistungen entsprechen nicht mehr dem einstigen Niveau der Erkrankten). 2. Zusätzlich muss mindestens eine weitere intellektuelle Funktion (z.B. Urteilsoder Denkvermögen, Informationsverarbeitung) beeinträchtigt sein. Als Ursache der nach dem Arzt Alois Alzheimer (1864 – 1915) benannten, am häufigsten vorkommenden senilen Demenz kann eine hirnorganische, degenerative Erkrankung der Hirnrinde gelten. Deutlich zu unterscheiden sind die Symptome der Alzheimerkrankheit von akuten408 oder chronischen409 Verwirrtheitszuständen, die häufig auf andere Ursachen zurückgehen. Auch ist eine normale, altersbedingte Vergesslichkeit („Tüddeligkeit“) etwas anderes, als eine beginnende Demenz. Die Seelsorge wird sich diesbezüglich solide Kenntnisse der Erkrankung aneignen müssen, um angemessene Angebote für die Interaktion mit Verwirrten bereithalten zu können. Freilich ist eine Demenz nicht ohne Weiteres diagnostizierbar, da ihre Symptome denen des natürlichen Alterungsprozesses ähneln. Erschwerend kommt die Unfähigkeit der Betroffenen hinzu, über Anzeichen der Erkrankung zu sprechen. Zudem ist die Krankheit bis in die späte Phase in ihrer Symptomatik höchst „individuell geprägt“.410 Ein einförmiges Demenzsyndrom findet sich, wenn 406 Kitwood, T., a.a.O., 17. Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass sich „die psychiatrische Fachwelt, bis auf rühmliche Ausnahmen, um die gerontopsychiatrisch erkrankten Personen zu wenig gekümmert hat“, wie R. Schernus urteilt, in: Wege zum Menschen, 52 (2000), 497. 407 Zit. nach Gerber, W.-D./ Basler, H.-D./ Tewes, U. (Hg.) Medizinische Psychologie. Mit Psychobiologie und Verhaltensmedizin, München (1994), 367. 408 Vgl. Grond, E., Die Pflege verwirrter alter Menschen, 64 – 104. 409 Vgl. Grond, E., ebd., 108 – 176. 410 Zit. in: Breidert, U., Demenz - Pflege - Familie. Hilfen zur Bewältigung emotionaler Belastungen in der ambulanten Pflege, Stuttgart (2001), 19f.
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überhaupt, erst im Endstadium. Bis dahin bleibt der/die Einzelne mit den je individuellen Eigenschaften für das Erscheinungsbild der Erkrankung prägend. Die Erkrankung an einer Demenz hat demnach bis zum Schluss „ein sehr persönliches und unverwechselbar geprägtes Erscheinungsbild“411 und fordert die Seelsorge insofern einmal mehr heraus. Einige Leitsymptome412 geben allerdings Anhaltspunkte für das mögliche Vorliegen der Krankheit. Zu ihnen zählen eine verstärkte Vergesslichkeit, Orientierungs-, Sprach-413 oder Gefühlsstörungen, Wahnvorstellungen, das Wahren der äußeren Fassade, motorische Unruhe, Umherlaufen, Halluzinationen, Unsicherheit, Interessenlosigkeit, nachlassende Organisation von Körperpflege und Kleidung, Störung der Blasenund Darmentleerung sowie Persönlichkeitsveränderungen. Da Patienten der Alzheimerkrankheit häufig über lange Zeit körperlich stabil bleiben, während ihre mentalen Fähigkeiten hingegen zusehends nachlassen, kann die Seelsorge im Pflegeheim damit rechnen, Demenzkranke über einen längeren Zeitraum zu begleiten. Manche Patienten leben noch bis zu zwei Jahrzehnte, nachdem sich erste Symptome manifestiert haben, die Mehrzahl der Erkrankten dürfte immerhin noch eine Lebenserwartung von sieben bis acht Jahren haben.414 Die seelsorgerliche Begleitung Demenzkranker über einen längeren Zeitraum wird häufig Zeuge einer fortschreitenden Veränderung bzw. Verschlechterung des Zustands. So lassen sich, vereinfacht gesagt, drei Schweregrade unterscheiden: Die leichte, mittelschwere und schwere Form der Erkrankung, wobei häufig ein schnelles Fortschreiten von einem zum nächsten Stadium zu beobachten ist.415 Demenzkranke, die in stationäre Obhut gegeben werden, da sie sich nicht mehr selbst versorgen können und eine angemessene, den Erkrankten wie auch sein Umfeld schützende häusliche Versorgung durch andere nicht mehr gewährleistet ist, dürften zumeist dem mittelschweren bis schweren Grad der Erkrankung zugehören. Im letzten Krankheitsstadium ist häufig mit Inkontinenz zu rechnen, wodurch Schamgefühle und Angst ausgelöst werden, ein Umstand, der Einfluss auf das Sprechverhalten der Erkrankten haben dürfte. Charakteristisch für diese Phase der Erkrankung ist auch eine Verringerung der verbalen
411 412 413 414 415
Ebd. Nach Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 359. Vgl. I.B.10. Post, S. G., The Moral Change of Alzheimer Disease, Baltimore/London (1995), 1. Kitwood, T., a.a.O., 62.
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Kommunikationsfähigkeiten: Wortfindungsstörungen, Zwei-Wort-Sätze416, unverständliche Laute oder Schreien417, der Gebrauch von Floskeln und Allgemeinplätzen418, mit denen Unsicherheit usw. überspielt werden, sind typisch für dieses Stadium. Im Verlauf der Krankheit ist zumeist mit einem stufenweisen Abbau der Sprachentwicklung zu rechen.419 Gelegentlich überraschen Erkrankte aber auch durch bemerkenswert geistesgegenwärtige Reaktionen und Äußerungen.420 In letzter Zeit ist des Öfteren die Ansicht vertreten worden, Demenz sei weniger als Krankheit zu werten, als vielmehr als sinnvoller Bewältigungsmechanismus, Bündelungs- oder Zuspitzungsprozess, Lebenshilfe- oder Selbstheilungsversuch, der der Angstbewältigung diene, dem depressiven Formenkreis zugeordnet werden könne oder eine Analogie zum Traum bilde.421 Es lassen sich grob fünf häufige Bewältigungsstrategien Erkrankter beschreiben: Bagatellisieren, Kompensieren, Erhalten der Fassade, Vermeidungsstrategien sowie Projektionen auf die Umwelt.422 Hinzuweisen ist vor allem auf Kitwoods423 ausführlichen Beitrag zu diesem Verständnis der Demenz, der besonders ausgearbeitet ist und hervorsticht. Abschließend sei noch auf das Thema der Emotionen eingegangen, das für die Demenz eine große Rolle spielt und für die Seelsorge an Erkrankten eine Chance bedeutet: Einerseits lässt in der Demenz die Kontrolle über das Gefühlsleben nach, so dass Erkrankte ihren Emotionen oftmals regelrecht ausgeliefert sind. Anderer416 Depping, K., Altersverwirrte Menschen seelsorgerlich begleiten, Hannover (1997, 2. Aufl.), 34. 417 Ebd. 418 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 177. 419 Vgl. Depping, K., a.a.O., 33f. 420 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 177. Vgl. auch Fußnote 1137. 421 Vgl. hierzu: Feil, N., Validation, München (1999, 5. Aufl.); dies., Validation in Anwendung und Beispielen, München (2000, 2. Aufl.); Gärtner, H., a.a.O., insbesondere 115 – 122; Gröning, K., Entweihung und Scham; Kipp, J., Imaginäre Lebenswelten – Bewältigungsstrategien bei akuten psychischen Erkrankungen im Alter, in: Petzold, H. (Hg.), Lebenswelten alter Menschen, Hannover (1992), 218 – 225; KochStraube, U., Das Krokodil unter dem Bett: Mit Verrücktheiten leben und gewinnen, Vortrag gehalten anlässlich der Europäischen Konferenz ‚Remembering Yesterday, Caring Today‘, Wien (1998), zit. in: Trilling, A. et al., Erinnerungen pflegen, München (2001), 64ff. 422 Ebd., 178. 423 Kitwood, T., a.a.O.
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seits „bleibt die emotionale Kontaktfähigkeit bis zum Tod erhalten“424 und eine „Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten, insbesondere im emotionalen Bereich“425, geht keineswegs verloren. Erkrankte sind demnach fähig, Gefühle zu erleben und auszudrücken, die anderer zu verstehen, auf jene zu reagieren, sie zu imitieren oder eigene Gefühle zu stimulieren. Bestimmte Bewegungen lassen sich so z.B. interpretieren als Mittel der Gefühlsstimulation: Die wiegenden Bewegungen demenziell Erkrankter können etwa gedeutet werden als das „Zurückholen der Mutter“, was angenehme Empfindungen weckt.426 Auch ist daran zu erinnern, dass die unverwechselbaren Temperamente eines Menschen zeitlebens erhalten bleiben, so dass Lubkoll von der Altenseelsorge die Fähigkeit fordert, mit der „Vielfalt der Temperamente umzugehen“, die er an biblischen Figuren (Petrus, Johannes, Zebedaiden, Paulus) veranschaulicht.427 Emotionen prägen sich bei Betroffenen umso mehr aus, als sie sich infolge ihrer Erkrankung auf eine „einfachere“ Handlungsebene zurückziehen, denn „der Organismus schaltet auf ein älteres Notaggregat herunter“428. Eine „Affektinkontinenz“ ist die Folge (winzige Reize bringen zum Weinen oder Lachen [„Zwangslachen“], lösen Wut, Angst oder Zorn aus)429, auch eine Affektlabilität (rascher Wechsel von Gefühlsäußerungen und –erleben) ist zu beobachten,430, was es mitunter erschwert, das Befinden einer erkrankten Person zu ermessen. In der Interaktion mit Erkrankten ist somit weniger der Inhalt von Bedeutung als vielmehr die Art (Parasprache!), die Gefühlsbetonung und die begleitende Körpersprache, wie der Vierte Altenbericht nachdrücklich betont.431 Auf Verbote, direkte Aufforderungen oder Befehle reagieren Verwirrte häufig mit Widerstand oder Aggressivität,432 so dass nach Formen und Formulierungen zu suchen ist, die solche Emotionen vermeiden. Die Seelsorge wird bei ihren Besuchen Verwirrter zu ergründen haben, was bei dem bzw. der Besuchten
424 Hirsch, R. D., Pharmakotherapie versus Psycho- und Soziotherapie?, in: Hirsch, R. D. (Hg.), Psychotherapie bei Demenz, zit. in: Vierter Altenbericht, 177, Sp. 1. 425 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 177, Sp. 1f. 426 So Feil, N., Validation, 26. Ähnlich 24: „Bewegung kann Erinnerung an Gefühle wachrufen: die fast blinde Frau K. führt ihre Hände an die Lippen, streichelt sie, summt und wiegt ihr ‚Handbaby’“. 427 Lubkoll, H.-G., Alter – ein vergessenes Stück Seelsorgetheologie, in: Diakonie, 21 (1995), 259f. 428 Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 360. 429 Ebd. 430 Depping, K., a.a.O., 36. 431 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 181, Sp.1. 432 Ebd., 181, Sp.2.
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positive Gefühle weckt. Hektische und empathielose Pflegehandlungen werden von Pflegebefohlenen häufig blockiert.433 Die Beschäftigungstherapeutin Zgola macht darauf aufmerksam, dass Tiere und Babys bei Demenzkranken oft angenehme Empfindungen wecken, und erklärt diese Beobachtung damit, dass es sich dabei um Beziehungen handele, „die ohne Vorbehalte und ohne Bedrohung sind“434. Auch weist sie darauf hin, dass die sensorischen Grundfunktionen und das rhythmische Empfinden Dementer „im allgemeinen ungestört“ sind, so dass „durch bestimmte sensorische Reize, wie Wohlgerüche oder Musik, Gefühle erzeugt werden können“.435 Später werde ich auf diese Erkenntnis noch einmal zurückkommen.
19. Sterben Zu den prägnanten, die Kultur der Pflegeheime bestimmenden Merkmalen, gehört die Tatsache, dass Pflegebefohlene die Einrichtung in der Regel ausnahmslos infolge ihres Sterbens verlassen, wie bereits oben gezeigt jede/r Zweite innerhalb der ersten 75 Tage, jede/r Fünfte innerhalb des ersten Monats nach Zuzug. Koch-Straube deutet die hohe Sterblichkeit in den ersten Monaten als eine „Form des Widerstandes“ gegen die Notwendigkeit, sich „der als fremd und abweisend erscheinenden Welt des Pflegeheims und seiner Regelungen anzupassen“436. Diese Deutung kann mit wissenschaftlichen Untersuchungen zur Sterblichkeit ins Heim Übersiedelnder erhärtet werden: So wurde beobachtet, dass von 17 Frauen, denen keine andere Wahl blieb, als in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen, innerhalb von vier Wochen bereits 8, und nach zehn Wochen 16 verstorben waren. Hingegen starb in demselben Zeitraum von 38 Frauen, die noch andere Optionen als einen Wechsel ins Pflegeheim gehabt hätten und die aus eigenem Entschluss ins Heim zogen, lediglich eine.437 Diese Beobachtung mag die Richtigkeit der Widerstandstheorie bekräftigen. Es ist allerdings auch möglich, den Tod der ins Heim wechselnden Frauen als Ausdruck von Selbstaufgabe und Hoffnungslosigkeit zu werten.438
433 434 435 436 437 438
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Schwerdt, R., Gute Pflege, Stuttgart (2002), 45. Zgola, J., Etwas tun!, Bern (1999, 2. Aufl.), 30. Ebd. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 341. Vgl. Seibert, H., Diakonie, Gütersloh (1983), 91. Vgl. ebd.
Der Tod begegnet im Pflegeheim allenthalben. Sogenannte „Finalpatienten“ machen einen zunehmend hohen Anteil der Pflegebefohlenen aus.439 Dennoch verstehen Pflegeheime sich nicht – im Gegensatz zum Hospiz – als Einrichtungen der Sterbebereitung oder –begleitung, folglich ist zwischen diesen und jenen zu unterscheiden. Die Einschätzung Wilkenings ist bedenkenswert: „Der Umgang mit dem Sterben Schwerstpflegebedürftiger wird daher von einem eher verschämten Randthema zu einem der zentralen künftigen Aufgabengebiete der Heime. Für diese Form des institutionalisierten Sterbens haben wir kaum Modelle, es muss hierzu erst noch eine neue Kultur entwickelt werden“.440
Diese Auffälligkeit erklärt sich nicht zuletzt als Folge gesellschaftlicher Definitionen und Vorgaben, historisch gewachsener Strukturen, aber auch aus dem Berufsbild des Pflegeberufes und seinem Selbstverständnis, das stark medizinisch und therapeutisch geprägt ist, wie ein Blick in die Schwerpunkte gerontologischer Forschung zeigt.441 Auch die Tatsache, dass die altenpflegerische Organisation „zu eng an den Leitvorstellungen der Krankenpflege orientiert“442 ist, erschwert einen angemessenen Umgang mit Tod und Sterben in der Institution Pflegeheim. Koch-Straube erklärt die „Verdrängung des Todes“ im Kontext stationärer Pflege mit einer „Kettung an körperbezogene Gesundheitsziele“, welche es verbiete, das Pflegeheim als eine Übergangsphase vom Leben zum Tod zu sehen. Eine solche Orientierung am Medizinischen bzw. Kurativen verbrauche alle Kräfte, die notwendig wären, um die Phase des Übergang angemessen zu gestalten.443 Sie beobachtet eine Bereitschaft, selbst noch dem alten, todgeweihten Körper eine „Reparaturbereitschaft und –fähigkeit“ zu unterstellen, die die Illusion wecke oder verstärke, eine systematische Bekämpfung von Krankheiten könne diese überwinden und den Tod gar überlisten.444 Die Praxis der Zwangsernährung Pflegebefohlener in stationären Einrichtungen veranschaulicht, dass in Heimen das „Sterben verboten“ ist, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung445 zum Thema titelte. Statistisch werden demnach 439 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., a.a.O., weisen auf Angaben aus Nordrhein-Westfalen hin, nach denen der Anteil der erhöht pflegebedürftigen Heimbewohner bei 70% liegt, vgl. 162. 440 Wilkening, K./Kunz, R., a.a.O., 17. Die Autoren geben Anregungen für die Praxis einer neuen Abschiedskultur in Pflegeheimen. 441 Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 141: „In der gerontologischen Forschung und – daraus abgeleitet – in Literatur und Praxis der Altenpflege steht das Interesse an Aktivierung, Rehabilitation und Kompetenz alter Menschen im Vordergrund“. 442 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., a.a.O., 168. 443 Koch-Straube, U., a.a.O., 351 [Kursiv O.K.]. 444 Ebd., 348 [Kursiv O.K.]. 445 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 24 vom 15.06.2008, 1.
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von den jährlich insgesamt 140.000 Magensonden zwei Drittel in Pflegeeinrichtungen gelegt.446 Rest spricht deshalb zu Recht von einer Wiederherstellungs-Ideologie, die sich berühre mit dem Geist der Leistungsgesellschaft: Je bereitwilliger der kranke oder pflegebedürftige Mensch sich den Forderungen nach Eigenleistungen, Gesundheitsprogrammen und Rehabilitationsmaßnahmen unterwerfe, desto höher sei sein Wert auf einer Kranken- oder Pflegestation und desto größer der Unwert seines Sterbens.447 Gröning meint deshalb, im Pflegeheim sei zu beobachten, „dass die Institution den Ängsten vor der Gegenwart des Todes einen rationalen Plan entgegensetzt“448. Minutiös sei deshalb der Arbeitstag verplant mit der Folge, dass die pflegerischen Begegnungen unter Hektik ständen. Ein „Schamkonflikt“ komme hinzu angesichts des hohen Ideals, mit dem Pflegende ihre Arbeit verrichteten. Auch die eigene Gesundheit und faktische Hilflosigkeit begünstige diesen Konflikt, der den hektischen Aktionismus bzw. die pflegerische Verplanung nähre.449 In Deutschland gehört das Pflegeheim neben Krankenhaus und Hospiz zu den Einrichtungen, in denen der größte Teil unserer Bevölkerung verstirbt, in Großstädten über 80 %.450 Sterben geschieht in den Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts überwiegend institutionalisiert. Die Thanatologie müsste somit ein wichtiger Bestandteil der Gerontologie, aber auch der Seelsorge (im Krankenhaus/Pflegeheim) sein. Für beide Bereiche gilt jedoch, dass das Faktum institutionalisierten Sterbens nur sehr langsam Eingang findet in entsprechende Curriculae. Schmitz-Scherzers Beobachtung aus dem Jahr 1982 trifft meines Erachtens noch immer zu: Er meint, im evangelischen Bereich in Deutschland sei die Gerontologie bislang kaum und die praxisbezogene Thanatologie so gut wie gar nicht aufgegriffen worden.451 Erkennbar sei dies an Kursangeboten und Schwerpunkten der Klinischen Seelsorgeausbildung (CPT), in denen die Be446 447 448 449 450
Ebd. Rest, F., a.a.O., 59. Gröning, K., Entweihung und Scham, 118. Ebd. Schmitz-Scherzer, R., Einsam sterben – warum?, 21, Hannover (1982); vgl. auch Blumenthal-Barby, K., Sterbeort Krankenhaus und Fragen der Sterbeaufklärung, in: Sterben und Sterbebegleitung – Ein interdisziplinäres Gespräch, BMFSFJ, Bd. 122, Stuttgart/Berlin/Köln (2001). Demnach sterben in deutschen Krankenhäusern gut 50 % aller Menschen, 97f. Die Zahl der in stationären Einrichtungen der Altenpflege Verstorbenen liegt entsprechend zwischen 20 % und 30 %, vgl. Bickel, H., Zur Inanspruchnahme von stationärer Pflege und Versorgung im Altersverlauf, in: Das Gesundheitswesen 56 (1994), 363-370, zit. in: Moser, U., a.a.O. 451 Schmitz-Scherzer, R., Einsam sterben – warum?, 21.
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gleitung Sterbender kein fester Bestandteil ist. Auch mit Untersuchungen zur Tätigkeit und zum Selbstverständnis von Klinikseelsorgern, die eine Tendenz der Seelsorgerinnen und Seelsorger zeigten, „dem Sterbenden auszuweichen“452, erhärteten diese Auffassung. Piper verweist auf das Experiment in einem New Yorker Krankenhaus, welches die Meidung Sterbender durch das Pflegepersonal sichtbar machte und die – möglicherweise auch auf deutsche Verhältnisse übertragbare – Vermutung nahelegt, es gebe eine „unbewusste Abwehrhaltung“ aller, die mit Sterbenden zu tun haben (Ärzte, Geistliche, Angehörige). Das Sterben eines Menschen, um das verschiedene Gruppen (insbesondere Pflegekräfte) sich intensiv bemühten, konfrontiere Schwestern und Pfleger mit der Vergeblichkeit aufopfernder Pflege, Ärzte und Ärztinnen mit den Grenzen ihrer Kunst und Geistliche mit den Zweifeln ihres Glaubens.453 Andererseits ist zu beobachten, dass das Thema Sterben und Sterbebegleitung in letzter Zeit eine verstärkte Aufmerksamkeit erfährt, wie sich an jüngsten Publikationen ablesen lässt.454 Dies muss freilich nicht bedeuten, dass damit die angeführten Beobachtungen nicht mehr gelten dürften. Zu den bedrückenden Umständen eines Sterbens in Institutionen gehört deshalb, dass dort Sterbende in der Gefahr stehen, sowohl von Ärzten, vom Pflegepersonal als auch von Angehörigen vernachlässigt oder allein gelassen zu werden. Die Unterbringung eines Pflegebedürftigen in einer stationären Einrichtung führt zudem bei Angehörigen fast zwangsläufig zu einer Abschwächung des Verantwortungsempfindens, wie Wagner et al. 455 beobachten, da diese den Pflegebefohlenen „in guten Händen“ wähnen und Besuche nicht selten nur noch den Charakter einer Pflichterfüllung haben.456 Diese Rückzugstendenz der vertrauten Menschen ist aber nicht nur mit der besagten Entlastung durch den Wechsel der Pflegebefohlenen in „professionelle Hände“ zu begründen, sondern auch in Zusammenhang zu sehen mit einer allgemeinen, nachweisbaren Tendenz, sich 452 Ebd., 28. 453 Piper, H.-Chr., Gespräche mit Sterbenden,148. 454 Vgl. Lammer, K., Den Tod begreifen – Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vluyn (2004, 2. Aufl.); Fiedler, A., Ich war tot und ihr habt meinen Leichnam geehrt – Unser Umgang mit den Verstorbenen, Mainz (2001). 455 Wagner, M., Schütze, Y., Lang, F. R., Soziale Beziehungen alter Menschen, in: Mayer, K. U., Baltes, P. B. (Hg.), Die Berliner Altersstudie, 301 – 319, Berlin (1996), zit. in: BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 133. 456 Ich konnte vielfach erleben, wie Angehörige betont darauf verwiesen – als wollten sie es sich einreden -, „wie gut“ es ihre Pflegebefohlenen im Heim doch hätten, wie „wunderbar“ und „umfassend“ sie dort versorgt seien, es mangele an nichts, sie hätten alles, was sie brauchten ... usw., als wäre dieser Verweis zugleich eine Erklärung, warum Besuche und Begleitung nicht (mehr) (so häufig) erforderlich sind.
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von Siechen und Sterbenden fernzuhalten. Fuchs meint, die zunehmende Verlagerung des Sterbeortes in die medizinischen Institutionen verstärke die Neigung der Interaktionspartner, sich von Sterbenden zurückzuziehen. Die den Tod antizipierenden Angehörigen reduzierten ihre Kommunikation mit dem/der Schwerkranken. Auch die Interaktionspartner der Institutionen neigten zum gleichen Verhalten gegenüber schwerkranken Patienten.457 Der „institutionelle Tod“ geht somit einher und bedingt möglicherweise sogar den „sozialen Tod“, denn es gibt einen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Maß sozialer Kontakte und der Lebensdauer eines Patienten/Pflegebedürftigen.458 Bringt man die Zahlen der Untersuchungen zu den sozialen Kontakten im Heim Lebender (ca. ein Drittel erhält selten oder nie Besuch)459 in Zusammenhang mit dem Quotienten der Sterblichkeit in den ersten Monaten460, so deutet auch dies auf einen möglichen Zusammenhang beider Parameter hin. Das Sterben hat somit nicht nur eine biologische und psychologische, sondern auch eine soziale Dimension.461 Indem der Tod selbst noch im Pflegeheim als „Panne“ aufgefasst wird, bzw. als – im Sinne einer durch und durch medizinisch geprägten Institution mit ‚Wiederherstellungs-Ideologie‘ – etwas Negatives, Hinauszuschiebendes, zu „Unterbindendes“, wird zugleich der Aufgabencharakter des Sterbens übersehen: Rest bringt das Sterben in Zusammenhang mit dem allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und versteht es als ein Glied in diesem lebenslangen Prozess: Ein Patient wolle sich auch noch im Tode als Person „voll entfalten können“ und noch im letzten Lebensabschnitt „Verantwortung für sich übernehmen“, indem er seine ganz „persönliche Todesprägung“ mitgestalte.462 Die Ausführungen sollten freilich nicht zu der falschen Konsequenz verleiten, Pflegeheime und Hospize künftig in eins zu setzen und in Pflegebefohlenen künftig nur noch Sterbende zu sehen (die womöglich mit dem Tod in irgendeiner Weise zu konfrontieren wären, auf das Ende vorbereitet oder zum getrosten Loslassen „hingeführt“ werden müssten), so dass die Seelsorge im Pflegeheim 457 Fuchs, W., Todesbilder in der modernen Gesellschaft, 199f., Frankfurt (1979. 2. Aufl.). Diese Feststellung wird in der Forschung vielfach bestätigt, vgl. Rest, F., a.a.O., 53. 458 Howe, J., a.a.O., 253, knüpft an die Hypothese Weismans u. Wordens an, die in Untersuchungen belegten, „dass die zwischenmenschlichen Beziehungen derart bedeutsam sind, dass sie die Lebensdauer von an Krebs erkrankten Patienten beeinflussen können“. 459 Vgl. Kap. II.B. 8. 460 Vgl. ebd. 461 Vgl. Howe, J., a.a.O., 255. 462 Rest, F., a.a.O., 120.
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sich künftig im Wesentlichen auf die Sterbebegleitung zu konzentrieren hätte. Keineswegs bedeutet ja ein Wechsel ins Pflegeheim den unvermeidlichen Beginn einer unaufhaltsamen Lebensmüdigkeit, wie immer wieder überraschend zu beobachten ist, sei es, dass es Pflegebefohlenen gelingt, sich einzuleben, sei es, dass ihnen der Gedanke an die Übersiedlung in fremde Obhut ohnehin ein vertrauter Gedanke war. So besteht die seelsorgerliche Herausforderung im Pflegeheim auch darin, Lebenshilfe zu leisten, wie an anderer Stelle ausführlicher zu zeigen sein wird.463 Eine Herausforderung eigener Art bedeutet die Sterbebegleitung Demenzkranker: Im Vergleich mit der herkömmlichen Sterbebegleitung besteht hier das Problem, „dass es sich um eine zeitlich lange Begleitung handelt, die beim Eintritt des akuten Sterbeprozesses erheblich schwerer zu ermitteln ist, so dass sich der Sterbeprozess aus medizinischer Sicht über mehrere Jahre erstrecken kann“464. Die Sterbebegleitung Demenzkranker erfordert weitaus mehr Zeit und Kraft, als normalerweise. Angehörige und Pflegekräfte sind um ein Vielfaches geforderter und belasteter, als bei der Sterbebegleitung nicht Demenzkranker.465 Da im Verlauf der Krankheit der/dem Erkrankten die Mitteilungsfähigkeit verloren geht, muss die Seelsorge intuitiv erschließen, was die Patientin/der Patient braucht.466 Dech stellt einige Bedürfnisse467 Alzheimerkranker vor und skizziert eine Alternativkonzeption der Sterbebegleitung, wobei poimenisch interessant ist, dass es Seelsorgesituationen gibt, die ein Handeln „am“ Pastoranden legitimieren, ja unumgänglich machen. Es geht hier also nicht um „Anwendung“ seelsorgerlicher „Methoden“, die das Gegenüber vereinnahmen oder manipulieren wollen, sondern um den Versuch, dem erkrankten Menschen zu geben, was aufgrund einfühlender Anteilnahme als für ihn hilfreich eingeschätzt wird. Abschließend soll nach der Bedeutung des Todes für das Lebensgefühl alter, unterstützungsbedürftiger Menschen gefragt werden, denn die Gegenwärtigkeit des Todes in Pflegeeinrichtungen und die Nähe Pflegebefohlener zum Tod 463 Vgl. III.B. 464 Dech, H., Sterbebegleitung von demenzkranken Menschen im Rahmen der Hospizarbeit, in: Wege zum Menschen, 61 (2009), 314 [Kursiv O.K.]. 465 Vgl. ebd. 315. Dech verweist zur Veranschaulichung des Problems auf Mace, N. L./Rabins, P. V., Der 36-Stunden-Tag. Die Pflege des verwirrten älteren Menschen, speziell des Alzheimer Kranken, Bern (1996). 466 Ebd. 467 Z.B. das Bedürfnis auf Nahrung, nach Bewegung, Schmerzfreiheit, Ruhe und Wärme, nach Orientierung, Anerkennung, Integration, sinnvollen Kontakten, nach Nähe, Zärtlichkeit, Beschäftigung oder Selbstverwirklichung, vgl. ebd., 317ff.
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dürfte einen erheblichen Einfluss auf das Klima bzw. die Stimmung in Heimen haben. Thilo ist freilich der Ansicht, die Mechanismen, dem Tod zu begegnen, seien unabhängig vom Alter. Er sieht zwei grundlegende Reaktionen auf den Gedanken an die eigene Sterblichkeit: Verdrängung und Abwehr.468 Er weist darauf hin, dass Verdrängungsmechanismen nicht nur lebensfeindlich, sondern eine Zeitlang auch lebenserhaltend sein können.469 So kann eine auffällige Aktivität im Alter beispielsweise als bewusster oder unbewusster Verdrängungsreaktion interpretiert werden.470 Dieselbe Reaktion kann sich auch hinter der pastoralen, ärztlichen oder pflegerischen Betriebsamkeit jener verbergen, die mit Todkranken und Sterbenden zu tun haben.471 Tatsächlich nehmen die Aktivitäten um den pflegebedürftigen, dem Tode geweihten Menschen bisweilen „Züge von Abwehr“472 an. Wie schon mehrfach anklang, ist eine Atmosphäre der Lethargie für stationäre Pflegeeinrichtungen charakteristisch. Jores473 entwickelt aus dieser Beobachtung die Inappetenz-Theorie, der zufolge das entscheidende psychologische Moment für den Tod die Hoffnungslosigkeit ist, die nicht mehr daran glaubt, noch einmal zu einem erfüllten Leben oder zu einer Lebensentfaltung zu finden. Dies führe zur Lethargie, nicht jedoch zur Todesangst. Seligmann474 und andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass Hilflosigkeit und Ohnmacht nachgewiesenermaßen eine Todesursache sind, die einen psychischen Mechanismus in Gang setzen, der regelmäßig zu einem rein medizinisch nicht erklärbaren Tod führe.
20. Potenziale und Kompetenzen Hochaltriger und Pflegebedürftiger Die angesprochenen Themen verleiten dazu, nur noch die Probleme, Nöte und Defizite Pflegebefohlener wahrzunehmen und Pflegeeinrichtungen vor allem unter dem Gesichtspunkt des Mangels und des Versagens wahrzunehmen. Diese Sicht wäre verkürzt und entspräche auch nicht den unbestritten verbleibenden 468 469 470 471 472 473 474
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Zit. bei Seibert, H., a.a.O., 89. Zit. ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 90. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
Potenzialen und Kompetenzen der Bewohnerschaft stationärer Einrichtungen. Obwohl in Pflegeheimen gestorben wird, sind sie doch keine Sterbehäuser, sondern vielmehr letzte Lebensräume. Für die Seelsorge ist die Erkenntnis verbleibender leiblich-seelisch-emotionaler Spielräume und Befähigungen überaus bedeutsam, denn Erhalt, Förderung und Pflege solcher Möglichkeiten haben einen erheblichen Einfluss auf das Befinden der Gepflegten. Mehr denn je kommt es in dieser Situation darauf an, nach Potenzialen, Ressourcen und unverlierbaren Eigenschaften zu suchen, die zu einer Quelle der Lebensertüchtigung werden und dem hinfälligen Menschen letzte Erfolgserlebnisse ermöglichen. Die Ausschöpfung verbleibender Ressourcen wird allerdings erschwert durch den Umstand, dass es noch immer weit verbreitet ist, das Altern ausschließlich als unaufhaltsamen Degenerationsprozess zu verstehen, der vor allem im Lichte der Verluste körperlicher, seelischer und geistiger Potenzen zu sehen ist. Diese Sichtweise führte zum Defizitmodell der Deutung des Alters und der Alten, das sich seitdem in Alltagstheorien und wissenschaftlichen Diskursen hartnäckig hält475 und von dem viele Heime geprägt sind476, so dass sie eine realistische Wahrnehmung ihrer Bewohnerschaft verengen. Folglich wird nur noch Bedürftigkeit und Passivität der Anbefohlenen gesehen. Selbst die kirchliche Altenarbeit ist beeinflusst von der Defizitperspektive.477 Manches Altersstereotyp478 bezieht seine Nahrung aus dieser Wahrnehmung des Alters: Je mehr Leistungsfähigkeit im Sinne von industriell verwertbarer Arbeit und Jugendlichkeit im Sinne von Konsumnormen betont wird, desto stärker werden die besonderen Qualitäten alter Menschen entwertet und deren Defizite hervorgehoben.479 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses, das Leistung und Produktivität zu einer wesentlichen Kategorie des Menschenbildes erhebt, fällt es schwer, von Kompetenzen und Potenzialen Hochaltriger und Pflegebedürftiger zu sprechen bzw. sie überhaupt wahrzunehmen. Der Dritte Altenbericht480 (2001) stellt hinsichtlich der Rehabilitationspotenziale älterer Menschen deshalb fest, diese würden „im Allgemeinen unterschätzt“, der Vierte Altenbericht481 (2002) wiederum macht hinsichtlich Demenzkranker darauf aufmerksam, dass sie große Befriedigung aus Aktivitäten 475 Vgl. Schroeter, K. R./Prahl, H.-W., Soziologisches Wissen für Altenberufe. 476 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alters, 170. 477 Vgl. Klostermeier, B., Wächst die Kirche mit ihren Alten? Altersbilder bei Pastorinnen und Pastoren, in: Pastoraltheologie, 98 (2009), 360 – 379. 478 Vgl. das Kapitel ‚Altersbilder – Gesellschaftliche Bewertung der Hochaltrigkeit‘, I.C.4. 479 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologisches Grundwissen für Altenberufe, 107f. 480 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 56, Sp. 1. 481 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 78, Sp. 2.
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gewinnen, die mit sensorischer Stimulation einhergehen, wie etwa Musik, Geräuschen aus der Natur, Gerüchen oder visuellen Stimulationen. Hinsichtlich der Suche nach Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen hinfälliger Menschen ist der durch die Verfilmung seines Buches ‚Zeit des Erwachens‘482 (Awakenings) bekannt gewordene amerikanische Neuropsychologe Oliver Sacks483 lehrreich. Er schildert in seinem Buch ‚Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‘ 20 Fallgeschichten hirnerkrankter Menschen, in der Absicht, diese nicht in erster Linie in ihren Defiziten und Mängeln wahrzunehmen, sondern vielmehr deren besondere Fähigkeiten zu unterstreichen. Er schildert u.a. einen Vorfall, der sich auf der Aphasie-Station ereignete, während eine Rede des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Diese wurde mit lautem Gelächter und allgemeiner Erheiterung aufgenommen. Sacks kommt aufgrund seiner Beobachtungen zu der Schlussfolgerung, es sei unmöglich, Aphasie-Kranke anzulügen. Sie könnten nicht getäuscht werden, da sie mit einer geradezu unfehlbaren Präzision den körperlichen Gesamtausdruck, der die Worte begleite, deuteten. Die Kranken hätten im Vergleich zu anderen eine besondere Gabe, stimmliche Nuancen, Tonfall, Rhythmus, Hebung und Senkung der Stimme, Satzmelodie, subtilste Modulationen und Tonveränderungen wahrzunehmen, so dass sie sogleich ermessen könnten, ob jemand simuliert oder täuscht. Das Beispiel regt an, Krankheit nicht nur unter dem Aspekt des Verlustes zu sehen, sondern zugleich die Ausprägung neuer Fertigkeiten anzunehmen, die mit ihr häufig einhergehen, so dass – in der Krankheit wie im Alter – eher mit einer Verschiebung von Kompetenzen, als mit einem totalen Verlust zu rechnen ist. Ähnlich entwickeln z.B. Blinde neue auditive und sensorische Begabungen,484 wie auch jedes Lebensalter seine je typischen Stärken hervorbringt, so dass noch im letzten Lebensabschnitt mit ihnen zu rechnen ist, unabhängig vom Grad der Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit. Von der Komaforschung lässt sich lernen, dass es unzulässig ist, Bewusstlosigkeit mit Erlebnislosigkeit gleichzusetzen. Es ist deshalb zu warnen vor einer Gleichsetzung von Reaktionsunfähigkeit und Empfindungslosigkeit.485 Das von außen Beobachtbare sollte nicht zum Kriterium für die Beurteilung des Inneren eines Menschen werden, denn eine unvermeidliche Folge wäre, dass mit der Feststellung des Verhaltensdefizits den Vorgängen in der Bewusstseinsänderung keine weitere Aufmerksamkeit zuteil 482 Sacks, O., Zeit des Erwachens, Hamburg (1991). 483 Sacks, O., Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Hamburg (1991). 484 Ein solches Beispiel findet sich in Peter Hepps Buch ‚Die Welt in meinen Händen – Ein Leben ohne Hören und Sehen‘, Berlin (2005). 485 Gustorff, D./Hannich, H.-J., Jenseits des Wortes, Bern (2000), 22, 32.
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wird. Gustorff/Hannich berichten von unterschiedlichen Interaktionsweisen mit Komatösen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie trotz fehlender Ausdrucksund Reaktionsfähigkeit der Koma-Patienten ihnen dennoch individuelle Kompetenz zuerkannten. Eine solche finde sich beispielsweise in dem Bedürfnis und der Fähigkeit zu körpernaher Wahrnehmung (z.B. von Wärme, Berührung, Druck, Vibration), in der Fähigkeit zu zwischenmenschlicher Interaktion (mit Hilfe des Körpers), zum Selbstschutz vor überwältigenden Umweltsituationen (z.B. über den affektiven Totstellreflex) und zur Lebenserhaltung. Auch sei eine grundsätzliche Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit von Lust und Unlust, Glück und Leid bei komatösen Menschen zu konstatieren. Gustorff/Hannich beklagen das in der Biomedizin verankerte Modell, menschliches Verhalten in Stimulus-Reaktions-Kategorien zu beschreiben. Auch kritisieren sie, dass die auf Rationalität und Kontrolle ausgerichtete Kultur das Wissen um andersartige Formen des Bewusstseins (z.B. Trance), das in anderen Kulturen durchaus lebendig ist, in Vergessenheit geraten ließe.486 Dieser Hinweis hilft mit Blick auf die oft desolate Situation Pflegebedürftiger weiter, denn für viele von ihnen kann gelten, dass sie in eine scheinbar andersartige „Bewusstseinsform“, welche mit herkömmlicher Begrifflichkeit oft nicht mehr zu fassen ist, übergegangen sind oder im Laufe der Pflegebedürftigkeit unaufhaltsam übergehen. Die Besuche bei den Pflegebefohlenen dieser Studie zeigen einige Beispiele eines dösenden, schläfrig-matten, apathisch-tranceartigen, hinfällig-kranken, gelegentlich unbewusst anmutenden Zustands der Besuchten, die deshalb nicht mehr „ansprechbar“ schienen.487 Die defizitäre Sicht auf den alten, pflegebedürftigen Menschen kann durch einen weiteren Gesichtspunkt abgeschwächt werden: Die Betonung des Beziehungsaspekts in der Begegnung mit Pflegebefohlenen, in der „die Beziehung zur Person zentral (ist) und nicht seine Krankheit“488, kann helfen, auf das Mögliche und Unverlierbare zu schauen, nämlich seine Sozialität. Unter diesem Aspekt kann Altenpflege in erster Linie als „Beziehungs- oder Bezugspersonenpflege“489 verstanden werden, so dass es unmöglich wird, Alter oder Pflegebedürftigkeit ausschließlich in ihren Mängeln oder Defiziten zu beschreiben. Man kann auch Schwerstpflegebedürftigen nicht die Möglichkeit absprechen, noch im Sinne der Dialogischen Philosophie490 in Beziehung zu treten. 486 Ebd., 24. 487 Z.B. II-6.7; III-7.8 (!); IV-6; V-3.7.13. 488 Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- oder Bezugspersonenpflege, Hagen (2000, 2. Aufl.), 11. 489 Ebd. 490 In M. Bubers „Das dialogische Prinzip“ findet sich ein Satz, der das Gemeinte verdeutlicht: „Demgemäß ist es auch von Grund auf irrig, die zwischenmenschlichen Phäno-
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Es kommt in der Interaktion mit Pflegebefohlenen mithin darauf an, über die signifikanten äußeren Veränderungen eines alt und hinfällig gewordenen Menschen, die nur Verfall und Abbau suggerieren, nicht blind zu werden für die Tatsache, dass es im Laufe eines Menschenlebens lediglich zu Veränderungen (Verlagerungen, Transformationen, Umdisponierungen) der Möglichkeiten kommt, niemals jedoch zum Totalverlust. Diese Sicht lässt sich auch mit Hilfe der gelegentlich vertretenen These einer Parallelität von Lebensanfang und –ende bzw. einer Gemeinsamkeit zwischen Säuglingen und Hochbetagten erhärten.491 Babanek492 begründet diese Gleichsetzung von Lebensanfang und –ende mit einer Rückbildung der menschlichen Fähigkeiten am Lebensende in der Weise, dass die zuerst erworbenen Fähigkeiten am längsten erhalten blieben. Diese Rückbildungsprozesse des Alters führten schließlich zu einer Annäherung des Verhaltens alter Menschen an das von Kleinkindern. Ein biologischer Erklärungsansatz, so Babanek, führe diese Erscheinung auf einen sukzessiven Gehirnabbau zurück, bei dem später Erlerntes vor früh Erlerntem zurückgebildet werde. Dieser Prozess lasse sich typischerweise zumeist am noch gut funktionierenden Langzeitgedächtnis beobachten, während das Kurzzeitgedächtnis deutlich nachlasse. Ähnliches kann auch mit Blick auf Altersverwirrte gesagt werden.493 Der funktionale Abbau bei Dementen scheint sich spiegelbildlich zum kindlichen Funktionserwerb zu verhalten. Die einzelnen Entwicklungsstufen werden geradezu gesetzmäßig zurückgenommen. Dieser stufenweise Abbau zeigt sich sprachlich etwa an der Rückbildung vom ganzen Satz zu Zweitwort- oder Einwort-Äußerungen bis hin zu vorsprachlichen Möglichkeiten wie Schreien, Laute-von-sich-Geben, Lallen oder Verstummen. Eine andere Begründung der These einer Parallelität von Lebensanfang und –ende kann möglicherweise auch darin gefunden werden, dass im regressiven mene als psychische verstehen zu wollen. Wenn etwa zwei Menschen ein Gespräch miteinander führen, so gehört zwar eminent dazu, was in des einen und des anderen Seele vorgeht ... Dennoch ist dies nur die heimliche Begleitung zu dem Gespräch selbst, einem sinngeladenen phonetischen Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem ihrem leibhaften Zusammenspiel, diesem ihrem Zwischen“, Darmstadt (1984, 5. Aufl.), 276 [Kursiv O.K.]. 491 Z.B. Babanek, A., a.a.O., 13; Petzold, H., Integrative Therapie – Der Gestaltansatz in der Begleitung und Psychotherapeutischen Betreuung sterbender Menschen, in: Rösling, I. /Petzold, H. (Hg.): Die Begleitung Sterbender. Theorie und Praxis der Thanatotherapie, Paderborn (1992); Rest, F., a.a.O., 68, 80; van der Star, A., Schöpferisch pflegen, Frankfurt a.M. (2001, 2. Aufl.), 46. 492 Babanek, A., a.a.O., 13. 493 Vgl. Stubbe, E., Religiöse Sprache des Alters.
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Verhalten ein Charakteristikum der Auseinandersetzung alter Menschen mit der Krankheit zum Ausdruck kommt.494 Infolge von Schmerzen und körperlicher Behinderung ist der kranke, alte Mensch auf die Hilfe anderer angewiesen. Diese Krankenrolle begünstigt regressive Verhaltensmuster. Eigeninitiative wird aufgegeben, die Interessen eingeengt, der alte kranke Mensch interessiert sich nur noch für den eigenen Körper und das Kranksein und wird zunehmend abhängig von Pflegenden. Folgt man der Annahme einer Parallelität von Lebensanfang und Lebensende, so bietet es sich an, auch Erkenntnisse der Säuglingsforschung für die Interaktion mit Pflegebedürftigen zu bemühen. Dornes495 verdankt sich der wichtige Hinweis auf einen neuen Trend der Entwicklungspsychologie, der eine neue Wahrnehmung des Säuglings mit sich brachte: Dieser erscheint nunmehr als „aktiv, differenziert und beziehungsfähig, als Wesen mit Fähigkeiten und Gefühlen, die weit über das hinausgehen, was die Psychoanalyse bis vor Kurzem für möglich gehalten hat“. Unter Rückgriff auf neueste Untersuchungen kann nachgewiesen werden, dass Neugeborene weitaus „kompetenter“ sind als bislang angenommen: Sie besitzen „Interaktionskompetenz“, sind fähig zu „außerordentlich differenzierter“ mimischer Expression, besitzen einen „eigenen Willen“ sowie „affektive Kompetenz“, welche imstande ist, die neun Basisaffekte (Freude, Interesse-Neugier, Überraschung, Ekel, Ärger, Traurigkeit, Furcht, Scham, Schuld) zu kommunizieren. Die weitverbreitete Auffassung vom Säugling als einem lediglich symbiotischen Wesen, sei deshalb zu verwerfen. Die vielfältigen Aktivitäten zur Regulierung der Interaktion zwischen Mutter und Kind im Zusammenspiel mit den kognitiven Fähigkeiten legen es nahe, das Konzept der Symbiose mit seinen Konnotationen der Unabgegrenztheit, Undifferenziertheit, Verschmolzenheit, Passivität und Rezeptivität skeptisch zu betrachten. Emotionen spielen somit beim Säugling eine wichtige Rolle. Sie sind auch zu den Fähigkeiten und Fertigkeiten zu zählen, die bei Demenzkranken am längsten erhalten bleiben bzw. im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung umso bedeutsamer werden. Der Vierte Altenbericht496 macht deshalb darauf aufmerksam, dass selbst noch schwer Demenzkranke über eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten, insbesondere im emotionalen Bereich, verfügten, die von Außenstehenden nicht übersehen werden dürfen. Wenn kognitive Fähigkeiten völlig verlöschen, so bestehe doch bis zum Ende eine hohe Bereitschaft, auf Außenreize zu reagieren. Eine „emo494 Vgl. Grond, E., Praxis der psychischen Altenpflege, München (1978), 27. 495 Zum Folgenden vgl. Dornes, M., Der kompetente Säugling, Frankfurt a.M. (2001, 10. Aufl.). 496 BMFSFJ , Vierter Altenbericht, 177, Sp. 1f.
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tionale Kontaktfähigkeit bis zum Tod“497 bleibe erhalten, die die Seelsorge u.a. vor die Herausforderung stellt, das Terrain der Emotionen seelsorgerlich neu zu entdecken und ihm im Kontext der stationären Pflege besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
C. Politisch-Struktuelle und gesellschaftliche Einflüsse In der stationären Pflege war in den vergangenen Jahren besonders die Einführung der Pflegeversicherung (1995) einflussreich. Sie markiert einen „deutlichen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik“498 und brachte „epochale Umbrüche ... für die pflegerischen Einrichtungen der Diakonie mit sich“499. Es soll deshalb in aller Kürze aufgezeigt werden, welche Wirkungen der Pflegeversicherung auf die Situation der Pflege bzw. der Pflegebefohlenen zu erkennen sind und welche ggf. noch von ihr zu erwarten sind, da sich mit dem Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes (PVG) „die Situation der stationären Pflegeeinrichtungen erheblich geändert“500 hat. Diese Veränderungen ergeben sich infolge der drei Zielsetzungen501 des PVGs: 1. Die Absicherung der häuslichen Pflege502 durch finanzielle Förderung der Pflegebereitschaft durch Angehörige und Nachbarn. 2. Die Verringerung der Sozialhilfeabhängigkeit und Entlastung der Sozialhilfeträger durch Einführung der Pflegekassen. 3. Die Sicherstellung einer bedarfsgerechten und bundeseinheitlichen Pflegeinfrastruktur (Sicherstellung und Qualitätssicherung). Da die Rahmenbedingungen der Pflege aufs Engste zusammenhängen mit dem Verständnis von Pflege (entweder haben sie eine entsprechende Definition des Begriffs zur Voraussetzung, oder sie wirken auf eine solche verändernd ein), wird im Folgenden auch vom derzeitig geltenden Pflegeverständnis bzw. der tatsächlich praktizierten Pflege gesprochen (2. Abschnitt). 497 Ebd., 177, Sp. 2. 498 Rothgang, H., a.a.O., 9. 499 Pfeiffer, W., Nicht mehr verantwortbar – nicht mehr durchführbar?, in: Dokumentation des Bundeskongresses des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und Ambulante Pflegerische Dienste vom 16. – 18.05.2000 in Würzburg „Menschenwürdig pflegen“, 296. 500 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 269, Sp. 1. 501 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 13. 502 § 3 SGB XI.
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Sofern weitere gesetzliche Bestimmungen oder (geplante) Maßnahmen mit einflussreichen Impulsen für die Pflegesituation auszumachen sind, finden diese ebenfalls Beachtung (3. Abschnitt).
1. Wirkungen der Pflegeversicherung Wenn im Folgenden die Darstellung der negativen Wirkungen einen breiteren Umfang einnimmt als die der positiven, so muss dabei berücksichtigt werden, dass mit der Pflegeversicherung ein völlig neues sozialpolitisches Terrain betreten wurde, bei dem nicht auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden konnte. Das PVG musste folglich geschaffen werden auf der Basis von Annahmen, Einschätzungen und Spekulationen, die zudem möglichst die Gefahr vermeiden mussten, das neu geschaffene System bald finanziell zu überfordern oder andere schwerwiegende Konsequenzen nach sich zu ziehen. Viele Auswirkungen der neuen Versicherungen waren damals gar nicht richtig absehbar, genaue Werte (wie z.B. über die zeitliche Bemessung einzelner Pflegeleistungen) lagen nicht vor, so dass das Gesetz gewissermaßen ‚konservativ‘ angelegt war und manche Fragen offen blieben (etwa hinsichtlich Demenzkranker oder (psycho-)sozialer Betreuungsleistungen). Wenn in diesem Abschnitt nun in einiger Ausführlichkeit negative Wirkungen zur Sprache kommen, so erklären sich viele dieser Unvollkommenheiten des Gesetzes vor diesem Hintergrund. Im Rahmen des folgenden Abschnitts ist es nicht beabsichtigt, das Gesetz in toto zu verwerfen, es soll lediglich das pflegerische Feld mit seinen Stärken und Schwächen so umfassend wie möglich beleuchtet werden, ohne dass damit die absolut positive Leistung verkannt wird, die mit der Schaffung einer (dringend erforderlichen) Pflegeversicherung gelungen ist.
1.1. Begrüßenswerte Wirkungen 1. Die vom Gesetzgeber intendierte Verminderung der Abhängigkeit von Sozialhilfe und damit einhergehende Reduzierung der Ausgaben der Sozialhilfeträger durch Einführung des PfGs stellte sich nach Einführung der Pflegeversicherung in der Tat ein: Die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen stationär Versorgten ging um 36 % zurück.503 Das Risiko pflegebedingter Sozialhilfeabhängigkeit wurde demnach beachtlich vermindert. Freilich ist das Risiko der Sozialhilfeabhängigkeit noch immer als zu hoch anzusehen.504 Nach einer Erhebung des Jahres 2003 (Mikrozensus) lag der Anteil Pflegebedürftiger, deren 503 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 27. Vgl. ebd., 179f. 504 Vgl. ebd., 180.
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wesentliche Einnahmequelle die Sozialhilfe war, bei 11 %.505 Schroeter/Prahl meinen, es zeichne sich bereits heute ab, dass die Pflegeversicherung ihr gestecktes Ziel, Pflegebedürftige von der Sozialhilfe unabhängig zu machen, verfehle.506 2. Die Pflegeversicherung führte ebenfalls zu einer „deutlichen Entlastung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung“507. 3. Eine auffällige Strukturverschiebung in der Trägerschaft stationärer Einrichtungen zugunsten der privaten Träger (Zunahme der freigemeinnützigen und privaten Pflegeheime)508 und damit eine im Sinne des Subsidiaritätsprinzips wünschenswerte Diversifizierung des stationären Pflegeangebotes kann ebenfalls beobachtet werden.509 4. Häusliche Pflege hat nach dem PVG Vorrang vor stationärer. Diese soll gefördert werden durch finanzielle Anreize, insbesondere durch die Gewährung eines Geldes für nicht professionelle Pflegende. Zu diesen zählen insbesondere Familienangehörige, die rund 90% der zu Hause Versorgten betreuen.510 Dem Ziel der Motivation nicht professioneller Pflegender dient ebenfalls eine Reihe von Vorkehrungen, die im Umfeld der PfV, und zwar im Bereich der Sozialversicherung, ein Novum darstellen: Dazu zählt die Anerkennung von Pflegezeiten als Pflichtversicherungszeiten in der Rentenversicherung sowie eine Klärung der unfallversicherungsrechtlichen Situation von Pflegepersonen.511 Es bleibt allerdings abzuwarten, ob nicht mit der Pflegegeldgewährung die Verantwortung der Pflegekassen für eine angemessene Qualitätssicherung letztlich unterlaufen wird. 5. Das PVG bietet erstmalig die Chance, Pflegebedürftigkeit nicht mehr als statischen, sondern vielmehr beeinflussbaren Zustand zu begreifen.512 Damit werden neue Möglichkeiten eröffnet, an Mobilisierungs- und Rehabilitationspotenziale anzuknüpfen. Allerdings muss diese theoretische Chance in
505 BMFSFJ, Erster Bericht, 100. 506 Schroeter, K. R./Prahl, H.-W., Soziologisches Grundwissen für Altenpflegeberufe, 35. 507 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 29. 508 Laut Altenpflege Marktanalyse im Auftrag des Vincent-Verlags (AMA 2000) wuchs der Anteil der stationären Einrichtungen in privater Trägerschaft von 24 % im Jahr 1996 auf 33,6 % im Jahr 1999, vgl. Bundeskongress des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Ambulante Pflegerische Dienste (DEVAP), Würzburg (2000), Dokumentation, 158. 509 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 125. 510 Igl, G., Das neue Pflegeversicherungsrecht, München (1995), 18. 511 Ebd., V. 512 Ebd., 6.
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Zusammenhang mit den weiter unten genannten Feststellungen betrachtet werden, um nicht eine Überbewertung dieses neuen Faktors vorzunehmen. 6. Zum Zwecke der Verbesserung und Sicherung der Pflegequalität wurde im Jahr 1997 erstmalig eine Standardisierung der Pflegehandlungen eingeführt, in welcher Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung festgelegt sind.513 Die dort definierten Zeitkorridore geben derzeit jedoch Anlass zu vielfältiger Kritik.514 So sind durchschnittlich höchstens 26 Pflegeminuten für den pflegebedürftigen Menschen im Rahmen des pflegeversicherungsgesetzlichen Zeitbudgets vorgesehen.515 7. Da die Diskussion um die Qualitätssicherung im Bereich der Pflege in Deutschland – gemessen am internationalen Vergleich – verhältnismäßig spät einsetzte516 bzw. lange Zeit keine nennenswerte Rolle spielte517, ist es positiv zu werten, dass die Forderung nach Qualität der Pflege im Gesetz festgeschrieben wurde und damit einen bemerkenswerten Impuls zur Vertiefung des Themas gab.518
1.2. Kritisch zu beurteilende Wirkungen 1. Bei den Zahlungen nach dem PVG handelt es sich um Pauschalbeträge, die eine Mindestsicherung pflegerischer Leistungen („Teilkaskoversicherung“) garantieren,519 jedoch nicht die tatsächlichen Kosten der Pflege decken (Leistungen nach dem PVG sind nur ein Zuschuss zu den Pflegekosten). Dieses Prinzip wird vielfach bemängelt und stellt einen entscheidenden Kritikpunkt am Pflegeversicherungsgesetz dar, denn es birgt die Tendenz einer Verschlechterung pflegerischer Qualität in sich: Die – nach Einschätzung vieler Fachleute – viel zu niedrig bemessenen Sätze, die sich an den Leistungsausgaben bzw. gesetzlich vorgegebenen Beitragssätzen orientieren, führen zwingend zu einem
513 Vgl. die „Richtlinie zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“. 514 Vgl. z.B. Breitscheidel, M., Abgezockt und totgepflegt, Berlin (2005, 5. Aufl.), 30ff.; van der Star, A., Schöpferisch pflegen, Frankfurt (2001, 2. Aufl.), 29ff., 119. 515 Vgl. Meifort, B./Becker, W., Ein Beruf fürs Leben? Gründe für die Berufsflucht aus der Altenpflege (1998), 41-47, zit. in: Schwerdt, R. (Hg.), a.a.O., 30. 516 Igl, G., a.a.O., 108. 517 Dokumentation des Bundeskongresses des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Ambulante Pflegerische Dienste (DEVAP), 154. 518 Igl, G., a.a.O., 108; vgl. auch Bundeskongress des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Ambulante Pflegerische Dienste (DEVAP), 155. 519 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 106.
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unterhalb des tatsächlichen Pflegebedarfs bleibenden Versorgungsniveau.520 Meier521 konstatiert in den „meisten Fällen“ sogar eine „Verschlechterung“ der Versorgung. Die Leistungsfestlegung der Pflegekassen erfolgt entsprechend einnahme-, nicht bedarfsorientiert. Hierin liegt ein Novum in der Sozialversicherung: Weder in der Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- noch Unfallversicherung wird das Ausgabenpotenzial eines Sozialversicherungsträgers abhängig gemacht von dessen Einnahmen (die wiederum durch einen – wie im Fall des PVGs – gesetzlich festgelegten Beitragssatz erfolgen).522 Das PVG regelt somit nicht die Finanzierbarkeit von Pflege, sondern deren Finanzierung.523 Insgesamt ist eine „auf Kostenbegrenzung abstellende Diktion des Gesetzes“524 auszumachen, die eine Steigerung der Pflegequalität nicht erwarten lässt. Auch die zum 1. Juli 2008 in Kraft getretene Reform nimmt lediglich einige Korrekturen auf der Leistungsebene (Leistungskatalog) vor, gewährt erhöhte Sätze und hebt dazu die Beiträge zur Pflegeversicherung an. Eine umfassende Finanzreform, die diesen Sozialversicherungszweig auch über 2015 hinaus tragfähig machen würde, ist jedoch nicht zustande gekommen. Prahl/Schroeter urteilen, das PVG würde die mit seiner Einführung zusammenhängenden mindestens ebenso wichtigen Probleme wie Rekrutierung des Pflegepersonals, Veränderung der Familienstruktur, Verschiebungen zwischen Krankenhäusern und Pflegeheimen oder Kommerzialisierung gar „weitgehend verhüllen“, da der politische Diskurs sich weitgehend auf die Finanzierungsfrage konzentriere.525 2. Das PVG orientiert sich am Defizitmodell, bemisst Leistungen also nach dem Maß körperlich-seelischer Einschränkungen.526 Verbesserungen im Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen haben entsprechend eine Leistungskürzung zur Folge, so dass der gesetzlich verankerte Anspruch auf Aktivierung und Rehabilitation bestraft wird mit finanziellen Kürzungen.527 Hinzu kommt, dass aktivierende und rehabilitierende Pflege (anders als reine Grund- und Verwahrpflege) kostenintensiv und dringend darauf angewiesen ist, ein Optimum an
520 521 522 523 524
Ebd., 106, Sp. 2. So auch Meier, J., Das pflegebedürftige Gesetz, Frankfurt (1997), 119. Meier, J., a.a.O., 119. Vgl. ebd., 89. Ebd., 121. Rothgang, H., a.a.O., 299. Vgl. auch Igl, G., a.a.O., 5, 91. Für Leistungen bei vollstationärer Hilfe sind die Pflegekassen gehalten, „besondere Kostenbegrenzungsmaßnahmen einzuhalten“, 71. 525 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 57. 526 BMFSFJ, Dritter Altenbericht,106, Sp. 2. 527 Ebd.
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Einnahmen zu erzielen. Dies ist unter den derzeitigen Bedingungen nicht möglich. 3. Die im PVG vorgenommene starke Betonung der häuslichen bzw. Laienpflege durch den Grundsatz ambulant vor stationär birgt – wie die unerwartet hohe Nutzung von Geldleistungen durch pflegende Angehörige zeigt – die Gefahr von Mitnahmeeffekten528 und daraus resultierender unzureichender pflegerischer Versorgung der zu Hause Betreuten. Igl529 macht auf eine „mittlerweile bekannte Tatsache“ aufmerksam, dass das Pflegegeld in „zahlreichen Haushalten“ als Zusatzeinkommen verwendet werde, ohne dass es dem pflegebedürftigen Menschen zugute komme. Selbst dort, wo das Pflegegeld seiner Bestimmung gemäß eingesetzt werde und die Pflegebereitschaft des sozialen Umfelds fördere, könne das Fehlen von Fachlichkeit zu Problemen bei der Pflegequalität führen.530 Im Hintergrund dieses bereits mehrfach erwähnten Prinzips ‚ambulant vor stationär‘ steht – wie Gröning531 es sieht – als „ideologischer Vorläufer der Pflegeversicherung“ der Vierte Familienbericht der Bundesregierung (1986), der sich an zwei sich eigentlich widersprechenden Altersnormen und –bildern orientiert: Familisierung und Individualisierung, womit der Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik begründet wird. Die Bevorzugung der häuslichen Pflege birgt zudem die Gefahr, Pflegeheime als eine von mehreren gleichberechtigten Säulen der pflegerischen Versorgung im gleichen Maße zu gewichten, wie die Pflege durch Laien oder ambulante Pflegedienste. Kruse/Wahl befürchten deshalb, dass die Stellung der stationären Pflege im pflegerischen Angebot gefährdet sei und zusätzliche Investitionen in diesem Bereich ausbleiben könnten.532 4. Der Grundsatz, pflegebedürftige Menschen solange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung zu belassen, führte zu einem erheblichen Anstieg des Anteils Schwerstpflegebedürftiger und folglich der Pflegeintensität in den
528 529 530 531 532
Ebd. Igl, G., a.a.O., 66. Ebd. Gröning, K., Qualität in der Pflege als Problem der Organisationskulturen, 438. Kruse, H./Wahl, H.-W., Altern und Wohnen in Heimen, 252. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die Bemühungen um eine Reform der Pflegeversicherung im Jahr 2004 darauf hinausliefen, dass Heimbewohner künftig weniger Geld erhalten als zu Hause Gepflegte, vgl. DIE WELT, 29.12.03, 13.
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Heimen.533 Die Arbeitsbelastung stieg entsprechend. Der Charakter der Heime änderte sich gravierend in Richtung „Siechenheime“.534 5. Die Pflegeversicherung (PfV) brachte einen erhöhten Verwaltungsaufwand mit sich (z.B. die Einführung einer exakten Pflegedokumentation), der erheblich zulasten der Pflege ging.535 So erklärt es sich, dass 56 % der Pflegeeinrichtungen, die nach ihrer Auffassung hinsichtlich der Entwicklung der Personalsituation seit Einführung des PVGs befragt wurden, mit „eher verschlechtert“536 antworteten. 6. Der im Gesetz verankerte Gedanke des Vorrangs der Prävention und Rehabilitation537 muss wirkungslos bleiben, solange es keinen eigenen Leistungsbereich dazu gibt und sich im Leistungskatalog des 11. Sozialgesetzbuches (SGB XI) keine Entsprechungen zu diesem Gedanken finden.538 Das Gesetz hält „lediglich eine Vorschrift bereit, um andere Leistungsträger ‚anzustoßen‘. Nur ein Verweisanspruch findet sich“539. Die Trennung der Kostenträgerschaft, nach der andere Leistungsträger (z.B. Krankenkassen, Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften, Unfallversicherung, Kriegsopferversorgung und –fürsorge, Sozialämter) weiterhin im Rahmen ihres eigenen Leistungsrechtes handeln, wird sich auch künftig hemmend auf Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen auswirken, da das PVG eine entsprechend notwendige Zusammenarbeit und Koordination wirksamer Rehabilitationsinstrumente nicht kennt bzw. nicht ins Leben ruft.540 Zu beklagen ist des Weiteren eine organisatorische Trägheit, die es erschwert, Prävention und Rehabilitation zu mobilisieren: Die ins Pflegeheim übersiedelnden Menschen tun dies in immer schlechterem Zustand und geraten in ein System, welches kein (jedenfalls kein ökonomisches) Interesse daran 533 Schneekloth, U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 171. 534 Auf dem Fachsymposium des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Ambulante Pflegerische Dienste (DEVAP) zum Thema ‚Das Pflegeheim – ein Auslaufmodell?‘ (September 2002 in Hamburg) beklagte eine Diakonisse, dass die „gesunde Mischung“ von Leicht- und Schwer(st)pflegebedürftigen, wie es sie in Pflegeheimen einmal gab, verloren gegangen sei und der Charakter von Pflegeheimen sich gravierend verändert habe zu einem Siechenheim. Bäcker, G., Pflegebedürftigkeit und Pflegenotstand, urteilt ähnlich: „Die Heime verwandeln sich tendenziell in Sterbeeinrichtungen und in gerontopsychiatrische Einrichtungen“, zit. in: Blome, A., a.a.O., 74. 535 Schneekloth,U./Müller, U., Wirkungen der Pflegeversicherung, 171. 536 Ebd. 537§ 5 sowie §§ 31+32 SGB XI. 538 Meier, J., Das pflegebedürftige Gesetz, 111. 539 Ebd. 540 Ebd.
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haben kann, diesen verbesserungswürdigen Zustand zu ändern.541 Schließlich trägt auch eine unzureichende Vernetzung der Anbieter geriatrischer Rehabilitationsmaßnahmen zu dieser Trägheit des Systems bei.542 7. Die Kosten vollstationärer Pflegeeinrichtungen werden finanziert von fünf verschiedenen Leistungsträgern entsprechend den fünf Kostenblöcken der Heime:543 1. Pflegebedingte Leistungen, finanziert durch Pflegekasse bzw. die pflegebedürftige Person. 2. Investitionskosten, finanziert durch Länder bzw. die pflegebedürftige Person. 3. Sogenannte „Hotelkosten“, finanziert durch die pflegebedürftige Person. 4. Zusatzleistungen, finanziert durch die pflegebedürftige Person. 5. Krankenkassenleistungen, finanziert durch die Krankenkassen. Rothgang veranschaulicht, wie diese „quintale“ Finanzierung der Heimpflege diverse „Möglichkeiten zur Kostenverlagerung zwischen diesen Blöcken“ eröffnet, „die sich negativ auf die Effizienz der Leistungserstellung auswirken können“.544 Er spricht von einem regelrechten „Verschiebebahnhof Heimfinanzierung“545, der sich vielfach „effizienzmindernd“ und „redistributiv“ auf Pflegeleistungen auswirke.546 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Problem der Aufwendungen für soziale Betreuung: Beim Inkrafttreten des PVGs war zunächst vom zuständigen Arbeitsministerium die Ansicht vertreten worden, soziale Betreuung gehöre nicht zum Leistungskatalog der Pflegeversicherung.547 Dies wurde später geändert, allerdings bei unveränderten Leistungshöhen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes von den Sozialhilfeträgern aufgebracht wurden, und ohne, „dass der diesbezügliche Zeitbedarf bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt wird. ... Auch diese Regelung führt zu einer weiteren Belastung der Pflegebedürftigen bzw. der Sozialhilfeträger. Da das Ausmaß der sozialen Betreuung – im Gegensatz zur medizinischen Behandlungspflege – aber in hohem Maße variabel ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass entsprechende Angebote von den Einrichtungen zurückgenommen werden. Da die Leistungen der Pflegeversicherung häufig nicht ausreichen dürften, um die pflegebedingten Aufwendungen sowie die Kosten der sozialen Betreuung abzudecken ....., kann es für die Pflegeheime nämlich angeraten sein, die Kosten der sozialen Betreuung von vorne herein zu begrenzen, um damit Schwierigkeiten in den Pflegesatzverhandlungen auszuweichen. Wird soziale Betreuung als grundsätzlich sinnvoll angesehen, so besteht wiederum
541 542 543 544 545 546 547
Vgl. Kapitel II.B.11. Punkt 2. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 277, Sp. 2. Vgl. Rothgang, H., a.a.O., 150ff. Ebd., 151f. Ebd., 153. Ebd. Ebd., 154.
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die Gefahr, dass eine sinnvolle Leistung allein aufgrund der Finanzierungszuständigkeiten unterbleibt bzw. in ihrem Ausmaß verringert wird“, schreibt Rothgang.548
Abschließend sei auf grundlegende Abstimmungs- und Schnittstellenprobleme zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Sozialer Pflegeversicherung hingewiesen, die sich aus der Unterschiedlichkeit der Ausgestaltung beider Systeme ergeben. Die Probleme reichen von der Definition eines Bedarfstatbestandes bis hin zur Frage der Finanzierung der Leistungserbringung.549 Eine strukturelle Unvereinbarkeit des Sachleistungsprinzips bzw. des offenen, am Bedarfsprinzip orientierten Leistungsprogramms der Gesetzlichen Krankenversicherung auf der einen Seite und des geschlossenen Budgetprinzips der Sozialen Pflegeversicherung auf der anderen Seite, ist zu bemängeln.550 Auch besteht ein Hindernis für die Optimierung der Pflege insofern, als in der Gesetzlichen Krankenversicherung Wettbewerb herrscht, während die Pflegeversicherung nicht wettbewerblich ausgerichtet ist. Der Beitragssatz der Krankenkassen (als ein zentrales Wettbewerbsparameter) wird wiederum autonom durch die Krankenkassen bestimmt, während er in der Pflegeversicherung gesetzlich festgelegt wird. Die unterschiedliche Gestaltung beider Systeme führt in der Einschätzung der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zu Hindernissen bei einer effizienten Versorgung Pflegebedürftiger. Insbesondere gelte dies für chronisch Kranke und Multimorbide, die „simultane Versorgungsbedarfe aufweisen, welche bislang aus getrennten Versorgungssegmenten“551 gedeckt wurden.
2. Das Pflegeverständnis 1. In der aktuellen Diskussion um Pflegeleistung und -kosten spielt die Kategorie der Qualität eine zentrale Rolle, da dieser Begriff ins PVG neu aufgenommen wurde. Das am 1.11. 2000 vom Bundeskabinett beschlossene PflegeQualitätssicherungsgesetz (PQsG)552 gab einen weiteren Impuls, die Pflegequalität durch klare Definitionen und Normierungen zu verbessern. In der gegen-
548 Ebd., 155. 549 Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik, Drucksache 14/8800 Berlin (2002), 263ff. 550 Ebd.,263, Sp. 1. 551 Ebd. 552 Die genaue Bezeichnung lautet: „Gesetz zur Qualitätssicherung und zur Stärkung der Verbraucherrechte in der Pflege“.
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wärtig üblichen Terminologie wird zwischen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität unterschieden.553 Seither sind in Pflegeeinrichtungen verstärkte Bemühungen um Qualitätsentwicklung und –management zu beobachten. Damit einher ging das Bestreben der Diakonie, einen eigenen Qualitätsleitfaden unter Federführung des Diakonischen Instituts für Qualitätsmanagement und Forschung (DQF) zu erarbeiten, der erstmals systematisch beschreibt, was als diakonische Pflegequalität gelten darf. Das inzwischen vorliegende Qualitätshandbuch (Bundesrahmenhandbuch) speist sich aus den „Leitsätzen zur diakonischen Pflegequalität“, den Vorgaben des SGB XI und SGB V sowie Grundlagen des Qualitätsmanagements.554 Die Erfüllung der diakonischen Qualitätskriterien wird seitdem durch ein Zertifizierungsverfahren – durchgeführt von externen, unabhängigen und anerkannten Zertifizierungsunternehmen – überprüft mit dem Ziel, auf der Basis der europäischen Qualitätsnorm DIN-EN-ISO 9001 ein Diakonie-Siegel Pflege zu vergeben,555 das die hohe Güte kirchlicher Pflegeeinrichtungen verbürgt. Der Diskussion um Qualität lässt sich manches entnehmen, was für das Pflegeverständnis erhellend ist: Zunächst fällt eine Beobachtung der Pflegewissenschaftlerin Schwerdt auf: Sie weist auf den Umstand hin, dass Pflegequalität hierzulande konzipiert werde, ohne dass die Sicht der Betroffenen „fortlaufend und systematisch einbezogen“556 werde. Der Diskurs über die Pflege und ihre Qualität bilde allein die Einschätzung der Fachleute und der Bezugsprofession ab.557 Dies führe jedoch zu einer einseitig professionellen Perspektive mit produktbezogener Ausrichtung sowie „egalitärer Verteilungsgerechtigkeit“558, während es an einer patientenorientierten Pflege mit anwenderbezogener Ausrichtung (bei individuell je unterschiedlichem, durchaus auch effizienterem Einsatz vorhandener Ressourcen) mangele.559 Schöninger560 erkennt ebenfalls ein produktionsorientiertes bzw. funktionelles Pflegeverständnis, welches sich aus den Erfahrungen der Industrie speise. 553 Igl, G., a.a.O., 109. 554 Vgl. die Dokumentation des Bundeskongresses des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und Ambulante Pflegerische Dienste vom 16. – 18.05.2000 in Würzburg „Menschenwürdig pflegen“, 220. 555 Vgl. ebd., 221. 556 Schwerdt, R., a.a.O., 13. 557 Ebd. 558 Ebd., 41. 559 Ebd., 24. 560 Schöninger, U., Zukunftsorientiertes Qualitätsmanagement in der Pflege, in: Schwerdt, R., a.a.O., 147ff.
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Sie sieht eine Gleichstellung pflegerischer Intervention mit dem Produktionsprozess zur Herstellung industrieller Güter. Pflegequalität werde folglich durch normierte, unflexible Standards definiert, welche deskriptiv ermittelt und funktional überprüft würden. Ein solcher funktioneller Qualitätsbegriff begünstige Normierungs- und Standardisierungsbestrebungen, die in der neueren Gesetzgebung zur Pflege zu erkennen seien. Eine betriebswissenschaftliche Marktorientierung lasse sich bereits an der inzwischen gebräuchlichen Terminologie wie „Anbieterin“ oder „Kundin“ ablesen. Dieser Wechsel des Sprachgebrauchs (vom Patienten zum Kunden) gaukle einen freien Käufermarkt vor, obwohl nur ein kleiner Teil der Nutzerinnen und Nutzer von Pflegeleistungen eine freie Wahl der Leistung treffen und eine Beurteilung der Leistungsqualität vornehmen könne. Ein produktionsorientiertes Pflegeverständnis berge indessen unterschiedlichste „Anwenderprobleme“ in sich, da es bei der Pflege von Menschen eben nicht um die Herstellung einer normierten Ware gehe, sondern um eine auf individuelle Lebens- und Krankheitssituationen bezogene Hilfestellung, die durch umfassende Standardisierungsbestrebungen sogar konterkariert werden könne und keineswegs zwingend zu einer dauerhaften Verbesserung der Versorgungsqualität führen müsse.561 Es solle bei aller Kritik jedoch nicht übersehen werden, dass vom PQsG und der von ihm initiierten Bewusstseinsbildung durchaus positive Impulse ausgingen, die zur Aufdeckung unterschiedlicher Missstände (Organisationsmängel, ineffektive Handlungsabläufe, unwirtschaftlicher Ressourceneinsatz, Dokumentationsdefizite) führten. Der auf einer Evidenz-basierten, normierbaren Zweckrationalität fußende Pflegebegriff verkenne nach Schöniger jedoch, dass pflegerisches Handeln kein ausschließlich datengesteuerter Akt, sondern auch ein wertegeleitetes Handeln ist.562 Der Bundeskongress des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Ambulante Pflegerische Dienste in Würzburg (Mai 2000) machte ebenfalls auf diesen Sachverhalt aufmerksam.563 Kritisch zu beurteilen ist somit insgesamt der spannungsreiche Gegensatz zwischen ökonomischen und ethischen Bestrebungen in der Pflege,564 bei dem bislang jedoch das Ökonomisch-Kybernetische im Vordergrund steht und dominiert. 561 Ebd., 149. 562 In: Schwerdt, R., a.a.O., 149 [Kursiv O.K.]. 563 Vgl. Dokumentation des Bundeskongresses des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und Ambulante Pflegerische Dienste vom 16. – 18.05. 2000 in Würzburg „Menschenwürdig pflegen“. 564 Schwerdt, R., a.a.O., 25ff.
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Auch Grönings Überlegungen gehen in diese Richtung: Sie identifiziert ein betriebswirtschaftliches und utilitaristisches Leitbild der Pflege,565 das zu kurz greife, da es die „lebensweltlichen Dimensionen566 von Pflegebedürftigkeit“ nicht aufnehme: „Die Pflegeversicherung unterstellt dem Pflegebedürftigen ein quasi sachliches Verhältnis zu sich selbst. Sie vernachlässigt die Bedeutung von Pflegebedürftigkeit für das Selbst vor allem hinsichtlich der zunehmend verbindlich werdenden Altersnorm der Aktivität und des daraus entstehenden Selbstkonzeptes, welches lautet: Ich will niemandem zur Last fallen“.567
Eine Qualitätsdefinition, wie sie dem Pflegebereich zugrunde liegt, ist zudem ganz wesentlich durch das professionelle Selbstverständnis der Pflegenden bestimmt. Eine medizinisch-ärztliche „Definitionsmacht“ hat maßgeblichen Einfluss auf das Gesundheitssystem. Marktzutrittsschranken, hierarchische Strukturen und subsidiär sich ergänzende Ebenen seien, so Schöniger568, Merkmale solcher Einflüsse. Eine „emanzipatorische Qualitätsdefinition“ hingegen würde veränderte Professionsstandards zur Folge haben, insbesondere die, dass das „Subjekt die Profession“ steuert und nicht umgekehrt.569 Ein gewisser Paternalismus, der sich bis zur Gewalt gegen Pflegebefohlene auswachsen kann, ist im Verhältnis zu den Pflegebefohlenen damit auch strukturell angelegt.570 2. Wie schon gezeigt wurde,571 wird bei der Beurteilung des Grades von Pflegebedürftigkeit das Maß der Hilfsbedürftigkeit in den drei Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität begutachtet. Eine Einschränkung in diesen drei Kategorien kann zur Gewährung von Leistungen nach dem PVG führen. Es wird kritisiert, dass nur einzelne Bereiche der Versorgung finanziert werden und nicht umfassende Betreuungs- und Beaufsichtigungsleistungen, wie sie vor allem bei Demenzkranken und gerontopsychiatrisch veränderten Pflegebefohlenen erforderlich sind.572 Das Seelisch-Psychische bleibt ausgeklammert, 565 Gröning, K. Qualität in der Pflege als Problem der Organisationskulturen, 444. 566 „Der Begriff der Lebenswelt entstammt der phänomenologischen Sozialtheorie und richtet sich auf das Erleben, d.h. nicht auf die objektive Welt, sondern auf die Welt, so wie sie wahrgenommen wird“, Gröning, K., ebd., 438. 567 Ebd., 442. 568 Schöniger, U., a.a.O., in: Schwerdt, R., a.a.O., 154f. 569 Ebd., 154f. 570 Vgl. I.B.17. 571 Vgl. I.B.3. 572 Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, a.a.O., 38. Die spezifischen pflegerischen Leistungen, die für Demenzkranke sowie andere gerontopsychiatrisch Erkrankte erbracht werden, fanden bislang keine erhöhte finanzielle Förderung durch das
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obgleich längst bekannt ist, in welchem Maße die Altenpflege sich z.B. Demenzkranken zu widmen hat und künftig noch verstärkt zu widmen haben wird, so dass von der Pflege erweiterte, weit über das Körperbezogene hinausgehende Kompetenzen gefordert sind. Auch die im Juli 2008 in Kraft getretene Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, die Leistungen für Demenzkranke vorsieht573, ändert nur wenig daran, dass die PfV noch immer lediglich auf eine „technische Hilfestellung durch Verrichtungsübernahme und –assistenz ausgelegt“574 ist, nicht hingegen auf eine umfassende, „ganzheitliche“ Hilfe, die alle Aspekte des Menschseins umfasst.575 Der Pflegebegriff ist demnach einseitig medizinisch-naturwissenschaftlich-symptomorientiert mit entsprechenden Konsequenzen, z.B. für die Betreuungsrelation, Qualifikationsstruktur der Pflegenden usw. Blome576 charakterisiert Pflegeheime deshalb als „reine Versorgungseinrichtungen, in denen eine Vollversorgung gewährleistet wird“, aber „Rehabilitation und Aktivierung keinen Platz haben“. Grond577 bezeichnet diese Pflege als Funktionspflege, da sie „auf Funktionieren der Pflege, auf Versorgen der körperlichen Bedürfnisse des/der Kranken ausgerichtet“ sei. Er beschreibt einige Merkmale dieses verrichtungsbezogenen, auf körperliche Bedürfniserfüllung zugeschnittenen Pflegesystems:
573
574 575
576 577
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PfVG, vgl. ebd., 23. So kam es regelmäßig vor, dass Angehörige, die eine demenzerkrankte Person ununterbrochen beaufsichtigen müssen und zu einer selbstständigen Lebensführung kaum oder gar nicht mehr in der Lage sind, keine Leistungen der PfV erhielten (da die Erkrankten unter dem Gesichtspunkten Ernährung, Mobilität und Körperpflege durchaus keine [erhebliche] Hilfsbedürftigkeit erkennen lassen), während Angehörige, deren Pflegebefohlenen unter somatischen Gesichtspunkten eine Pflegestufe zuerkannt bekommen, durchaus noch etwas wie ‚Freizeit’ für sich in Anspruch nehmen können. Die Geldleistungen zur Pflege Demenzkranker wurden seit 2006 von € 460 auf € 1200 bis maximal € 2400 jährlich angehoben. Neu ist, dass Betroffene, die unter einer erheblichen Demenz leiden und noch keine Pflegestufe erreichen, bei denen jedoch ein Betreuungsbedarf besteht, künftig ebenfalls Leistungen in Anspruch nehmen können. Die Höhe des Pflegegeldes staffelt sich in zwei Stufen und orientiert sich am festgestellten Betreuungsaufwand. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, a.a.O., 23. Die logische Folge dieser Definition von Pflegebedürftigkeit ist die Einschränkung des Personenkreises der Leistungsberechtigten, insbesondere der Ausschluss von psychisch Erkrankten oder Behinderten aus dem Leistungsanspruch der PfV. Das Diakonische Werk machte in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der PfV seinerzeit auf diesen Umstand aufmerksam, vgl. Veigel, Chr., Die Pflegeversicherung – Stellungnahme des Diakonischen Werkes der EKD, in: Diakonie 5/93, III. Blome, A., a.a.O., 74. Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- oder Bezugspersonenpflege, 28.
„Er/sie wird in den verschiedenen Pflegemaßnahmen immer wieder mit anderen Pflegenden konfrontiert. Die Begegnung bleibt unpersönlich, anonym und von Zeitdruck bestimmt. Der/die Kranke weiß nicht, wer eigentlich für ihn zuständig ist. ... Durch die Funktionalisierung der Pflege wird der/die Kranke zum Objekt der Pflege ... Diese Fließbandpflege ist nicht ressourcenorientiert, lässt individualisierte Pflege nicht zu, betont Tätigkeiten, nicht Bedürfnisse der Bewohner(innen), die als störend empfunden werden ... In der funktionellen Pflege sind Pflegeplanung und –ausführung getrennt. .. Da die Kontinuität in den Aufgaben, Informationen, Eigenverantwortung, Individualität und Innovationsmotivation („das haben wir immer so gemacht“) fehlen, sinkt die Arbeitsmotivation, so dass Pflegefehler programmiert sind.“578
3. Verschiedene Indizien weisen darauf hin, dass das PVG Rehabilitation sogar verhindere. Dem PVG liegt kein umfassender Pflegebegriff zugrunde, sondern bestimmt Pflege lediglich ausschnitthaft.579 Das bis in die Sozialgesetzgebung nachweisbare Pflegeverständnis580 macht deutlich, dass Pflege in der Regel als letztes Glied einer Versorgungskette verstanden wird. Die in politischen Verlautbarungen regelmäßig wiederkehrende Maxime „Rehabilitation vor Pflege“ suggeriert so auch, dass es in der Rehabilitation um Förderung, Stärkung und Kompetenzerhalt gehe, während es sich bei der Pflege lediglich um den Vollzug reiner Verwahrpflege handele, wie der Vierte Altenbericht581 kritisch anmerkt. Das Verständnis von Pflege als am Ende der Versorgungskette stehend dürfte allerdings allgemein gebräuchlich sein. Damit wiederum erklärt sich u.a. auch die allgemeine Furcht vor dem Pflegeheim, weil es schwer vorstellbar ist, rehabilitative Maßnahmen bei Pflegebedürftigen könnten aussichtsreich sein und nennenswerte Besserungen herbeiführen. Unter Fachleuten ist jedoch unstrittig, dass die Rehabilitationspotenziale alter und insbesondere hochaltriger Menschen zumeist verkannt sind und um ein Vielfaches mobilisiert werden könnten.582 Unberechtigterweise wird Pflegebedürftigkeit allzu oft gleichgesetzt mit einem Zustand völliger Passivität, in dem Aktivität überwiegend von den Pflegenden ausgeht. Eine solche Sicht begünstigt freilich patronisierendes, Unselbstständigkeit förderndes Verhalten,583 weil nur unzureichend in den Blick kommt, dass der gepflegte Mensch zu einem eigenen – und sei es noch so einge578 579 580 581 582 583
Ebd., 28ff. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, a.a.O., 38. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 269, Sp. 2. Ebd. Vgl. ebd., 276, Sp. 2. Vgl. I.9.e. Auch BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 277, Sp.1.
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schränkten – Handeln befähigt werden kann und Ressourcen in ihm durchaus mobilisierbar sind. Beträchtliche Auswirkungen auf die inhaltliche Bestimmung von Pflege hat auch die Tatsache, dass die Leistungsanbieter von Pflegeleistungen durch den Gesetzgeber „immer stärker ökonomischen Effektivitäts- und Effizienzkriterien unterworfen“584 werden. Kritisiert wird ein allgemeiner „Trend zur Ökonomisierung und Normierung“ sozialer Dienstleistungen, der eine Folge des Versuches sei, ein fachspezifisches Kategorisierungssystem für pflegerische Diagnostik und Intervention zu entwickeln. Ziel eines solchen Systems ist die Einführung neuer Entgeltformen (Diagnosis Related Groups), die verständlicherweise Normierbarkeit, Nachweisbarkeit und EDV-gestützte Erfassbarkeit pflegerischer Leistungen erforderlich machen.585
3. Weitere Einflüsse der Politik auf die Pflegesituation 1. Die Situation der stationären Pflege wird nicht unbeeinflusst bleiben durch diverse grundlegende Strukturveränderungen im Gesundheitswesen, wie sie regelmäßig diskutiert werden. Schon jetzt hat die Einführung eines neuen Vergütungssystems im Krankenhaussektor586 mit daraus resultierender möglichst rascher Entlassung der Patienten Auswirkungen auf die stationäre Altenhilfe: Die Entlassenen werden in „viel stärkerem Maße abhängig von medizinischpflegerischer Nachsorge … und einer Fortführung der im Krankenhaus begonnen Therapie“587 sein. Dies wiederum wird nicht ohne Einfluss auf die Situation stationärer Pflege bleiben im Sinne einer Neuausrichtung oder Erweiterung des bisherigen Leistungsangebotes. Es ist zu vermuten, dass das schon jetzt medizinisch dominierte Pflegeverständnis sich noch verfestigen und zusätzliche finanzielle Ressourcen binden wird – zum Nachteil der gerontopsychiatrischen Spezialpflege, die infolge des hohen Anteils demenziell erkrankter Menschen dringend ausbaubedürftig ist. Stattdessen wird die Behandlungspflege auch künftig einen hohen Anteil der pflegerischen Versorgung stationärer Einrichtungen ausmachen.588
584 Schöniger, U., a.a.O., in: Schwert, R. (Hg.), a.a.O. 144. 585 Ebd. 586 Genannt DRG (= engl.: Diagnosis Related Groups, dt.: Diagnosebezogene Fallgruppen), was einer Preisliste gleichkommt und die Kosten für eine Behandlung festschreibt. 587 Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V., a.a.O., 23. 588 Vgl. auch Pflegethermometer, a.a.O., 24.
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2. Da die PfV seit Jahren defizitär ist, wird über Leistungseinschränkungen nachgedacht.589 Tatsächlich wird die Entwicklung in diese Richtung gehen, will man die Beiträge nicht noch weiter erhöhen. Dies scheint derzeit jedoch ein Tabu. 3. Zunehmend kommt in den Blick, dass sich mit der Altenpflege auch Geld verdienen lässt: Gesundheit und Altenpflege sind in Deutschland ein völlig neuer Wachstumsmarkt mit nie dagewesenem Potenzial. In diesem Bereich lassen sich neuerdings Geschäfte machen. Eine Voraussetzung solcher ökonomischer Ziele ist die Möglichkeit, in der Altenpflege Gewinnabsichten verfolgen zu können, was den gemeinnützigen Anbietern von Pflege im Gegensatz zu nicht gemeinnützigen jedoch nicht erlaubt ist. Wie profitabel das Segment Pflege sein kann, lässt sich exemplarisch im Geschäftsbericht der Marseille-Kliniken590 für das Jahr 2004 nachlesen. Darin wird das „Segment Pflege“ als „Garant für Wachstum und Profitabilität im Konzern“ bezeichnet. Mit einem „anhaltend profitablen Wachstum im Kerngeschäft Pflege“ wird für die Zukunft gerechnet. Die gemeinnützigen Anbieter von Pflege (zu denen u.a. die kirchlichen Träger von Pflegeeinrichtungen gehören) sind demgegenüber benachteiligt. Unter der Überschrift „Riesiger bürokratischer Aufwand“591 macht der auf Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege spezialisierte Berliner Unternehmensberater Pieper darauf aufmerksam, dass der Zwang der Wohlfahrtsverbände zum Verzicht auf Verfolgung von Gewinnabsichten viel Bürokratie mit sich bringe. Auch gebe es „traditionell“ einen „ineffizienten Aufbau“ gemeinnütziger Einrichtungen und eine wettbewerbsuntaugliche Gehaltspolitik, mit der private Anbieter leicht konkurrieren könnten. Zunehmend drängen deshalb moderne, dynamische Privatunternehmen auf den deutschen (Alten-)Pflegemarkt,592 die sich auszeichnen durch stärkere Effizienz und – da nicht, wie die gemeinnützigen Träger, an die Tarife des öffentlichen Dienstes gebunden – niedrigere Löhne. 589 590 591 592
Vgl. DIE WELT vom 14.06.2004, 12. Marseille-Kliniken AG, 6-Monats-Bericht 1. Juli 2004 – 31. Dezember 2004, 13. DIE WELT, 22.09.2004, 16. Z.B. die börsennotierten Marseille-Kliniken (Jahresumsatz 200 Mio. Euro, bei 7442 Krankenhaus- und Pflegeheimbetten im Jahr 2004 [vgl. Marseille-Kliniken.de];oder die auf Pflege spezialisierte Curanum AG [vgl. Curanum.de] und Maternus AG [vgl. Maternus.de]; ebenso Helios (derzeitiger Jahresumsatz 1,1 Mrd. Euro) , [vgl. Helios.de]; Sana [vgl. Sana.de] und Asklepios [vgl. Asklepios.de]. Auch dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis US-amerikanische Pflegekonzerne wie Health-South (Jahresumsatz 4,5 Mrd. USD, 100.000 Betten) [vgl. Healthsouth.com], oder Beverly (50.000 Betten) [vgl. Beverlycares.com] auf den deutschen Pflegemarkt drängen.
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Drechsel, Geschäftsführer der Helios-Kliniken in Fulda, weist auf den permanenten Druck zu erhöhter Wirtschaftlichkeit in der Pflegebranche hin. Die gemeinnützigen Träger von Pflegeeinrichtungen befänden sich deshalb in einem Dilemma, denn Sparen im Gesundheitsbereich passe nicht zu den Kirchen.593 Es bleibt abzuwarten, wie Privatanbieter die Pflegelandschaft durch Effizienz- und Gewinnstreben künftig beeinflussen werden.
4. Altersbilder – Gesellschaftliche Bewertung der Hochaltrigkeit Im Folgenden werden gesellschaftliche Sichtweisen des Alters sowie weitverbreitete Bewertungen des Phänomens Hochaltrigkeit beschrieben. Diese sind auf unterschiedliche Weise bedeutsam: Auf gesellschaftlicher Ebene etwa haben sie Implikationen für die politische Gestaltung z.B. der sozialen Sicherungssysteme, auf individueller Ebene beeinflussen sie die Einstellung des Einzelnen gegenüber hochbetagten Pflegebefohlenen. An- und Zugehörige, Pflegende und Seelsorgende sind nicht frei von solchen Vorstellungen. Mehr oder weniger ist jeder von ihnen bestimmt, hat sie zum Teil übernommen oder sich eventuell kritisch von ihnen distanziert. Für die Seelsorge im Pflegeheim ist es sinnvoll, solche Altersstereotypien zu benennen und Rechenschaft über das eigene Altersbild abzulegen. Die seelsorgerliche Haltung wird von den eigenen Bewertungen des Alters bzw. der Hochaltrigkeit nicht unbeeinflusst bleiben. Auch kirchliches Engagement im Bereich der stationären Altenhilfe erhält entweder destruktive oder konstruktive Impulse von Altersstereotypien. Positive Altersbilder, die vor allem spezifische Kompetenzen des Alters wie z.B. Reife, Lebenserfahrung, Gelassenheit, Toleranz usw. betonen, könnten dazu beitragen, alten Menschen Handlungsspielräume zu eröffnen, die ihnen helfen, die Chancen des Alters wahrzunehmen und durch solche Leitbilder motiviert zu werden. Negative Altersbilder hingegen, die insbesondere Einbußen, Verluste, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Demenz im Blick haben, können dazu beitragen, objektiv durchaus noch vorhandene Handlungsspielräume zu übersehen bzw. zu unterschätzen und so vorhandene Potenziale nicht mehr auszuschöpfen. Ein dauerhafter Verlust derselben ist dann eine unnötige Folge. Die Gefahr negativer Altersstereotypien besteht auch darin, dass solche Etikettierungen vom alten Menschen selbst übernommen werden. Diese Selbstetikettierungen lassen schließlich die gefürchteten Eigenschaften im Sinne einer self-fulfilling prophecy Wirklichkeit werden (z.B. alt = schwach, inkompetent, isoliert usw.). 593 DIE WELT, 22.09.2004, 16.
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Da stationäre Pflegeeinrichtungen, wie schon gezeigt wurde,594 mehrheitlich von hochbetagten Menschen bewohnt werden, wird bei den folgenden Betrachtungen der Hochaltrigkeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Begriff der Hochaltrigkeit wird indessen unterschiedlich gefüllt. Die Mehrheit der Publikationen des deutschsprachigen Raumes gibt eine Altersgrenze ab 80 Jahren an, um Hochaltrigkeit zu definieren.595 Es muss bei einer solchen Definition, die auch zwischen dem „dritten und vierten Lebensalter“ bzw. den „jungen“ und „alten“ Alten unterscheidet, berücksichtigt werden, dass alle chronologisch basierten Altersgrenzen problematisch sind, weil sie dazu verleiten, die höchst individuelle Unterschiedlichkeit596 älterer Menschen zu übersehen und „die Alten“ zu nivellieren. Andererseits kann es gelegentlich sinnvoll sein, Phasen des Alters für unterschiedliche (z.B. sozialpolitische) Fragestellungen zu unterscheiden, da für jede Altersstufe bestimmte Merkmale und Herausforderungen etwa annähernd gleich kennzeichnend sind. Für das „hohe“ Alter etwa ist ein deutlicher Anstieg der Wahrscheinlichkeit von Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit und Demenz charakteristisch.597 Für jede Altersphase können demnach spezifische Herausforderungen, Chancen und Beeinträchtigungen, Einschränkungen und Potenziale benannt werden, die in die unterschiedlichen Altersbilder mit einfließen. Solche Charakterisierungen des Alters können verstanden werden als „soziale Konstruktionen, die sich im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft herausbilden und entwickeln“598. Insofern findet sich in Altersstereotypien immer auch ein Kern Wahrheit. Es ist deshalb sinnvoll, einige typische Sichtweisen des Alters, alter bzw. hochbetagter Menschen im Folgenden zu umreißen. Wirft man einen Blick auf die unterschiedlichen Charakterisierungen und Bewertungen des Alters, fällt schnell eine Ambivalenz der Beurteilung auf: Alt werden möchte jede/r, aber jung dabei bleiben. Einer häufig anzutreffenden negativen Bewertung des Alters, z.B. in den Medien, stehen beispielsweise Bevölkerungsbefragungen gegenüber, in denen mehrheitlich der Wunsch geäußert wird, alt zu werden.599 Diese Ambivalenz in der Haltung zum Alter(n) zeigt sich bereits bei einem Blick in die Geschichte, wie der Vierte Altenbericht600 unter Verweis auf unterschiedliche historische Quellen belegt. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass „Altern immer ambivalent besetzt 594 595 596 597 598 599 600
Vgl. I.B.1. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 53, Sp. 1. Vgl. ebd., 352, Sp. 2. Ebd., 54, Sp. 1. BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 64, Sp. 1. BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 352, Sp. 1. Vgl. ebd., 51, Sp. 1ff.
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war“601. Einerseits sind Bewunderung, Achtung und Faszination zu registrieren, andererseits sind Stimmen zu vernehmen und Praktiken zu beobachten, die eine Deutung des Alters im Sinne einer sozialen oder individuellen Belastung zur Grundlage haben (z.B. Alte von der Tiberbrücke stürzen oder sie – mit traditionellem Einverständnis wie bei den Eskimos – in die Eiswüste zum Verhungern verbannen)602. Letzteres sei in der Kulturgeschichte jedoch „vor allem unter Mangelbedingungen praktiziert“603 worden, betont der Altenbericht und deutet damit einen Zusammenhang zwischen negativen Altersbildern mit Altersdiskriminierungen an (engl. „Ageism“). Wo die finanziellen öffentlichen Mittel knapp sind, könne es demnach leicht(er) zu altersbedingten Diskriminierungen kommen. Ähnlich sehen es Prahl/Schroeter.604 Immerhin zeigen vergleichende Untersuchungen, dass „in vielen Kulturen bis heute Vorstellungen darüber bestehen, den Tod der Alten zu beschleunigen“605. Dieses Ergebnis ist vor dem Hintergrund der heftig geführten gesellschaftspolitischen Debatten um die Patientenverfügung, passive Sterbehilfe oder Finanzierung von Krankenkassenleistungen für alte Menschen sicherlich besonders aufmerksam zu hören. Die Verschiedenartigkeit der Altersbilder lässt sich auch damit erklären, dass die Lebensphase „Alter“ mittlerweile eine längere Zeitspanne von bis zu drei Jahrzehnten umfasst. Die Bewertungen des Alter(n)s hängen somit u.a. davon ab, welche „Phase“ dieses langen Lebensabschnitts in den Blick kommt. Die Unterschiede in der Beurteilung machen verständlich, warum gegensätzliche „negative, defizitorientierte und positive, produktivitätsorientierte Altersbilder einander gegenüber(stehen)“606. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Altersbilder aufgrund unterschiedlicher Fragestellungen oder fachlicher Perspektiven differieren. Die Sicht des Alters variiert etwa zwischen den Handlungsfeldern Medizin, Arbeitswelt oder Medien. Je nachdem, welche Interessen von einer Gruppe verfolgt werden, fallen die Bewertungen des Alters ebenfalls unterschiedlich aus. Wird beispielsweise in der politischen Debatte vor dem Hintergrund der öffentlichen Finanzen bzw. im Diskurs um die Finanzierung des Sozialstaates von den Alten gesprochen, so begegnen häufig subtile negative Bewertungen: Häufig wird zum Beispiel die Metapher „Explosion“ verwendet,
601 Ebd., 52, Sp. 2. 602 Vgl. ebd. Zur Frage des Stellenwertes eines regulären, nicht durch Katastrophen (Nahrungsmangel, wirtschaftliche Not usw.) bedingten Senizids, vgl. Prahl, H.W./Schoeter, K. R., Soziologie des Alterns, 42ff. 603 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 52, Sp. 2. 604 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 43. 605 Ebd. 606 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 67, Sp. 2.
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oder es ist von „Überalterung“ und „Rentnerlast“ die Rede.607 Auch lässt sich in politischen Debatten über die Alten beobachten, dass sie „oft einseitig aus der ökonomischen Perspektive“ geführt werden und dass ökonomische Aspekte dominieren, wie Analysen von Reden im Bundestag zeigen.608 In dem jüngst von Alt-Bundespräsident Roman Herzog609 geprägten Begriff einer „Rentnerdemokratie“ schwingt ebenfalls Negatives mit. Wenn von den „jungen Alten“ die Rede ist, begegnen viele positive Vorstellungen vom Alter. Es wird dann z.B. davon ausgegangen, dass der Gesundheitszustand jener Menschen gut sei, dass ihnen ausreichende finanzielle Ressourcen zur Verfügung stünden und eine hohe Aktivitätsneigung anzutreffen sei. Viele Vereine und Organisationen sprechen diese Gruppe der aktiven, unternehmungslustigen, vitalen und „dynamischen“ Alten gezielt an.610 Diese Gruppe der Alten wird zugleich umworben für Ehrenämter und ehrenamtliches Engagement in vielfältigen Bereichen. Auch in der Kirche lässt sich meines Erachtens ein verstärktes Werben um diese Altersgruppe („55+“) wahrnehmen. Unterschiedlichste Angebote und Themen sollen Menschen des dritten Lebensalters ansprechen. Auch Werbung und Tourismus haben diese Zielgruppe der lebensbejahenden und zahlungskräftigen Klientel für sich entdeckt. So zeichnet sich in den vergangenen Jahren „ein deutlicher Wandel ab“611 und man kann beobachten, dass immer häufiger grauhaarige, ältere Menschen als Werbeträger für bestimmte Produkte herhalten: Mehrere ältere Damen posieren für ein Haarpflegemittel, ein bekannter ergrauter Schauspieler von 61 Jahren preist verführerisch eine Süßigkeit an, eine „junggebliebene“ alte Dame rühmt eine Hautcreme, eine andere wirbt für ein Gingkopräparat zur Erhaltung der geistigen Vitalkraft, graumelierte Herren wissen genau, wo sie ihr Geld anlegen, 70-Jährige posieren im Bikini für einen Reiseveranstalter usw. Häufig wird mit älteren Menschen auch für „Anti-Aging-Produkte“ geworben, Präparate, die angeblich dazu dienen, die Menschen jenseits der 65 „jung“ zu halten und sie vor dem „Altwerden“ zu bewahren. Mit „Anti-Aging“ tut sich mittlerweile sogar in der Medizin ein großer neuer Markt auf, der darauf abzielt, die negativen Begleiterscheinungen des Alters zu mindern oder völlig vermeiden zu helfen. Hierbei handelt es sich allerdings um eine zwiespältige Entwicklung, denn einerseits tragen alte 607 608 609 610
Ebd., 65, Sp. 2. Ebd., 68, Sp. 1. Geäußert auf einer Pressekonferenz am 11.4.2008. In Hamburg beispielsweise der Verein New Generation - Gemeinnützige Einrichtung für Menschen ab fünfzig e.V., vgl. www.New-Generation-HH.de. 611 Tews, H.P., Altersbilder – Über Wandel und Beeinflussung von Vorstellungen von und Einstellungen zum Alter, KDA-Forum 16, Köln (1991), 1.
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Menschen als Werbeträger und das Bemühen um „Anti-Aging“ zu einer Wertschätzung des Alters bei, indem ältere Menschen als attraktiv, lebensbejahend, kultiviert, schön usw. dargestellt werden. Andererseits bleiben doch die Vorurteile gegenüber dem Alter insofern bestehen, als es eben nur so lange als vorzeigbar und lebenswert gilt, wie die Haut jung, das Haar geschmeidig, der Geist wach oder die Figur in Form bleibt. Man könnte deshalb meinen, dass sich im Kampf um „Anti-Aging“ eine latente Altersdiskriminierung zeigt, die das Alter am Maßstab des Jungen misst und das Junge zum Kriterium von Lebensqualität macht. Die strukturellen Hintergründe der neuen Entwicklung, ältere Menschen verstärkt als Werbeträger einzusetzen, sind evident: Erkennbar wird darin die Tatsache des ansteigenden Anteils alter Menschen in den nächsten Jahrzehnten, während die konsumaktiven jüngeren Jahrgänge kleiner werden. So kommt die „Silver-Generation“, wie sie gelegentlich bezeichnet wird, als neue Zielgruppe der Wirtschaftswerbung neu in den Blick, ohne dass damit eine grundlegende Wegorientierung vom Jugendideal eingeleitet wäre, welches in den meisten historischen Phasen vorherrschend war und es noch immer ist.612 Ist hingegen von den „alten Alten“, den Hochbetagten und Langlebigen die Rede, tritt häufig die Vorstellung einer deutlichen Zunahme gesundheitlicher Probleme, Angewiesenheit oder Pflegebedürftigkeit in den Vordergrund. Alter, Krankheit und Hilfsbedürftigkeit sind in der allgemeinen Vorstellung noch eng miteinander verbunden.613 Die Problemgruppen unter den Alten kommen deshalb in der Werbung ebenso wenig vor wie die Probleme nahezu aller alten Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Gebrechen.614 Allerdings lassen sich erste Anzeichen wahrnehmen, dass Versicherungswirtschaft, Banken, Pharmakonzerne und Pflegeeinrichtungen im Begriff sind, auch diese Zielgruppe werblich zu erfassen. Gleichwohl wird im gesellschaftlichen Diskurs das „hohe Alter“ zumeist als „Last und Bedrohung“ interpretiert, obgleich paradoxerweise die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf vielfältige Weise Langlebigkeit als etwas Erstrebenswertes vorantreiben und fördern.615 In diesem Zusammenhang sind auch die weitverbreiteten negativen Vorstellungen vom Leben und Sterben im Pflegeheim zu sehen. Hochbetagte, so ist 612 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alters, 74. 613 Buske, N., Art. ‚Altersseelsorge‘, in: Handbuch der Seelsorge, Berlin (1983, 2. Aufl.), 295. 614 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alters, 83. In diesem Zusammenhang scheint mir die Beobachtung interessant, dass eine große deutsche Krankenkasse, die DAK, ihre Info-Broschüren und Materialien zur Pflege allesamt mit Bildern von „jungen“, gut aussehenden, ganz und gar nicht hinfällig wirkenden Alten gestaltet. 615 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 57, Sp. 2.
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bekannt, sterben heutzutage zu einem hohen Prozentsatz entweder im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Pflegeheime aber gelten als Orte institutionalisierter Gebrechlichkeit und Perspektivlosigkeit. Man fürchtet in der letzten Lebensphase Hilfsbedürftigkeit, Vereinsamung und den sozialen Tod und sieht mit Schrekken der Situation entgegen, mit zunehmendem Alter in institutionelle Abhängigkeit zu geraten. Einen kontraproduktiven Impuls erhält diese Sicht nach meiner Wahrnehmung zudem durch die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion um unterstützten Suizid bzw. Tötung auf Verlangen:616 In weiten Teilen suggeriert diese Diskussion, wie ich finde, gerade mit Blick auf alte Menschen in Pflegeheimen, dass ein „multimorbides“ Leben, zudem in pflegerischer Abhängigkeit, nicht mehr menschenwürdig und lebenswert sein könne. Die Debatte führt also zu einer einseitigen Fixierung auf die mutmaßliche Not des (pflegebedürftigen, hohen) Alters. Damit aber wird der Blick – voreilig – verstellt für letzte Potenziale und Ressourcen Hochbetagter. Die positiven Aspekte dieser Altersphase werden schließlich völlig ausgeblendet und die höchst individuelle Varianz des hohen Alters übersehen. Die Frage der Möglichkeit einer subjektiven Lebensqualität Pflegebefohlener in Heimen kann nicht mehr thematisiert werden, da zumeist unterstellt wird, Heimaufenthalt und Totalverlust an Lebensqualität seien identisch. Es finden sich allerdings auch Belege für eine positive Besetzung des hohen Alters, etwa indem es mit Lebenserfahrung, Weisheit, Weitsicht, Selbstbewusstsein, Gelassenheit, In-sich-Ruhen usw. in Zusammenhang gebracht wird. Dabei ist das Prestige älterer Menschen in Gesellschaften, in denen sie eine Seltenheit sind, höher.617 In Literatur und Film finden sich zahlreiche Beispiele für eine positive Wahrnehmung hochbetagter Menschen. So wird etwa in Tolkiens jüngst verfilmtem Epos Herr der Ringe der schlohweiße, hochbetagte König Theodén als eine überaus bemerkenswerte, faszinierende Figur gezeichnet. Der Greis ist als aufrechter, starker, weiser Mann zu sehen. Er schöpft aus dem Fundus seiner Lebenserfahrung und erscheint als eine faszinierende Figur von hoher Integrität. Auch die hochbetagte Dame mit faltenreichem Gesicht, die die gealterte Hauptdarstellerin Rose in Camerons Film Titanic spielt und aus der Retrospektive die Ereignisse der Katastrofe schildert, wird dargestellt als eine sehr positive Figur: Sie tritt selbstbewusst und unabhängig auf, schöpft aus einem reichen Schatz an Lebenserfahrungen und Erlebnissen, zieht beim Erzählen ihre Zuhörer geradezu 616 Im Frühjahr 2008 machte der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch Schlagzeilen, da er eine alte Dame bei ihrem Vorhaben unterstützte, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Die öffentliche Diskussion um die Themen Sterbehilfe, Pflegebedürftigkeit, Leben im Pflegeheim usw. wurde dadurch heftig entfacht. 617 Lehr, U. M., Kompetenz im Alter, in: Lehr, U. M./Repgen, K. (Hg.), Älterwerden: Chance für Mensch und Gesellschaft, München (1994), 9 – 28.
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in den Bann, ruht in sich, ist reif und wirkt im positiven Sinne ‚lebenssatt‘. Zuletzt gelingt es ihr, die Vergangenheit loszulassen und eine – ideelle wie materielle – Kostbarkeit (ein seltenes Schmuckstück) im Meer zu versenken, als wäre es für den reifen, lebenserfahrenen Menschen ein Leichtes, sich zu trennen. Weitere faszinierende Figuren aus Literatur und Film ließen sich anführen, mit denen zu belegen wäre, dass selbst Hochbetagte, vom Alter Gezeichnete bisweilen als Sympathieträger mit Vorbildcharakter fungieren. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es sich bei ihnen zumeist um mobile, geistig rege, vitale und gesunde alte Menschen handelt, die allesamt noch „Herr im eigenen Haus“, also nicht ans Bett Gefesselte sind. Wägt man positive und negative Altersbilder gegeneinander ab und versucht einzuschätzen, welche von beiden verbreiteter sind, so könnte man aufgrund reißerischer Berichte in den Medien und zahlreicher Publikationen zum Thema Alter meinen, die negativen Altersbilder dominierten. Schirrmachers618 viel diskutiertes Buch ‚Das Methusalem-Komplott‘, das sich als ein einziger Bericht über die Negativität des Alters liest, aber auch Gronemeyers619 provozierendes ‚Die Entfernung vom Wolfsrudel – Über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten‘, erwecken den Eindruck, das Alter sei in unserer Gesellschaft überwiegend negativ belegt und Altersdiskriminierung die natürliche Folge einer derartigen Haltung. Auch in der theologischen Literatur finden sich entsprechende Einschätzungen. Körtner beispielsweise meint: „Nach wie vor überwiegen in unserer Gesellschaft negativ besetzte Bilder des Alterns und der Alten“620. Anders hingegen die Sachverständigenkommission des Dritten Altenberichts. Unter Verweis auf eine Studie621 des Jahres 2000 kommt sie zu der Auffassung, dass „die häufig getroffene Annahme eines in unserer Gesellschaft dominierenden negativen Altersbildes einer empirischen Überprüfung nicht stand(hält)“622. Vielmehr würden die Daten insgesamt eher für eine „gegenwärtige Vorherrschaft positiver Altersbilder“623 sprechen. Prahl/Schroeter meinen, eine „Überbetonung negativer Altersbilder .... ist zur Beschreibung der Gegenwart nur noch beschränkt geeignet“624. Wenngleich die Wahrnehmung positiver Aspekte des Alters im Vergleich zu den negativen „deutlich überwiegen“, so 618 Schirrmacher, F., Das Methusalem-Komplott, München (2004, 3. Aufl.). 619 Gronemeyer, R., Die Entfernung vom Wolfsrudel, Düsseldorf (1989, 2. Aufl.). 620 Körtner, U. H. J., Ethik im Krankenhaus – Diakonie, Seelsorge, Medizin, Göttingen (2007), 162. 621 Vgl. Rudinger, G./Kruse, A./Schmitt, E., Bilder des Alter(n)s und Sozialstruktur, Bonn (2000). 622 BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 68, Sp. 1. 623 Ebd. 624 Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alters, 85.
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machten die Befunde der besagten Studie deutlich, dass Altersbilder sich nicht in simpler Weise auf einem Kontinuum anordnen ließen, das von einer positiven bis zu einer negativen Bewertung reiche.625 Es sei zwar nicht zu leugnen, dass es einige Lebens-, Politik- und Wissenschaftsbereiche gebe, in denen tatsächlich noch immer negativ getönte Altersbilder anzutreffen seien. Es gebe jedoch „deutliche Veränderungen bei der Wahrnehmung des Alters, des Altwerdens und der Gruppe älterer Menschen“626. So könne man mittlerweile in der Arbeitswelt beobachten, dass bestimmte Vorzüge und Stärken Älterer deutlicher gesehen und wertgeschätzt werden. In der Sozialpolitik wiederum „beginnen sich neue Leitbilder des Umgangs mit älteren Menschen abzuzeichnen“627. In den allgemeinen Grundlagen- und Anwendungswissenschaften lasse sich zudem eine verstärkte „Gerontologisierung“, das heißt eine Berücksichtigung von Fragen des Alters und Alterns beobachten.628 In all diesem drückt sich eine zunehmende Aufgeschlossenheit aus, Fragen des Alters und Alterns zu berücksichtigen, alte Menschen nicht zu übersehen und zu einer differenzierten, positiven Wahrnehmung und Wertschätzung des dritten und vierten Lebensalters beizutragen. Auch befinden sich Defizit- und Disengagement-Theorien auf dem Rückzug, während Aktivitäts- und Kontinuitätsmodelle mittlerweile favorisiert werden.629 Damit, so Prahl/Schroeter, werde die Vielfalt von Lebenslagen und Selbstbildern alter Menschen in wissenschaftlichen Typisierungen zusammengedrängt, aus denen letztlich Normen gerinnen, wie alte Menschen sein und handeln sollen.630 Abschließend mag auch das Ergebnis einer repräsentativen Befragung631 zur Einschätzung des Konfliktpotenzials zwischen Jung und Alt als Indiz dienen, dass alte Menschen mehrheitlich keineswegs als „Last“ oder „Bedrohung“ empfunden, sondern im Gegenteil positiv wahrgenommen werden. So sahen lediglich 38 % ein „großes“ Konfliktpotenzial zwischen Jungen und Alten, während 61 % dieses als „nicht so groß“ beurteilten.
625 626 627 628 629 630 631
BMFSFJ, Dritter Altenbericht, 68, Sp. 1. Ebd., 68, Sp. 2. Ebd. Ebd. Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alters, 86. Ebd. Veröffentlicht im ZDF-Politbarometer am 4.4.2008.
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D. Das Pflegeheim als Heterotopos Das Pflegeheim mit seinen spezifischen (seelsorgerlichen) Herausforderungen unterscheidet sich deutlich von anderen (alltäglichen) Lebensräumen. Pflegeeinrichtungen sind unverwechselbare Orte, die auch einen Einfluss auf den seelsorgerlichen Besuch haben, denn es macht einen Unterschied, ob Seelsorge sich unter den Bedingungen eines Krankenhauses, Gefängnisses, Flughafens oder am Telefon ereignet, ob körperliche Gebrechen oder psychische Erkrankungen nach seelsorgerlichem Beistand fragen lassen, ob – wie etwa in der FlughafenSeelsorge – keine wirkliche „Notsituation“ den Kontakt mit einer Seelsorgerin/einem Seelsorger begründet oder ob sich eine seelsorgerliche Begegnung – wie z.B. im Gefängnis – im Kontext von Zwang, Regulierung und Aufsicht vollzieht. Es ist nicht unerheblich für das seelsorgerliche Geschehen, ob es unter ruhigen Bedingungen und in einer Atmosphäre des Ungestörtseins stattfindet oder ob Betriebsamkeit und Hektik die Rahmenbedingungen kennzeichnen. Die Seelsorge wird auf solche Umstände reagieren und versuchen müssen, geeignete Wege zu finden, mit Störungen umzugehen und sich den Bedingungen des Kontextes anzupassen. Die Poimenik632 thematisiert einige Male den Zusammenhang von Ort und Seelsorge. Es wird von ihr gesehen, dass spezifische Orte zu einem veränderten Erleben aufseiten der Pastoranden führen können. Dieses Phänomen des ortsspezifisch veränderten Wahrnehmens, Empfindens und Reagierens wird unter Rückgriff auf Forscher unterschiedlicher Disziplinen erklärt. Demnach habe die Moderne einen charakteristischen Ort hervorgebracht, dessen Merkmale auch auf stationäre Pflegeeinrichtungen zutreffen und auf den Menschen einwirken. Mit unterschiedlicher Begrifflichkeit („Nicht-Ort“ [Augé], „Fremder Ort“ [Stubbe], „Heterotopos“ [Foucault]) wird ein vergleichbarer Sachverhalt beschrieben: Die so bezeichneten Topoi633 kennzeichnet eine Geschichts- und Identitätslosigkeit, sie gleichen einander und sind von kalter, einseitiger Funktionalität. Es handelt sich bei ihnen nicht um die vertrauten „anthropologischen“ Orte der Menschheit, die Geborgenheit vermitteln und an denen der Mensch heimisch und sesshaft wird. Hier kommt er nicht zu sich selbst. Er wählt sie 632 Stubbe, E., Jenseits der Worte, Zürich (2001), 91ff.; Wiedemann, W., Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, Göttingen (1996). 633 Näheres zum Phänomen der Nicht-Orte bei: Augé, M., Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a.M. (1994); Foucault, M., Of Other Spaces, http://foucault.info/documents/heteroTopia/foucault.heteroTopia.en.html , abgerufen am 13.04.2009; Stubbe, E., a.a.O., 91ff.; Relph, E., Place and Placelessness, Pion/London (1976).
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nicht als Wohn- und Lebensraum. Die Zahl der „Transiträume“, z.B. Hotelketten, Durchgangsheime, Feriendörfer, Flüchtlingslager, Slums usw., nimmt ebenfalls unaufhörlich zu. Immer häufiger spielt sich das Leben im Transit ab. Nicht einmal Geburt und Tod entgehen ihm, beides ereignet sich im westlichen Kulturraum zumeist in speziellen, funktionalen Einrichtungen (Kliniken, Krankenhäusern, Heimen, Hospizen). Selbst das engmaschige Netz an Verkehrsmitteln, das eine Folge hoher Mobilität ist, kann noch als Transitraum oder „bewegliche Behausung“ verstanden werden. Die Menschen verbringen einen hohen Anteil ihrer Lebenszeit auf Flughäfen, Bahnhöfen, Stationen, Wandelhallen, kurz: Übergängen. Währenddessen scheint das Individuum einsam und vereinzelt unterwegs, als wäre es unentwegt auf der Durchreise. Das Provisorische und Ephemere kennzeichnet seine Existenz. Heterotopoi verlangen nach Anpassung und Unterordnung, der Zutritt zu ihnen geschieht unfreiwillig oder gar unter Zwang (z.B. Kaserne, Gefängnis). Auch Krankenhäuser und Pflegeheime werden zu den Nicht-Orten vom Typ der Crisis Heterotopia (Foucault) gezählt. Diese Charakterisierung der Pflegeheime leuchtet ein: Sie sind auf Funktionalität aus, ermöglichen einen Übergang (vom Leben zum Tod) und haben ihre eigenen, Anpassung verlangenden Regeln. Pflegeeinrichtungen sind Massenbetriebe mit monofunktionaler Ausrichtung, die von vielen Menschen „durchlaufen“ werden. Entsprechend fehlt ihnen Identität und Geschichte. Der Wechsel in eine Pflegeeinrichtung erfolgt zumeist gezwungenermaßen und ist Ultima Ratio. Wenn nichts mehr geht, ist die Pflegeeinrichtung eine unvermeidliche Station, in der sich ein Gefühl von Heimischwerden schwer einzustellen vermag, schon deshalb, weil die Verweilzeiten634 zur Eingewöhnung oft viel zu kurz sind. Die Furcht vor dem Pflegeheim erklärt sich auch aus der Furcht vor dem fremden, dem Nicht-Ort, dem Topos, an dem ein Einleben und Heimischwerden zwar nicht unmöglich, aber doch erschwert ist. Kennzeichnend für den besonderen Ort Pflegeheim ist auch eine Affinität zur „totalen Institution“, deren Grundmerkmale Goffman635 beschreibt: Bestimmend für diesen Typ Institution ist unter anderem, dass sich die drei Lebensbereiche Schlafen, Freizeit und Arbeit an gleicher Stelle befinden und sich unter dersel634 Zu den Verweilzeiten in Pflegeeinrichtungen vgl. I.B.9.b. 635 Goffman, E., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. (1973). Eine amerikanische Studie über das Leben in einem Pflegeheim kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass stationäre Pflegeeinrichtungen zahlreiche Merkmale einer totalen Institution aufweisen, jedoch mit einem geringeren Totalitätsanspruch als die von Goffman beschriebenen Einrichtungen wie Gefängnisse, Asyle oder Erziehungsheime, vgl. Shield, R. R., Uneasy Endings – Daily Live In An American Nursing Home, New York (1988).
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ben Autorität vollziehen. Alle Aktivitäten werden mit den „Schicksalsgenossen“ durchgeführt, denen dieselbe Behandlung zuteil wird. Der Tagesablauf ist exakt verplant und durch ein ausdifferenziertes System formaler Regeln bestimmt, deren Einhaltung durch die Funktionäre der Institution überwacht wird. Normierende Sanktion sowie ein hierarchischer Blick sind Erfüllungsgehilfen der sozialisierenden und disziplinierenden Organisation. Goffman konstatiert eine typische Diskrepanz zwischen offizieller Zielsetzung der Institution und ihrer Funktion, die häufig erkennbar wird in den erklärten humanitären Zielen einer Einrichtung und einer dazu in Widerspruch stehenden Realisierung. Zahlreiche Kontroll- und Reglementierungsmaßnahmen, oft deklariert als dem „Schutz der Bewohnerschaft“ dienend, kennzeichnen u.a. einen solchen Widerspruch. Eine Tendenz zur Verobjektivierung der „Insassen“ wie auch zur „Verwaltung“ von deren objektiven Bedürfnissen ist ebenfalls eine Auffälligkeit der totalen Institution. Sie verhindert zudem die Entfaltung von Autonomie und Persönlichkeit, befördert einen Rollenverlust und schränkt die Kontrollfähigkeit der anvertrauten Menschen erheblich ein. Auch eine mangelnde Verfügbarkeit von Privatsphäre kennzeichnet den beschriebenen Typ Organisation und lässt ihn so zu einem gefürchteten Ort werden. Es sei in diesem Zusammenhang an meine Ausführungen zum Thema Bürokratismus als Kennzeichen stationärer Pflegeeinrichtungen erinnert,636 die das beschriebene Merkmal totaler Institutionen als eine zu berücksichtigende Größe in Altenpflegeeinrichtungen beschreiben. An solchen Orten lassen sich charakteristische Reaktionen637 auf seelsorgerliche Besuche beobachten. Es scheint, als würden Nicht-Orte eine besondere Empfänglichkeit für das Besuchtwerden (durch Fremde) fördern. Eine besondere Dynamik seelsorgerlicher Besuche wird mit der Besonderheit des Umfeldes bzw. Ortes, an dem sie stattfinden, erklärt, so dass hier Fremde (z.B. Seelsorgerinnen und Seelsorger) im Nu vertraut und Gäste kindlich als „hoher“ Besuch erlebt werden und die Seele des Besuchten sich sogleich zu erkennen gibt. Eine spezifische emotionale „Wucht“ (Stubbe) wird von den Besuchten – zumindest im Krankenhaus oder Pflegeheim – oftmals empfunden, wenn Seelsorgende an ihr Bett treten. Diese eigentümliche Dynamik, die ein „Vertrautsein jenseits vertrauter Umgebung“ erlaubt, ist, wie Stubbe es interpretiert, als Folge „unentrinnbarer Regressionskräfte“ zu erklären, welche sich Hospitalisierter und Pflegebefohlener häufig bemächtigen. Hier sind die Grundvoraussetzungen zwischenmenschlicher Kommunikation außer Kraft gesetzt, da der institutionali636 Vgl. Exkurs, 262. 637 Vgl. zum Folgenden: Stubbe, E., Jenseits der Worte, 66ff., sowie Wiedemann, W., a.a.O.
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sierte, bettlägerige Mensch am ‚Heterotopos‘ nicht ausweichen und fortgehen kann. Vielmehr ist er angewiesen auf das Kommen und Gehen anderer. Diese Abhängigkeit führe zu einer Regression in ein Entwicklungsstadium vor der IchWerdung. Tendenziell gehe Hospitalisierung mit Ich-Verlust und „Entselbstung“ einher, ein Prozess, der sich bei hochbetagten Pflegebefohlenen in Heimen noch potenzieren dürfte. So bekommt das Besuchtwerden eine neue Qualität. Die Phänomene, die an den Heterotopoi in Gestalt auffälligen Reagierens mitunter zu beobachten sind, lassen es angeraten sein, sie in ihrem Bezug zum Ort des Geschehens zu verstehen. Aufgrund seiner Eigentümlichkeit bringt er aus unterschiedlichen Gründen veränderte Wahrnehmungen bzw. verändertes Erleben hervor. Der Aufenthalt im „Transit“ und damit das Fehlen von Vertrautem und Heimischem (Möbel, Gerüche, Wohnungsatmosphäre, Bilder, Einrichtungsgegenstände), das Gefühl, abgeschoben zu sein, die Ängste vor dem Ungewissen, das Ausgeliefert- und Angewiesensein – dies alles dürfte im psychischen Wahrnehmen und Reagieren bei stationär Versorgten einen Niederschlag finden und die „verrückten Reaktionen“, wie Wiedemann sie bei Hospitalisierten beobachtete, erklären. Der Zusammenhang zwischen Ort und Seelsorge wurde somit inzwischen von der Poimenik erkannt und mit unterschiedlichen Akzenten beschrieben. Dass der jeweilige seelsorgerliche Kontext einen mutmaßlichen Einfluss auf die Besuchten (Pastoranden) hat und auffällige Reaktionen erklärt, kam also in den Blick. Die Auswertungen des empirischen Materials, die sich – wie geschildert – jedoch auf die Person der Seelsorgenden konzentrieren, werden nunmehr zu zeigen haben, ob sich der spezifische Kontext Pflegeheim auch im Besuchsverhalten der Seelsorgerinnen und Seelsorger niederschlägt, deren Kommunikation beeinflusst und zu charakteristischen Reaktionsbildungen führt. Es gibt m.E. keinen Grund anzunehmen, der spezifische Ort, an dem sich Seelsorge im Krankenhaus/Pflegeheim ereignet, tangiere allein die Person der Pastoranden. Deshalb scheint es geboten, den Kontext der beobachteten Interaktionsmodi mit zu berücksichtigen und zu fragen, inwiefern sie durch die spezifische Situation und Bedürfnislage im Pflegeheim beeinflusst sein könnten.
E. Theologische Begründungen der Heimseelsorge und ihre praxisrelevanten Potenziale Das folgende Kapitel fragt, wie die Seelsorge in Theorie und Praxis auf die beschriebene Situation und Bedürfnislage in stationären Pflegeeinrichtungen reagiert. Was hat sie Pflegebefohlenen zu bieten? Wie antwortet sie auf das 147
Umfeld? Was kann sie den Menschen in stationärer Obhut tun oder ihnen kommunizieren? Wie aus der Darstellung zur Forschungslage ersichtlich wurde,638 sind die Publikationen zum Thema Pflegeheim dürftig und geben zur Beantwortung dieser Frage wenig her, da stationäre Einrichtungen mit ihren höchst spezifischen Erfordernissen von der Seelsorgelehre bisher kaum wahrgenommen wurden. Es lassen sich allerdings theologische Begründungen für eine seelsorgerliche Begleitung Alter und Gebrechlicher benennen, die praxisrelevante Implikationen für die Heimseelsorge in sich tragen. Die Praxis, wie sie sich niederschlägt in Praxisanleitungen oder beobachtbarem Verhalten, wird jeweils verständlich vor einem entsprechenden theologischen Hintergrund, da Theorie und Praxis miteinander korrelieren. Auf indirektem Wege lässt sich somit eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen erschließen, indem nach den für die Heimseelsorge impulsgebenden und praxisrelevanten theologischen Begründungen gefragt wird. Diese sollen hier auch deshalb skizziert werden, da die Anthropologie noch immer ein „weitgehend vernachlässigtes“639 Thema der Poimenik ist und es mir deshalb sinnvoll scheint, anthropologische Gesichtspunkte in dieser Arbeit zu berücksichtigen. Von den möglichen theologischen Fundierungen ist eine von besonderem Gewicht und soll näher vorgestellt werden. Ich gehe davon aus, dass sie seelsorgerliches Handeln im Pflegeheim maßgeblich beeinflusst. Verhaltensweisen, Arbeitsformen und Seelsorgestile dürften zu einem erheblichen Grad von der besagten theologischen Rückbindung bestimmt sein, wie ich mit den folgenden Ausführungen verdeutlichen möchte. In dem gleich vorzustellenden, anthropologischen Bezugsrahmen, ist auch das Leibliche, das eine wichtige Determinante stationärer Pflegekultur640 darstellt, eine zentrale Größe. Dieser Umstand ist für die Heimseelsorge in doppelter Hinsicht von Vorteil, denn der Seelsorge in diesem Kontext ist ein Wert inhärent, der erstens einen guten Ansatzpunkt für den Umgang mit (Schwerst-)Pflegebedürftigen bietet und zweitens die christliche Seelsorge für das spezifische Pflegemilieu gut adaptierbar macht. Sie trifft nicht wie ein Fremdkörper auf diese Kultur, sondern fügt sich organisch in deren charakteristische Bedürfnislage ein und kann deshalb ein „natürliches“, milieugemäßes seelsorgerliches Angebot mit wünschenswertem Kontextbezug bieten.
638 Vgl. I.A.1. 639 Nauer, D. Seelsorge, 110. 640 Vgl. I.B.12.
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Ein Blick auf zwei exemplarische Praxishilfen zeigt, dass das Faktum der Leiblichkeit von der Seelsorge tatsächlich als Chance und Herausforderung – wenn auch nicht mit allen denkbaren Konsequenzen – wahrgenommen wird. Zahlreiche Beispiele belegen eine poimenische Berücksichtigung der leiblichen Dimension. Im Vordergrund steht dabei der pflegebedürftige Interaktionspartner, dessen Leiblichkeit angesprochen und für die seelsorgerliche Interaktion genutzt werden soll. Die Seelsorge knüpft an die leiblichen Potenziale bzw. somatischen Möglichkeiten der/des Pflegebedürftigen an und lässt sich von ihnen leiten. Nur einmal findet sich eine Überlegung, die auch die seelsorgende Person berücksichtigt, indem eine „Zustandswahrnehmung“ angeregt bzw. die „eigene leibliche Präsenz“ thematisiert wird.641 Eine seelsorgerliche „Wirkung“ ist in dem angesprochenen Zusammenhang nicht in erster Linie intendiert, auch wenn eine solche Haltung sicherlich nicht ‚wirkungslos‘ bleibt. Es geht dem Autor vielmehr um Seelsorge an der seelsorgenden Person, die sich über ihr Befinden sowie den Ort, an dem sie wirken will, klar werden und ‚präsent‘ sein soll. Zur Sphäre des Leiblichen gehört auch das Nonverbale, in dem eine zentrale Herausforderung der Seelsorge im Kontext des Pflegeheims gefunden wurde. In einem weiteren Schritt wird deshalb gefragt, welchen Beitrag die Seelsorgeliteratur zu diesem Aspekt der Leiblichkeit beizusteuern hat. Welches Verständnis der nonverbalen Kommunikation bestimmt den poimenischen Diskurs? Welche seelsorgerliche Relevanz des Nonverbalen wird benannt? Welche Gesichtspunkte kommen zur Sprache? Nachdem diese Fragen verhandelt wurden, schreitet die Arbeit im zweiten Hauptteil zu einer empirischen Auseinandersetzung mit der Körpersprache von Seelsorgenden fort um zu ergründen, ob bzw. inwiefern ein seelsorgerliches Potenzial des Nonverbalen zu finden ist.
1. Anthropologische Fundierung der Heimseelsorge Das Bemühen um Alte und Gebrechliche hat in der Kirchengeschichte eine lange Tradition, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in Gestalt kirchlicher ‚gerokomeia‘ auch institutionell in Erscheinung tritt.642 Es finden sich zumeist zwei fundamentale Begründungen solcher Zuwendung – und damit der Heimseelsorge: Entweder wird sie verstanden als ein im Mitgefühl für den Schwachen, Leidenden, Benachteiligten wurzelndes Werk der Barmherzigkeit 641 Vgl. Pechmann, B., a.a.O., 41. 642 Von Ballusek, H., Die Pflege alter Menschen, Berlin (1980), 79.
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(nach Matthäus 25), das somit ethisch oder christologisch fundiert ist.643 Ebenso häufig begegnet ein schöpfungstheologisches644 Argument, das – regelmäßig unter Verweis auf die Gottebenbildlichkeit645 – die unverlierbare Heiligkeit (und deshalb ‚Würde‘) des von Gott geschaffenen Lebens betont. Es lässt sich jedoch eine weitere, und zwar ‚anthropologische‘ Begründung beschreiben, die als solche in der poimenischen Literatur (zum Thema Heimseelsorge) als Begriff nicht vorkommt. Sie eignet sich aber, unterschiedliche Dinge zu erklären: Seelsorgerliche Verhaltensweisen, Anregungen durch Praxishilfen wie auch der Umstand, dass Seelsorge im Pflegeheim überhaupt stattfindet, werden gut verständlich vor dem Hintergrund anthropologischer Prämissen. Eine anthropologische Konzeptualisierung bietet einen geeigneten Rahmen für die Begründung und Gestaltung der Heimseelsorge. Eine Skizze zentraler theologisch-anthropologischer Größen soll dies verdeutlichen.
2. Elemente christlicher Anthropologie 2.1. Menschenwürde Wenn Pflegeheimseelsorge weniger als Werk der Barmherzigkeit verstanden werden und weniger Mitleid das leitende Motiv sein soll, so ist zu fragen, worin 643 Vgl. z.B. Lödel, R., a.a.O., 12; Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Herz und Mund und Tat und Leben, Gütersloh (1998, 2. Aufl.), 17. 644 Der folgende Satz von Rolf Zerfass steht exemplarisch für eine solche Begründung: „Wer an Gott glaubt, glaubt an den Lebenssinn auch eines in seinen Möglichkeiten stark reduzierten Menschenlebens, und er wird darum auch in seinem Umgang mit psychisch kranken und behinderten Menschen seine ganze Aufgabe darin sehen, sie .... glauben zu machen, dass sie so, wie sie sind, von Gott geliebt sind und berufen, zu der ihnen möglichen ‚Fülle des Lebens‘ (Joh. 10,10) zu gelangen“, in: Die psychisch Kranken, Freiburg (1988), 130; vgl. auch Nauer, D. Seelsorgekonzepte im Widerstreit, Stuttgart/Berlin/Köln (2001), 132. 645 Vgl. Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche, Herz und Mund und Tat und Leben, Gütersloh (1998, 2. Aufl.), 77. Eine Begründung der Menschenwürde mit der Gottebenbildlichkeit findet sich u.a. bei Görg, M., Ebenbild Gottes, in: Bucher, R. (Hg.), In Würde leben – Festschrift für Ernst Ludwig Grasmück, Luzern (1998), 11 – 23; Welker, M., Person, Menschenwürde, Gottebenbildlichkeit, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 15, Neukirchen-Vluyn (2000), 247 – 263; Schibilsky, M., Ethik der Menschenwürde, in: Schibilsky, M. (Hg.), Kursbuch Diakonie, Neukirchen-Vluyn (1991), 221ff. Die Gottebenbildlichkeit spielt auch im Menschenbild der Beratenden Seelsorge (Pastoral Counseling) eine zentrale Rolle. Es dürfte deshalb für die Seelsorgebewegung insgesamt ein wesentliches Anthropologumenon sein, vgl. Nauer, D., Seelsorgekonzepte im Widerstreit, 134.
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ihre Triebfeder sonst zu finden ist. Tatsächlich verdankt sich das Interesse kirchlicher Seelsorge an Menschen, die ihren Lebensabend in Heimen verbringen, in erster Linie deren unverlierbarer Würde: Da ein Mensch, so lange er atmet, Würde besitzt, bleibt er zeitlebens der Beachtung, Zuwendung und Beziehung wert. Mit würdigendem Blick wahrgenommen ist stets Einzigartiges, Kostbares und Unverlierbares (Würde!) im Pflegebedürftigen zu finden. Nie verliert die Kommunikation (des Evangeliums) deshalb ihre Berechtigung, auch erübrigt sich die Frage, ob sich das Engagement um Pflegebedürftige „noch lohne“, ob die Seelsorge sie überhaupt „erreiche“ oder welchen „Sinn“ sie habe. Das Wissen um die unverlierbare Würde eines Menschen schwächt zudem den Gedanken, der Tod sei für die hinfällige Person das einzig Erstrebenswerte und allemal „würdiger“ als ein Leben in Schwachheit und Abhängigkeit. Seelsorge an Pflegebedürftigen kann demnach verstanden werden als Bekräftigung der Menschenwürde durch Besuchen, Zuwenden, Beziehungspflege. In der heftig geführten öffentlichen Diskussion646 wie auch im akademischethischen Diskurs647 wird allerdings im Gegensatz zu der geschilderten Auffassung häufig argumentiert, es sei von einem gewissen Grad der Hinfälligkeit, Abhängigkeit oder Pflegebedürftigkeit an „würdiger“, nicht mehr zu leben, da ein übermäßig angewiesenes Menschenleben jene „Substanz“ verloren habe, die seine Würde einst begründete. Wie sich an der Debatte um Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch, Biomedizin oder die alzheimersche Krankheit zeigt, wird häufig gerade unter Berufung auf die Würde des Menschen für ein Beenden der nur noch als Not und Quälerei gedeuteten Hinfälligkeit argumentiert – die nicht selten allein an der Angewiesenheit auf andere festgemacht oder gar mit ihr gleichgesetzt wird – so dass nur noch der Tod erstrebenswert sein könne. Wo die Würde jedoch als verlierbar gedacht wird, ist Lebenshilfe in manchen Situationen nicht mehr begründbar, ja sie wirkt absurd, da sie doch eben jene vermeintlich verloren gegangene Würde voraussetzt. So mutiert Lebenshilfe zur Sterbehilfe, Lebensbegleitung wandelt sich zum Sterbegeleit, der Lebensraum Pflegeheim wird zum Sterberaum Pflegeheim. Unter Berufung auf die Würde und unter Zuhilfenahme des Würdebegriffs kommen die skizzierten Argumentationen zu überaus konträren Einschätzungen. Der Begriff bedarf deshalb einer inhaltlichen Bestimmung, die erkennen lässt,
646 Man verfolge nur die entsprechenden regelmäßigen Diskussionsrunden in den bekannten abendlichen Talkshows. 647 Vgl. Anstötz, Chr., Ethik und Behinderung. Ein Beitrag zur Ethik der Sonderpädagogik aus empirisch-rationaler Perspektive, Berlin (1990); Saas, H.-M. (Hg.), Medizin und Ethik, Stuttgart (1989); Singers, P., Praktische Ethik, Stuttgart (1984).
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vor welchem weltanschaulichen Interpretationshorizont das Würdekonzept gebraucht wird. Es deutete sich bereits an, dass der Gedanke des Abhandenkommens der Würde ein substanzielles Denken voraussetzt, wie es z.B. in der humanistischen oder aufklärerischen Tradition der Fall ist. Die Menschenwürde wird demnach mit bestimmten positiven Eigenschaften begründet, wie etwa der Fähigkeit zu Selbstbestimmung, Vernunftbegabung, Selbstbewusstsein, Weltoffenheit, Gewissen, Autonomie usw., die dem Individuum von Natur aus eignen sollen. Würde meint somit nichts anderes als Wesensmerkmal. Immanuel Kant beispielsweise spricht den Unmündigen die Personenwürde ab bzw. koppelt sie an die Mündigkeit.648 Damit kommt das Würdekonzept jedoch schnell an seine Grenzen, denn mit ihm ist gerade in den kontroversen ethischen Orientierungsfragen wie Biomedizin, Schwangerschaftsabbruch, Schutz des ungeborenen Lebens, Schwerstbehinderung oder eben Pflegebedürftigkeit nicht plausibel zu machen, warum die befruchtete Eizelle, der Embryo, das hinfällige Menschenleben, der Komapatient, der schwer Schädel-Hirn-Verletzte usw. unbedingt schützenwert sein sollten, obgleich die besagten Eigenschaften an ihnen ja nicht mehr, jedenfalls nicht mehr eindeutig nachweisbar sind. Auch der Versuch, mit dem Potenzialitätsargument die Spannung zwischen Würdezuschreibung und konkreter Verfasstheit eines empirischen Menschen zu überwinden, führt nicht weiter, da es letztlich nur auf anderem Wege die Feststellung bekräftigt, dass in dem beeinträchtigten Leben diese Eigenschaften nun eben doch nicht zu finden sind, sie bleiben allenfalls potenziell. Alternativ zum substanzorientierten Ansatz wird aus lutherischer Perspektive649 vorgeschlagen, Menschenwürde nicht von bestimmten Wesensmerkmalen bzw. aus der menschlichen Natur abzuleiten, sondern den Würdebegriff von der Rechtfertigungslehre her zu entwickeln. Der von der Theologie in den ethischen Diskurs vielfach eingebrachte Begriff der Gottebenbildlichkeit wird deshalb als dysfunktional verworfen, denn „sobald diese Bestimmung nicht mehr allgemein als metaphysische oder religiöse Bestimmung verstanden, sondern auf ihren empirisch verifizierbaren Gehalt hin ausgelegt wird, vermittelt gerade die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit in ihrer säkularisierten Form jenes Idealbild eines perfekten Menschen, dem die Menschenwürde als ‚Recht auf Unvollendetsein‘ entgegengehalten wird“.650
648 Vgl. Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ditzingen (1998). 649 Anselm, R., Zur Hermeneutik des Menschenwürdegedankens, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 43 (1999), 123 – 136; Rechtfertigung und Menschenwürde, in: Herms, E., Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh (2001), 471ff. 650 Ebd., 131.
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Es komme vielmehr darauf an, den reformatorischen Gedanken für die Ethik fruchtbar zu machen, der Mensch könne im Verhältnis zu Gott nichts an Würde, Verdiensten, Heiligkeit usw. geltend machen, wie es z.B. in Luthers Auslegung des Ersten Katechismus-Artikels formuliert wird.651 Das reformatorische Gedankengut erlaubt es demnach, Würde unabhängig von Fähigkeiten, Stärken, Wesensmerkmalen usw. zu begründen und die Zuschreibung von Würde abzukoppeln von phänomenologisch identifizierbaren, aber eben verlierbaren Eigenschaften. Menschenwürde verdankt sich nach lutherischem Verständnis allein der gnädigen Zuwendung Gottes und ist dem Menschen selbst dann noch zuzuschreiben, wenn dieser infolge körperlicher, mentaler, und geistiger Beeinträchtigung durch Krankheit, Unfall oder andere Einwirkungen an Fähigkeiten einbüßt. Unvollkommenheit, Begrenztheit, Endlichkeit, Mangel, geschöpflich bedingte Grenzen und Beschränkungen hindern nicht Gottes Zuwendung, menschliches Leisten, Vermögen, Vollbringen begründen sie nicht. Ein derartiges Würdekonzept kann damit einerseits an die vielfältigen Alltagserfahrungen (des Alters) von verloren gegangenen bzw. nachlassenden Fähigkeiten anknüpfen und Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit integrieren, andererseits trägt es dem anthropologischen Gedanken der Geschöpflichkeit mit den darin gesetzten Implikationen Rechnung, die Mangel, Begrenztheit, Unvollkommenheit, Schwachheit usw. bereits in das christliche Menschenbild eingezeichnet sein lassen. Menschliches Leben an sich ist folglich als unvollkommenes (Stückwerk652) zu deuten. Der Gedanke der unverlierbaren Würde ist somit nicht nur relevant für Menschen, die durch Krankheit, Behinderung oder Schicksal an Stärken und Fähigkeiten eingebüßt haben, er ist für jeden Menschen bedeutsam, insofern er für die christliche Anthropologie als ein unvollkommenes, auf Gott angewiesenes Wesen zu verstehen ist.
2.2. Geschöpflichkeit Indem der Mensch theologisch-anthropologisch als Geschöpf anzusprechen und im Gegenüber zu Gott („coram deo“) zu sehen ist, wird ein Blick auf wichtige Konstitutiva des Menschseins eröffnet, die für das christliche Menschenbild – gerade hinsichtlich des Themas der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit – zentral sind, z.B. die Angewiesenheit und Bedürftigkeit allen Lebens, seine Bedrohtheit und Verletztbarkeit, Vergänglichkeit und Unvollkommenheit. Im Topos der Ge651 „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat ..., mich reichlich und täglich versorgt ... mich vor allem Übel behütet und bewahrt; und das aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit“, 1. Artikel des Kleinen Katechismus. 652 Vgl. 1. Kor. 13, 9.
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schöpflichkeit drückt sich die mehrdimensionale Begrenztheit des Menschen, nicht nur des alten, kranken oder behinderten aus, der ja nicht Schöpfer, nicht Gott, nicht allmächtig oder vollkommen ist – eine Gegebenheit, die schwer einzugestehen ist, wäre sie doch ein Ja zur eigenen Zerbrechlichkeit und Endlichkeit. Theologisch gesehen kommt es, vielleicht erklärbar als eine Art „Verdrängung“, zu einer sich selbst verkennenden Leugnung des Geschöpfseins mit entsprechender Selbstüberschätzung. Das Wesen der Sünde zeigt sich somit in der Verleugnung der Geschöpflichkeit,653 wie die Geschichte vom Sündenfall als erzählerische Verdichtung eines anthropologischen Sachverhalts veranschaulicht. Die Verlockung der Schlange, der Mensch werde sein wie Gott, bildet dabei den Kern der Aussage. Es ist kein großer Schritt von der Verkennung der Geschöpflichkeit hin zu einer anthropologischen Orientierung am Ideal: Gerät das Geschöpfsein mit den darin gesetzten Implikationen aus dem Blick, treten jene Seiten umso stärker hervor, die menschliche Potenz, Größe, Bestimmung zu Höherem, Fähigkeit zur Vervollkommnung usw. zur Geltung bringen. Es sei angemerkt, dass diese Gefahr, die u.a. eine Folge moderner Fortschrittsgläubigkeit ist, ihre Nahrung auch von einem einseitigen und missverstandenen Gebrauch des Gottebenbildlichkeitsbegriffs bezieht: Wird Imago Dei nicht als funktionale sondern – fälschlicherweise – als wesenhafte Ähnlichkeit verstanden,654 nährt dieses Theologumenon seinerseits ein utopisches Menschenbild, das sich orientiert an der „Gottähnlichkeit“ und sich damit eignet, die Grenzen des Geschöpflichen zu übergehen. Stärke des christlichen Menschenbildes ist hingegen die bejahende Anerkennung des Fragmentarischen655, Mangelhaften, Widersprüchlichen oder Bedürftigen656, aus der sich ein Recht auf Unvollkommenheit ergibt. Mit dem Übergehen des Gedankens der Geschöpflichkeit träte jedoch die reformatorische Entdeckung in den Hintergrund, dass Gottes Güte und Barmherzigkeit sich dem Menschen ohne Ansehen der Person schenkt ohne dessen Verdienst und Würdigkeit (Luther). Diese Zuwendung Gottes ist völlig unabhängig davon, ob ein Mensch stark oder schwach, gesund oder krank ist, viel oder wenig im Gepäck hat. Der „Wert“ eines Menschenlebens, der Gottes Hinwendung begründen könnte, bemisst sich, wie bereits deutlich wurde, nicht 653 Schoberth, W., Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt (2006), 126. 654 Vgl. ebd., 117. Vgl. auch Anselms kritische Anmerkungen zu einer theologischen Begründung des Würdebegriffs mithilfe des Gedankens der Gottebenbildlichkeit, Anselm, R., a.a.O., 131f. 655 Vgl. den vielzitierten Aufsatz Henning Luthers, Identität und Fragment, in: Theologia Practica, 20 (1985), 317 - 339. 656 Erinnert sei an den berühmten Ausspruch des dänischen Theologen SØren Kiergegaard „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Würde.“.
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an Leistungen, Stärken, Vollkommenheiten oder ähnlich Vorzeigbarem, so dass er umgekehrt auch nicht von seinen Grenzen, Brüchen, Verfehlungen, die menschliches Leben als geschöpfliches durchweg kennzeichnen, gemindert oder in Frage gestellt werden kann. Bezogen auf die Situation Pflegebedürftiger folgt aus dieser theologischanthropologischen Sicht des Menschen als Geschöpf erstens eine Aufwertung des hilfsbedürftigen Lebens, da sich dessen konkret-individuelle Angewiesenheit und Bedürftigkeit mit Blick auf die allgemein-menschliche relativiert. Bach657 ist zuzustimmen, wenn er unter Hinweis auf das Defizitäre, das zur Definition des Humanum gehöre, folgert, Behinderte und Nichtbehinderte gehörten „grundsätzlich zusammen“, da sie sich als Partner auf „grundsätzlich gleicher Ebene“ begegneten.658 Dies aber hat Konsequenzen für die Seelsorge, denn „eine Sichtweise, in der alle Menschen als zugleich krank und gesund (simul iustus et peccator, O.K.) definiert werden, verändert medizinisches, therapeutisches und seelsorgerliches Handeln“659. Zweitens tritt mit dem Gedanken der gnädigen, unverdienten Zuwendung Gottes ‚Beziehung’ als eine anthropologische Kategorie in den Blick, von der noch zu sprechen sein wird. Zuvor soll jedoch eine Überlegung angestellt werden, die in Zusammenhang mit der Geschöpflichkeit und mit Blick auf das Thema der Pflegebedürftigkeit eine hilfreiche Perspektive auf die Situation Pflegebefohlener eröffnet: Es wurde gesagt, der Mensch verstehe sich aus der Perspektive des Glaubens als Geschöpf und als ein von Gott abhängiges Wesen, nicht nur in dem Sinne, dass er ohne den Schöpfer gar nicht ins Leben gerufen wäre, sondern auch, dass er ohne Gottes immerwährendes Durchwirken, Tragen und Erhalten gar nicht weiterleben könnte. Dieser Gedanke findet sich z.B. in Luthers bereits zitierter Auslegung des Glaubensbekenntnisses (1. Artikel des Kleinen Katechismus), in dem vom „Erhalten“ und „täglichen Versorgen“ des Menschen die Rede ist. Die alte Theologie drückte mit dem Begriff der Creatio continua (immerwährendes Schaffen Gottes) aus, das einmal von Gott Geschaffene erhalte sich nicht aus sich selbst. Die Schöpfung verdanke sich hingegen jeden Augenblick des göttlichen Wollens und Wirkens. In allem, was dem Menschen aus „natürlichen“ Quellen und Vorgängen an Lebenshilfe zukommt, werde das Leben 657 Bach, U., Die diakonische Kirche als Freiraum für uns alle, in: Herrmann, V./Horstmann, M. (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn (2006), 311. 658 Ebd., 312. 659 Schneidereith-Mauth, H., Ressourcenorientierte Seelsorge – Salutogenese als Modell für seelsorgerliches Handeln, in: Wege zum Menschen, 61 (2009), 167.
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schaffende und erhaltende Wirken Gottes erfahrbar. „Für das Verständnis des gelebten Glaubens an Gott den Schöpfer, für die Unterscheidung dieses Glaubens von einer bloßen Theorie über den Weltursprung ist es entscheidend, diesen Gedanken der Creatio continua festzuhalten“, betont Joest.660 Die Schöpfung kann demnach als ein Status interpretiert werden, dem Gott als steuernde schöpferische, sich alles verdankende Macht innewohnt („Was hast du, das du nicht empfangen hast!“, 1. Kor. 4,7), ein Gedanke, in dem sich zugleich die Fürsorge des Schöpfers ausdrückt. Es kann nun gefragt werden, ob die Vorstellung von Gottes kontinuierlichem Schöpferhandeln nicht die Annahme erlaubt, im menschlichen Leben seien bis zum letzten Atemzug eine Fülle von Potenzialen und Ressourcen vital, die das Leben stärken, stützen und bereichern – andernfalls wäre dieses unablässige Wirken Gottes ja in Frage gestellt. Wenn nun Gottes schöpferisches Wirken nie endet, weil das Schöpfersein zu dessen Wesen gehört, Gott also stets „erhält“ und „täglich versorgt“, ist die Frage zulässig, ob die schöpferischen, Leben fördernden Kräfte nicht auch noch – oder vielleicht gerade, jedenfalls in besonderer Weise – in größter Hinfälligkeit zu erschließen sind. In dem bereits erwähnten Katechismus-Artikel umreißt Luther das gesamte Spektrum menschlicher Bedürfnisse. Es ist sinnvoll, den Inhalt des Artikels noch einmal in Erinnerung zu rufen, weil er einen Gedankengang stützt, der für das Thema der Pflegebedürftigkeit hilfreich ist. Luther formuliert im Katechismus die Gewissheit, Gott habe den Menschen samt allen Kreaturen geschaffen, habe ihn mit Leib und Seele, Augen und Ohren, Gliedern, Vernunft und allen Sinnen ausgestattet und erhalte ihn zeitlebens. Auch schenke Gott Kleider und Schuhe, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, versorge ihn täglich mit aller Notdurft und Nahrung des Leibes, beschirme ihn vor allen Gefahren und bewahre ihn vor Übel, aus lauter väterliche Güte ohne jedes menschliche Verdienst oder Würdigkeit. Mit dieser Aufzählung rückt Luther eine Vielzahl von Dingen in den Blick, die für den Menschen wichtig sind, seine Existenz bereichern, eine Quelle der Lebensfreude oder Hilfe zum Leben sind: Leib und Seele, Essen und Trinken, zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit, Eigentum, Notdurft und Nahrung. Gewiss ist diese Aufzählung exemplarisch, Weiteres könnte unschwer ergänzt werden. Die Aufzählung rückt mit dem breiten Spektrum, das sie abdeckt (leiblich-seelisch, elementar-existenziell), das Augenmerk auf manches, das als Nebensächlichkeit leicht übergangen werden könnte. Es überrascht, wie weit Luther ausholt. Indessen fällt auf, wie ausführlich der leibliche Bereich zur Sprache kommt und dass Luther es nicht bei dem Terminus „Leib und Seele“ 660 Joest, W., Dogmatik, Bd. 1, Göttingen (1984), 174 [Kursiv O.K.].
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belässt, der alles andere ja mit einschließt. Die erwähnten Elemente sind zu beziehen auf den Satz: „ ... mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget ...“. Im Aufgezählten manifestiert sich demnach Gottes „Erhalten“ und „Versorgen“ bzw. dessen „Vatersein“, und das an jedem Tag. Es scheint demnach geboten, bei der Suche nach Spuren solchen Erhaltens, Versorgens und schöpferischen Wirkens in einem (pflegebedürftigen) Menschenleben nun auch ganz Elementares und Unscheinbares in den Blick zu nehmen, denn, so ist aus der Katechismus-Auslegung zu lernen, Gottes Fürsorge schlägt sich nicht allein nieder im Offensichtlichen und Spektakulären bzw. dem, was aus jeweiliger kultureller Perspektive als kostbar erscheint und unschwer ins Religiöse erhöht werden kann. Die Wahrnehmung muss hingegen ganz neu geübt, der Blick für stille Segnungen Gottes neu geschärft, ungewohnte Dimensionen und Aspekte wollen entdeckt werden, damit das Versorgen und Erhalten Gottes sichtbar(er) wird und besser zum Vorschein kommt. Manches, was gemeinhin als Selbstverständlichkeit angesehen wird, könnte so in einem neuen Licht erscheinen und als Geschenk Gottes verstanden werden: z.B. dass in einem Menschen Gefühle lebendig sind; dass er zum Genuss fähig bleibt; dass Freude und Geborgenheit erlebbar sind; Erinnerung/Erinnerungsvermögen an bedeutungsvolle, schöne Erlebnisse werden zu einem unerschöpflichen Schatz; erlebte Zuwendung und Liebe, auch das Erleben, selbst zu lieben, machen die Beschwernis erträglicher; der Besitz der Sinne (Luther) und die Hingabe an den Augenblick, die Gegenwart, auch das (Aus)Schlafendürfen und -können, das Vergessenkönnen von Bedrückendem (Demente) kann nun ganz ungewohnt als Segnung Gottes verstanden werden. Eine solche Sicht kann dazu beitragen, das Leben lebenswert(er) und erträglich(er) zu machen. Zugespitzt auf die Situation Pflegebedürftiger: So elementar und selbstverständlich zum Leben gehörend wie das von Luther Aufgezählte, so elementar, selbstverständlich und leicht zu übersehen ist manches, was in einem pflegebedürftigen Menschen an Möglichkeiten, Ressourcen und Potenzialen bereitliegt. Von der theologischen Anthropologie wie auch der Seelsorge ist deshalb gefordert, die Sinne für alles zu schärfen, was Lebensqualität begründen könnte, und sich bei dieser Suche so weit wie möglich frei zu machen von kulturellen Normen mit ihrer starken Gewichtung des Rationalen, Produktiven, Exzeptionellen. Für die Situation Pflegebedürftiger bedeutet das Gesagte etwas Tröstliches: Zum einen begründet es die Hoffnung, dass selbst noch in hinfälligster Situation Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erschließen sind, die noch vom schwächsten Menschen als angenehm, lebensertüchtigend, ja genussvoll erlebt werden können. Zum anderen sind jene, die eine/n Pflegebefohlene/n begleiten, herausgefordert, nach solchen zu suchen statt sich von Gebrechen und Defiziten 157
blenden zu lassen und dabei zu übersehen, was das Leben auf den zweiten und geschulten Blick durchaus lebenswert macht.
2.3. Sozialität Für die christliche Anthropologie ist die Sozialität des Menschen konstitutiv, wie sie sich u.a. im Geschaffensein von Mann und Frau ausdrückt und die gegenseitige Verwiesenheit der Menschen aufeinander zur Sprache bringt. Für Luther ist das Schlüsselwort des christlichen Menschenbildes der Begriff ‚coram‘ (vor), mit dem der Mensch nicht als ein in sich selbst bestimmtes, sondern auf Beziehung angelegtes Wesen gedeutet wird. Für das menschliche Sein sei demnach entscheidend, dass es ein Gesicht gibt, das ihn, den Menschen, sieht, wahrnimmt, da sein lässt.661 Humanität bedeutet demnach „die Bestimmtheit unseres Seins als ein Sein in der Begegnung mit anderen Menschen“.662 Dieser Gedanke ist auch für den ethischen Diskurs relevant. Anselm663 weist auf die Bedeutung der Relation für die Ethik hin: Er interpretiert den Begriff der Menschenwürde von der Rechtfertigungslehre her und denkt entsprechend in Beziehungs- statt in Wesenskategorien. Er argumentiert, jede substanzorientierte Argumentation müsse sich immer bereits relational fundierter Wesenszuschreibungen bedienen. Die Würde des Menschen basiere demnach nicht auf bestimmten substanziellen Eigenschaften, sondern werde ihm unabhängig von solchen Wesenseigenschaften in seinen kommunikativen Bezügen „verbal und nonverbal zugesprochen“. So kann auf der Grundlage biblischer Psychologie ‚Leben’ auch mit ‚InBeziehung-sein’ gleichgesetzt und ein Wesensmerkmal der „Seele“ in ihrem Bezogensein gefunden werden.664 Umgekehrt bedeutet die absolute Beziehungslosigkeit den Tod bzw. das Totsein. Die „Seele“ lebt, wo sie Beziehung pflegen kann und in ein Netzwerk von Beziehungen eingebettet ist, sie ist hingegen tot, wo sie solche nicht lebt, nicht leben kann oder negativ lebt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Luther die „Unsterblichkeit der Seele“ nicht in scholastischer Tradition substanzontologisch, sondern beziehungsontologisch begründet: Dadurch, dass Gott dem verstorbenen Menschen die Treue hält, dieser im Tode nicht aus der Beziehung zu Gott herausfällt, erhält der Glaube an das ewige Leben erst seine Begründung.665 661 662 663 664 665
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Vgl. Ebeling, G., Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen (1978, 3. Aufl.), 221. Barth, K., Die kirchliche Dogmatik, Bd. 3, 2. Teil, Zürich (1948), 296. Anselm, R., a.a.O., 478ff. Vgl. Eberhardt, H., Praktische Seel-Sorge-Theologie, Bielefeld (1990), 164f, 184, 169. Vgl. Naurath, E., a.a.O., 28.
Das Besagte ist im Kontext der Pflegeheimseelsorge aufschlussreich, da es auf den Stellenwert von Beziehung hinweist und eine Andeutung darauf enthält, ob bzw. inwiefern das beeinträchtigte aber ja durchaus noch beziehungsfähige Leben lebenswert sein könne. Seelsorge kann nämlich als Ermöglichung von Gemeinschaft (Koinonia) verstanden werden. Unter Anknüpfung an Jesu Rede vom Weltgericht (Mt. 25) ist die Bedeutung des Besuches hervorzuheben: Besuchende bringen Anteilnahme und ermöglichen Gemeinschaft, durch sie ereignet sich ‚Koinonia‘. Der Verlust an menschlicher Beziehung, unter dem der von Krankheit (oder Pflegebedürftigkeit) belastete Mensch oft leidet, wird (ein wenig) ausgeglichen. Indem jemand zu Besuch kommt, zeigt sich, dass die/der Besuchte nicht vergessen ist und man ihrer/seiner gedenkt. Auch das ist Lebenshilfe.666 Es kann auch von einer Anerkennung durch Beziehung gesprochen werden, die gerade für Menschen am Rande des sozialen Daseins von existenzieller Bedeutung ist. So schimmert in der Beziehungspflege zugleich die Pflege der Menschenwürde durch, von der ich bereits sprach. Weil das In-Beziehung-Sein als menschliches Existenzial zu verstehen ist, erschließt sich in ihm nicht nur eine unverlierbare anthropologische Möglichkeit – rein phänomenologisch gesehen kann ja selbst Schwerstpflegebedürftigen Zuwendung, Begleitung, Besuch zuteil werden, so dass sie trotz größter Hinfälligkeit aus der Gemeinschaft nicht herausfallen müssen. Auch kann sich Pflegenden wie Gepflegten in der Intensivierung der Beziehung eine letzte Quelle von Lebensqualität erschließen und eine unzerstörbare Brücke zum Besuchten kann geschlagen werden, wie es in Pflegebeziehungen immer wieder beglükkend zu erleben ist. Dabei hängt die zwischenmenschliche Beziehung und Interaktion keineswegs, wie viele meinen, vom bewussten Erleben oder kognitiven Vermögen ab, auch wird sie dadurch nicht erst sinnvoll. Die Bindung zwischen Eltern und Säugling, aber auch Entdeckungen der Komaforschung legen es vielmehr nahe, dass Beziehungspflege ein anderes „Organ“ benötigt bzw. an einem anderen „Kanal“ anknüpft als dem kognitiven. Beziehungspflege ist mehr als nur ein psychisches oder sprachliches, es ist zugleich ein leibliches Geschehen, das in unterschiedlichem Maße und abhängig von den jeweiligen Umständen entweder die geistige oder die leibliche Dimension herausfordert. Manche sprechen deshalb von einem „organismischen Dialog“667 oder von der „Leib-Sprache“668. Die Forschung wiederum weist unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Neuro-, Entwicklungs- und Pränatalpsychologie darauf hin, dass selbst bei nicht ausgereifter Großhirnrinde Wahrnehmungs- und Kommunikationspro666 Eberhardt, H., a.a.O., 166. 667 Lückel, K., a.a.O., 40. 668 Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O., 88.
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zesse und damit ein „recht ausdifferenziertes psychoemotionales Geschehen möglich“669 sind. Selbst das heranwachsende Leben im Uterus sei ein „sensibles und kompetentes Wesen“ 670, das sich Umwelt aneignen und sich in geeigneter Form an die Umwelt anpassen und somit auf seine Weise kommunizieren könne. Beziehung und Kommunikation sind demnach auch als leibhaftige Geschehen zu verstehen, die folglich so lange gepflegt werden können, wie ein Mensch „leibt und lebt“. Es wäre voreilig, sich von Pflegebefohlenen zurückzuziehen, weil diese „nicht mehr reagieren“, „nichts mehr mitbekommen“, nicht mehr „da sind“, wie es häufig zu vernehmen ist, wenn Angehörige ihren Rückzug aus dem Pflegeheim begründen.
2.4. Leiblichkeit Wie mehrfach anklang, kommuniziert das Beziehungswesen Mensch nicht allein mit Worten, Bewusstsein, der „Seele“, sondern der ganzen Leiblichkeit seiner Person. Auch sie ist gute Schöpfung Gottes und nicht weniger Ausdruck des wohlmeinenden Schöpferhandelns. ‚Leiblichkei‘ bedeutet allerdings mehr als ‚Körperlichkeit‘, „sie geht nicht auf in den körperlichen Empfindungen und Vorgängen, sondern benennt das spezifische In-der-Welt-Sein des Menschen. ... Leiblichkeit ist also unser Leben in der Welt, in der Gemeinschaft mit Dingen und anderen Lebewesen. ... Allein in ihrer Leiblichkeit können Menschen die Welt erfahren, und in ihrer Leiblichkeit sind sie untrennbar mit der Welt verbunden: In der sinnlichen Erfahrung ist nicht zu unterscheiden, was „innen“ und „außen“ ist. Im Hören eines Akkords und im Sehen einer Farbe sind Subjekt und Objekt ununterscheidbar. Dass meine Erfahrung immer zugleich die Erfahrung von etwas ist, dass also das Ich ohne seine Erfahrungen und damit ohne seine Welt gar nicht zu denken ist, müsste in der anthropologischen Reflexion zur Geltung gebracht werden. Leiblichkeit umfasst das Leben in der Welt mitsamt der Affektivität, den Gefühlen und Stimmungen ebenso wie mit dem gemeinsamen Leben und Handeln. Zur Leiblichkeit gehört Sinnlichkeit genauso wie Kommunikation: Über unseren Leib kommunizieren wir miteinander, indem wir uns berühren, indem wir miteinander sprechen, einander fühlen“.671
Es zeigt sich somit die Unmöglichkeit, den ‚Leib‘ in einem reduktionistischphysikalischen Verständnis aufgehen zu lassen. Auch können die geistig669 Ebd., 32. 670 Ebd. 671 Schoberth, W., a.a.O., 136f. Vgl. auch die Ausführungen E. Nauraths zum Problem der Unterscheidung von Körper und Leib, in der die Autorin eine Übersicht zur Diskussion des Sachverhalts gibt, a.a.O., 116 – 120.
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psychischen Phänomene wie Vernunft, Gewissen, religiöses Empfinden, Identität, Intellekt usw. nicht körperlos gedacht werden. Materie und Geist binden sich aneinander und es muss ihre leibseelische Einheit, Untrennbarkeit und gegenseitige Durchdringung erfasst werden, die es verbietet, den Menschen – wie infolge antik-philosophischer Einflüsse geschehen – dualistisch oder trichotomisch in zwei bzw. drei „Substanzen“ zu spalten oder den kostbareren Teil mit der ‚Seele‘ zu identifizieren. Die anthropologischen Begriffe ‚Seele‘, ‚Geist‘ und ‚Leib‘ bezeichnen vielmehr unterschiedliche Aspekte bzw. Dimensionen des Lebens im Sinne der biblischen Psychologie.672 Der Begriff ‚Seele‘ passt– biblisch verstanden – in kein uns vertrautes Schema. Das abendländische Denken in abstrakten Mustern eignet sich nicht, die Eigenart des biblischen Seelenbegriffes angemessen zu beschreiben. Bei den Unterscheidungen ‚Leib‘ oder ‚Geist‘ handelt es sich hingegen um „Dimensionen der Seele“, denn die biblische Psychologie denkt mehrdimensional und nicht in Substanzen. Der Mensch verfügt also nicht im „Haben“ über solche „Substanzen“, es kann biblisch deshalb auch nicht gesagt werden, der Mensch „habe“ Leib oder Seele. Richtig muss es vielmehr lauten: Der Mensch sei Leib oder sei Seele. Materialismus oder Idealismus sind der biblischen Psychologie fremd, Abgrenzungen und Zuordnungen, die der gedanklichen Trennung der Bereiche dienen, können demnach nicht vorgenommen werden. Eine prinzipielle Unterscheidung der Sphären, die gar einen weltanschaulichen Charakter annimmt, widerspricht biblischem Denken fundamental. Das christliche Menschenbild stellt somit vor die Zumutung, das gewohnte abendländisch-subtanzontologische, cartesianisch geprägte Denkmuster zu überwinden, das im Rationalen (Denken, Vernunft, Wille, Selbst, Bewusstsein) bzw. in der ‚Seele‘ den edleren Teil des Menschen findet und dessen Beeinträchtigung für eine Krise hält. Wenn der „Kopf nicht mehr funktioniert“, das dürfte allgemein gelten, sei das Leben nicht mehr lebenswert und habe seinen Sinn verloren. Ein Nachlassen des geistigen Vermögens oder ein Abgleiten in die Demenz ist für unsere Zeit deshalb der Schrecken schlechthin. Die Angst vor dem Verlust des rationalen Vermögens ist sicherlich als Folge des dualistischen, das Somatische verkennenden Menschenbildes zu deuten. Anders formuliert: Weil die abendländische Denktradition die „Substanz“ der (unsterblichen!) ‚Seele’ hochschätzte und in der ratio zudem das „Organon“ der Gottesbeziehung fand, geriet das Nichtseelische (Körper, Gefühle, Sinnlichkeit, Beziehungsfähigkeit usw.) in seiner Bedeutung für das Leben in den Hintergrund. Sein und Denken wurden in eins gesetzt, wie es in Descartes‘ berühmten Diktum zum 672 Eberhardt, H., a.a.O., 60f.
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Ausdruck kommt: Cogito, ergo sum. Folglich wird der ‚Leib‘, dessen ‚Seele‘ verlorengegangen scheint, als vergänglicher Nur-Körper betrachtet, der, um das „Eigentliche“ beraubt, als wenig oder gar nicht kostbar angesehen wird (Hülle, Instrument, Mittel zum Zweck, Überbleibsel). Im Tode ist er auch nicht weiter zu ehren.673 Ungewohnt mutet die Vorstellung an, dass ein Leben ohne Bewusstsein, Sprache oder geistige Vitalität, wie manche Pflegebedürftigkeit und Demenz es mit sich bringen, noch irgendeine ‚Qualität‘ haben und das Leben trotz gravierender Einschränkungen noch eine unverlierbare Dignität besitzen könne. Die Seelsorge im Pflegeheim gelangt aber genau zu dieser aus der theologischen Anthropologie folgenden Einsicht und schenkt als Konsequenz dem Leiblichen mit seinen Möglichkeiten Beachtung. Entsprechend gilt es im Umgang mit Pflegebedürftigen an die mannigfaltigen Potenziale des Somatischen anzuknüpfen: Das ganze Spektrum des Sinnlichen ist folglich auszuschöpfen, die Beziehungspflege zu intensivieren, Dimensionen des leiblichen Miteinanders bzw. des „organismischen Dialoges“ (Lückel) sind zu erschließen, nonverbale Ausdrucksformen zu üben, angenehme Empfindungen zu wecken – kurz: Das Reich jenseits des Rationalen ist zu entdecken und als wichtige Aufgabe der Seelsorge im Pflegeheim zu begreifen. Tatsächlich geschieht dies in der Praxis, wie manchen Praxishilfen zu entnehmen ist und von den teilnehmenden Beobachtungen dieser Untersuchung bestätigt wird.
3. Praxishilfen674 Es kam der Zusammenhang von theologischem Bezugsrahmen und praktischer Konkretisierung zur Sprache. Eine anthropologische Ausrichtung der Heimseelsorge bringt demnach geeignete, ‚kompatible‘ Seelsorgeweisen hervor, die an das Faktum der Leiblichkeit des Menschen in unterschiedlicher Weise anknüpfen. Dieses Verhältnis von Anthropologie und Praxis deutet sich an einigen Beispielen zweier exemplarischer Praxishilfen jüngeren Datums an: So wird etwa die Bedeutung der Musik für das Gefühlsleben betont. Weil der Mensch nicht nur ein denkendes, sondern auch ein affektives Wesen sei, könne das Musikalische einen wichtigen Beitrag leisten, „in die Tiefe des Körpers“ (Muntanjohl) zu wirken, zu entspannen, zu beruhigen, zu verstärken und Wut, Angst, Trauer und Schmerz zu lösen. Auch könnten durch die Musik Erinnerun673 Es dürfte ein Zusammenhang bestehen zwischen der historisch einmalig hohen Zahl an Kremationen und dem Verständnis des Leibes als eines Nur-Körpers. 674 Zum Folgenden vgl. Lödel, R., a.a.O., 44ff.; Muntanjohl, F., a.a.O., 156ff.
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gen geweckt werden. Ebenso stelle sie Deutungsmuster der Wirklichkeit zur Verfügung. Der verbale Ausdruck werde entbehrlich, da Klänge eine kraftvolle Sprache sui generis seien, die mitunter besser als die verbale ausdrückten, was in einem Menschen vor sich gehe, wie er sich selbst oder seine Situation verstehe. Die Leiblichkeit des Menschen wird in den Praxishilfen auch durch den Hinweis auf die Möglichkeit des Berührens zur Geltung gebracht. Es wird gesehen, dass Berührungen – insbesondere bei Verstummten oder Dementen – eine seelsorgerliche Option sind. Nähe sei auch durch das Haptische vermittelbar und spanne sich von einer schlichten Berührung der Hand bis zu einem Kuss. Es fällt auch ein Bemühen um Visualisierung und Sinnlichkeit bei den Gottesdiensthilfen auf. Es finden sich zahlreiche Anregungen, Ansprachen bildhaft und anschaulich zu gestalten. Mit allen Sinnen soll die gottesdienstliche Botschaft erfassbar und erfahrbar werden, nicht allein das Denken ist angesprochen. So finden sich Anregungen für Salbungs-Gottesdienste, Bildbetrachtungen oder Aussegnungen. Ebenso spielt die Gestaltung des Andachtsraumes eine Rolle und es wird betont, Seelsorgerinnen und Seelsorger seien „AtmosphärenGestalter“ (Pechmann). Konkret, sinnlich, erfahrungsreich soll es in Pflegeheimgottesdiensten zugehen. Sogar die Kleidung von Seelsorgenden findet Erwähnung, denn diese könne ebenfalls zum Atmosphärischen beitragen. Das Kirchenjahr wiederum könne helfen, ein Empfinden für die jeweilige Jahreszeit zu vermitteln, das mit Symbolen und Farben versinnlicht werde. Angesprochen wird auch der stimmliche Ausdruck, der Unterschiedliches kommunizieren könne. An diesen Beispielen deutet sich der Zusammenhang von Seelsorge und Leibsorge, Anthropologie und konkreter Praxisausformung an, wenngleich der Bezug beider Größen in den Praxishilfen locker scheint und der anthropologische Gesichtspunkt keineswegs systematisch reflektiert wird. Das Leibliche wird mit seinem Potenzial für die Seelsorge gesehen, ohne jedoch ein besonderes Gewicht zu haben. Auch wird der Zusammenhang von Seelsorge und Leibsorge kaum reflektiert. Das leibliche Potenzial ist auf der Grundlage christlicher Anthropologie aber sogar in doppelter Weise beansprucht: Erstens ist im Kontext stationärer Pflege ein seelsorgerliches Bemühen im Sinne eines positiven „Einwirkens“ auf den Leib der Pflegebefohlenen angezeigt. Deren Leib will umsorgt sein, denn er ist eine wichtige, der „Seele“ ebenbürtige Dimension menschlichen Lebens. Auch wird jene über den leiblichen Kanal erreicht. Dieser Aspekt wird von den Praxishilfen deutlich gesehen. Zweitens sind Seelsorgende zugleich in besonde163
rem Maße gefordert, ihre eigenen leiblichen Möglichkeiten auszuschöpfen und den eigenen Leib als medium curae animarum in die Besuchssituation einzubringen. So kommt auch der Körpersprache von Seelsorgerinnen und Seelsorgern eine wichtige Funktion zu, die über die geschilderten Illustrationen aus Praxisbüchern jedoch hinausgeht, wie sich in der empirischen Untersuchung zeigen wird. Insbesondere eine Beherrschung der Körpersprache, die die Potenziale des Nonverbalen in allen Nuancen auszuschöpfen vermag, scheint unerlässlich. Wenn man sich die für die Kultur des Pflegeheims potenzierten Beeinträchtigungen der verbalen Kommunikation noch einmal vor Augen führt, wird der Stellenwert des Nonverbalen sogleich evident. In ihm findet sich, wie bereits gesagt wurde, eine der zentralen Herausforderungen der Seelsorge in stationären Einrichtungen. Es soll deshalb gefragt werden, was die Poimenik zum Thema der nonverbalen Kommunikation beizutragen hat, in welchem theologischen Kontext sie die Körpersprache von Seelsorgenden verortet, welche Gesichtspunkte eine Rolle spielen und welche Bedeutung ihr also beigemessen wird.
4. Nonverbale Kommunikation Im folgenden Abschnitt soll insbesondere die Untersuchung von E. Naurath675 berücksichtigt werden, da ihr aktueller Beitrag zur Leibthematik in der (Krankenhaus-) Seelsorge von besonderem Gewicht für die poimenische Diskussion ist. Auch wird das Nonverbale von ihr in einem eigenen Abschnitt thematisiert. Ihre Darlegungen zur „Relevanz der Körpersprache für die Krankenhausseelsorge“ mögen als exemplarisch für den dargestellten Sachverhalt gelten. Naurath verhandelt das Nonverbale, wie es naheliegt, unter dem Gesichtspunkt der Anthropologie. Ihre grundlegende Untersuchung zu einer „leiborientierten Krankenhausseelsorge“ widmet sich ausführlich der Bedeutung des Leiblichen in unterschiedlichen Seelsorgetheorien der Moderne, angefangen bei der Dialektischen Theologie. Im Mittelpunkt steht die Kritik des abendländischen Dualismus mit seiner Abwertung der Leiblichkeit, die überwunden und als theologisch nicht haltbar dargestellt wird. Ziel ihrer Untersuchung ist es, die unterschiedlichen Potenziale des Leiblichen für die Seelsorge aufzuzeigen und die „Leibsorge“ mit ihren vielfältigen Aspekten als Aufgabe der Seelsorge zu begreifen. Auf der Grundlage anthropologischer Reflexionen bedenkt sie das für die Krankenhausseelsorge relevante Thema „Krankheit und Leiblichkeit im 675 Zum Folgenden vgl. Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge.
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Kontext von Individuum, Gesellschaft und Krankenhauswirklichkeit“ und zieht die Linien aus zu „Perspektiven einer leibintegrierten Krankenhausseelsorge“. In diesem letzten Hauptteil wird die Körpersprache eigens thematisiert, auch unter Berücksichtigung empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Arbeit schließt mit Betrachtungen zur „Geschlechtsspezifischen Dimension der Krankenseelsorge“. Naurath betont die „eminente Bedeutung der körpersprachlichen Ebene für die Seelsorgebegegnung“, welche eine „besondere körpersprachliche Sensibilität“ der Seelsorgenden erfordere. Die Begründung hierfür lieferten „nicht nur die biblische Anthropologie, sondern auch schöpfungs- und inkarnationstheologische Fundamente des christlichen Glaubens“, womit sie die Koordinaten benennt, die sie für eine theologische Verortung des Nonverbalen als relevant erachtet. Sie selbst konzentriert sich in ihrer Studie jedoch auf die anthropologische Perspektive, da diese ihr für die Berücksichtigung der „psychosomatischen Relevanz“ der Leiblichkeit im Kontext der Krankenhausseelsorge bedeutsam scheint. Aus dem besagten theologisch-anthropologischen Blickwinkel finden sich bei Naurath zwei Aspekte der Körpersprache, die sie ihr interessant machen. Mit unterschiedlicher Akzentuierung finden diese sich auch in anderen poimenischen Schriften. Worauf es ihr ankommt, zeigt sich erstens daran, dass sie auf Siegmund Freud zurückgreift, der im Nonverbalen einen Schlüssel sieht, „das verborgenste Seelische bewusst zu machen“, denn „wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen“. Die Körpersprache wird zweitens verstanden als „nonverbale Kommunikationsebene“ mit einer „Brückenfunktion vom Ich zum Du“. Dem Nonverbalen wird demnach sowohl eine tiefenpsychologische als auch eine kommunikativ-dialogische Funktion zugeschrieben. Es wird gesehen, dass die Körpersprache relevant für die Beziehungsebene der Interagierenden ist, da sie Kommunikation „reguliert“, optimiert und interpersonale Begegnungen fördert und vertieft. Unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationsregulierung wird regelmäßig auf gängige, auch in Nauraths Arbeit vorgestellte Theorien zur nonverbalen Kommunikation Bezug genommen. Auch zeigt sich ein tiefenpsychologisches Interesse an der Körpersprache, wie es ebenfalls in einem Beitrag des Handbuches zum Neuen Evangelischen Pastorale676 erkennbar ist: Jenes hebt hervor, dass die Wahrnehmung eines/einer anderen ein „körperlich-geistiger Vorgang“ sei, bei dem der Körper eine entscheidende Rolle spiele: Die Interagierenden nähmen einander wahr mit ihren Sinnen, sie hörten, röchen, ertasteten einander, reichten die Hand, machten sich ein Bild, 676 Reichmann, A., Körper, in: Gott ins Spiel bringen, in: Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh (2007), 146.
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brächten durch Mimik und Gestik ihre Befindlichkeit zum Ausdruck, würden beeinflusst durch Körperhaltung, Stimme, Lautstärke des Sprechens, Farbe der Haut usw. Vieles hänge davon ab, wie viel die Seelsorgerin/der Seelsorger wahrnehme677 und wie das Wahrgenommene wiederum aufgenommen und interpretiert werde. Damit wird eine wesentliche Funktion des Nonverbalen benannt, die in der poimenischen Literatur eine, wenn nicht die zentrale Rolle spielt. Das Nonverbale erlaubt demnach ein besseres Verständnis der seelischen Vorgänge des Gegenübers und lässt Rückschlüsse auf Unbewusstes oder Nichtgesagtes zu. In einem anderen Beitrag veranschaulicht Naurath678 diese Funktion an einem Fallbeispiel aus der Praxis. Sie schildert, wie sich eine Krankenhausseelsorgerin kraft eines ausgeprägten Einfühlungsvermögens und einer sinnvollen Deutung eines körpersprachlichen Ausdrucks dafür entscheidet, auf ein Körpersignal einer Besuchten so zu reagieren, dass sie diese mit einer Schulterberührung verabschiedete. Der Seelsorgerin war eine „widersprüchliche Diskordanz“, ein Widerspruch zwischen verbaler und nonverbaler Äußerung, aufgefallen. Die Beobachtung veranlasste sie zu der besagten Geste. Das nonverbale Signal der besuchten Person wurde der Seelsorgerin somit zu einem Schlüssel zu deren Innerem. Das Gegenüber wurde gemäß einem Programmwort des Pastoral Counseling als ‚living human document‘679 gesehen, dessen Wahrnehmung, als wesentliche Aufgabe der Seelsorge verstanden, ein entsprechendes seelsorgerliches Verhalten evozierte. Das Beispiel zeigt, dass das Nonverbale in der Poimenik vor allem wegen seiner pastoralpsychologischen Funktion bedeutsam ist. In diesem Zusammenhang scheint auch Nauer680 die nonverbale Kommunikation zu sehen, denn sie spricht vom „(Non)verbalen Begegnen und Begleiten“ als einem Unterpunkt der „Pastoralpsychologisch-ethischen Dimension“ von Seelsorge. Deren Merkmal sei ein Fokussieren auf die Körper- und Psyche-Dimension menschlichen
677 So auch Ziemer, J., a.a.O., 157. 678 Vgl. Naurath, E., Berühren, in: Gott ins Spiel bringen, in: Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh (2007), 154. An anderer Stelle resümiert sie: „Eine Schärfung der Sensibilität für die Körpersprache erhöht nicht nur die bewusste Wahrnehmung des Gegenübers und damit das partnerzentrierte Einfühlungsvermögen, sondern auch den Aktualitätsbezug des seelsorgerlichen Gesprächs“, Seelsorge als Leibsorge, 196. 679 Bei dieser Formulierung handelt es sich um einen zentralen Begriff aus der Frühphase der amerikanischen Seelsorgebewegung (Pastoral Counseling), die u.a. auf dessen Mitbegründer Anton T. Boisen zurückgeht; vgl. auch Gerkin, Ch., The Living Human Document, Nasville (1984, 1. Aufl.). 680 Nauer, D., Seelsorge,172ff.
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Lebens, die Nauer von der „mystagogisch-spirituellen“681 bzw. der „diakonischprophetischen“682 Dimension abhebt. An anderer Stelle verhandelt sie den „vollen Körpereinsatz“, mit dem in der Seelsorge „gearbeitet“ wird in dem Kapitel über „Pastoralpsychologische und ethische Praxisschwerpunkte“683. Der Leib kommt demnach in einem charakteristischen – eben psychologischen – Kontext zur Sprache, in den er auch von anderen gestellt wird. Dabei wird besonders die soziale Dimension des Körpers, wie bei Naurath, betont: Sie meint, Leiblichkeit müsse als „Ur-Grund aller Sozialität“ neu gewürdigt werden. Andere sehen in ihr entsprechend ein „Medium der Beziehungsaufnahme“684 bzw. „ein bevorzugtes Medium menschlicher Kommunikation“685. Somit geht Naurath davon aus, dass die Körpersprache nicht individualistisch, sondern sozial zu deuten sei, wie sie unter Verweis auf kommunikationswissenschaftliche Forschungen betont. Die nonverbale Kommunikation müsse demnach als phylo- und ontogenetische Primärsprache, aber eben als Sprache verstanden werden. Seelsorge, die die leibliche Dimension berücksichtige, gleiche, wie diese Sozialität des Leibes einmal metaphorisch beschrieben wird, einem „Tanz“686: Einfühlung, Kommunikation, Austausch sind hier miteinander verwoben und stehen in einem engen dialogischen Wechselspiel. Damit werden wichtige kommunikationstheoretische Postulate aufgegriffen, die im nächsten Kapitel näher vorgestellt werden.687 Diese Ausführungen machen deutlich, dass die Deutung der Körpersprache im poimenischen Diskurs ein deutliches (pastoral-)psychologisches Gefälle hat. Eine einseitige anthropologische Betrachtung verstärkt ein solches abermals, denn eine ausschließlich (poimenisch-)anthropologische Verortung des Nonverbalen lässt insbesondere seine Sozialität wie auch tiefenpsychologische Dimension hervortreten. Es zeigt sich weiter, dass sämtliche Erörterungen zu Bedeutung und Potenzial nonverbaler Ausdrucksweisen sich letztlich auf den Pastoranden konzentrieren, da ein seelsorgerliches, das heißt: auf das Gegenüber bezogenes Anliegen die Deutung des Nonverbalen bestimmt. Kommt der Gesichtspunkt des Psychosomatischen noch hinzu, wie in einigen Schriften, die beispielsweise Kranken-
681 682 683 684 685 686 687
Vgl. ebd., 151 – 171. Vgl. ebd., 202 – 223. Vgl. ebd., 236ff. Klessmann, M., Pastoralpsychologie, Neukirchen-Vluyn (2006, 3. Aufl.), 203. Ebd., 211. Reichmann, A., a.a.O., 149. Vgl. II.A.
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hausseelsorge „im Vorfeld psychosomatischer Behandlungsweise“688 ansiedeln, so zeigt sich erneut, dass die Körpersprache der Seelsorgenden von untergeordnetem Interesse ist. Erwägungen zu weiteren, über das Pastoralpsychologische und Kommunikative hinausgehenden Potenzialen und Funktionen der Körpersprache müssen bei der geschilderten Gewichtung und Einordnung zwangsläufig übersehen werden. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger kommen somit nicht umfassend genug in den Blick. Deren Körpersprache wird insbesondere dann thematisiert, wenn es um die Schulung des seelsorgerlichen Einfühlungsvermögens689 oder die Verbesserung der Kommunikation(-sfähigkeit)690 geht. Im Vordergrund steht häufig die Ausprägung einer „körpersprachlichen Sensibilität“ (Naurath) in einer seelsorgerlichen/pastoral-psychologischen Intention. Die Selbstwahrnehmung steht ganz im Dienst der Fremdwahrnehmung. Der Blick auf mögliche weitere Funktionen des Nonverbalen, zum Beispiel als symbolische Interaktion691 zu fungieren, kann deshalb nicht eröffnet werden. Die Kommunikation der Seelsorgenden kann allenfalls als Mitteilung verstanden werden, die insgesamt jedoch der Beziehungsebene verhaftet und zudem vom Gegenüber „regiert“ bleibt. Es ist anzunehmen, dass es infolge verschiedener Einflüsse692 der 1970er und 80er Jahre (Rogers, Tiefenpsychologie, amerikanische Seelsorgebewegung, KSA, Watzlawick usw.) in der Seelsorge zu einer Entwicklung kam, die eine radikale Umformulierung des markanten Diktums von Asmussen zur Folge hatte. Er verstand Seelsorge als ein Gespräch, „welches vom Seelsorger ausgeht und in welchem der Seelsorger mit Würde und Takt die Führung hat“693. Ein solches für die kerygmatische Seelsorge charakteristisches asymmetrisches Rollenverständnis wäre heute nicht mehr haltbar. Inzwischen ist – insbesondere infolge der amerikanischen Seelsorgebewegung – eine deutliche Gegenbewegung zu verzeichnen, die nicht mehr „den Seelsorger“, sondern vielmehr dessen Gegenüber in den Mittelpunkt stellt. Nunmehr soll allein die Seelsorge suchende Person Tempo, Takt und Rhythmus bestimmen. Nichts soll geraten, empfohlen, angeregt werden. Hinschauen, Wahrnehmen, Zuhören bilden den Kern des seelsorgerlichen Dienstes. Gesprächsanalysen, ein Spezifikum des Pastoral
688 Vgl. Gestrich, R., Seelsorge am Krankenbett, Stuttgart (1988, 2. Aufl.), 124ff. 689 Vgl. Naurath, E., Berühren, in: Gott ins Spiel bringen, a.a.O., 157; Nauer, D., Seelsorge, 85ff.; Gestrich, R., a.a.O., 124ff. 690 Vgl. Piper, H.-Ch., Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, Göttingen (1981), 53, 66; Gestrich, R., a.a.O., 124ff. 691 Näheres zum Konzept des Symbolischen Interaktionismus vgl. II.A. 692 Näheres bei Ziemer, J., a.a.O., 84ff. 693 Asmussen, H., Die Seelsorge, München (1935, 3. Aufl.), 16 [Kursiv O.K.].
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Counseling, können deshalb auch als „Schule des Hörens“694 interpretiert und Gespräche unter dem Aspekt des ‚Hörens‘ verhandelt werden. Der Kirche wurde (in den 80er Jahren!) eine Unfähigkeit attestiert, zuzuhören,695 die auf einen „Mangel an Sensitivität“696 wie auch auf angstbedingte Widerstände697 aufseiten der Seelsorge zurückgeführt wurde. Da es in einer seelsorgerlichen Begegnung jedoch vor allem, wie deutlich wurde, auf das hörende Wahrnehmen und Verstehen der Pastoranden ankommt698, tritt damit die Person der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers nunmehr deutlich zurück. Eine „Klientenzentriertheit“ ist die logische Folge, das „Spiegeln“699 wird zu einer zentralen Aufgabe des seelsorgerlichen Bemühens. Die therapierende bzw. seelsorgende Person tritt in den Hintergrund. Die unbestritten sinnvolle und legitime „Zentriertheit“ auf das Gegenüber bringt es mit sich, dass Seelsorgende sich in der Regel Zeit nehmen und sich darauf einstellen, länger bei einem ‚Klienten‘ zu verweilen. Zumindest eine Seelsorge mit pastoralpsychologischem Praxisschwerpunkt700 und gesprächsorientierter Ausrichtung, wie sie im Gefolge der oben angedeuteten Einflüsse der Seelsorgebewegung mit ihrem Programm einer „Seelsorge als Beratung“ noch immer vorherrschend sein dürfte,701 ist zeitintensiv. Die Bedeutung des Faktors Zeit wird in der poimenschen Literatur so auch betont, und es wird empfohlen, „Zeit (zu) schenken und sich Zeit (zu) nehmen, um zu fühlen“702. Die in der Krankenhausseelsorge ermittelte Dauer von Besuchen verzeichnet typischerweise entsprechende Werte von bis zu 90703 bzw. durchschnittlich rund 30704 Minuten. Auch eine Seelsorge, der es primär um Beziehung und Begleitung geht, die ‚mitgehen‘, ‚dabei-bleiben‘, ‚mitaushalten‘ will, wird sich bereitwillig darauf einstellen, länger an der Seite einer/eines Besuchten zu verweilen. 694 695 696 697 698 699
700 701 702 703 704
Piper, H.-Ch., Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, Göttingen (1981), 60. Ebd., 66. Ebd. Ebd. Ebd., 68f. Der Begriff stammt von Carl Rogers und bezeichnet den therapeutischen Versuch, durch Einfühlung dem Gegen-über zu einer besseren Selbstwahrnehmung zu verhelfen. Der Klient/die Klientin wird also „gespiegelt“, er soll sich erkennen im Spiegel des/der anderen. Vgl. Rogers, C., Die nicht-direktive Beratung, Frankfurt a.M. (1989). Vgl. Nauer, D., Seelsorge, 236ff. Klessmann schreibt: „Da Seelsorge wesentlich durch Gespräch geschieht, gehört sie ... in die Reihe der Psychotherapien“, Pastoralpsychologie, 428. Gestrich, R., a.a.O., 100ff. Vgl. Christian-Widmaier, P., Nonverbale Kommunikationsweisen, Frankfurt am Main (1995), 156. Vgl. ebd., 48 – 165.
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Möglicherweise hat eine mystagogisch-spirituelle Schwerpunktsetzung705 ein tendenziell geringeres Zeitbedürfnis als eine therapeutisch orientierte. Zwingend ist das jedoch nicht, denn viele als mystagogisch-spirituell beschriebene Formen der Seelsorge erfordern durchaus Muße, Ruhe und Zeit, wie z.B. wortlose Sitzwachen, Krankenbesuche, Totenwachen, der Umgang mit Ritualen, Gesten und Symbolen oder das Reichen der Sakramente. Da diese Arbeitsformen jedoch nicht durch das Wort bzw. das Gespräch, sondern vor allem kraft ihrer kollektiven, unbewussten Bedeutungszuschreibungen und ihrer religiösen Signifikanz wirken, ist es zumindest denkbar, dass spirituelle seelsorgerliche Angebote zumeist kürzer ausfallen als eine Seelsorge mit anderen Schwerpunkten. Dies wäre jedoch näher zu untersuchen. Ich halte zusammenfassend fest: Eine einseitig auf die anthropologische Dimension bezogene Deutung des Nonverbalen bleibt tendenziell einem psychologisch-therapeutischen oder einem kommunikationstheoretischen Verständnis der Körpersprache verhaftet. Daraus folgt ihre „Klientenzentriertheit“. Dem Gegenüber der Seelsorgerin/des Seelsorgers wird alle Aufmerksamkeit zuteil. Ein typisches, großzügig bemessenes Zeitkontingent ist dafür ein Indiz. Die Rolle der Seelsorgerin/des Seelsorgers und das Verständnis ihrer Körpersprache werden regiert durch die ‚Klienten‘ (Pastoranden). Die beratende Person tritt in den Hintergrund und stellt sich ganz in den Dienst dessen, was die „Seele (des Gegenübers, O.K.) mit dem Seelsorger anfangen möchte“706. Setzt man diesen Befund in Beziehung zu dem Umstand, dass das Nonverbale im Zusammenhang mit der Seelsorge im Pflegeheim kaum thematisiert wird, obwohl gerade hier die Körpersprache besonders gefordert ist, so bietet sich folgende These als Erklärung an: Die Poimenik ist auf Pflegebedürftige in Heimen deshalb unzureichend eingestellt (und verhandelt das Nonverbale deshalb nicht eigens), weil sie noch immer stark therapeutisch/psychologisch ausgerichtet ist. Der tiefenpsycholo-gische/psychoanalytische Aspekt der Körpersprache wurde jedoch längst gesehen und vielfach verhandelt. Da es sich bei der Gruppe der Pflegebedürftigen jedoch um einen Personenkreis mit offensichtlich anderer als „therapeutischer“ Bedürfnislage handelt, gelingt es nicht, die Themen Pflegeheim und nonverbale Kommunikation miteinander in Beziehung zu setzen. Ein Interesse für die Körpersprache der Seelsorgenden kann vor dem geschilderten Hintergrund nicht erwachsen. Die Frage, welcher Erkenntnisgewinn sich aus einer Beschäftigung mit seelsorgerlichen Interaktionsweisen im Pflegeheim ergeben könnte, stellt sich nicht, da alles gesagt scheint. 705 Vgl. Nauer, D., Seelsorge, 228ff. 706 Gestrich, R., a.a.O., 9.
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Hier nun setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie stößt in die aufgezeigte Forschungslücke vor, indem sie sich für die Körpersprache von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in stationären Pflegeeinrichtungen interessiert und fragt, welche (für die Heimseelsorge relevanten) Erkenntnisse aus einer Beobachtung der nonverbalen Disposition Seelsorgender zu gewinnen wären. Wie wird kommuniziert? Was wird kommuniziert? Und was folgt daraus für die Seelsorge im Pflegeheim und möglicherweise auch für andere Felder kirchlichen Wirkens?
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Teil II. Empirischer Ansatz - Beobachtungen zur nonverbalen Interaktion im Vollzug der Heimseelsorge -
A. Theorien zum Nonverbalen Als Ergebnis des ersten Hauptteils wurde das Nonverbale als eine zentrale, kommunikative Herausforderung der Seelsorge im Pflegeheim identifiziert. Damit rücken die nonverbalen Verhaltensweisen der Interagierenden in ihrer poimenischen Relevanz in den Fokus des Interesses. Der empirische Teil dieser Arbeit konzentriert sich nun aus den bereits benannten praktischen wie inhaltlichen Gründen auf den Aspekt der Körpersprache der Heimseelsorgerinnen und seelsorger.707 Bevor ich die Ergebnisse der Beobachtungen präsentiere, sollen zunächst einige Theorien zur nonverbalen Kommunikation vorgestellt werden, die helfen sollen, die beschriebenen Verhaltensweisen besser einzuordnen und zu gewichten. Zugleich machen sie mit den für diese Studie zentralen Axiomen vertraut, auf die im Verlauf der Auswertung noch einmal Bezug genommen wird. Das lateinische Wort ‚communicatio‘, von dem sich ‚Kommunikation‘ ableitet, bedeutet ‚Mitteilung‘. Das für die Erforschung des Kommunikationsprozesses grundlegende Modell geht auf Shannon/Weaver (1949) zurück.708 Vier Komponenten gehören demnach zur Kommunikation: Sender-Nachricht-KanalEmpfänger. Mitteilungen werden zumeist nicht nur auf einem einzigen Übertragungskanal übermittelt. Es fließen sowohl verbale (Sprache), extraverbale (Zeit, Raum, soziale Faktoren, raumbezogenes Verhalten), parasprachliche (Stimmqualität, Sprechtempo, Intonation) als auch non-verbale (Gestik, Mimik, Körperhaltung und -bewegungen) Elemente in den Informationsgehalt ein. Dabei nehmen die nonverbalen Elemente, die in einem Gespräch soziale Bedeutungen vermitteln, einen weitaus größeren Teil als die verbalen ein, wie der Ethnologe und Linguist Birdwhistell meint. Er nimmt an, dass lediglich 30 – 35 % der Informationsübertragung durch Worte erfolge.709 Forschungen an Kindern, die der verbalen Sprache noch nicht mächtig sind oder sie erst unvollständig beherrschen, belegen, dass die nonverbalen Komponenten bei ihnen sogar
707 Vgl. I.E.4. 708 Vgl. Lenzen, D. (Hg.), Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 1 + 2, Reinbek (1989), 873. 709 Vgl. Kirch, M. S., Non-verbal communication accross cultures, in: The Modern Language Journal, 1979, 423.
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einen höheren Stellenwert in der Interaktion einnehmen als bei Erwachsenen.710 Eine Prädominanz nonverbaler Kommunikation gegenüber verbaler Sprache bei Kindern bis zum fünften Lebensjahr wird durch einige Untersuchungen belegt.711 Theoretisch wäre es möglich, zwischen Mitteilung im engeren Sinne (nämlich als zielgerichtetes, kommunikatives Signal) und Zeichen (als nichts beabsichtigendes bzw. nichts kommunizierendes Zeichen) zu unterscheiden.712 Beispielsweise unterscheidet sich die Funktion des Nonverbalen bei einem Mann, der auf einer Versteigerung sein Programm hochhebt, um ein Angebot zu machen von ihrer Funktion bei einer Person, die in einem bestimmten emotionalen Zustand sichtbare Zeichen dieser Emotion wie Zittern oder Schwitzen an den Tag legt. Erschwerend für eine solche Unterscheidung zwischen ‚Mitteilung‘ und ‚Zeichen‘ ist jedoch, dass nicht mit Sicherheit zu sagen ist, ob ein Signal nicht doch als Mitteilung fungiert, denn „dasselbe Signal kann als Mitteilung oder als Zeichen verwendet werden“713. So kann z.B. jemand den Eindruck erwecken wollen, der sozialen Oberschicht anzugehören, indem er einen für diese Klasse üblichen Akzent oder eine entsprechende Ausdrucksweise pflegt. Möglich ist ebenfalls, dass ein nonverbales Zeichen „teils Mitteilung, teils Zeichen“714 zugleich ist, wie z.B. der Gesichtsausdruck für die Gefühle: Mimische Expressionen für Empfindungen sind teils angeboren und spontan, teils kontrolliert und den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen angepasst. Watzlawick et al. setzen Kommunikation und Verhalten in eins, da die verhaltensmäßigen Wirkungen der Kommunikation (welche für deren „pragmatisches“ Deutungsmodell des Nonverbalen zentral sind) für beide Größen gleichermaßen relevant seien.715 Die Forscher formulieren demgemäß das berühmt gewordene Axiom: „Man kann nicht nicht kommunizieren“716, und dieses geschehe mit dem gesamten Spektrum menschlicher Ausdrucksweisen,
710 Lohaus, A., Verbale und nonverbale Kommunikation im Kindesalter: Ergebnisse einer entwicklungspsychologischen Studie, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 24, 22 – 38. 711 Vgl. Brannigan, C. R./Humphries, D. A., Human non-verbal behaviour, a means of communication, in: Blurton Jones, N. G. (Hg.), Ethological studies of child behaviour, Cambridge (1972), 37 – 64. 712 Vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, Paderborn (1987, 4. Aufl.), 14ff. 713 Ebd., 15. 714 Ebd., 16. 715 Vgl. Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D., Menschliche Kommunikation, Bern/Stuttgart/Wien (1982, 6. Aufl.), 23. 716 Ebd., 53.
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also der nonverbalen Kommunikation im engeren Sinne wie auch dem Verhalten insgesamt. Es lassen sich vier relevante Theorieansätze der Sozial- und Verhaltenswissenschaften zur nonverbalen Kommunikation beschreiben:717 Die humanethologische Betrachtungsweise, die Methode der externen Validierung, der ganzheitlich-strukturelle Theorieansatz sowie der dem symbolischen Interaktionismus nahestehende soziologische Ansatz. Diese seien kurz skizziert: Der human-ethologische Theorienansatz orientiert sich in Anlehnung an das theoretische und methodische Vorbild der Ethologie (Verhaltensbiologie) mit starker Ausrichtung an der Instinkt- und vergleichenden Verhaltensforschung. Es wird angenommen, nonverbales Verhalten sei aufgrund des gemeinsamen biologischen Ursprungs bei allen Menschen gleich. Zu den Hauptvertretern dieses Ansatzes gehört I. Eibl-Eibesfeldt.718 Der sozialpsychologische externale Theorieansatz – auch als Methode der externen Validierung bekannt – versucht, die Funktion und Bedeutung nonverbaler Ereignisse aus dem Zusammenhang mit externen, nicht kommunikativen Variablen, wie z.B. Persönlichkeitsmerkmalen, zu erschließen. Dazu bedient sie sich neben Notationsverfahren und Beobachtungen vor allem des Experimentes und der statistischen Analyse. Nonverbales Verhalten sei je nach Individuum unterschiedlich geprägt und einmalig. Hauptvertreter dieser Richtung sind M. Argyle719, P. Ekman720 und W.V. Friesen. Der ganzheitlich-strukturelle Theorieansatz geht hingegen von einem sprachähnlichen Regelsystem nonverbaler Kommunikation aus, das unabhängig vom Menschen existiere und von ihm kulturell angeeignet werde. Zugleich wird angenommen, alles wahrnehmbare Verhalten sei kommunikativ. Seine Hauptvertreter sind R. L. Birdwhistell721 und A. E. Scheflen. Dieser Ansatz steht dem symbolischen Interaktionismus nahe. Der dem symbolischen Interaktionismus nahestehende soziologische Theoriesatz ist auf gesellschaftlich vermittelte, situationsbezogene Regeln nonverba717 Cranach, M. v., Die nicht verbale Kommunikation im Kontext des kommunikativen Verhaltens, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., München (1971), 105 – 148. 718 Vgl. Eibl-Eibesfeldt, I., Liebe und Hass – Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München (1984, 11. Aufl.). 719 Vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation; ders., Soziale Interaktion, Köln (1974, 2. Aufl.). 720 Vgl. Ekman, P., Gefühle lesen - Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, Spektrum Akademischer Verlag, München (2004). 721 Vgl. Birdwhistell, R. L., Kinesics and Context – Essays on Body Motion Communication, Philadelphia (1970).
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ler Interaktion fokussiert. Wie die ganzheitlich-strukturelle so ist auch diese Theorie regelorientiert. Individuen seien demnach aufgrund ihrer subjektiven Definition einer Situation zu einer bestimmten nonverbalen Ausdrucksweise veranlasst, wie G.H. Mead, C.H. Cooley, W.I. Thomas oder H. Blumer meinen. E. Goffman vertritt zudem die Auffassung, der Gebrauch des Nonverbalen sei wesentlich durch das Bedürfnis nach Selbstdarstellung bestimmt. Die besagten Forscher teilen die Auffassung, dass die Bedeutung eines Zeichens (z.B. Gestik, Mimik, Sprache usw.) durch Interaktion entstehe und nur aus diesem Zusammenhang heraus interpretierbar sei. Ein Zeichen besitze nicht eine gleichbleibend gültige Bedeutung (wie z.B. von der Verhaltensforschung oder anderen Theorieansätzen angenommen), sondern diese entstehe in einem Interpretationsprozess. Eine Bedeutungszuschreibung sei deshalb historisch durchaus wandelbar. Ein unentwegter Interaktionsvorgang erneuere, erweitere oder verändere mitunter die Bedeutung der nonverbalen Elemente im Laufe der Zeit. Zwei Interagierende, die demselben Zeichen eine identische Bedeutung zumessen, ließen es schließlich zu einem „signifikanten Symbol“ (G.H. Mead) werden, das die Interaktionspartner zu einer Reaktion veranlasse. Im Verständnis Goffmans erfüllt das Nonverbale eine wichtige Funktion im Sinne einer „Erläuterung durch den Körper“ und dient als Ausdrucksmittel der „persönlichen Fassade“.722 Körpersprache und Selbstdarstellung sind für ihn miteinander verknüpft. Der nonverbale Ausdruck bzw. die „Darstellung“ mithilfe der Körpersprache ist aus einem weiteren Grund bedeutsam, da Goffman ‚Interaktion‘ als den Versuch einer gegenseitigen Einflussnahme der Interagierenden versteht.723 Die nonverbal Kommunizierenden verfolgten demnach das Ziel, die Situation der Interaktion so zu „kontrollieren“, dass sie tatsächlich den Eindruck erwecken, der ihrer Intention gemäß ist.724 Kommunikation und Interaktion seien folglich identisch, da es keine Kommunikation gebe, die nicht inter-agiere, also zweckgerichtet sei. Da die Theorien Goffmans für die Fragestellung dieser empirische Untersuchung von Bedeutung sind, sollen sie an dieser Stelle die Techniken etwas näher beschrieben werden.725 Goffmann vergleicht Interaktion mit einer Theatervorstellung: „Wir alle spielen Theater“, so der Titel seiner grundlegenden Schrift zur Selbstdarstellung im Alltag. Darin erinnert Goffman an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚Person‘, lateinisch ‚Maske‘, und konstatiert, „dass jedermann überall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt“. Das 722 Goffman, E., Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag, München (2007, 5. Aufl.), 25. 723 Ebd., 18. 724 Ebd., 7f. 725 Zum Folgenden vgl. Goffman, E., a.a.O.
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Spielen einer Rolle werde insbesondere durch eine „Bühnensituation“ evoziert, in der es eine „Vorstellung“ und ein „Publikum“ gebe. Gemeint ist eine Situation, die in besonderem Maße dazu verleite, bestimmte Darstellungsmechanismen wirksam werden zu lassen, da die Interagierenden sich beobachtet wissen. Folglich schlüpfen sie in eine Rolle. Diese Rolle erfordere eine „Fassade“, zu der Goffman z.B. Amtsabzeichen, Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, Alter, Rasse, Größe, physische Erscheinung, Sprechweise, Mimik, Gestik usw. zählt. Es könne in dieser Fassade zudem nach „Erscheinung“ und „Verhalten“ unterschieden werden. Zu den Merkmalen bzw. Techniken der Darstellung gehöre auch die „dramatische Gestaltung“ einer Rolle, die dem Zweck der Illustration und Verdeutlichung diene. Sie liefere Hinweise, die „bühnenwirksam ihn [= den Darstellenden, O.K.] bestätigende Tatsachen illustrieren und beleuchten, welche sonst unbemerkt oder undeutlich bleiben könnten“. Eine dramatische Gestaltung sei bei manchen Rollen leichter als bei anderen und führe bei letzteren zu dem Versuch, Nichtsichtbares und Unscheinbares entsprechend sichtbar(er) und ausdrucksvoll(er) zur Geltung zu bringen. Eine Rolle etwa, die sich im Alltag eher im Hintergrund abspiele und sich durch Diskretion auszeichne, wie zum Beispiel die des Bestatters, sei schwerer darzustellen als die des Preisboxers oder Polizisten. Goffman vermutet bei der Gestaltung einer Rolle auch eine Idealisierung, die sich in dem Bemühen der Selbstdarstellenden zeige, „die offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und zu belegen“. Diesen Impuls findet er in unterschiedlichen Berufsgruppen. Er beruft sich dabei auf Cooley, den er zitiert: „Dieser Impuls, der Welt einen besseren oder idealisierten Aspekt unserer selbst zu zeigen, findet sich auch in den verschiedenen Berufsgruppen und Klassen, in ihrer Gesamtheit. Eine jede von ihnen verfügt über eine eigene Phraseologie oder Pose, die ihre Mitglieder, meist ohne es zu wissen, annehmen, die aber dennoch die Wirkung einer Verschwörung hat, welche die leichtgläubige Umwelt zu beeindrucken sucht“.726
Eine derartige Idealisierung der Darstellung bringe die Notwendigkeit mit sich, Handlungen, die mit dem Ideal nicht übereinstimmten, zu unterlassen, zu verbergen oder zu verschleiern. Eine Ausdruckskontrolle des Darstellenden gehöre deshalb ebenso zum technischen Repertoire und zu den Merkmalen eines Bühnenauftritts. Anzustreben sei folglich eine „innere Übereinstimmung aller Gesten“ bzw. eine „notwendige Stimmigkeit des Ausdrucks“. Indem die Rollendarsteller sich der besagten Techniken bedient und sich einer Ausdruckskontrolle unterwürfen, strebten sie zugleich eine Kontrolle der Situation bzw. eine „Kontrolle über den hergestellten Kontakt“ an, der ja in ihrem Sinne verlaufen 726 Ebd., 35.
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solle. „Mangelnde Steuerung der durch das Publikum erworbenen Informationen kann zu Störungen der entworfenen Definition der Situation führen“, konstatiert Goffman. Ein Zuviel an Informationen, das dem Gegenüber übermäßig Gelegenheit gebe, den Darsteller zu betrachten und zu studieren, sei einer gelungenen Rolleninszenierung abträglich. Zu viele Informationen und übermäßige Nähe hätten eine zu große Vertraulichkeit zur Folge, die schließlich in Verachtung münden müsse, wie am Beispiel eines Königs veranschaulicht wird: Das Volk wolle keinen König, mit dem es auf ein Picknick gehen könne, sondern etwas Ungreifbares wie das Delphische Orakel.727 Den Mechanismus der „Einschränkungen“, der in einer gelungenen Darstellung demnach zur Anwendung komme, nennt Goffman ‚Mystifikation‘. Er gebe dem Darstellenden „Ellenbogenfreiheit für den Aufbau eines selbstgewählten Eindrucks“ und gestatte ihm, „zu seinem eigenen Besten oder dem des Publikums schützend oder abschreckend zu wirken, was durch allzu genaue Beobachtung hinfällig würde“. Die von Goffman postulierte, geeignete Techniken generierende Ausdruckskontrolle lässt sich auch mit den Erkenntnissen des englischen Sprachphilosophen Grice728 untermauern. Dieser zeigt in zahlreichen Studien, in welchem Maße das Kommunikationsverhalten eines Senders „unter dem heimlichen Diktat des Empfängers“729 stehe. Die „pragmatischen Deutungsgewohnheiten“ des Gegenübers und dessen Erwartungshaltung veranlasse eine verbal und nonverbal kommunizierende Person, „Verhaltensdisplays zu Gesicht zu bringen, die geeignet sind, bei ihrem Gegenüber einen bestimmten Eindruck zu erwekken“730. Eine Antizipation dessen, was verbales oder nonverbales Verhalten beim Rezipienten vermutlich auslöse, sei elementarer Bestandteil der Interaktion.731 Um dies zu erreichen, stünden vier Verhaltensregeln zur Verfügung, die Grice mit den Begriffen Quantität, Qualität, Relation und Manier umschreibt.732 Diese Regeln verpflichteten einen Sender sicherzustellen, dass seine Äußerungen nur so viel Information enthalte, wie nötig (Quantität), dass sie nicht ungeprüft oder unwahr (Qualität) und nicht irrelevant hinsichtlich des Sachverhaltes sei (Relation), und dass sie nicht in einer unhöflichen oder mehrdeutigen Art vorgetragen werde (Manier).
727 Ebd., 64. 728 Vgl. Grice, H. P., Studies in way of words, Boston (1989). 729 Grice, H. P., a.a.O., zit. in Frey, S., Die Macht des Bildes – Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik, Bern (1999), 74. 730 Ebd., 75. 731 Ebd., 77 732 Ebd., 74.
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Nach dieser Einführung in zentrale Gedanken Goffmans soll nun mit einer kurzen Übersicht der Hauptfunktionen nonverbaler Kommunikation fortgefahren werden: Kemper733 macht darauf aufmerksam, dass in der europäischen Psychologie seit Watzlawick/Beavin/Jackson davon ausgegangen wird, dass interpersonelle Empfindungen im Gegenüber insbesondere durch das nonverbale Verhalten bzw. durch analoge Kommunikation geweckt werden. Watzlawick et al. betonen den Beziehungsaspekt als Hauptfunktion der Körpersprache. „Analoge“ (= nonverbale) Kommunikation sei zu verstehen als „Beziehungsappell“ bzw. „Anrufung bestimmter Beziehungsformen“.734 Schulz von Thun hingegen sieht in diesem Aspekt nur eine von vier Funktionen der Kommunikation. Es sei bei jeder Mitteilung eine Selbstoffenbarungsseite (worüber informiert wird), eine Sachseite (was von einem selbst kundgegeben wird), eine Beziehungsseite (was vom anderen gehalten wird) sowie eine Appellseite (wozu der andere veranlasst werden soll) zu unterscheiden.735 Hinsichtlich des Selbstoffenbarungs- und des Appellaspektes kann eine Ähnlichkeit zu dem gesehen werden, was Goffman unter Selbstdarstellung bzw. Einflussnahme durch Interaktion versteht. Argyle736 sieht drei Hauptfunktionen der Körpersprache: Die Äußerung von Gefühlen, das Mitteilen von interpersonalen Einstellungen sowie Mitteilungen über die Persönlichkeit. Von Cranach737 beschreibt ebenfalls drei Funktionen des Nonverbalen: Die Funktion der Mitteilung über den Zustand des Senders (Affekte, interpersonale Einstellungen, kognitive, motivationale und emotionale Haltungen sowie dessen Definition der Situation, der sozialen Beziehung und der eigenen Rolle), die Funktion der Sprachunterstützung (senderbezogener sowie kommunikationsregulierender Art) sowie sprachähnliche Funktionen, wie sie in sogenannte „Emblemen“, d.h. Gesten mit spezifischer, übersetzbarer Bedeutung zum Ausdruck kämen (Kopfnicken für „ja“, Kopfschütteln für „nein“). Scherer738 wiederum unterscheidet fünf Hauptfunktionen des Nonverbalen, wobei er noch einmal zwischen vokalen nonverbalen Zeichen wie Stimmqualität, Stimmhöhe, Lautstärke oder Geschwindigkeit sowie nonvokalen Zeichen wie Mimik, Blickrichtung, Gestik oder Körperhaltung differenziert. Er identifi733 734 735 736 737 738
Kempter, G., Das Bild vom anderen, Berlin (1999), 114. Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D., a.a.O., 98. Schulz von Thun, F., Miteinander reden – Störungen und Klärungen, Hamburg (1993). Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation. Cranach, M. v., a.a.O., 142 – 143. Scherer, K. R., Nonverbale Kommunikation, in: Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts, Sozialpsychologie, Bd. 1, Weinheim/Basel (1984), 358 – 366.
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ziert die pragmatische bzw. Expressions- und Reaktionsfunktion, die semantische, syntaktische, dialogische und Attributions-Funktion: 1. Die pragmatische Funktion übermittle Informationen über dauerhafte Charakteristika wie z.B. soziale Identität (Individualität, Geschlecht, Alter, Gruppenzugehörigkeit, Persönlichkeit) und länger anhaltende Zustände wie Emotionen, Einstellungen oder Absichten. In der Mitteilung über spontane Reaktionen auf Äußerungen oder Verhaltensweisen der Interagierenden könne eine Reaktionsfunktion des Nonverbalen gesehen werden. Die pragmatische Funktion ist insbesondere für das Kommunikationsmodell Watzlawicks et al. von Bedeutung.739 Für dieses ist die These von einer Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, zentral. 2. Die semantische Funktion bezeichne die Ergänzungs-, Verstärkungs- oder Verdeutlichungsfunktion der nonverbalen Sprache bzw. ihre Abwandlungs- oder auch ins Gegenteil verkehrende Funktion. So könne das Nonverbale amplifizieren, illustrieren, stimulieren, modifizieren (z.B. entschuldigendes Lächeln bei einer Absage) oder widersprechen (z.B. durch überzogene Emphase zur Verdeutlichung der Ironie). 3. Die syntaktische Funktion komme zum Tragen bei der Regelung und Koordination des Auftretens von Zeichen in verschiedenen Kanälen im Zeitverlauf. 4. Die dialogische Funktion könne auch als Beziehungs- oder Relationsfunktion bezeichnet werden, da nonverbale Zeichen auf die Interaktion mitunter regulierend, steuernd oder gesprächsstrukturierend einwirkten, z.B. hinsichtlich der Statusbeziehungen (Über- und Unterordnung), der Intimität miteinander kommunizierender Personen oder der Reihenfolge des Sprechens. Diese „kommunikationsregulierende“ und „interpersonale“ Funktion nonverbaler Kommunikation dürfte beim seelsorgerlichen Besuch eine besondere Rolle spielen. 5. Die Attributions-Funktion nonverbaler Kommunikation erlaube Interagierenden eine möglichst präzise Attribution von Persönlichkeitsbezügen, emotionalem Befinden und Verhaltensabsichten des Gegenübers. Sie helfe, die voraussichtliche Reaktion des Interaktionspartners abzuschätzen und die eigene Verhaltensstrategie zu planen. Unter Rückgriff auf die Kommunikationstheorie Watzlawicks et al. lässt sich noch eine weitere Funktion beschreiben, nämlich die Problemlösefunktion. Diese muss vor dem Hintergrund der bereits zitierten These gesehen werden, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren. Hieraus ergebe sich eine Fülle möglicher Kommunikationsprobleme und ein unentwegter Problemlösedruck für die kommunizierenden Interaktionspartner. Träten demnach auf der Inhaltsoder Beziehungsebene Kommunikationsprobleme auf, etwa durch widersprüch739 Vgl. Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D., a.a.O., 23.
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liche Mitteilungen, so sei es möglich, diese durch das vieldeutige nonverbale Ausdrucksrepertoire „analoger“ Kommunikation zumindest dahin gehend zu lösen, dass die Aufrechterhaltung der Kommunikation gewährleistet werde. Watzlawick et al. veranschaulichen diese Möglichkeit am Beispiel der Entstehung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Delphin und Mensch mit Hilfe der Analogiekommunikation.740 Abschließend sei erwähnt, dass es mittlerweile einen Konsens der unterschiedlichen Forschungsrichtungen hinsichtlich der Bedeutung der kulturellen Dimension nonverbaler Kommunikation geben dürfte. Wie sehr der Gebrauch des Nonverbalen tatsächlich auch kulturabhängig ist, zeigt sich deutlich an Handbewegungen mit kulturell definiertem, genau abgegrenztem Bedeutungsgehalt (sog. Embleme). Ekman folgert aufgrund vergleichender Untersuchungen von Gesten, dass diese ebenso erlernt würden wie die Sprache.741 Die Bedeutung z.B. des Schulterklopfens, Kopfnickens, Augenzwinkerns usw. variiere von Kultur zu Kultur.742 Andere Studien legen wiederum die Vermutung nahe, emotionale Gesichtsausdrücke seien kulturunabhängig, da die Art und Weise, wie (nicht jedoch wann!) Emotionen mimisch ausgedrückt werden, in allen Kulturen gleich zu sein scheint.743 Es sei in diesem Zusammenhang allerdings noch einmal an Argyle erinnert, der die mimische Expression für kontrollierbar und anpassungsfähig hält und die Möglichkeit sieht, sie könne sowohl als ‚Mitteilung‘ als auch als ‚Zeichen‘ fungieren.
740 Vgl. Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D., a.a.O., 100ff. 741 Ekman, P., Three classes of nonverbal behavior, in: Raffler-Engel, W. (Hg.), Aspects of nonverbal communication, Lisse (1983), 83. 742 Vgl. auch Birdwhistell, R. L., Kinesik, in: Scherer, K. R./Wallbott, H. (Hg.), Nonverbale Kommunikation: Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten, Weinheim (1979), 192 – 202. 743 Vgl. Wahrlich, H., Wortlose Sprache – Verständnis und Mißverständnis im Kulturkontakt, in: Thomas, A. (Hg.), Kulturstandards in der internationalen Begegnung, Saarbrücken (1991), 13 – 39; Ekman, P., Zur kulturellen Universalität des emotionalen Gesichtsausdrucks, in: Scherer, K. R./Wallbott, H. (Hg.), Nonverbale Kommunikation: Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten, Weinheim (1979), 50 – 58.
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B. Methodologische Vorüberlegungen 1. Wissenschaftstheoretische Überlegungen – Angewandte Methoden – Vorgehen Die vorliegende Untersuchung erfolgt auf der Grundlage Qualitativer Sozialforschung744. Sowohl die Gewinnung des Materials („Daten“) als auch dessen Auswertung basieren auf diesem Forschungsdesign, das sich von quantitativen Methoden unterscheidet:745 Der qualitative Forschungsansatz orientiert sich nicht wie die positivistisch orientierte Soziologie an den Naturwissenschaften, so dass deren Methodologie mit ihren charakteristischen Verfahren der Isolation (Vorgänge werden aus ihrem Zusammenhang herausgelöst und einzeln bearbeitet), Mathematisierung (Erfahrung wird gewonnen durch Experiment) und Reproduzierbarkeit (Wiederholung von Beobachtung und Experiment) für die qualitative Sozialforschung nicht leitend ist. Da ihr Analysegegenstand der in einem sozialen Kontext lebende und handelnde und als soziales Individuum zu verstehende Mensch sei, müsse die Forschung sich vor allem für den subjektiven Sinn und die Beziehung zu anderen Individuen interessieren. So komme es auch nicht darauf an, generelle, das Handeln bestimmende Gesetzmäßigkeiten zu erforschen – die es zudem nicht gebe – sondern vielmehr auf „die für das Verstehen notwendigen Motive“. Die Kategorie der ‚Messbarkeit‘ kann demnach für die qualitative Sozialforschung nicht zentral sein, da es ihr vor allem darum geht, den subjektiven Sinn und die Bedeutung sozialer Phänomene zu erschließen und sie zu verstehen. Es wird angenommen, dass „sich soziale Sachverhalte nicht aus kruden Tatsachen zusammensetzen, aus gewissermaßen materiellen Dingen, die einer unmittelbaren sensuellen Erfahrung zugänglich sind“. Vielmehr komme es bei der Untersuchung solcher Phänomene entscheidend darauf an, den gesamten lebensweltlichen Erfahrungsschatz der untersuchten Gesellschaftsmitglieder und deren „common sense“ als Quelle, Gegen744 Näheres zu Methodologie, Methoden und Techniken der Qualitativen Sozialforschung vgl. Glaser, B. G./Strauss, A. L., The Discovery of Grounded Theory, Chicago (1979, 10. Aufl.); Lamnek, S., Qualitative Sozialforschung, Methodologie, Bd. 1, Weinheim (1995, 3. Aufl.); ders., Methoden und Techniken, Bd. 2, Weinheim (1995, 3. Aufl.); Girtler, R., Methoden der qualitativen Sozialforschung, Wien/Köln/Weimar (1992); Yin, R.K., Case Study Research, London/New Delhi (1994). Zu den in dieser Arbeit angewanden Verfahren der Typenbildung und der Inhaltsanalyse vgl. Kluge, S., Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung, Opladen (1999) und Mayring, Ph., Qualitative Inhaltsanalyse, Weinheim/Basel (1983). 745 Zum Folgenden vgl. Lamnek, S., a.a.O., Bd. 1.
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stand und Verifikationskriterium für die wissenschaftliche Erkenntnis zu berücksichtigen. Eine Beschränkung auf das ‚Positive‘ bzw. ‚Reproduzierbare‘ käme einer Schmälerung des Erkenntnisgewinns gleich. Die qualitative Sozialforschung erfordere notwendigerweise, die Rolle des Handelnden zu übernehmen und die Welt, so weit es geht, auch aus deren Perspektive zu betrachten. Aus dem Gesagten folgt, dass qualitatives und quantitatives Paradigma auch hinsichtlich des als notwendig erachteten Messniveaus als Grundlage für aussagekräftige Ergebnisse differieren: Während quantitative Untersuchungen nach hohen Skalen zur Untermauerung verlässlicher Ergebnisse streben, kommen qualitative mit geringen Datenmengen aus, die allerdings je nach Untersuchungsgegenstand mit unterschiedlichsten Methoden und Techniken gründlich bearbeitet werden. Ein zentrales Anliegen quantitativer Forschung sind generalisierende Aussagen über Verteilungen und Häufigkeiten sowie die Suche nach (reproduzierbaren) Gesetzmäßigkeiten; der qualitativen Fragestellung geht es hingegen nicht um derartig quantifizierbare Generalisierungen. Sie sucht vielmehr nach „generalistischen Existenzaussagen“, entwickelt Hypothesen, konstruiert Typen, deckt Strukturen auf, beschreibt Kategorien und erarbeitet Gemeinsamkeiten. Die qualitative Forschung beschreibt somit auf einer abstrakten Ebene Kategorien, Dimensionen oder Typen als Ausformung konkreter Handlungspraxis, ohne dass damit die Formulierung nomologischer Gesetze intendiert wäre. Eine „kollektive Verbindlichkeit“ solcher Abstrahierungen wird gleichwohl behauptet, jedoch nicht im Sinne einer (quantitativen) „Repräsentativität“, sondern vielmehr im Sinne einer „Repräsentanz“ bzw. einer „exemplarischen Verallgemeinerung“. Problematisiert wird von der qualitativen Methodologie auch die Rolle der Forschenden. Da jene in der quantitativ orientierten Herangehensweise vor Untersuchung des sozialen Feldes Hypothesen formulieren, die mit der empirischen Erhebung getestet (operationalisiert) werden, komme diese Forscherperspektive mit standardisiertem Instrument einem Oktroy gleich. Dass die quantifizierende Sozialforschung durch theoretische Vorüberlegungen, Standardisierungen (z.B. Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten) und Hypothesenbildungen einen Untersuchungsgegenstand im Grunde erst konstituiere, werde von ihr nicht (ausreichend) wissenschaftstheoretisch problematisiert. Auch gegen die angestrebte große Distanz der Forschenden zum Gegenstand ihrer Untersuchungen wird von der qualitativen Schule eingewandt, die Forschenden glaubten sich mit dieser Standardisierung der Erhebungsmethoden der Notwendigkeit enthoben, in das zu untersuchende Feld zu gehen, mit ihm in (engen) Kontakt zu treten und sich notwendige Kenntnisse desselben anzueignen. Der Trend zur Quantifizierung müsse folglich ein „vermindertes Verständnis der empirischen sozialen Welt“ zur Folge haben. Der Forschungskontext 183
werde ausgeblendet, obwohl dieser „in den gegenseitigen Determinationen des Handelns von Forscher und Untersuchten“ zu sehen sei. Auch wertet die qualitative Methodologie diesen Kontext als „prinzipielle Voraussetzung von Erhebung, Analyse und Interpretation“, die auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben dürfe. Die qualitative Forschung sucht deshalb den Kontakt mit der Welt des Untersuchungsgegenstandes. Sie geht sogar davon aus, dass die Fähigkeiten der Forschenden für das Verständnis eines Sachverhalts förderlich und entsprechend eine Verringerung der Distanz zwischen Forschendem und untersuchtem Gegenstand zur wissenschaftlichen Erfassung eines Phänomens günstig seien. Demzufolge wird auch die „Subjektivität“ der Forschenden im qualitativen Forschungsdesign thematisiert und ausdrücklich begrüßt. Gemeint ist damit allerdings nicht, dass die qualitative Sozialforschung ein unreflektiertes, voreingenommenes oder unwissenschaftliches Vorgehen billigend in Kauf nimmt. Es wird vielmehr die Tatsache anerkannt, dass ein Vorverständnis bei jedem Forschungsvorgang – also auch dem quantitativen – stets mitgebracht wird. Die reine ‚Objektivität‘, wie im quantitativen Paradigma erstrebt, könne es gar nicht geben, da ein gewisses Vorverständnis jede Interpretation beeinflusse. Es sei sogar davon auszugehen, dass ein bestimmtes Vorverständnis „grundsätzlich notwendig ist, um überhaupt einen Sachverhalt interpretieren zu können“. Diese Sicht mache freilich nicht das Bemühen obsolet, störende subjektive Voreingenommenheit bewusst zu machen und möglichst durch geeignete Verfahren auszuscheiden. Eine größtmögliche Offenheit, die eine ständige Modifikation des Vorverständnisses erlaube, müsse das Ziel sein. Eine soziale und kommunikative Beziehung zum Forschungsgegenstand, die sich geeigneter methodischkritischer Techniken zu bedienen weiß, berge somit auch Chancen für den Erkenntnisgewinn. Erst über das Kennenlernen der spezifischen, für die betreffende Gruppe wichtigen (sprachlichen) Symbole lasse sich ein Zugang zu ihrem Denken und ihrer Kultur finden.746 Das Alltagswissen der Forschenden spiele daher „bei der Forschung eine wesentliche Rolle“.747 Dieser Ansatz spielt auch für die vorliegende Untersuchung eine Rolle, da in der inhaltsanalytischen Auswertung748, bei der externes Material zur Interpretation der Daten herangezogen wird, der Autor dieser Arbeit mit seinem Alltagsund Fachwissen entscheidet, welche Informationen aus weiteren Kontexten geeignet sind, die Bedeutung des Beobachteten näher zu erläutern, zu erklären und auszudeuten.
746 Girtler, R., a.a.O., 34. 747 Ebd., 29. 748 Vgl. II.C.2.
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Während die quantitative Forschung, wie schon erwähnt, Theorie prüfend bzw. Hypothesen falsifizierend/verifizierend vorgeht, strebt die qualitative nach Theorieentwicklung. Das geschieht in beiden Verfahren auf unterschiedlichem Wege: Die quantitative Methode geht deduktiv, die qualitative induktiv vor. Einmal führt es die Forschung also von der Hypothese zum Gegenstand (deduktiv), ein anderes Mal von der Beobachtung zur Theorie (induktiv). Im Forschungsdesign der beiden Methoden liegt der Schwerpunkt des Interesses dementsprechend entweder auf einer ätiologischen (quantitativer Ansatz) oder auf einer interpretativen (qualitativer Ansatz) Fragestellung. Das quantitative Paradigma interessiert sich für das Warum, das qualitative hingegen für das Wie oder Wozu. Auf der Basis der formulierten Ansätze lassen sich folgende Prinzipien des methodologischen Vorgehens qualitativer Forschung benennen: 1. Das Prinzip der Offenheit: Im Unbehagen an einer Sozialforschung mit standardisierten Erhebungsinstrumenten, vorab formulierten Hypothesen und einer positivistischen Verengung der Betrachter-Perspektive strebt das qualitative Paradigma eine größtmögliche Offenheit an. Diese erstreckt sich sowohl auf die Untersuchungspersonen als auch die Untersuchungssituation sowie die einzelnen anzuwendenden Methoden. Aus dem Prinzip der Offenheit ergibt sich auf methodologischer und wissenschaftstheoretischer Ebene die Konsequenz einer Betonung der Explorationsfunktion qualitativer Sozialforschung sowie der Verzicht auf eine Hypothesenbildung ex ante. Sozialforschung wird weitgehend als Exploration verstanden mit dem Ziel einer ausführlichen Erkundung des Feldes sowie einer gründlichen Durchdringung des Gegenstandsbereiches. Die angestrebte Offenheit bringt eine „zum methodischen Prinzip erhobene Verzögerung der theoretischen Strukturierung“ mit sich, die den Prozess der Hypothesen-Entwicklung erst mit dem Ende des Untersuchungszeitraums abgeschlossen sein lässt. 2. Das Prinzip Forschung als Kommunikation: Wie schon deutlich geworden sein dürfte, wird Forschung im qualitativen Verständnis gedeutet als Kommunikation und Interaktion zwischen Forschendem und zu erforschendem Gegenstand. Dies bedeutet, dass eine – wie von der quantitativen Forschung postulierte – Unabhängigkeit zwischen Forschung und Daten als Fiktion verworfen und auch nicht als erstrebenswert angesehen wird. Ein „kommunikativer Grundcharakter“ ist für die qualitative Sozialforschung charakteristisch. Dies bedeutet, dass „das informierende Gesellschaftsmitglied als prinzipiell orientierungs-, deutungs- und theoriemächtiges Subjekt“ gesehen wird. Mit seinen Definitions- und Interpretationsleistungen deute es nicht nur die ihm zugängliche Wirklichkeit, sondern konstituiere sie auch. Jede Beschreibung von Sach185
verhalten stehe demnach bereits im Lichte von Theorien, so der qualitative Ansatz. Eine theorieunabhängige Beobachtungsaussage könne deshalb gar nicht existieren. Wenn demnach weder die Informationen der Untersuchten, noch die Urteile der Forschenden als theorieunabhängige, verlässliche Aussagen über die Wirklichkeit behandelt werden können, rücke für die qualitative Sozialforschung entsprechend die Notwendigkeit des „gegenseitigen Aushandelns der Wirklichkeitsdefinition zwischen Forscher und Erforschtem in den Mittelpunkt des Interesses, also ihre kommunikative Interaktion“. 3. Das Prinzip des Prozesscharakters von Forschung und Gegenstand: Dieses Prinzip beinhaltet zwei Aspekte: Erstens trägt es dem kommunikativen Charakter des Forschungsprozesses – wie eben dargestellt – Rechnung; zweitens ist es der Prozesshaftigkeit sozialer Phänomene geschuldet. Mit anderen Worten: Das Prinzip trägt der Tatsache Rechnung, dass „die Verhaltensweisen und Aussagen der Untersuchten nicht einfach als statische Repräsentationen eines unveränderlichen Wirkungszusammenhanges, sondern als prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion von sozialer Realität“ zu verstehen sind. Die Verhaltensweisen der untersuchten Personen sowie die im sozialen Feld beobachteten Phänomene unterliegen, da es sich bei ihnen um lebende Subjekte handelt, einem Wandel, werden reproduziert und modifiziert durch Handeln und Deuten der sie praktizierenden Gesellschaftsmitglieder, so dass die durch Forschung aufgedeckten Muster und Strukturen nicht per se existieren, sondern allein durch ihre Anwendung. Einem statischen Verständnis sozialer Phänomene wird damit gewehrt, der Prozessualität ihres Zustandekommens entsprechend Rechnung getragen. 4. Das Prinzip der Reflexivität von Gegenstand und Analyse: Hinter diesem Prinzip verbirgt sich die Grundannahme des qualitativen Paradigmas, den Bedeutungen von menschlichen Verhaltensweisen – seien sie sprachlicher (Symbole, Deutungen, Sprechakte) oder nonverbaler Natur (Gesten, Handlungen) – eine prinzipielle Reflexivität zu unterstellen. Mit anderen Worten: Es wird angenommen, dass „jede Bedeutung kontextgebunden und jedes Zeichen Index eines umfassenderen Regelwerkes ist“. Damit aber verweist jede Bedeutung reflexiv auf das Ganze und die Bedeutung einer Verhaltensweise oder des sprachlichen Ausdrucks wird nur im Rekurs auf den (symbolischen oder sozialen) Kontext verständlich. Damit ergibt sich ein zirkuläres Verhältnis von Sinnkonstitution und Sinnverstehen, da jede Bedeutung auf alle anderen Bedeutungen verweist und das Verständnis eines einzelnen Phänomens das Verständnis des Kontextes voraussetzt. Ein hermeneutischer Zirkel im Interpretationsvorgang ist die Folge, bei dem es zu einem Hin- und Herpendeln zwischen den Größen Phänomen, Kontext und Vorverständnis des Forschenden kommt. In
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dieser vierten Regel zeigt sich abermals der kommunikative Charakter des Forschungsvorgangs. 5. Das Prinzip der Offenlegung aller Einzelschritte des Untersuchungsprozesses: Dieses sichert die Nachvollziehbarkeit der Interpretation und somit die Intersubjektivität des Forschungsergebnisses. 6. Das Prinzip der Flexibilität: Diese Regel erlaubt den Einsatz einer Vielzahl von Forschungstechniken, die zudem im Laufe einer Untersuchung flexibel eingesetzt und dem jeweiligen Erkenntnisfortschritt bei Bedarf angepasst werden können. Ein flexibles (methodisches) Reagieren auf neue Erkenntnisse oder Entwicklungen wird somit möglich im Gegensatz zu den „harten“ und „starren“ quantitativen Methoden, die von vornherein ein klar umrissenes, wenig „offenes“ Erkenntnisziel verfolgen. Die aufgeführten Prinzipien qualitativer Sozialforschung, insbesondere das erstgenannte Prinzip der Offenheit, implizieren die Möglichkeit eines multimethodischen und multiperspektivischen Vorgehens, das in der amerikanischen Soziologie unter dem Begriff Triangulation bekannt ist. Diese setzt voraus, dass kein grundsätzlicher und genereller Prioritätenanspruch der einen gegen die andere Methode geltend gemacht werden kann und dass es sich bei der Erforschung einiger Phänomene mitunter als sinnvoll erweist, einen Methodenmix anzuwenden. Ein solcher bietet sich gerade auch bei Einzelfallstudien an. Das bedeutet, dass auch quantifizierbare Verfahren bzw. Gesichtspunkte in das qualitative Design einfließen können, wie etwa die Berücksichtigung von Ausprägungsgraden oder Häufigkeiten innerhalb des untersuchten Materials. Triangulation zielt darauf ab, Schwächen und Verzerrungspotenziale einzelner Methoden zu minimieren, breitere und profundere Ergebnisse zu erzielen, eine höhere Adäquanz zu erreichen, eine möglichst holistische Sicht auf die untersuchten Phänomene zu eröffnen und das jeweilige Feld multiperspektivischgründlich zu explorieren. Obgleich die qualitative Sozialforschung nur geringe Datenmengen benötigt, die für ein quantitatives Forschungsvorhaben als unzureichend angesehen werden müssten, erhebt sie durchaus, wie schon gezeigt, einen Generalisierungsanspruch. Die rekonstruierten Deutungs- und Handlungsmuster sollen als „typisch“ für jene sozialen Gruppierungen gelten, denen die Untersuchten angehören. Dementsprechend kommen andere Methoden und Techniken zur Anwendung als im quantitativen Forschungsdesign, wie etwa die Einzelfallstudie, qualitative Interviews, Gruppendiskussionen, Inhaltsanalyse, (teilnehmende)
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Beobachtung, qualitatives Experiment oder die biografische Methode.749 Eine Möglichkeit dieser Form von Verallgemeinerung ist die Konstruktion von Idealtypen. Ein Idealtypus wird gewonnen durch Überprüfung von Ähnlichkeiten und Gegensätzen. Er stellt eine „auf Vergleichen am empirischen Material basierende ‚reine‘ Theorie (dar), die probeweise im Denken nicht wesentliche Elemente weglassen kann“. Indem durch eine „interindividuelle Komparation“ in vorliegender Studie, also einen Vergleich der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger, deren Gemeinsamkeiten beschrieben werden, wird die Konstruktion eines idealen Typs oder weiterer Typen (Extrem-, Durchschnitts-, Häufigkeitstypen) möglich. Die wohlbegründete Scheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem ist dabei ein wichtiges Mittel der Typenbildung; ein Vorgang, der auch als „typologische Operation der Reduktion“ (Kluge) bezeichnet wird. Typen sind demnach zu verstehen als Darstellungs- und Interpretationsformen empirisch wiederkehrender Phänomene unter bestimmten Relevanz-Setzungen. Sie bestehen aus einer potenziell unendlichen Zahl an Merkmalen und Merkmalskombinationen, deren Legitimität bzw. Sinnhaftigkeit sich im Laufe des Forschungsprozesses erweisen muss. Schlüsselkategorien, die für das empirische Material besonders signifikant sind und dieses in prägnanter Weise zu organisieren scheinen, spielen zur Konstruktion solcher Typen eine entscheidende Rolle. Es muss jedoch betont werden, dass für die Gültigkeit von entdeckten Kategorien und konstruierten Typen nicht die Häufigkeit ihres empirischen Auftretens ausschlaggebend ist. Sie stellen vielmehr empirisch als auch theoretisch begründete Aufschlüsselungen und Strukturierungen des vorgefundenen Materials dar, die entsprechend des qualitativen Forschungsansatzes immer auch anders dimensioniert und strukturiert werden könnten. Da das qualitative Paradigma nicht von einem erkenntnistheoretischen Korrespondenzkriterium ausgeht, kann auch nicht von einer mehr oder weniger getreuen Abbildung „wahrer“ Strukturen gesprochen werden. Vielmehr kommt es darauf an zu veranschaulichen, wie die theoretischen Dimensionierungen der Empirie gerecht werden und diese angemessen theoretisch beschreiben. Der Prozess der Typenbildung wird in dieser Untersuchung, die einen Beitrag zur Seelsorgetheorie leisten möchte, leicht modifiziert: Auf der Suche nach (Schlüssel-) Kategorien scheint es sinnvoll, sich innerhalb des theologischen Referenzsystems zu bewegen und Typen unter Rückgriff auf theologische Begrifflichkeit und Interpretationsmuster zu bilden. Das Verfahren des „offenen“ oder „axialen“ Kodierens, bei dem im qualitativen Verfahren Kategorien („Codes“), Eigenschaften, Strukturen, Sinngefüge, Ausprägungen usw. zu
749 Vgl. Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2.
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gewinnen sind, wird in dieser poimenischen Arbeit demnach eingegrenzt auf das in theologischen Konzepten Beschreibbare. Um nonverbales Verhalten zu erforschen, war eine adäquate Methode aus dem umfangreichen methodischen Repertoire der qualitativen Sozialforschung auszuwählen. Es bot sich die (vielfach in der Ethnologie und Kulturanthropologie eingesetzte) Beobachtung an, in der wiederum zwischen verschiedenen Formen unterschieden werden kann (strukturiert/unstrukturiert, offen/verdeckt, teilnehmend/nicht teilnehmend, aktiv/passiv teilnehmend, direkt/indirekt, Feld/Laborbeobachtung). Diese Methode eignet sich besonders zur Erforschung natürlicher Lebenswelten. Strukturiert war mein Vorhaben insofern, da im Voraus Beobachtungskategorien festgelegt wurden, nämlich die Fokussierung auf bestimmte Kategorien nonverbalen Verhaltens. Die offene Beobachtung wurde insbesondere aus ethischen Gründen bevorzugt. Der Grad der Verfälschung des Beobachteten dürfte unerheblich sein, wie viele vergleichbare Untersuchungen belegen, da die Beobachteten im Verlauf der Interaktion bald vergessen, dass ein Außenstehender die Situation verfolgt.750 Um – wie im qualitativen Paradigma erstrebt – ein hohes Maß an Authentizität und Naturalizität zu gewährleisten, schied eine Teilnahme des Forschers am zu erforschenden Gegenstand aus (etwa indem – wie in der ethnologischen Feldforschung vielfach üblich – der Beobachter der seelsorgerlichen Besuchssituation beiwohnt als ein weiterer Teilnehmer). Das qualitative Paradigma ermöglicht die Untersuchung kleiner Quantitäten bzw. „Fälle“. Die Fallstudie751 (sei es als single- oder multiple-case-study) gehört zu den gängigen Untersuchungsformen (approaches) dieses nicht quantitativen Forschungsansatzes. Fallstudien bieten sich an bei beschreibenden und/oder erklärenden Fragestellungen752, wie sie auch dieser Untersuchung zugrunde liegen. Auch eignet sie sich in besonderer Weise zur Erforschung psychologischer und sozialer Phänomene753 und bietet den Vorteil, in einem überschaubaren Zeitraum durchgeführt werden zu können.754 Die Fallstudie dient hier der Hypothesenentwicklung als einer von fünf Möglichkeiten zur
750 Vgl z.B. Sachweh, S., a.a.O., 67; oder Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, Göttingen (1996), 132 (dort auch weitere Literaturangaben zum Problem der Beobachtung bei empirischen Untersuchungen). 751 Yin, R. K., a.a.O., 14. 752 Yin unterscheidet drei Typen von Fallstudien: „Exploratory“, „descriptive“ sowie „explanatory“ case studies, ebd., 4. 753 Ebd., 1. 754 Ebd., 10f.
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Erforschung einzelner Phänomene.755 In der Regel haben Fallstudien Personen zum Gegenstand756, so dass sich dieses Vorgehen auch zur Untersuchung der Heimseelsorge am Beispiel des nonverbalen Verhaltens anbietet. Dabei ist die Fallstudie im qualitativen Design prinzipiell offen für alle Methoden und Techniken, die oben beschrieben wurden.757 Sie eignet sich auch insofern, als diese Arbeit seelsorgetheoretische Postulate formulieren will, die als Variante der „Hypothese“ verstanden werden können. Die gefertigten Videobänder wurden von mir auf DVD und Festplatte übertragen, so dass eine Sichtung des Materials unter Zuhilfenahme eines geeigneten Computerprogramms (Video deluxe 2004/2005 plus, mit Zoom- und Zeitlupenfunktion sowie diversen Bildbearbeitungsmöglichkeiten) möglich war. In einem ersten Schritt wurden die Besuche transkribiert, zu einem Text geformt und die beobachteten Kommunikationsfiguren in einer tabellarischen Darstellung erfasst. Diese orientiert sich an den von Argyle758 unterschiedenen Körpersignalen Gesichtsausdruck, Blick, Gesten/Körperbewegungen, Körperhaltung, Körperkontakt sowie räumliches Verhalten. Unberücksichtigt bleiben mussten jedoch die prosodischen Merkmale (und damit die nonverbalen Aspekte) der Rede wie zeitliche Abstimmung, Tonhöhe oder Lautstärke. Diese hätten den Umfang der Arbeit deutlich überschritten, sie werden zudem in Sachwehs759 Untersuchung zur Kommunikation in der Altenpflege ausführlich beschrieben. Zur Transkription wurde das Material viele Male (z.T. unter Beteiligung mehrerer Personen) durchgesehen, so dass eine möglichst exakte Erfassung der vorkommenden Interaktionsweisen sichergestellt wurde. Selbst wenn minimale Abweichungen (z.B. durch Übersehen) vom tatsächlichen Datenbestand unterstellt werden sollten, dürfte die Differenz nicht ins Gewicht fallen, da sie an den ermittelten Tendenzen, um die es zur Benennung von (Extrem-, Ideal-, Durchschnitts-, oder Häufigkeits-)Typen in der qualitativen Sozialforschung geht,760 nichts ändern würden. Bei der Erfassung der Mimik stellte sich bald ein Problem ein, da sich zeigte, wie schwer es ist, zwischen unterschiedlichen mimischen Ausdrucksweisen zu differenzieren: Zu fließend sind die Übergänge, zu vielfältig die Ausdrucksmöglichkeiten. So beschränkte sich die Auswertung auf eine grobe dreifache Unterscheidung (interessiert/konzentriert/ernst, freundlich bis lächelnd sowie 755 756 757 758 759 760
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Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 11f. Ebd., 5. Ebd., 7. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation. Sachweh, S., a.a.O. Vgl. Lamnek, S., a.a.O., Bd. 1, 239.
offen lachend), da das mimische Spektrum des Menschen mit etwa 1000 Varianten761 eine ganz eigene Analyse und Methodik erfordert und ebenfalls den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. Bei der Messung des Nähe- und Distanzverhaltens handelt es sich um Schätzungen, die jedoch einigermaßen genau den tatsächlichen Abstand zwischen Besucher und Besuchtem wiedergeben. Die tabellarische Darstellung der Kommunikationsweisen bedient sich des Zeitreihenprinzips762 und lässt erkennen, an welcher Stelle des Besuchsverlaufs, in welchem Umfang und mit welchen anderen Figuren die Interaktionsweisen auftraten. Für alle fünf Beobachteten wurde ein solches Protokoll erstellt, dem zugleich einleitende Informationen zum jeweiligen Besuch (z.B. Alter des/der Besuchten und Aufenthaltsdauer, Grad der Pflegebedürftigkeit usw.) vorangestellt sind. In einem zweiten Schritt wurde das transkribierte Material unter dem Gesichtspunkt der Quantität abermals gesichtet763, indem die Eintragungen des Zeitreihenprotokolls in einer weiteren tabellarischen Übersicht zusammengefasst wurden, so dass noch anschaulicher wird, mit welcher Ausprägung die Interaktionsfiguren in Erscheinung traten (Frequenzanalyse764). Abschließend wurde auch hier für jede bzw. jeden der fünf Besuchenden eine – nicht tabellarische – Zusammenfassung der Ergebnisse erstellt, die einen schnellen Überblick erlaubt und zeigt, welche Charakteristika für jeden einzelnen Seelsorger, jede einzelne Seelsorgerin als typisch gelten können,765 wobei den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Besuche – ganz im Sinne des qualitativen Paradigmas – besondere Aufmerksamkeit zukommt. Schließlich wurde es möglich, in einem dritten Schritt erste Vergleiche zwischen den Seelsorgenden anzustellen mit dem Ziel, wesentliche Merkmale der jeweiligen seelsorgerlichen Interaktion herauszufiltern, die später die Konstruktion von Typologien erlauben. Eine Synopse766 gibt einen ersten Überblick. In einem vierten Schritt wurden die Daten zusammengefasst, inhaltsanalytisch bearbeitet und zu einer Explikation ausgeweitet. Die Aufgabe der Inhaltsanalyse kann wie folgt beschrieben werden: 761 762 763 764 765
Vgl. Ekman, P., Gesichtsausdruck und Gefühl. Die siebenspaltigen Tabellen entfalten sich im 30-Sekunden-Takt. Vgl. Materialband. Zur Frequenzanalyse vgl. auch Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 191f. Die tabellarischen und nicht tabellarischen Zusammenfassungen der Quantitätenmessung, der Zählung der gesprochenen Wörter und die synoptische Darstellung der Kommunikationsweisen finden sich als ein Abschnitt im laufenden Text, während das übrige Material als Anhang (Materialband) beigegeben ist. 766 Vgl. II.C.1
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„Die Inhaltsanalyse setzt an einem geradezu trivial klingenden Sachverhalt an. ‚In dem, was Menschen sprechen und schreiben, drücken sie ihre Absichten, Einstellungen, Situationsdeutungen, ihr Wissen und ihre stillschweigenden Annahmen über die Umwelt aus. Diese Absichten, Einstellungen usw. sind dabei mitbestimmt durch das soziokulturelle System, dem die Sprecher und Schreiber angehören und spiegeln deshalb nicht nur Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern auch Merkmale der sie umgebenden Gesellschaft wider ...‘ Um eben solche Rückschlüsse von sprachlichem Material auf nichtsprachliche Phänomene geht es bei der Inhaltsanalyse; das ist – grob skizziert – ihre Aufgabe“.767
Ziel der Inhaltsanalyse ist es somit, verschiedene Schichten des durch Transkription des Bildmaterials gewonnenen ‚Textes‘ zu erschließen und so seinen primären und latenten Inhalt zu erfassen.768 In diesem vierten, explikativen Auswertungsvorgang wurde entsprechend zu einzelnen interpretationsbedürftigen bzw. –würdigen Textstellen weiteres Material herangezogen, um „dieses zu erklären, verständlich zu machen, zu erläutern, zu explizieren“769, wobei noch einmal zwischen „innerem“ (aus dem Textkontext/Datenbestand stammendem) und „äußerem“ (aus anderen Quellen stammendem, externem) Material zu unterscheiden ist. Diese Explikation wurde allerdings zweimal durchgeführt, in der bereits erwähnten Annahme, dass die Elemente der nonverbalen Interaktion nicht nur einen psychologisch-kommunikativen, sondern zugleich einen theologischen Sachaspekt besitzen: Im ersten Durchlauf (erste Explikation) wurden die Interaktionsweisen deshalb unter einer psychologisch-kulturellen, im zweiten unter einer theologisch-poimenischen (zweite Explikation) Perspektive beleuchtet. Der Arbeitsgang der beiden inhaltsanalytischen Durchläufe schließt mit einer den nächsten Schritt vorbereitenden zusammenfassenden Gesamtauswertung, in der das Datenmaterial aufgrund bestimmter Kriterien und Strukturierungsgesichtspunkte ein weiteres Mal gesichtet wird, bevor es zur abschließenden Ausarbeitung von Typologien kommt. Diese werden, wie bereits erwähnt, gebildet unter Rückgriff auf theologische Interpretationsmuster. Am Ende steht schließlich die Konstruktion eines Idealtyps, der gewonnen wird durch den Versuch, von Zufälligkeiten oder peripheren Merkmalen abzusehen und durch Konzentration sowie einseitige Übersteigerung bzw. Zuspitzung der als wichtig angesehenen Anteile zu einer Abstraktion eines solchen
767 Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 172. 768 Mayring, Ph., a.a.O. 769 Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 210.
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Typus zu gelangen.770 Dieser mag als Anhaltspunkt oder Folie zur Beschreibung weiterer Typen (Extrem-, Proto-, wichtiger Typen) bzw. seelsorgerlicher Besuchsgestalten künftiger Untersuchungen dienen. Als Typus wird hier eine Kombination verschiedener Merkmale verstanden, die sich in einem Wechselspiel zwischen empirisch Beobachtbarem und theoretischer Abstrahierung im Laufe des Arbeitsprozesses herausdestillierte.771 Für die Gültigkeit der eruierten Elemente und Kategorien eines Typus ist dabei nicht die Häufigkeit ihres empirischen Auftretens entscheidend. Vielmehr stellen diese empirisch wie theoretisch begründete Aufschlüsselungen bzw. Strukturierungen des gesichteten Materials dar, das – ganz im Sinne des qualitativen Forschungsdesigns – durchaus unterschiedlich dimensioniert, strukturiert und interpretiert werden kann. Der erarbeitete Idealtypus der seelsorgerlichen Interaktion ist demgemäß nicht als eindeutige Abbildung „wahrer“ Strukturen in naturwissenschaftlichem oder quantitativem Sinne zu verstehen, sondern als Darstellungs- und Interpretationsform empirisch wiederkehrender Aspekte menschlichen Handelns unter bestimmten Betrachtungsweisen. In diesem Zusammenhang kommt der Explikation eine wichtige Funktion zu, da sie die qualitative Bedeutung eines Elements anders zu erfassen vermag, als es einer quantitativen Messung möglich wäre. Beide Betrachtungsweisen fließen jedoch in die Ermittlung eines als wichtig erachteten Merkmals mit ein.
2. Erhebung der Daten Zur Erhebung der Daten begleitete ich jeweils einen Tag lang im April und Juni 2004 fünf hauptamtlich in Pflegeheimen unterschiedlicher Trägerschaft tätige Seelsorgerinnen und Seelsorger (zwei Frauen, drei Männer) im Alter zwischen 45 und 62 Jahren. Es ergab sich, dass diese Personen eine recht repräsentative Gruppe bildeten, was Geschlecht, Alter, Ausbildung, beruflichen Werdegang und Trägerschaft der jeweiligen Pflegeeinrichtung angeht, so dass die Repräsentativität der Stichprobe – wie für die qualitative Fallstudie erstrebt772 – gegeben war. Die Damen und Herren hatten sich aufgrund meiner Anfrage bei zwei Landeskirchenämtern bereit erklärt, an der Studie teilzunehmen. Informationen über die Methodik der Untersuchung waren ihnen zugegangen. Sie wussten, dass ihre Besuche bei Pflegebefohlenen mit einer handlichen Videokamera (Panasonic NV-GS10, 11 x 7,5 cm) aufgezeichnet werden sollten, nicht jedoch, worauf das 770 Ebd., 389. 771 Vgl. Kluge, S., a.a.O. 772 Vgl. Lamnek, S., a.a.O.,Bd. 2, 23f.
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Hauptinteresse bei der Auswertung lag (nonverbale Interaktion), um nicht eine Selbstreflexion durch ein solches Wissen um den Fokus der Analyse auszulösen und dadurch die Natürlichkeit des Verhaltens zu verfälschen. Sie waren gebeten worden, mich teilhaben zu lassen an Besuchen, so wie sie sie auch sonst abstatteten, die Länge des einzelnen Besuches sowie die Anzahl der Besuche insgesamt sollten keine Rolle spielen. Es käme mir vor allem darauf an, typischen Situationen und Besuchen beizuwohnen. Ausgehend von der Annahme, dass der Anteil der Schwerstpflegebedürftigen (Pflegestufe III) und Bettlägerigen in Heimen künftig weiter zunehmen wird,773 bat ich die Seelsorgerinnen und Seelsorger allerdings darum, dass unter den Besuchten möglichst auch Schwerstpflegebedürftige und Bettlägerige wären. Insgesamt wurden 34 Besuche bei Bettlägerigen (= gut 75 %) aufgezeichnet, 11 bei nicht Bettlägerigen, wobei zu den Bettlägerigen nur diejenigen gezählt wurden, die (in Schlafbekleidung) unter einer Bettdecke liegend angetroffen wurden.774 Bis auf zwei Situationen, bei denen einige im Tagesraum sitzende Damen besucht wurden775, spielten sich alle anderen Begegnungen in Ein- oder Zweibettzimmern ab. Diese Mischung der unterschiedlichen Personengruppen (Bettlägerige/nicht Bettlägerige) und Situationen (Besuch am Bett/im Tagesraum) erlaubt einen vagen Vergleich der Besuche, obwohl auf diesem nicht der Schwerpunkt der Fragestellung liegt. Meinen Besuchen in den Pflegeheimen gingen vorbereitende Telefonate voraus, in denen praktische Fragen besprochen wurden. Nach meiner Ankunft im jeweiligen Pflegeheim habe ich zunächst mindestens eine gute Stunde mit den Besuchenden gesprochen, mir von ihnen und ihrer Arbeit erzählen lassen, mich selbst vorgestellt, um die Situationen zu entspannen und Vertrautheit zu wecken, so dass die dokumentierten Besuche in möglichst unverkrampfter Atmosphäre stattfinden konnten. Auch bekräftigte ich meine Zusage, dass es mir nicht um eine Bewertung gehe, die qualitative Herangehensweise ergebnisoffen sei und ich ohne vorgefasste Hypothesen meine Beobachtungen durchführen würde. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger hatten zuvor sichergestellt, dass die notwendigen Genehmigungen von den Besuchten, oder – sofern diese nicht mehr in der Lage waren für sich selbst zu sprechen – den jeweils Bevollmächtigten eingeholt wurden. Es war ihnen versichert worden, dass insbesondere die besuchenden Seelsorger bzw. Seelsorgerinnen ins Bild kämen, die Kamera mit größtmöglicher Diskretion aufzeichnen würde, und die Aufzeichnungen nicht 773 Vgl. I.B.1. 774 Die Besuche SII-6 sowie SII-10 wurden also nicht dazugerechnet. 775 Vgl. SII-1 bis 4, sowie SIII-5.
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für die Öffentlichkeit bestimmt wären, sondern lediglich für eine Auswertung durch mich und evtl. die am akademischen Verfahren Beteiligten. Nicht von allen Besuchten sind die Gesichter zu erkennen, manche Pflegebedürftige kommen nur mit dem Seitenprofil oder Hinterkopf ins Bild, da die Kamera z.T. seitlich hinter ihrem Bett stehend filmte oder es aufgrund zu großen Abstands zwischen den Interagierenden nicht immer gelang, beide gleichzeitig ins Bild zu nehmen. Diese minimale Einschränkung der Sicht, die gelegentlich zu einem Verzicht auf das Erfassen der Mimik der Pflegebefohlenen führt, wurde aus zwei weiteren Gründen bewusst in Kauf genommen: Zum einen sollten die Besuchten vor einer allzu aufdringlich wirkenden Beobachtung geschützt werden, zum anderen sollte sichergestellt sein, dass wenigstens die Besuchenden mit ihrem Gesicht ins Bild kommen, da der Schwerpunkt des Projekts ja auf deren Selbstdarstellung liegt. So entschied ich von Fall zu Fall intuitiv, wie stark mein Erscheinen im Blickfeld der besuchten Person als zu aufdringlich empfunden werden könnte. Stets sind jedoch Kopf, Nasenspitze oder Kinn der Pflegebedürftigen zu sehen, so dass zumindest das Nähe- und Distanzverhalten der Seelsorgenden erfasst wird. Alle Heime wurden um Erlaubnis für die Durchführung der Untersuchung gebeten. Die Benutzung eines Stativs zur Minimierung der Beobachtungssituation schied – obwohl anfänglich erwogen – aus, da sich zeigte, dass viel Bewegung in den Besuchen war. Die Kamera auf einem Stativ hätte darauf nicht reagieren können. Die Namen der Pflegebefohlenen und der sie Besuchenden wurden für diese Untersuchung geändert.
3. Die Pflegebefohlenen und die Besuchskonstellationen Da die beobachteten Seelsorger und Seelsorgerinnen bereits mehrere Jahre in ihren jeweiligen Pflegeheimen tätig sind, waren ihnen fast alle Personen bekannt, die mit mir besucht wurden. Dokumentiert ist nur ein einziger Erstbesuch.776 Besucht wurden 36 Frauen (= 80 %) sowie 9 Männer (20 %), was ziemlich exakt die Verteilung der Geschlechter im Pflegeheim widerspiegelt.777 Von den besuchten Pflegebefohlenen wusste ich zuvor nur wenig oder gar nichts, da sich die Besuche zum Teil sehr spontan ergaben und nicht abzusehen 776 IV-4. 777 Vgl. Kapitel I.B. 14 [‚Feminisierung’]: 79 % der im Heim Lebenden sind Frauen.
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war, wer in seinem Zimmer angetroffen werden würde oder ob ein Besuch zu dem geplanten Zeitpunkt ungünstig wäre. Erst im Laufe des Besuches erfuhr ich u.U. ein wenig von den Besuchten. Da der Fokus der Untersuchung jedoch auf der seelsorgerlichen Interaktion der Seelsorgerinnen und Seelsorger liegt, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, detaillierte Angaben zu den pflegebedürftigen Damen und Herren zu machen. Einige Angaben finden sich jedoch in den Zeitreihenprotokollen des Materialbandes, denen jeweils eine knappe Beschreibung der Besuchssituation unter Anonymisierung der Besuchten vorangestellt ist.
4. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger 4.1. Seelsorgerin I (Sozialpädagogin Braune) Seelsorgerin Braune, 56, ist seit 5 Jahren in einem staatlichen Pflegeheim (rund 200 Pflegebefohlene) einer Großstadt tätig. Sie ist keine ordinierte Pastorin, sondern Sozialpädagogin, die vor einigen Jahren den Weg in die kirchliche Seelsorgearbeit fand. Bevor sie die (halbe) Stelle in der Pflegeheimseelsorge antrat, war sie 7 Jahre lang im Krankenhaus tätig. Ihre Stelle liegt in der Trägerschaft der evangelischen Kirche, wird aber refinanziert aus verschiedenen anderen Quellen, darunter auch öffentlichen (ein Viertel der Stelle). Daher ergibt sich, analog zur Pflegedokumentation, die Notwendigkeit, gegenüber den öffentlichen Stellen die eigene Arbeit zu dokumentieren – eine nicht ganz einfache Situation für die Seelsorgerin. Es gibt keinen Konvent der Heimseelsorge, an dem Frau Braune teilnehmen könnte. Sie ist in ihrer Arbeit ganz auf sich gestellt. Bei meinem Besuch war Frau Braune farbig angezogen. Sie trug keine Kleidung oder Zeichen (z.B. Kette mit Kreuz), die sie als Seelsorgerin oder Kirche erkennbar machte. Ich sprach sie daraufhin an. Sie sagte mir, dass sie normalerweise ein Namensschild mit dem Logo des Hauses trage, das sie als Mitarbeiterin des Heimes ausweise. Frau Braune stellt sich bei ihren Besuchen, wie ich erleben konnte, zumeist mit den Worten „Ich komme von der evangelischen Kirche“ vor, da sie keine Pastorin ist und die Bezeichnung ‚Seelsorgerin‘ „nicht mag“, wie sie sagte. Ich fragte Frau Braune, ob es irgendeine „Systematik“ gebe, die sie bei ihrer Seelsorgearbeit pflege. Sie verneinte dies, da die Arbeit im Pflegeheim eine hohe Flexibilität erfordere und schlecht planbar sei. Meistens ergäben sich die Besuche und Gespräche von selbst. Gottesdienste würden allerdings im monatlichen Rhythmus gefeiert. Abgesehen von diesen Gemeinschaftsveranstaltungen 196
arbeite sie nicht in Gruppenarbeit (z.B. Bibelstunden, Gesprächsrunden), da ihr aufgefallen sei, dass die alten Menschen in solchen Zusammenkünften die Begegnung mit dem Einzelnen bzw. der Seelsorgerin suchten. Deshalb schien es ihr nicht sinnvoll, seelsorgerliche Arbeit im Pflegeheim als Gruppenarbeit zu gestalten. Ich sprach mit Frau Braune auch über die Unterschiede zwischen Krankenhaus- und Pflegeheimseelsorge. Zwei Dinge fand Frau Braune spontan signifikant: 1.) Da die Verweilzeiten im Krankenhaus normalerweise nur sehr kurz sind, sei es nicht annähernd in dem Maße möglich, eine Beziehung zu den Besuchten aufzubauen, wie es im Pflegeheim der Fall sei. 2.) Der geistige Zustand der Menschen im Pflegeheim sei um ein Vielfaches schlechter als der der Patienten eines Krankenhauses. Ich fragte Frau Braune, wann für sie ein seelsorgerlicher Besuch besonders befriedigend sei. Sie antwortete, wenn es gelänge, Nähe zu dem/der Besuchten herzustellen und es also zu einer „wirklichen Begegnung“ käme, in der beide einander wirklich wahrnehmen. Ob sie jemanden berührt, hinge davon ab, wie gut und lange sie den Menschen kenne. Mit Braune wurden vier Besuche dokumentiert (davon drei Bettlägerige): • Länge der Besuche insgesamt: 61’28’’ • Durchschnittliche Dauer eines Besuchs: 15’32’’ (mit schlafender Pflegebefohlener), bzw. 20’35’’ (ohne Schlafende)
4.2. Seelsorgerin II (Pastorin Pape) Seelsorgerin Pape, 46, ist seit drei Jahren im Pflegeheim L. tätig (38 Personen, davon 3 Männer), welches die Bezeichnung „Stift“ im Namen führt und sich in kirchlicher Trägerschaft befindet. Sie ist ordinierte Pastorin. Noch vor 10 Jahren sei dieses Haus tatsächlich ein ‚Stift’ gewesen, und die Zimmer wurden als ‚Wohnungen’ bezeichnet, erzählt die Pastorin. Der Charakter des Hauses habe sich aber im Laufe der Jahre (infolge der Situation der Pflegebedürftigen) gewandelt. Man merkt jedoch beim Betreten des „Stifts“, dass dieses Haus – 1896 als Pfarrtöchterhaus gegründet – eine lange kirchliche Geschichte hat und ehemals einen privilegierten Personenkreis beherbergte. Das Haus sei sehr bemüht, alle Pflegebefohlenen tagsüber „aus den Betten zu scheuchen“, wie Pape es formulierte. Die Pflege bemühe sich, zu motivieren und zu mobilisieren. Der Anteil der Schwerpflegebedürftigen und Dementen sei hoch.
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Pastorin Pape tut ihren Dienst auf einer halben Stelle. Neben der Arbeit im Pflegeheim ist sie noch für eine Diakonie-Station zuständig, die zugleich Trägerin des Heims ist. An den Kosten sind vier Kirchengemeinden beteiligt, so dass die Pastorin zugleich eine gewisse Anbindung an die benachbarten Gemeinden hat (und dort auch regelmäßig einen Predigtdienst versieht). Bevor Pastorin Pape zur Seelsorge mit Pflegebefohlenen kam, war sie fünf Jahre in der Krankenhausseelsorge tätig, absolvierte die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) und nahm an diversen Fortbildungen teil. Seit sie im Pflegeheim arbeitet, hat sie Kurse zum Thema Demenz besucht und entsprechende Lektüre studiert. Das häufige Vorkommen demenzieller Erkrankungen habe zu einer „Umstrukturierung“ ihrer Arbeitsweise geführt, was sich insbesondere auswirkte auf die Arbeit mit Gruppen (sie bietet verschiedene Gruppen für demenziell und nicht demenziell Erkrankte an, die wiederum inhaltlich sehr unterschiedlich gestaltet seien). Die Seelsorgerin sieht vier Schwerpunkte ihrer Arbeit: Sie widmet sich 1. der Einzelseelsorge, 2. der Arbeit in Gruppen (welche sie insbesondere als Bildungsarbeit versteht), sowie 3. der Präsenz im Haus (was auch die Zuwendung zur Mitarbeiterschaft einschließt): Bei Festen und Feierlichkeiten ist sie zugegen, 4. Gottesdienste (einschließlich Trauerfeiern für die Verstorbenen). Sie betont die Bedeutung der Bildungsarbeit und weist auf die Wissbegierde und Lernbereitschaft vieler älterer Menschen des Hauses hin. Gruppenarbeit sei sehr schwierig, liege ihr aber am Herzen. Pastorin Pape sagt, sie habe (insbesondere im Vergleich mit ihren seelsorgerlichen Besuchen, die sie für die Diakonie-Station abstattet) beobachtet, dass die Menschen im Pflegeheim sich ihr gegenüber „weniger öffneten“ und dass es „weniger dichte Seelsorgegespräche“ im Heim gäbe als mit Pflegebedürftigen, die in ihrer Wohnung lebten. Es sei im Heim „viel innerer Rückzug“ zu beobachten, auch eine gewisse Teilnahmslosigkeit (z.B. beim Tod eines Mitbewohners). Seelsorgerliche Gespräche im Pflegeheim seien als Kurzgespräche zu charakterisieren, was nicht zuletzt in den oft sehr widrigen Bedingungen der seelsorgerlichen Gespräche begründet liege (vielfältige Störungen und Unterbrechungen durch Personal oder Pflegebefohlene im selben Zimmer). Wenn Pastorin Pape Pflegebefohlene des Stifts im Krankenhaus besucht, seien die seelsorgerlichen Situationen oft „dichter“. Sie sagt: „Wenn jemand ins Pflegeheim kommt, gibt er an der Tür etwas ab und nimmt bald eine Pflegehaltung ein“. Pastorin Pape erzählt, die Wahrnehmung ihrer Person und Arbeit durch das Personal habe „lange Zeit gebraucht“, jetzt sei sie aber voll akzeptiert. Die Pastorin findet seelsorgerliche Gespräche besonders befriedigend, wenn es gelingt, sich „aufeinander einzustellen“ und wenn „Nähe möglich ist“. Sie 198
unterscheidet allerdings zwischen Besuchen bei demenziell und nicht demenziell Erkrankten. Besonders befriedigend seien für sie Begegnungen mit demenziell Erkrankten, wenn es gelinge, „einander wahrzunehmen“, sich „einzustellen auf den anderen“, wenn die Seelsorgerin „akzeptiert“ werde, und Freude über deren Besuch zum Ausdruck gebracht würde. Wie Seelsorgerin Braune trägt Pastorin P. keine berufsspezifische Kleidung. Pape erzählt, dass sie (gerade bei demenziell Erkrankten) viel Rückmeldung bekomme über ihre Kleidung, dass sie ihre Kleidung berühren, fühlen, betasten dürften (wie auch bei einem dokumentierten Besuch eindrucksvoll zu erleben ist). Mit Pape wurden zehn Besuche dokumentiert (zwei Bettlägerige, acht Sitzende): • Länge der Besuche insgesamt: 23’15’’ • Durchschnittliche Dauer eines Besuchs: 2’31’’
4.3. Seelsorger III (Diakon Hamberg) Seelsorger Hamberg, 62, inzwischen im Ruhestand, ist Diakon mit abgeschlossener Krankenpflegeausbildung. 27 Jahre war er zugleich Heimleiter der Einrichtung (38 Pflegebefohlene), die er auch seelsorgerlich betreute. Neben seiner Tätigkeit im Heim war er außerdem für ein benachbartes Krankenhaus zuständig. Er absolvierte eine zweijährige KSA-Ausbildung. Auch in seinem Ruhestand engagiert Hamberg sich weiterhin in „seinem“ Pflegeheim, in dem er etwa einmal pro Woche Besuche absolviert und einmal im Monat einen Gottesdienst feiert. Das Pflegeheim ist in evangelischer Trägerschaft. Hamberg sieht seinen seelsorgerlichen Schwerpunkt im Einzelbesuch. Er sagt: „Seelsorge ist ganz einfach – es geht doch vor allem darum, Nähe zu vermitteln“. Auch sagt er, man müsse die Menschen da abholen, wo sie sind. Bei seinen Besuchen kommt es gelegentlich vor, dass er den Besuchten etwas vorsingt, auf seiner Flöte spielt oder einfach nur bei ihnen ist. In dem von ihm betreuten Pflegeheim leben viele bettlägerige und demenziell erkrankte Menschen. Deshalb seien die Besuche eher kurz, aber regelmäßig. Er wolle den Pflegebefohlenen die Gewissheit vermitteln, sie seien nicht vergessen. Diakon Hamberg sagt auch, Berührungen seien ihm bei den Besuchen wichtig, unabhängig davon, ob er die Menschen schon länger/besser kenne oder nicht. „Berührung ist ganz wichtig“, sagt er und betont sogleich, dies gelte ebenfalls für die Sterbebegleitung.
199
Mit Hamberg wurden zehn Besuche bei 13 Damen dokumentiert (acht Bettlägerige, sechs Sitzende): • Länge der Besuche insgesamt: 47’33’’ • Durchschnittliche Dauer eines Besuches: 4’04’’778
4.4. Seelsorger IV (Diakon Stempel) Seelsorger Stempel, 57, ist Diakon in einer Stiftung, die Trägerin mehrerer Alten- und Pflegeeinrichtungen ist (insgesamt 500 Altenheimplätze auf drei Standorte verteilt). Stempel ist seit 17 Jahren im Pflegeheim tätig. Zuvor war er lange in zwei Gemeinden beschäftigt. Diakon Stempel ist für etwa 200 Personen zuständig, darunter auch solche, die aufgrund einer schweren Schädel-HirnVerletzung (SSH) pflegebedürftig geworden sind (z.T. sehr junge Menschen). Stempel fühlt sich der Tradition der Diakonenausbildung sehr verpflichtet. Er versteht seine Arbeit als „geistliche Arbeit“ und habe deshalb auch kein Problem damit, meist als „Herr Pastor“ angesprochen zu werden. KSA-Kurse absolvierte Herr Stempel nicht. Er hat eine abgeschlossene Prädikantenausbildung. In der von Herrn Stempel betreuten Einrichtung gibt es eine eigene, bemerkenswerte Kapelle, in der viele Gottesdienste und Andachten gefeiert werden. Auch dies gehört zu den Aufgaben des Diakons, der zudem die Trauerfeiern für Verstorbene ausrichtet (ca. 15 pro Jahr), zusätzlich zu den vielen seelsorgerlichen Besuchen. Es ist sein Anspruch, jede(n) Verstorbene(n) mit einem Segensritual zu verabschieden, bevor diese(r) das Sterbezimmer bzw. das Pflegeheim verlässt, was meistens auch gelinge. Stempel macht jeden Tag Besuche bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtung. Er versucht, jeden Menschen „einmal gesehen zu haben“, ihn (und sei es nur kurz oder im Vorbeigehen) „wahrzunehmen“, eventuell auch „zu sprechen“, was freilich oft nicht gelingt. Er betont, dies gelte auch für das Personal, zu dem er einen guten Kontakt pflege und auch bei dem er gut bekannt sei (und auch geschätzt wird, wie mir bei meinem Besuch auffiel). Auch Geburtstagsbesuche bei Pflegebefohlenen und Personal gehören zu den „ganz wichtigen“ Aufgaben, die er gewissenhaft wahrnimmt. Stempel trägt an seinem Jackett ein ca. 1 x 1 cm. großes Kreuz.
778 Hamberg macht insgesamt zehn Besuche in zehn unterschiedlichen Räumen, trifft dabei im Tagesraum auf die um einen Tisch herumsitzenden Damen E., F., G., später kommt noch Frau H. hinzu. Die Gesamtzeit der seelsorgerlichen Besuche wird also geteilt durch die Zahl der Personen, mit denen der Seelsorger jeweils kommuniziert.
200
Mit Stempel wurden sieben Besuche bei Bettlägerigen dokumentiert: • Länge der Besuche insgesamt: 25’19’’ • Durchschnittliche Dauer eines Besuchs: 3’59’’
4.5. Seelsorger V (Pastor Laurenz) Seelsorger Laurenz, 62, arbeitet seit 15 Jahren als Pastor im Pflegeheim. Bevor er in die Heimseelsorge ging, war er Gemeindepastor. Laurenz ist zuständig für etwa 250 Menschen, die in verschiedenen Häusern leben, welche auf einem weitläufigen Gelände verteilt sind, darunter einige Gebäude aus der Entstehungszeit der Stiftung (1860). Auch ein Pastorat gehört dazu, es besteht Residenzpflicht. Pastor Laurenz betreut also eine Anstaltsgemeinde, dementsprechend hat seine Arbeit im Vergleich zu den anderen Seelsorgerinnen und Seelsorgern einen stärkeren Charakter von Gemeindearbeit. Dies wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass sich auf dem Gelände der Pflegeeinrichtung eine eigene Kirche befindet, in der etwa 200 Menschen Platz finden. Laurenz sagt, die gegenwärtige Arbeit im Pflegeheim sei eine „Rückkehr zum Siechenheim“. Insbesondere durch die Finanzierung von Pflege müsse es zu einer Konzentration auf die Siechen kommen. Laurenz gehört zu den Initiatoren einer Einrichtung für Fortbildung in der Altenarbeit in seiner Landeskirche (mit eigenem Curriculum und dem Angebot von „Bausteinen“ für ganz individuelle Weiterbildung). Er bedauerte, dass es – im Gegensatz zur Krankenhausseelsorge – kaum Möglichkeiten einer qualifizierten Fortbildung im Bereich der Alten- und Pflegebefohlenen-Seelsorge gebe. Laurenz weist immer wieder auf die Unterschiede zwischen Krankenhaus- und Altenseelsorge hin: Altenseelsorge arbeite „statisch“, mit einer „verlässlichen Gangart“, während die Krankenhausseelsorge geprägt sei von stetigem, schnellem Wechsel (der Patienten). Auch gebe es unterschiedliche (seelsorgerliche) Kulturen in Krankenhaus und Altenheim, wie sie zum Ausdruck kommen in den jeweils gebräuchlichen Riten, z.B. der Aussegnung (vs. Krankensalbung), als einem Element einer Kultur der Verabschiedung im Pflegeheim. Auch meint der Pastor, im Gegensatz zur Krankenhausseelsorge habe die Seelsorge im Altenund Pflegeheim keine Lobby (wie z.B. die der Ärzteschaft). Pastor Laurenz sagt, er sehe in den Pflegebefohlenen „potenziell Sterbende“ und verstehe seine seelsorgerliche Aufgabe als eine Art prolongierte Sterbebegleitung. Kein Verstorbener verlasse das Heim, ohne dass zuvor (im Zimmer!) mit Hinterbliebenen und/oder Pflegenden Abschied genommen würde und er sie gesegnet habe. Er will die Menschen vor allem begleiten. Wichtig ist ihm das Einprägen der Namen. 201
Da sich das Gesprächspotenzial mit Schwerpflegebedürftigen schnell erschöpfe, fallen seine seelsorgerlichen Begegnungen in der Regel eher kurz aus und sind nicht geprägt durch das Gespräch (weshalb im Rahmen der oben erwähnten Fortbildungen auch nicht Gesprächsprotokolle, sondern „Begegnungsprotokolle“ analysiert würden). Sein Prinzip ist es, lieber einen kurzen Besuch abzustatten als gar keinen. Vorzugsweise besucht er öfter, aber kurz statt einmal lang. Quantität sei nicht erforderlich, auch weil die Belastbarkeit eines pflegebedürftigen Menschen begrenzt sei, Ermüdung (durch das Besuchtwerden) schnell einsetze und (sofern noch verbal kommuniziert werden könne) sich das Gesprochene schnell wiederhole. Laurenz meint, das, was auf der Seele liegt, komme schnell heraus, „wie bei einer Eiterbeule“. Man müsse gar nicht lange bohren, spiegeln oder warten. Bei seinen Besuchen ist es Laurenz wichtig, klar und deutlich den Namen der besuchten Person zu nennen. Er will damit kommunizieren: Du, besuchte Person, wirst noch gekannt! Pastor Laurenz sagt, ihm sei es wichtig, alle Menschen im Blick zu haben. Das sei aber nur möglich, wenn die Besuche beim Einzelnen kurz ausfallen. Nur so könne die Botschaft vermittelt werden: Du bist gesehen, ich sehe dich! Laurenz trägt einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte. Mit Laurenz wurden 14 Besuche bei Bettlägerigen dokumentiert: • Länge der Besuche insgesamt: 32’49’’ • Durchschnittliche Dauer eines Besuchs: 2’32’’
5. Das Datenmaterial Insgesamt wurden 45 Besuche mit einer Länge von knapp 200 Minuten aufgezeichnet, davon 34 bei Bettlägerigen. Die Aufzeichnungen wurden transkribiert und finden sich in einem Materialband im Umfang von 207 Seiten, der dieser Untersuchung beiliegt. Zu ihm gehört eine Liste der Besuche, eine Synopse der Kommunikationsweisen, Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Besuchen in Verbindung mit Zeitreihenprotokollen, Quantitätenmessungen der nonverbalen Kommunikationsweisen sowie eine Zählung der von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern hervorgebrachten Wörter.
202
Da das Material in einem späteren inhaltsanalytischen Arbeitsgang zusammengefasst und ausgewertet wird,779 enthält dieser Band der Untersuchung lediglich eine Liste der dokumentierten Besuche, die einen ersten Überblick über die Besuchskonstellationen erlaubt.
779 Vgl. II.C.2.
203
6. Liste der Besuche Seelsorgerin I (Sozialpädagogin Braune, 56 J.) Besuchte: 4 Damen, 0 Herren Nr.
Name der Besuchten Dauer780
Anmerkungen
1
Frau A.
Bettlägerig
2
Frau B.
3
Frau C.
4
Frau D.
Gesprächszeit insgesamt:
0’00’ – 21’06’’ (Gesamt: 21’06’’) 21’07’’ – 33’58’’ (12’51’’) 33’59’’ – 34’56’’ (0’57’’) 34’59’’ – 61’28’’ 26’29’’ 60’43’’
Bettlägerig Schlafend angetroffen Sitzt im Rollstuhl
Seelsorgerin II (Pastorin Pape, 46 J.) Besuchte: 10 Damen, 0 Herren Nr. 1
Namen der Besuchten Frau A.
2
Frau B.
3
Frau C.
4
Frau D.
5
Frau E.
6
Frau F.
7
Frau G.
8
Frau H.
Dauer
Anmerkungen
0’00’ – 3’26’’ (3’26’’) 3’26’’ – 5’08’’ (1’42’’) 5’08’’ – 7’00’’ (1’52’’) 7’01’’ – 12’02’ (5’01’’) 12’03’’ – 12’40’’ (0’37’’) 12’41’’ – 16’34’’ (3’53’’) 16’35’’ – 18’12’’ (1’37’’) 18’13’’ – 19’42’’ (1’29’’)
Im Tagesraum sitzend Im Tagesraum sitzend Im Tagesraum sitzend Im Tagesraum sitzend/Demenz Im Sessel sitzend/schlafend Bekleidet auf Bett liegend Bettlägerig Bettlägerig/Grippaler Infekt
780 Die Zeitangaben weisen Lücken auf, da die Kamera gelegentlich schon lief, ohne dass es schon zu einem ersten Kontakt zwischen den Interagierenden gekommen war. Diese Laufzeiten der Kamera bleiben somit unberücksichtigt.
204
9
Frau E. (selbe Person 19’43’’ – 24’08’’ wie 5) (4’25’’)
10
Frau I.
24’09’’ – 25’22 (1’13’’) 23’15’’
Gesprächszeit insgesamt:
Im Sessel sitzend/extrem schwerhörig Bekleidet auf Bett sitzend
Seelsorger III (Diakon Hamberg, 62 J.) Besuchte: 8 Damen, 2 Herren Nr. 1
Namen der Besuchten Frau A.
2
Frau B.
3
Frau C.
4
Frau D.
5 6
Damen E., F., G., später H. dazukommend Herr I.
7
Herr J.
8
Frau K.
9
Frau L.
10
Frau M.
Gesprächszeit insgesamt:
Dauer
Anmerkungen
0’00’’ – 4’34’’ (4’34’’) 4’36 – 5’50’’ (1’14’’) 5’51’’ – 6’44’’ (0’53’’) 6’45’’- 12’27’’ (5’42’’) 12’28’’ – 29’30’’ (17’02’’)
Bettlägerig Bettlägerig Bettlägerig/ schlafend Gespräch Im Tagesraum um einen Tisch sitzend
29’35 – 29’50’’ 33’56’’ – 36’15’’ (2’34’’) 29’52’ – 33’48’’ (3’56’’)
Bettlägerig/Doppelzimmer, Besuch wird unterbrochen und später fortgesetzt Teilt Zimmer mit Herrn I., dem S III sich nach dessen Begrüßung zunächst zuwendet 36’23’’ – 38’45’’ Im Gemeinschaftsraum allein (2’22’’) am Tisch sitzend 38’51’’ – 43’’48’’ Besuch wird unterbrochen (4’57’’) durch hereinkommenden Pfleger 43’54’’ – 50’13’’ Bettlägerig (6’19’’) 47’33’’
Seelsorger IV (Diakon Stempel, 57 J.) Besuchte: 2 Damen, 5 Herren
205
Nr. 1 2 3 4
Namen der Besuch- Dauer ten Herr A. 0’00’’ – 1’21’’ (1’21’’) Herr B. 1’22’’ – 5’21’’ (3’59’’) Herr C. 5’24’’ – 9’12’’ (3’48’’) Herr D. 9’14’’ – 12’54’’ (3’40’’)
5
Herr E.
6
Frau F.
7
Frau G.
12’54’’ – 19’03’’ (6’09’’) 19’04’’ – 22’08’’ (3’04’’) 22’09’’ – 26’47’’ (4’38’’)
Anmerkungen Bettlägerig Bettlägerig Bettlägerig Bettlägerig Gegenlichtaufnahme (Spanier/Erstbesuch) Bettlägerig (Katholik) Schlafend/Wachkoma Lange, innige Umarmung, von Frau G. ausgehend
25’19’’
Gesprächszeit insgesamt:
Seelsorger V (Pastor Laurenz, 62 J.) Besuchte: 11 Damen, 3 Herren Nr. 1
Namen der Besuchten Frau A.
2
Frau B.
3
Frau C.
4
Frau D.
5
Herr E.
14’14’’ – 14’38’’ 15’41’’ – 16’58’’ (1’41’’)
6
Herr F.
7
Frau G.
14’39’’ – 15’40’’ (1’01’’) 16’59’’ – 18’19’’ 19’28’’ – 20’11’’ (2’03’’)
206
Dauer
Anmerkungen
0’00’’ – 8’48’’ (8’48’’) 8’49’’ – 11’07’’ (2’18’’) 11’08’’ – 12’25’’ (1’17’’) 12’26’’ – 14’13’’ (1’47’’)
Bettlägerig Bettlägerig Bettlägerig; schläft Bettlägerig (wird gerade gefüttert) Besuch wird unterbrochen durch Besuch bei Herrn F., später fortgesetzt [Doppelzimmer]; bettlägerig Bettlägerig Besuch wird unterbrochen durch Besuch Frau H. [Doppelzimmer], später fortge-
8
Frau H.
9
Herr I.
10
Frau J.
11
Frau K.
12
Frau L.
13
Frau M.
14
Frau N.
Gesprächszeit insgesamt:
18’27’’ - 19’22’’ (0’55’’) 20’12’’ – 23’51’’ (3’39’’) 24’01’’ – 25’07’’ (1’06’’) 25’13’’ – 27’05’’ (1’52’’) 27’06’’ – 29’56’’ (2’50’’) 29’57’’ – 30’52’’ (0’55’’) 30’53’’ – 36’08’’ (5’17’’) 32’49’’
setzt; bettlägerig Bettlägerig; Doppelzimmer mit Frau G. Bettlägerig Bettlägerig; Doppelzimmer mit Frau K. Bettlägerig; Doppelzimmer mit Frau J. Bettlägerig Bettlägerig; Doppelzimmer mit Frau N. Nicht sehr alte Dame, bettlägerig
Auf die Besuche wird Bezug genommen, indem die Seelsorgerin/der Seelsorger mit römischer, die besuchte Person mit arabischer Ziffer angegeben wird (z.B. I-1 = Seelsorgerin I, 1. Besuch)
207
C. Darstellung Der folgende Abschnitt erlaubt eine erste Übersicht über die beobachteten nonverbalen Phänomene, indem für jede Seelsorgerin und jeden Seelsorger eine knappe Zusammenfassung erstellt wird, die aus einer tabellarisch-quantitativen Darstellung sowie einer Illustration in Textform besteht. Letztere mündet jeweils in eine prägnante Beschreibung idealtypischer Komponenten innerhalb der Kommunikationsweisen der je einzelnen Seelsorgenden, welche zunächst recht vage gewonnen wurde aus dem Vergleich der verschiedenen Besuche unter besonderer Berücksichtigung wiederkehrender, prägnant scheinender Figuren und Gemeinsamkeiten. Dass die Darstellung der beobachteten Verhaltensweisen mit einem Blick auf das Personenspezifische beginnt und sich zunächst an der Person der Besuchenden orientiert, ist der bereits vorgestellten Methode der Triangulation781 sowie dem (vierten) Prinzip der Reflexivität von Gegenstand und Analyse782 geschuldet: Triangulation empfiehlt für ein qualitatives Forschungsvorhaben einen Methodenmix bzw. eine multiperspektivische Betrachtung, die es erlaubt, gewonnene Daten aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Im Folgenden werden deshalb sowohl die agierenden Personen als auch quantitative Gesichtspunkte dargestellt. Eine maximale strukturelle Variation der Perspektive,783 wie im qualitativen Design angestrebt, soll mit dieser ersten Annäherung an die Interaktionsweisen erreicht werden. Das vierte Prinzip qualitativer Sozialforschung wiederum verlangt die Einbeziehung des Kontextes, woraus sich auch eine Zusammenschau von Person und Verhaltensweise ergibt. Die nonverbalen Phänomene müssen demnach auch vor dem Hintergrund der jeweiligen agierenden Persönlichkeit, ihrer Präferenzen und Charakteristika wahrgenommen werden. In weiteren Arbeitsschritten (erste und zweite Explikation) wird sich dieser erste Versuch einer Annäherung an idealtypische Interaktionsweisen bewähren müssen. Ein zweiter, substanziellerer Versuch, idealtypische Komponenten herauszufiltern, welche für alle 45 Besuche mehr oder weniger gelten, findet sich am Ende des inhaltsanalytischen Arbeitsgangs.784 Jener beschreibt einen hypothetischen Idealtyp der Seelsorge im Pflegeheim.
781 782 783 784
208
Vgl. II.B.1. Vgl. ebd. Lamnek, S., a.a.O., Bd. 1, 29. Vgl. III. A-C.
1. Beschreibung der Interaktionsweisen des einzelnen Seelsorgers/der einzelnen Seelsorgerin und idealtypische Komponenten der individuellen Besuchsgestalt 1.1. Seelsorgerin I Quantitäten 1. Anzahl der Besuche: Bei wachen, ansprechbaren Personen............................................. 3 Besuche Bei schlafender (nicht ansprechbarer) Person .................................. 1 Besuch 2. Durchschnittliche Dauer eines Besuches: Bei den ansprechbaren Besuchten ...................................... 20’35’’(= 1235’’) Bei schlafender Dame ............................................................................0’57’’ 3. Blickverhalten: Blick gerichtet auf… 3.1 Gesicht der Besuchten ............................................................... 3523’’ 3.2 (laufenden) Fernseher/Fernbedienung .............................................10’ 3.3 Kamera .............................................................................................16’ 3.4 Uhr .................................................................................................. 2’’ 3.5 Mitbewohnerin ............................................................................... 12’’ 3.6 Bett......................................................................................................1’ 3.7 Fenster ................................................................................................1’ 3.8 Gesang-/Notizbuch/Tasche............................................................. 92’’ 3.9 Unbestimmt (z.B. Schweifenlassen der Blicke beim nachdenklichen Sprechen) ........................................................... 320’’ 4. Mimik: 4.1 Freundlich/lächelnd bis lachend ................................................... 924’’ 4.2 Interessiert/konzentriert................................................................ 725’’
209
4.3 Augenbrauen zusammenkneifen/hochziehen/ Stirn runzeln/erstaunt/ernst .................................................................. 57’’ 5. Gesten/Körperbewegungen: 5.1 Kopfnicken ................................................................................. 119’’ 5.2 Kopfschütteln ............................................................................... 11’’ 5.3 Kopf schräglegen/entgegenstrecken.............................................. 17’’ 5.4 Kopf drehen ..................................................................................... 8’’ 5.5 Oberkörper (entgegen-, herunter-)beugen ....................................... 9’’ 5.6 Oberkörper drehen......................................................................... 18’’ 5.7 Handbewegung als Illustrator (Zeigen; Figuren formen).............. 36’’ 5.8 Handbewegung als Emblem (Achselzucken; Winken) ................. 13’’ 5.9 Handbewegung als Adaptor (Selbstberührungen)....................... 297’’ 5.10 Handreichungen (Hilfestellungen: z.B. Getränk reichen) .......... 404’’ 5.11 Ein- und Auspacken von Gegenständen....................................... 20’’ 6. Körperhaltung: 6.1 Sitzen .......................................................................................... 3306’’ 6.2 Stehen .......................................................................................... 355’’ 6.3 Gehen/sich bewegen..................................................................... 148’’ 7. Körperkontakt: a. Berührter Körperteil 7.1 Kopf ............................................................................................... 38’’ (7.1.1 Haupt ................................ 33’’ 7.1.2 Wange .................................5’’) 7.2 Schulter .......................................................................................... 97’’ 7.3 Arm................................................................................................. 56’’ 7.4 Hand ............................................................................................. 163’’
210
b. Art der Berührung 7.5 Streicheln ....................................................................................... 61’’ (7.5.1 Mit Hand .......................... 39’’ 7.5.2 Mit Finger/Daumen ...........22’’) 7.6 Flüchtiges Berühren/Stupsen.......................................................... 19’’ 7.7 An-/Auf-/Ineinanderlegen der Hand/Hände für Sekunden ......... 170’’ 7.8 Schütteln (z.B. der Hand) ................................................................. 9’’ 7.9 Reiben .............................................................................................. 3’’ 8. Räumliches Verhalten: 8.1 Intime Distanz: ............................................................................ 113’’ (8.1.1 ca. 30 cm.............................. 5’’ 8.1.2 ca. 40 cm .........................108’’) 8.2 Persönliche Distanz ................................................................... 3138’’ (8.2.1 ca. 50 cm.............................. 5’’ 8.2.2 ca. 60 cm .......................... 325’’ 8.2.3 Ca. 70 cm ....................... 1492’’ 8.2.4 Ca. 80 cm ....................... 1061’’ 8.2.5 Ca. 100 cm ......................255’’)
211
Zusammenfassung Sozialpädagogin Braune absolviert drei Besuche bei Damen, mit denen eine ausgiebige verbale Kommunikation möglich ist, bei einer durchschnittlichen Besuchszeit von gut 20 Minuten. Eine weitere Frau wird von ihr aufgesucht, aber schlafend angetroffen. Braune unternimmt keinen Versuch, sie aufzuwekken, stattdessen verweilt sie stehend eine knappe Minute schweigend an ihrem Bett und schaut sie mit konzentriertem Blick an. Ein längeres Verweilen an der Seite der Schlafenden scheint für Braune nicht infrage zu kommen, da ihre seelsorgerliche Ausrichtung – wie die übrigen Besuche zeigen – auf das längere Gespräch zielt, in dem die Seelsorgerin die meiste Zeit zuhört. Die Besuche bei den drei Frauen erfolgen alle sitzend, wobei Braune sich sogleich einen Stuhl heranzieht und sich in der Wahl ihres Sitzplatzes für eine Nähe signalisierende Orientierung785 entscheidet: Nicht frontal, sondern über Eck im 90°-Winkel sitzend. Braunes Blickverhalten zeigt (3523’’), dass sie ihr Gegenüber sehr konzentriert „im Blick“ hat und darauf bedacht ist, sich mit größtmöglicher Einfühlung auf die Besuchte einzustellen. Einige kleinere Ablenkungen sind zu registrieren, z.B. kurzes, verlegenes Schauen zur Kamera, Blick zur Uhr usw. Diese fallen mit insgesamt 32’’ jedoch kaum ins Gewicht. Beim nachdenklichen Sprechen lässt sie ihre Blicke gelegentlich schweifen und fixiert kein bestimmtes Objekt (hier zusammengefasst als „unbestimmtes Schauen“) (320“). Im mimischen Verhalten wechseln sich freundlich-lächelnde bis lachende Gesichtsausdrücke mit interessiert-konzentrierten ab (924’’:725’’) bei leichter Bevorzugung eines lächelnden Ausdrucks. Auch sind expressivere Weisen des Mienenspiels zu beobachten, z.B. Zusammenkneifen oder Hochziehen der Augenbrauen, Runzeln der Stirn. Bei den Körperbewegungen Braunes fallen gelegentliche bejahende Formen (Kopfnicken, Zustimmung signalisieren) auf (119’’), bei den Handbewegungen dominieren Selbstberührungen (297’’), die möglicherweise dem Spannungsabbau dienen und als Adaptoren im Sinne Ekmans/ Friesens786 zu deuten sind. Besonders hoch ist der Wert an Handreichungen und Hilfestellungen (404’’), wie sie allerdings fast ausschließlich beim 2. Besuch (Frau B.) zu lokalisieren sind. Bei der Körperhaltung sind neben der sitzenden (3306’’) noch eine stehende (355’’) sowie sich bewegende (148“) zu beobachten, welche sich beide vor 785 Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 283. 786 Ekman, P./Friesen, W.V., Handbewegungen, a.a.O., 108-123.
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allem mit den von der 2. Besuchten erbetenen Hilfestellungen erklären, z.B. Zigarette anzünden und reichen, Aschenbecher halten, Getränk oder Süßigkeit reichen, die ein (mehrmaliges) Bewegen von der einen zur anderen Bettseite erforderlich machen. Berührungen sind bei Braune mit 354’’ zu verzeichnen, wobei die Berührung an der Hand mit 163’’ die bevorzugte ist, gefolgt von Schulter (97’’), Arm (56’’) und Kopf (38’’). Braune präferiert das regungslose Belassen der Hand an einer dieser Stellen (170’’) und bedient sich nur gelegentlich dosierter Streichelbewegungen (insgesamt 61’’, davon 22’’ lediglich mit einem einzelnen Finger/Daumen). Das Verhältnis von durchschnittlicher Besuchszeit (20 Minuten x 60 Sekunden = 1200’’) und durchschnittlicher Berührungsfrequenz (354’’:3 Besuche = 118) lautet 1200’’:118’’ (9,8 %). Das räumliche Verhalten der Seelsorgerin zeigt eine deutliche Bevorzugung der persönlichen Distanz (3138’’), ein Bereich, der den intimen ablöst.787 Intime Distanz konnte lediglich 113’’ verzeichnet werden. Am häufigsten ist ein Abstand von ca. 70 cm. zu beobachten (1492’’). Dieses Distanzverhalten erklärt sich gut aus dem Umstand, dass die Seelsorgerin ihre Besuche im Sitzen absolviert und es bei dieser Körperhaltung nur wenig Möglichkeit der Variation gibt. Auch lässt sich der Stuhl nur bis zu einer bestimmten Grenze an das Bett der Besuchten heranstellen.
Vergleich der 3 Besuche: Gemeinsamkeiten und idealtypische Komponenten der nonverbalen Interaktion Braunes • Eine erste zentrale Komponente der seelsorgerlichen Begegnungen Braunes findet sich in der Länge ihrer Besuche (Besuchsdauer). • Damit korreliert eine zweite wesentliche, die in einer sitzenden Körperhaltung zum Ausdruck kommt. • Eine dritte zentrale nonverbale Interaktionsweise ist der dauerhafte Blickkontakt zwischen der Seelsorgerin und den Besuchten. • Ein viertes zentrales Element der Besuchsgestalt Braunes liegt in ihrer Wahl der persönlichen Distanz. Eine große Zurückhaltung im Gebrauch haptischer Interaktionsweisen ist für Seelsorgerin Braune charakteristisch.
787 Als ein solcher gilt ein Gesichtsabstand von 50 – 120 cm, vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 282.
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1.2. Seelsorgerin II Quantitäten 1. Anzahl der Besuche: .............................................................................10 2. Durchschnittliche Dauer eines Besuches: ..................... 2’31’’ (= 151’’) 3. Blickverhalten: Blick gerichtet auf ... 3.1 Gesicht der Besuchten ............................................................... 1378’’ 3.2 Fernseher ....................................................................................... 13’’ 3.3 Kamera............................................................................................. 3’’ 3.4 Pflegerin ........................................................................................ 16’’ 3.5 Unbestimmt (z.B. beim nachdenklichen Sprechen) ........................ 7’’ 3.6 Kragen (der Besuchten) ................................................................. 38’’ 3.7 Hände (z.B. bei aktivem Hände- und Fingerspiel) .......................... 2’’ 3.8 Kalender (gemeinsam betrachtet) .................................................. 42’’ 4. Mimik: 4.1 Freundlich bis lächelnd .................................................. Überwiegend 4.2 Offen lachend (Zähne sichtbar) 4.3 Interessiert/konzentriert bis ernst 5. Gesten/Körperbewegungen: 5.1 Kopfnicken ...................................................................................... 7’’ 5.2 Kopfschütteln .................................................................................. 4’’ 5.3 Kopf neigen/schrägen legen ............................................................ 2’’ 5.4 Kopf drehen ..................................................................................... 2’’ 5.5 Oberkörper (entgegen-, herunter-)beugen/zurückweichen ............ 96’’ 5.6 Oberkörper drehen ........................................................................... 1’’
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5.7 Handbewegung (als Illustrator) ..................................................... 57’’ 5.8 Handbewegung (als Emblem) ......................................................... 5’’ 5.9 Handreichungen/Hilfestellungen .................................................... 58“ 5.10 Hände zum Gesicht führen ............................................................ 2’’ 5.11 Taktklopfen (beim Singen) .......................................................... 15’’ 6. Körperhaltung: 6.1 Sitzen (auch aufgestützt auf Armlehne oder Bettkante) ................ 58’’ 6.2 Stehen .......................................................................................... 592’’ 6.3 Gehen/sich bewegen ...................................................................... 17’’ 6.4 Knien/hocken ............................................................................... 273’’ 7. Körperkontakt: a. Berührter Körperteil 7.1 Kopf ............................................................................................. 107’’ (7.1.1 Haupt ............................... 55’’ 7.1.2 Stirn/Wange ......................52’’) 7.2 Oberkörper (Hals, Brustbereich, Schulter, Rücken) .................... 115’’ 7.3 Arm .............................................................................................. 112’’ 7.4 Hand ............................................................................................. 864’’ 7.5 Knie ................................................................................................. 8’’ b. Art der Berührung: 7.6 Streicheln/Reiben/Betasten .......................................................... 241’’ (7.6.1 Mit ganzer Hand/mehrere Finger .... 217’’ 7.6.2 Mit einem Finger/Daumen .................24’’) 7.7 Bewegungsloses Belassen der Hand für einige Sekunden ........ 1201’’ 7.8 Wiegen/Schütteln .......................................................................... 90’’ 7.9 Küssen ............................................................................................. 1’’
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8. Räumliches Verhalten: 8.1 Intime Distanz ........................................................................... 1368’’ 8.2 Persönliche Distanz ..................................................................... 132’’ 8.3 Sozial-beratende bis öffentliche Distanz ....................................... 15’’
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Zusammenfassung Pastorin Pape absolviert zehn Besuche bei Damen recht unterschiedlicher körperlicher und seelischer Konstitution. Als bettlägerig kann nur Frau H. gelten (Schlafbekleidung, zur Mittagszeit im Bett liegend), während Frau F. in Tagesbekleidung auf ihrem gemachten Bett (Tagesdecke!) liegt. Die durchschnittliche Dauer eines Besuches der Pastorin liegt bei 2’31’’ (= 151’’). Papes Blickverhalten betont mit 1378’’ eine starke Hinwendung und Konzentration auf die besuchte Person, während es sich bei den weiteren Werten um nicht ins Gewicht fallende Ablenkungen handelt: Fernseher, Kamera, hinzukommende Pflegerin, nachdenkliches Sprechen. Auch der Blick auf den Kragen Frau F.s (38’’) ist noch zu werten als Konzentration auf die Besuchte. Gemeinsam mit Frau I. betrachtet die Seelsorgerin einen Kalender (42’’), was ebenfalls einen empathischen Charakter hat und interpretiert werden kann als Form des ‚Attunements‘, bei dem zwei Personen – z.B. Mutter und Kind – denselben Gegenstand betrachten und eine gewisse Befriedigung aus dieser gemeinsamen Einstimmung („shared attention“) ziehen.788 Die genannten 1378’’ sind demzufolge um die beiden letztgenannten Werte zu ergänzen. Von den insgesamt elf unterschiedenen Gesten und Körperbewegungen fallen vier zweistellige Werte auf, der höchste fast dreistellig: Die Beugung des Oberkörpers hin zur Besuchten. Der Wert (96’’) zeigt, dass Pape ein ausgeprägtes Näheverhalten pflegt, wie es auch in ihrem räumlichen Verhalten zum Ausdruck kommt. Sie sucht die Nähe unter Einsatz ihres ganzen Körpers. Handreichungen und Hilfestellungen können 58’’ beobachtet werden. Illustrative Handbewegungen finden sich 57’’. Taktklopfen findet sich mit 15’’, während des einzigen Besuchs, bei dem Pape singt („Mädel ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite...“). Pape zeigt ein differenziertes Spektrum an Körperhaltungen: Es überwiegt das Stehen (592’’), gefolgt von Knien/Hocken (273’’), Sitzen (aber nie auf einem Stuhl!) (58’’) sowie Gehen/Bewegen (17’’). Diese Palette der Haltungen scheint zu korrespondieren mit der Kürze ihrer Besuche, da die Seelsorgerin im Verzicht auf das Platznehmen signalisiert, sie werde nicht lange bleiben. Andererseits kommt in den ermittelten Werten (592’’ [Stehen] : 331 [Sitzen/knien/hocken]) zugleich zum Ausdruck, dass sie zu ausgewogenem Näheund Distanzverhalten fähig ist und sich bemüht, dominantes Gebaren (Stehen!) zu vermeiden (in die Hocke gehen, herunterbeugen, vor den Besuchten knien). Der Hinweis sei an dieser Stelle erlaubt, dass diese Haltungen körperlich sehr
788 Vgl. Dornes, M., a.a.O., 153 - 157.
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anstrengend sind. Berührungen lassen sich 1206’’ nachweisen, am häufigsten die der Hand (864’’). Bei der Art der Berührung dominieren regungslos belassende (1201’’), gefolgt von Streichelbewegungen (241’’). Ein einziges Mal (1’’) wird auch die Hand einer Besuchten geküsst (6. Besuch). Das Verhältnis von durchschnittlicher Besuchszeit (= 151’’) und durchschnittlicher Berührungsfrequenz (1206’’:10 = 120“) ergibt einen Wert von 151’’ : 120’’ (79,4 %). Die Seelsorgerin kommuniziert mit diesem intensiven haptischen Verhalten Nähe, Vertrautheit und Zuneigung. Auch in ihrem räumlichen Verhalten kommuniziert Pape große Nähe: Sie bevorzugt deutlich eine intime Distanz (1368’’).
Vergleich der zehn Besuche: Gemeinsamkeiten und idealtypische Komponenten der nonverbalen Interaktion Papes • Die erste wesentliche Komponente der seelsorgerlichen Besuche Papes findet sich in der Kürze ihrer Besuche (Besuchsdauer). • Damit korreliert ein zweites wesentliches Element, das sich in einer überwiegend nicht sitzenden Körperhaltung manifestiert, so dass bei keinem der Besuche auf einem Stuhl Platz genommen wird. • Eine dritte zentrale Interaktionsfigur zeigt sich im dauerhaften Blickkontakt zwischen der Seelsorgerin und den Besuchten. • Ein viertes wichtiges Element der Besuchsgestalt Papes sind längere Berührungen der Hand bei einem vorzugsweise regungslosen Belassen der eigenen Hand an einer Stelle des Körpers der Besuchten. • Eine fünfte zentrale Interaktionsfigur ist zu finden in der Bevorzugung der intimen Distanz.
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1.3. Seelsorger III Quantitäten 1. Anzahl der Besuche789 (besuchte Personen): ........................................13 2. Durchschnittliche Dauer eines Besuches: ....................... 4’04” (= 244”) 3. Blickverhalten: Blick gerichtet auf ... 3.1 Gesicht der Besuchten ................................................................ 2476” 3.2 Unbestimmt (z.B. Blicke schweifen beim nachdenklichen Sprechen) ............ 111” 3.3 Fenster ............................................................................................ 16” 3.4 Andere Person ................................................................................ 64” 3.5 Gesangbuch/Noten/Getränk ......................................................... 171” 4. Mimisches Verhalten: 4.1 Freundlich bis lächelnd .................................................... überwiegend 4.2 Offen lachend ................................................................... gelegentlich 4.3 Interessiert/konzentriert/ernst ........................................... gelegentlich 5. Gesten/Körperbewegungen:...................................................................... 5.1 Kopfnicken .................................................................................... 6’’ 5.2 Kopfschütteln 5.3 Kopf drehen/entgegenstrecken ....................................................... 1” 5.4 Oberkörper drehen/entgegenbeugen ............................................. 11”
789 Beim fünften Besuch sitzt der Seelsorger in einem Tagesraum am Tisch mit drei, später vier Damen, denen er sich für 17’02’’ widmet [vgl. Film: 12’28’’ – 29’30’’]. Bei der Ermittlung der durchschnittlichen Besuchszeit wird die Gesamtzeit entsprechend durch vier (Personen) geteilt.
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5.5 Handbewegungen als Illustrator (z.B. zeigen; Figuren formen) ..................................................... 78” 5.6 Handbewegungen als Emblem (z.B. segnen) ................................. 6” 5.7 Handbewegungen als Adaptor (z.B. Selbstberührungen) .......... 121” 5.8 Handreichungen/Hilfestellungen .................................................. 81” 5.9 Ein- und Auspacken von Gegenständen ....................................... 45” 5.10 Rhythmisches Bewegen zur Musik (z.B. beim Flötespielen) ...... 67” 6. Körperhaltung: 6.1 Sitzen .......................................................................................... 1135” 6.2 Stehen ......................................................................................... 1805” 6.3 Gehen/Sich bewegen ...................................................................... 40” 7. Körperkontakt: a. Berührter Körperteil 7.1 Kopf ................................................................................................ 15” (7.1.1 Haupt ...................................4” 7.1.2 Stirn .......................................6” 7.1.3 Wange ...................................4” 7.1.4 Nasenspitze ..........................1“) 7.2 Schulter ................................................................................................. 7” 7.3 Arm ................................................................................................... 262” 7.4 Hand .................................................................................................. 373” b. Art der Berührung 7.5 Bewegungsloses Belassen der Hand für mehrere Sekunden ............ 424” 7.6 Streicheln ............................................................................................ 44” 7.7 Händeschütteln ...................................................................................... 9” 7.8 Stupsen (z.B. Nase) ............................................................................... 1”
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8. Räumliches Verhalten: 8.1 Intime Distanz ................................................................................... 943” (8.1.1 Ca. 10-15 cm ......................25” 8.1.2 Ca. 20-25 cm ....................180” 8.1.4 Ca. 40-45 cm ...................345”) 8.2 Persönliche Distanz ......................................................................... 2052” (8.2.1 Ca. 50-55 cm ....................732” 8.2.3 Ca. 70 cm ..............................5” 8.2.4 Ca. 120 cm ....................1008”)
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Zusammenfassung Diakon Hamberg absolviert 10 Besuche bei 13 Damen, der fünfte Besuch findet in einem Tagesraum statt, in dem zunächst drei, später vier Frauen um einen Tisch herum sitzen. Hamberg gesellt sich zu ihnen und widmet seine Aufmerksamkeit nacheinander jeder einzelnen bei leicht erkennbarer körperlicher Hinwendung, wobei er im Uhrzeigersinn vorgeht. Die durchschnittliche Besuchszeit beträgt 4’04’’ (= 244”). Die Gespräche mit den Pflegebefohlenen zeigen, dass Hamberg eine „positive Atmosphäre“ verbreiten will: Häufig benutzt er charakteristische Begriffe wie „schön“, „gut“, „nett“, „behütet“ usw., auch macht er gelegentlich Witzchen und kommuniziert in seiner Mimik sein offenkundiges Anliegen, Heiterkeit und Frohsinn zu verströmen, er lächelt viel und ist sehr aktiv – bisweilen dominant – in seinen verbalen Gesprächsanteilen. Er steuert weit größere Anteile an Gesprochenem bei als die Besuchten. Sechsmal singt er ein Lied vor: Herrn A. [„Die güldne Sonne“], Frau D. [„All Morgen ist ganz frisch und neu“], Frau F. [„Hörst du nicht im Wiesental Glöckchen leise läuten...“], Herrn I. [„Befiehl du deine Wege“], Frau K. [„Der Mai ist gekommen“], Frau L. [„Großer Gott, wir loben dich“], Frau E. spielt er zwei Stücke auf seiner Flöte [„Lobt Gott getrost mit Singen“, „Erschienen ist der herrlich Tag“], einmal zitiert er eine Liedstrophe Paul Gerhardts, während er mit den vier Damen um den Tisch des Tagesraumes sitzt. Bei den Liedern handelt es sich um fröhliche, österliche Lieder, die abermals das seelsorgerliche Anliegen des Diakons unterstreichen, Heiterkeit zu verbreiten und die bedrükkende Atmosphäre des Pflegeheims zu zerstreuen. Beim Besuch Frau D.s betet er den 23. Psalm, mit Frau L. das Vaterunser. Diese wird auch von Hamberg gesegnet durch Zeichnen des Kreuzes auf die Stirn. In seinem Blickverhalten wird eine starke Konzentration auf das Gegenüber deutlich (2476”), gelegentliche Ablenkungen oder Unkonzentriertheit sind zu verzeichnen mit 111” („unbestimmtes Schauen“) bzw. 64” (andere Personen), letzteres vor allem zu erklären durch das gemeinsame Sitzen mit den vier Damen um den Tisch des Tagesraumes: Immer wieder gehen die Blicke zu den anderen Damen, während er mit einer von ihnen kommuniziert. Der Blick auf Gesangbuch und Noten erklärt sich mit dem Spiel auf der Flöte, wozu Hamberg die meiste Zeit in die Noten schaut. In der Mimik Hambergs findet sich zumeist ein Lächeln. Seine Gesichtszüge spiegeln Heiterkeit, die sich auch durch bedrückende Besuche und Situationen kaum zu verändern scheint.
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Bei den Gesten/Körperbewegungen überwiegen Adaptoren (Selbstberührungen) mit 121”, gefolgt von illustrativen Handbewegungen (78”). Gelegentlich kann sehr deutliches Nicken mit dem Kopf beobachtet werden (6”), wobei dieser Wert noch höher ausfiele, würden auch die verhaltenen, weniger expressiven Nickbewegungen dazugezählt. Diese bejahenden Bewegungen sind im Kontext der sonstigen nonverbalen Ausdrucksweise Hambergs gut einzuordnen in sein Bemühen um Verbreitung positiver Stimmung. Auch sind bejahende Kommunikationsfiguren in Zusammenhang zu sehen mit den für Small Talk charakteristischen gehäuften positiven Wertungssignalen.790 Die bevorzugte Körperhaltung des Seelsorgers ist die stehende (1805”), gefolgt von der sitzenden (1135”). Die im Sitzen erfolgten Besuche finden allerdings nicht im Zimmer der Besuchten statt, sondern im Tagesraum (Besuch bei den Damen E., F., G., H. sowie bei Frau K.). Es deutet sich bei Hamberg somit eine Regel an: Besuche bei Pflegebefohlenen, die im Bett liegen bzw. auf dem Zimmer erfolgen, geschehen im Stehen; Besuche bei Personen, die sitzen bzw. sich nicht im eigenen Zimmer aufhalten, erfolgen sitzend. Körperkontakt lässt sich 657” beobachten, wobei Hand (373”) und Arm (262”) die bevorzugten Stellen des Körpers für Berührung sind. Schulter (7”) und Kopf (15”) werden nur selten von Hamberg berührt. Am häufigsten findet sich bewegungsloses Belassen der Hand an einer Stelle (424”), lediglich 44” sind Streichelbewegungen zu beobachten (z.T. sehr verhalten, nur mit dem Daumen). Das Verhältnis von durchschnittlicher Besuchszeit (244”) und durchschnittlicher Berührungsquantität (657:13 = 50.5) lautet 244 : 50.5 (20,6 %). Beim räumlichen Verhalten zeigt der Seelsorger eine Bevorzugung der persönlichen Distanz (2052”), in der wiederum ein Abstand von etwa 120 cm am häufigsten zu verzeichnen ist (1008”). Intime Distanz (bis zu 50 cm.) findet sich mit 943”.
Vergleich der zehn Besuche: Gemeinsamkeiten und idealtypische Komponenten der nonverbalen Interaktion Hambergs • Die erste wesentliche Komponente der seelsorgerlichen Besuche des Diakons findet sich in der Kürze seiner Besuche (Besuchsdauer). • Eine zweite zentrale nonverbale Interaktionsfigur zeigt sich – jedenfalls bei allen auf dem Zimmer Besuchten, Bettlägerigen – in der stehenden Körperhaltung.
790 Vgl. Hauschildt, E., a.a.O., 159f.
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• Eine dritte wichtige Komponente seiner Besuchsgestalt liegt im dauerhaften Blickkontakt. • Eine vierte wiederkehrende Kommunikationsweise zeigt sich in einer lächelnden Mimik. • Ein fünftes bedeutendes Element ist in der Bevorzugung einer intimpersönlichen Distanz zu erkennen, bei der beide Distanzzonen annähernd gleich häufig zu verzeichnen sind.791
791 Der hohe Wert im Bereich von 120 cm (1008’’) resultiert vor allem aus der Sitzposition beim Besuch der drei bzw. vier im Tagesraum um einen Tisch versammelten Damen.
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1.4. Seelsorger IV Quantitäten 1. Anzahl der Besuche: ...............................................................................7 2. Durchschnittliche Dauer eines Besuches: ....................... 3’59’’ (=239”) 3. Blickverhalten: Blick gerichtet auf ... 3.1 Gesicht der Besuchten ............................................................... 1288’’ 3.2 MitbewohnerIn ................................................................................ 2’’ 3.3 In der Hand gehaltenes Losungsbuch .......................................... 165’’ 3.4 Unbestimmt (beim nachdenklichen Sprechen) .............................. 11’’ 3.5 Fernseher ......................................................................................... 6’’ 3.6 Kamera ............................................................................................. 3’’ 3.7 Namensschild des (erstmalig Besuchten) am Kleiderschrank ...... 78’’ 4. Mimik: 4.1 Freundlich bis lächelnd ..................................................... gelegentlich 4.2 Offen lachend (Zähne sichtbar) ................................................... kaum 4.3 Interessiert/konzentriert/ernst .......................................... überwiegend 5. Gesten/Körperbewegungen: 5.1 Kopfnicken 5.2 Oberkörper drehen ........................................................................... 1’’ 5.3 Illustrative Hand-/Armbewegung .................................................... 5’’ 5.4 Handbewegung als Emblem (z.B. Handauflegen; Kreuz zeichnen) .......................................... 60’’
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6. Körperhaltung: 6.1 Stehen ........................................................................................ 1599’’ 7. Körperkontakt: a. Berührter Körperteil 7.1 Kopf ............................................................................................. 120’’ (7.1.1 Haupt .................................................. 46’’ 7.1.2 Stirn ..................................................... 15’’ 7.1.3 Kopf an Kopf/Wange an Wange ........59’’) 7.2 Schulter/Rücken .......................................................................... 151’’ 7.3 Arm/Hand .................................................................................... 283’’ b. Art der Berührung 7.4 Bewegungsloses Belassen der Hand an einer Stelle ................... 469’’ 7.5 Streicheln (einschl. Kreuz zeichnen auf Stirn) .............................. 24’’ 7.6 Schütteln (der Hände)/Klopfen (auf Schulter) .............................. 10’’ 8. Räumliches Verhalten: 8.1 Intime Distanz ............................................................................. 837’’ (8.1.1 Weniger als 5 cm .............. 72’’ 8.1.2 30 – 35 cm ...................... 370’’ 8.1.3 40 – 45 cm .....................194’’)
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Zusammenfassung Diakon Stempel besucht sieben Pflegebefohlene bei einer durchschnittlichen Besuchszeit von 3’59’’ (= 239”). Bei allen Besuchten handelt es sich um Bettlägerige. In seiner Hand hält Stempel stets ein Losungsbuch, aus dem er bei drei Besuchen (3, 5, 6) die Tageslosung vorliest. Dieses Büchlein kann einerseits als eine Art Objekt-Adaptor aufgefasst werden, bei dem unter Zuhilfenahme eines Gegenstandes eine Aggressionsabfuhr oder ein Spannungsausgleich möglich wird (ähnlich wie bei Selbstberührungen [Selbst-Adaptoren])792 – der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin kann sich am Gegenstand gewissermaßen „festhalten“ oder „abreiben“. Andererseits lässt sich aus dem Bereithalten der Losungen (die nicht in einer Tasche verstaut sind!) der seelsorgerliche (kerygmatische) Akzent des Diakons erschließen. Das Blickverhalten des Seelsorgers lässt eine starke Konzentration auf die Besuchten erkennen (1288’’), 265’’ ist der Blick auf andere Objekte gerichtet, was sich z.T. mit der Gepflogenheit Stempels erklärt, aus seinem Losungsbuch vorzulesen (165’’). Nur ein einziger Wert sticht mit 78’’ besonders hervor, als Stempel seine Blicke ununterbrochen auf das Namensschild am Schrank des Herrn D. richtet, den er zum ersten Mal besucht und dessen spanischen Namen er nicht versteht: Längere Zeit schaut er auf das Schild, wohl auch aus einer gewissen Verlegenheit, da das Gespräch mit D. sich nur recht zäh entwickelt. Im mimischen Verhalten des Seelsorgers dominieren Konzentriertheit und Ernst. Bei den Gesten und Körperbewegungen fällt auf, dass Stempel sich wenig expressiv verhält und in seinem recht bewegungsarmen Verhalten viel Ruhe (auch Zurückhaltung, möglicherweise Unsicherheit) ausstrahlt. Dies deckt sich auch mit dem Gesamteindruck (Mimik, Berührungen), den die Besuche Stempels vermitteln: Der Diakon redet wenig und bevorzugt die Rolle des Hörers und Beobachters. An Körperhaltungen finden sich bei Stempel nur die stehende. Selbst zum längsten Besuch bei Herrn E. (6’09’’), einem engagierten Katholiken, mit dem er sich sichtlich angeregt über kirchliche Themen unterhält, setzt er sich nicht hin. Der Seelsorger ist zurückhaltend in seinen Berührungen, insgesamt finden sich 554’’, vorzugsweise an Hand und Arm (283’’) und in bewegungslosem Belassen der Hand. Auch die Art der Berührung bringt Zurückhaltung und Passivität zum Ausdruck. 792 Vgl. Ekman, P./Friesen, W.V., Handbewegungen, a.a.O., 108 – 123.
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Das Verhältnis von durchschnittlicher Besuchszeit (239’’) und durchschnittlicher Berührungsfrequenz (554: 7 Besuche) lautet entsprechend 239:79 = 33 %. Im räumlichen Verhalten zeigt der Seelsorger eine deutliche Bevorzugung des intimen Distanzbereiches, in dem er sich bei allen Besuchen aufhält. Ungewöhnlich ist dabei ein Wert von 72“ unterhalb einer Zone von 5 cm., der sich ausschließlich im Besuch bei Frau G (7. Besuch) findet: Die Besuchte zieht den Diakon regelrecht zu sich herunter und schmiegt sich an ihn; die Initiative zu diesem Distanzverhalten geht somit eindeutig von der Pflegebefohlenen aus. Insgesamt kommuniziert Stempel in seinem Distanzverhalten viel Nähe. Dieses wird auch deutlich in der Wahl seiner räumlichen Orientierung: Bei allen Besuchen steht Stempel etwa in Brusthöhe neben dem Bett (etwa 90° zur besuchten Person), niemals frontal (also am Fußende).793
Vergleich der sieben Besuche: Gemeinsamkeiten und idealtypische Komponenten der nonverbalen Interaktion Stempels • Eine erste zentrale Komponente der nonverbalen Besuchsgestalt Stempels findet sich in der Kürze seiner Besuche. • Damit korreliert eine zweite, die in einer stehenden Körperhaltung bei allen Besuchen auszumachen ist. • Eine dritte zentrale Interaktionsweise ist im dauerhaften Blickkontakt zu finden, den Stempel zu den Besuchten hält. • Eine vierte zentrale Figur der Besuchsgestalt Stempels manifestiert sich in einer konzentriert-ernsten Mimik. • Ein fünftes, wesentliches Element ist mit der deutlichen Bevorzugung der intimen Distanz, die in allen Besuchen zu beobachten ist, zu benennen.
793 Vgl. Argyle, M., a.a.O., 283.
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1.5. Seelsorger V Quantitäten 1. Anzahl der Besuche: .............................................................................14 2. Durchschnittliche Dauer eines Besuches: ...................... 2’32’’ (= 252”) 3. Blickverhalten: Blick gerichtete auf... 3.1 Besuchten .................................................................................. 1813’’ 3.2 Objekte, die Gegenstand des Gesprächs sind (Blume, Karte, Bild) .................................................................... 166” 3.3 Unbestimmtes (z.B. beim nachdenklichen Sprechen) .................. 135” 3.4 PflegerIn ......................................................................................... 14” 3.5 Kamera ............................................................................................ 15” 3.6 ZimmernachbarIn ........................................................................... 24” 3.7 Bett (Matratze/Bettdecke/Kopfkissen) ............................................. 9” 4. Mimik: 4.1 Freundlich bis lächelnd ...................................... deutlich überwiegend 4.2 Offen lachend (Zähne sichtbar) ........................................ gelegentlich 4.3 Interessiert/konzentriert/ernst ........................................... gelegentlich 5. Gesten/Körperbewegungen:...................................................................... 5.1 Kopfnicken/-schütteln/-neigen ....................................................... 19” 5.2 Oberkörper entgegenbeugen/drehen ............................................... 22” 5.3 Illustrative Hand-/Armbewegungen ............................................. 122” 5.4 Deiktische Hand-/Armbewegungen (zeigen) ................................. 10” 5.5 Selbstberührungen (Adaptoren) .................................................... 201”
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5.6 Embleme (= kulturell definiert, deutlich verstehbar, z.B. Winken beim Abschied) ........................................................... 32” 5.7 Handreichungen (Hilfestellungen) ................................................. 63” 6. Körperhaltung: 6.1 Stehen ......................................................................................... 2168” 7. Körperkontakt: a. Berührter Körperteil 7.1 Kopf ................................................................................................ 57” (7.1.1 Haupt .................................26” 7.1.2 Stirn/Schläfe ........................14” 7.1.3 Auge.......................................2” 7.1.4 Wange ................................15”) 7.2 Schulter ........................................................................................... 99” 7.3 Hals ................................................................................................... 1” 7.4 Arm ................................................................................................. 16” 7.5 Hand .............................................................................................. 488” b. Art der Berührung 7.6 Stupsen ............................................................................................. 6” 7.7 Bewegungsloses Belassen der Hand an einer Stelle .................... 495” 7.8 Streicheln/Reiben ......................................................................... 283” 7.9 Schütteln/Klopfen (einschl. Schulterklopfen des fütternden Pflegers) ........................ 17”
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8. Räumliches Verhalten: 8.1 Intime Distanz 692“ (8.1.1 5cm. oder weniger ............13” 8.1.2 25 – 35 cm ........................630” 8.1.3 40 cm ..................................43” 8.1.4 50 cm ...................................6”) 8.2 Persönliche Distanz .................................................................... 1335” (8.1.5 60 – 70 cm ......................214” 8.1.6 100 – 140 cm ....................768” 8.1.7 120 – 200 cm ...................353”)
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Zusammenfassung Pastor Laurenz besucht 14 bettlägerige Pflegebefohlene (11 Damen, 3 Herren) bei einer durchschnittlichen Besuchszeit von 2’32’’ (= 252”). Er wirkt bei seinen Besuchen wie auch bei der Interaktion recht „eilig“ und verweilt nicht lange (auch nicht bei einem Thema), was nach eigener Selbstbekundung durchaus nicht zufällig ist. Drei Begründungen führt Laurenz für die Kürze seiner Besuche an: Eine pragmatische: Besuche bei Pflegebefohlenen strengen (die Besuchten) an; eine psychologische: Die „brennenden Themen“ kommen sogleich beim Hereintreten des Seelsorgers an die Oberfläche. Es „platzt heraus“ „wie aus einer Eiterbeule“. Auch eine theologische Begründung führt er an: Es komme ihm vor allem auf die namentliche Anrede der Besuchten an, die ihr vermitteln solle: Ich werde noch gekannt! Dazu bedürfe es jedoch nur einer kurzen Begegnung, bei der sie Gepflegten namentlich von ihm angesprochen würden. In den seelsorgerlichen Begegnungen ist Laurenz der Impulsgebende, bisweilen auch Dominante: Er steht, spricht, ergreift die Initiative zu Themen oder Betrachtungen. Dabei verströmt er Heiterkeit, indem er viel lächelt und lacht. Es fällt eine große Natürlichkeit im Gebrauch Laurenz’ mit Segen, Gebet und Singen auf. Ganz unpathetisch, fast beiläufig, zeichnet er das Kreuz auf die Stirn, betet das Vaterunser, singt einen Choral und dirigiert dazu bei dem Versuch, eine andere Pflegebefohlene im selben Zimmer in das Singen miteinzubeziehen. Im Blickverhalten wird eine starke Konzentration auf die Besuchten erkennbar: 1813’’ ist Laurenz’ Blick auf sein Gegenüber gerichtet, nur 363” ist er es nicht. 166” richten sich die Blicke auf Gegenstände, auf die der Seelsorger die gemeinsame Aufmerksamkeit lenkte, etwa eine Rose, ein Kartengruß, ein Bild an der Wand, eine Figur. Es findet einige Male eine freilich recht kurze, eilige Betrachtung statt, welches – wie schon zuvor bei Seelsorgerin Pape zu beobachten war794 – , als Form des Attunements bzw. Shared Attention („Sharing“) im Sinne Dornes gedeutet werden kann.795 Die Mimik des Seelsorgers ist als recht expressiv und abwechslungsreich zu bezeichnen. Er spricht mit seinem Gesicht, was von manchen Besuchten sicherlich gut zu „lesen“ ist. Die mimischen Ausdrucksweisen wechseln sich rasch ab: Fröhlichkeit geht unvermittelt in überraschten oder mitleidenden Gesichtsaus-
794 Vgl. z.B. SII-6.10. 795 Vgl. Dornes, M., a.a.O.
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druck über und verändert sich schon im nächsten Augenblick wieder zu einem offen Lachen bei gleichzeitigem In-die-Hände-Klatschen. Auch in seinen Gesten und Körperbewegungen ist der Seelsorger sehr ausdrucksvoll: Neben Selbstberührungen (201”) finden sich am häufigsten Illustrationen mit Hand und Arm (122”). Embleme wurden 32” verzeichnet. Es fallen – insbesondere im Vergleich mit den anderen Seelsorgern – „Handreichungen“ auf, wie sie sich bei Laurenz typischerweise zeigen im „Bettenmachen“: Er deckt zu, zurrt die Decke zurecht und schlägt sie einmal gründlich auf oder streicht das Kopfkissen glatt. Auch trägt er ein Tablett heraus oder wischt Mund und Nase ab. Solche Körperbewegungen – insbesondere soweit es sich um das „Bettenmachen“ handelt – haben fürsorglich „Bemutterndes“. Berührungen konnten mit insgesamt 661” beobachtet werden, darunter am häufigsten die der Hand (488”), gefolgt von Berührungen der Schulter (99”) und des Kopfes (57”). Neben dem bevorzugten bewegungslosen Belassen der Hand an einer Stelle (495”) sind Streichelbewegungen 283” zu verzeichnen, wobei es sich zumeist um sehr verhaltenes Streicheln mit der Hand oder auch nur einem Finger bzw. Daumen handelt. Das Verhältnis von durchschnittlicher Besuchszeit (252’’) und durchschnittlicher Berührungsfrequenz (661:14 Besuche = 47) lautet 252’’:47 = 18,6 %. Im räumlichen Verhalten zeigt Pastor Laurenz eine deutliche Bevorzugung der persönlichen Distanz (1335”), während eine intime Distanz 692“ verzeichnet werden konnte. In seiner räumlichen Orientierung entscheidet der Seelsorger sich stets für jene, die einen hohen Grad von Nähe kommuniziert: niemals steht er am Fußende bzw. frontal zur besuchten Person, sondern stets an der Seite des Bettes, etwa im 90°-Winkel.
Vergleich der 14 Besuche: Gemeinsamkeiten und idealtypische Komponenten der nonverbalen Interaktion Laurenz’ • Eine erste zentrale Komponente der seelsorgerlichen Begegnungen Laurenz’ findet sich in der Kürze seiner Besuche (Besuchsdauer). • Damit korreliert – wie schon bei den anderen Seelsorgerinnen und Seelsorgern – eine zweite wesentliche Figur, die in einer stehenden Körperhaltung bei allen Besuchen zum Ausdruck kommt.
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• Eine dritte zentrale nonverbale Interaktionsfigur findet sich im dauerhaften Blickkontakt. • Eine vierte wiederkehrende Komponente der Besuchsgestalt Laurenz’ findet sich in der überwiegend lächelnden Mimik. • Ein fünftes regelmäßiges Element seiner Besuchsgestalt ist die persönliche Distanz.
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2. Inhaltsanalytische Auswertung 2.1. Erste Explikation: Psychologisch-kulturelle Deutung Das gut 200 Seiten umfassende transkribierte Datenkorpus796 der mehrtägigen Beobachtung wird im Folgenden in einem inhaltsanalytischen Durchlauf zusammenfassend beschrieben und gedeutet. Phänomenologie und Hermeneutik, Beschreibung und Deutung werden zu einem Arbeitsschritt verbunden. Die beobachteten Phänomene sollen so in ihrer Sinnhaftigkeit, Bedeutung und kommunikativen Funktion erschlossen und verstehbar werden. Dazu wird an die empirisch erhobenen Daten weiteres externes oder internes, aus unterschiedlichen Kontexten oder der Untersuchung stammendes Material herangetragen, das geeignet scheint, den Sinn des Beobachteten zu erhellen und so das Verhalten der Seelsorgerinnen und Seelsorger zu erläutern.797 Der Erkenntnisgewinn dieses Arbeitsschrittes liegt in einem vertieften Verständnis der einzelnen Interaktionselemente in ihrer dialogischen bzw. interaktiven Funktion. Auch verhilft dieses Verfahren zur besseren Erfassung der nonverbalen „Fassade“ (Goffman) in der Gesamtheit ihrer Elemente, die abschließend zur Beschreibung eines Typs der Seelsorge auf der Grundlage nonverbaler Ausdrucksweisen führen soll. Bereits in dieser ersten inhaltsanalytischen Sichtung des Materials wird die für diese Arbeit zentrale Frage berücksichtigt, zu welcher Rolle die Kommunikationsweisen möglicherweise beitragen und welchen Aspekt einer „Fassade“ sie hervorzuheben geeignet sind. Diese erste Analyse bereitet den zweiten inhaltsanalytischen Auswertungsgang vor, der die Interaktion noch einmal unter einer theologischen Fragestellung beleuchtet und in ihrer seelsorgerlichen und religiösen Dimension zu erschließen trachtet. Es ist zu vermuten, dass sich bereits in der ersten Explikation Linien andeuten, quantitative Gewichtungen oder qualitative Schwerpunkte herauskristallisieren, die den Weg zu einem vertieften Verständnis der zweiten Explikation ebnen. Da es in dieser Arbeit zudem um die Bedeutung des Nonverbalen in der Interaktion mit Pflegebefohlenen geht, ist es sinnvoll, auch den kommunikativen, psychologisch-kulturellen Aspekten in diesem ersten Arbeitsgang besondere Bedeutung beizumessen. Zur rechten Gewichtung einer später als relevant befundenen nonverbalen Figur, die abschließend in eine idealtypische Konstruktion durch gedankliche Steigerung von Hauptgesichtspunkten mündet, ist es zudem unumgänglich, die 796 Beigefügt im Materialband, bestehend aus einem Zeitreihenprotokoll sowie einer Quantitätenmessung. 797 Vgl. Mayring, Ph., a.a.O., 53ff.
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einzelnen Elemente einer Beachtung unter verschiedenen Blickwinkeln zu unterziehen. Nur so ist es möglich, die Interaktionsfiguren in ihrem Stellenwert für den gesamten kommunikativen Vorgang angemessen zu würdigen und ihnen entweder einen Platz innerhalb eines Typs zuzuweisen, sie einem anderen zuzuordnen, oder sie als nebensächlich/unbedeutend auszuscheiden. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es zur Ausarbeitung eines Typus sinnvoll ist, auch quantitative Faktoren in die Untersuchung einzubeziehen. Solcher Rückgriff auf Quantitäten ist allerdings nicht im Sinne quantitativer Messungen der Sozialforschung als statistische Repräsentativität zu verstehen. Verallgemeinernde Aussagen über bestimmte Häufigkeiten lassen sich aus solchen objektiv messbaren Größen nicht gewinnen. Die Zuhilfenahme des Messbaren dient hier allein der Erfassung des Ausprägungsgrades eines Merkmals innerhalb des gesammelten Datenmaterials und fungiert lediglich als eines von mehreren Indizien, das durch theoretische Abstrahierung dazu verhilft, einen ‚Idealtyp‘ herauszudestillieren. Da das inhaltsanalytische Verfahren nicht ohne Hintergrundwissen und Sachkenntnis des Analysierenden auskommt und sich dieses zunutze macht, sei an dieser Stelle an die Rolle des Forschenden in der qualitativen Untersuchungsmethode erinnert.798 Die Explikation orientiert sich an den von Argyle unterschiedenen sieben Hauptvariablen der Körpersignale und erfasst anschließend weitere Verhaltensweisen, die außerdem zu beobachten waren. 2.1.1. Körpersignale a. Blickverhalten Es kann bei allen fünf Seelsorgenden beobachtet werden, dass ihre Blicke insgesamt für längere Zeit konzentriert auf das Gesicht der Pflegebefohlenen gerichtet sind. Die Werte schwanken zwischen 3523” und 1378”. Damit ergibt sich ein mittlerer Wert von 2095”. Blicke, die auf anderes gerichtet sind (z.B. zur Kamera, Uhr, Mitbewohnerin, zum Fenster o.ä.)799, lassen sich mit einem mittleren Wert von 313” angeben. Da die Aufzeichnungen der Kamera zumeist von der Seite erfolgten, kann allerdings weder gesagt werden, ob die Besucher den Pflegebefohlenen in die Augen schauen (was anzunehmen ist), noch, ob es zu einer Erwiderung des Blickes durch die Besuchten kommt, so dass von einem 798 Vgl. II.B.1. 799 Vgl. die jeweiligen Protokolle des Materialbandes ‚Kommunikationsweisen in ihren Quantitäten‘ .
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Blickkontakt gesprochen werden könnte. Es finden sich aber einige Beispiele, bei denen deutlich zu erkennen ist, wie die Pflegebefohlenen, die nicht mehr zum verbalen Gespräch fähig sind, ihre Besucher ununterbrochen intensiv anschauen.800 Es soll an dieser Stelle nach der kommunikativen Bedeutung der Blickrichtung und des Anblickens gefragt werden: Sicherlich signalisiert das konzentrierte Anschauen der Besuchten gesteigerte Konzentration und Aufmerksamkeit. Durch den wechselseitigen Augenkontakt signalisieren die Beteiligten Bereitschaft zur Kommunikation und Offenheit zum Austausch.801 Simmel802 gewichtet die Bedeutung des gegenseitigen Anschauens sehr hoch und spricht von einer „völlig neuen und einzigartigen Verbindung zweier Menschen“, bei der „die vollkommenste Wechselseitigkeit“ in dem Bereich menschlicher Beziehungen zum Ausdruck gebracht werde. Die Auswertung des Filmmaterials dieser Untersuchung kann diese Einschätzung bestätigen, denn die Blicke der Seelsorgerinnen und Seelsorger haben unverkennbar „einladenden Charakter“, der die Pflegebefohlenen anregen will, sich mitzuteilen, was mitunter verbal, zumindest jedoch nonverbal häufig geschieht. Es liegt in den Blicken der Seelsorgenden eine gesteigerte konzentrierte Kraft, die in einem alltäglicheren Kontext auffällig (und eher unangemessen) wäre. Die Blicke der besuchenden Seelsorgenden „sprechen Bände“, und sie finden in der Regel einen intensiven Widerhall, wie sich bei zahlreichen Besuchen beobachten lässt. Als besonders eindrucksvoll können z.B. die Besuche SII-4.6.7.9 gelten, bei denen es zu einer konzentrierten Wechselseitigkeit des Blickes von besonderer Qualität kommt. Es hat den Anschein, dass die Dynamik der Blicke variiert je nachdem, in wieweit die Seelsorgerinnen und Seelsorger sich auf die Kraft des nonverbalen Ausdrucks einzustellen wissen. Anders gesagt: Je mehr die Seelsorgenden auf ein Gespräch aus und also von einer „therapeutischen“ Intention geleitet sind, wie bei Seelsorgerin I zu vermuten ist, desto weniger Kraft scheint deren Blick zu besitzen, desto weniger kommt es auch zu einem Blickkontakt zwischen den Kommunizierenden. Dieses kann auch damit erklärt werden, dass sich die Intensität eines Blickes, der „mehr als 1000 Worte“ sagt, nur über einen begrenzten Zeitraum (von einigen Minuten) durchhalten lässt, während in der verbalen Kommunikation die gesprochenen Worte die Notwendigkeit, dem Blick eine besondere Qualität zu geben, eigentlich obsolet, zumindest aber sekundär werden lassen. Die Blickintensität wird in diesem Fall abgeschwächt und aufs Verbale verlagert. 800 Z.B. SII-4; SII-7; SII-8; SIII-2. 801 Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 231f. 802 Ebd., 232.
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Experimente zum Blickverhalten legen die Vermutung nahe, im Anschauen eines anderen werde auch Zuneigung kommuniziert. Argyle konnte beobachten, dass Leute, die man gern hat, mehr angeschaut werden als solche, die einem unangenehm sind. Er verweist auf Forschungsergebnisse, die die Bedeutung der Blickrichtung auch hinsichtlich ihres Einflusses auf die angeschaute Person bestätigen: Schaut jemand einen anderen länger an, so meine dieser nicht nur, der andere würde ihn mögen. Er mag ihn nun auch lieber als andere, von denen er nicht so oft angeschaut wird.803 Dass Blicke beim Menschen anders als beim Tier eher als affiliatives Signal zu deuten sind und also darauf abzielen, mit Ebenbürtigen freundschaftliche Beziehungen herzustellen, legen auch biologische Beobachtungen nahe.804 Argyle verweist auf die Bedeutung der Augen in den ersten Stunden des Lebens eines Säuglings. Nach wenigen Wochen reagiere er insbesondere auf ein Augenpaar oder Masken mit Augen. Deshalb seien es die Augen der Mutter, die das Neugeborene am stärksten fesselten und eine Fixierung auslösten. In der Entwicklung von Bindungen spiele deshalb der Blick und der wechselseitige Blickkontakt „eine zentrale Rolle“805. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, wie sehr die Faktoren Bettlägerigkeit, das Sprechen erschwerende Schwachheit und Passivität die Augenkommunikation im Pflegeheim bedeutend werden lassen: Der im Bett liegende pflegebedürftige Mensch ist unentwegt an die Anfänge des Lebens erinnert und das Ausgeliefertsein an die Horizontale schwächt seinen Leib und das Sprechen. So kommt der Augenkommunikation eine Kompensationsfunktion in der Kommunikation zu. Das Verbale wird durch Blicke substituiert. Zuneigung, die in Worte (zwischen einander eher Fremden) ohnehin schwer auszudrücken ist, kann mit der Kraft der Blicke nun (leichter) kommuniziert werden. Tatsächlich liegt in zahlreichen Blicken, mit denen die Seelsorgerinnen und Seelsorge ihr Gegenüber anschauen, viel Wärme, Zuneigung, Fürsorglichkeit. Wie eine Mutter ihr schlafendes Kind anschaut, blickt die am Bett der fest schlafenden Frau C. verweilende Seelsorgerin I sie an. Solches kann auch bei anderen Besuchen beobachtet werden (SV-3 [Besuch bei schlafender 102-Jährigen] oder SIV-6 [Wachkomapatientin]). Als Blicke, die Zuneigung kommunizieren, können auch all jene interpretiert werden, die sich mit einem freundlichen Lächeln verbinden, besonders deutlich etwa SII-4.6, oder bei fast allen Besuchen von Seelsorger V (Pastor Laurenz).
803 Ebd., 220f. 804 Ebd., 233. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zum Thema Parallelität von Lebensanfang und –ende, Säuglingen und Greisen, I.B. 20. 805 Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 233.
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In der – häufig beobachteten – Kombination mit einem Lächeln kann ein intensives Anschauen als affiliatives Signal interpretiert werden.806 Sieht man dieses in Zusammenhang mit dem Phänomen der Infantilisierung, das für Altenpflegeeinrichtungen bzw. im Umgang mit alten Menschen charakteristisch ist,807 so könnte sich im konzentrierten Blickverhalten die Variante eines ElternKind-Verhaltens zeigen, das geeignet ist, Empfindungen von Geborgenheit und Wahrgenommen-werden bei den Angeschauten zu wecken. Die Säuglingsforschung deutet das gegenseitige An- und Wegblicken als Form eines frühen Dialoges,808 in welchem sowohl befriedigende wie auch gewalttätige wechselseitige Blickmuster möglich sind.809 Dornes810 versteht aus diesem Grunde das Blickverhalten des Säuglings als einen „wesentlichen Modus der Beziehungsregulierung“: Wegblicken verringere die Aufnahme von Interaktionsangeboten, Hinblicken vergrößere sie. Zugleich werde einem anderen durch das Hin- und Wegblicken ein bestimmtes Bedürfnis mitgeteilt, Verhalten werde auf diese Weise „reguliert“. Auch diese Funktion des Blickverhaltens ist bei den seelsorgerlichen Besuchen zu beobachten, z.B. SIV-3: Der Seelsorger ist verunsichert, ob Herr C. tatsächlich schläft oder sich nur schlafend stellt. Die Augen des bettlägerigen Mannes sind geschlossen. An einer Stelle im Verlauf des Besuches kann jedoch ein Blinzeln registriert werden, als würde C. vorsichtig nachsehen, ob der Diakon, der einige Zeit schweigend an der Seite des Bettes verharrte, noch da ist. Auch ein starres Wegblicken bzw. Meiden eines Blickkontaktes, wie etwa beim Besuch SIII-7 (Herr J. schaut ohne den geringsten Versuch, seinen Kopf in Richtung auf den Seelsorger zu bewegen, nach oben/vorn) deutet auf diese Funktion des Blickverhaltens. Das Blickverhalten kann demnach Nähe, Zustimmung oder Ablehnung kommunizieren, es ermöglicht aber auch das Erleben von Synchronie, Aktivität, Eingestimmtheit und Wechselseitigkeit. Bei überlangen Blicken besteht freilich die Gefahr des Abgleitens ins beunruhigende Anstarren, das Dominanz kommuniziert und die „Territorien des Selbst“ (Goffman) verletzt. Solches dürfte jedoch nicht in der Absicht der Seelsorger gelegen haben, wenngleich manches dokumentierte Blickverhalten durchaus in diesem Sinne interpretierbar ist.811 Langes Anblicken in Kombination mit einer stehenden, also höchst offensiven Körperhaltung, verstärkt zudem die Gefahr der Dominanz, die andererseits wieder abgeschwächt wird durch eine 806 807 808 809 810 811
Vgl. Argyle, M., Soziale Interaktion, Köln (1974, 2. Aufl.), 106. Vgl. Sachweh, S., a.a.O., 26f. Dornes, M., a.a.O., 66. Ebd., 65f. Ebd. Z.B. SIII-6.7, IV-3, SV-12.
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Verringerung der Körperdistanz und entsprechendes Herunterbeugen zu den Pflegebefohlenen. Gleichwohl sind lange, intermittierende Blicke in die Gegend der Augen während der Interaktion nicht ungewöhnlich. Der durchschnittliche Anteil der Zeit, während der Kommunizierende einander anschauen, kann zwischen 0 und 100 % Prozent liegen, variiert zumeist jedoch zwischen 25 und 75 %, wobei ein Zuhörender den Sprechenden länger anschaut als umgekehrt. 812 Die Seelsorgerinnen und Seelsorger dürften sich vermutlich als Zuhörende verstanden haben, womit sich abermals der hohe Anteil der Augenkommunikation erklärt. Im Kontext der Seelsorge an Schwerstpflegebedürftigen ist zu berücksichtigen, dass die Augen im Pflegeheim oft der einzig verbleibende Kanal der Verständigung sind, wenn die Gliedmaßen durch Krankheit oder Bettlägerigkeit versteift oder gelähmt sind und die Sprache nachlässt. Bei 19 der 45 dokumentierten Besuche beschränkt sich die Möglichkeit der wachen Pflegebefohlenen vor allem auf den Blickkontakt und den Ausdruck der Augenpartien, die für die Interaktion entscheidend sind.813 Wie Säuglinge, die ein sich bewegendes Objekt in ihrem Gesichtsfeld mit den Augen fixieren oder das Gegenüber mit großen Augen anschauen, blicken die Besuchten die Seelsorgerinnen und Seelsorger mitunter intensiv an: fragend (SII-4), kritisch (sehr deutlich: SV-7!, abweisend (sehr deutlich: SV-7), einladend (vermutlich: SII-6), fröhlich (deutlich: SV-11!), traurig (SV-12), leidend (SII-8), müde (SIII-5), beweglich, starr (SIII-6, SV-6), abgelenkt-umherschweifend (SIII-8), fokussiert-konzentriert (SIII-9, SIV-3.5), interessiert (SII-10). Wie noch zu zeigen sein wird,814 knüpfen einige der Seelsorgerinnen und Seelsorger (wohl intuitiv) gelegentlich an diese Verhaltensweise an und verbinden sich mit den Besuchten in einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus. Diese Interaktionsweise erinnert an ein in der Entwicklungspsychologie als Sharing bekanntes Phänomen.815 Entweder initiieren die Besuchenden einen solchen Fokus oder sie lassen sich auf einen bereits bestehenden ein. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Ausdruckskraft des Blickes findet sich bei dem Besuch von Pastor Laurenz bei Frau G. (SV-7). Diese spricht kein einziges Wort, kommuniziert aber deutlich Skeptisches bis Abweisendes mit ihren Blicken, was den Seelsorger sogleich zu einer euphemistischen Bemerkung veranlasst: „Sie haben ja immer noch so einen kecken Blick ...“ 812 Argyle, M., Soziale Interaktion, 105f. 813 SII-1.4.6.7.8.10; SIII-1.2.4.5 (Frau E.).6.8.9; SIV-3.5; SV-6.7.11.12. Bei den Besuchten SIII-1.2.4., die regungslos in ihrem Bett liegen und offensichtlich wach sind, lassen sich die Augenpartien im Film nicht erkennen. 814 Vgl. II.C.2.a. + b. [„Sharing“]. 815 Vgl. Dornes, M., a.a.O., 152ff.
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Zahlreiche hier dokumentierte Besuche zeigen, dass die regungslos in ihrem Bett Liegenden weder in der Lage sind, den Kopf zu bewegen noch ein deutliches Minenspiel zu vollziehen.816 Die aufmerksame Wahrnehmung der Augenpartien und das sorgfältige Hinsehen in der Begegnung mit Pflegebefohlenen sind somit unerlässlich für eine einfühlende Wahrnehmung der Besuchten. Simmel meint: „In dem Blick, der den anderen in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt ein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekt preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht“.817
Der Ethnologe Müller818 beschreibt das Phänomen der Augenkommunikation, das die Kraft besitze, unterschiedliche Reaktionen auszulösen, mit dem Begriff der „Kraftdiffusion“: Mit Hilfe des Blickes könne eine „Übertragung“ von einem Subjekt auf ein Objekt erfolgen mit dem Ziel der Wahrung, Anknüpfung oder Stabilisierung einer bestehenden Beziehung.819 Er spricht von einer „geradezu magischen Wirkkraft“ des Blickes, die alltäglich erfahrbar sei: So fühle man sich etwa von einem „durchdringenden Blick“ „berührt“, von dem einer starken Persönlichkeit „bezwungen“ oder man spreche von einem „bezaubernden“ Blick. Auch könne der Blick einer nahestehenden Person trösten, ermutigen und stärken. Müller vergleicht die eigentümliche, spürbare, durch einen Blickwechsel zustande kommende Energie mit der Strahlkraft des Lichtes. Eine „Vitalkraft“ mit der Fähigkeit zum Atmosphärischen werde „ausgestrahlt“, die sowohl konstruktive, positive als auch destruktive, negative Wirkungen entfalten könne. Wenn man vor diesem Hintergrund die Besuche der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger noch einmal bedenkt, lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass das Atmosphärische der Begegnungen tatsächlich entscheidend durch die Intensität des beiderseitigen Blickverhaltens geprägt wurde. Im Kontext des Pflegeheims, in der Situation der Hinfälligkeit und in Anbetracht des kommunikationsfeindlichen Milieus gewinnen Augen und Blicke eine quantitativ wie qualitativ gesteigerte Bedeutung. Die Augen der seelsorgerlichen Besucher sind nicht nur „Spiegel der Seele“, sondern zugleich der Seelsorge, die sich zusammensetzt aus den Variablen Zugewandtheit/Offenheit („Ich sehe dich!“), Zuneigung („Ich habe Interesse an dir!“) und Nähe („Ich will mich in Blicken mit dir verbinden!“). 816 Z.B. SII-7.8, SIII-2.3.7.10, SIV-3.6, SV-6.8. 817 Simmel, G., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin (1968, 5. Aufl.), 484f. 818 Müller, K. E., Das magische Universum der Identität, Frankfurt (1987), 222f. 819 Ebd., 216.
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Seelsorgerliche Interaktion, die sich der Augenkommunikation mit ihren drei Variablen bedient, lässt die Besuchenden in einem günstigen Licht dastehen: Sie wirken zugewandt und konzentriert, wohlwollend und liebevoll und bringen ein deutliches Bemühen zum Ausdruck, mit den Pflegebedürftigen auf ‚gleicher Augenhöhe‘ zu kommunizieren: Indem sie an die verbliebenen (bevorzugten) Kommunikationsmöglichkeiten der Besuchten anknüpfen, pflegen sie eine Form der Höflichkeit, bezeugen Respekt und vermeiden es, herablassend zu wirken. In der Körpersprache drückt sich demnach eine aufmerksame Haltung bzw. eine günstige „Fassade“ aus, die sympathisch wirkt und die Pastoranden empfänglich(er) für das pastorale Wirken machen dürfte. Auch scheint diese seelsorgerliche Kommunikationsweise geeignet, beim Gegenüber positive Empfindungen zu wecken, insofern sich in ihr ein Bemühen zeigt, den Möglichkeiten der Pflegebefohlenen gemäß zu kommunizieren. Es sei angemerkt, dass die verzeichneten Ablenkungen der seelsorgerlichen Blicke, wie z.B. Hinschauen zur Kamera, zur Mitbewohnerin, auf die Uhr usw. als sehr geringfügig zu bezeichnen sind. Auch an diesem Detail ist also ein seelsorgerliches Bemühen um konzentrierte Wahrnehmung und Zuwendung bzw. um Übertragung jener konstatierten „Vitalkraft“ zu erkennen, von der Müller spricht. b. Mimik Obwohl eine exakte Messung der Mimik nicht möglich war, erweckt eine erste Durchsicht des Filmmaterials den Eindruck, häufiges Lächeln sei die bevorzugte mimische Expression der Besuchenden. Dieses spannt sich von einem verhaltenfreundlichen Schauen bis zum expressiv-offenem Lachen.820 Lediglich bei Seelsorger IV (Diakon Stempel) sind Konzentriertheit, Ernst und empathische Einfühlung öfter zu beobachten. Bei den Seelsorgern III (Diakon Hamberg) und V (Pastor Laurenz) wird darüber hinaus deutlich, dass sie von ihrer Persönlichkeit her sehr „positiv gestimmt“, fröhlich, optimistisch und gut gelaunt sind; Laurenz zudem mit einer gewissen Expressivität des Gesichtsausdrucks. In der Sprache beider finden sich häufig ‚positive‘ Begriffe wie „schön“, „behütet“, „hat’s geschmeckt“, „wir dürfen Sie pflegen, und Sie freuen sich jedesmal“, auch kann manches Lob821 verzeichnet werden (z.B. über die gelungene Pflege
820 Dieser Eindruck bestätigte sich, indem das Filmmaterial von zwei weiteren Personen unabhängig voneinander angeschaut wurde mit der Fragestellung, welche bevorzugte Mimik bei den einzelnen zu Besuch Kommenden ihrer Ansicht nach zu verzeichnen sei. 821 Zum ‚Loben‘ in der Altenpflege vgl. Sachweh, S., a.a.O., 309f.
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der Zimmerpflanzen822) oder Freude über die auf dem Nachttisch stehende Rose823, mit der sich eine Pflegerin bei einer Pflegebedürftigen bedankte („daaas ist aber nääääätt...“). Hamberg wiederum neigt gelegentlich zu Scherzen, auch in der Auswahl der von ihm vorgesungenen Lieder spiegelt sich sein Naturell (Morgen-, Vertrauens-, Oster- und Frühlingslieder) und seine seelsorgerliche Intention. Zahlreiche der beschriebenen Kommunikationsweisen sind sicherlich auch als positive Wertungsfiguren des Small Talk zu deuten.824 Die mimischen Kommunikationsweisen lassen einerseits etwas von den Persönlichkeitsmerkmalen der Seelsorgenden durchschimmern. Der Zusammenhang von Nonverbalem und solchen Merkmalen wird von einigen Theorieansätzen, wie gezeigt, thematisiert. Andererseits erweckt die scheinbare Bevorzugung lächelnder Mimik bei dem Gros der seelsorgerlichen Besuche den Eindruck, hier drücke sich mehr als der individuelle Charakter des Seelsorgenden, nämlich seelsorgerliche Intention aus. Häufiges Lächeln und Lachen, welche bei einem seelsorgerlichen Besuch nicht nur – wie kulturell üblich – in dessen Begrüßungsphase nachzuweisen ist (und somit lediglich als Element eines Begrüßungsrituals825 zu identifizieren wären), kann zugleich als nonverbales Signal im Sinne van Hooffs interpretiert werden: Es drückt demnach weniger tatsächlich vorhandene Empfindungen aus, als vor allem eine Mitteilung. Mit diesem Signal werden Freundschaft und Beruhigung bekundet,826 vergleichbar dem Anlächeln eines Säuglings durch Vater und Mutter oder in der Begegnung mit Fremden. Lachen (und Humor) spielt in der Pflege auch sonst „eine wichtige Rolle“827 und scheint dort insbesondere drei Funktionen zu erfüllen: 1. Es begünstigt Nähe oder Vertrautheit zwischen im Grunde Fremden, die in einer unter normalen Bedingungen ungewöhnlichen Weise einander körperlich nahekommen,828 2. es drückt Solidarität und freundliche Zuwendung oder auch Kaschierung von Unsicherheit aus,829 3. es verringert soziale Distanz zwischen Menschen auf verschiedenen Stufen der Hierarchieleiter bzw. gleicht institutionelle Asymme822 823 824 825 826
Vgl. SV-14. Vgl. SV-1. Vgl. Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, 157ff. Vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 83. Vgl. van Hooff, J., A comparative approach to the phylogeny of laughter and smiling, in: Hinde, R. (Hg.), Non-Verbal Communication, Cambridge (1972), zit. in: Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, Paderborn (1987, 4. Aufl.). 827 Vgl. Sachweh, S., a.a.O., 139. 828 Ebd., 140. 829 Ebd.
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trien aus.830 Alle drei Funktionen dürften bei den dokumentierten Besuchen zum Tragen kommen, wobei die Kaschierung von Unsicherheit (am ehesten bei Seelsorgerin I zu beobachten) für das beobachtete Verhalten vermutlich weniger ausschlaggebend sein dürfte. Da Lächeln und Humor auch beziehungs- und vertrauensfördernd wirken,831 sind sie zugleich geeignet, zur Auflockerung einer bedrückenden Situation832 beizutragen. Die sieben Besuche Diakon Stempels (SIV) verlaufen im Gegensatz zu den anderen Seelsorgerinnen und dem Seelsorger insgesamt recht „pastoral“ und ernster, auch könnte man einige Besuche als etwas „steifer“ bezeichnen, als die der anderen Seelsorgerinnen und Seelsorger. Im Vergleich zu jenen wird bei Stempels Begegnungen weniger gelächelt. So zeigt sich bei den Besuchen des Diakons via negationis, dass tatsächlich eine beziehungs- und kommunikationsfördernde Wirkung des lächelnden/lachenden Gesichts-ausdrucks unterstellt werden kann. In diesem Zusammenhang sei eine Beobachtung der Säuglingsforschung referiert: Sie entdeckte, dass mimisch kommunizierte Affekte bei Neugeborenen der Einflussnahme in der Beziehungsregulierung dienen, indem sie die Interaktionspartner auf subtile Weise zu einer entsprechenden Antwort bzw. Reaktion nötigt. Affekte sind somit nicht nur Ausdruck inneren Erlebens, sondern bisweilen auch Instrumente zur Einflussnahme. Ihre regulative Kraft liegt in ihrer Ausdruckskomponente, die von dem Gefühl zu unterscheiden ist. Das alleinige Gefühl von Ärger hat noch keine vertreibende und das bloße Gefühl von Freude noch keine bindende Kraft. Es kommt entscheidend auf den für einen Interaktionspartner wahrnehmbaren Ausdrucksgehalt an. Dornes833 unterscheidet demnach zwischen der Gefühlskomponente als intrapsychischem und der Ausdruckskomponente als interpersonellem Signal. Freude im Gesicht wird das Gegenüber eher binden, Wut oder Ärger in die Flucht schlagen oder einen baldigen Aufbruch provozieren, Traurigkeit kann Trostverhalten wecken. Das Spektrum der mimischen Möglichkeiten ist demnach nicht nur Ausdruck inneren Empfindens, sondern zugleich ein „flexibles Mittel sozialer Kommunikation“834, dessen sich Personen mitunter bedienen, die zum verbalen Ausdruck noch nicht (Säugling) oder möglicherweise auch nicht mehr (z.B. Pflegebefohlene) fähig sind. Unter den 45 Besuchen finden sich 2, die durch die 830 831 832 833 834
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Ebd., 140, 142. Ebd., 142. Ebd., 143, 297. Dornes, M., a.a.O., 114 . Ebd., 111.
emotionale Verfassung der Besuchten auffallen, die erkennbar Einfluss haben auf das Verhalten der Seelsorger Stempel und Laurenz: Herr A. wehrt durch eine aggressive Armbewegung den zu Besuch kommenden Diakon ab (SIV-1), Frau L. sitzt in ihrem Bett mit deutlich traurigem Gesichtsausdruck (SV-12). Während die Abwehrbewegung des Herrn A. zu einem deutlichen Zurückweichen des Seelsorgers sowie zu einer Verkürzung der Besuchsdauer führt (1’21’’ statt durchschnittlicher Besuchszeit von 2’32’’), veranlasst Frau L. mit ihrer traurigen Mimik den Seelsorger zu einem für ihn eher untypischen Gesichtsausdruck: Er legt sein Gesicht regelrecht in Falten, zeigt sich „zerknirscht“ und imitiert scheinbar den mimischen Ausdruck der alten Dame. Damit hat sie einen gefunden, der „mitleidet“ und sich in ihre Betrübnis hineinversetzt (wie man es verbal mitunter tut, indem man solidarisch-betrübt einen Seufzer ausstößt: „Ach Mensch!“). c. Handbewegungen Sprachbegleitende Handbewegungen lassen sich klassifizieren nach drei Gruppen: Illustratoren dienen der Verdeutlichung des Gesagten (z.B. Zeigen auf einen Gegenstand, über den gesprochen wird). Diese nonverbalen Figuren üben eine semantische Funktion (Scherer) aus,835 da sie das Verbale ergänzen, verstärken oder verdeutlichen. Embleme haben einen kulturell genau definierten Bedeutungsgehalt (z.B. Winken beim Abschied, dreimaliges Klopfen auf Holz zur Bekräftigung von Gesagtem, Bekreuzigen als Segensgeste, warnendes Winken mit dem Zeigefinger in der Luft als Drohgebärde: Wehe!). Diese Handbewegungen haben eine pragmatische Funktion, da sie u.a. über dauerhafte Charakteristika, wie z.B. Gruppenzugehörigkeit oder Beruf, aber auch Einstellungen und Absichten der sie verwendenden Person informieren (Scherer/Watzlawick).836 Insofern verhelfen sie auch zu deren Selbstdarstellung837 (Goffman) und bereichern die solchem Zwecke dienenden nonverbalen Möglichkeiten um ein weiteres, leicht entschlüsselbares Element. Adaptoren, bei denen Selbst- und Objekt-Adaptoren zu unterscheiden sind, dienen der Regulation des Wohlbefindens in erregenden oder spannungsreichen Situationen. Sie äußern sich z.B. in Reiben, Puhlen, Kratzen an den Fingern, Händen oder Fummeln an einem Gegenstand.838 In ihnen zeigt sich etwas von 835 836 837 838
Vgl. Vgl. Vgl. Ekman,P./Friesen, W. V., Handbewegungen, a.a.O.
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der Attributions- bzw. Selbstoffenbarungsfunktion des Nonverbalen (Scherer/Schulz von Thun),839 denn sie lassen den emotionalen Zustand eines Kommunizierenden erkennen und erlauben Rückschlüsse auf dessen Befinden. Am häufigsten sind bei den begleiteten Besuchen Handbewegungen zu verzeichnen, die am besten als Adaptoren zu deuten sind: Bei drei von fünf Seelsorgern wurden Werte im dreistelligen Sekundenbereichgemessen, während bei Seelsorgerin II (Pastorin Pape) und Seelsorger IV (Diakon Stempel) solche nicht auffallen. Der Umstand, dass Stempel während seiner Besuche ein Losungsbüchlein in der Hand hält, kann möglicherweise als Objekt-Adaptor gedeutet werden, denn es scheint gelegentlich, als halte er sich an ihm regelrecht fest und finde so ein „Ventil“, das den übrigen Seelsorgern alternativ in Selbstberührungen zur Verfügung steht. Andererseits verströmt Stempel bei seinen Besuchen viel Ruhe und wirkt ausgeglichen, so dass wiederum zu fragen ist, weshalb er sich eines Adaptors bedienen sollte. Dass bei Seelsorgerin Pape keine Anhaltspunkte für einen vermeintlichen Spannungsabbau, der sich im Gebrauch von Adaptoren zeigt, zu finden sind, lässt sich gut mit der für sie charakteristischen Entspanntheit und Ausgeglichenheit erklären. Am zweithäufigsten finden sich illustrative Handbewegungen (z.B. Zeigen, Zeichnen eines angesprochenen Gegenstandes in die Luft, Formen einer Figur usw.), von denen der auch sonst der sehr ruhige Seelsorger IV am wenigsten Gebrauch macht (5”), während der in anderen Zusammenhängen bereits als sehr expressiv beschriebene Seelsorger Laurenz mit 122” am häufigsten diese Art der Handbewegung nutzt. Ein sparsamer Gebrauch der Embleme fällt bei allen Seelsorgern auf, am häufigsten ist er bei Seelsorger IV zu beobachten. Inwiefern die Theorie, dass Bewegungen für die Eindrucksbildung des Gegenübers eine herausragende Rolle spielen,840 für die Seelsorge relevant sein könnte, muss hier unbeantwortet bleiben. Sie regt aber zum Nachdenken nicht nur über die Bedeutung der Gestik, sondern insgesamt über den Stellenwert reger, dynamischer Körpersprache in der seelsorgerlichen Interaktion (mit hinfälligen Menschen) an und lässt danach fragen, ob eine expressive nonverbale Ausdrucksweise, wie sie etwa bei Seelsorger Laurenz zu beobachten war, 839 Vgl. 840 Kempter, G., a.a.O., 148.
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geeigneter sein könnte, vitalisierende Wirkungen zu entfalten und einen stärkeren Eindruck zu hinterlassen. d. Körperhaltung 7 der insgesamt 45 Besuche (15,5 %) erfolgen im Sitzen, 3 davon bei Seelsorgerin I (Sozialpädagogin Braune), 2 bei Seelsorgerin II (Pastorin Pape) sowie zwei bei Seelsorger III (Diakon Hamberg). Das „Sitzen“ während des sechsten und zehnten Besuches der Pastorin stellt sich bei genauerer Betrachtung jedoch als ein lockeres Abstützen auf der Bettkante (SII-10) dar. Hamberg nimmt, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit bei Besuchen auf den Zimmern der Pflegebefohlenen, auf einem Stuhl Platz, wenn er bei Heimbewohnern verweilt, die er in einem Tagesraum (evtl. am Tisch sitzend) antrifft (SIII-5.8). Dieser Umstand deutet auf eine seelsorgerliche Interessenverschiebung hin: Der veränderte seelsorgerliche Rahmen bzw. Ort der Interaktion (Gemeinschaftsraum, mehrere Personen in sitzender Körperhaltung) führt zu einem veränderten pastoralen Verhalten: Nun nimmt der Seelsorger auf einem Stuhl Platz, verweilt für längere Zeit bei den Besuchten und verzichtet auf den Gebrauch religiöser Symbolik (Embleme), der bei anderen Besuchen gelegentlich zu beobachten war. Da Seelsorgerin I auch sonst charakteristische Abweichungen zu den übrigen Seelsorgenden aufweist (Besuchzeit!), dürften stehende Besuche als typisch für die Seelsorge im Altenpflegeheim gelten. In diesem Punkt zeigt sich ein deutlicher Unterschied zur Krankenhausseelsorge, bei der etwa ein Drittel aller seelsorgerlichen Besuche im Sitzen stattfindet.841 Beim Stehen handelt es sich um die offensivste aller Körperhaltungen, zugleich ist es die flexibelste, da der sitzende Mensch an strategischer Raumbeherrschung einbüßt und in eine lokomotorische Defensive gegenüber allem, was sich um ihn herum zuträgt, gerät:842 Das Stehen scheint in der Heimseelsorge bewusst gewählt, denn es ermöglicht in der Begegnung mit Bettlägerigen ein differenziertes Distanz- und Raumverhalten und lässt rasch auf Bewegungen und Veränderungen der ans Bett Gefesselten reagieren.843 Es erleichtert auch den Blickkontakt zu Personen, die flach und möglicherweise zur Decke starrend auf dem Rücken liegen und erlaubt insgesamt eine stärkere Unmittelbarkeit bzw. 841 Vgl. Christian-Widmaier, P., a.a.O., 170. 842 Thurn, H. P., Der Mensch im Alltag, zit. in: Christian-Widmaier, P., Nonverbale Kommunikationsweisen, 67. 843 Ein markantes Beispiel stellt der Besuch Diakon Stempels bei Herrn A. (SIV-1) dar, bei dem der Seelsorger deutlich zurückweicht, um einer aggressiven Handbewegung des Besuchten auszuweichen.
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Verringerung von Distanz, wie sie für das Sympathie-Kommunizieren günstig ist.844 Den Pflegebefohlenen solches zu übermitteln dürfte gewiss im Interesse der Seelsorgenden gewesen sein, sei es, um die hinfälligen Menschen einfach zu erfreuen, sei es, um sie empfänglicher für eine seelsorgerliche ‚Botschaft‘ zu machen. Es fällt auf, dass bei keinem der von mir dokumentierten Besuche die seelsorgerlichen Gäste gebeten wurden, Platz zu nehmen. Auch fragen sie ihrerseits nicht, ob sie es dürften!845 Vor dem Hintergrund der durchschnittlichen Besuchszeit ist dieses Verhalten für die Seelsorger plausibel: Ihr Kommen intendiert aus inhaltlichen oder praktischen Gründen Kürze und scheint auf eine möglichst hohe Zahl täglicher Besuche angelegt zu sein. Damit scheidet ein Platznehmen aus. Die stehende Körperhaltung ermöglicht zudem einen schnellen Aufbruch, wie er mitunter geboten ist bei eintretender Erschöpfung oder plötzlicher Unpässlichkeit.846 Auch vermag das Stehen – insbesondere bei Bettlägerigen oder bei Besuchen männlicher Seelsorger bei weiblichen Pflegebefohlenen – auf Schamgefühle Rücksicht zu nehmen und ist als weniger intim zu werten als das mitunter invasiv wirkende Sitzen am Bett, das zumeist in Höhe des Oberkörpers oder der Taille und mit dem Kopf gleichauf mit dem Körper der Besuchten erfolgt.847 So erklärt sich auch das Verhältnis der gewählten Distanzzone zur eingenommenen Körperhaltung, welches als umgekehrt proportional zu beschreiben ist: Da ein sitzender Besuch am Bett als intimer gelten kann, wird ein größerer Abstand als Kompensation gewählt.848 Die größere Intimität sowie Intensität sitzender seelsorgerlicher Besuche mag erklären, warum die Besuchten ihrerseits nicht auffordern, Platz zu nehmen. 844 Vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 259. 845 Bei Seelsorgerin I (SI-4) findet sich folgende Sequenz, bevor sie sich auf einen Stuhl setzt: „Ich setz’ mich mal ein bisschen zu Ihnen“, woraufhin von der Besuchten erwidert wird: „Bitte, gern!“. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine weitere dem 1. Besuch derselben (SI-1) voranging, ohne dass die Kamera schon mitlief. Da die von Seelsorgerin I Besuchten zuvor alle auf das Kommen eines Beobachters vorbereitet worden waren, mag allerdings eine ausdrückliche Aufforderung bzw. Anfrage obsolet erscheinen. 846 Vgl. Pastor Stempels Einschätzung der Belastbarkeit hochbetagter, pflegebedürftiger Menschen, II.C.1.e. 847 Vgl. das Kapitel ‚Schamgrenzen‘ bei Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, 211 – 223. 848 Vgl. SI-1.2.4 [dort die Angaben zu deren räumlichem Verhalten]. Bei ChristianWidmaier findet sich ein ähnliches Ergebnis, wobei in den von ihr beschriebenen sitzenden Konfigurationen jeweils beide Interagierenden einander (z.T. in Alltagskleidung) gegenübersaßen, vgl. a.a.O., 170.
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Es könnte hierin aber auch ein Indiz für die Richtigkeit der These Laurenz’ (Seelsorger V) gesehen werden, der meint, seelsorgerliche Besuche im Pflegeheim würden schnell ermüden, weshalb die Besuchten die Länge der Begegnung auch nicht forcierten. Neben der am häufigsten zu beobachtenden Körperhaltung des Stehens lassen sich noch eine gehende/sich bewegende (bei Seelsorgerin I) sowie eine kniende/hockende (bei Seelsorgerin II) beobachten. In ihnen kommen jeweils zwei individuelle Varianten der weiblichen Seelsorger zum Ausdruck. Zum Gehen/Sich bewegen bei Besuchen wird in anderem Zusammenhang noch Weiteres ausgeführt werden.849 Pastorin Papes Bereitschaft, in die Hocke zu gehen oder einmal sogar vor einer Besuchten zu knien,850 zeigt ihre ausgeprägte Intention, auf gleicher Augenhöhe zu kommunizieren und eine Körperhaltung zu vermeiden, die als „von oben herab“ empfunden werden könnte. Dieses Motiv des Verhaltens, das bereits in anderem Zusammenhang angesprochen wurde und sich in weiteren Interaktionsweisen bekundet, kommuniziert unter einem Beziehungsaspekt851 (Watzlawick/Schulz von Thun) etwas von ‚Parität‘: Die/der Besuchende – obgleich in einer anderen Position als die/der Besuchte – versucht, so gut es geht, sich auf die Ebene des pflegebedürftigen Menschen zu begeben, um ihm nahe zu sein. e. Körperkontakt Körperkontakt ist bei fast allen Besuchen ein wichtiger Bestandteil. Auf der Basis der gemessenen Werte lässt sich prozentual ausdrücken, wie häufig die einzelnen Seelsorger bei ihren Besuchen durchschnittlich haptisch kommunizieren: SI = 9,7 %, SII = 79,4 %, SIII = 20,6 %, SIV = 33 %, SV = 18,6 %. Bezogen auf alle 45 Besuche geht eine durchschnittliche seelsorgerliche Begegnung zu etwa einem Drittel der Zeit mit Berührungen einher. Als charakteristisch für die Seelsorge in Pflegeheimen dürfte somit gelten, dass sie sich mit einem hohen Anteil an Körperkontakt verbindet. Abermals fällt Sozialpädagogin Braune mit ihrem von dieser Regel abweichenden, äußerst sparsamen Gebrauch haptischer Ausdrucksweisen auf. Die Vermutung liegt nahe, dass ihre unterstellte Intention, ein seelsorgerliches Gespräch zu führen, mit der Vernachlässigung des Haptischen in Zusammenhang zu sehen ist und diese bedingt. Folgende Regel wäre zu formulieren: Je gesprächsorientierter der Seelsorger/die Seelsorgerin, desto weniger kommuniziert sie haptisch, oder: Je gesprächsfähiger die pflegebedürf849 Vgl. weiter unten zum Stichwort ‚Handreichungen/Hilfestellungen‘. 850 Vgl. SII-5.9 (jeweils dieselbe im Sessel sitzende Besuchte). 851 Vgl. II.A.
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tige Person, desto zurückhaltender die Seelsorgerin/der Seelsorger im Gebrauch der Berührungen. Berührungen scheinen ein Ersatz für das Verbale zu sein. Die Häufigkeit der beobachteten Berührungen lässt bereits vermuten, dass diese nicht nur in der Begrüßungs- und Verabschiedungsphase zu lokalisieren sind (z.B. Händeschütteln, -halten, -streicheln), sondern mehr oder weniger gleichmäßig über alle Besuchsphasen verteilt sind, wie es tatsächlich der Fall ist. Der Körperkontakt im Pflegeheim ist deshalb nicht nur als Beruhigungskundgabe oder Beschwichtigungsgebärde innerhalb des Zugänglichkeitsrituals (Begrüßungsrituals) zu deuten,852 sondern vielmehr als ein Beziehungszeichen853, dessen Bedeutung in der Versicherung von Beistand und Miteinander liegt. Goffman veranschaulicht dieses Zeichen am Paradigma des ‚Händchenhaltens‘, das nicht nur das Vorhandensein einer bestimmten Art von Beziehung darstellt oder den Wert derselben bekräftigt. Das Händehalten kann auch als Zeichen interpretiert werden, sich einem Menschen „zur Verfügung zu stellen“, ihm also nahe sein und bei ihm bleiben zu wollen.854 Der Vergleich mit Untersuchungen zur Krankenhausseelsorge zeigt, dass auch dort das Vorkommen von Beziehungszeichen nachgewiesen ist, jedoch mit zwei zur Pflegeheimseelsorge charakteristischen Unterschieden: Zum einen ist dort die „Begrenztheit des Körperkontaktes im seelsorgerlichen Umgang mit Patienten“ festzustellen: Es konnte beobachtet werden, dass Berührungen der Patienten auf die Hände und, abgesehen von der Berührung der Stirn beim Segensgestus, allenfalls noch den Arm oder die Schulterpartie beschränkt sind.855 Zum anderen sind die meisten Handkontakte – im Gegensatz zu denen bei Heimbesuchen – in der Begrüßungsphase der Interaktion zu lokalisieren,856 während ein Handgruß im Pflegeheim oft ausfällt.857 852 Goffman, E., Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt a.M. (1974), 111ff., knüpft an die Theorie des Verhaltensforschers Konrad Lorenz an, dass Begrüßungszeremonien im Tierreich den Zweck hätten, Aggressionen zu verhindern und zu beschwichtigen, vgl. Lorenz, K., Er redet mit dem Vieh, München (1964). 853 Goffman, E., Das Individuum im öffentlichen Austausch, 307. 854 Ebd. 855 Christian-Widmaier, P., a.a.O., 90, 168f. 856 Ebd., 171. 857 Charakteristisch für ein Begrüßungsritual im Pflegeheim ist – falls ein solches nicht völlig entfällt, wie häufig zu beobachten ist [vgl. z.B. II-1.2.3 (?).4.6.5.9; III-1.9.; IV1.7; V-2.14] eine Initialberührung durch die zu Besuch Kommenden, oft an der Hand oder der Schulter der Pflegebefohlenen [III-3.6.7.10.; IV-3.6.; V-3.5.6.7.8.11.13]. Gelegentlich geht diese Berührung in ein prolongiertes Belassen der Hand an derselben Stelle über [II-5; III-10; V-7.12]. Ein Abschiedsritual entfällt ebenfalls häufig, besteht, sofern es vorkommt, nicht immer aus einem Händeschütteln, sondern abschließenden,
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Auch in der Seelsorge mit Pflegebefohlenen zählen Berührungen der Hand zu den bevorzugten Formen (SI = 46 %, SII = 72 %, SIII = 56 %, SIV = 51 %, SV = 73 %), gefolgt von Armkontakten (SI = 15 %, SII = 9 %, SIII = 39 %, SIV = 0 %, SV = 2 %). Hand- und Armberührungen machen durchschnittlich etwa 73 % aller Berührungen aus. Ein weiteres Drittel verteilt sich auf Schulter, Brust, Hals, Rücken und Kopf. Berührungen des Kopfes beschränken sich nicht auf Segenshandlungen, wie es in einer Untersuchung zur Krankenhausseelsorge die Regel war, sondern sie finden sich im Kontext des Pflegeheims auch unabhängig davon, z.B. beim zumeist kurzen und flüchtigen Streicheln des Kopfes858, wobei noch einmal differenziert werden kann zwischen Berührungen des Hauptes, der Stirn bzw. der Schläfe, des Auges, der Wange und sogar der Nasenspitze. Die dokumentierten Berührungen erfolgten allesamt an Stellen, die zum nicht-tabuisierten körperlichen Bereich unseres Kulturkreises zählen.859 Gleichwohl bringen die meisten Formen körperlichen Kontaktes „eine gesteigerte Intensität der Beziehung zur anderen Person“ zum Ausdruck und eignen sich, sexuelle, affiliative oder kameradschaftliche Beziehungen auszudrücken und Vertrautheit zu bekunden.860 Das Kommunizieren einer affiliativen Beziehung dürfte die Intention der Seelsorgerinnen und Seelsorger gewesen sein und das gesteigerte haptische Verhalten teilweise erklären. Die Berührungen können demnach mit Watzlawick als Anrufung bestimmter Beziehungsformen bzw. als Beziehungsappell861 gedeutet werden, mit dem die Seelsorgerinnen und Seelsorger sich den Pflegebefohlenen als Verbündete empfehlen und um Vertrauen zu ihrer Person werben: Du bist nicht allein! Einer steht Dir verlässlich zur Seite! Einer sieht nach Dir! Ein derartig um Vertrauen werbendes Beziehungsangebot appelliert zugleich an das Vertrauen zum Leben, denn indem es Vertrauen zu einer verlässlich begleitenden Person gibt, wird auch das Lebensvertrauen gefördert und menschliches Urvertrauen aktiviert. Ein solches ist untrennbar mit Personen verknüpft und entwickelt sich aufgrund verlässlicher, durchhaltender, liebender und sorgender, zumeist elterlicher Zuwendung. Kraft solcher Verlässlichkeit kann emotionale Sicherheit und Furchtlosigkeit vor der Umwelt, eben Grundvertrauen, erwachsen, das einem Mensch hilft, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und jene selbstbewusst in Angriff zu nehmen.
858 859 860 861
kurzen Berührungen an der Hand [III-1, IV-2.3; V-2] bzw. Schulterklopfen oder –berühren [I-4; III-8]. Dabei kann als – naheliegende - Regel gelten, dass das Ritual umso unauffälliger ausfällt, je schlechter der Zustand der Besuchten ist. Vgl. z.B. SII-2.4 und SV-10.11. Vgl. Argyle, M., Soziale Interaktion, 93. Ebd., 92f. Vgl. II.A.
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Die Seelsorgenden schlüpfen somit in die ‚Rolle‘ eines elterngleichen Beschützers, die sich vom Kontext der Begegnung nahelegt: An diesem Ort gibt es Betten mit Schutzbefohlenen, deren Körper gepflegt werden und die wenig sprechen. Die Situation erinnert an die eines Kleinkindes und evoziert ein entsprechendes (haptisches) Verhalten. Indem die Seelsorgerinnen und Seelsorger unterschiedliche Weisen des Berührens praktizieren, errichten sie eine positive seelsorgerliche ‚Fassade‘862 (Goffman), die ihre Wirkung nicht verfehlen dürfte. Eine besondere Intensität der Beziehung zeigt sich in der Art der Berührung, wie sie im Streicheln und Festhalten bzw. dem längeren Belassen der Hand an einer Stelle zum Ausdruck kommt. Letzteres war mit durchschnittlich 78 % die bevorzugte Form (SI = 69 %, SII = 78 %, SIII = 88 %, SIV = 93 %, SV = 62 %), die in der Krankenhausseelsorge, insbesondere in Varianten eines intensivierten Handgebens, vor allem beim Abschied, in Erscheinung tritt.863 Streicheln geht mit durchschnittlich knapp 18 % aller Berührungen einher (SI = 26 %, SII = 15 %, SIII = 9 %, SIV = 4 %, SV = 35 %) und scheint bei männlichen wie weiblichen Seelsorgern gleichermaßen üblich. Untersuchungen zur Krankenhausseelsorge konnten Streicheln nicht nachweisen,864 was vermutlich nicht allein auf ein persönlichkeitsspezifisches Merkmal des dort begleiteten Seelsorgers zurückzuführen ist, sondern ebenfalls in Zusammenhang mit den erwähnten charakteristischen Phänomenen, wie z.B. Overcare, Infantilisierung, Dominanz des Körperlichen, Betulichkeit usw. zu sehen ist, welche die Kultur stationärer Pflege kennzeichnen. Insbesondere dürfte zum Verständnis des Haltens und Streichelns der Zusammenhang wichtig sein, in dem Argyle sie sieht. Für ihn sind Streicheln, Liebkosen und Festhalten Bestandteile elterlichen, sexuellen oder sonstigen fürsorglichen Verhaltens.865 Entsprechend eignen sie sich als Weise der Seelsorge und besitzen ein Potenzial zu trösten, zu ermutigen oder zu beruhigen. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger kommunizieren im Gebrauch des Haptischen insgesamt einen intensivierten Grad an Nähe, der sich zusammensetzt aus den Parametern 1. Grad der Intimität (Umarmung intimer als Händedruck), 2. Häufigkeit und 3. Dauer des Körperkontaktes.866 Es sind vor allem die Variablen zwei und drei, mit denen die Besuchenden Nähe, Fürsorglichkeit und Beistand zum Ausdruck bringen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bei 862 863 864 865 866
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Vgl. II.A. Vgl. Christian-Widmaier, P., a.a.O., 169. Vgl. Christian-Widmaier, P. , a.a.O. Argyle, M., Soziale Interaktion, 91. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 268.
Säuglingen Berührungen das wichtigste Kommunikationsmittel sind867 und die Seelsorgenden möglicherweise in der Ahnung um die Parallelität von Lebensanfang und Lebensende868 an dieses Verhalten anknüpfen.869 Auch ist zu sehen, dass in manchen Beziehungen Personen mit höherem Status andere mit niedrigerem Status berühren dürfen, wie z.B. Ärzte ihre Patienten, Eltern ihr Kind, Pflegende die Gepflegten, Seelsorgende im Heim die Pflegebedürftigen. Auch sei noch einmal an die These des Ethnologen Müller erinnert, der eine „Kraftdiffusion“ von einem auf den anderen Menschen für möglich hält. Eine solche Übertragung sei nicht nur durch Blicke, sondern ebenso durch Berühren möglich,870 wobei Letztere noch unmittelbarer stattfinde, wie Müller meint. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass Berührungen mit Empfindungen einhergehen und Gefühle wecken. So lässt das Spektrum der unterschiedlichen Berührungen vermuten, dass die Seelsorgenden sich das anthropologische Faktum zunutze machen, dass der Mensch nicht nur Kopf und Denken, sondern auch Bauch und Fühlen ist und es in der !Seelsorge auch darum gehen kann, Gefühle anzusprechen und angenehme Empfindungen zu wecken. f. Räumliches Verhalten Alle Besuche spielten sich in einer intimen (durchschnittlich 790”) bis persönlichen Distanz (durchschnittlich 1331”)871 ab. Kennzeichnend für eine intime Distanz ist ein Abstand von unter 50 cm (wie sie bei intimen Beziehungen erlaubt ist), bei dem Körperkontakt leicht ist, der andere gerochen und dessen Wärme gefühlt wird und ein Sprechen im Flüsterton möglich ist.872 Kennzeichnend für eine persönliche Distanz ist ein Abstand zwischen 50 und 120 cm (wie sie bei nahen Beziehungen erlaubt ist), bei dem der andere ebenfalls berührt und besser gesehen, dessen Atem aber nicht mehr zu riechen ist.873 In beiden Weisen des räumlichen Verhaltens, die im untersten Bereich von vier Distanzzonen liegen,874 in dem Personen miteinander interagieren, zeigt 867 Ebd., 269. 868 Vgl. I.B.20. 869 Bei ihrem Besuch bei der schwerkranken, grippal infizierten Frau H. (SII-8) bewegt die Seelsorgerin die leicht angewinkelten, emporragenden Knie der Dame leicht rhythmisch von rechts nach links wie beim Wiegen eines Kindes. 870 Müller, K. E., a.a.O., 217ff. 871 Gemessen wurde jeweils der Abstand von Kopf zu Kopf. 872 Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 282. 873 Ebd. 874 Neben sozial-beratend (2,5 – 3,5 m.) und öffentlich (3,5 m. und mehr).
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sich eine charakteristische Nähe der seelsorgerlichen Besuche, die bei unpersönlichen Beziehungen bzw. Beziehungen zu Fremden in unserem Kulturkreis eher unüblich ist. Untersuchungen zeigen, dass „eine größere Nähe als Sympathie dekodiert wird“875. Verstärkt wird diese Nähe- und Sympathiebezeugung noch durch die Steh- oder Sitzposition (Lokalisation), die im Verhältnis zu den Besuchten eingenommen wird, in der Regel bei 90° Seite an Seite der Bettlägerigen (etwa in Höhe zwischen Taille und Schulter), wie es in Konversation und nicht konkurrierender Interaktion üblich ist.876 Die hier ermittelten Befunde decken sich mit denen aus der Krankenhausseelsorge.877 Das räumliche Verhalten der Seelsorgenden lässt diese zu „Nahestehenden“ werden und fungiert als weiteres Element, Nähe zu kommunizieren. Die Seelsorgenden scheinen sich in der Rolle von Nähe Suchenden und Anbietenden zu gefallen und komponieren eine entsprechende Fassade, in die sich auch andere nonverbale Bausteine gut einfügen. Das seelsorgerliche Verhalten scheint von der Annahme bestimmt, Nähe tue wohl und sei hilfreich. g. Äußere Erscheinung Da Kleidung, Abzeichen oder Schmuck unter der Kontrolle desjenigen stehen, der sie trägt bzw. verwendet, kann mit ihnen auch kommuniziert werden. Daher sind sie ebenfalls zur nonverbalen Kommunikation zu zählen. Kleidung übt u.a. die Funktion aus, über Status und Gruppenzugehörigkeit zu informieren und für andere leichter identifizierbar zu werden. Diese Funktion ist in dem hier untersuchten Kontext besonders interessant, denn es gibt auch bei evangelischen Geistlichen Amtskleidung wie das Colarhemd, die Farbe Schwarz, das Tragen eines Kreuzes (an Kette oder Revers). Unter der Fragestellung der nonverbalen Kommunikation ist zu untersuchen, wie die Seelsorgerinnen und Seelsorger äußerlich auftreten und was sie demgemäß kommunizieren wollen. Bis auf Diakon Stempel (SIV) bedient sich keiner der Fünf einer entsprechenden Kennzeichnung durch Kleidung, Farbe oder Abzeichen. Lediglich Stempel trägt an seinem Jacket ein etwa 1 x 1 cm großes Kreuz (und hält stets sein Losungsbüchlein in der Hand, was sicherlich ein weiterer äußerer Hinweis auf sein pastorales Selbstverständnis ist). Beide weiblichen Seelsorger tragen Hose und Pullover, Seelsorgerin Braune (SI) trägt einen um den Hals geschlungenen Seidenschal. Das Auftreten beider 875 Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 285. 876 Ebd., 287. 877 Vgl. Christian-Widmaier, P., a.a.O., 26, 170.
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Damen ist als eher „progressiv“ zu bezeichnen (kein Rock, Kleid). Beide Damen sind ungeschminkt und benutzen kein Parfum. Seelsorger Hamberg (SIII) trägt ein kurzärmeliges Hemd, tritt wenig amtlich oder standesbetont auf im Vergleich zu Seelsorger Stempel (SIV) und Laurenz (SV), die beide mit einem (dreiteiligen) Anzug samt Krawatte gekleidet sind und insgesamt „konservativer“ wirken. Die Gründe für den Verzicht auf äußere Erkennbarkeit lassen sich nicht ohne Weiteres erklären. Festzustellen ist, dass die fünf seelsorgerlichen Besucher eine mehr oder weniger eindeutige Identifizierbarkeit durch das Äußere für entbehrlich halten. Denkbar scheint, dass hier eine Tradition des Protestantismus – in der Amtskleidung außerhalb des liturgischen Rahmens eher unüblich ist – gepflegt wird. Auch kann es sein, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger sehr bewusst auf ein klerikales Erscheinungsbild verzichten, um nicht eine „initiale Übertragung“ auszulösen, wie sie – so Gestrich878 – bei der Vorstellung des Seelsorgers sogleich bewirkt werden kann. Ihnen scheint weniger die Identifizierbarkeit wichtig, als vielmehr der tatsächliche Beistand bzw. Vollzug. 2.1.2. Verhalten a. Besuchsdauer Die Besuchsdauer der Seelsorger II – V variiert zwischen 2’31’’ und 4’04’’ und beträgt einen mittleren Wert von rund 3 Minuten. Eine erhebliche Abweichung findet sich bei Seelsorgerin I mit durchschnittlich gut 20 Minuten. Auch in anderen Zusammenhängen werden auffällige Abweichungen zu den vier anderen Begleiteten deutlich, insbesondere bei der im Besuch eingenommenen Körperhaltung: Seelsorgerin I setzt sich grundsätzlich hin, während die anderen ihre Besuche mit wenigen Ausnahmen stehend vollziehen. Besuchszeit und Körperhaltung scheinen demnach in einer (naheliegenden) Korrelation zueinander zu stehen: Ist ein Besuch auf längere Zeit angelegt, wird Platz genommen; soll er kurz sein, macht es keinen Sinn, sich auf einem Stuhl „einzurichten“. Auch ist von einer Korrelation zwischen Besuchsdauer/Körperhaltung einerseits sowie Berührungsverhalten andererseits auszugehen, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Die mit etwa 3 Minuten in der Pflegeheimseelsorge ermittelte Kürze eines Besuches weicht deutlich von der durchschnittlichen Besuchszeit der Kranken-
878 Vgl. Gestrich, R., a.a.O., 9 – 23.
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hausseelsorge (knapp 30 Minuten)879 ab. Diese zehnfache Abweichung ist interpretationsbedürftig: Die Kürze der Besuche lässt vermuten, dass es den Seelsorgerinnen und Seelsorgern nicht so sehr um ein ausführliches Gespräch geht. Ein solches braucht Zeit, wie Seelsorgerin I sie sich – abweichend von den anderen – mit rund 20 Minuten tatsächlich nimmt. Indem sie sich setzt, macht sie deutlich, dass sie Zeit hat. Ihre Besuche leben vom Gespräch. Bei allen Besuchten handelt es sich so auch um sprachfähige, geistig rege, geradezu mitteilungsbedürftige Damen, denen die Seelsorgerin viel Gelegenheit gibt, sich zu äußern. Berücksichtigt man, dass Seelsorgerin Braune einen pädagogischen Hintergrund hat, so deutet sich ihre poimenische Orientierung an, die auf das Gespräch zielt und somit dem Typus einer Seelsorge theologisch-psychologischer Prägung zuzuordnen ist, zu dem u.a. die Beratende, Therapeutische, Themenzentrierte oder Gesprächspsychotherapeutisch orientierte Seelsorge zählen.880 Eine solche poimenische Ausrichtung scheint hingegen nicht leitend für die Seelsorger II – V zu sein. Deren hier dokumentierte Besuche erhielten bis auf einen keine Erstbesuche. Lediglich beim Besuch IV-5 handelt es sich um einen Erstkontakt, der mit 6’09’’ doppelt so lang ausfällt wie die übrigen seelsorgerlichen Begegnungen. Dies könnte darauf hindeuten, dass wiederholte und regelmäßige Besuche deutlich kürzer ausfallen als Initialkontakte. Bei letzteren ist ein größeres Bedürfnis nach Information anzunehmen, da der/die Besuchende sich beim ersten Kontakt einen Eindruck über die Situation verschaffen und sich ein Bild von der bis dahin fremden Person machen möchte. Die Länge des dokumentierten Besuches IV-5 könnte aber auch schlichtweg mit Verständigungsschwierigkeiten zu erklären sein, da es nicht immer leicht ist, den mit Akzent sprechenden Mann spanischer Herkunft zu verstehen. Die Kürze der Besuchszeit trägt sicherlich dem ganz praktischen Umstand Rechnung, dass Besuche bei pflegebedürftigen, bettlägerigen alten Menschen Besuchende wie Besuchte gleichermaßen rasch ermüden. Wie sehr psychisch und physisch kräftezehrend seelsorgerliche Zuwendungen im Pflegeheim sind, wird auch daran erkennbar, dass die fünf Begleiteten erklärten, das von mir dokumentierte Pensum der Besuche entspräche etwa dem Durchschnitt eines Arbeitstages. Anstrengend sind diese nicht nur aufgrund der erforderlichen Konzentration und der ermüdenden Heimatmosphäre mit ihrer „allgemeinen Gedämpftheit“ (Koch-Straube), sondern auch, weil häufig – wie zu beobachten 879 Christian-Widmaier, P., a.a.O., 41. 880 Vgl. Nauer, D., Seelsorgekonzepte im Widerstreit.
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war – eine körperliche Erschwernis hinzukommt: Die Seelsorger müssen sich gelegentlich weit hinunterbeugen, um sich verständlich zu machen (ins Ohr sprechen oder gar brüllen)881 oder umarmen882 zu lassen, sie begeben sich in die Hocke883, um auf gleicher Augenhöhe mit einem Besuchten zu sein, sie neigen ihren Oberkörper im Stehen um bis zu 90°884, um ins Gesichtsfeld der Besuchten zu treten und von ihr gesehen zu werden.885 Auch erfordert die Kommunikation von Nähe gelegentlich entsprechende körperliche Verrenkungen, die oft strapaziös sind. Eine hohe Zahl kurzer Besuche im Pflegeheim trägt auch den mitunter recht kurzen Verweilzeiten Pflegebedürftiger in Heimen Rechnung und ermöglicht so eine größere Zahl täglicher Besuche.886 Mit diesen eher praktischen Erwägungen erschöpfen sich jedoch nicht die Erklärungen für das Phänomen der auffälligen Kürze der dokumentierten Besuche. Es scheint vielmehr, als folgten die Kurzbesuche auch einem inneren Prinzip bzw. einer bestimmten Systematik: Zu hoch ist ihr Anteil an der Gesamtzahl der seelsorgerlichen Begegnung, auch fällt auf, dass vier von fünf Seelsorgenden, die sich in dieser Frage – mit Ausnahme von Stempel und Laurenz – nicht absprechen konnten, den Typ des Kurzbesuches pflegen, der in der Poimenik zudem nicht thematisiert ist. Es scheint mir möglich, die Besuchsdauer als Folge des Mechanismus der Einschränkung887 zu deuten, den Goffman in einer Bühnensituation als wirksam sieht. Die in einer Bühnensituation agierende Person ist demzufolge darauf bedacht, ein Zuviel an Informationen, übermäßige Nähe und zu große Vertraulichkeit zu unterbinden, um eine „Mystifikation“ der Darstellung bzw. Rolle zu bewirken. Auf diese Weise gelingt es ihr leichter, den intendierten Eindruck von sich zu vermitteln und die angestrebte Idealisierung der jeweiligen (hier: pastoralen) Rolle zu befördern. Die kurze Besuchszeit könnte demnach ein Mittel der Ausdruckskontrolle sein, da sie die Eigenschaft der Beschränkung hat und es den Seelsorgenden erlaubt, sich konzentriert der nonverbalen Interaktionsweisen zu bedienen. Die „notwendige Stimmigkeit des Ausdrucks“888 wird damit leichter möglich, denn der Versuch, sich nonverbaler Stimuli zu bedienen, 881 882 883 884 885 886 887 888
Z.B. SV-3. Z.B. SIV-7. Z.B. SII-5. 9. Z.B. SII-5.7. Z.B. SII-7, SIII-1.2.3.4, SIV-2, SV-5.6. Zu den Verweilzeiten vgl. I.B.9.b. Vgl. II.A. Goffmann, E., Wir alle spielen Theater, 52.
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bedeutet eine enorme Herausforderung für die darstellende Person. Es lässt sich nicht ohne Weiteres für längere Zeit eine nonverbale „Aufführung“ durchhalten, in der es nicht früher oder später zu Widersprüchen oder Brüchen kommt. Eine Begrenzung der Besuchsdauer könnte dazu verhelfen, Stimmigkeit und Spannungsbogen des Nonverbalen aufrechtzuerhalten und sich der seelsorgerlichen „Bühnensituation“ rechtzeitig zu entziehen, bevor die „Fassade“ zu „bröckeln“ beginnt. Es ist interessant, dass Goffman den Begriff der „Mystifikation“ wählt, um das Phänomen der Unangreifbarkeit zu beschreiben.889 Im Idealfall gelingt es einer darstellenden Person in der „Bühnensituation“ demnach, etwas wie eine Aura um sich zu schaffen, vergleichbar der eines „Königs“ oder des „delphischen Orakels“. Fraglos vermag eine kurze Besuchszeit eine solche Aura zu begünstigen, da der/die Besuchende sich der Möglichkeit entzieht, genauer erfasst, studiert, beobachtet oder analysiert zu werden. Bald ist die besuchende Person schon wieder entschwunden, und es bleibt ein (vager) Eindruck vom Auftretenden zurück. Die Kurzbesuche könnten darauf abzielen, eine geeignete Eindrucksbildung unter Zuhilfenahme der beschriebenen Mechanismen hervorzurufen. Eine kurze Besuchsdauer kann somit als Element geeigneter Eindrucksmanipulation verstanden werden. b. Handreichungen und Hilfestellungen Bei vier der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger finden sich wenige Male Verhaltensweisen, die den Charakter von Handreichungen und Hilfestellungen tragen. Ein besonders markantes, ausgeprägtes Beispiel bietet der Besuch der Seelsorgerin Braune bei Frau B. (SI-2), die solche Dienste erbittet, sie ihrer Besucherin geradezu aufnötigt und sich offensichtlich allzu gern verwöhnen lässt: Sie lässt sich eine Zigarette reichen, die Asche abklopfen, ein Getränk und Süßigkeiten zureichen und die Rückenlehne verstellen. Braune versagt sich nicht und geht der Bettlägerigen recht widerspruchslos zur Hand. Vergleichbare Elemente solcher Fürsorglichkeiten finden sich auch bei den Besuchen SII, SIII sowie SV: Insbesondere bei Pastor Laurenz sind sie gelegentlich zu beobachten, mitunter in subtilen Varianten: Er trägt ein Tablett aus dem Zimmer,890 deutet Elemente eines „Bettenmachens“ an, indem er die Decke (leicht bis stärker) aufschlägt,891 ein Kissen zurechtrückt892 oder -stupst893, die Matratze zurecht
889 890 891 892 893
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Vgl. ebd., 62ff. SV-2. SV-4.5. SV-4.5.10. SV-3.9.
zurrt894 oder einmal den Mund abwischt895. Pastorin Pape und Diakon Hamberg reichen ein Getränk896 bei gleichzeitigem Anheben des Kopfes bzw. des Kopfkissens897, Hamberg assistiert beim Essen: Serviette umlegen, Mund abwischen, Serviette zusammenlegen898, ein Fenster oder einen Vorhang öffnen/aufziehen bzw. schließen/zuziehen899. Es ist möglich, in manchen dieser Verrichtungen einen Ausdruck von Unsicherheit zu erkennen, vergleichbar den Objekt-Adaptoren, die unter Zuhilfenahme von Gegenständen einen Spannungsausgleich erlauben. Im Kontext der bisher beschriebenen Verhaltensweisen scheint es jedoch wahrscheinlicher, in allen Handreichungen einen Ausdruck von Fürsorglichkeit zu sehen, die es den Besuchten so angenehm wie möglich machen, ja, sie sogar verwöhnen will (engl. Caring). Diese Intention ist auch in anderen Bereichen des Pflegeheimalltags zu beobachten, z.B. bei der Körperpflege900, wobei schnell die Gefahr eines Overcarings gegeben ist, die im Umgang mit alten Menschen besonders groß ist.901 Anzeichen für eine übertriebene Fürsorge konnten in den seelsorgerlichen Begegnungen jedoch nicht registriert werden. Die erkennbare Dominanz der Frau B. in dem erwähnten Besuch Braunes (SI-2), die z.B. auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie Handreichungen erbittet, zu denen sie selbst mühelos imstande wäre, lässt nach einer Erklärung dieses auffälligen – da von allen übrigen 44 Besuchen abweichenden – Verhaltens fragen: Dabei hilft es, den Verhaltensspielraum der ans Bett Gefesselten zu bedenken. Christian-Widmaier902 macht darauf aufmerksam, wie sehr sich das Bett, normalerweise ein Ort der Geborgenheit und Intimität, in stationären Einrichtungen ins Gegenteil verkehrt. Hier ist es für das Personal jederzeit zugänglich und ein Ort „allseitiger Zugriffsmöglichkeit“, wie an der Aufstellung und Position des Bettes im Raum deutlich wird. Die Pflegebefohlene durchbricht jedoch mit ihrer Dominanz in der Begegnung mit der Seelsorgerin ihr liegendes, institutionelles Ausgeliefertsein und findet darin einen Moment lang zurück zu einer gewissen Selbstbestimmtheit bzw. „Macht“. Die Seelsorgerin kommuniziert, indem sie gewähren lässt, Verständnis und Unterordnung. Ein
894 895 896 897 898 899 900 901 902
SV-10; auch SIII-4. SV-9; auch SIII-10. SII- 4, SIII-10. SIII-10. SIII-10. SII-6, SIII-1. Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, Abschnitt ‚Verwöhnung‘, 225 – 227. Vgl. Sachweh, S., a.a.O., 25f. Christian-Widmaier, P., a.a.O., 26.
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ähnliches Phänomen beschreibt Wittkowski903 bei Sterbenden und deutet es als Versuch einer „Situationskontrolle“, da die Geschehnisse in ihrer Umgebung für sie nicht mehr steuerbar sind. Selbst Wut oder Zorn können so noch verstanden werden als eine letzte Möglichkeit des hinfälligen oder sterbenden Menschen, sich wenigstens vorübergehend als aktiv Handelnden zu erleben.904 Dieser Mechanismus erklärt jedoch nicht die übrigen beobachteten Handreichungen und Hilfestellungen, die nicht „provoziert“ wurden durch die Dominanz einer pflegebedürftigen Person. Eine solche Gestalt seelsorgerlicher Interaktion erweckt vielmehr den Eindruck, sie kommuniziere etwas vom professionellen Selbstbild und bringe zum Ausdruck, in welcher Rolle die Seelsorgenden gern gesehen werden. Unter dem Selbstoffenbarungs-Aspekt der Kommunikation verstärken die Handreichungen und Hilfstellungen, insbesondere aufgrund ihres fürsorglichen Charakters, ein positives Bild vom Besuchenden. Er wirkt wie ein „Freund und Helfer“ und drückt seine bereits in anderen nonverbalen Interaktionsweisen gezeigte Freundlichkeit diesmal im Handeln und Tun aus. Hilfreich will er sein, entlasten, unterstützen. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass die beobachtete Fürsorglichkeit eine „Sorge“ um Elementares, Kleines oder Leibliches einschließt. In diesem Kümmern und Versorgen drückt sich ein „ganzheitlicher“ Anspruch aus, den die Pflegebefohlenen von ihren Besuchern offensichtlich erwarten dürfen. Diese geraten damit in die Rolle eines „Mädchen für alles“ und fordern indirekt auf, sich mit allen Sorgen und Nöten den Seelsorgenden anzuvertrauen. Auch eine „Appellseite“905 dürfte damit diese Interaktionsweise begründen (Schulz von Thun), die also den pflegebedürftigen Menschen ermutigen will, sich „mit allem“ an die Seelsorgenden zu wenden. „Nichts ist belanglos!“, so könnte die kommunizierte Maxime der zu Besuch Kommenden lauten. Die Appellfunktion der Körpersprache käme damit zum Tragen. Handreichungen und Hilfestellungen begegnen quantitativ jedoch nur selten. Der Schwerpunkt liegt auf anderen Verhaltensweisen. c. Singen und Musizieren Drei der fünf Seelsorgenden singen bei ihren Besuchen: Pastorin Pape (SII) und Pastor Laurenz (SV) jeweils bei einem Besuch,906 Diakon Hamberg (SIII) bei 903 904 905 906
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Wittkowski, J., Psychologie des Todes, Darmstadt (1990), 121. Ebd., 129. Vgl. II.A. SII-1; SV-11.
sechs Besuchen.907 Singen kann somit bei insgesamt 15 % der 45 Besuche festgestellt werden. Zweimal spielt Hamberg auch auf seiner Flöte, die anderen Seelsorgerinnen und Seelsorger haben kein Instrument zur Hand, auch nutzen sie keine Tonträger. Sie sind nicht darauf eingestellt, die Möglichkeiten der Musik für die Seelsorge zu nutzen und beschränken sich allein auf die Stimme. Die wenigen Beispiele, bei denen das Musikalische in der Interaktion mit Pflegebedürftigen genutzt wird, zeigen, dass es Ansätze gibt, die anthropologische Dimension in der Heimseelsorge zu berücksichtigen, insofern danach gefragt wird, was der/dem Besuchten Wohlsein bereiten könnte, auf welchem „Kanal“ sie/er (noch) empfänglich und welche Ebene noch ansprechbar ist. Ein musikalisches Seelsorgeangebot knüpft an das unverlierbare menschliche Potenzial der Gefühle an und versucht, durch geeignete Klänge Empfindungen anzusprechen. In dieser Wohlsein bereitenden wie auch Handreichungen und Hilfestellung praktizierenden Interaktion bekundet sich das Anliegen, die Person der Seelsorgerin/des Seelsorgers als fürsorgliche Gestalt erscheinen zu lassen. Da sie scheinbar intentional die Gefühlsebene der Pflegebefohlenen ansprechen, verschaffen sie sich Zugang zu einer sehr persönlichen Sphäre der besuchten Person und bewirken im Idealfall eine Stärkung der zwischenmenschlichen Bindung. d. „Sharing“: Gemeinsames Betrachten eines Gegenstandes Es wurde bereits erwähnt, dass bei drei Seelsorgern Verhaltensweisen vorkommen, die in der Entwicklungspsychologie unter den Begriffen „Social Referencing“, „Attunement“ oder „Sharing“ bekannt sind.908 Es handelt sich dabei um ein Verhalten, bei dem zwei Personen gemeinsam dasselbe betrachten und ihre Wahrnehmung mit einander teilen (= Sharing909), um zu einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus bzw. einer vollständigen gemeinsamen Einstimmung (= Attunement) zu gelangen. Dornes910 veranschaulicht das Gemeinte am Beispiel des Zeigens und visuellen Blickverhaltens zwischen Mutter und Säugling: Es kann beobachtet werden, wie ein Kind, wenn es das Gezeigte gesehen hat, zum Elternteil blickt um sich zu vergewissern, dass beide den Gegenstand gemeinsam betrachten. Dieses Verhalten lässt sich auch beobach907 SIII-1.4.5.6.8.9. 908 Vgl. Dornes, M., a.a.O., 152ff. 909 Ein beliebter Ausdruck der englischen Sprache, der auch für (i.d.R. persönliche) Mitteilungen verwendet wird. 910 Dornes, M., a.a.O., 153.
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ten, wenn ein Kind dem Elternteil etwas zeigt: Mehrmals wiederholt sich dann dieses Hin- und Herblicken zwischen Gegenstand und Mutter/Vater. Es lässt sich bei diesem Verhalten nicht nur der Versuch einer Überprüfung erkennen, ob ein gemeinsamer Fokus auf ein Objekt erreicht sei. Auch zeigt sich dabei „das Bedürfnis, die eigene Wahrnehmung mit anderen zu teilen“911. Sharing ist bei den 45 dokumentierten Besuchen insgesamt siebenmal zu beobachten: Pastorin Pape richtet gemeinsam mit einer Dame ihre Aufmerksamkeit auf die einander betastenden Hände;912 Diakon Hamberg fordert dazu auf, nach draußen zu einem neu errichten Bau zu schauen;913 Pastor Laurenz führt eine Rose vor Augen,914 betrachtet, wenngleich jedesmal recht flüchtig, ein Bild915 oder eine Geburtstagskarte916 mit den Besuchten, zeigt auf eine an der Wand hängende Fotografie der verstorbenen Ehefrau917 oder holt dem (obgleich schlafenden) Herrn I. einen Blumentopf mit einer Blume heran, als wäre er wach und könne sie so besser erkennen.918 Seinen Besuch bei Frau G. (SV-7) beginnt er mit den Worten: „Frau G. guckt sich den Bäääären an!“, ohne sich jedoch zu einer gemeinsamen Betrachtung mit ihr länger zu verbinden, wie es sich angeboten hätte. Bei allen Besuchten, die solches Sharing anzuregen scheinen, handelt es sich um Pflegebefohlene, die in der Interaktion kein einziges Wort sprechen. Die Seelsorger bedienen sich deshalb wohl intuitiv dieses Verhaltensmusters aus der Eltern-Kind-Interaktion, das einen wohltuenden Gleichklang und zwischenmenschliche Harmonie zu kommunizieren und zu begünstigen vermag. Dornes vermutet, Attunement fördere die Entwicklung des Säuglings.919 Es kann unterstellt werden, dass diese Verhaltensweise auch im Kontext des Pflegeheims eine wohltuende Wirkung hat. Sechsmal initiieren die Besuchenden solches Sharing („schauen Sie“, „was haben Sie denn da“, „was für ein schönes Bild“ usw.), nur einmal ergibt sich der gemeinsame Fokus für beide Interagierenden ganz organisch aus dem gegenseitigen Betasten der Hände beim Besuch SII-6. Hier ist zu beobachten, wie Seelsorgerin Pape und Frau F. einander an unterschiedlichen Stellen betasten: 911 912 913 914 915 916 917 918
Ebd., 153. SII-6. SIII-1. SV-1. SV-7. SV-7. SV-6. SV-9. Währenddessen spricht der Pastor Laurenz zur Kamera, so dass nicht ganz klar ist, ob er dem Pflegebefohlenen oder der Kamera die Blume zeigen will. 919 Dornes, M., a.a.O., 158f.
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Die Haut, die Kleidung, die Hände, das Gesicht. Schließlich konzentrieren sich die Blicke der beiden Frauen auf die miteinander gleichsam spielenden Hände, als würden sie beobachten wollen, was diese als nächstes „in die Finger kriegen“ und zu betasten bekommen. Die beschriebene Interaktion wirkt geradezu „meditativ“, auch hochkonzentriert und von bemerkenswertem Gleichklang („Attunement“). Es scheint, als ließe die pflegebedürftige Frau F. ihre Seelsorgerin, die hier mit 3’53’’ ihren zweitlängsten von zehn dokumentierten Besuchen abstattet, nur schweren Herzens gehen: Die Verabschiedungsphase zieht sich länger hin als es sonst üblich ist, die Seelsorgerin unternimmt mehrere kleine Anläufe, aufzubrechen. Das gemeinsame Sharing muss eine wohltuende Wirkung auf Frau F. gehabt haben. Es zeigt sich an diesem Besuch abermals, dass dem Augen- bzw. Blickkontakt eine wichtige Rolle für die seelsorgerliche Interaktion zukommt. Der Besuch bei Frau F. ist ein gutes Beispiel für die dialogische Funktion920 (Scherer) des Nonverbalen: Der Gleichklang der interagierenden Frauen und die Harmonie ihrer Interaktion, die es Frau F. schwer machen, Seelsorgerin Pape gehen zu lassen, verdeutlichen die Regulations- und Steuerungsfunktion der Körpersprache im Interaktionsverlauf. Bei diesem schweigend sich vollziehenden Besuch gelingt es mit Hilfe der nonverbalen Kommunikation, einen Dialog zu führen, bei dem es zu einem fein aufeinander abgestimmten Geben und Nehmen, Senden und Empfangen bzw. Wechsel der Sprecher-Hörer-Rolle kommt. Themen- bzw. Fokuswechsel werden signalisiert, Zäsuren markiert, Begrüßungs- und Abschiedsphasen kenntlich gemacht, Intimität wird reguliert. Auch ist an der Körpersprache der Interagierenden deren Statusbeziehung ablesbar: Frau F. liegt, Pape sitzt; Frau F. tastet sich mit ihren Berührungen vor, die Seelsorgerin lässt sie gewähren oder wehrt ab; Pape ist diejenige, die über das Ende der Begegnung entscheidet, von ihr gehen deutliche Signale zur Beendigung des Besuches bzw. zum Aufbruch aus. Mit anderen Worten: Pape befindet sich in einer überlegenen Position. Dieser hervorstechende Besuch weckt Assoziationen an ein Eltern-KindVerhältnis, wie sie gelegentlich auch durch Verhaltensweisen bei anderen Besuchen geweckt wurden: Sharing/Attunement nimmt einen breiten Raum ein, Pape sitzt auf der Bettkante, es wird zärtlich „liebkost“ und große Nähe zugelassen, freundlich lächelt die Seelsorgerin die Pflegebefohlene an wie eine Mutter ihr Kind. Die Seelsorge-Rolle im Pflegeheim bekommt damit Züge einer Mutter- bzw. Vater-Rolle, die auch bei den anderen Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu beobachten ist.
920 Vgl. II.A.
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Indem ein solches Verhalten gepflegt wird, ereignet sich zugleich eine Beziehungspflege besonderer Art, und es wird dem anthropologischen Faktum Rechnung getragen, dass der Menschen auf Beziehung angelegt ist. Die Seelsorgerin leistet zu diesem Faktum einen doppelten Beitrag, indem sie überhaupt besucht und in der Art, wie sie besucht. e. Segnen, Beten, Zitieren Bei den männlichen Seelsorgern (III, IV und V) finden sich Segenshandlungen (jeweils bei zwei bzw. drei Besuchen)921, kein einziges Mal jedoch bei den Seelsorgerinnen. Ob dies ein Zufall ist oder Ausdruck einer Tendenz, der zufolge Frauen in der Seelsorge andere Schwerpunkte setzen und sich seltener eines religiösen Repertoires bedienen, das sie als im Namen der Religion Auftretende ausweist, muss dahingestellt bleiben. Insgesamt fällt ein sparsamer Gebrauch von Segenshandlungen (rd. 15 % aller Kontakte) auf, der gewiss mit der Häufigkeit und Regelmäßigkeit der seelsorgerlichen Besuche erklärbar ist, wie sie im Pflegeheim vermutet werden dürften. Hieraus folgt eine „sparsame Dosierung“ religiöser Ausdrucksformen. Man stelle sich vor, die regelmäßigen (häufigen) Besuche über mehrere Monate (mitunter Jahre), bisweilen mehrmals wöchentlich, würden jedesmal mit einer Segnung, einem Gebet oder einer Abendmahlsfeier einhergehen, die die jeweilige Klimax der seelsorgerlichen Begegnung bildeten: Solches würde den Besuchen einen völlig anderen Charakter verleihen, es könnte als inflationär erlebt werden und das Religiöse zu einer Alltäglichkeit geraten, weil es der ihm innewohnenden exeptionellen, seltenen, besonderen Kräfte beraubt würde. Eine derartige Häufung religiöser Rituale und explizit religiöser Ausdrucksmittel würde zudem der Situation im Pflegeheim einen anderen Akzent verleihen, wie er sich hingegen eher für die Krankenhausseelsorge mit den dort unvergleichlich kürzeren Verweilzeiten und einem mutmaßlich stärkeren Empfinden der Krisenhaftigkeit des Aufenthaltes empfiehlt: Während der Ort Pflegeheim im Idealfall nach einer Zeit der Eingewöhnung zum Lebensraum werden kann (und sollte), bleibt das Krankenhaus stets ein Ort akuter Krisenintervention mit zumeist (höchst) begrenzten Verweilzeiten. Obwohl Pflegeheime Züge von Crisis Heterotopia922 aufweisen, unterscheiden sie sich von Krankenhäusern doch insofern, als sie eine andere (Zeit)Perspektive eröffnen bzw. zur Auseinandersetzung mit dem Gedanken zwingen, diesen fremden Ort zur neuen Heimat werden lassen zu müssen. Menschen kommen nicht ins Pflegeheim, um zu sterben, sondern um Lebenshilfe zu finden und Perspektiven zu bekommen. 921 SIII-4.10; SIV-2.6.7; SV-3.8.9. 922 Vgl. I.D.
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Möglicherweise sind die in dieser Untersuchung vorgestellten fünf Seelsorgenden von einem solchen Gedanken geleitet und geben sich entsprechend zurückhaltend im Umgang mit dem geistlichen Repertoire. Die Sparsamkeit im Gebrauch religiöser Formen und Symbole wird möglicherweise begünstigt durch die Beobachtungssituation, die den Gebrauch des religiösen – und das bedeutet: des besonders intimen – Instrumentariums zweifelsohne hemmt. Das Religiöse ist etwas sehr Persönliches und Privates, das sich nicht eignet für die Beobachtung oder Zurschaustellung. Es braucht bestimmte Rahmenbedingungen, z.B. Ungestörtheit, Konzentration, Ruhe, die in der Situation stationärer Pflege oft nicht gegeben sind: Hier gibt es Zwei- oder Mehrbett-Zimmer, die Tür öffnet sich unentwegt, Besuch oder Personal betritt das Zimmer, Fremde halten sich im Raum auf. Da dieses allerdings auch für die Situation im Krankenhaus zutrifft, in der Gebets- und Segenshandlungen dennoch regelmäßig zu beobachten sind, ist eher daran zu denken, dass der unterschiedliche Ort des Geschehens das seelsorgerliche Verhalten maßgeblich beeinflusst. Ein ähnlicher Befund wie beim Segnen findet sich bezüglich des Betens: Dieses ist nur bei den männlichen Seelsorgenden zu verzeichnen, mit derselben beobachteten Zurückhaltung wie beim Segnen (SIII = zweimal, SIV = einmal, SV = einmal)923: Insgesamt wird bei knapp 9 % aller 45 Besuche gebetet. Dieser Wert liegt um einiges niedriger als der einer Umfrage des Jahres 1979 unter Geistlichen der Württembergischen und Hessisch-Nassauischen Landeskirche. Dort gaben 17,65 % der Befragten an, „häufig bzw. regelmäßig“924 mit Rat- und Hilfesuchenden zu beten. Als eine Variante des Betens kann das Vorlesen aus den Losungen verstanden werden. Solches war bei Seelsorger IV zweimal zu beobachten. Zweimal wird auch eine Liedstrophe zitiert bzw. vorgelesen.925 Die beobachtete Zurückhaltung im Gebrauch nonverbaler religiöser Ausdrucksmittel wirft die Frage nach der Bedeutung dieses Befundes mit Blick auf die Rolle/Fassade der Seelsorgerinnen und Seelsorger auf. Eine großzügige Inanspruchnahme wäre im Pflegeheim durchaus zu erwarten gewesen, da Segnen, Beten, Salben usw. bestens geeignet sind, zur Idealisierung der religiösen Rolle im goffmanschen Sinne beizutragen.
923 SIII-4.10; SIV-7; SV-11. 924 Zit. in: Besier, G., Seelsorge und Klinische Psychologie, Göttingen (1980), 178. 925 SI-4 (EG 508), SIII- 5 (zu Frau F. sprechend).
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Es zeigt sich am sparsamen Gebrauch des evident Religiösen eine poimenische Perspektivdominanz mit eher theologisch-psychologischer bzw. theologisch-soziologischer als theologisch-biblischer Orientierung.926 Möglicherweise schlägt sich in dem Befund etwas von der derzeitigen Schwerpunktsetzung zeitgenössischer praktisch-theologischer Fragestellungen nieder, die allen Feststellungen927 zum Trotz noch immer von einer therapeutischen Orientierung geprägt zu sein scheint.928 Eine „priesterliche“ Rolle der Heimseelsorge, die reichlich Gebrauch machen würde von den Mediae Salutis, kann damit kaum begründet und nonverbal abgebildet werden. Zu fragen ist jedoch, ob eine um religiöse Idealisierung bemühte Person nicht zu anderen als den klassischen, unverwechselbaren Ausdrucksmitteln greifen und sich im Kontext des Pflegeheims alternativer Darstellungsmittel bedienen könnte. Möglicherweise stehen noch andere Weisen zur Verfügung, eine eindeutig religiöse, priesterliche Rolle zu kommunizieren. Diese Frage wird in einer zweiten inhaltsanalytischen Auswertung weiter zu verfolgen sein. f. Schweigendes Verweilen Nicht bei allen Besuchen wurde verbal kommuniziert, da einige Pflegebefohlene nicht wach waren, als die Seelsogenden zu ihnen kamen: Vier Besuchte wurden schlafend angetroffen,929 eine weitere befand sich im Wachkoma.930 Hier kam es jeweils zu einem kurzen Verweilen am Bett, besonders ausgeprägt bei einer jungen Wachkomapatientin, an deren Seite Diakon Stempel für gut drei Minuten schweigend verharrt und diese mit geradezu „sprechenden“, intensivkonzentrierten Blicken anschaut, wie es auch bei den übrigen, jedoch viel kürzeren Besuchen der Fall ist. Lediglich bei Diakon Stempel ist die Besuchsdauer dieser eher ungewöhnlichen Begegnung identisch mit der durchschnittlichen Besuchsdauer (Gesamtzahl aller 45 Besuche) bzw. sie ist mit 59 Sekunden kürzer als ein durchschnittlicher Besuch Stempels (=3’59’’). Alle anderen 926 Näheres zu den besagten Konzepten bei Nauer, D., Seelsorgekonzepte im Widerstreit. 927 So weist E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge, 170, beispielsweise auf die zunehmende Bedeutung der Krankensalbung im evangelischen Bereich hin und D. Greiner, Segen und Segnen, Stuttgart (2003, 3. Aufl.), 21, meint, die besondere Rolle des Segnens auszumachen. 928 Stubbe, E., Jenseits der Worte, geht noch im Jahr 2001 davon aus, die Themen Beten, Schweigen und Besuchen, die „heute kaum noch im Fokus seelsorgetheoretischer Reflexion liegen“, passten weder „in den Trend praktisch-theologischer Fragestellungen“ noch „in die Norm gegenwärtiger kirchlicher Schwerpunktsetzungen“. 929 SI-3, SII-5, SIII-3, SV-3. 930 SIV-6.
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Besuche fallen im Vergleich zur durchschnittlichen Besuchsdauer deutlich kürzer aus: SI-3 (=0’57’’); SII-5 (=0’37’’); SIII-3 (=0’53’’); SV-3 (=1’17’’). Die Besuche haben insgesamt einen ruhigen Charakter, wenngleich keiner von ihnen völlig wortlos stattfindet und auch Stempel nach einer längeren Zeit des Schweigens abschließend den Aaronitischen Segen spricht und gleichzeitig die Stirn der Besuchten bekreuzigt. Mit diesem nonverbalen Zeichen endet sein Besuch. Der verbale Anteil der Interaktion beschränkt sich indessen auf formelhafte Sprache und zeigt, dass auch „längere“ Besuche, bei denen kein Wort gesprochen wird, durchaus als sinnvolle seelsorgerliche Option verstanden werden können. Auch bei solchen Besuchen wird Seelsorgerliches kommuniziert, unabhängig davon, ob der Adressat es wahrnimmt oder versteht. Es gilt das pragmatische Axiom Watzlawicks: Man kann nicht nicht kommunizieren.931 So kommt es durch die – scheinbar „sinnlose“ – seelsorgerliche Zuwendung gewissermaßen zu einer „Deklaration“ von Würde und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bzw. von Begleitetsein. Schweigende Besuche (bei Schlafenden) bringen die zentrale christliche Anschauung von der Vita passiva geradezu ideal zur Geltung, dass der schweigende, passive, nichts tuende, einfach nur da seiende und vor Gott verharrende Mensch „das gute Teil erwählt hat“ (Lk. 10,42). Eine solche am Pflegebett eines schweigenden oder schlafenden Menschen sich ereignende „Deklaration“ hat in dem besagten Sinne zudem einen öffentlichkeitswirksamen Aspekt, denn sie kommuniziert etwas vom Menschenbild des Besuchenden und proklamiert, wer die/der Besuchte ist: Kind Gottes, geliebt, geehrt, würdig eines Besuches. g. Reden und Schweigen932 Wenngleich gelegentlich schweigende Besuche zu beobachten sind, so wird doch beim Gros der Begegnungen zumeist (viel) gesprochen, auch dann noch, wenn die Pflegebefohlenen selbst nicht mehr sprechen können: 24 von 45 Besuchten sagen kein einziges Wort, darunter fünf Schlafende.933 Eine halb wach, halb schläfrig am Tisch Sitzende äußert lediglich ein einziges Wort. Da die Dauer der Besuche bei den fünf Seelsorgenden z.T. erheblich variiert (insbesondere SI im Verhältnis zu SII bis SV), wurde ermittelt, wie viele Wörter pro Minute (words per minute) bei jedem von ihnen zu zählen sind (berechnet aus der Dauer eines Besuches und der Anzahl der gesprochenen Wörter): 931 Vgl. Fußnote 716. 932 Vgl. hierzu auch Tabelle ‚Zählung der gesprochenen Wörter‘ im Materialband. 933 SI-3; SII-5; SIII-3; IV-6 (Wachkomapatientin); SV-3. Herr C. (SIII-3) scheint sich jedoch nur schlafend zu stellen, einmal öffnet er deutlich erkennbar die Augen, als wolle er sehen, ob der lange schweigend an seinem Bett stehende Diakon noch da ist.
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Seelsorgerin I = 35 WpM, Seelsorgerin II = 45 WpM, Seelsorger III = 65 WpM, Seelsorger IV = 31 WpM, sowie Seelsorger V = 92 WpM. Die männlichen Besucher bringen mehr Wörter hervor als die weiblichen (Durchschnittswert der männlichen Seelsorger: 63 WpM; Seelsorgerinnen: 40 WpM). Die Auswertung des durchschnittlichen Gesprächsanteils ergibt bei den besuchten Pflegebefohlenen von Seelsorgerin I = 44 WpM, von Seelsorgerin II = 4 WpM, von Seelsorger III = 5 WpM, von Seelsorger IV = 9 WpM sowie von Seelsorger V = 19 WpM. Die Werte liegen nahe bei den auch von Sachweh934 ermittelten, welche bei 1,9 WpM (Parkinson-Patienten), 8,3 WpM (Schlaganfall-Patienten) bzw. 43,6 WpM (geistig Gesunde) lagen. Bei den drei von Seelsorgerin I Besuchten handelt es sich tatsächlich um geistig unauffällige Frauen, wenn man darunter versteht, dass diese nicht an Parkinson, Schlaganfall, Depression, Schwerhörigkeit oder Demenz leiden, während die Pflegebefohlenen mit einstelligem WpMWert zum größten Teil der Gruppe der Depressiven, Parkinson- oder Schlaganfall-Erkrankten zuzurechnen sind. Bestätigt werden kann Sachwehs935 Einschätzung, dass im Allgemeinen die Gesprächsbeteiligung in quantitativer Hinsicht umso stärker nachlässt, je kränker ein alter Mensch ist. Zunehmend gerät er dann in die Rolle des/der Hörenden, während die Pflegenden die allein Sprechenden sind. Die Häufigkeitsmessung der Wörter zeigt, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger etwa vier mal so viele Wörter hervorbringen wie die Pflegebefohlenen, durchschnittlich 54 WpM936, doppelt so viele wie bei Pflegerinnen in der Interaktion mit Pflegebefohlenen937 (zur Orientierung: Das Vaterunser zählt 63, der 23. Psalm 98 Wörter).938 Nur wenige Besuche sind als schweigende zu charakterisieren, für die längere bis sehr lange Pausen bezeichnend wären oder auf Gesprochenes völlig verzichtet wird; am ehesten SI-3: Seelsorgerin I spricht im gehauchten Flüsterton die Besuchte zweimal namentlich an und verweilt ansonsten für eine knappe 934 Sachweh, S., a.a.O., 226. 935 Ebd. 936 Anzahl aller gezählten Wörter (10787) geteilt durch die Dauer der Besuche (200 Minuten). 937 Sachweh, S., a.a.O., 226. 938 Eine detaillierte Beschreibung der jeweiligen „Morphologie“ des Schweigens (die unterscheiden könnte zwischen an-schweigen, aus-schweigen, be-schweigen, erschweigen, hin-schweigen, tot-schweigen, ver-schweigen, still-schweigen, schweigen durch/in/mit/über/von/zu usw.) oder ihrer syntaktischen Funktion (etwa als rhetorische Figur) ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten und ist für die hier erörterte Fragestellung auch nicht von Bedeutung. So muss es bei einer Beschränkung auf das Evidente bleiben.
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Minute an ihrem Bett. Der Besuch Diakon Stempels bei Herrn C. (SIV-3) mit einer knapp einminütigen Schweigephase am Anfang, sowie sein gut dreiminütiger (SIV-6) bei einer jungen Wachkomapatientin sind ebenfalls zu solchen Besuchen zu zählen. Obwohl bei diesem Besuch immerhin 130 Wörter gezählt werden können, wovon 98 auf das Beten des 23. Psalms entfallen, gab es doch eine längere Phase, etwa die ersten zwei Drittel des Besuches, in dem der Diakon schweigend am Bett der Patientin verharrt und sie konzentriert anschaut, bis er beginnt, den 23. Psalm zu beten und die Besuchte zu segnen (Handauflegen, Bekreuzigen, Segensworte sprechen). Es ist naheliegend, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger zumeist dann mit dem Sprechen pausieren (ausgenommen die Begegnungen mit den 24 Verstummten), wenn ihr Gegenüber spricht. Zeitgleiches Schweigen beider Interaktionspartner begegnet selten, die häufigere Variante ist das zuhörende, wahrnehmende Schweigen, das für die Kommunikation unerlässlich ist, wenn die Gesprächsbeteiligten nicht gleichzeitig reden sollen. Es handelt sich hier jedoch um ein wortbezogenes Schweigen, ist vom Wort „regiert“ und von ihm her zu interpretieren. Unter Rückgriff auf lateinische Begriffe ist diese Form des Schweigens daher eher als ein Silere (Verstummen) als ein Tacere (beredtes Schweigen) zu deuten. Es trifft für alle Besuchenden zu, dass ihnen das gesprochene Wort unverzichtbar scheint. Auch scheint Schweigen schwerzufallen, die Furcht vor der Stille wird mitunter redend zerstreut, die Wortlosigkeit wird als „Raum“ der Spiritualität nicht wahrgenommen. Betrachtet man die gemessenen Werte (WpB/WpM) der Seelsorgerinnen und Seelsorger bei den Besuchen der 24 (bzw. 25) Verstummten/Schweigenden, so findet sich ein unterster Wert mit 5 WpB (SI-3), ein oberster mit 416 (SIII-9) bzw. ein mittlerer939 von 115 WpB bzw. 42 WpM, was knapp der Hälfte des 23. Psalms entspricht. Die Kommunikationsphasen, in denen jeweils geschwiegen wird, können aufgrund dieses Ergebnisses somit als recht kurz bezeichnet werden. Mit diesem Befund erklärt sich möglicherweise auch, dass vier der fünf begleiteten Damen und Herren sich bei ihren Besuchen nicht hinsetzen. Die Ausnahme bildet, wie schon gezeigt, Seelsorgerin Braune (SI), deren Gesprächspartnerinnen in ihren Wortanteilen erheblich von den übrigen Besuchten abweichen (siehe Tabelle).
939 WpB: Anzahl der bei 24 Besuchen gezählten Wörter durch 24; WpM: Alle Mittelwerte addiert, geteilt durch fünf (Seelsorgerinnen und Seelsorger).
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2.2. Zweite Explikation: Theologisch-poimenische Deutung Im vorherigen Kapitel wurden die Verhaltensweisen der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger mit Hilfe des inhaltsanalytischen Verfahrens in ihrem kommunikativen Gehalt erschlossen. Die Körpersprache wurde dabei unter verschiedenen nicht theologischen Gesichtspunkten und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Theorien zum Nonverbalen vertiefend betrachtet. Da es sich bei den Kommunizierenden jedoch um kirchlich Beauftragte bzw. im Namen der Religion Agierende handelt, wird nun weiter gefragt, inwieweit die beobachteten Interaktionsweisen auch eine theologische Deutung zulassen. Der spezifisch religiöse Hintergrund, vor dem die Seelsorgenden wirken, lässt fragen, wie dieser sich im Besuchsverhalten als eine „religiöse Dimension“ niederschlägt. Das Nonverbale erlangt möglicherweise durch die bewusste wie unbewusste kirchlich-religiöse Inanspruchnahme einen Bedeutungszuwachs, der es für die Beschreibung einer Seelsorge im Pflegeheim – aber nicht nur für diese – interessant werden lässt. Wie schon unter Bezug auf Grice und Goffman gezeigt wurde,940 sprechen mehrere Gründe dafür, dem Gros der Kommunikations- und Verhaltensweisen in dieser einem „Bühnenauftritt“ gleichenden seelsorgerlichen Besuchssituation weit größere Bedeutung beizumessen als solchen weniger exponierter Begegnungen. Gemäß der geschilderten Theorie muss es den Seelsorgenden darum gehen, die Interaktionsweisen so zu stilisieren, dass ihnen eine Idealsierung der Darstellung gelingt mit dem Ziel, sich als Seelsorgerin/Seelsorger, Pastorin/Pastor bzw. pointiert religiöse Figur auszuweisen und mit Hilfe des Nonverbalen die pastorale Rolle bzw. kirchliche Gesandtschaft hervortreten zu lassen. Die beschriebenen Interaktionsweisen der ersten Explikation werden somit einem zweiten inhaltsanalytischen Durchlauf unterzogen und nun als Formen kirchlicher Seelsorge im Kontext stationärer Pflege verstehbar gemacht. Entsprechend der inhaltsanalytischen Arbeitsweise941 wird theologisches sowie nicht theologisches Material an die Beobachtungen herangetragen, das geeignet scheint, die religiöse Dimension der jeweiligen Kommunikations- und Verhaltensweisen hervortreten zu lassen. Wie bereits in der ersten, geht es auch in der zweiten inhaltsanalytischen Sichtung des Materials darum, die Sinnhaftigkeit des Beobachteten zu ergründen und so das Verhalten als sinnvolle Weise der Seelsorge zu begreifen. Einige Male kommt es bei diesem Versuch zu einem beabsichtigten Abschweifen der 940 Vgl. II.A. 941 Vgl. II.B.1.
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Ausführungen. Ich gehe davon aus, dass auch diese exkursartigen Betrachtungen dazu beitragen, das gewonnene Datenmaterial besser einzuschätzen und die Intention der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger präziser zu erfassen. Während sich die Reihenfolge der untersuchten Phänomene in der ersten Explikation an den sieben von Argyle beschriebenen Körpersignalen orientierte, greift die zweite Explikation auf dort Erarbeitetes zurück und sortiert die Interaktionsweisen in diesem Abschnitt neu, und zwar nach der Häufigkeit ihres Vorkommens innerhalb des empirischen Datenbestandes. So deutet sich bereits in der Art der Darstellung an, welche Interaktionsweisen besonders bedeutsam scheinen. Die überwiegend aus theologischen Kontexten stammenden Deutungen der Interaktionsweisen tragen schließlich dazu bei, das jeweilige Phänomen qualitativ zu erfassen und es entsprechend zu gewichten. Es sei noch einmal daran erinnert, dass es sich entsprechend der qualitativen Forschungslogik hier lediglich um einen Versuch handelt, in Richtung auf die Formulierung eines allgemeinen Seelsorgetyps im Pflegeheim hinzuarbeiten, wobei die Interpretationen in ihren Aufschlüsselungen, Strukturierungen oder Gewichtungen immer auch anders dimensioniert und eingeschätzt werden können. Ziel qualitativer Arbeit ist jedoch eine Plausibilität der Theorie, die sich aus dem Zusammenspiel des empirisch Vorgefundenen und den daraus resultierenden Abstrahierungen ergibt. Es geht hier allein um wohlbegründete „Hypothesen“-Entwicklung, nicht jedoch um Hypothesen-Prüfung.942 Ziel der inhaltsanalytischen Auswertung ist somit eine Evaluierung des gesammelten Materials unter Hinzuziehung weiterer Informationen. 2.2.1. Körpersignale a. Anschauen oder: Du bist ein Gott, der mich sieht (1. Mose 16, 13) Die Beobachtungen machen deutlich, dass die Blicke der Seelsorgerinnen und Seelsorger zumeist auf die Augen bzw. das Gesicht der Pflegebefohlenen gerichtet sind. Dies wurde im ersten inhaltsanalytischen Durchgang als ein Zeichen von Aufmerksamkeit und Zuneigung (Affiliation) gedeutet. Das Blickverhalten hat darüber hinaus auch deshalb ein besonderes Gewicht, weil das Leben in einer totalen Institution943 – welche im oben dargeleg942 Vgl. II.B.1. 943 Der Begriff der Totalen Institution wurde 1973 von E. Goffman geprägt zur Beschreibung eines bestimmten Typs von Einrichtungen, vgl. a.a.O.
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ten Sinn zudem als unpersönlicher Transit bzw. Heterotopos beschrieben werden kann – für die Bewohnerschaft eines Pflegeheims mit Entpersönlichung und Reglementierung einhergeht. Dadurch wird die Individualität des Einzelnen gefährdet, und es besteht die Gefahr, ihn nur noch als Pflege“fall“ und unter einer verzerrten, einseitigen (nämlich defizitären) Perspektive zu sehen. Im konzentrierten Anschauen und zugewandten Hinsehen durch Seelsorgende wird dem Angeschauten jedoch eine wichtige, tröstliche Botschaft kommuniziert: Er wird in seiner Individualität und Einzigartigkeit wahrgenommen, die Blicke gehen nicht schnell, desinteressiert, gelangweilt hinweg, sondern verharren auf ihm: Du bist aufmerksamer Wahrnehmung wert, ich schaue dich gern an, du bist kostbar, einzigartig, ja schön, denn „allem, was geschaffen ist, ... wohnt nach biblischer Vorstellung Schönheit inne“.944 Dieses Hin- und Anblicken wird besonders bedeutsam angesichts einer gesellschaftlichen Tendenz, die zur Folge hat, dass alte Menschen nicht mehr zu jenen gehören, die faszinierte Blicke auf sich ziehen. In solchem konzentrierten und fokussierten Anschauen wird auf die Ur-Kommunikation der Anfänge des Lebens zurückgegriffen, mit denen Mutter und Vater dem Neugeborenen Aufmerksamkeit, Interesse und damit Fürsorge und Liebe vermitteln. Die intensiven Blicke der Seelsorgerinnen und Seelsorger entfalten im heimspezifischen Milieu mit der Gefahr einer Entpersönlichung und Gleichmacherei eine potenziell segensreiche Kraft, indem sie Pflegebefohlenen Interesse und Wahrgenommenwerden kommunizieren. Der/die Angeschaute wird mit Blicken „gewürdigt“, welche die Schönheit des Geschöpfes und des Alters zu sehen und zu ermessen vermögen. Derart angeschaut zu werden kann „berühren“, „verzaubern“, zum Segen werden. Reichmann ist zuzustimmen: „Der Blick, der den oder die andere schön macht, verbindet und verwandelt beide“945. Der konzentrierte Blick scheint somit weit mehr zu sein als ein bloßes Beobachten, das nur darauf aus ist, Informationen zu sammeln, z.B. über die Befindlichkeit eines Besuchten. Er wird zu einem „beredten Innewerden“ im Sinne Bubers, das jenseits des Beobachtens und Betrachtens liegt und eine tiefere Dimension zu erschließen vermag. Buber erklärt das Gemeinte wie folgt: „Anders [als beim Beobachten und Betrachten, O.K.] geht es zu, wenn mir, in einer empfänglichen Stunde meines persönlichen Lebens, ein Mensch begegnet, an dem mir etwas, was ich gar nicht gegenständlich zu erfassen vermag, ‚etwas sagt‘. Das heißt keineswegs: mir sagt, wie dieser Mensch sei, was in ihm vorgehe und dergleichen. Sondern: mir etwas sagt, mir etwas zuspricht, mir etwas in mein eigenes Leben hineinspricht. Das kann etwas über diesen Menschen sein, zum Beispiel, dass er
944 Reichmann, A., a.a.O., 151. 945 Ebd., 152.
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mich braucht. Es kann aber auch etwas über mich sein ... Die Wirkung dieses Gesagtbekommens ist eine völlige andere als die des Betrachtens und Beobachtens“.946
Der/die andere wird so zu einem ernst zu nehmenden Gegenüber, dessen „Wort“ „treffen“ kann. Selbst Schwerstpflegebedürftige können in diesem Sinne noch „sprechen“ und „beredt“ sein. Der innewerdende Blick, mit dem Seelsorgerinnen und Seelsorger die Besuchten anschauen, erblickt viel mehr, als es das bloße Auge tut, es kommt zu einem tieferen Schauen „mit dem Herzen“, wie Tillich947 es einmal beschreibt. Er macht darauf aufmerksam, dass wir stets mehr sehen als das, was das Auge wahrnimmt. Das Sehen ist ein „schöpferischer“, „über sich selbst hinausweisender Prozess“. Wenn wir beispielsweise auf einen Stein blicken, so Tillich, sehen wir nicht nur die uns zugewandte Seite mit ihrer Form und den Farben, sondern zugleich dessen ganze Struktur: Rundung, Ausdehnung, Masse, alles, was zu ihm gehört. Seelsorgerliche Augen vermögen solch ein „Mehr“ im Besuchten zu schauen. Sie erkennen das Geschöpf, das Kind Gottes, den Begnadeten. Sie nehmen das Ebenbild Gottes wahr, das bestimmt ist zum Erbteil der Heiligen im Licht. So spiegeln die auf den besuchten pflegebedürftigen Menschen gerichteten Augen der Seelsorgerin/des Seelsorgers etwas von den Augen Gottes, der „hinunter auf die Niedrigen sieht“ (Ps. 138,6), „alle meine Wege sieht“, „mich erforschet und kennet“ (Ps. 139). Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass biblisch nie die physische Funktion des Auges Gottes und seines Sehens im Vordergrund steht sondern vielmehr dessen Qualität und Dynamik.948 Das Anschauen wird so zu einer Liebesbotschaft ohne Worte, die vor allem dadurch ihre besondere Dignität entfaltet, dass es das „Armselige“ nicht übergeht und übersieht. Gerade der Umstand, dass der seelsorgerliche Blick dem hinfälligen, bedürftigen, pflegebefohlenen Menschen gilt, ihm nicht ausweicht, sondern dessen Anblick „erträgt“, kommuniziert Nähe, Liebe und unverlierbare Würde. Dem freundlich-konzentrierten Anschauen an sich, wie es in höflichem Gespräch üblich ist, wohnt eine solche Kraft noch nicht inne. Solches kommuniziert allenfalls, wie schon gezeigt, Interesse, Offenheit und Zuneigung. Das Anschauen eines Menschen hingegen, der „tief unten“ und entstellt ist durch Alter, Gebrechen, Abhängigkeit usw., eröffnet die Möglichkeit, dass solche Blicke seelsorgerlich werden und eine ermutigende Botschaft kommunizieren in dem Sinne, wie Martin Luther es in der Vorrede zur Auslegung des Magnificats einmal prägnant ausdrückt: „Je tiefer jemand unter ihm [= Gott, O.K.] ist, je besser er ihn sieht ... Menschen wollen in die Tiefe nicht sehen. Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, 946 Buber, M., a.a.O., 151f. 947 Tillich, P., Religiöse Reden, Berlin/New York (1987), 298. 948 Schroer, S./Staubli, Th., Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt (2. Aufl., 2005), 86.
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da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon ... Gott allein ist solches Hinsehen vorbehalten, das in die Tiefe, die Not und den Jammer sieht, und so ist er allen denen nahe, die in der Tiefe sind. .. Darum bleibt Gott allein solches Hinsehen vorbehalten, das in die Tiefe, die Not und den Jammer sieht und ist nah allen denen, die in der Tiefe sind“.949
Luther weiß, wie schwer es dem Menschen fällt, „in die Tiefe zu blicken“, eine Tatsache, die sich gerade im Heim gut beobachten lässt: Meidung und Vernachlässigung Pflegebedürftiger lassen sich dort nicht zuletzt mit der Unfähigkeit im Umgang mit „Not und Jammer“ erklären. Auch ist m.E. ein Zusammenhang zu sehen zwischen solchem Sich-Schwertun und der häufig bezeugten Haltung (Pflegebe-fohlener/Kranker/Hilfsbedürftiger), niemandem „zur Last“ fallen zu wollen: Da viele sich mit dem bedrückenden Anblick eines Pflegebefohlenen schwertun, möchte man sich ihnen in der Hinfälligkeit nicht zumuten. „Seelsorgerliche Augen“ hingegen, die hin- und anschauen und mit „deutlichen Blicken“ sprechen, können transzendentalen Gehalt transportieren. Sie wirken wohltuend und werden zu einem Gleichnis für das Sehen Gottes, das in der Bibel eine große Rolle spielt. Schroer/Staubli950 weisen darauf hin, dass im Alten Testament viel häufiger von JHWHs Augen als von dessen Ohren die Rede ist. Bedeutende Orte würden in der biblischen Tradition zudem mit Namen erklärt, die daran erinnerten, dass Gott hier in besonderer Weise gesehen und deshalb rettend eingegriffen habe, da er stets „das Elend der Bedrängten sieht“ (Ex. 3,7). Möglicherweise haben die Seelsorgerinnen und Seelsorger in solcher Tradition stehend ihre Blicke sehr bewusst auf die Pflegebefohlenen gerichtet und ihr freundlich lächelndes Gesicht den Besuchten zugewandt. Das konzentrierte, beredte Anschauen, Hinsehen, Wahrnehmen und Aushalten des Anblicks scheint demnach gleichnisfähig für das Schauen Gottes. In ihm liegt Symbolkraft, die die Person der Seelsorgerin/des Seelsorgers zu einer warmherzigen Erscheinung werden lässt. Dieses mimische Verhalten weckt bei den Pflegebefohlenen angenehmes Empfinden, weil sie die Zuneigung spüren, die sich im Nonverbalen bekundet. b. Lächeln oder: Da erschien die Freundlichkeit Gottes (Tit. 3,4) Das längere, konzentrierte Anschauen der Pflegebefohlenen, das eine Freundlichkeit an sich ist, wird verstärkt durch häufig zu beobachtendes Lächeln und 949 Luther, M., Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521), in: Bornkamm, K./Ebeling, G. (Hg.), Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M. (1983, 2. Aufl.),120f. 950 Schroer, S./Staubli, Th., Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt (2. Aufl., 2005), 88.
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Lachen der Seelsorgenden. Es zeigt sich bei den Beobachtungen, dass hierin eine deutliche Präferenz der mimischen Expression zu finden ist. Das versteht sich nicht von selbst, denn die Situation Pflegebefohlener ist alles andere als froh stimmend. Auch ein ernster, mitleidvoller, betrübter oder bedauernder Gesichtsausdruck wäre nicht unangemessen. Lediglich bei Seelsorger Stempel findet sich eine zumeist konzentrierte, mitfühlende bis ernste Mimik, die ihn von den übrigen Seelsorgern unterscheidet. Stempels mimischer Ausdruck setzt einen anderen Akzent als den des Lächelns. Er scheint die Tatsache des Angeschaut- und Wahrgenommen-Werdens unterstreichen zu wollen und deshalb alle Kraft auf dieses nonverbale Ausdrucksform zu konzentrieren. Es ist zu fragen, welche seelsorgerliche Haltung im bevorzugten Lächeln bzw. Lachen zum Ausdruck kommt und welche Botschaft sich den Besuchten darin bekundet. Schmid951 findet im Lächeln, das im Gegensatz zum lauthalsen Lachen kontrollierter und nuancierter ausfällt, mehr als eine bloße Affektäußerung, und zwar eine „bewusst gewählte Haltung“, die sich in reflektierter Mimik niederschlägt. Es ist denkbar, dass eine solche von den fünf Seelsorgerinnen und Seelsorgern bewusst gewählt wurde, denn das seelsorgerliche Lächeln vermag Wohlwollen zu kommunizieren in der schwierigen Situation der Angewiesenheit, in der es insbesondere der Leib nicht wohl mit den Besuchten meint. Die Unwirtlichkeit der Situation (Bettlägerigkeit, Abhängigkeit, Schmerzen, Abbau der Kräfte) wird durchbrochen durch das Lächeln der Seelsorgerin/des Seelsorgers, welches diesen betrüblichen Zustand gleichsam für einen Augenblick „entwaffnend“ durchfährt und einen freundlichen Horizont aufleuchten lässt. Alles, was den pflegebedürftigen Menschen bedrückt und bedrängt, was ihn bedroht und ihm bange macht, kann durch ein Lächeln einen Moment lang entkräftet, zerstreut, vergessen gemacht werden (während eine ernste, bedrückte, mitleidende Mimik die besuchte Person möglicherweise eher an die bedrückende, ausweglose Situation erinnert und somit nicht die gleiche wohltuende Wirkung hat). Der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt führt Beispiele an, die verdeutlichen, wie das Lächeln Einfluss auf ein Gegenüber haben und u.a. eine deutlich wahrnehmbare Aggressionshemmung bewirken kann: So wird ein Gegner mitunter nur durch freundlich-lächelnde Blicke „entwaffnet“952. Diese Entdeckung gibt Anlass, den Wert lächelnder Mimik im Kontext der Heimseelsorge neu zu gewichten. Auch Schmid sieht eine enorme „transversale Kraft“ des Lächelns, die „alle Machtverhältnisse durchquert und durchkreuzt“,953 951 Schmid, W., Mit sich selbst befreundet sein, Frankfurt a.M. (2004), 284ff. 952 Der Begriff stammt von Eibl-Eibesfeldt, I., a.a.O., 113f. 953 Schmid, W., a.a.O., 286.
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weshalb diese mimische Ausdrucksform besonders geeignet scheint, auch jene „Machtverhältnisse“ zu durchkreuzen bzw. abzuschwächen, die in Pflegeheimen wirksam sind. Die ‚Kraft‘ des Lächelns deutet sich bereits darin an, dass es nahezu alle Sinnesorgane (Mund, Augen, Ohren, Muskeln, Haut usw.) „tangiert“ und zu unübersehbaren Veränderungen des Gesamteindrucks führt. Die positive Wirkung, die dem Lachen/Lächeln innewohnt, zeigt sich besonders in der Begegnung mit Verwirrten/Desorientierten und ist an ihnen eindrucksvoll zu beobachten: Es hilft Erkrankten, angelächelt zu werden, denn es entspannt sie, baut Angst und Unsicherheit ab und lässt sie die gute Absicht eines Gegenübers erkennen. Lächeln vermag in ihnen Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit zu wecken. Im Kontakt mit Demenzkranken kann Lächeln wegen seines transversalen Potenzials geradezu „zu den wichtigsten therapeutischen Mitteln“954 gerechnet werden, wie es der Vierte Altenbericht betont. Lächeln eignet sich in der seelsorgerlichen Besuchssituation auch deshalb, weil es die Freundlichkeit Gottes spiegelt und über dem pflegebedürftigen, angelächelten Menschen einen freundlichen „Himmel“ aufscheinen lässt. Es ist kein Zufall, dass der neutestamentliche Titus-Brief den Ausdruck der „Freundlichkeit Gottes“ wählt, um das Christusgeschehen zu charakterisieren. Gott erweist sich in seinem Handeln am Menschen als „freundlich“, ja, alles göttliche Wirken zielt darauf ab, dem Menschen „freundlich“ zu begegnen. So heißt es auch in einer Formulierung des 34. Psalm (Vers 9), die Teil der Abendmahlsliturgie ist: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“. Dieser ‚Herr‘ ist menschenfreundlich, hilfreich, diakonisch. Sein ganzes Wirken (als Schöpfer, Erlöser oder Vollender) gleicht einem Lächeln, alle Taten offenbaren seine Freundlichkeit. Die Hinwendung Gottes zum Menschen lässt über ihm ein freundliches Gesicht aufscheinen, ganz so, wie es in den Worten vom leuchtenden Angesicht im Aaronitischen Segen formuliert ist. Das Lächeln der Seelsorgerinnen und Seelsorger könnte demnach eine Art „mimische Übersetzung“ dieses Segens sein. Man könnte auch sagen, in ihrer Mimik findet sich ein „Strahlen“ oder „Leuchten“, mit dem die besuchten Pflegebefohlenen „gesegnet“ sind, ohne dass Worte gesprochen werden müssen. Dabei ist noch zu bedenken, dass „herzliches“ Lächeln und Lachen aus dem Zwerchfell emporsteigt, das nach jüdischer Auffassung Sitz der Seele und also dem Herzen sehr nahe ist.955 Im „herzlichen“ Lächeln schimmert demnach etwas 954 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 181. So auch Wojnar, J., Raumgestaltung für Demenzkranke, Vortrag in Hamburg [Jahr unbekannt], 12. 955 Vgl. Rest, F., a.a.O., 161.
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von der Freundlichkeit und Herzlichkeit Gottes durch. Es eignet sich bestens als Zeichenträger von Leben und Gesegnetsein im Angesicht von Hinfälligkeit und Sterben. Die Seelsorgenden bedienen sich folglich in ihrem lächelnden Gesichtsausdruck, einer freundlichen Fassade, die ihre Rolle als Verkündiger des Evangeliums, und das bedeutet: der „guten“, „frohmachenden“, „freundlichen“ Botschaft, unterstreicht. Sie illustrieren diese mit Hilfe des Nonverbalen. c. Hinwenden des Gesichtes oder: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir (4. Mose) Blicke und Mimik, so wurde bereits deutlich, spielen in der Interaktion mit Pflegebefohlenen eine zentrale Rolle. Damit rückt auch das Gesicht in seiner Bedeutung für die Seelsorge in den Vordergrund. Zu fragen ist, ob dem Zeigen und Zuwenden des Gesichtes eine tiefere Bedeutung beizumessen ist oder ob dieses lediglich eine (unvermeidliche) praktische Notwendigkeit darstellt. Eine – noch dazu den gesamten Besuch anhaltende – Zuwendung des Antlitzes ist beim Besuch nicht zwingend, weitere Konstellationen des Beisammenseins und des räumlichen Verhaltens, die eine andere Ausrichtung des Gesichtes zur Folge hätten, kämen ebenfalls in Frage. Möglich wäre es zum Beispiel, neben dem Pflegebett auf einem Stuhl Platz zu nehmen, parallel dazu zu sitzen, in dieselbe Richtung wie die pflegebedürftige Person zu schauen, auf Blicke bzw. Blickkontakt also zu verzichten und vor allem mit der Stimme zu kommunizieren. Auch ein schweigendes Verweilen an der Seite eines (wachen oder schlafenden) Pflegebefohlenen wäre eine Option. Eine Wortzentrierte, auf das Ohr fokussierte Theologie wiederum könnte durchaus geneigt sein, nur dem Gesprochenen Bedeutung beizumessen und auf ein Gesehenwerdenkönnen durch den pflegebedürftigen Menschen zu verzichten. Theologisch ist festzustellen, dass es sich beim Antlitz Gottes um eine wichtige theologische Größe handelt, wie ein Blick in die älteste biblische Tradition zeigt. Deren Linien lassen sich wiederum ausziehen in andere theologische Bereiche, z.B. den Segen: Greiner956 veranschaulicht in ihrer systematischen Studie zum Segen den Zusammenhang von Gesicht und Offenbarung. Sie erinnert an die zweimalige Betonung des Gesichtes im Aaronitischen Segen sowie an die biblische Rede vom zugewandten Antlitz Gottes (z.B. Gen. 32,22-32; Ex. 33, 11), die vermutlich in den älteren Traditionsschichten des Alten Testaments begegnet. Das Zuwenden des göttlichen Antlitzes sei dort für den Menschen jedesmal erhebend, das Abwenden erschreckend (z.B. Hiob 13,24; Ps. 51,12f.). Jakob nennt den Ort, an dem er mit JHWH um eine Segnung 956 Vgl. zum Folgenden Greiner, D., a.a.O.
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ringt, „Pnuël“, Angesicht Gottes (Gen. 32, 31). Dieses Zeigen des göttlichen Angesichts, wie es in der Segensformel zum Ausdruck kommt, erweise sich als freundlich, erhebend, wohlmeinend. Es gehe im Aaronitischen Segen jedoch nicht um das Fließen irgendwelcher unpersönlicher, sei es stärkender oder heilender Kräfte, wie Greiner unter Verweis auf Seybold betont. Vielmehr enthalte der Segen in seiner personalen Formulierung eine „Selbstoffenbarung“, die auf „die Erfahrung Gottes als Person“ sowie auf eine „persönliche Beziehung [Gottes] mit dem Segen empfangenden Menschen“ ziele. Das dem Menschen zugewandtes Antlitz Gottes, welches somit das Persönlichste offenbare, erweise zugleich seine segensreiche, menschenfreundliche, vertrauenerweckende Seite, denn das Gesicht beende dessen Anonymität/Verhülltheit. Gott gebe sich vielmehr zu erkennen und zeige sich in dieser Offenbarung als einer, der Interesse hat, mit dem Menschen in Kontakt zu treten. Greiner meint, das segnende Handeln Gottes habe „mehr mit dem Typos des Weiblichen als des Männlichen zu tun“ und macht auf ihre Beobachtung aufmerksam, dass der Segen häufig in Verbindung mit dem freundlich zugewandten Muttergesicht gesehen werde. Der Segen Gottes über dem Menschen gleiche dem freundlich zugewandten Antlitz der Mutter über dem Bett ihres Kindes. Im Segen zeige sich gewissermaßen „die mütterliche Seite Gottes“, die zur Theophanie Gottes in Christus keineswegs im Widerspruch stehe. Christus sei vielmehr der „Inbegriff des Segens“, durch welchen „aller geistlicher Segen zu uns gekommen ist“. Der persönliche Segen Gottes habe in der Person Jesu Christi „für immer bleibende, anschauliche Gestalt angenommen“. Das dem Menschen zugewandte göttliche Antlitz, welches dem Menschen Gott offenbar macht, enthält in nuce einen für die Heimseelsorge interessanten Aspekt: Es tritt die theologische Bedeutung des Persönlichen hervor. Indem Gott sich als einer erweist, der sich mit dem Gesicht identifizierbar macht und „persönlich“ wird, macht er sich zugleich als jemand bekannt, der das Persönliche sucht und demzufolge den einzelnen Menschen ansieht, wahrnimmt und dessen „Gesichtszüge studiert“. Es ist derselbe Gott, der den Menschen „beim Namen nennt“ (Jes. 43,1), ihn namentlich anspricht, wie der Auferstandene in der Begegnung mit Maria (Joh. 20,16). Dieser Doppelaspekt des Gesichtes – das Persönlichste offenbaren bzw. das Persönliche suchen – könnte erklären, warum die Seelsorgerinnen und Seelsorger sich in auffälliger Weise mit ihrem (zumeist lächelnden) Gesicht und aufmerksamen Blicken den Pflegebefohlenen zuwenden bzw. „zuneigen“. Ihre Interaktion von Gesicht zu Gesicht bekommt so einen „ikonenhaften Zug“, denn die frontale, axiale Ausrichtung zum pflegebedürftigen Menschen lässt das Gesicht der Seelsorgenden erscheinen wie das einer Ikone. Dem Betrachteten verstärkt sich der Eindruck, (freundlich, konzentriert, aufmerksam) angeschaut zu werden, wie man sich durch die auf einer Ikone 278
abgebildete Gestalt angeschaut fühlt und dabei spürt, eines würdigenden, ansprechenden, liebevollen Blickes wert zu sein. Anschauen, Lächeln und Zuwenden des Gesichtes bilden somit eine Kombination mimischer Signale von theologischer Aussagekraft. Nonverbal verstärken, verdeutlichen, illustrieren sie zentrale Eigenschaften Gottes, die am Gesandten „ablesbar“ werden. Auf diese Weise legitimieren bzw. qualifizieren sich die zu Besuch Kommenden als Gesandte eines bestimmten „Herrn“. Man könnte meinen, Sender und Gesandte würden einander entsprechen, damit an der „Fassade“ des Gesandten sogleich die Art der Gesandtschaft ersichtlich wird. d. Berühren oder: Lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte (Tersteegen) Es wurde in der Beschreibung des Lebensraumes Pflegeheim deutlich957, dass Körperzentriertheit ein Merkmal stationärer Pflegekultur ist. Dieser Umstand eröffnet Pflegenden wie Gepflegten gleichermaßen eine Chance und kann für die „Seel-“sorge fruchtbar gemacht werden: Den fünf Damen und Herren dieser Untersuchung erschloss sich in den von ihnen häufig praktizierten Berührungen ein Kanal, der es erlaubte, den Besuchten selbst bei größter Hinfälligkeit auf elementarste – und möglicherweise sogar wirkungsvollste – Weise eine „Botschaft“ zu kommunizieren. Die entwicklungsgeschichtliche Priorität der Körpersprache vor der Wortsprache958 lässt zudem vermuten, dass gar mit einer potenzierten Intensität nonverbal kommunizierter Mitteilungen zu rechnen ist. Vergegenwärtigt man sich, dass Berührungen ein menschliches Existenzial darstellen (Tasten ist im Mutterleib die erste Sinneswahrnehmung!), Leben ohne Berührtwerden also nicht denkbar ist, so kommt dem Körperkontakt in der Seelsorge mit Pflegebefohlenen eine Leben vergewissernde Bedeutung zu: Ich werde berührt, also bin ich; jemand berührt mich, ich bin (noch) nicht unnahbar, unberührbar; mein Kopf lässt nach, aber Hand und Haut begreifen sehr wohl; die Seele wird berührt über den Leib, der voller Potenziale ist. Die wohltuende Bedeutung körperlicher Berührung, auch eine Sehnsucht nach Berührtwerden, schlägt sich in vielen Redewendungen959 oder Liedstrophen960 nieder. Selbst von
957 Vgl. I.B.12. 958 Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge, 174; so auch Grond, E., Die Pflege verwirrter alter Menschen, 175. 959 ‚Jemand leibt und lebt‘, ‚einem anderen zur Seite stehen‘, ‚jemanden bei der Hand nehmen‘, ‚getragen werden usw.‘ 960 Man schlage in einer Konkordanz unter dem Begriff ‚Hand/Hände‘ nach. Dort findet sich eine Vielzahl von Liedstrophen, in denen es um die Berührung durch die ‚Hand‘
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Gott wird Berührung erwartet.961 Etliche Wundergeschichten des Neuen Testaments zeigen, dass dem Berührtwerden durch Jesus Entscheidendes für die Heilung zukam962, denn die Seele wird erreicht über den Körper bzw. die Haut, das größte menschliche Sinnesorgan. Die Bibel kennt sogar einen heiligen Kuss963, eine sehr innige Weise der Begrüßung, die mehr ist, als eine bloße „Reizung“ der Haut. Weyh964 spricht deshalb vom „anthropologischen Ich“, das „in der Haut wohnt“, und plädiert in seinen essayistischen Betrachtungen ‚Wider die Berührungsangst‘ für eine Wiederbelebung der Berührungskultur, die im Laufe des Zivilisationsprozesses verloren gegangen sei. Für ihn ist die Haut interessanterweise dem Bereich der „Seele“ zuzurechnen, nicht dem Körperlichen. Diese Sicht kann im Umgang mit Pflegebefohlenen hilfreich sein, denn viele von ihnen haben sich aus logisch-verbalen Sprachformen zurückgezogen, ihr wichtigster verbliebener Kommunikationskanal ist die bis zuletzt ansprechbare Haut (Demenzkranke, Komatöse, Lebensmüde, Sterbende). Grond macht deshalb darauf aufmerksam, dass Reanimierte sich häufig an Berührungen, die sie vor Eintritt ihres klinischen Todes erlebten, erinnerten. Er folgert daraus, dass Berührungswahrnehmungen von besonderer Bedeutung seien, da das Zwischenhirn sie noch bis zu zehn Minuten nach Einsetzen des klinischen Todes speichere. Er zieht daraus Konsequenzen für den Umgang mit Pflegebefohlenen und ermutigt zu Berührungen.965 Die Forschung an Komapatienten966 betont ebenfalls den hohen Stellenwert des Haptischen. Sie spricht von einem „Kör-
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Gottes geht. Auch zu den Begriffen ‚berühren‘, ‚fassen‘, ‚halten‘, ‚tragen‘ oder ‚umfassen‘ finden sich zahlreiche Texte. Ps. 91, 4: „Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln“; Ps. 139, 10; Ps. 27, 9b („Tu die Hand nicht von mir ab“); Jes. 46,4: „Ich will euch tragen bis ins Alter“; Jes. 66, 12: „Ihr sollt auf dem Arme getragen werden“ in Zusammenhang mit dem ungewöhnlichen Gottesvergleich „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ usw. Eine besondere Bedeutung hat dabei das Handauflegen bzw. Berührung durch die Hand (Mk. 1,31; 5,23; 7, 32). Berührungen werden geschildert in Zusammenhang mit Fieber (Mk. 1,31), Aussatz (Mk. 1,41), Blutfluss (Mk. 5,27), Wassersucht (Lk. 14, 4), Errettung vom Tode (Mk. 5, 41; Lk. 7,14 [Jesus berührt den Sarg!]). Berührt werden von Jesus also viele „Unberührbare“, die durch die Berührung wieder hereingeholt werden in die Gemeinschaft, aus der sie wegen ihrer Krankheit verstoßen waren. Röm. 16,16; 1. Petr. 5,14. Weyh, F. F., Die ferne Haut, Berlin (1999). In der Theologie plädiert E. Naurath für eine (Wieder-)Entdeckung der Leibthematik für die Seelsorge, vgl. Seelsorge als Leibsorge. Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- oder Bezugspersonenpflege. Die hier referierten Erkenntnisse der Komaforschung beziehen sich alle auf das nicht künstlich herbeigeführte Koma.
pergedächtnis“, in dem Wahrnehmungen, Gefühle oder gar Träume während der Bewusstlosigkeit von bis zu 53 % der Patienten erinnert werden.967 Auf der „leiblichen Erfahrungsebene“ werden offensichtlich „unsere vor- und nachgeburtlichen Geborgenheitserfahrungen gespeichert“, so dass sie besonders erinnernswert scheinen.968 In der Erkenntnis der Relevanz von Berührungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts fordert Schmid969 deshalb eine „Grundversorgung an Berührungen“ gerade im Alter. Er unterstellt eine besondere „Lust der Berührung“ beim Älterwerden, die mit der zunehmenden Beeinträchtigung der anderen Sinne, wie Sehen oder Hören, zu erklären sei. Die „Basiskommunikation über den Tastsinn“ bleibe hingegen erhalten und sei genauso möglich wie am Lebensanfang. Ein rasender Puls könne deshalb beruhigt oder ein steigender Blutdruck durch eine einzige spürbare Berührung durch eine Hand, die Vertrauen weckt, gesenkt werden. „Dramatisch“ sei deshalb die Tatsache, dass das im Alter zunehmende Bedürfnis nach Berührtwerden unzureichend gestillt werde, da die Bereitschaft der anderen sinke, dem alten Menschen berührend nahezukommen: Da die Haut nicht mehr, wie beim Baby, anziehe, scheine es, als hänge über dem Alter ein Schild mit den Worten „noli me tangere!“. Zudem mache eine Jugendlichkeit propagierende Kultur aus den Alten geradezu „Unberührbare“. Da die Seele jedoch über den Körper erreicht werde, komme es im Alter entscheidend darauf an, eine „Grundversorgung“ physischer Berührung sicherzustellen, die in einer Umarmung, dem Halten der Hand, einer regelmäßigen Massage, Körpertherapie, Baden, Schwimmen oder wenigstens im Betasten von Materialien, Stoffen oder Gegenständen ihren Ausdruck finden könne. Schmid betont auch die Angst lindernde, viele Worte ersparende Kraft der Berührung, die gerade aufgrund der psychischen Verfassung vieler Pflegebedürftiger970 und angesichts des beängstigenden Umfeldes971 stationärer Einrichtungen nicht außer Acht gelassen werden sollte. So zeige sich beim Kind, das aus Angst nahe bei den Eltern liegen möchte, dass Nähe und Berührung Angst minimiere, auch deshalb, weil beide Größen nicht nur kognitiv, sondern vor allem leiblich-konkret bzw. spürbar sind. Dies gilt für körperliche, seelische und metaphysische Berührungen gleichermaßen, da, so Schmid, jede Berührung eine „Erfahrung von ‚Transzendenz‘, eine Überschrei967 968 969 970 971
Vgl. Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O., 26. Lückel, K., a.a.O., 40 Schmid, W., a.a.O., 420f. Zur Prävalenz von Angst-Syndromen bei stationären Pflegebedürftigen I.B.6. Vgl. auch Koch-Straubes einfühlsame Deutung der (typischen) Ängste einer Pflegeheimbewohnerin vor dem Hintergrund eines Lebens in stationärer Obhut, a.a.O., 75 – 77.
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tung der Grenzen des Ich“972 erlaube. Das Selbst fühle sich nicht mehr metaphysisch einsam, denn Berührung lasse über sich hinauswachsen. Naurath ist zuzustimmen, wenn sie resümiert, „sowohl die Schöpfungs- als auch die Inkarnationstheologie stellen die Berührung von Gott und Mensch ins Zentrum christlichen Glaubens“973, womit sie auf die auch theologische Qualität des Haptischen hinweist. Berührungen kommunizieren Nähe (Gottes), die, wie bereits gezeigt wurde,974 ein wichtiges – ausdrücklich erwähntes – seelsorgerliches Motiv von drei der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger ist. Ihnen dürfte es in dem Bemühen, Nähe zu kommunizieren, nicht allein darum gehen, eine anthropologische Möglichkeit – und zwar die Leiblichkeit des Menschen – zu pflegen, sondern auch den Beistand Gottes zum Ausdruck zu bringen, wie es beispielsweise ein zentrales Anliegen der Begleitenden Seelsorge975 ist. Berührungen können freilich, wie in den Beobachtungen zu sehen war, vielfältige Gestalt annehmen und unterschiedliche Akzente setzen. Grond unterscheidet in der Seelsorge mit Pflegebedürftigen die entspannende Berührung, die Polaritäten-Berührung, die atemstimulierende Berührung, das Einreiben, Massieren und Wiegen.976 Je nachdem, um welche Art von Körperkontakt es sich handelt, kommt entweder ein anthropologischer oder ein theologischer Gesichtspunkt zum Tragen. Im einen Fall geht es darum, Potenziale und Ressourcen Pflegebedürftiger zu mobilisieren oder eine Möglichkeit des Zugangs zu ihnen zu erschließen; im anderen Fall darum, eine theologische Botschaft zu vermitteln und zu einer religiösen Erfahrung zu verhelfen. In der Seelsorge mit Pflegebedürftigen wäre es deshalb sinnvoll, eine „Systematik“ der Berührungen zu pflegen, die Rechenschaft darüber gibt, in welcher Absicht das Haptische gebraucht und was mit ihm kommuniziert werden soll. Die bisherigen Gedankengänge zur Bedeutung von Berührungen im Kontext stationärer Pflege machen deutlich, dass der menschliche Körper durch das Konzept der klassischen Biomedizin – in Anlehnung an das descartianische Mensch-Maschine-Modell – nur unzureichend beschrieben wird: Er kann nicht auf seine mechanistischen Eigenschaften reduziert werden, sondern muss als individueller, affektiv besetzter, „beseelter“ Leib begriffen werden, bei dem nach biblischem Menschenbild Körper und Seele eine untrennbare Einheit 972 973 974 975
Schmid, W., a.a.O., 32. Naurath, E., Berühren, a.a.O., 156. Vgl. II.B.5. Näheres zum Konzept der ‚Begleitenden Seelsorge‘ bei Nauer, D., Seelsorgekonzepte im Widerstreit, 100f. 976 Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- oder Bezugspersonenpflege, 65ff.
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bilden.977 Gelegentlich wird deshalb auch vom „Körper-Ich“ oder „KörperSelbst“ gesprochen, das, wie Gustorff/Hannich978 es verstehen, beim Erwachsenen lediglich „mit individueller Biographie und Lebenserfahrung angereichert ist“. Dieses leibliche ‚Ich’ bzw. ‚Selbst‘ ist jedoch keineswegs minderwertiger, sondern – entwicklungsgeschichtlich gesehen – lediglich älter. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zum Berührungsverhalten der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger lässt sich sagen, dass je nach Persönlichkeit der Seelsorgenden sowie Bedürfnislage der Besuchten sowohl anthropologische als auch nicht anthropologische Motive in die haptische Interaktion hineinspielen können. Dabei können sich jedesmal die unterschiedlichen, oben angesprochenen Intentionen mit einer Berührung verbinden. Die bisherigen Beobachtungen und inhaltsanalytischen Erwägungen sprechen meines Erachtens dafür, intensives seelsorgerliches Berühren im Kontext der stationären Pflege insbesondere in seiner theologischen Bedeutung begründet zu sehen. Da Berührungen sich eignen, theologische Gehalte zu illustrieren und sie erfahrbar zu machen, können sie in der Seelsorge auch dazu genutzt werden, als Element einer religiösen „Fassade“ zu fungieren und die pastorale Rolle hervorzuheben. Wie die Ausführungen zum Berührungsverhalten verdeutlichen, können Berührungen helfen, die Nähe Gottes zu symbolisieren und so ein zentrales Theologumenon zu veranschaulichen. e. Nähe oder: Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind (Ps. 34,19) Zu den Auffälligkeiten der beobachteten Besuche gehört auch das Nähe- und Distanzverhalten der Seelsorgerinnen und Seelsorger, das markant abweicht vom gesellschaftlich üblichen Raumverhalten bei unpersönlichen Beziehungen oder Interaktionen mit Fremden.979 Drei980 der begleiteten Seelsorgerinnen und Seelsorger betonten sogar in dem mit mir geführten Vorgespräch die Bedeutung der Nähe für das seelsorgerliche Verhalten und verwiesen damit auf die bereits beleuchtete, eminent theologische Kategorie des nonverbalen Repertoires, an der sie sich orientierten. Abgesehen von den bereits in Erwägung gezogenen Deutungen dieses Verhaltens liegt es unter einer theologischen Perspektive nahe, der bevorzugten, 977 978 979 980
Vgl. Joest, W., Dogmatik, Bd. 2, Göttingen (1986), 380f. Vgl. Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O., 33ff. [Kursiv O.K.]. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation, 282. Seelsorgerin I (Braune), Seelsorgerin II (Pape), Seelsorger III (Hamberg).
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zumeist intimen bis persönlichen Nähe eine besondere, über das Praktische (z.B. besseres Gesehen- oder Gehörtwerden) oder Affiliative hinausgehende Relevanz beizumessen. Solche seelsorgerliche Nähe scheint geeignet, auf eine zentrale Eigenschaft Gottes hinzuweisen, die sich in dessen Aufsuchen (Lk. 1,68), Mitgehen (Jos. 1,9) und Beistehen (Ps. 23,2.4), kurz: unentwegtem Nahesein bekundet und in der Menschwerdung unüberbietbar zum Ausdruck kommt. Seit den Anfängen des alttestamentlichen „Väter“-Glaubens981 gehört das Motiv der Nähe Gottes zu den Charakteristika jüdisch-christlicher Theologie, das wiederholt und variantenreich z.B. in Theophanien oder im Kult begegnet: Der Erzeltern-Gott bindet sich nicht an einen festen Ort, man muss keine Wallfahrt zu ihm unternehmen, er „wohnt“ nirgends, sondern ist mitziehend stets bei den Menschen (Gen. 28,15; 31,3.5; 35,3; 46,4). Es zeigt sich hier ein Nähe suchender Gott, dem es um Beziehung und Nähe zu seinem Volk geht. Solche Nähe wird vom Menschen als lebensförderlich erlebt, seine Abwesenheit und Ferne hingegen als lebensbedrohlich oder gar als Zorn. Noch die Gottesprädikation ‚JHWH’ enthält einen Hinweis auf die Treue und Nähe Gottes.982 Das Nähemotiv findet sich schließlich auch im neutestamentlichen Theologumenon der Inkarnation. In der Menschwerdung Gottes zeigt sich in einer gesteigerten Variante dasselbe theologische Motiv eines solidarischen, mitfühlenden, mitgehenden Gottes, der sich von menschlichem Leid betreffen lässt und nicht in apathischer Distanz verharrt. Indem das „Wort Fleisch wurde“ (Joh. 1,1), erweist sich dieses „Wort“ als ein sich tief in diese Welt mit samt ihrem Elend und Leid einlassendes. Kein Ort, keine Situation, keine Befindlichkeit wird vom Fleischgewordenen ausgeklammert oder umgangen. Er selbst lässt sich von allem Schmerzlichen, Dunklen, Menschlichen betreffen, geht in es ein, um allen Geschundenen nahe zu sein. Deshalb heißt Gott auch Imanuel, Gott mit uns. Nauer bringt es auf den Punkt: „Der jüdisch-christliche Gott zeichnet sich hauptsächlich durch seine Nähe zu den Geschöpfen aus“983. Diese Tatsache ist von solch eminenter Bedeutung, dass sie fast zwingend zu einem entsprechenden Näheverhalten beim seelsorgerlichen Besuch führen müsste. Zugleich findet sich im Theologumenon ‚Nähe Gottes‘ ein zentrales Motiv dafür, warum es überhaupt zu Besuchen kommt: Seelsorgerliche Besuche sind ja verstehbar als Überwindung von Distanz, Beziehungslosigkeit und Ferne. Die Besuchenden kommen, weil sie nahe sein, die Situation mittragen, Solidarität bezeugen wollen. Sie wollen 981 Zur Eigenart des Erzelternglaubens alttestamentlich-nomadischer Zeit vgl. Schmidt, W. H., Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen-Vluyn, 1987 (6. Aufl.), 17 – 36. Zum Motiv des Mit-seins vgl. 22f. 982 Vgl. Nauer, D., Seelsorge, Stuttgart (2007), 79. 983 Ebd., 78.
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Pflegebedürftigen beistehen und ihnen ihre ungebrochene Teilhabe an der Gemeinschaft kommunizieren: Der in einer Einrichtung lebende Mensch soll sich nicht isoliert fühlen, soll nicht meinen, im Getto zu leben, soll wissen, dass er aus den bisherigen sozialen Bezügen (Familie, Freundeskreis) nicht herausfällt. Andere denken an ihn, fühlen mit, vergessen ihn nicht, sie kommen zu Besuch. Gemeinschaft wird erlebbar, Nähe wird spürbar. Die Nähe Gottes wird durch das Nahesein, Kommen, Besuchen der Seelsorgerinnen und Seelsorger kommuniziert und symbolisiert. 2.2.2. Verhalten a. Besuchen: Die Besuchsdauer oder: Sei mir willkommen, edler Gast! (Luther) Es zeigte sich, dass vier der fünf Seelsorgenden mit einer überraschenden Kürze von durchschnittlich drei Minuten besuchen, so dass es konsequent ist, gar nicht erst Platz zu nehmen. Es hat den Anschein, dass die Besuche von Anfang an auf Kürze angelegt waren. Das seelsorgerliche Interesse scheint nicht auf ein Gespräch zu zielen, sondern eher der Beziehungspflege zu dienen und auf die (theologisch vernachlässigte) Kraft des Aufsuchens bzw. Besuchens zu setzen. Stubbe984 ruft die (von der Poimenik in Vergessenheit geratene) theologische Dimension des Besuches in Erinnerung. Sie weist darauf hin, dass die Geschichte Gottes mit dem Menschen in der christlichen Tradition als eine „Besuchsgeschichte“ zu beschreiben sei. Unentwegt besuche Gott den Menschen, bedingungslos, zugewandt und unverfügbar zugleich. Das Kommen Gottes finde eine Entsprechung im seelsorgerlichen Besuchen. Sinn und Bedeutung dieses „hohen Besuches“ liege in der „göttlichen Präsenz“, die den besuchten Menschen für eine begrenzte Zeit des Alleinseins enthebe und kommuniziere: Du bist nicht verlassen, vergessen, übersehen! Stubbe beschreibt die Wirklichkeit dieser im Namen Gottes sich ereignenden Begegnung als „vorübergehendes Herausgehobensein aus der Zeit“, bei der die Dauer der Zuwendung sekundär sei, da Kategorien wie ‚Raum‘ oder ‚Zeit‘ in einer derart bedeutungsgeladenen Besuchskonstellation nicht mehr griffen: Augenblicke können reich gefüllt, kurze Momente kostbarer als lange Intervalle sein. Indem die ‚Seele‘ sich von einem seelsorgerlichen Besuch angesprochen erlebe, könne sich eine Dynamik unabhängig vom Faktor ‚Zeit‘ entfalten. Kraft, Relevanz und Tiefe einer seelsorgerlichen Begegnung samt ihrer Wirkung seien erklärbar als Resultat der „Wucht der Bedeutung solcher Besuche“, da eben ein „besonderer“ – im Namen Gottes kommender – Gast das Zimmer betrete. 984 Zum Folgenden vgl. Stubbe, E., Jenseits der Worte, 66ff.
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Unter Rückgriff auf Gestrich985 beschreibt Stubbe das Phänomen des ersten Begegnungsaugenblickes. Gestrich schildert, wie von ihm, einem Krankenhausseelsorger, Aufgesuchte gleich zu Beginn eines Besuches durch erste Äußerungen erkennen ließen, was sie mit dem Seelsorger „anzufangen“ wünschten. Da Seelsorgerinnen und Seelsorger „religiöse Symbolfiguren“ seien, fühlten sich die Patienten in den ersten Augenblicken des seelsorgerlichen Besuches unmittelbar auf schwer zu beschreibende Weise angesprochen. So komme es zu einem „Hinwerfen“986 der Nöte und Sorgen von Patienten, wie Wiedemann es formuliert, das nicht viel Zeit beanspruche, sondern in den wenigen Augenblicken und gezählten Minuten, die in der Kranken- bzw. Pflegeheimseelsorge zur Verfügung stünden, möglich werde. Er appelliert, Seelsorgende sollten nicht einer Alles-oder-Nichts-Haltung verfallen, indem sie einen Besuch nur dann für sinnvoll erachteten, wenn viel Zeit zur Verfügung stehe. Er verweist auf eine Untersuchung von Scharff, der in einem Vergleich zwischen intensiver psychoanalytisch orientierter Zehn-Stunden-Beratung und mehrere hundert Stunden dauernder Psychoanalyse zu dem Ergebnis kommt, es spiele keine Rolle, wie viel Zeit jemand ‚habe‘, sondern es komme vielmehr darauf an, wie er sich in ihr bewege.987 Wiedemanns Theorien sind auf die Seelsorge im Altenpflegeheim gut übertragbar. Sie bergen zudem einen praktischen Vorteil für (hauptamtliche) Heimseelsorgerinnen und -seelsorger, die, ähnlich wie jene im Krankenhaus, oft mit dem Dilemma kurzer Verweilzeiten konfrontiert sind. Eine kurze Besuchszeit erlaubt somit eine größere Zahl an Besuchen, ohne dass Besuchende bedrückt sein müssten von der Erkenntnis, nicht viel Zeit für den Einzelnen zu „haben“. Die Kürze eines Besuches bringt zugleich für die – schnell ermüdenden – Pflegebefohlenen einen Vorteil mit sich, da diese vor schnell einsetzender Überforderung und all zu starkem Eindringen in das minimierte persönliche Territorium geschützt werden. Freytag/Weber ist deshalb zuzustimmen: „Wenn wir mit unseren Gefühlen und unserem Wollen in einem guten Gleichgewicht sind, kommt beim Gesprächspartner kaum das Gefühl auf, wir hätten keine Zeit, und zwar unabhängig davon, wie lange das Gespräch tatsächlich dauert. Ist dieses Gleichgewicht nicht vorhanden, kann es aber sein, dass der andere nach zwei Stunden noch klagt, man hätte keine Zeit für ihn gehabt. Wir meinen daher, dass das Zeitproblem nicht ein Problem des realen Zeithabens allein ist. Die meisten alten Menschen wissen sehr gut, dass Angehörige und Betreuer viel zu tun haben und re-
985 Gestrich, R., a.a.O. 986 Vgl. Wiedemann, W., a.a.O. 987 Ebd., 100.
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spektieren das auch. Was sie in ihrer Einsamkeit oft so sehr vermissen, ist die echte Begegnung und liebevolle Beziehung“988.
Exkurs: Auffällige Patientenreaktionen im Krankenhaus Im vorigen Abschnitt wurde unter Verweis auf Stubbe die theologische Dimension des Besuches sowie dessen seelsorgerliches Potenzial angesprochen. Im Folgenden soll das Thema noch einmal exkursartig unter einer psychologischen Perspektive betrachtet werden, da diese bei einigen Autoren besondere Berücksichtigung findet. Wiedemann989 geht wie Stubbe davon aus, die Länge einer seelsorgerlichen Begegnung sei in der krankenhausspezifischen Besuchskonstellation unerheblich. Er kommt aber auf anderem Weg zu dieser Erkenntnis: Vor die Frage gestellt, wie ein Krankenhausseelsorger in einem städtischen Klinikum mit 27.000 Patienten jährlich eine möglichst große Zahl von Patienten erreiche, kommt er zu der Einschätzung, die die oben geschilderte Annahme erlaubt, selbst in kürzester Besuchszeit könne sich noch eine hilfreiche seelsorgerliche Dimension eröffnen und eine entsprechende „Wirkung“ entfalten. Wiedemann rekurriert dabei auf psychologische Erkenntnisse: Unter Rückgriff auf Bion beschreibt er die der einem Magen vergleichbare ‚Containing‘-Funktion der Seelsorge. Der kirchliche Seelsorger stelle bei seinem Besuch etwas wie einen „Leih-Magen“ zur Verfügung, der „verdauen“ helfe. In dieser (Verdauungs)Funktion findet Wiedemann eine psychotische Bewältigungsform, die nur der Religion möglich sei. Der Seelsorger/die Seelsorgerin werde vom Gegenüber als „religiöses Objekt“ aus der äußeren Realität erlebt, das die innere religiöse Objektwelt des Patienten aktiviere und zugleich als „Container“ für die abgespaltenen Teilobjekte des/der Hospitalisierten diene. Diese psychotische Möglichkeit hänge vor allem damit zusammen, dass der/die zu Besuch Kommende „der äußeren Realität“ angehöre: „Im Seelsorger tritt die undenkbare und deshalb noch ungedachte Todesangst des Patienten auf diesen zu, aber von außen – und das ist nicht so gefährlich wie von innen“990, veranschaulicht Wiedemann es am Beispiel des Umgangs mit Tod und Sterben. Der Seelsorger werde „gefüllt“ mit unterschiedlichsten, noch nicht erlittenen bzw. genossenen Empfindungen wie Glück oder Unglück, Schmerzen oder Freuden, Ängsten oder Hoffnungen, die „zum Zweck der Bearbeitung ausgelagert werden müssen“ 988 Freytag, M./Weber, B., Erfahrungen mit der Einsamkeit alter Menschen, in: Diakonia, 21 (1990), 395. 989 Vgl. zum Folgenden Wiedemann, W., a.a.O. 990 Ebd., 120.
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und beim Seelsorger „ankämen“ in Gestalt eines Schwitzens, Schwindels, körperlicher Schmerzen oder einem Rauschgefühl der Dankbarkeit. Wiedemann findet diesen Mechanismus auch in biblischen Texten. Er führt beispielsweise die Wundergeschichte von den besessenen Gedarenern (Mk. 5) an, in der die bösen Geister der Kranken in die Schweine fahren und diese ins Meer stürzen. Als weiteres Beispiel dient ihm die Geschichte vom Sündenbock, der in die Wüste geschickt wird (3. Mose 16). Die „besonderen Orte“ Meer und Wüste werden dabei als Symbol für das Unbewusste gedeutet. Wüste und Meer stellten einen „Container“ für unbewusste Ängste und Regungen dar. In der Wundergeschichte übe Jesus als Priester und Heiler jene Funktion aus, die dem Seelsorger in seiner ‚Containing‘-Funktion zufielen, während sie in der Episode vom Sündenbock durch das Opferlamm ausgeübt werde. Auch könne die neutestamentliche Aufforderung „Alle eure Sorgen werfet auf ihn, denn er sorgt für euch“ (1.Petr. 5,7) im Sinne des beschriebenen Mechanismus’ gedeutet werden: Das Unbewältigte und Unverdaute solle projiziert, also hingeworfen werden auf jenen, der den von Sorgen Überlasteten die Verarbeitung der Sorgen abnehme. In diesem Zusammenhang sei an die Äußerung von Pastor Laurenz erinnert, der als Heimseelsorger die Erfahrung machte, die existenziellen Themen, die Pflegebedürftige beschäftigten, kämen beim seelsorgerlichen Besuch schnell zur Sprache (wie beim „Aufplatzen einer Eiterbeule“) und brauchten nicht viel Zeit oder einen längeren kommunikativen Prozess. Festzuhalten bleibt als eine für die Pflegeheimseelsorge wichtige Hypothese, dass auch seelsorgerliche Besuche im Pflegeheim trotz der für sie typischen Kürze sehr gehaltvoll, wirkungsvoll und existenziell sein können. Angesichts der unterschiedlichen Faktoren, die an der spezifischen Dynamik eines Seelsorgebesuches im Heim wirksam sein dürften (Ort, religiöse Symbolfigur, psychologische Mechanismen) ist eine theologisch-psychologische Relevanz selbst für kürzeste Interaktionen zu postulieren. Mit Blick auf Ehrenamtliche bzw. Laien (z.B. Besuchsdienst einer Gemeinde), die bei seelsorgerlichen Besuchen im Pflegeheim ein wichtige Rolle spielen, soll abschließend gefragt werden, wie auch sie zu einer religiösen Symbolfigur werden können, damit sich auch an ihnen eine initiale Übertragung mit entsprechender Dynamik und „Containing-Funktion“ entfaltet. Gestrich991 macht in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Vorstellung des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin aufmerksam. Sie ist seiner Ansicht nach entscheidend, um eine Brücke zwischen Krankem und Besucher schlagen zu können. Es kommt demnach auf eine klare, unmissverständliche Vorstellung bei der Begrüßung an. Sie muss deutlich erkennbar machen, wer die besuchende Person ist bzw. in 991 Gestrich, R., a.a.O., 15 .
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wessen Namen sie auftritt. Denkbar ist z.B. der Hinweis auf das Kommen im Namen der Gemeinde, der Kirche oder der Pastorin/des Pastors, auch kann diese Beauftragung angedeutet oder unterstrichen werden durch Tragen eines (möglichst auffälligen) Kreuzes an einer Kette oder an der Kleidung. Geistliche sollten sich erkennbar machen durch Tragen eines Colarhemdes und Wahl der Farbe Schwarz. Auch eine entsprechende Kleidung, wie sie bei offiziellen Anlässen geboten ist, scheint in der Seelsorge günstig, da so ein Besuch leichter einen „amtlichen“ Charakter bekommt und so eine Funktion bzw. Rolle unterstreicht. b. Handreichungen und Hilfestellungen oder: Mein Herz freut sich, dass du so gern hilfst (Ps. 13,6) Es fanden sich bei einigen Besuchen in unterschiedlichen Ausprägungsgraden Verhaltensweisen, die als ‚Handreichungen und Hilfestellungen‘ zu beschreiben sind, darunter besonders hervorstechend der Besuch von Seelsorgerin Braun bei Frau B. (SI-2). Zu fragen ist, inwiefern dieses Verhalten als eine Form seelsorgerlicher Zuwendung verstanden werden darf. Es ist ja nur schwer in die gängigen logozentrischen bzw. „dramatischen“ Auffassungen von Seelsorge integrierbar, die ‚Seelsorge‘ entweder als eine dramatisch-existenzielle, um Alles oder Nichts gehende Angelegenheit verstehen oder sie ansonsten nicht als Seelsorge gelten lassen.992 Wie bereits gezeigt wurde, konnten gelegentlich Phänomene beobachtet werden, die ein breites Spektrum vom ganz praktischen Zur-Hand-Gehen (z.B. Tablett raustragen) bis hin zu einem subtilen, teils zärtlichen Verwöhnen (z.B. „Bett machen“, Süßigkeiten reichen) abdeckten. Es ist ungewohnt, Begriffe wie ‚Verwöhnen‘, ‚Zur Hand gehen‘, ‚praktische Hilfestellung leisten‘ o.ä. in einer Seelsorgelehre zu suchen, obwohl es im spezifischen Kontext der Situation bettlägeriger Schwer- und Schwerstpflegebedürftiger gar nicht unbegründet scheint, ‚Verwöhnung‘ und ‚praktische Hilfe‘ als einen Spezialfall der Seelsorge in dieser letzten, sehr angewiesenen Lebenssituation zu verstehen. Jede noch so kleine „Streicheleinheit“ kann hier eine erbauende Qualität bekommen, zerstreuen oder angenehme Empfindungen hervorrufen, die Lebensgeister wecken und hilfreich sein. Wie sich zeigte, kann praktische Hilfestellung entweder vom Pflegebedürftigen selbst (wie im Falle der sehr dominanten Frau B.) provoziert oder erbeten, 992 Ziemer beispielsweise umreißt vier „Aspekte eines theologischen Seelsorgeverständnisses“, darunter auch einen diakonischen, in dem er die Bedeutung des Leiblichen für die „Seel-“sorge hervorhebt, beschränkt sich aber in seinen Überlegungen auf die „solidarische Praxis“, die auch strukturell bedingter Not zu begegnen versucht, vgl. Ziemer, J., a.a.O., 124. Als diakonisch könnte das hier Gemeinte verstanden werden.
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aber auch vom Seelsorger, der Seelsorgerin angeboten und als seelsorgerliche Wohltat für Leib und Seele offeriert werden. Für den ersten Fall (des Forderns) ist der eingeschränkte Verhaltensspielraum des ans Bett Gefesselten zu bedenken, auf den Christian-Widmaier993 aufmerksam macht. Sie weist darauf hin, dass sich das Bett, sonst ein Raum der Geborgenheit und Intimität, im Krankenhaus und ähnlichen Einrichtungen ins Gegenteil verkehre und zu einem (vom Personal) jederzeit zugänglichen Ort mit allseitiger Zugriffsmöglichkeit mutiere, was bereits durch die Aufstellung und die Position des Bettes deutlich werde. Die pflegebedürftige Frau B. durchbricht mit ihrer Dominanz in der Begegnung mit der Seelsorgerin ihr liegendes, institutionelles Ausgeliefertsein und findet damit für einen Moment zurück zu einer gewissen Selbstbestimmtheit, ja „Macht“. Gelegentlich kann man hilflose Helfer und mächtige Patienten beobachten, wie es hier der Fall war. Die Seelsorgerin lässt zögerlich gewähren und verhilft der Betreuten damit für die Zeit ihres Besuchs zu einer wenn auch sehr beschränkten Souveränität, die sie im Umgang mit dem Pflegepersonal und der Institution kaum hat. Wenngleich die Förderung der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Aktivität Pflegebefohlener ohne Frage eine wichtige, auch seelsorgerliche Aufgabe im Pflegeheim ist, sollte nicht übersehen werden – wie die Beispiele der Beobachtung es nahelegen – dass es u.U. geboten sein kann, einem pflegebedürftigen Menschen Erleichterung oder Wohlsein zu verschaffen durch tatkräftiges ZurHand-Gehen und praktische Hilfestellung, die bis zu einem gewissen Verwöhnen gehen kann, das Passivität möglicherweise noch fördert. Der hohe Anteil Schwerstpflegebedürftiger und Bettlägeriger994 lässt es sinnvoll erscheinen, diese Art der Zuwendung nicht zu verkennen, da sie mitunter die letzte Möglichkeit ist, dem besuchten Menschen Wohlsein zu bereiten und sein Leben erträglicher zu machen. Christliche Seelsorge dürfte im Übrigen einen unverkrampfte(re)n Zugang zu solcher praktischen, mitunter sogar Passivität fördernden Hilfestellung haben, da für sie Hilfsbedürftigkeit, Schwäche, Angewiesensein keine zu bekämpfenden Stigmata darstellen. Vor dem Hintergrund des christlichen Menschen- und Gottesbildes müssen diese vielmehr als ein Teil menschlichen Lebens und irdischer Realität begriffen werden. Christliche Seelsorge muss nicht einstimmen in die Verachtung oder Geringschätzung der Passivität durch die Kultur der Moderne mit ihrer Fixierung auf das Aktive und die Aktion bzw. deren Verkennung von Muße, Leere, Langeweile, Passivität, Abhängigkeit usw. Die Theologie kann mit Martin Luther sogar das Leben als
993 Christian-Widmaier, P., a.a.O., 26. 994 Vgl. I.B.11.
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vita passiva bezeichnen, da sie aus der Erkenntnis des Sünderseins und der Geschöpflichkeit des Menschen dessen radikale Angewiesenheit ableitet. Zu bedenken ist ferner, dass im Laufe eines längeren Prozesses, der mit zunehmender (Pflege-)Bedürftigkeit einhergeht, eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, die bis dahin unvorstellbar schien: Von einer solchen Veränderung des Erlebens wird in Alboms Buch berichtet, das von der unter großer öffentlicher Anteilnahme zunehmenden Hinfälligkeit eines amerikanischen Hochschullehrers erzählt: In einem Gespräch mit seinem ehemaligen Studenten sagt der inzwischen Schwerstpflegebedürftige etwas Bemerkenswertes: „Ich begann, meine Abhängigkeit zu genießen. Jetzt genieße ich es, wenn jemand mich auf die Seite dreht und mich cremt, damit ich keine wunden Stellen bekomme. Oder wenn jemand mir die Stirn abwischt oder die Beine massiert ... Ich schließe meine Augen und gebe mich völlig hin. Und es scheint mir sehr vertraut zu sein. Es ist, als würde man wieder zu einem Kind ...Wir alle wissen, wie man ein Kind ist. Es ist in uns drin ...“ 995.
Das Stichwort Genuss lässt noch einmal an den bereits erwähnten Besuch der Seelsorgerin Braune bei Frau B. denken, der besonders markant durch die Fülle der Handreichungen und Hilfestellungen war. Eine weitere Auffälligkeit tritt mit Blick auf die Bettlägerige hervor: Ihre Lust am Genuss, wie sie sich bekundet im Sprechen über Genüsse wie im Genießen selbst (Zigarette, Getränk, Süßigkeiten).996 Auch dies kann seelsorgerlich geboten sein: Genüsse zu ermöglichen, zumal Beobachtungen die Vermutung begründen, dass die Empfänglichkeit bzw. Bedeutsamkeit für das Genussvolle mit zunehmender Hinfälligkeit gleichsam proportional zuzunehmen scheint. Bruder ist deshalb zuzustimmen, wenn er mit Blick auf Demenzkranke behauptet: „Es ist vor der Annahme zu warnen, Leben in der Demenz könne nicht mehr genossen werden“997. Diese Feststellung ist allerdings auch auf andere Pflegebedürftige anzuwenden. Unterschiedliche Faktoren können eine derartige, bei Albom beschriebene innere Wandlung, begünstigen: Zum einen eine bewusst gewählte Haltung im Sinne der von Frankl beschriebenen Einstellungswerte, die befähigt, ein unabänderliches Schicksal anzunehmen bis hin zu der Möglichkeit, diesem sogar einen Sinn abzugewinnen;998 zum anderen ist eine Entwicklung möglich, die eine quasi natürliche, logische Folge des körperlich (-geistigen) Schwächungs995 Albom, M., Dienstags bei Morrie, München (2002, 11. Auflage), 134f. 996 Bei diesem Besuch wird von Cognac, Champagner, Rauchen, „Männern“ und dem Mittagessen gesprochen, die Seelsorgerin assistiert ihr zudem beim Rauchen, reicht ihr zweimal eine Süßigkeit und zweimal ein Getränk. 997 Bruder, J., Betreuungs- und Behandlungskonzepte in Langzeiteinrichtungen für Demenzkranke, a.a.O. , 246. 998 Vgl. Frankl, V. E., Ärztliche Seelsorge, Wien (1987, 4. Aufl.), 82ff.
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prozesses ist, wie sie in Alboms Buch unter Hinweis auf das „Kind in uns“ – vermutlich unter Anspielung auf eine Art „Regression“ – angedeutet wird. Was Gustorff/Hannich über komatöse Patienten ausführen, scheint mir auch auf (Schwerst-) Pflegebedürftige übertragbar: „Je tiefer die Eintrübung [des Bewusstseins, O.K.], umso mehr scheint die Erlebniswelt des Kranken durch körper- und gefühlsnahe Erfahrungen dominiert zu werden. Im Vergleich zum Bewusstseinsfähigen entsteht ... – „ein ‚anderer‘, in wichtigen Bereichen gewandelter Mensch – schon deshalb, weil für ihn die ‚Welt’ und die Beziehung zu ihr andere wurden. ... Oppenheim-Gluckmann u.a. sprechen in diesem Zusammenhang von einer ‚confusion d’identité‘ (Identitätsverwirrung)“999.
Der Umstand, dass Pflegebefohlene lange Zeit im Bett liegen oder – häufig nicht erst mit dem Wechseln in Pflegeheim – ans Bett gefesselt sind, stellt einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar, der auf die Identität einwirkt und sie verändert. In der Hinfälligkeit und Angewiesenheit können sich neue und ungewohnte Seiten, Neigungen, Empfänglichkeiten entwickeln, die es beispielsweise nicht (mehr) als unangenehm empfinden, sich fürsorglich umhegen, versorgen, pflegen zu lassen. Verstärkt wird ein solches neues Erleben nicht zuletzt durch die Tatsache, dass der liegende Mensch in dem Ausgeliefertsein an die Horizontale unentwegt an die Anfänge des Lebens erinnert wird. Das Postulat Schmids kann deshalb in seiner Bedeutung für die Heimseelsorge gar nicht ernst genug genommen werden. Er postuliert: Wer liegt, wird ein anderer!1000 So ist nicht nur der Einfluss des Seelischen auf das Körperliche sehr real, sondern umgekehrt auch der des Körpers auf die Seele. Dieser Einfluss muss im Kontext des Pflegeheims jedoch keineswegs ausschließlich negativ bestimmt werden, wie es in der Pflegeliteratur häufig geschieht.1001 Auch scheint der Begriff ‚Regression‘ unzureichend, das Phänomen angemessen zu beschreiben, das als natürliche, potenzielle Bewältigungsform bei körperlicher Hinfälligkeit zu verstehen ist. Der Terminus der ‚Regression‘ hat zudem eine negative Konnotation und sollte deshalb in diesem Zusammenhang besser vermieden werden. Die beobachteten facettenreichen Wohltaten der Seelsorgerinnen und Seelsorger scheinen geeignet, Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit, die sich für Kleines und Alltägliches nicht zu schade ist, deutlich zu kommunizieren. Sie besitzen ein Potenzial, bei den Pflegebedürftigen ein Empfinden von ‚Geborgenheit‘ zu wecken, da sie zum Ausdruck bringen, für alles, Leib und Seele, Haupt- und 999 Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O., 30. 1000 Schmid, W., a.a.O., 207. 1001 Als exemplarisch mag folgender Satz gelten: „Das regressive Verhalten darf aber nicht zu lange belohnt oder bekräftigt werden, sonst werden die Pflegenden vom Kranken abhängig“, Grond, E., Praxis der psychischen Altenpflege, 28.
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Nebensächliches, werde gesorgt. Die Pflegebedürftigen werden auf diese Weise eingeladen, sich fallen zu lassen und sich mit allem ihren Seelsorgern anzuvertrauen. Die kleinen, übersehbaren Wohltaten leisten deshalb auf ihre Weise einen Beitrag zur Vertrauensbildung, indem sie die Besuchenden als Personen mit einer „ganzheitlichen Zuständigkeit“ ausweisen und die Rolle eines Wohltäters bzw. einer Wohltäterin unterstreichen. Damit können sie zugleich Assoziationen an die vielfachen Wohltaten Gottes wecken, die gelegentlich in biblischer Rede1002 oder in Chorälen1003 begegnen und die allumfassende göttliche Fürsorge für Leib und Seele bezeugen. Selbst kleinste Handreichungen und Hilfestellungen können so noch einen Hinweischarakter haben und dazu beitragen, das Gottesbild zu konturieren und zugleich die religiöse Gesandtschaft der Seelsorgenden hervorzuheben. c. Sharing oder: Sie blieben beständig in der Gemeinschaft (Apg. 2,42) Obgleich diese in der Entwicklungspsychologie bekannte Verhaltensweise nur einige Male und nur ansatzweise begegnete, wirft sie doch die Frage auf, ob in ihr nicht eine legitime – und deshalb stärker zu nutzende – Möglichkeit seelsorgerlicher Zuwendung im Pflegeheim zu finden ist. Entwicklungspsychologisch ist das Sharing deshalb interessant, weil in ihm ein urmenschliches Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Teilen zum Ausdruck kommt. Zugleich befördert und kommuniziert es Harmonie. Dornes1004 wertet Harmonie als entwicklungsfördernde Kraft beim Säugling. Es ist denkbar, die positiven Eigenschaften des Sharings auch in der Begegnung mit Pflegebefohlenen nutzbar zu machen: Seelsorgende könnten beispielsweise in der beschriebenen Weise bei ihren Besuchen darauf achten, ob schweigende oder verstummte Pflegebefohlene ihren Blick auf einen Gegenstand gerichtet haben und diesen konzentriert anschauen (z.B. intensives Betrachten eines Fotos, Bildes, einer Blume, aus dem Fenster schauen, in die Weite blicken usw.). Besuchende könnten sich dann im gemeinsamen Betrachten dieses Objektes mit den Besuchten verbinden1005 (z.B. „Sie betrachten das Bild an der Wand!“), denselben Gegenstand entweder schweigend miteinander
1002 1003 1004 1005
Hiob 10,12; Ps. 116,12; Mk. 5, 19. EG 289,1; 500, 4. Dornes, M., a.a.O., 158f. SV-7 : Der Seelsorger tritt an das Bett Frau G.s und spricht sie an mit den Worten „Frau G. sieht den Bääären an!“
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betrachten oder auch mit Worten beschreiben1006 (z.B. „Sehen Sie die bunten Farben, den blauen Himmel, die prächtigen Blumen!“). Auch kann ein Impuls zur gemeinsamen Betrachtung eines Gegenstandes gegeben werden1007 (etwa: „Schauen Sie sich einmal die schönen Blumen auf Ihrem Nachttisch an!“, oder „Was haben Sie denn da für ein Bild hängen!“), der neben der Erfahrung der Gemeinsamkeit zudem eine Hilfestellung sein kann, von sich selbst wegzublikken: Die Versunkenheit in die eigenen Gedanken und ein Kreisen um die eigene Hilflosigkeit vermag so für einen Augenblick transzendiert zu werden. Sharing hat damit ein mehrfaches seelsorgerliches Potenzial: Einerseits ermöglicht es ein besonderes Gemeinschaftserleben durch gemeinsames Fokussieren bzw. „Teilen“ einer Betrachtung. Zugleich kommuniziert es Gleichklang und Harmonie. Vielleicht kann man im Sharing sogar eine Art „solidarischen“ Aspekt finden, insofern beide Interagierenden dasselbe wahrzunehmen versuchen, denselben Blickwinkel einnehmen und sich damit auf gleiche Ebene begeben. Sharing ist aber nicht nur unter einem anthropologischen Gesichtspunkt interessant, sondern wegen seines kontemplativen Charakters auch unter einem theologischen. Dabei muss zudem gesehen werden, dass Pflegeeinrichtungen Lebenswelten sind, in denen das Kontemplative auf ein günstiges Milieu stößt, das möglicherweise sogar eine gesteigerte Empfänglichkeit für dieses religiöse Urphänomen mit sich bringt: Die Pflegekultur mit ihren beschriebenen Merkmalen wie Passivität, Stille, psychisch-physisch-strukturell bedingtes Schweigen und Verstummen, innerer Rückzug usw. ermöglicht es Pflegebefohlenen potenziell, Schweigen, Stille und Schau als meditative Elemente des Glaubens, der nicht reduzierbar ist auf Ethik oder Moral bzw. Aktivismus und Aktionismus, (neu) zu entdecken. Die Kontemplation mit ihren Faktoren Meditation, Muße und Betrachtung erlaubt es, sich ganz und gar der Schau hinzugeben und das reine gegenwärtige Sein zu pflegen, einfach nur zu betrachten und wahrzunehmen, Eindrücke zu sammeln und auf sich wirken zu lassen, Erfahrungen zu machen und „da“ zu sein. In einer solchermaßen die Betrachtung pflegenden Haltung geht es weder um Wissen noch Tun, sondern vielmehr um eine urreligiöse Zweckfreiheit, die ein Gegenwicht bildet zu einem Denken in Kategorien des Habens, Machens und Gebrauchens. Hier wird kein ‚Ziel‘ angestrebt oder mit einer irgendwie gearteten ‚Nützlichkeit‘ kalkuliert. Jeder Gedanke an ‚Verwertbarkeit‘ der „meditativen“ Eindrücke liegt jenseits des kontemplativen 1006 SV-1: [Über eine auf dem Nachttisch stehende langstielige Rose] „ ... Daaaas ist aber nett. Sie müssen sie noch einmal sehen von oben ... in die Blätter rein ....“; SV-7: „Was ist das für ’ne hübsche Blume, ooooooch!!!“; SV-6: „Ein schönes Foto haben Sie von Ihrer Frau an der Wand...“. 1007 Z.B. SIII-1, SV-1.
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Interesses. Sein Sinn liegt allein in sich selbst. Zum Gegenstand der Kontemplation kann indessen alles werden, was für einen Menschen relevant ist: Erstens hilft es in die meditative Schau einüben; zweitens ermöglicht es potenziell einen Zugang zur religiösen Dimension im Geschauten bzw. Erlebten. Anders ausgedrückt: Wie sich von der Tradition Jesu lernen lässt, der an die allgemeinen (Lebens-)Erfahrungen des Menschen anknüpft (Sabbat-Praxis, Hochzeit, Erbteilung, Finanzen, Markt, Krankheit, Tod, Steuern, Hochzeit, Landwirtschaft, Verlust, Finden usw.), um sie in ihrer religiösen Dimension zu erschließen und so dem Menschen zur Begegnung mit Gott zu verhelfen, so vermag die Betrachtung zu einer Erfahrung mit der religiösen Dimension zu werden. Das Gemeinte lässt sich auch mit dem Titel einer Schrift Tillichs1008 beschreiben: In der Tiefe ist Wahrheit. In-die-Tiefe-Blicken, Betrachten und Bedenken vermag also eine Annäherung an die religiöse Dimension („Wahrheit“) anzubahnen, wenn man davon ausgeht, dass die Wirklichkeit nicht als eine aufgespaltene, also in einen religiösen und nicht religiösen Bereich auseinanderfallende zu denken ist. In der Tiefe ist Wahrheit, und diese Wahrheit erschließt sich auch im kontemplativ-meditativen Betrachten, zu dem Pflegebefohlene – und sei es unter Anleitung – noch lange, möglicherweise in besonderem Maße fähig sind. In einem solchen meditativen Betrachten, wie es in Ansätzen im Sharing erkennbar wurde, kommen Elemente wie Bedenken, Besinnen, Danken, Ruhe Gelassenheit, Freude und (Er-)Leiden zur Entfaltung, die für das religiöse Leben zentral sind. Sie fungieren in gleicher Weise wie das Doxologische, Spielerische, Ästhetische und Musikalische, insofern jene als nicht ethisch bzw. nicht aktionistisch zu bezeichnen sind und ihre Legitimation nicht aufgrund ihres ‚Nutzwertes‘ haben. Diese Potenziale der Religion – gerade im Pflegeheim – zu kultivieren, ist angesichts des allenthalten verbreiteten Utilitarismus und Zweckrationalismus eminent bedeutsam und seelsorgerlich, da hier eine zentrale Seite des Glaubens zur Geltung gebracht wird, die auch in der Lehre von der Rechtfertigung wurzelt und dem Menschen eine Berechtigung gerade dann zuspricht, wenn er „nichts (mehr) tun“ kann. Indem es aus einer solchen theologischen Haltung heraus zur Bejahung des Kontemplativen kommt, wie es im Sharing geschieht, wird ein wesentlicher Ausschnitt des menschlichen Erfahrungsspektrums angesprochen, der jenseits alles Zweckrationalen, Informativ-Sachlichen oder Moralisch-Handlungs- und Verhaltensanweisendem liegt. Dies gilt auch für die Musik.
1008 Tillich, P., a.a.O., Bd. 1.
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d. Singen und Musizieren oder: Du lässest mich fröhlich singen von deinen Werken (Ps. 92,5) Singen und Musizieren spielte bei den Besuchen keine große Rolle. Es kommt hier sicherlich ein Defizit1009 der neueren Seelsorge und Seelsorgetheorie zum Ausdruck. Lediglich bei Diakon Hamberg (Seelsorger III) gehört das Musikalische zum festen seelsorgerlichen Repertoire.1010 Dieser Befund überrascht angesichts der offenkundigen Tatsache, dass die Musik ganz eigene seelsorgerliche Qualitäten besitzt und einen Zugang zum Menschen erschließen kann, wie es dem Verbalen nicht möglich ist. Diese Eigenschaft der Musik erklärt sich u.a. damit, dass sie mit Empfindungen verbunden ist, sie weckt, vertieft oder verstärkt. Da Klänge vorreflexiv erfassbar sind, haben sie eine Verständigungsebene ganz eigener Art und bieten sich besonders in der seelsorgerlichen Begegnung mit Menschen an, deren kognitiv-reflexive Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Dies macht den Einsatz des Musikalischen auch vorzüglich für die Seelsorge mit Demenzkranken brauchbar. Befunde aus der Psychiatrie belegen, dass die musikalische Rezeptionsfähigkeit im Menschen tief verankert ist und so auch verbal nicht mehr Ansprechbare für Musik noch lange empfänglich bleiben.1011 Musik stiftet auch Identität und kann im Kontext der Pflege, in dem die Identität auf unterschiedliche Weise gefährdet ist, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dem pflegebedürftigen Menschen das Selbstbewusstsein sowie ein Erleben von Individualität zu bewahren. Es ist aufschlussreich, dass Muthesius Musik als eine besondere „Metaphorik sozialer Selbstverortung“1012 versteht, die der „Distinktion, Identifikation, Selbstverortung ... ebenso dienlich (ist) wie Essen, Haltung, Kleidung, Wohnen“1013. Das aber bedeutet: Wenn jemand die „richtige“, sprich „seine“ Musik hört, vermag sich im Sinne des Sprichwortes das wohltuende Gefühl einzustellen, hier „lasse ich mich nieder“, hier gehöre ich hin, dies ist meine vertraute Welt, hier fühle ich mich heimisch. Auf eine spezielle Musik zu „stehen“, heißt demnach: Die Musik ist Fundament, macht fest, gibt Halt, ist hilfreich, schafft Identität und bringt sie zum Ausdruck. 1009 In den neuesten Veröffentlichungen zur Seelsorgelehre kommt die Musik nicht zur Sprache, vgl. z.B. Winkler, K., Seelsorge, Berlin (2000, 2. Aufl.) oder Ziemer, J., a.a.O., Dieser Befund überrascht umso mehr, als um die seelsorgerliche Wirkung der Musik in der Alten Kirche, der Reformations- und Nachreformationszeit durchaus gewusst und diese vielfach thematisiert wurde, wie Heymel, M., Trost für Hiob. Musikalische Seelsorge, München (1999) in Erinnerung ruft. 1010 Vgl. II.C.1.c. 1011 Vgl. Harz, F., Musik, Kind und Glaube, CTM 9, Stuttgart (1982), 49f. 1012 Muthesius, D., Musikerfahrungen im Lebenslauf alter Menschen, Münster (2002). 1013 Ebd., 287.
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Decker-Voigt beschreibt das Erlebnis des Aus-der-Seele-Spielens aus einer psychoanalytischen Perspektive: „’Meine‘ Musik heißt, eine Musik mich ganz erfassen lassen können, mich ihr auf allen Ebenen hingeben können, mit ihr eins sein wollen. Betrachten wir diese Fähigkeit einmal auf unsere drei Instanzen Es, Über-Ich und Ich bezogen, kann Musik als ‚Dach‘ für alle drei Strukturen gesehen werden: Unser Es wird dadurch befriedet, dass wir in ‚unserer’ Musik oft genug eine Katharsis erleben, eine ‚Befreiung von seelischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionale Abreaktion‘ (Kohut). Unser Über-Ich bekommt Futter durch die Tatsache, dass auch ‚unsere‘ Musik in ganz bestimmter Regelhaftigkeit begonnen, durchgeführt und beendet sein will ... Unser Ich nun pendelt – wie sonst auch – zwischen Es und Über-Ich und versucht sich auf dem Brückengang zwischen innerem Hören und äußerer Reaktion zu nähren“1014.
Musikalisch lassen sich zudem andere Bereiche der Persönlichkeit erschließen, als sie durch das Wort angesprochen werden können. Auch Gefühle von Geborgenheit und Vertrautheit können geweckt werden. Damit ist jedoch noch nichts gesagt über das Medium, das in der Interaktion mit Pflegebefohlenen zu wählen wäre (Stimme, Instrument, Tonträger), um entsprechende Empfindungen anzusprechen. Dass Musik jedoch ein wichtiges Medium der Seelsorge sein kann, sollte nicht übersehen werden. Der Gebrauch des Musikalischen setzt dabei keineswegs musikalische Begabung, ausgeprägte Musikalität oder die Beherrschung eines Instrumentes voraus, denn es geht im seelsorgerlichen Kontext nicht um den Aspekt des Kunstvollen. Der Umgang mit Musik in der Seelsorge liegt vielmehr auf jener Ebene, auf der sich z.B. Mutter und Vater bewegen, wenn sie ihrem Kind ein Gute-Nacht-Lied singen oder dem kranken Kind zum Trost eine Melodie summen. Die Zuhilfenahme musikalischer Formen in der Seelsorge setzt nichts weiter voraus, als die Einsicht um die Chancen des musikalischen Zugangs und eine Einübung durch Ausprobieren und praktische Anwendung. Unter den in dieser Arbeit dokumentierten Besuchen findet sich ein eindrucksvolles Beispiel für die wohltuende, verwandelnde wie belebende Kraft von Klängen, die in diesem Fall nicht viel mehr sind, als eine starke sprachbegleitende (parasprachliche) Beigabe. Das Beispiel unterstreicht zugleich die Bedeutung akzentuierten, expressiven Sprechens beim Besuch Schwerstpflegebedürftiger: Der elfte Besuch von Pastor Laurenz (SV-11) beginnt damit, dass der Seelsorger die mit erstarrtem, leblosem Gesichtsausdruck im Bett Liegende darauf anspricht, dass ihre „liebe Freundin“ ihr immer „ins Ohr flüstere“: Vater unser, der du bist im Himmel usw. Er spricht das Gebet mit zunehmend singendem 1014 Decker-Voigt, H.-H., Aus der Seele gespielt, München (2000, 5. Aufl.), 125.
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Tonfall, der sich zum Ende ins Doxologisch-Enthusiastische steigert. Bald ergreift es die Besuchte, ein Funke springt über, und sie beginnt, regelrecht „einzustimmen“ mit offensichtlich begeisterten Lauten. Es scheint, als feuere sie den Seelsorger nun an und fordere ihn auf, höher zu singen: „Höher, höher, höher!“, scheint sie zu rufen. So spricht Laurenz immer euphorischer, die Situation schaukelt sich hoch. Bald stimmt er – folgerichtig – in einen tatsächlichen Gesang ein und singt die erste Strophe des Chorals Großer Gott, wir loben dich, während Frau K.’s Gesichtszüge sich inzwischen bemerkenswert positiv verändert haben: Sie lacht, ja strahlt, ihre Mimik ist lebendig und ganz anders als zu Beginn des Besuches. Laurenz singt nicht besonders schön, aber darauf kommt es nicht an. Es wird vielmehr deutlich, dass sich hier eine seelsorgerliche, Not-wendende Seite des Gesangs (der Musik) entfaltet und das Musikalische beim seelsorgerlichen Besuch wohltut und wirkt. Es wird in der Begegnung von Seelsorger Laurenz mit Frau G. zugleich das kommunikative Potenzial von Musik deutlich: In seinem Versuch, durch Modulation der Stimme, durch klangvolles Sprechen und abschließendes Singen sein seelsorgerliches Amt an der Pflegebefohlenen auszuüben, kommt es zu einem ‚Dialog‘, und es gelingt schließlich, einen Kontakt zwischen der hinfälligen Dame und dem Besuchenden herzustellen. Koelsch1015 betont deshalb die soziale Funktion der Musik, die wie die Sprache ein kommunikatives System darstelle und als ein Menschen verbindendes Handeln verstanden werden könne. Dieser Gesichtspunkt sollte im Kontext der Heimseelsorge, in dem die Kommunikation vor besonderen Herausforderungen steht, nicht übersehen werden. Das Wissen um die soziale Qualität der Musik eröffnet die Chance, mit verstummten Pflegebedürftigen in Kontakt zu treten und eine Brücke zu ihnen zu schlagen, wie es mithilfe des Wortes oft nicht mehr möglich ist. Die beschriebenen Potenziale der Musik werden durch neurophysiologische und humanbiologische Befunde untermauert. Sie belegen den Stellenwert des Musikalischen für das psychische Gleichgewicht.1016 Decker-Voigt1017 geht sogar so weit, Musik als das „wichtigste Nahrungsmittel“ des Menschen zu bezeichnen, da es den Hirnstrom und das Gefühlsleben „mobilisiere“ und so für einen gesunden Fluss im Seelenleben sorge. Das Gesagte macht deutlich, dass die Musik im seelsorgerlichen Kontext unter anthropologischen Gesichtspunkten aus mehreren Gründen interessant ist: Sie hat sowohl identitätsfördernde bzw. –erhaltende als auch soziale Potenziale 1015 Koelsch S./Fritz, T./v. Cramon, D. Y./Müller, K./Frederici, A. D., Investigating emotion with music, in: Human Brain Mapping, Minneapolis (2005). 1016 Vgl. dazu die Ausführungen von Decker-Voigt, H.-H., a.a.O., 37 – 45. 1017 Ebd., 45.
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und spricht den emotionalen Bereich an. Die soziale, Beziehung fördernde Seite der Musik wurde im seelsorgerlichen Besuch SV-11 erkennbar. Musik kann demnach eine Hilfe sein, mit schwer „erreichbaren“ Pflegebedürftigen, wie z.B. Frau G., in Kontakt zu kommen. Es scheint, als sei sie auf der Gefühlsebene, die der Seelsorger durch klangvolles, in Gesang übergehendes Sprechen erreicht, angesprochen worden. Er traf den „rechten Ton“, der die Besuchte zu begeistern und sie aus der Lethargie einer Bettlägerigen herauszureißen vermochte. Damit berührte er zugleich einen wichtigen Teil ihrer Identität, denn er schien zu wissen, wer die pflegebedürftige Dame in ihrer Persönlichkeit ist, welchen Hintergrund sie hat, welche Neigungen und Vorlieben bei ihr vorhanden sind, welche Musik sie mag, welche Frömmigkeit sie pflegt. Indem der Seelsorger das Vaterunser betete und im Choral das Gotteslob anstimmte, schien er Frau G. an einen wichtigen Teil ihres Lebens zu erinnern und einen existenziellen Bereich ihrer Persönlichkeit anzusprechen. Das stimulierte die Gefühle, machte Frau G. froh, begeisterte sie, ließ sie aufleben, hier konnte sie für einen Moment die sein, die sie immer war. Das wiederum stärkt die Beziehung zwischen Seelsorger und Pflegebefohlener, denn wo jemand er selbst sein darf, wirkt dies gewiss förderlich für die Interaktion. Die Musik ist in der Seelsorge nicht nur wegen der geschilderten Potenziale ein sinnvolles Medium. Sie vermag zudem eine religiöse Dimension zu erschließen, weshalb Söhngen1018 sie zu den „bonae ordinationes Dei“ bzw. Martin Luther sie zu den „conservatores rerum“ (bewahrenden Mächten) rechnet. Die besondere – auch seelsorgerliche – Seite der Musik erklärt sich einerseits mit ihrer Freude weckenden, „rekreativen“ Dimension, andererseits liegt in ihr eine unvergleichliche Gabe, „die Tiefe der Dinge auszusagen“1019. Ihre „Schönheit“ lässt sie zu einem Gleichnis der Herrlichkeit Gottes werden, sie eröffnet Horizonte und erschließt Wirklichkeiten, wie es nur dem Symbolischen bzw. der (musischen) Kunst möglich ist. Die Musik besitzt demnach einen Hinweischarakter, der, so Söhngen1020, es erlaube, durch sie „hindurchzuhören“ und den „Urgrund der Dinge“ herauszuhören. Dies ist möglicherweise umso intensiver der Fall, je hinfälliger und empfindsamer ein Mensch ist.
1018 Söhngen, O., Theologie der Musik, Kassel (1967), 274f. 1019 Ebd., 295. 1020 Söhngen zitiert den letzten Satz Luthers aus seiner Vorrede zu den Symphoniae iucundae Georg Rhaws: Deinde assuecas in hac creatura Creatorem agnoscere et laudare (Schließlich sollst du dich daran gewöhnen, in dieser Kreatur [= in der Musik] den Schöpfer zu erkennen und zu loben), vgl. Söhngen, O., a.a.O., 299.
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e. Schweigen als Gottesnähe oder: Sei stille dem Herrn und warte auf ihn (Ps.37,7) Bei den Besuchen waren – abhängig von der Persönlichkeit des Seelsorgers, der Seelsorgerin – Sprechpausen von unterschiedlicher Länge zu beobachten. Geschwiegen wurde in individuell variierender Weise, zumeist jedoch äußerst kurz.1021 Keiner der 45 Besuche vollzog sich völlig wortlos, obgleich auch diese Variante seelsorgerlicher Besuche, gerade bei schweigsamen Schwerstpflegebedürftigen mit z.T. erheblich eingeschränkter Fähigkeit zum verbalen Ausdruck, denkbar, ja zu erwarten gewesen wäre. Es schlägt sich in diesem Verzicht auf längeres, bewusst gewähltes, „profundes“ Schweigen sicherlich die moderne Erfahrung nieder, für die, wie Kunz1022 meint, das Schweigen einem Abbruch, der Verweigerung oder dem Ausfall von Kommunikation und Beziehung gleichkomme und deshalb unbedingt zu meiden sei. Vielmehr gelte, dass Sprechen Gemeinschaft stifte und der mitmenschliche Bezug sich am Gespräch messen lassen müsse. Schweigen in der Interaktion bzw. in der Gemeinschaft werde zumeist als „Qual einer unüberwindbaren Einsamkeit im Miteinander erfahren“. Kunz versucht, in ihren biblischen und patristischen Studien das Schweigen neu zu entdecken und eine Spiritualität des Schweigens zu begründen. Sie betont, dass das Miteinander-schweigen-Können sogar der „Test für die Qualität einer Beziehung“ sei. Die Verbundenheit mit einem anderen sei am tiefsten, je weniger sie des „versichernden Wortes“ bedürfe und sich umso mehr im „schweigenden Einverständnis“ vollziehe. Ein aufbauender Charakter des Schweigens müsse unterstellt werden, der z.B. in einer „Inversionswirkung“ zum Ausdruck komme: Wer schweige, eröffne dem anderen einen Raum, sich mitzuteilen. Das Schweigen ermögliche eine Vermeidung von Missverständnissen, wie sie durch das Sprechen unumgänglich seien. Es erlaube eine Umgehung des dominierenden, verwundenden, zerstörenden Wortes, das Menschen auseinanderrede. Kunz sieht u.a. in diesen Vorzügen die Schweigeregeln des monastischen Schrifttums begründet. Sie verweist auch auf die gemeinschaftsstiftende Seite des Schweigens in seiner „Dreidimensionalität“. Schweigen habe eine 1021 Im Rahmen dieser Arbeit ist es allerdings nicht möglich, eine exakte Morphologie des jeweiligen Schweigens (z.B. an-schweigen, ver-schweigen, schweigen über usw.) darzustellen oder seine rhetorische Funktion im Kontext des Sprechens zu untersuchen. Solches würde eine eigene Analyse erfordern. Es muss hier bei einer rein formalen und quantitativen Betrachtung bleiben, die alle Formen des Schweigens zusammenfasst als ‚Wortlosigkeit‘. 1022 Zum Folgenden vgl. Kunz, C. E., Schweigen und Geist, Freiburg (1996).
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personale und gemeinschaftliche Dimension, in ihr verbinde sich Immanentes und Transzendentes. Selbst-, Nächsten- und Gottesbezug seien im Schweigen geeint. „Im Schweigen erschließen sich mehrere Gesichter.“ Kunz übersieht in ihrer umfangreichen Studie nicht, dass es sich beim Schweigen um ein vielschichtiges Phänomen handelt, das unter verschiedensten Fragestellungen und Gesichtspunkten betrachtet sein will. Sie zeigt, dass das „Primat des Wortes“, unter dem Theologie und Spiritualität noch immer stünden, eine Verkennung des (seelsorgerlichen) Potenzials des Schweigens mit sich bringe, was auch bei den dokumentierten Besuchen vorliegender Studie deutlich wird. Für die Seelsorge mit Pflegebefohlenen bedeutet das, auch die Option des Schweigens mit zu bedenken und sich auf seine seelsorgerlich-spirituelle Dimension einzulassen. Nützlich ist es, zwischen verschiedenen Formen des Schweigens zu unterscheiden und zu ermessen, wie lange, worüber, gegenüber wem, in welcher Situation oder mit welcher Intensität geschwiegen wird oder aus welchem Grund der, die andere schweigt. Schmid1023 benennt mehrere Formen des Schweigens: existenzielles (in dem es das Eigenste seiner Existenz bewahrt und ‚für sich behält‘); ephemeres (beiläufiges, vorübergehendes Schweigen ohne besonderen Grund); intentionales (das ein Schweigen des Wohlwollens oder der Ignoranz sein kann); enigmatisches (rätselhaft bleibend, da unklar ist, ob es „beredt“ ist); erotisches (die Lust des Augenblicks auskostend oder den Genuss eines Anblicks, ohne es mit einem Wort zu zerstören); doloröses (den Kraftaufwand des Sprechens nicht mehr zu leistendes Schweigen) oder resignatives Schweigen (das keinen Sinn mehr im Sprechen sieht). Dass es sich bei jeder Variante um ein „viel-sagendes“ Schweigen handelt, ist offensichtlich und verdeutlicht erneut, wie sehr in der Wort- und Sprachlosigkeit noch „Beredsamkeit“ zu entdecken ist. Die genannten Ausdrucksweisen lassen sich unter Bezugnahme auf Kunz erweitern um eine theologische Gattung: Man könnte sie das „spirituelle Schweigen“ nennen, in welchem sich auch ohne Worte Gottes Nähe (Fürsorge, Liebe usw.) noch zu kommunizieren vermag. Kunz veranschaulicht das Gemeinte u.a. am alttestamentlichen Beitrag zu einer Spiritualität des Schweigens: „Vor jeder physiologisch-psychologischen, anthropologischen Wirklichkeit ist Schweigen zunächst und zuerst eine göttliche Wirklichkeit und Wirksamkeit. Der Mensch lernt schweigen, indem er zum Schweigen gebracht wird. Im Schweigen erfährt er Gott nicht einfach als Abwesenden, sondern als in neuer und anderer Gestalt Wirklichen und Wirksamen. Das Schweigen lässt Gott sich als den erweisen, der er
1023 Schmid, W., a.a.O., 283.
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ist; es sucht nicht die dunklen Seiten der Gotteserfahrung zu über-reden oder auszureden; es vernimmt Gott auch da, wo das Reden versagt...“1024.
Selbst der schweigende seelsorgerliche Besuch kann, so verstanden, noch zu einer Möglichkeit werden, den „Schimmer einer anderen Welt“ (Kunz) hervorscheinen zu lassen. Auch Stubbe1025 sieht die Bedeutung des Schweigens für die Seelsorge. Wie Kunz verweist sie auf biblische und monastische Traditionen (z.B. Wüstenmönche) sowie auf psychoanalytische Erkenntnisse. Sie verweist auf den Psychoanalytiker Cremerius, der das Schweigen als eine „zweite Ausdruckswelt“ deutet, die „nicht weniger mannigfaltig und deutlich“ sei als die verbale. Der Unterschied beider Ausdrucksweisen liege darin, dass das verbale Sprechen die Sprache der Begriffswelt, der Vernunft, des Ordnens und Forschens, das schweigende Sprechen die Sprache des Fühlens, der emotionalen Nähe, der frühen Fusion und Empathie sei. Bei letzterer handele es sich um die Ausdrucksweise, die Kind und Mutter miteinander verbindet, „lange bevor die verbale Verständigung die Zweierbeziehung in ihrer einmaligen Intimität auflöst und eine Kommunikationsform schafft, die von draußen kommt und nach draußen führt“1026. Dieses frühe Erleben, so Stubbe, bleibe „Quelle lebenslanger Sehnsüchte nach wortloser Verbundenheit und dem Glück ursprünglichen Einsseins“1027. Sie zitiert eine weitere psychoanalytische Stimme: „Aus jener Tiefe wird unser Geist gespeist, wenn er Institutionen schafft – immer wieder und in immer neuen Formen – die der Ausübung des Schweigens dienen: Andachts- und Gebetsgemeinschaften, kultische Versammlungen und religiöse Rituale“1028.
Für die Seelsorge im Pflegeheim, die es so häufig zu tun bekommt mit Schweigenden und Verstummten, bedeutet dies eine Ermutigung, auch die wenig beobachtete Möglichkeit des Schweigens stärker einzubeziehen in das seelsorgerliche Verhalten. Stille oder Wortlosigkeit müssen keineswegs als Störfaktor empfunden werden. Der schweigende Besuch muss nicht weniger sinn- oder gehaltvoll sein als der sich in regem verbalem Austausch vollziehende. Seelsorgerinnen und Seelsorger werden sich allerdings darin üben müssen, Stille und Schweigsamkeit willkommen zu heißen, diese richtig zu bewerten und als eine bereichernde Quelle für die seelsorgerliche Begegnung neu zu entdecken. 1024 1025 1026 1027 1028
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Kunz, C.E., a.a.O., 101. Stubbe, E., Jenseits der Worte, Zürich (2001), 36 – 65. Ebd., 58. Ebd. Ebd.
In diesem Zusammenhang sei an einen sprichwörtlich gewordenen Satz aus dem 127. Psalm erinnert, in dem es heißt: Den Seinen gibt es Adonaj im Schlaf (Vers 2). Häufig werden aufgesuchte Pflegebefohlene – wie zu beobachten war – schlafend angetroffen. Es gibt bei den Besuchenden deshalb einen natürlichen Impuls, nur äußerst kurz zu verweilen, wie es charakteristisch in hier beobachteten Besuchssituationen1029 war. Im Sinne des Psalms ist jedoch zu fragen, ob nicht ein seelsorgerliches „Geben“ trotz des Schlafens eines Pflegebedürftigen vorstellbar ist. Der Segen Gottes setzt ja nicht Bewusstsein oder Wachheit voraus, und die potenziell wohltuenden Wirkungen eines seelsorgerlichen Besuches sind nicht zwingend an die Funktionsfähigkeit des Intellekts gebunden, wie sich vorzüglich von der Komaforschung lernen lässt. Diese zeigt, dass die Gleichsetzung von bewusstlos und erlebnislos keineswegs aufgeht. Aus dieser Erkenntnis werden deshalb, wie bereits erwähnt, Konsequenzen für einen musiktherapeutischen oder taktilen Zugang zum komatösen Patienten gezogen. Mit Blick auf die Situation Pflegebedürftiger in Heimen ist zudem zu berücksichtigen, dass von verschiedensten, fließend ineinander übergehenden Bewusstseinseintrübungen auszugehen ist, welche eine eindeutige Unterscheidung von „schlafend“ oder „wach“ nicht immer (eindeutig) erlauben. Vielmehr sind differenzierte Abstufung der „Wachheit“ bzw. des „Bewusstseins“ anzunehmen, wie auch manche hier dokumentierten Besuche es vermuten lassen: Bei einigen Besuchen ist so z.B. nicht eindeutig auszumachen, ob die Pflegebefohlenen tatsächlich schlafen, dösen oder sich lediglich schlafend stellen, wie etwa SIV-3: Der Diakon ist merklich darüber verunsichert, ob Herr C. wirklich schläft oder als Ausdruck des Desinteresses nur den Schlafenden mimt. Die Psychiatrie kennt verschiedene Syndrome von Bewusstseinstrübungen (delirante/amentielle Syndrome, Dämmerzustand)1030, so dass im Pflegeheim ebenfalls unterschiedliche Abstufungen des Bewusstseins vorstellbar sind (apathisch-lethargischmüde-matt-erschöpft-dösend-tagträumend-traumwandlerisch-geistesabwesendmedikamentenbenebelt-tranceartig usw.). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Sterbeforschung, die gelegentlich von mehreren „Bewusstseinen“ spricht, wie Rest1031 es tut. Er unterscheidet Haupt-, Unter- sowie Nebenbewusstsein, die er deutlich vom Un-bewussten unterscheidet: Rest definiert als Hauptbewusstsein die „mehr oder weniger klare Wahrnehmung der Realität (vor allem im Wachzustand)“1032. Das Unterbewusstsein zeige sich in „intelligenten Äußerungen, deren verstandesmäßige Zusammenhänge und Herkünfte ausge1029 1030 1031 1032
Z.B. SI-3 (0’57’’), SII-5 (0’37’’), SIII-3 (0’53’’), SIV-3 (1’17’’). Dörner, K./Plog, U., a.a.O., 351f. Rest, F., a.a.O. Ebd., 136.
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schlossen scheinen“1033, wie z.B. bei Visionen oder seelischen Automatismen. Nebenbewusstsein werde sichtbar an den „rational und intelligent erscheinenden Reaktionen der Sinne und des Körpers“1034. Diese drei sollten vom Unbewussten unterschieden werden, welches als „seelischer Vorgang“ zu verstehen sei, der „das bewusste Erleben begleitet und beeinflusst“, wie etwa Triebtendenzen, Suggestionen, unterschwellige Erfahrungswerte.1035 Für Rest ist der Mensch bei Eintreten des sog. Gehirntodes keineswegs „bewusstlos“, denn die Bezeichnung „Bewusstlosigkeit“ beziehe sich „einzig auf das mit dem Gehirn eng verbundene Hauptbewusstsein“1036. Innere, intelligente, stimmige, angemessene, personale, ich-hafte Prozesse blieben jedoch wirksam.1037 Ein Komapatient könne deshalb, so Rest, das Kommen der Angehörigen, die Sorge des Personals sowie die auf ihn gerichtete Liebe „vollinhaltlich erleben“1038. Nach Eintritt der Bewusstlosigkeit des Hauptbewusstseins im Sterben müsse mit einer „besonderen Wachheit des Unter- und Neben-Bewusstseins“1039 gerechnet werden. Rest kommt zu dem Ergebnis, dass „der Mensch gerade im komatösen Zustand zu „Erfahrungen“ disponiert“ sei,1040 die den Helfenden naturgemäß verschlossen blieben. Wenngleich diese Ausführungen sich auf das Sterben beziehen, so liegt es nicht fern, sie auch auf Pflegebefohlene in Heimen zu übertragen. Deren Zustand gleicht in vielen Fällen ja dem Sterbender, bei vielen Pflegebefohlenen handelt es sich tatsächlich um Sterbende (sog. „Finalpatienten“) im engeren Sinne. Der hohe Anteil bettlägeriger Pflegebedürftiger mit den daraus erwachsenden Folgeerscheinungen (Passivität, Mattheit, Schläfrigkeit, Zurückgezogenheit usw.) lässt jedenfalls die Annahme zu, im Pflegeheim könnten unterschiedliche Ebenen, Grade oder Stufen der (drei) „Bewusstseine“ angetroffen werden. Damit verliert jedoch die Unterscheidung wach-schlafend bzw. bewusstunbewusst ihre Relevanz bei der Entscheidung für oder gegen einen seelsorgerlichen Besuch.
1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 137.
D. Strukturierende Gesamtauswertung Nachdem jedes einzelne Element der Interaktion im inhaltsanalytischen Verfahren der beiden letzten Kapitel für sich betrachtet wurde, sollen die gewonnenen Erkenntnisse im Folgenden in zwei Schritten zusammenfassend ausgewertet werden. Zunächst gehe ich dabei assoziativ vor und benenne Auffälligkeiten, die ohne Rückgriff auf zuvor festgelegte Ordnungskriterien beschrieben werden können. Allein die Einschätzung bzw. der subjektive Eindruck des Autors ist in diesem Auswertungsgang leitend.1041 In ihm deuten sich bereits Strukturen, Muster und Gewichtungen an, die für das inhaltsanalytische Vorgehen von Interesse sind und auf die ein besonderes Augenmerk zu richten ist. Die Suche nach Strukturen ergibt sich aus der inhaltsanalytischen Arbeitsweise, die sich aus dem Dreischritt Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung zusammensetzt.1042 Entsprechend wurden die beobachteten nonverbalen Phänomene in der ersten und zweiten Explikation zunächst vorgestellt und zugleich nach ihrem kommunikativen und theologisch-seelsorgerlichen Gehalt befragt. Abschließend geht es darum, „eine bestimmte Struktur aus dem Material herauszufiltern“1043, wobei unterschiedliche Strukturierungsmöglichkeiten infrage kommen.1044 Nach formalen Strukturierungsgesichtspunkten kann eine innere Struktur herausgefiltert werden; zu bestimmten Inhaltsbereichen kann wiederum Material extrahiert oder zusammengefasst werden (inhaltliche Strukturierung); auf einer Typisierungsdimension kann nach einzelnen markanten Ausprägungen im Material gesucht und können diese näher beschrieben werden (typisierende Strukturierung). Alle drei Strukturierungsmöglichkeiten fließen in die folgende Gesamtauswertung mit ein. Die Aufdeckung von Strukturen ist für die qualitative Sozialforschung ein entscheidender Schritt zu einer fallübergreifenden, verallgemeinerungsfähigen Antwort auf die Frage, mit welchem Typ bzw. welcher Gestalt der Seelsorge im Pflegeheim (im „Feld“) real zu rechnen ist. Eine solche Erkenntnis ist für diese praktisch-theologische Untersuchung zwar interessant, aber doch nur ein Nebenprodukt des Forschungsbemühens. In einem weiteren Schritt dieser Zusammenfassung werden die Erkenntnisse der ersten und zweiten Explikation deshalb noch einmal mit Hilfe theologischer Kriterien evaluiert, um so auch ihre theologische(n) Struktur(en) erfassen und 1041 Zur Rolle des Forschenden und dessen Vorverständnis/ Sachkompetenz für den wissenschaftlichen Er-kenntnisgewinn vgl. II.B.1. 1042 Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 209ff. 1043 Ebd., 213. 1044 Zum Verfahren der Strukturierung vgl. Lamnek, S., a.a.O., Bd. 2, 213ff.
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endlich idealtypische Formen der Seelsorge im Altenpflegeheim beschreiben zu können. Mit diesem Arbeitsschritt verbinden sich poimenische Erwägungen, die an das Beobachtete anknüpfen und es zu seelsorgetheoretischen Postulaten weiterspinnen. Da die Arbeit mit der Beschreibung von Typen der Seelsorge im Pflegeheim ihr Ziel erreicht und diesem Gang der Arbeit ein besonderes praktisch-theologisches Gewicht zukommt, konstituiert er einen eigenen, dritten Hauptteil (III.).
1. Auffälligkeiten 1.1. Idealtypische Kommunikationsweisen Es wurde versucht, die gewonnenen Daten aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, um einen Typ oder mehrere Typen nonverbaler Kommunikation zu erfassen. Dabei wurden sowohl quantitative als auch qualitative Gesichtspunkte berücksichtigt. Das Zusammenspiel beider Betrachtungsweisen erlaubt es nunmehr, idealtypische Strukturen und Muster zu erkennen, die ein theoretisches Destillat des empirisch Vorgefundenen darstellen und insofern als „Ideal“ zu verstehen sind. Das Zusammenspiel von quantitativer und qualitativer Betrachtung eines Phänomens hilft zugleich bei der Einschätzung, welchen nonverbalen Kommunikationsweisen von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern der Vorzug gegeben und besonderes Gewicht beigemessen wird, so dass sie berechtigterweise als Konstitutivum eines „Typs“ interpretiert werden können. Bei dem Versuch, für jede Seelsorgerin bzw. jeden Seelsorger charakteristische und regelmäßig wiederkehrende Kommunikationsweisen zu identifizieren (Vergleich intra), kristallisierte sich eine Zahl unterschiedlicher nonverbaler Phänomene heraus, die in der seelsorgerlichen Interaktion im Pflegeheim besonders beliebt und relevant zu sein scheinen. Vergleicht man die für die jeweiligen Personen verzeichneten Charakteristika des nonverbalen Ausdrucks und versucht, zwischen ihnen Gemeinsamkeiten zu finden (Vergleich inter) – wie geschehen –, so kehren regelmäßig eine deutliche Bevorzugung kurzer Besuchsdauer, eine stehende Körperhaltung, viel Blickkontakt, eine intime bis persönliche Distanz sowie eine lächelnde Mimik als gemeinsame, offensichtlich bevorzugte Modi einer nonverbalen seelsorgerlichen Besuchsgestalt wieder. Auch Körperkontakt spielt eine wichtige Rolle und geht je nach Persönlichkeit der Besuchenden mit einem Anteil von knapp 10 bis 80 Prozent der Besuchszeit einher. Zwei Extreme stechen hervor: Seelsorgerin I (9,7 %) und Seelsorgerin II
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(79,4 %), während die drei anderen Seelsorger sich im statistischen Durchschnitt von etwa einem Drittel bewegen. Ein markanter Kontrast zu den regelmäßig wiederkehrenden Verhaltensweisen findet sich bei Seelsorgerin I: Ihre Besuche dauern rund zehnmal so lange wie ein durchschnittlicher Besuch der Seelsorger II – V, auch ist sie am sparsamsten im Umgang mit Berührungen. Ihr seelsorgerlicher Fokus liegt offensichtlich auf dem Gespräch, das Zeit braucht. Nonverbale Figuren, die bei den anderen Seelsorgenden zu beobachten waren, sind deshalb für sie entbehrlich bzw. von untergeordneter Bedeutung. Seelsorgerin I stattet zudem – folgerichtig – alle Besuche sitzend ab und repräsentiert demnach einen von der Zahl der Besuche deutlich abweichenden, seltenen Extremtyp. Seelsorger III fällt mit seinem gelegentlichen, im Vergleich zu den anderen Beobachteten als untypisch zu bezeichnenden, jedoch gezielt wirkenden Einsatz der Musik (Flöte-Spiel, Singen, Zitieren von Strophen) auf. Seltener wird gesungen bei Seelsorgerin II sowie Seelsorger V. Seelsorger IV weicht in seinem mimischen Verhalten vom durchschnittlichen Kommunikationsmuster ab, indem er im Gegensatz zu den anderen Beobachteten häufig einen ernsteren und konzentrierten Gesichtsausdruck pflegt. Bei Seelsorger V findet sich wiederum eine charakteristische Verhaltensweise in sporadischen, fürsorglich anmutenden Handlungen. Neben den beschriebenen, häufigen Kommunikationsweisen sind weitere, allerdings seltener zu beobachtende körpersprachliche Elemente zu verzeichnen, bei denen es sich nicht um Körpersignale im engeren Sinne, wie die von Argyle1045 vorgestellten, handelt. Vielmehr bestehen diese nonverbalen Figuren aus Handlungen unterschiedlicher Art. Es scheint, als zielten sie allesamt darauf ab, auf die Pflegebefohlenen im Sinne einer ‚Leibsorge‘ „einzuwirken“ , indem sie Hilfestellung geben oder unter Anknüpfung an somatische Empfänglichkeiten der Pflegebedürftigen Annehmlichkeiten bereiten. Zahlreiche Berührungen können zu dieser Gruppe der nonverbalen Phänomene gezählt werden. Auch Singen, Flöte spielen, das Reichen von Speise, Getränk, Süßigkeit oder Zigarette bzw. das Ermöglichen von Genüssen gehören zu dieser Kategorie. Vergleicht man die häufigeren mit den selteneren körpersprachlichen Elementen, so lassen sich – idealtypisch pointiert – gewissermaßen zwei ‚Modi‘ der Körpersprache unterscheiden: einen „darstellenden“ und einen „einwirkenden“. Das eine Mal wird dem Pflegebedürftigen etwas „vorgeführt“, das andere kann
1045 Vgl. Argyle, M., Körpersprache und Kommunikation.
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er etwas „erleben“. Einmal wird zu ihm darstellend gesprochen, ein anderes Mal an ihm (helfend, verwöhnend, mobilisierend) gehandelt. Gewiss lassen sich diese Modi nicht lupenrein dividieren, da selbst im „Darstellungs-Modus“ noch das Motiv zu finden sein dürfte, seelsorgerlich auf das Gegenüber „einzuwirken“, um bei ihm etwas Positives (Tröstendes, Ermutigendes, Stabilisierendes, Motivierendes) zu bewirken. Allerdings ist dieses Motiv in diesem Falle viel subtiler, latenter und spielt wohl eher unterbewusst eine Rolle, wie auch eine Predigt ja nicht in erster Linie das Motiv hat, Wirkungen zu erzielen, obgleich sie de facto wirkt.
1.2. Sprachsubstituierende Funktion der Körpersprache Die inhaltsanalytische Auswertung versuchte, die beobachteten Elemente der Interaktion unter Berücksichtigung unterschiedlicher Theorien zum Nonverbalen zu beleuchten und ihre kommunikative und poimenische Funktion im Kontext eines seelsorgerlichen Besuches im Altenpflegeheim zu erschließen. Die Frage, welche „Fassade“ bzw. „Rolle“ die Seelsorgenden zu Gesicht brächten, sollte dabei helfen, deren kommunikative und seelsorgerliche Bestrebungen deutlicher hervortreten zu lassen. Eine Gleichsetzung von Kommunikation und Interaktion wurde in der Auswertung der einzelnen nonverbalen Phänomene vorausgesetzt. Es fanden sich zahlreiche Kommunikationsweisen, die mit Hilfe verschiedenster Theorieansätze gut zu interpretieren waren und das beobachtete Verhalten als ein sinnvolles, nachvollziehbares Sich-Verhalten erscheinen ließen. Insgesamt erweckten sie den Eindruck, die Körpersprache werde in den auffällig kurzen, zumeist zwei- bis dreiminütigen Interaktionen weniger in ihren formalen, nämlich dialogischen, syntaktischen bzw. kommunikationsregulierenden Funktionen genutzt, mit deren Hilfe Kommunikation reguliert, gesteuert oder strukturiert wird.1046 Eher scheint die semantische1047 Funktion, die das Verbale ergänzt, verstärkt oder verdeutlicht, zum Tragen zu kommen. Es zeigte sich nämlich, dass viele Kommunikationsweisen geeignet sind, seelsorgerlichen Gehalten – die in der verbalen Kommunikation eine Rolle gespielt haben dürften – auf unterschiedliche Weise Ausdruck zu verleihen. Auch die Attributionsfunktion1048 der Körpersprache, die Rückschlüsse erlaubt auf Eigenschaften des Kommunizierenden, scheint in der Interaktion besonders relevant, da sie in der Seelsorgesituation des Pflegeheims dazu beitragen kann, die besondere Gesandtschaft der besuchenden Person hervorzuheben. Eine ‚Idealisierung‘ der 1046 Zur dialogischen und syntaktischen Funktion des Nonverbalen vgl. II.A. 1047 Zur semantischen Funktion des Nonverbalen vgl. II.A. 1048 Zur Attributionsfunktion der Körpersprache vgl. II.A.
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Darstellung im Sinne Goffmans wird damit begünstigt, und die Seelsorge findet in ihr zugleich ein Medium sui generis. Inhaltsanalytisch betrachtet erweckten die Beobachtungen insgesamt den Eindruck, das Nonverbale komme weniger aufgrund seines kommunikationsregulativen oder -strukturierenden Potenzials zum Einsatz, als vielmehr aufgrund seiner Möglichkeit, Informationsträger in weitreichendem Sinne zu sein. Damit rückt aber das sprachersetzende Potenzial des Nonverbalen in den Vordergrund, das im Kontext stationärer Pflege eine Aufgabe zu übernehmen scheint, die von der verbalen Sprache nicht mehr bzw. nicht ausreichend geleistet werden kann, da dieser Kanal im Pflegeheim vielfach beeinträchtigt ist. Selbst die häufig beobachteten, insgesamt unspektakulär anmutenden Interaktionsweisen erweckten noch den Eindruck, sie würden in den jeweiligen Besuchskonstellationen sprachsubstituierend gebraucht: Die nonverbalen Figuren wirkten in der inhaltsanalytischen Betrachtung durchaus gehaltvoll und waren – zumal vor dem Hintergrund der sie verwendenden Person und der Situation (Besuch bei Pflegebedürftigen) – aussagekräftig. Vermutlich findet sich in den unterschiedlichen Kommunikationsweisen ein nonverbaler Sprachersatz, der sich vom Verbalen zu „emanzipieren“ scheint, indem er sich von dessen Rektion löst und ein eigenes Gewicht bekommt. Entsprechend erhält die Körpersprache ein inhaltlich-zeichenhaft-symbolisches Gefälle, das noch genährt wird, indem es sich mit der von mehreren Forschern (Goffman, Schulz von Thun, Argyle, von Cranach, Scherer) beschriebenen Selbstoffenbarungsfunktion der Körpersprache verbindet. Damit wiederum kommunizieren die Seelsorgerinnen und Seelsorger, so scheint es, theologische Inhalte, die maßgeblich vom Ort, an dem sich die Interaktion ereignet, beeinflusst sein dürften. Es kann angenommen werden, dass dieser dazu beiträgt, dem Nonverbalen eine religiös-seelsorgerliche Konnotation zu verleihen und geeignete seelsorgerliche Verhaltensweisen zu evozieren. Die Interaktionen sind folglich zu einem Großteil aus sich selbst heraus verständlich und bedürfen zu ihrer Deutung nicht des Wissens darum, was der pflegebedürftige Mensch an kommunikativem Anteil beisteuert. Eine pflegebedürftige Interaktionspartnerin bzw. ein Interaktionspartner müsste mehr oder weniger in der Lage sein, in den pastoralen Verhaltensweisen eine Art „signifikantes Symbol“ (Mead), und das bedeutet: etwas höchst Interpretationsbedürftiges, Beachtenswertes und Bedeutsames zu erkennen. So kann es geschehen, dass den nonverbalen Elementen eine erhöhte Relevanz zukommt und ihnen in ihrer Summe der Charakter einer „Fassade“ bzw. „Rolle“ im Sinne Goffmans zuwächst. Allein auf Grund nonverbaler Kommunikationsweisen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern dürfte es Pflegebedürftigen demnach potenziell möglich sein, die besuchende Person sachgemäß zu identifizieren oder sie zumindest gefühlsmäßig als Seelsorgende zu erleben 309
bzw. sie auf einer nicht bewussten Ebene als solche zu erfassen, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird.
1.3. Bedeutungspotenzierungen Die inhaltsanalytische Betrachtung liefert Anhaltspunkte dafür, dass die bevorzugten nonverbalen Interaktionsweisen von Seelsorgenden in Pflegeheimen eine Transformation durchmachen: Was unter normalen Umständen und an anderen („alltäglichen“) Orten lediglich als nebensächliches Element eines nonverbalen Verhaltens zu werten und allein unter einem psychologisch-kommunikativen Gesichtspunkt interessant wäre, kann in einer seelsorgerlichen Besuchssituation (zumal am Heterotopos) zu einem bedeutungsvollen Zeichen von Symbolkraft mutieren. Die Seelsorge scheint sich in gewissen Situationen und unter bestimmten Umständen des Gewöhnlichen, Alltäglichen oder Unscheinbaren zu bedienen, um es als Ausdrucksmittel für theologische Inhalte und Aussagen zu nutzen. Damit würde sich auch erklären, warum der – selten beobachtete – Gebrauch von Hilfsmitteln unterschiedlicher Art (Musikinstrument, Stimulanzen, Sakramente usw.) obsolet wird und der nonverbale Besuchstyp auf „aktionistische“ Formen der Seelsorge verzichten kann. Der Kontext der Interaktion, der maßgeblich bestimmt ist durch die Merkmale Elementarheit, Körperzentriertheit und Verstummen, begünstigt (und erfordert) eine seelsorgerliche Anpassungsneigung, die in dem geschilderten Gebrauch des Nonverbalen zu finden ist: Das Elementare und Körperliche, also die Körpersprache mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, wird in dem spezifischen Kontext aufgewertet und mit weiteren Bedeutungen aufgeladen. Alle verfügbaren Mittel werden an diesem Ort aufgeboten, um seelsorgerliche Botschaften kontext- und situationsgemäß zu befördern. Jede kleinste Möglichkeit wird genutzt, um dazu beizutragen, eine deutliche, eindrucksvolle Aussage, die selbst Schwerstbedürftige noch erreichen kann, zu komponieren. Es ist meines Erachtens denkbar, in diesem mutmaßlichen Mechanismus eine Entsprechung zu den von Wiedemann beschriebenen „verrückten Reaktionen“ zu sehen. Unter bestimmten Bedingungen und in spezifischen Kontexten kann es demnach zu Reaktionsbildungen nicht nur bei Pastoranden, sondern auch bei Seelsorgenden kommen. Wenngleich die hier beschriebene pastorale Reaktion auf die Besuchssituation im Pflegeheim zwar nicht als „verrückte Reaktion“ zu bezeichnen ist, so ähneln sich die Reaktionen doch insofern, als es beide Male zu einer „Heftigkeit“ des Erlebens kommt: Aufseiten der Pastoranden wird eine solche durch den Besuch der Seelsorgenden ausgelöst mit der Folge einer psychisch wahrnehmbaren Wirkung. Aufseiten der Seelsorgenden scheint sich eine Art ‚Wucht‘ des Reagierens insofern zu ereignen, als sich die Absicht einer 310
Bedeutungspotenzierung des nonverbalen Ausdrucks einstellt, die Seelsorgerliches, Theologisches bzw. Signifikantes auf allen Kanälen übermittelt und so auch den eigenen Körper mit seinem nuancenreichen Ausdrucksreichtum in Anspruch nimmt. Damit wäre auch den von Goffman und Grice beschriebenen Mechanismen der Darstellungsoptimierung entsprochen, denen zufolge einem Rezipienten nichts Irrelevantes kommuniziert wird (Prinzip der Relation).1049 Unter dem heimlichen „Diktat“ des Empfängers stehend (Grice) käme es in der Interaktion demnach dazu, nur bedeutsame Verhaltensweisen zur (nonverbalen) Darstellung zu bringen und entsprechend jedem nonverbalen Detail ein besonderes Gewicht beizumessen.
1.4. Aktionslosigkeit Damit erklärt sich auch der bei den Pflegeheimbesuchen beobachtete geringe „Aktionismus“ der Seelsorgerinnen und Seelsorger, der angesichts der kurzen Besuchsdauer zwar naheliegt, aber evident wird, wenn man sich die Fülle der denkbaren Möglichkeiten vor Augen führt: Verschiedene Optionen des seelsorgerlichen Besuches, wie z.B. Singen, Musizieren (Flöte-, Gitarrenspiel usw.), Spielen, Betrachten, Betasten und Fühlen, Ansprechen der fünf Sinne, Atemgemeinschaft, Beten, Segnen, Rezitieren oder Reichen der Sakramente, wären bei den Besuchen der Schwer(st)pflegebedürftigen möglich gewesen, sie wurden von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern jedoch nur sehr sparsam praktiziert. Eine Schlichtheit der Besuchsfigur kennzeichnet die Begegnungen auch im Verzicht auf Zuhilfenahme bzw. einem sparsamen Gebrauch von Hilfsmitteln (Musikinstrument, Tonträger, haptische/visuelle/olfaktorische Stimulanzen, Gegenstände unterschiedlichster Art, religiöses Instrumentarium). Dies fällt umso mehr auf, als einige Praxisbücher jüngeren Datums gerade die Vielfalt solcher Optionen betonen und zudem die sinnliche Dimension in der Begegnung mit Alten und Pflegebedürftigen hervorheben.1050 Die Besuchenden „machen“ also nicht viel, sie bedienen sich keiner Hilfsmittel, sie kommen mit leeren Händen und bringen vor allem sich selbst mit. Sie spielen auf keiner anderen als der eigenen „leiblichen Klaviatur“ und bedienen sich der Augen, des Gesichts, der Hände, die sie zum Klingen bzw. zum Sprechen bringen. Bevorzugt genutzt wird das Elementare, Archaische, Basale, Leibliche. Mit ihrem Körper an der Seite des Pflegebettes stehend demonstrieren sie Nähe, Beistand, Begleitung. Mehr scheint nicht nötig zu sein. Genutzt wird das mit dem eigenen Körper Darstellbare. Alles andere scheint nicht ins Gewicht zu fallen, ist allenfalls schmückende Ergänzung und tangiert das Eigentliche des Besuches nicht. Was 1049 Vgl. II.A.; vgl. 159. 1050 Vgl. Fußnote 25.
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zählt, ist der Besuch an sich, das Aufsuchen, Kommen, Da-sein, So-sein. Selbst der Umstand, dass die zu Besuch Kommenden stehen, könnte noch eine tiefere, über das Praktische hinausgehende theologische Bedeutung haben, denn die Kürze der seelsorgerlichen Besuche hilft, deren – ich möchte beinahe sagen: „epiphaniehaften“ „Widerfahrnischarakter“ zu unterstreichen.1051 Eine Art Mystifikation in theologischer Intention wäre hier zu finden, die nicht nur den von Goffman geschilderten kommunikativen Vorteil1052 mit sich bringt, sondern den seelsorgerlichen Besuch zu einem kostbaren Impuls werden lässt, wie er manchem Kurzen, Seltenen, Verdichteten oder Unverfügbaren eigen ist.
1.5. Rituallosigkeit Zu der besagten ‚Schlichtheit‘ bzw. Elementarheit der dokumentierten Besuche gehört auch das Fehlen bzw. die auffällige Sparsamkeit im Gebrauch nicht religiöser1053 sowie insbesondere auch religiöser Rituale. Eine bemerkenswerte Zurückhaltung im Umgang mit allem äußerlich als religiös Identifizierbaren, wie z.B. Beten, Feiern des Abendmahls, Krankensalbung, Segnen, Bekreuzigen, Handauflegen, Lesen aus der Bibel oder den Losungen, Zitieren von Liedstrophen u.ä., ist charakteristisch für das Besuchsverhalten der fünf Damen und Herren. Dieser Befund überrascht umso mehr angesichts der Beobachtungssituation, die das Gegenteil hätte erwarten lassen. Die Vermutung lag nahe, die im kirchlichen Dienst Stehenden müssten daran interessiert sein, einem Beobachter die kirchlich-religiöse Gesandtschaft und Rolle auch durch einen entsprechenden nonverbalen Ausdruck zu demonstrieren, um sich kirchlich zu legitimieren und zu identifizieren. Vergleichbar wäre diese Betonung des Religiösen mit einer Befragung nach der spirituellen Praxis von Pastorinnen und Pastoren, bei der damit zu rechnen wäre, ein hoher Anteil der Befragten würde angeben, auch im Privaten regelmäßig zu beten und eine persönliche Frömmigkeit zu pflegen. Auch der Verzicht auf eindeutig identifizierbare Kleidung, wie z.B. das Tragen eines Colarhemdes, eines deutlich sichtbaren Kreuzes oder die Wahl schwarzer Kleidung zur Betonung des Amtscharakters eines Besuches ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Auf eine äußere, durch Kleidung oder religiöse 1051 Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, mit welcher Körperhaltung Epiphanien mit menschlicher Gestalt in Kunst und Bibel begegnen, vgl. etwa Lk. 1, 28 (Ankündigung der Geburt Jesu durch einen Engel); Lk. 2, 9 (Engelerscheinung bei den Hirten auf dem Felde); Mt. 28, 9 (Erscheinung des Auferstanden) usw. 1052 Zu Goffmans Konzept der ‚Mystifikation‘ vgl. II.A. 1053 Auf den Wegfall bzw. eine charakteristische Abwandlung des Begrüßungs- und Verabschiedungsrituals wies ich bereits hin, vgl. Fußnote 839.
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Zeichen/Symbole mögliche eindeutige Identifizierbarkeit scheint es den Seelsorgerinnen und Seelsorgern jedoch nicht anzukommen. Das Charakteristikum der hier beobachteten Seelsorge unterscheidet sich damit auffällig von den Schwerpunktsetzungen bereits erwähnter Praxisbücher neueren Datums, die gerade dem Symbolischen, Zeichenhaften und Liturgischen einen besonderen Stellenwert in der Altenhilfe zumessen.1054 Der Befund widerspricht auch der Beobachtung, es sei von einer „sprunghaft angestiegenen Praxis des segnenden Handelns“1055 zu sprechen, der zudem „besondere Bedeutung in frauenbewussten und feministischen Kreisen“1056 zukomme: Die beiden Seelsorgerinnen verzichten ja völlig auf Gebet und Segen, bei den drei Seelsorgern sind Gebetsund Segensgesten nur bei 7 bzw. 4 von insgesamt 34 Besuchen zu verzeichnen. Dabei finden sie sich nicht einmal alle, wie zu erwarten gewesen wäre, an besonders hervorgehobener Position im zeitlichen Verlauf des Besuches, z.B. am Ende, sondern mitunter an (scheinbar) willkürlich gewählten Stellen, wobei sich zudem die Segenshandlung auf einen kurzen Augenblick von wenigen Sekunden reduziert, nicht zwingend das Ende des Besuches markiert1057 und keineswegs den Eindruck erweckt, sie bilde den Höhepunkt des seelsorgerlichen Besuches. Eine gewisse Beiläufigkeit charakterisiert durchaus einige der wenigen beobachteten Segenshandlungen. Auch finden sich im Verhalten der Pflegeheim-Seelsorgenden keine Anhaltspunkte für eine „Entdeckung“ der Krankensalbung, die im Bereich der evangelischen Klinikseelsorge registriert wird.1058 Vielmehr erwecken die Besuche den Eindruck, die Seelsorgenden seien – jedenfalls in der Einzelseelsorge – auf das Spenden der Sakramente eher weniger eingestellt. Es ist denkbar, dass dieser Umstand auf die Beobachtungssituation zurückzuführen ist und allein praktische Erwägungen, z.B. Rücksichtnahme auf den mit der Kamera Beobachtenden, zu dem dokumentierten Verhalten führen. Sicherlich ist auch ein das Sakramentale hemmender Faktor infolge des 1054 Lödel, R., a.a.O., widmet beispielsweise einen Großteil ihrer 131 Seiten umfassenden Schrift den Themen ‚Zeichen, Symbole, Rituale‘ (21 – 28), ‚Gebet‘ (29 – 32), ‚Segen‘ (34 – 37), ‚Musik und Lied‘ (44 – 52), ‚Abendmahl‘ (68 – 77), ‚Andacht und Gottesdienst‘ (78 – 83), ‚Kirchenjahr‘ (84 – 93), abermals finden sich diese Themen in Zusammenhang des Kapitels über Sterben und Tod. 1055 Greiner, D., a.a.O., 21. 1056 Ebd., 20. 1057 Z.B. SIII-4 (Segensgeste im Zeitreihenprotokoll an der Stelle 10’54’’ – 10’56’’, Ende des Besuchs: 12’27’’); SV-9 (Segensgeste an der Stelle 21’34’’ – 21’39’’, Ende des Besuches: 23’51’’). 1058 Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge, 170: „In neuerer Zeit entdeckt die evangelische Klinikseelsorge zunehmend die im Katholizismus als Sakrament verstandene und in die Seelsorge integrierte Praxis der Krankensalbung … wieder“.
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Beobachtet-werden zu konzedieren. Die „Bühnensituation“ des seelsorgerlichen Besuches lässt es allerdings geraten sein, dem Verzicht auf den Gebrauch der Sakramente größere Bedeutung beizumessen.
1.6. Analogien und Anspielungen Die häufig beobachtete nonverbale Besuchsgestalt der Seelsorge im Pflegeheim wurde beschrieben als eine von großer ‚Schlichtheit‘, da sie sich weniger durch Aktion und Tun, als vielmehr durch Sein und Darstellen auszeichnet. Wie bereits in der zweiten explikativen Analyse erkennbar wurde, fallen zahlreiche nonverbale Figuren auf, die insgesamt geeignet sind, Eigenschaften Gottes aufscheinen zu lassen und so die Seelsorgenden zu Darstellerinnen und Darstellern essentieller Wesenszüge Gottes werden zu lassen. Die quantitativ wie qualitativ besonders gewichtigen Kommunikationsweisen scheinen auf die christliche Gottesvorstellung anzuspielen und Assoziationen wecken zu wollen. Der nonverbale Ausdruck bekommt dadurch bei näherer Betrachtung eine Identifikationsfunktion und wird so zu einem Ausweis religiöser Beauftragung. An der Person des Besuchenden bzw. an dessen nonverbalen Ausdruck wird „ablesbar“, wie Gott es mit den Pflegebefohlenen meint bzw., um wen es sich handelt, in dessen Namen besucht wird. Der eigene Leib mit all seinen Möglichkeiten wird zu einem Ausdrucksmittel, das göttliche Eigenschaften ohne Worte zu kommunizieren vermag. Der Körper der Seelsorgenden ist gleichnisfähig, wobei folgende Gleichungen denkbar wären: 1. Gott bleibt nicht bei sich, sondern hat Interesse an dir und sucht dich deshalb auf (nonverbale Entsprechung: Besuchen). 2. Gottes Kommen ist souverän, es entzieht sich der Verfügbarkeit, enthebt der Dimension von Raum und Zeit1059 (nonverbale Entsprechung: Kürze des Besuches; stehender Besuch). 3. Gott sieht dich, nimmt wahr, weiß um dich (nonverbale Entsprechung: Intensiver Blickkontakt). 4. Gott zeigt – wie z.B. im (Aaronitischen) Segen1060 – sein Gesicht und offenbart sich (nonverbale Entsprechung: zuwenden des Gesichtes). 5. Gott ist menschenfreundlich und meint es gut (Nonverbale Entsprechung: Lächeln). 1059 Vgl. die Ausführungen zum Phänomen des ‚Enthobenseins‘ aus der Zeit, 260. 1060 Greiner, D. zitiert in ihrer Untersuchung Seybold: „ Die erste Hälfte [des Aaronitischen Segens] operiert mit personalen Aussagen, Redeweisen, die Persönliches anzeigen, ja das Persönlichste überhaupt nennen: das Gesicht (zweimal mit Betonung), den Namen (dreimal)“, a.a.O., 72.
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6. Gott ist nahe (Nonverbale Entsprechung: Nähe/geringe Besuchsdistanz). 7. Gott sorgt für den Leib und erweist Wohltaten (nonverbale Entsprechung: Berühren, Handeln). 8. Gott hilft (nonverbale Entsprechung: Helfen, Erleichterung verschaffen). Auch andere Analogien sind denkbar, je nachdem, vor welchem theologischen Hintergrund der Seelsorger/die Seelsorgerin operiert bzw. welche Theologumena für sie bzw. ihn zentral sind. Die nonverbalen Figuren sind, so scheint es jedenfalls, mit theologischer Bedeutung aufgeladen und haben eine religiöse Konnotation. Sie können als „optische Kommentierung“ theologischer Inhalte verstanden werden. Die hier angedeuteten nonverbalen Entsprechungen und Anspielungen legen es deshalb nahe, im Körper mit seinem vielseitigen Darstellungsrepertoire ein Verkündigungsdisplay sui generis zu sehen, mit dessen Hilfe die Besuchenden während ihres „pastoralen Bühnenauftrittes“ unentwegt nonverbale theologische Botschaften in seelsorgerlicher Absicht kommunizieren. Wenn es sich tatsächlich wie beschrieben verhält, bekommt die Körpersprache eine verkündigende Funktion, die zugleich die Elementarheit und Rituallosigkeit der beobachteten Interaktion bzw. den Verzicht auf expressive, evident religiöse Praktiken und Interaktionsformen erklären kann: Da das Nonverbale infolge seiner kirchlichen „Vereinnahmung“ einen theologischen Zuwachs erfährt und das Religiöse unentwegt implizit im Sinne der beschriebenen Deutungen mitschwingt, kann das gewohnte und übliche Explizit-Religiöse getrost vernachlässigt werden, da dessen Fehlen nicht der Preisgabe der geistlichen Dimension gleichkommt. Fortlaufend findet ja analog1061 nonverbale Verkündigung statt, die der verstummten, archaischen Lebenswelt, in der sie stattfindet, 1061 Watzlawick/Beavin/Jackson unterscheiden zwischen ‚analoger‘ und ‚digitaler‘ Kommunikation, deren ‚Inhalts-‚ und ‚Beziehungsaspekt‘, und weisen der analogen Kommunikation eine Funktion innerhalb der Beziehungsregulation der Interagierenden zu. Analoge Kommunikation liegt dann vor, „wenn die Information mit Mitteln verschlüsselt wird, die nur eine ungefähre, indirekte oder ’übertragene’ Darstellung erlauben; meist sind diese Mittel Bestandteil nonverbaler Kommunikation“, so Bastine, R., Klinische Psychologie, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Köln (1990, 2. Aufl.), 224. Watzlawick/Beavin/Jackson schreiben: „Analoge Kommunikation hat ihre Wurzeln offensichtlich in viel archaischeren Entwicklungsperioden und besitzt daher eine weitaus allgemeinere Gültigkeit als die viel jüngere und abstraktere digitale Kommunikationsweise ... Im Anschluss an Tinbergen und Lorenz konnte Bateson nachweisen, dass Vokalisierungen, Ausdrucksbewegungen und Stimmungssignale von Tieren analoge Kommunikationen darstellen, die nicht denotative Aussagen sind (und daher nicht auf Dinge verweisen, wie das in der digitalen Kommunikation der Fall ist), sondern vielmehr die Beziehung zu anderen Tieren definieren“, a.a.O., 63, vgl. auch 61ff.
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angepasst ist und nunmehr auf die Kraft jenseits der Worte setzt. Rituallosigkeit und Elementarheit können gedeutet werden als Ergebnis eines Anpassungsprozesses an die Kultur stationärer Pflegeeinrichtungen, da diese, wie gezeigt, Räume der „Regression“, des verbalen Verstummens und des Basalen sind. In dieser gleichsam „archaischen Welt“ spielen die drei Hauptinstrumente der Kommunikation archaischer Gruppen1062 daher auch eine herausragende Rolle: Neben dem Mund und der verbalen Sprache1063 sind es vor allem Augen bzw. Blicke sowie die Hände bzw. Gestik, also „Körperbereiche, die hohe Konzentrationen an Vitalkraft enthalten und ausscheiden (Atem, Speichel, Tränen, Nägel, Schweiß)“1064. Die Seelsorgenden können zudem damit rechnen, dass ihre nonverbalen Ausdrucksweisen vom Gegenüber auf irgendeiner Ebene erfasst und „verstanden“ werden, wie unter Rückgriff auf die Theorie des Symbolischen Interaktionismus1065 zu vermuten ist: Diese geht, wie bereits gezeigt,1066 davon aus, dass soziale Interaktion stark von den Grundbedeutungen der verwendeten „Symbole“ geprägt ist, wozu Vorgänge, Gegenstände, Sprache und auch die Körpersprache zählen. Entsprechend versteht der Symbolische Interaktionismus menschliches Verhalten als ein wechselseitiges, aufeinander bezogenes Geschehen unter Verwendung gemeinsamer Symbole, denen Bedeutungen zugeschrieben werden. Symbole sind demnach Kulturprodukte.1067 Es kann deshalb vermutet werden, dass es den Besuchten möglich sein müsste, die Körpersprache der Seelsorgenden irgendwie zu „dechiffrieren“, vorausgesetzt, sie wurden christlich sozialisiert bzw. wuchsen in einem Kulturraum auf, der sie mit christlichen Gottes- und Glaubensvorstellungen in Berührung kommen ließ. Für eine solche Entschlüsselung ist es allerdings unerheblich, ob sie sich bewusst oder unbewusst, kognitiv oder emotional vollzieht, vage oder exakt ist. Allein die Tatsache, dass Seelsorgerinnen oder Seelsorger in kirchlichem Auftrag eine Besuchsinitiative ergreifen und Pflegebefohlene aufsuchen, dürfte Assoziationen und Bedeutungszuschreibungen auf der Grundlage gewachsener kultureller Interpretationsmuster (im Sinne der explikativen Deutungen) wecken. Selbst wenn solche überlieferten Deutungsagenten nicht zur Verfügung stehen sollten (etwa bei Migranten oder mit christlichem Gedankengut nicht in Berührung 1062 Vgl. Müller, E., a.a.O., 221. 1063 Vgl. Abschnitt ‚Reden und Schweigen sowie Zählung der gesprochenen Wörter, 243ff. 1064 Müller, E., a.a.O., 221. 1065 Näheres zum Symbolischen Interaktionismus bei Lamnek, S., a.a.O., Bd. 1, 46 – 51. 1066 Vgl. II.A. 1067 Lamnek, S., a.a.O., Bd. 1, 47.
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Gekommene), wäre es gleichwohl vorstellbar, mithilfe der nonverbalen Kommunikationsfiguren zumindest eine archaische Ebene der Besuchten zu erreichen und anzusprechen. Gerade im Kontext des „besonderen“ Ortes (Heterotopos) müsste es selbst für sie möglich sein, einem Besuch durch Repräsentanten der Religion eine besondere Bedeutung bzw. Dignität beizumessen, wie es an anderen Orten nicht der Fall wäre. Für die Fragestellung dieser Untersuchung ist es freilich unerheblich, ob eine Dekodierung des nonverbalen Verhaltens der begleiteten Seelsorgerinnen und Seelsorger durch die Pastoranden zwingend anzunehmen ist, da ja allein die Besuchenden mit ihren nonverbalen Ausdrucksmitteln Gegenstand der Fragestellung sind. Zudem können die beobachteten Interaktionsweisen auch unabhängig von einer tatsächlichen Wirkung praktiziert werden und aus sich selbst heraus sinnvoll sein. Die Ergebnisse dieser Arbeit berechtigen jedoch zu der Annahme, dass das nonverbale Ausdrucksrepertoire in einer speziellen theologischen Absicht eingesetzt und von einem seelsorgerlichen Motiv geleitet wird.
1.7. Zielgerichtetheit Die ungewöhnliche Kürze des Großteils der Besuche lässt an eine Zielgerichtetheit der seelsorgerlichen Interaktion denken, die sich in dem mit Pastor Laurenz1068 geführten Vorgespräch bereits andeutet: Er geht, wie bereits erwähnt, davon aus, Seelsorge im Pflegeheim erfordere – im Gegensatz zur beratenden – nicht viel Zeit, da bei Pflegebedürftigen zumeist das Kummer Machende „wie aus einer Eiterbeule“ herausplatze. Diese Aussage deutet darauf hin, dass die vier Seelsorgerinnen und Seelsorger, die ausschließlich kurze Besuche praktizieren, ein Ziel verfolgen bzw. von einem Gedanken geleitet sind, dessen Umsetzung offenbar in kürzester Zeit realisierbar ist. Dies kann zweierlei bedeuten: Entweder gehen die Kurzbesucherinnen und -besucher davon aus, dass das, was sie Pflegebefohlenen zu geben haben, sogleich „wirke“, wie der einem Durstigen gereichte Trank. Oder es geht ihnen unabhängig von einer möglichen Reaktion/Wirkung darum, eine Mitteilung von konzentrierter Prägnanz zu kommunizieren, auf die allein es ankommt. Letzteres erinnert an den Grundsatz einer Seelsorge kerygmatischer Provenienz: Es muss zum Zuspruch kommen! Die seelsorgerliche Interaktion hätte demnach zielstrebig auf diesen Höhepunkt zuzusteuern und würde mit ihm ihr Ziel und Ende erreichen, da das Entscheidende, auf das es der Seelsorge ankommt, am Pastoranden ausgerichtet sei.
1068 Vgl. II.B.4.
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Zu erinnern ist an dieser Stelle an die von Goffman und Grice beschriebenen Mechanismen der Ausdruckskontrolle.1069 Möglicherweise nötigen sie die Seelsorgenden zu einem kurzen, pointierten Sich-Präsentieren, da es ihnen andernfalls nicht möglich wäre, die nonverbale „Fassade“ in dem Maße aufrechtzuerhalten, wie von ihnen intendiert. Eine kurze, zielgerichtet anmutende Besuchsgestalt wäre demnach das Resultat des Versuches, den nonverbalen Ausdruck zu kontrollieren und die dem eigenen Rollenverständnis gemäße „Fassade“ zu wahren. Nach diesem Versuch, wichtige Strukturmerkmale der nonverbalen Besuchsgestalt zu erfassen, soll abschließend gefragt werden, inwiefern sich aus dem empirischen Material auch eine theologische Struktur herausdestillieren lässt. Lassen sich die Beobachtungen auch mithilfe theologischer Kategorien beschreiben? Unter dieser Fragestellung sollen die benannten Auffälligkeiten noch einmal theologisch strukturiert werden: Die Gesamtauswertung förderte mehrere Strukturmerkmale des seelsorgerlichen Verhaltens zutage, die miteinander in Zusammenhang zu stehen scheinen: Idealtypische Kommunikationsweisen, Sprachsubstitution der Körpersprache, Bedeutungspotenzierung, Aktions- und Rituallosigkeit, Analogien und Anspielungen sowie Zielgerichtetheit dürften einen darstellenden Seelsorgetyp konstituieren und sich zu einer ‚Botschaft‘ addieren. Entsprechend diesem Darstellungsversuch kommt es zu einer Auswahl (Bevorzugung) bestimmter Kommunikationsmodi, die offenbar eine Bedeutungspotenzierung erfahren und überwiegend sprachsubstituierend gebraucht werden. Eine Aktions- und Rituallosigkeit wird mit der seelsorgerlichen Intention erklärbar, in elementarisierender Weise auf zentrale Aspekte des christlichen Gottesbildes anzuspielen. Rituelle Handlungen oder andere Aktionsformen können vernachlässigt werden, da sie für diesen nonverbalen Seelsorgetyp entbehrlich sind. In Folge eines enormen Verdichtungsvorgangs, bei dem aus der Fülle der nonverbalen Optionen intuitiv auszuwählen und die so komponierte Figur für einige Zeit durchzuhalten ist, kommt es zu einer Zielgerichtetheit der Interaktion. Die Kürze des Besuches wäre deren natürliche Folge, da die „Fassade“ nur eine begrenzte Zeitlang steuerbar ist. Im Kern dieses nonverbalen Seelsorgetyps scheint es demnach um Veranschaulichung einer theologischen Aussage zu gehen, von der die Seelsorgenden annehmen, sie stärke, tröste, ermutige bzw. könne in der Situation der Pflegebedürftigkeit hilfreich sein. Seelsorgetyp I lässt sich folglich mithilfe des homileti1069 Vgl. II.A.
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schen Paradigmas beschreiben und als Form der Predigt verstehen. Dieser Gedanke soll im nächsten Kapitel weiter entfaltet werden (III.A.). Es fanden sich in der Interaktion weitere nonverbale Elemente, die nicht einem solchen homiletischen Modus nonverbaler Seelsorge zugeordnet werden können. Es handelt sich dabei um Figuren, die den Eindruck erwecken, es gehe hier um die Ermöglichung einer (positiven, angenehmen, erbaulichen) Erfahrung bzw. um ein „Erlebnis“ im Rahmen des Möglichen. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger knüpfen mit dieser Intention an verbliebene Ressourcen, Potenziale und Eigenschaftszuschreibungen der Pflegebefohlenen an und versuchen, Nichtausgeschöpftes, insbesondere im leiblichen Bereich, zu heben, zu fördern, zu beleben. Bei diesem poimenischen Ansatz kommt es zu einer Übertragung anthropologischer Parameter ins Konkrete. Die Seelsorge bewegt sich damit in einem theologisch-anthropologischen Bezugsrahmen, knüpft an anthropologische Prämissen an und macht sie für die Interaktion mit Pflegebedürftigen fruchtbar. Sie bestimmen einen Teil der Interaktion und konstituieren demnach einen weiteren, zweiten Typ der Seelsorge, der ebenfalls im nächsten Kapitel entfaltet wird (III.B.). Es lässt sich ein dritter Typ der Seelsorge aus der Fülle der nonverbalen Phänomene herausschälen, der dem des vorigen Abschnitts verwandt ist, insofern auch er positive Erfahrungen mit sich bringt. Diese sind jedoch nicht das Ergebnis der Ausschöpfung menschlicher (anthropologischer) Potenziale, wie es im zweiten Seelsorgetyp der Fall ist. Vielmehr kommt es zu einem angenehmen Erlebnis durch den Umstand, dass dem pflegebedürftigen Menschen geholfen wird, dass ihm Hilfestellung, Unterstützung, Erleichterung zuteil wird und ihm jemand zur Seite steht mit einem besonderen Blick für (kleine, leicht übersehbare) Wohltaten. In diesem Seelsorgetyp konkretisiert sich Diakonie in einer speziellen, kontextspezifischen Variante. Diese soll im nächsten Kapitel ebenfalls näher bedacht und als dritter poimenischer Ansatz der Seelsorge im Altenpflegeheim vorgestellt werden (III.C.).
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Teil III. Folgerungen - Typen der Seelsorge im Altenpflegeheim -
A. Pflegeheimseelsorge als nonverbale Verkündigung Die inhaltsanalytischen Auswertungen des zweiten Hauptteils zeigen, dass zahlreiche Interaktionsmodi geeignet sind, auf (zentrale) Aspekte des christlichen Gottesbildes anzuspielen und hinzuweisen, jene zu akzentuieren, darzustellen bzw. in Körpersprache zu übertragen. Die im letzten Kapitel geschilderten, mutmaßlich dazu beitragenden Mechanismen des körpersprachlichen Verdichtungsvorganges dürften einen solchen Gebrauch des Nonverbalen begünstigen. Das nonverbale Sprachspiel der Seelsorgerinnen und Seelsorger scheint demnach regelmäßig auf biblische, dogmatische oder systematische Inhalte zu rekurrieren, auf jene bezogen und durch sie angeregt zu sein. Hinter diesem Vorgang scheint die Absicht zu stehen, den Pflegebedürftigen Gewichtiges, Existenzielles, für ihre Situation höchst Bedeutsames zu kommunizieren. Diese Art nonverbaler Anrede ist also mehr als nur Mitteilung oder Information. Vielmehr überbringt sie eine Botschaft, die Betroffenheit wecken und in das Leben des Gegenübers gleichsam (tröstend, erbauend, ermutigend) ‚eingreifen‘ will. Die gezielt akzentuierten Facetten christlicher Gottesvorstellung werden, so scheint es, nonverbal ‚verkündigt‘ mit der seelsorgerlichen Intention, „Nachdruck“ zu legen auf das „In-Kraft-Treten“1070 des Verkündigten. Dies ist insofern stets von ungebrochener „Aktualität“ bzw. existenzieller Relevanz. In Kraft gesetzt werden soll, wie es im Kontext des Pflegeheims naheliegt, der tröstende Aspekt der jeweils dargestellten Gottesvorstellung in der Erwartung, dieser stoße beim Pflegebedürftigen auf eine günstige Resonanz, sei es, dass sie Vertrauen weckt oder dass sie vertrauensvolle Zustimmung findet und also das Tragen des je individuellen Loses erleichtert. Das Nonverbale scheint demnach ein „kerygmatisches“ Potenzial zu besitzen, welches aus den im letzten Kapitel skizzierten Gründen geeignet ist, die korporale Darstellung von Seelsorgenden in Verkündigung zu überführen und sie zu einer kontextbezogenen Variante des seelsorgerlichen Predigens zu machen. Indikativische Zusagen (Gott ist…, Gott tut…, Gott sieht… oder: Du bist…, Du darfst…, Du wirst…) werden so körpersprachlich illustriert und mithilfe non1070 Vgl. LØgstrup, K.E., Art. ‚Verkündigung‘, in: RGG, Bd. 6, Sp. 1358 – 1360, Tübingen (1986, 3. Aufl.).
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verbaler Ausdrucksmittel proklamiert. Auf diese Weise eröffnet sich die Chance, die Pflegebefohlenen in das „Reich des Trostes“ „hineinzurufen“ und ihnen eine Stärkung ihres Lebens zukommen zu lassen. Eine körpersprachliche „Predigt“ setzt sich aus mehreren Bestandteilen des nonverbalen Repertoires zusammen, da die unterschiedlichen Signale sendenden Kanäle nicht abzuschalten sind. Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick). Die Kommunizierenden haben somit zwar nicht die Wahl, ob sie auf einem Kanal senden, aber immerhin wie sie dies tun und welches Signal die seelsorgerliche Zensur passieren soll. Stets verbleiben Alternativen der Kommunikation und des Ausdrucks. Die körpersprachliche Predigt besteht somit aus einer Komposition verschiedener nonverbaler Elemente, die die Seelsorgenden für geeignet halten, zentrale Inhalte des christlichen Glaubens bzw. die eigene, als trostreich empfundene Gottesvorstellung zu repräsentieren. Indem sie sie körpersprachlich abbilden, wird zugleich die pastorale Identität bzw. „Rolle“ zur Geltung gebracht, denn die Botschaft qualifiziert den Boten und verleiht dessen Gesandtschaft eine spezifische Dignität. Ob die einzelnen, ein Gesamtbild ergebenden körpersprachlichen Elemente gleichberechtigt sind oder ob es eine Hierarchie der Ausdruckskraft gibt, muss dahingestellt bleiben und ist für den hier interessierenden Sachverhalt nicht relevant. Anzunehmen ist allerdings ein Zusammenspiel der verschiedenen Kommunikationsweisen, wie es auch sonst der Fall ist, wenn eine körpersprachliche Darstellung komponiert wird. So erfordern beispielsweise Freude, Trauer oder Aufmerksamkeit unterschiedliche Elemente der Körpersprache, die gemeinsam entweder ein freudiges, trauriges oder aufmerksames „Design“ kreieren. Es scheint somit möglich, die beobachteten Phänomene des seelsorgerlichen Verhaltens in ihrer Summe als einen Verkündigungsversuch sui generis zu interpretieren. Eine solche Funktion der Körpersprache musste von der Poimenik übersehen werden, da das Nonverbale bisher unter den geschilderten Gesichtspunkten und Blickwinkeln wahrgenommen wurde und sich insbesondere am therapeutischen Paradigma mit den daraus folgenden Einseitigkeiten orientierte.1071 Der nonverbale Verkündigungstyp erweist sich in der Situation der Pflege indessen als durchaus sinnvoll und vorteilhaft, da er „bildhaft“, „sinnlich“ und deshalb weniger angewiesen ist auf das kognitive Vermögen der Adressaten. Die charakteristische Kürze der körpersprachlichen Predigt schützt die Pflegebedürftigen vor Überforderung. Zudem birgt diese Predigt aufgrund ihrer 1071 Vgl. I.E.4.
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spezifischen Eigenschaften das Potenzial, auf eine Empfänglichkeit bei den Besuchten zu treffen. Unter Rückgriff auf die Theorie des Symbolischen Interaktionismus scheint die These begründet, körpersprachliche Verkündigung könne (in der Pflegesituation) durchaus trostreich sein und Pflegebedürftigen zumindest eine Ahnung vom theologischen Gehalt einer nonverbalen Information vermitteln: Da jene durch den seelsorgerlichen Besuch in einen Interpretationsvorgang involviert werden, sind sie zu Wertungen des nonverbalen Ausdrucks genötigt mit entsprechenden Wirkungen. Dem Symbolischen Interaktionismus zufolge handeln Menschen ja, wie bereits gezeigt,1072 auf der Grundlage von Bedeutungen, die Symbole für sie haben. Diese Bedeutungen wiederum entstehen in einem Wechselspiel der Inter-agierenden. Ein unentwegter, komplizierter Interpretationsprozess erlaubt schließlich eine Erneuerung, Erweiterung oder Veränderung des Interpretierten bzw. der zu deutenden nonverbalen Symbole. Besuchende und Besuchte werden gleichermaßen bemüht sein, aus den wechselseitigen nonverbalen Stimuli die Erwartungen, Handlungsentwürfe oder Intentionen des anderen interpretierend zu erschließen. Bei diesem Unterfangen handelt es sich um einen komplexen, vielschichtigen Prozess, an dem auch der affektive Bereich maßgeblich beteiligt und die emotionale Intelligenz1073 gefordert ist. Dieser Interpretationsvorgang erlaubt schließlich ein Mindestmaß an geteilter Einschätzung oder Definition der Situation, auch ergeben sich aus ihm Sinnzuschreibungen und Bedeutungsbeimessungen, zu denen ein Großteil der Pflegebedürftigen noch fähig sein müsste. Mit anderen Worten: Eine pflegebedürftige, von einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger aufgesuchte Person wird die von ihr wahrgenommenen nonverbalen Stimuli einschätzen, beurteilen, interpretieren und sich auf der Grundlage dieser Einschätzung ein Urteil darüber bilden, wer die/der Besuchende sei, wie sie es mit der/dem Pflegebefohlenen meine und welcher theologische Symbolgehalt an ihr zu erfassen sei. Bei diesem Interpretationsprozess spielt vermutlich zugleich das Faktum eine Rolle, dass der besondere, als Heterotopos charakterisierte Ort Pflegeheim ein intensiviertes bzw. verändertes Erleben mit sich bringt,1074 in dessen Folge es auch zu einer Bedeutungspotenzierung analoger1075 Kommunikation kommen dürfte. Ein verändertes Erleben infolge sich verändernder Wahrnehmungen an solchen nicht alltäglichen Orten spielt auch in anderen Zusammenhängen und Fragestellungen eine Rolle, wie sich in den folgenden 1072 Vgl. 1073 Näheres zum Konzept der emotionalen Intelligenz bei Goleman, D., Emotionale Intelligenz, München (1996). 1074 Vgl. Exkurs zu auffälligen Patientenreaktionen im Krankenhaus, 262ff. 1075 Zum Unterschied zwischen analoger und digitaler Kommunikation in der Theorie Watzlawicks et al. vgl. Fußnote 1036.
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Kapiteln wiederholt zeigen wird. Eine confusion d’intentité1076 infolge der mannigfachen, auf Pflegebedürftige einwirkenden Kräfte begünstigt bei ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach eine Sensibilität für das Nonverbale und erleichtert die „Interpretation“ des Wahrgenommenen. Die Entdeckungen am empirischen Material, die die Körpersprache auch als Verkündigung verstehbar machen, erfordern es somit, das Verständnis des Nonverbalen im poimenischen Diskurs um bislang übersehene1077 Gesichtspunkte zu erweitern: Zum einen tritt die klientenunabhängige, eigenständige Qualität der Körpersprache von Seelsorgerinnen und Seelsorgern hervor. Zum anderen zeigt sich, dass die Wahrnehmung der körpersprachlichen Ausdrucksmittel allein unter einer psychologischen Perspektive zu kurz greift. Vielmehr kann den nonverbalen Kommunikationsweisen der Seelsorgenden mitunter auch eine theologische Dimension zugeschrieben werden. In bestimmten Konstellationen und unter geeigneten Bedingungen – wie z.B. dem Pflegeheim – kann sich das Nonverbale von seinen sonstigen, wie immer verstandenen Funktionen lösen, auch als ‚Predigt‘ fungieren und ein basales kerygmatisches Surrogat bilden. Es ist zu vermuten, dass die Körpersprache immer dann einen verkündigenden Zug bekommt, wenn sich die Adressaten der Kommunikation in einer beschwerlichen körperlich-seelischen Verfassung – etwa Pflegebedürftigkeit – befinden, die es sinnvoll macht, das Nonverbale in den Dienst seelsorgerlicher Verkündigung zu überführen und es damit klientengemäßer zu kommunizieren. Die Deutung der Körpersprache, also der nonverbalen Signale im engeren sowie des gesamten Sich-Verhaltens im weiteren Sinne, erhält damit einen in der Poimenik übersehenen Aspekt: Der Leib ist folglich nicht nur Zeichen und Medium der Sozialität, mit dem sich kommunizieren und in Beziehung treten lässt. Auch ist die Körpersprache nicht zu reduzieren auf ihre tiefenpsychologische oder emotionale Bedeutsamkeit. Die gewohnte Klienten-Zentriertheit, die die Interpretation des Nonverbalen zumeist bestimmt und zugleich begrenzt, verhindert die Wahrnehmung seiner religiös-symbolisch-kerygmatischen Komponente und übersieht den potenziell gleichnishaften Charakter des SichVerhaltens. Der Körper ist jedoch, wie die vorangegangenen Betrachtungen es nahelegen, auch als „Display“ zu sehen, auf dem theologische Inhalte sinnlich abgebildet, dargestellt und verleiblicht werden können.1078 Seelsorge konkreti1076 Vgl. 266f. 1077 Vgl. I.E.4. 1078 Vgl. Stollberg, D., Wenn Gott menschlich wäre, Stuttgart (1978), 8ff.
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siert sich deshalb nicht allein dadurch, dass sie sich unterschiedlicher theoretisch fundierter Methoden und eines breitgefächerten praktischen Repertoires zu bedienen weiß, sondern ebenfalls, indem sie körpersprachlich wird, die korporalen Möglichkeiten als Gestaltungsmittel ausschöpft und geeignete, dem jeweiligen Gottesbild bzw. der jeweiligen theologischen Schwerpunktsetzung gemäße nonverbale Akzente zu setzen versteht. Eine kurze, prägnante körpersprachliche Darstellung birgt die Chance, in der besuchten Person eine visuelle Eindrucksbildung (Evidenz) zu stimulieren und geeignete Impressionen zu wecken. Dabei macht sie sich die Tatsache zunutze, dass „visuelle Stimuli eine viel stärkere Wirkung erzeugen als akustische“1079. Das Auge siegt somit über das Ohr, das „Bild“ schlägt den Ton, wie die Wirkungsforschung1080 zur nonverbalen Kommunikation es nachweist.1081 Die Aussage- und Darstellungskraft des menschlichen Körpers beschränkt sich jedoch nicht, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, allein auf biblische, dogmatische bzw. das Gottesbild betreffende Inhalte, obwohl solchen im nonverbalen Ausdruck der fünf Seelsorgerinnen und Seelsorger eine klare Präferenz zukommt. Die fünf von mir Begleiteten kommunizieren zugleich anthropologische Gehalte, die einerseits eine verkündigende Dimension haben, insofern sie dem Pflegebefohlenen kommunizieren, wer sie (trotz allem) sind und bleiben bzw. wie sie von Gott gesehen werden und sich selbst sehen dürfen. Zugleich haben sie eine praktische Relevanz, da sie ein seelsorgerliches Repertoire eröffnen und zu Möglichkeiten für die Interaktion verhelfen.
1. Besuchsdauer Zu den Auffälligkeiten des beobachteten Verhaltens gehört die ermittelte Besuchsdauer, die von der der Krankenhausseelsorge überraschend abweicht. Auch wären vor dem Hintergrund der in den vergangenen drei Jahrzehnten durch die Seelsorgebewegung geprägten Poimenik keine dermaßen kurzen Besuche zu erwarten gewesen. Die therapeutische Perspektivdominanz dieser Bewegung hätte vielmehr deutlich längere Verweilzeiten an der Seite der Besuchten nahegelegt, wie sie bei den insgesamt 45 dokumentierten Begegnungen lediglich dreimal (allein bei Seelsorgerin Braune) der Fall war.
1079 Frey, S., a.a.O., 123. 1080 Vgl. Frey, S., a.a.O. 1081 Vgl. Meyer, T., Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt (1992), 94, zit. in: Frey, S., a.a.O., 123.
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Eine verkündigende Funktion der Körpersprache wirft die Frage auf, ob und inwiefern der Faktor Zeit für den hier vorgestellten Typ der „Leibpredigt“ eine Rolle spielt. Ist die Dauer der „analogen“ Verkündigung von Bedeutung für die potenzielle Relevanz dieser Predigt? Überlegungen zu Umfang und Länge der „kerygmatischen Körpersprache“ ergeben sich aus der Beobachtung der außergewöhnlich kurzen Besuchszeiten, die nach einem Zusammenhang der beiden Determinanten fragen lassen. Auch die Tatsache, dass sich die Körpersprache nur begrenzt dem Willen unterwerfen lässt und nur sehr schwer für längere Zeit in allen Facetten willentlich steuerbar ist sowie der Eindruck, die Kürze der Besuche könne ihre Begründung in einer möglichen ‚Zielgerichtetheit‘ dieser Besuchsform finden, lässt über die Relation zwischen den Faktoren ‚Zeit‘ und ‚nonverbales Phänomen‘ nachdenken. Festzustellen ist, dass die Länge einer Predigt nichts über ihre Güte auszusagen vermag. Ebenso wenig ist der Faktor Zeit ein Indikator für deren Vermögen, Betroffenheit zu wecken. Der Blick in die Kirchengeschichte mit ihren unterschiedlichen Gepflogenheiten und Empfehlungen zur Länge der Predigt zeigt vielmehr: Das Phänomen stundenlanger Predigten begegnet ebenso wie die Empfehlung, 20 Minuten nicht zu überschreiten, wobei die Länge der Predigt im Laufe der Kirchengeschichte kontinuierlich abnimmt. Heutzutage haben Predigten – verglichen mit vergangenen Jahrhunderten – nicht zuletzt wegen des Einflusses der Massenmedien1082 eine Affinität zur Kürze, da die Fähigkeit zu konzentriertem Zuhören nachlässt. Bezogen auf die körpersprachliche Predigt im Kontext der Pflege wird deshalb gefragt, ob deren Kürze dem Kasus dieser spezifischen Besuchssituation nicht durchaus gemäß ist und zudem der Komplexität der Körpersprache Rechnung trägt. Wie die Beschreibung des Pflegeheims zeigte, handelt es sich bei diesem Umfeld um einen Lebensraum, der die kognitiven Aufnahmekapazitäten seiner Bewohnerschaft infolge multipler Faktoren erheblich beeinträchtigt. Es wird deshalb vermutet, dass prägnante Zeichen am Pflegebett sehr wirkungsvoll sein können, Impulse etwas anzustoßen und Symbole Horizonte zu eröffnen vermögen. Kurzes, so meine These, vermag an diesem Ort tief zu wirken, Dosiertes für längere Zeit zu nähren, Begrenztes wird als ‚Fülle‘ erlebbar. Kleinste Gesten und Zuwendung stimmen hier dankbar, die Seele wird emp1082 Vgl. Trillhaas, W., Einführung in die Predigtlehre, Darmstadt (1983, 3. Aufl.), 59ff. Der Autor beschreibt den Einfluss der Massenmedien auf den Wandel der Predigt und zeigt, wie die Predigt den „Gesetzen der Öffentlichkeit“ zunehmend unterliegt. Als Folge dieser Entwicklung kommt auch die Notwendigkeit der Kürze des Verkündigungswortes zur Sprache. Kürze gehört für das Fernsehen zu den „drei unverbrüchlichen Bedingungen“. Dass die Medien damit prägend für die Aufnahmefähigkeit u.ä. der Hörerschaft werden, ist anzunehmen.
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fänglich für Stilles, Unscheinbares und Zärtliches. Elementares wird zu Existenziellem, die Seele wird gestreichelt durch Berührungen des Körpers. Die Kultur der Elementarheit, wie die Welt der Pflegeheime zu charakterisieren ist, macht viele Pflegebedürftige aus den geschilderten Gründen1083 empfänglich(er) für unspektakuläre Zuwendungen und Impulse. Diese können jedoch, wie die inhaltsanalytischen Betrachtungen es nahelegen, einen ganzen Kosmos an profunden theologischen Botschaften transportieren und von Pflegebedürftigen vermutlich mehr oder weniger dekodiert werden. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf Untersuchungen interessant, die zu ergründen versuchen, was Pflegebedürftige unter „guter“ Pflege verstehen und wann sie sie als solche erleben. Solche patientenbasierten Erhebungen – von denen es nur wenige gibt – erhärten die für die Seelsorge im Pflegeheim wichtige Vermutung, dass im Kontakt mit Pflegebedürftigen das Atmosphärische, Zeichenhafte und die innere Haltung der ans Pflegebett (besuchend oder pflegend) Tretenden entscheidend ist. Es kann demnach resümiert werden,1084 dass „nicht immer ein Mehraufwand an Zeit notwendig ist. ... Wesentlich sind die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein der Pflegenden“. Die Gepflegten bringen zum Ausdruck, dass ihnen persönliche Ausstrahlung, durch freundliche Gestik und Mimik unterstützter Zuspruch, Schaffen guter, z.B. humorvoller Atmosphäre, Freundlichkeit, Handreichungen, in denen sich Aufmerksamkeit bekundet, Zuwendung und dergleichen wichtig waren, um Pflege als „gut“ erlebbar zu machen. Die angeführten Kriterien deuten darauf hin, dass Pflegebedürftigkeit häufig zu einer Empfänglichkeit für Gesten, Zeichen, Atmosphärisches und damit gewiss auch für das Unspektakuläre, Schlichte und Symbolische führt. Alltägliches wird neu gewichtet, Kleines erscheint groß, Stippvisiten mutieren zu „hohem“ Besuch. Es ist somit keineswegs der Faktor Zeit, der die Tiefenwirkung einer pflegerischen oder seelsorgerlichen Zuwendung begründet. Vielmehr kommt es darauf an, dass die zwischenmenschliche Begegnung entsprechende Voraussetzungen mitbringt, um intensiv erlebt werden zu können. Seelsorgende, denen es im Kontext der Pflege gelingt, mit ihrem Körper zu sprechen und im körperlichen Ausdruck wichtige theologische Inhalte zu inszenieren, dürften hilfreiche Impulse geben und wohltuende Wirkungen in Gang bringen. Eine „seelsorgerliche Stippvisite“ besitzt damit das Potenzial, ein impulsgebender Besuch mit Tiefgang zu werden, wobei der ‚Impuls‘ stets seelsorgerlicher Natur ist.
1083 Vgl. II.C.2.a.+b. 1084 Zum Folgenden vgl. Fluck, I. et al., Zwei Forschungsbeispiele: Gute Pflege aus der Sicht der Betroffenen, in: Schwerdt, R. (Hg.), a.a.O., 49 – 140.
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Ein weiteres Argument spricht für die Kürze eines seelsorgerlichen Besuches im Pflegeheim: Indem die Seelsorgenden ihre Besuche äußerst kurz halten und auf die Kraft des Nonverbalen setzen, passen sie sich der Welt stationärer Pflege und den Möglichkeiten der Besuchten an. Sie finden in ihrem verkündigenden Gebrauch des Nonverbalen einen angemessenen situationsbezogenen Ansatz und agieren gemäß der im Ersten Korintherbrief, Kapitel 9, formulierten Maxime: „Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“. Diesem Grundsatz wird vom nonverbalen Verkündigungstyp insofern Rechnung getragen, als er die Merkmale der Elementarisierung, Versinnlichung und Pointierung aufweist. Damit entspricht er den Erfordernissen der Kultur stationärer Pflege, knüpft an die Gegebenheiten des seelsorgerlichen Kontextes an und erklärt, warum die Besuche intentional kurz ausfallen. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger kommunizierten das Evangelium im Kontext der Pflege unter Anpassung an die Bedingungen und Notwendigkeiten der spezifischen (Pflege-)Situation „Kasus“bezogen und „Alltags-nah“, wie es von der Homiletik empfohlen wird.1085 Es sei in Zusammenhang mit den Überlegungen zur Dauer seelsorgerlicher Besuche im Pflegeheim auch an die Ausführungen erinnert, in denen die theologische Dimension des ‚Besuches‘ am Heterotopos (Nicht-Ort) mit ihrem Phänomen einer „Enthebung aus der Zeit“ (Stubbe) zur Sprache kam.1086 Der Besuch an sich muss demnach als Impuls verstanden werden, dessen Intensität sich möglicherweise noch steigern lässt durch kongruente nonverbale Darstellung. ‚Kongruenz‘ meint in diesem Zusammenhang Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die darauf angelegt sind, das christliche Gottesbild körpersprachlich zu illustrieren. Hinsichtlich der Frage, wie lange seelsorgerliche Besuche im Pflegeheim dauern sollten, ist zudem zu berücksichtigen, dass das Zeitempfinden älterer und (Schwerst-) Pflegebedürftiger sich von dem Jüngerer und NichtPflegebedürftiger unterscheidet. Da es im Alter zu einer veränderten Wahrnehmung der Zeit kommt1087 und der Zeitablauf als beschleunigt erlebt wird,1088 scheint eine andere – zeitunabhängige – Gewichtung positiver Erlebnisse, von Besuchen oder Wohltaten nicht unmöglich. Ein kurzer Moment, eine unscheinbare Geste, wie ein herzlicher Händedruck, ein wohlmeinendes SchulternKlopfen oder ein herzerfrischendes Lächeln, ein kurzes Hereinschauen können 1085 Vgl. Trillhaas, W., a.a.O., 40. 1086 Vgl. 260ff. 1087 Vgl. Prahl, H.-W./Schroeter, K. R., Soziologie des Alterns, 248; Buske, N., a.a.O., 293. 1088 Buske, N., a.a.O., 293.
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somit als durchaus bedeutsam, wohltuend oder tröstlich erlebt werden und zu einer vergleichbar wohltuenden Eindrucksbildung führen. Angemerkt sei, dass ein Teil der hier dokumentierten 45 Besuche den Eindruck erweckt, dass der seelsorgerliche Besuch – obgleich äußerst kurz – jeweils recht positiv aufgenommen werde und deshalb einen Nachhall haben könne. Hervorzuheben ist besonders der knapp zweiminütige Besuch V-5: Pastor Laurenz hatte dem bettlägerigen Herrn Tage zuvor angekündigt, er werde beim nächsten Mal „Besuch aus Hamburg“ mitbringen. Die nun stattfindende Begegnung mit dem „Hamburger Besucher“ bewegt den Schwerstpflegebedürftigen merklich und versetzt ihn in freudige Erregung. Auch zeigt er Verständnis, als Laurenz bald schon wieder sagte, man müsse weiter, der angereiste Gast habe nicht viel Zeit, „der Zug wartet!“. Auch der lediglich einminütige Besuch bei Frau J. (SV-10) lässt erkennen, dass der „Besuchsimpuls“ des Seelsorgers zu freudigen Gesichtszügen bei der alten Dame führt. Diese Indizien, die darauf hindeuten, dass selbst ein kurzes Aufsuchen noch „eindrucksvoll“ sein kann, sind jedoch nur begrenzt aussagekräftig, denn es ist auch eine unterbewusste Reaktion „im Bauch“ denkbar, die nicht zwangsläufig zu wahrnehmbaren Reaktionen führen oder für die besuchte Person reflektierbar sein muss.
2. Impulsgebung Aufgrund der bisherigen Überlegungen scheint es sinnvoll, die Kategorie des Impulses, die sowohl von einer therapeutisch-prozesshaften als auch einer theologisch-soziologisch orientierten Poimenik aus naheliegenden Gründen übersehen wird, stärker zu reflektieren. Zu fragen ist somit nach der Legitimität einer kurzen, punktuellen Seelsorge, die nicht eine längere Begleitung oder eine (strukturelle) Veränderung von Lebenssituationen intendiert, sondern sich von einem impusorientierten poimenischen Paradigma leiten lässt. Ein solches könnte unter bestimmten Umständen eine sinnvolle Alternative zu längeren, prozessorientierten Formen der Seelsorge sein. Es zielt vor allem darauf, möglichst (eindrucksvolle) Impressionen zu bewirken und Tiefenschichten, insbesondere die affektiven, anzusprechen, die vom Faktor Zeit oder den kognitiven Fähigkeiten eines Individuums unabhängig sind. In bestimmten Seelsorgekonstellationen und -kontexten kann es geraten sein, allein auf die Kraft des Pointierten, Prägnanten bzw. Impulsgebenden zu setzen, anstatt sich an Kategorien wie ‚Prozess‘, ‚Begleitung‘ oder ‚Zeit haben‘ zu orientieren. Ein solcher Ansatz will freilich konzentriert und intentional vollzogen sein. Er setzt innere Sammlung und körpersprachliches „Kompositionsvermögen“ voraus, das sich ganz in den Dienst der zu kommunizierenden Botschaft zu stellen vermag. 329
Mit Blick auf die besondere Situation in Pflegeeinrichtungen ist außerdem zu fragen, ob in diesem Kontext nicht die Empfänglichkeit für Impulse bzw. Impulsgebendes zunimmt. Insgesamt scheinen mir Seelsorgekonstellationen denkbar, in denen ein Impuls hilfreicher, eindrucksvoller, seelsorgerlicher usw. sein kann, als eine längere Begleitung, eine prolongierte Interaktion bzw. ein ausgedehnter Prozess. Es sei deshalb ein weiteres Mal an die Einschätzung von Pastor Laurenz erinnert, der meinte, das eine/n Pflegebedürftige/n Bewegende komme schnell zur Sprache. Er hat dabei die Kürze dieses Vorgangs in der Besuchssituation der Pflege vor Augen, die er mit der Metapher einer Eruption beschreibt. Ein solches „Herausplatzen“ benötige keinen längeren (therapeutischen) Prozess, sondern sei das Ergebnis eines seelsorgerlichen Besuchsimpulses. Eine „impulsgebende Seelsorge“, die sich insbesondere des Nonverbalen als Medium der Verkündigung bedient, findet ein verbales Pendant in Lohses1089 seelsorgerlichem Kurzgespräch. Zwar geht es bei diesem, wie der Titel schon sagt, um das Gespräch. Mit Blick auf den Kontext der Pflege ist allerdings die Beobachtung interessant, dass „ein kurzes und bündiges Gespräch möglich (wird), wenn Abschied genommen wird von einer an psychischen Defiziten und Fehlentwicklungen orientierten therapeutischen Gesprächsführung und stattdessen im kommunikativen Vollzug eine Wirklichkeit konstruiert wird, in der die ratsuchende Person sich wieder findet und zu handeln bereit ist.“ 1090
Es gibt demnach Konstellationen, in denen es ausreichen kann, einen (Gesprächs-)Impuls zu geben, der potenziell etwas in Gang setzt und Wirkungen entfaltet. In dem von Lohse vorgestellten – im systemischen Denken gründenden – Kurzgespräch „laufen die Interaktionen zwischen den Beteiligten in einer großen Dichte ab“, wobei dieses Gespräch entscheidend „von der günstigen Gelegenheit lebt“.1091 Diese Feststellung lässt fragen, ob eine religiös affizierte Körpersprache, die sich zudem mit dem von Gestrich1092 beschriebenen Phänomen der initialen Übertragung verbindet, nicht ebenfalls ein solcher seelsorgerlicher Impuls sein könnte. Gestrich beschreibt diesen Übertragungsvorgang als eine aufschlussreiche, bedeutungsvolle Reaktion der Patienten auf das Kommen einer Seelsorgerin oder eines Seelsorgers: „Die Menschen in den Betten fühlen ‚sich‘ besucht und empfangen den Seelsorger so, dass ihre Seele ‚sich‘ zu 1089 Vgl. Lohse, T. H., Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung, Göttingen (2008, 3. Aufl.). 1090 Ebd., 19. 1091 Ebd., 20f. 1092 Zum Folgenden vgl. Gestrich, R., a.a.O.
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erkennen gibt“. Der seelsorgerliche Besuch löst demnach eine PatientenReaktion aus, die „nur unter Einbeziehung des Religiösen verstanden werden (kann)“. Diese „urreligiöse Übertragung auf geistliche Personen“ sei als „brükkenschlagende Projektion“ zu verstehen, die der Seelsorge helfe, herauszuhören, was den besuchten Menschen bewege. Gestrich hat bei seiner Schilderung zahlreicher Fallbeispiele die Situation eines Krankenhauses mit seinen besonderen Erfordernissen vor Augen. Anknüpfend an seine lässt sich fragen, ob im Pflegeheim eine vergleichbare Projektion denkbar ist, die sich allerdings nicht zwingend in verbalen Äußerungen niederschlagen muss, da diese im Pflegeheim oft schwerfallen und das Verbale hier häufig ganz versiegt. Verbindet man die These der Körpersprache als Verkündigung mit der These Gestrichs und nimmt zudem an, Pflegebedürftigkeit führe zu einer Empfänglichkeit für seelsorgerliche Begleitung, so wäre Folgendes zu postulieren: Da die Situation im Pflegeheim als „günstige Gelegenheit“ (Lohse) verstehbar ist, der Leib in seinem nonverbalen Ausdruck signifikante theologische Gehalte ‚verkörpert‘ (O.K.) und Pflegebefohlenen ihr seelsorgerliches Gegenüber aufgrund der Suggestivkraft der übermittelten visuellen Stimuli zur religiösen Symbolfigur werden kann (Gestrich), ist es legitim, Besuche kurz oder deutlich kürzer als gewohnt ausfallen zu lassen. Die Besuchten werden in der Kürze der seelsorgerlichen Begegnung gewissermaßen mit einer Konfiguration nonverbaler Darstellungen „belichtet“. Dieser Vorgang kann sogleich eine Evidenz schaffen, die nicht ohne günstige seelsorgerliche Resonanz bleibt. Die Pflegebefohlenen können die jeweils nonverbal kommunizierte Botschaft z.B. emotional, unterbewusst oder auch prärational „verstehen“ und auf sich wirken lassen. Es geht im seelsorgerlichen, auf die Kraft des Nonverbalen setzenden Kurzbesuch somit entscheidend darum, einen Eindruck von seelsorgerlicher Güte zu intendieren. Die Voraussetzung für eine solche Eindrucksbildung ist jedoch ein bewusster und geübter Gebrauch des Nonverbalen, der auch kleinste Nuancen des körpersprachlichen Ausdrucks nicht dem Zufall überlässt. Es sei an dieser Stelle abermals auf die Ausführungen zur Theorie des symbolischen Interaktionismus hingewiesen. Diese liefert ein wichtiges Argument für die These, eine „religiöse“ Dechiffrierung der nonverbalen Signale durch Pflegebedürftige sei prinzipiell möglich: Die nonverbalen „Schlüsselreize“ träfen bei ihnen auf einen empfänglichen Grund wie Lichtstrahlen auf Zelluloid: Sie bildeten Konturen ab, bannten den Moment, blieben haften und bewirkten Impressionen. Freilich sei es möglich, dass die gesendeten Signale vom Bewusstsein anders als vom Unterbewussten beurteilt würden. Auch kann es sein, dass die empfangenen Signale anders interpretiert werden, als vom Sender 331
intendiert. Darauf kommt es mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit nicht an. Wichtig ist allerdings der Aspekt, dass Seelsorgende in Pflegeheimen einen klaren, der seelsorgerlichen bzw. kerygmatischen Intention gemäßen visuellen Eindruck vermitteln, der geeignet ist, als Mittel der Eindrucksbildung zu fungieren. Durch nonverbalen Ausdruck und leibliches Verhalten soll die Suggestivkraft des Visuellen stimuliert werden, die die Basis einer religiösen Deutung ist und zur (ermutigenden, tröstenden, belebenden) Anrede Gottes werden kann. Ob sich solches tatsächlich ereignet, liegt jedoch nicht allein in der Hand derer, die sich der Körpersprache bedienen. Wie für die verbale Predigt gilt auch für die Leibpredigt das ubi et cuando visum est deo. Eine ‚Machbarkeit‘ irgendwelcher Wirkungen entzieht sich den Möglichkeiten sowohl der Seelsorge als auch der Homiletik.
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B. Pflegeheimseelsorge als ressourcenorientierte Applikation christlicher Anthropologie Es fanden sich in den dokumentierten Interaktionen einige Verhaltensweisen, die sich das christliche Menschenbild zu Nutze machten, es in seinen seelsorgerlichen Potenzialen ausschöpften und folglich als Konkretisierung anthropologischer Anschauung zu verstehen sind. Diese – noch vorzustellenden – seelsorgerlichen Elemente rekurrierten auf die christliche Anthropologie und erschlossen Ressourcen des Menschseins, die durch Pflegebedürftigkeit keineswegs versiegen oder in Frage gestellt werden. Da die das Menschsein begründenden Konstanten in der Pflegesituation nicht abhanden kommen, bieten sie der Seelsorge einen Anknüpfungspunkt. Beispielsweise verbleiben einer/einem Gepflegten Würde, Beziehungsfähigkeit und Leiblichkeit, die jeweils als „Ressource“ (der Lebensertüchtigung, des Widerstands, der Ermutigung usw.) zu verstehen sind und unterschiedliche seelsorgerliche Chancen und Optionen eröffnen. Die Elemente der Interaktion, die vor dem Hintergrund einer entsprechenden Anthropologie verstehbar sind, kommunizieren somit das die Seelsorge leitende Menschenbild. Entsprechend kann Heimseelsorge als Applikation und Darstellung christlicher Anthropologie gedeutet werden: Applikation insofern, als theologisch-anthropologische Postulate in konkretes Verhalten überführt und zur Geltung gebracht, Darstellung insofern, als mit diesem Verhalten anthropologische Gehalte kommuniziert werden. Die besagten, anthropologiebezogenen Elemente der Interaktion, möchte ich als „anthropologisch“ bezeichnen. Sie konstituieren einen zweiten Seelsorgetypus, der sich in Gestalt und Intention vom verkündigenden unterscheidet: Auf der Grundlage theologisch-anthropologischer Werte entschieden sich die Seelsorgerinnen und Seelsorger bisweilen für Formen der Interaktion, deren Stärke in der Ermöglichung eines Erlebens von ‚Lebendigkeit‘ und verbleibender ‚Lebensqualität‘ liegt. Aus zwei Gründen kennzeichnet diesen Seelsorgetyp ein vitalisierendes Potenzial: Erstens pflegt er das Menschsein und fördert das Humanum. Zweiten partizipiert er am unentwegten Schöpferischsein Gottes1093 im Leben eines Menschen, verhilft diesem zur Geltung und trägt hebammengleich zur Entfaltung jener schöpferisch-belebenden Kraft bei. Entsprechend kommt es in den beobachteten seelsorgerlichen Begegnungen zu einer „Mobilisierung“, „Stimulierung“, Förderung bzw. Aufdeckung von Potenzialen und 1093 Zum Konzept der Creatio continua vgl. I.E.1.b.
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Ressourcen der Gepflegten. In diesem Bemühen drückt sich zugleich eine ungewohnte Ressourcenorientierung der Seelsorge aus, denn „protestantische Theologie ist häufig eher am Defizit orientiert und beschäftigt sich meist mit den Mängeln und dem Versagen der Menschen als mit ihren Stärken“1094. Es scheint, als sollten die hinfälligen Menschen etwas „erleben“, z.B. dass noch Leben in ihnen ist, dass sie des Besuches und der Zuwendung würdig und nicht vergessen sind, dass manches noch „geht“, dass sie etwas können, dass es angenehme Empfindungen gibt, dass manche Kanäle noch offen und ansprechbar sind, dass unverlierbare Möglichkeiten, Stärken und Ressourcen verbleiben: Riechen, Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen, kurz: dass Gott schöpft, schenkt und erhält. Dieses Bemühen um vitalisierende Ausschöpfung der göttlichen Wirkmacht erlaubt zugleich die Pflege wichtiger anthropologischer Merkmale, denn einer anthropologiebezogenen Seelsorge geht es entweder um die Pflege der Menschwürde, der Sozialität oder der Leiblichkeit. Dementsprechend lassen sich Verbindungslinien ziehen zwischen den skizzierten, die Heimseelsorge bestimmenden anthropologischen Größen1095 und einigen der beobachteten Verhaltensweisen: Menschenwürde und Sozialität werden insbesondere durch die Tatsache des seelsorgerlichen Besuchens konkretisiert: Dass es überhaupt Seelsorge, Zuwendung, Besuche im Heim gibt, dass Menschen kommen, aufsuchen und sich Pflegebedürftigen widmen, dass Kirche sich diesen Dienst am hinfälligen Menschen etwas kosten lässt – dies alles bekräftigt dessen Würde und bringt zum Ausdruck, dass sie nicht vergessen, nicht isoliert, nicht verbannt ist. Der Besuch an sich ist somit ein aussagekräftiges Zeichen von theologischem Gewicht, das gelegentlich noch akzentuiert wird durch weitere (kleinere) Figuren der Interaktion: So konnte etwa das in der Entwicklungspsychologie bekannte ‚Sharing‘ beobachtet werden, das Gemeinschaft erlebbar macht und eine soziale Erfahrung (des Gleichklangs) erlaubt. Auch dürften einige Formen der Berührung in der Absicht geschehen sein, Nähe und Beistand spürbar zu machen, menschliche Sozialität zu bekräftigen und ein Gemeinschaftserleben zu begünstigen. Eine dritte Möglichkeit der Pflege des Humanum, also der das Menschsein konstituierenden Größen, findet sich in der beobachteten Pflege der Leiblichkeit 1094 Schneidereit-Mauth, H. , a.a.O., 169. Ein Defizit an einer wünschenswerten Ressourcenorientierung der Seelsorge lässt sich bereits daran ablesen, dass die Begriffe ‚Ressource‘ oder ‚Potenzial‘ als poimenische Leitkategorien nicht vorkommen, auch wenn einige, z.B. diakonische, politische oder emanzipatorische Seelsorgekonzepte durchaus auf bestimmte menschliche Potenziale rekurrieren. Sie haben jedoch nicht die Bedeutung eines poimenischen Paradigmas. 1095 Vgl. I.E.1.
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bzw. der „Leibsorge“. Dass Seelsorge auch in ihr einen Ausdruck findet, ist somit nicht nur poimenisch zu fordern1096, sondern – wenngleich vernachlässigte – seelsorgerliche Praxis. Im Datenmaterial finden sich demgemäß unterschiedliche Verhaltensweisen mit je eigener Stärke. Die Heimseelsorge könnte noch häufiger und systematischer von ihnen Gebrauch machen, scheint aber nicht hinreichend darauf eingestellt, das Repertoire des Möglichen konsequent auszuschöpfen. Vermutlich orientieren sich die Seelsorgerinnen und Seelsorger zumeist an anderen Maßstäben, z.B. denen des ersten Seelsorgetyps, die in der Praxis mehr Gewicht zu haben scheinen. Der erste Hauptteil zeigte hingegen,1097 dass die anthropologischen Elemente den Dienst in Pflegeheimen maßgeblich bestimmen. Das bedeutet für die seelsorgerliche Praxis, dass auch sie auf die anthropologischen Grundlagen nicht verzichten kann. Die Ergebnisse des zweiten Hauptteils bestätigen die im ersten Hauptteil postulierte Relevanz der Anthropologie auf empirischem Wege und erklären einige der beobachteten Interaktionsmodi. Die Seelsorge in stationären Einrichtungen stellt insofern auch eine Herausforderung für die theologische Anthropologie dar, denn die Pflege des Humanum kann im Heim zu einem Anliegen von höchster Priorität, ja dem Motiv schlechthin avancieren. Im Kontext von Verfall, Verlust, Einschränkung und Abhängigkeit kann die Anthropologie zu der Dimension werden, die der Heimseelsorge sowohl eine Begründung liefert als auch eine Kontur verleiht. Anthropologische Erwägungen sind somit Themen und Gegenstand von höchstem Rang. Seelsorgende sind herausgefordert, Rechenschaft darüber abzulegen, welche Aspekte des Menschenbildes durch das jeweilige Sich-Verhalten zur Geltung gebracht werden sollen: Geht es in erster Linie um Bekräftigung der Menschenwürde? Soll der Gesichtspunkt der Sozialität die Seelsorge leiten? Soll die Leibsorge den Schwerpunkt bilden? Oder sollen alle drei Aspekte gleichermaßen zum Tragen kommen? Aus dem Gesagten folgt, dass eine Heimseelsorge, die sich bewusst von anthropologischen Prämissen leiten lässt, zu ihrer Begründung nicht zwingend der Ethik bedarf. Ebenso wenig ist das Spezifikum der Seelsorge an Pflegebefohlenen ausschließlich in der Thematisierung des Religiösen zu suchen, wie es für die angeführten Praxishilfen, in denen Gottesdienst und Andacht, religiöses Ritual, Kirchenjahr oder theologische Themen breiten Raum einnehmen, zentral
1096 Vgl. Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge. 1097 Vgl. I.E.1.
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scheint.1098 An ihnen zeigt sich ein deutliches Interesse, theologische Inhalte in der Seelsorgearbeit zu kommunizieren und das Religiöse expressis verbis zur Sprache zu bringen. Ein weiteres Spezifikum findet sich, wie es am Seelsorgetyp II deutlich wird, darin, dass kirchliche Seelsorge innerhalb des christlichen Menschenbildes operiert, es veranschaulicht und ihm unterschiedliche, auch säkulare Erkenntnisse, Methoden und Konzepte dienstbar zu machen versteht mit der Intention, belebende Kräfte im Pflegebedürftigen freizusetzen. Eine anthropologisch fundierte Pflegeheimseelsorge kann demnach psychologische, psychiatrische, pädagogische, therapeutische, medizinische, biologische, pflegerische, geriatrische, kulturelle und andere Erkenntnisse in die seelsorgerliche Arbeit integrieren und fruchtbar machen, sofern sie zur christlichen Anthropologie kompatibel sind. Seelsorge im Pflegeheim ist deshalb in Anlehnung an Stollbergs Definition der Seelsorge als „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“1099 als Anwendung unterschiedlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse im kirchlichen Raum zu bezeichnen. Das „Proprium“ der Heimseelsorge wäre demnach die ihr zugrunde liegende Anthropologie in Verbindung mit dem Ort, an dem sie sich (unter Berücksichtigung verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen) entfaltet. In erster Linie geht es ihr um Förderung des Menschseins, weniger um Förderung des Christseins.1100 Einer anthropologiebezogenen Heimseelsorge muss es demnach darum gehen, nicht nur intuitiv, flüchtig und unreflektiert, sondern systematisch und konsequent an das christliche Menschenbild anzuknüpfen und es nach seinen Implikationen für die Praxis zu befragen. Ein solcher anthropologischer Zugang erschließt differenzierte und variantenreiche Optionen der Seelsorge jenseits des Wortes, an denen erkennbar wird, dass die verbale Kommunikation keineswegs die einzige oder gar höherwertige Möglichkeit seelsorgerlicher Begleitung ist. Ein wechselseitiges Geben und Nehmen oder das Erleben von Sozialität erschöpfen sich nicht im verbalen Austausch. Auch ein „organismischer Dialog“ (Lückel) unter Rückgriff auf nonverbale, leibliche Interaktionsformen kann, wie weiter unten gezeigt werden soll, kommunikativ, gehaltreich und sinnvoll sein und zur Vitalisierung und Lebensqualität Pflegebedürftiger entscheidend beitragen.
1098 Vgl. Fußnote 25. 1099 Stollberg, D., Wenn Gott menschlich wäre, 33. 1100 Vgl. Stollberg, D., Mein Auftrag – Deine Freiheit. Thesen zur Seelsorge. München (1972).
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Eine Seelsorge, die sich von anthropologischen Grundsätzen bestimmen lässt, ist zugleich eine erfahrungsbezogene: Indem sie versucht, Pflegebedürftigen zu „Erlebnissen“ zu verhelfen, strebt sie nach Erfahrungsermöglichung. Das Erlebte soll sich zur Erfahrung verdichten, die eine Grundbedingung des religiösen Lebens ist. Ohne sie kann die religiöse Dimension der Wirklichkeit nicht erschlossen werden, denn Erfahrung bildet eine „Grundkategorie von Religion“ und bietet sich geradezu als deren „Elementarbegriff“ an.1101 In ihm sind „inneres und äußeres Erleben, Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Geschichte und Natur … vereinigt“1102. ‚Erfahrung‘ meint also jenen „umfassenden Lebensvorgang des Er-fahrens bzw. Er-lebens der gesamten mehrdimensionalen Wirklichkeit: Leben heißt Erfahrungen machen. So gesehen ist Erfahrung ein unabgeschlossener Prozess in der Zeit, die sukzessive Aneignung äußerer und innerer Eindrücke“1103. Dies bedeutet, dass ein poimenischer Ansatz, der unter Anknüpfung an humane Ressourcen dem Pflegebedürftigen zu Erfahrungen verhelfen will, auch die Ermöglichung einer religiösen Erfahrung impliziert, da diese sich inmitten der mehrdimensionalen Wirklichkeit erschließt. Indem die anthropologische Seelsorge mitwirkt, das Erfahrungspotenzial eines Menschen zu heben, trägt sie zugleich zu einem Vordringen zur kontinuierlichen Schöpfermacht Gottes (Creatio continua) im je individuellen Leben bei und macht sie als eine Kraft erlebbar, die „in den Schwachen mächtig ist“ (2. Kor. 12,9). Im Kontext stationärer Pflege, zu deren Determinanten auch die Körperzentriertheit gehört, bietet es sich an, die Leiblichkeit des Menschen, die einen entscheidenden Identitätsfaktor darstellt, poimenisch ernst zu nehmen. Bei dem Versuch, leibliche Möglichkeiten seelsorgerlich fruchtbar zu machen, kommt es gegenüber Naurath allerdings zu einer Akzentverschiebung: Sie versteht die Leiblichkeit als Ausdruck der „Geschöpflichkeit“ bzw. „Fragmentarität des Lebens“,1104 an der „die Verletzungen, die Brüche, die Abhängigkeiten in concretu sichtbar werden und damit Idealisierungen, Illusionen und Abstraktionen, die eine Realisierung von Ganzheit intendieren, ad absurdum führen“1105. Dem ist zwar nicht zu widersprechen, es muss aber doch – gerade mit Blick auf die Erfordernisse der Heimseelsorge – festgehalten werden, dass der Leib mit seinen Ressourcen und seinem Erlebnisreichtum gleichwohl Träger belebender, schöpferischer Kräfte bleibt. Der Leib ist auch Ort der Gnade, denn er ist mehr
1101 1102 1103 1104 1105
Lücht, J., Kirchenreform durch Öffnung zur Religion, Diss., Hamburg (1976), 316. Ebd. Ebd., 317. Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge, 164. Ebd., 166.
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als nur Körper1106, Natur oder Physiologie. Er ist nicht nur Feind, sondern zugleich Freund, er ist nicht nur Hütte (2. Kor. 5,1), sondern zugleich Tempel Gottes (1. Kor. 6,19). Leben und Tod sind in ihm gleichermaßen mächtig und lassen ihn insofern zu einem „doppelsinnigen Gleichnis“1107 werden. In der Heimseelsorge sollte deshalb ein anderer poimenischer Schwerpunkt gesetzt werden, als Naurath ihn für die Krankenhausseelsorge sieht, denn auch sie weiß, dass „die Leiblichkeit als Geschöpflichkeit einen über sich hinausweisenden und transzendierenden Charakter“1108 hat und also ein Ort religiöser Erfahrung ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann es geraten sein, die Leiblichkeit im Kontext der Heimseelsorge zu „pflegen“ und gerade hier Seelsorge als Leibsorge zu kultivieren. In diesem Kontext, der Lebenshilfe leisten und das Aufleben fördern will, geht es entscheidend darum, das Leib-bezogene Erfahrungspotenzial des pflegebedürftigen Menschen aufzudecken und so einen Segensraum zu schaffen, der vor den augenscheinlichen Beeinträchtigungen, Behinderungen und Beschränkungen stationär Versorgter nicht voreilig kapituliert. Wie dieses gelingen kann, soll im Folgenden anhand exemplarischer Beispiele, die sich am empirischen Material veranschaulichen lassen, aufgezeigt und konkretisiert werden. Zuvor sei noch auf einen weiteren begrüßenswerten Aspekt der anthropologisch fundierten Seelsorge hingewiesen: Die praktizierten Interaktionsweisen leisten auch einen Beitrag zur Profilierung des Pflegeheims als Lebensraum. Sie machen deutlich, dass selbst an diesem Ort intensive, wohltuende, positive, belebende, bereichernde, tröstende, stärkende, motivierende usw. Erfahrungen zu machen sind. Ein Leben in stationärer Obhut ist somit keineswegs dem Totsein gleichzusetzen. Pflegeheime sind deshalb auch von Hospizen, in denen Tod und Sterben im Vordergrund stehen, deutlich zu unterscheiden. Eine große Herausforderung für Pflegeeinrichtungen besteht deshalb darin, geeignete Lebensbedingungen zu schaffen und in der seelsorgerlichen Begegnung vitalisierende, Lebensgeister weckende Impulse von stimulierender Vitalkraft zu setzen. Ein solcher Ansatz bedeutet keineswegs eine Verdrängung des Leides oder des Todes. Vielmehr geht es darum, die Not der Pflegebedürftigkeit zu durchbrechen und einen Kontrapunkt zur (Fixierung auf die) Gebrechlichkeit zu setzen, indem Pflegebedürftigen zu Erfahrungen verholfen wird, die es erlauben, stationäre Einrichtungen nicht nur unter der Perspektive des Leides, des Defizits oder des Sterbens wahrzunehmen. Zugleich trägt dieser Ansatz der Tatsache Rechnung, dass viele Menschen, die ihren Lebensabend in stationärer Obhut 1106 Vgl. I.E.1.d. 1107 Vgl. Stählin, W., Vom Sinn des Leibes, Stuttgart (1930), 87ff. 1108 Naurath, E., Seelsorge als Leibsorge, 166.
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verbringen, an diesem durchaus für längere Zeit verweilen.1109 Seelsorgende in Pflegeheimen gleichen somit Fährtensucherinnen und –suchern, die Ausschau halten nach Spuren des Lebens und der Belebung. Werden solche gefunden, legen sie sie frei und beschreiten sie. Freilich steht die Heimseelsorge damit in einer (mehrfachen) Grundspannung, die auch, wie bereits anklang, durch einen Anthropologiebezug in ihr selbst angelegt ist: Sie bewegt sich in einem Umfeld des Abbaus von Kräften, will aber zugleich Ressourcen ausschöpfen;1110 sie glaubt an unverlierbare Möglichkeiten und unentdeckte Potenziale, weiß aber zugleich um die Grenzen des Lebens und menschliche Sterblichkeit; sie versteht den Menschen als Gottes Ebenbild und zugleich als vergänglichen Staub; sie ist unentwegt mit dem Tod konfrontiert und kann sich doch nicht durch ihn bestimmen lassen; sie ist mit dem unentwegten Ableben konfrontiert und will doch Hilfe zum Aufleben sein. Eine weitere Qualität des anthropologischen Ansatzes liegt darin, dass er dem Rückzug der An- und Zugehörigen von Pflegebedürftigen entgegenwirkt, der sich dem modernen, erlebnisorientierten Menschen nahelegt, der glaubt, nichts mehr „tun“ zu können oder der meint, es komme „doch nichts mehr an“. Hier kann eine anthropologieorientierte Seelsorge vielfältige Möglichkeiten und Begründungen aufzeigen, die den Besuch Pflegebedürftiger sinnvoll machen und dafür sprechen, den Gang ins Pflegeheim doch zu wagen. Eine anthropologiebezogene Seelsorge dürfte dem Menschen der Erlebnisgesellschaft1111 leichter vermittelbar als z.B. eine „verkündigende“ oder eine „ethische“, da auch diesem Seelsorgetyp im weitesten Sinne etwas von „Erlebnisermöglichung“ innewohnt. In der Begegnung mit Pflegebedürftigen kommt es allerdings zu einer Verlagerung der Absicht: Es geht der Seelsorge nicht primär darum, dem hinfälligen Menschen durch Bereitstellung unentwegter „Erlebnisangebote“ zu einem seelsorgerlichen „Entertainment“ zu verhelfen und sich den Regeln der Erlebnisgesellschaft zu unterwerfen. Vielmehr soll dem Menschsein durch Ermöglichung von Lebensfreude, Genuss- und Erlebnisfähigkeit zu seinem Recht verholfen und so die Tür zur Erfahrung von ‚Gnade‘ und Gottes Wirken einen Spalt weit geöffnet werden. Insofern zeigt sich im Erfahrungbezug sowie in der Ressourcen-Orientierung der Seelsorge zugleich ein Kontextbezug, der
1109 Zu den Verweilzeiten Pflegebedürftiger vgl. I.B.9.b. 1110 Der Theorie nach ist die Rehabilitation und Ausschöpfung von Ressourcen sogar ein pflegerischer Grundsatz. 1111 Der Begriff, mit dem ein typisches Kennzeichen gesellschaftlicher Wirklichkeit beschrieben wird, geht auf die Gesellschaftsanalyse des Kultursoziologen Schulze zurück, vgl. Schulze, G., Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. (1993, 3. Aufl.).
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auch nicht von den gesellschaftlichen Gegebenheiten absieht, sondern sie im seelsorgerlichen Handeln berücksichtigt.
1. Konkretionen der Leibsorge 1.1. Leibsorge als Pflege des Visuellen Einige Male ist eine Pflege des Visuellen zu beobachten,1112 die insbesondere bei altersverwirrten Menschen ein guter Ansatz ist, da bei ihnen das gesprochene Wort schnell an eine Grenze stößt. In der Erinnerungsarbeit1113 sind sog. „Trigger“ bekannt, die geeignet sind, (angenehme) Erinnerungen zu wecken. Fotografien (aus früheren Lebensphasen) oder Darstellungen von zeitlosen Dingen, z.B. Blumen, Tieren, Wald, Sonne, Mond, Sterne usw. eignen sich hierfür besonders. Trigger besitzen das Potenzial, Erinnerungen und Emotionen zu wecken. Auch erleichtern sie im Gespräch die Konzentration auf einen Gegenstand, während es ohne derartige Hilfsmittel infolge der nachlassenden Konzentrationsfähigkeit Hochaltriger und Pflegebedürftiger häufig zu einem Springen von Thema zu Thema kommt und der rote Faden nicht gehalten wird. Die positiven Eigenschaften des Bildes erklären sich biologisch: Da sich das Bildgedächtnis in jenem Teil des Gehirns (Hinterhauptlappen) befindet, der bei der Alzheimerkrankheit erst sehr spät geschädigt wird, bleibt die Ansprechbarkeit durch das Bildhafte lange erhalten. Es löst einen stärkeren Reiz aus als das gesprochene Wort. Beispiele aus der Seelsorgepraxis veranschaulichen, wie etwa eine Fotografie mit präzisen Angaben einhergehende Erinnerungen zu wecken vermag, während eine bloße Frage nach solchen Details zu keiner entsprechenden Antwort führt.1114 Das Wissen um dieses Potenzial des Visuellen kann sowohl in der Einzelals auch in der Gruppenseelsorge genutzt werden. In der Einzelseelsorge ist es möglich, wie insbesondere bei Seelsorger Laurenz zu beobachten war, Gegenstände vor Augen zu führen und zu betrachten, nicht allein in der Absicht, Erinnerungen zu wecken, sondern auch um Gefühle zu stimulieren, Schönheit zu 1112 Z.B. ‚Sharing‘ oder Zeigen auf Gegenstände, vgl. auch Fußnote 1006. 1113 Vgl. Trilling, A. et al., a.a.O. 1114 Vgl. Depping, K., a.a.O, 48. Er schildert den Fall einer altersverwirrten Frau, die auf die Frage, ob sie Geschwister habe und in Reaktion auf einen zusätzlich vorgehaltenen Zettel mit dem Wort „Geschwister?“ antwortete, sie habe keine. Als ihr allerdings Bilder der Geschwister vorgelegt wurden, erkannte sie sie sogleich, nannte sie mit Namen und ordnete sie sogar in der Altersreihenfolge ein bei gleichzeitiger Sympathiezuschreibung.
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vergegenwärtigen, Ästhetisches wahrzunehmen und die allgegenwärtige Welt institutioneller Pflege transzendieren zu helfen. Als Gruppenarbeit bieten sich beispielsweise gemeinsam gefertigte Collagen oder Fotoalben an, womit zugleich eine soziale Erfahrung möglich wird.
1.2. Leibsorge als Pflege des Olfaktorischen Die Pflege des Geruchssinnes kann eine Option der Leibsorge im Pflegeheim sein, die jedoch nur ein einziges Mal (und auch nur ansatzweise) in der seelsorgerlichen Interaktion begegnete. Pastor Laurenz hält einer besuchten Dame eine prächtige Rose regelrecht vor die Nase,1115 lässt sie freilich nicht daran riechen, sondern fordert sie auf, deren Schönheit zu betrachten. Es hätte nahegelegen, Frau A. den Duft der Blume erleben zu lassen, um sie auf diese Weise auf den Frühling einzustimmen, der sich an jenem sonnigen Besuchstag im April mit Macht Bahn brach. Die ans Bett Gefesselte hätte mit Hilfe des Duftes eine Verbindung zur Natur herstellen können, die sich vor den Türen der Pflegeeinrichtung in ihrer Blütenpracht entfaltete. Bei Alzheimerkranken nimmt der Geruchssinn zwar ab,1116 dennoch kann auch bei ihnen versucht werden, mit Hilfe von Dufteindrücken das Gesprochene zu bekräftigen oder Erinnerung anzuregen. Da Düfte und Gerüche im Gehirn besonders gut gespeichert werden, lange haften bleiben1117 und auch in höherem Maße mit emotionalen Reaktionen einhergehen als Sehen, Hören und Tasten1118, erreichen sie mitunter sogar Personen, bei denen das gesprochene Wort oder andere Zugänge an Grenzen stoßen. Die Seelsorge kann deshalb den Geruchssinn nutzen und z.B. einen zur jeweiligen Jahreszeit passenden Duft zu einem Besuch mitbringen. Unzählige Duftnoten regen die Sinne an und können als Mitbringsel fungieren: „Riechen Sie doch mal!“ Ideal ist sicherlich, wenn es seelsorgerlich gelingt, einen Geruch erahnbar oder identifizierbar zu machen, der bei Besuchten Erinnerungen wecken kann: Bei Menschen mit ländlichem werden es andere Gerüche sein, als bei Stadtmenschen. Es wird von Demenzkranken berichtet, die ihr eigenes Zimmer mieden und es erst wieder zu betreten bereit waren, sobald vertraute Gerüche, z.B. aus der beruflichen Tätigkeit, wahrzunehmen waren (Farbgeruch bei einem Maler, Benzingeruch bei einem Automechaniker, Blumenduft bei einer Floristin
1115 1116 1117 1118
Vgl. SV-1. Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- und Bezugspersonenpflege, 60. Depping, K., a.a.O., 53; Trilling, A. et al., a.a.O., 80. Vgl. Burdach, K.J., Geschmack und Geruch, Bern (1988).
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usw.).1119 Dem Geruch kommt somit eine ähnliche Trigger-Funktion zu wie dem Bild. Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass bei einem Bild eine längere, dauerhafte Betrachtung sinnvoll und möglich ist, während die durch Duft geweckten Assoziationen kurz und flüchtig sind. Ein wiederholtes Riechen intensiviert keineswegs das emotionale Erleben. Vielmehr ist ein einmaliges, kurzes Aufnehmen eines Duftstoffes angeraten.1120
1.3. Leibsorge als Pflege des Taktilen Dass auch die Pflege des Taktilen eine sinnvolle seelsorgerliche Option ist, wird an dem facetten- und lehrreichen Beispiel der Interaktion Pastorin Papes mit Frau F. (SII-6) deutlich, auf das noch einige Male rekurriert wird. In der frühen Entwicklungsphase des Menschen spielt das Taktile eine zentrale Rolle zur Erfassung der Umwelt. Wie bedeutsam dieser Prozess für das gesamte Leben ist, lassen Begriffe wie ‚er-fassen‘, ‚be-greifen‘, (Gedanken) ‚fest-halten‘ usw. erahnen. Im Haptischen erschließt sich nicht nur für Demenzkranke ein Sinneskanal, der für die seelsorgerliche Aktion nutzbar gemacht werden kann. Diese Möglichkeit mag gerade auch mit Blick auf die Frauen-Generation, die einen prozentual hohen Anteil der Bewohnerschaft in Pflegeeinrichtungen ausmacht, besonders reizvoll sein, denn viele von ihnen sind vertraut mit unterschiedlichen Handarbeiten (Häkeln, Stricken, Sticken). Häufig wurden diese Tätigkeiten bis ins hohe Alter, dann sogar verstärkt, ausgeübt, und manches Familienglied oder die Kirchengemeinde wurde mit der Frucht solchen Schaffens beglückt. Eine besonders ausgeprägte taktile Geschicklichkeit und Sensibilität kann bei vielen Frauen vorausgesetzt werden. Drei Arten von Objekten lassen sich unter dem Aspekt des Haptischen und Taktilen unterscheiden: Erinnerungsstücke, Ersatzstücke und Übergangsobjekte:1121 Erinnerungsstücke sind Gegenstände aus der persönlichen Lebensgeschichte eines Menschen, die helfen, die Vergangenheit aufleben zu lassen oder Gefühle zu wecken. Mitunter finden sich solche Gegenstände bei den Besuchten (Bilder1122, Fotos1123, Talisman1124) und geben einen Hinweis auf wichtige Themen oder Personen in deren Leben. Wie sich zeigte, hat Pastor Laurenz einen beson1119 1120 1121 1122 1123 1124
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Vgl. Grond, E., Altenpflege als Beziehungs- und Bezugspersonenpflege, 60. Vgl. van der Star, A., a.a.O., 74. Vgl. Depping, K., a.a.O., 51ff. Vgl. SIII-1;SV-1 (Fußnote 1007). Vgl. SV-6 (Fußnote 1006). Vgl. SV-7 (Fußnote 1005).
deren Blick für Derartiges: Mehrmals greift er solche Erinnerungsstücke auf, nutzt sie aber nur flüchtig. Ersatzstücke treten an die Stelle von Erinnerungsstücken, da solche z.B. verloren gegangen sind. Wo etwa eine alte Familienbibel nicht mehr existiert, tritt eine neue, ähnlich aussehende an ihre Stelle. Auch Miniaturnachbildungen von bestimmten Gegenständen, die eine mögliche Bedeutung im Leben eines Pflegebefohlenen hatten, können weiterhelfen und inspirieren. Schilderungen aus der seelsorgerlichen Praxis belegen, dass das Betasten-lassen bestimmter Gegenstände (Tierfigur, Kirche, Engel) mit bemerkenswerten Reaktionen rechnen kann.1125 Übergangsobjekte sind Gegenstände, die Kindern helfen, die Abwesenheit eines wichtigen Elternteils sowie die beginnende Ablösung von Vater und Mutter zu bewältigen. Häufig finden Stofftiere, Puppen oder Teddys, Kuscheldecken, ein Bettzipfel, ein Kissen usw. Verwendung. Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass solche Objekte auch bei Erwachsenen mit Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium wieder Bedeutung bekommen.1126 Vermutlich werden Gegenstände, zu denen bereits eine Beziehung bestand, bevorzugt angenommen (z.B. eine selbstgemachte Puppe, ein selbst gekauftes Stofftier). Frau G. etwa, auf deren Fensterbank sich ein großer Bär1127 befindet, den sie beim Besuch des Seelsorgers zu betrachten scheint, wäre möglicherweise für dieses vertraute Objekt besonders empfänglich. Derartige Gegenstände geben Halt, vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit, lindern Einsamkeit und erfüllen einen Menschen, der sich ihm mitunter fürsorglich kümmernd widmet, sogar eine Erfahrung von sinnvollem Sich-Betätigen.1128 Gegenstände unterschiedlicher Beschaffenheit können ebenso Objekte lustvollen Betastens sein, wie das erwähnte Beispiel der Frau F. lehrt: In der vierminütigen Interaktion mit der Seelsorgerin kommt es zu einem unentwegten, gegenseitigen, schweigenden Betasten der Kleidung, der Hände, des Gesichts. Manche meinen, die Struktur von Materialien bereite vor allem jenen Behagen, denen das Sprechen oder Sehen schwerfalle.1129 Mitunter kann sich während des Betastens sogar eine verbale Artikulation oder Assoziation einstellen. Weiche Oberflächen wie z.B. Fell, Satin, Seide, Federn o.ä. wecken möglicherweise besonders angenehme Empfindungen und wären deshalb in der Seelsorge 1125 Vgl. Depping, K., a.a.O, 52. 1126 Vgl. Klessmann, E., Wenn Eltern Kinder werden und doch Eltern bleiben, Bern (1990). 1127 Vgl. SV-7 (vgl. Fußnote 2005). 1128 Vgl. Depping, K., a.a.O., 53. 1129 Vgl. Trilling, A. et al., a.a.O., 81.
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bevorzugt einzusetzen. Dies mag unter anderem auch die wohltuende Wirkung von Tieren auf alte Menschen erklären. Dieses lehrreiche Beispiel einer intensiven taktilen Interaktion zwischen Frau F. und Seelsorgerin Pape lässt zugleich nach der Bedeutung des Motorischen und des Spielerischen fragen, da beides Aspekte des Beobachteten sind: Die Motorik ist auch im Fühlen, Betasten und taktilen Fingerspiel gefordert. Zugleich erweckt dieser nonverbale Dialog den Eindruck, hier „spielten“ zwei miteinander. In der Interaktion Papes mit Frau I. (SII-10) liegt ebenfalls etwas – im weitesten Sinne – Spielerisches: Sie betrachten Bilder in einem Buch und blättern in ihm herum, was beiden Freude zu bereiten scheint. Auch haben manche Besuche von Seelsorger Hamberg mit ihrem Scherzenund Späßchen-machen etwas „Verspieltes“ und werfen die Frage nach der Bedeutung des Spiels für die (anthropologische) Seelsorge auf.
1.4. Leibsorge als Pflege der Motorik Bei Alzheimerpatienten, aber auch vielen anderen Pflegebefohlenen, fallen häufig Ruhelosigkeit, Erregtheit, motorische Unruhe oder Umherlaufen auf.1130 Ein charakteristisches unruhiges Spielen mit den Fingern1131 oder Wippen mit dem gesamten Körper kann regelmäßig beobachtet werden. Zgola1132 deutet solche Phänomene als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Aktivität und entwikkelt auf der Grundlage dieser Annahme ein beschäftigungstherapeutisches Konzept, das sich von einzelnen Betätigungsangeboten bis zu einem tagfüllenden Beschäftigungsprogramm spannt. Grundlage ihres Ansatzes ist es, den unruhigen Menschen eine befriedigende Aufgabe anzubieten. Dies können z.B. gymnastische oder grobmotorische Übungen, Körperpflege und Hygiene, Hausarbeit, Mahlzeitenzubereitung, Bastel- oder Holzarbeiten sowie Ausflüge sein. Das Beispiel der Interaktion von Frau F. mit Seelsorgerin Pape scheint Zgolas Theorie, dass eine motorische Aktivität beruhigen und wohltun kann, zu bestätigen: Der Besuch strahlt Ruhe aus, und Frau F. scheint die Bewegungen ihrer Finger, Hände und Arme zu genießen. Das überrascht nicht, denn die Kultur des Pflegeheims fördert, wie bereits geschildert, die Passivität und zeichnet sich durch ihre Stille und Aktionslosigkeit aus. Es ereignen sich im Heim wenige soziale Kontakte, Begegnungen sind spärlich, es fehlen Kapazitäten für Beschäftigung, Rehabilitation und Aktivität. Das Bett dominiert die 1130 Vgl. I.B.6. + 18. 1131 Vgl. z.B. SII-4. 1132 Zgola, J., a.a.O.
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stationäre Pflegekultur und lässt Pflegebedürftige zunehmend müder und passiver, andererseits aber auch sehnsüchtiger und empfänglicher für stimulierende, motorische oder spielerische Angebote werden. Betätigungen und Aktivitäten ermöglichen zugleich Erfolgserlebnisse, wenn der pflegebedürftige Mensch erlebt, was er noch kann, oder was es Sinnvolles zu tun gibt. Die Seelsorge im Pflegeheim könnte deshalb auch die Option eines spielerischen oder nicht spielerischen Betätigungsangebot machen, indem beispielsweise eine kniffelige Aufgabe zu lösen gegeben wird oder ein Gegenstand zusammenzubauen ist, etwas zu basteln, zu puzzeln, ein Objekt (z.B. Rubiks Cube) zu bearbeiten oder Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen ist. Auch kann es für Pflegebefohlene befriedigend sein, das Gefühl zu haben, helfen zu können, etwa beim Falten der Taschentücher, Blumen gießen, Falten der Servietten oder Gottesdienstordnungen, Reinigen der Teelichthalter oder was immer in Vorbereitung eines Gottesdienstes möglicherweise zu tun ist. Bei extremer innerer Unruhe ist es einen Versuch wert, den propriozeptiven Bewegungssinn der/des Pflegebedürftigen anzusprechen mit Hilfe von einigen gemeinsamen Schritten oder auch einem längeren Spaziergang. Der gleichmäßige Rhythmus des Gehens kann helfen, diesen auf das gesamte Selbst zu übertragen und den unruhigen Menschen zur Ruhe kommen zu lassen. Bei allen derartigen Aktivitäten ist selbstverständlich darauf zu achten, dass ein Beschäftigungsangebot mit dem sozialen, intellektuellen und emotionalen Status einer pflegebedürftigen Person harmoniert und nicht als Unterforderung bzw. Beleidigung empfunden wird. Der Sinn einer Aufgabe muss einleuchten, oder es muss deutlich sein, dass es hier allein um die Freude am Tun bzw. den Spaß am Spiel geht.
1.5. Leibsorge als Pflege des Gustatorischen Mehrmals wurde im Verlauf dieser Arbeit der aufschlussreiche Besuch von Seelsorgerin Braune bei Frau B. (I-2) angesprochen, bei dem Essen und Trinken eine besondere Rolle spielen. Bei einem weiteren Besuch kommt das Thema ebenfalls zur Sprache, indem die Besuchte sich gegenüber dem Seelsorger abschätzig über das Essen im Heim äußert1133 und damit zum Ausdruck bringt, dass es gut wäre, würde eine schmackhaftere oder interessantere Speise gereicht.1134 Die „grosse, vielschichtige Bedeutung“ von Essen und Trinken im 1133 Vgl. SV-1. 1134 Das Thema Essen ist nach meinen Eindrücken, die ich in Pflegeheimen unterschiedlicher Trägerschaft sammeln konnte, regelmäßig Gegenstand von Beratungen der Heimbeiräte und Leitungsgremien, da es häufig Grund zur Klage gibt, z.B. dass die Speise nicht warm genug ist, dass Gemüse zerkocht ist, die Kartoffeln zu hart sind oder alles
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Heim „mit integrativ meist positiver Wirkung“ wurde bereits erwähnt.1135 Sie regt dazu an, auch in der Pflege des Gustatorischen eine Möglichkeit der Leibsorge im Pflegeheim zu sehen, die zu unterschiedlichen Angeboten führen könnte: So könnte die seelsorgerliche Begegnung zu einer Zeit des (gemeinsamen) Genießens werden, zu Besuch Kommende könnten etwas Genussvolles mitbringen, z.B. eine Süßigkeit, ein Stückchen vom Lieblingskuchen einer/eines Gepflegten, es könnte ein Gläschen Sekt (Frau B.!), Wein oder „Bierchen“ genossen werden, dem pflegebedürftigen Menschen beim Rauchen einer Zigarette/Zigarre assistiert oder ihm beim Stopfen des „Pfeifchens“ geholfen werden. Seelsorgerliche Besuche könnten unter der Maxime der Förderung der Gaumenfreuden erfolgen, wobei eine Kenntnis dessen, was einer/einem Besuchten „schmeckt“ die Voraussetzung eines solchen Handelns ist. Gerade angesichts der Eintönigkeit der kulinarischen Möglichkeiten im Pflegeheim könnte eine das Gustatorische fördernde Seelsorge einen Kontrapunkt setzen, den seelsorgerlichen Besuch zu einer besonderen „sinnlichen“ Erfahrung zu machen und einen wichtigen anthropologischen Aspekt von hoher Symbolkraft zur Geltung zu bringen. Ein gemeinsames Speisen bzw. Genießen stiftet zugleich auf besondere Weise Gemeinschaft, lässt die seelsorgerliche Begegnung intensiver werden und eröffnet möglicherweise sogar einen religiösen Horizont und weckt Konnotationen, z.B. an das Abendmahl, Psalm 23 (Vers 5a [Tisch decken im Angesicht der Feinde]) usw.
1.6. Leibsorge als Pflege des Spielerischen Wie bereits angesprochen wurde, finden sich bei den beobachteten Interaktionen Ansätze eines „Spiels“, wobei dieses Wort nicht zu eng ausgelegt werden darf im Sinne einer Betätigung, bei der Regeln zu beachten und Strategien zu bemühen sind. Auch das freie Spiel des Kindes mit Klötzchen, Lego, Figuren oder Kuscheltieren, das Kämmen der Puppe oder Ankleiden des Teddys sind spielerische Aktivitäten, nämlich zweckfreie Betätigungen, die ablenken, zerstreuen, entspannen oder befreien. Im Spiel kann der Mensch sich ausprobieren, nicht gelebte Seiten entfalten, ein Wagnis eingehen, Optionen testen. Das Spiel ist in besonderer Weise geeignet, die religiöse Dimension der Zweckfreiheit und Selbstdistanz1136 zu repräsentieren. In seiner Verwandtschaft versalzen ist. Auch eine mangelnde Abwechslung im Speiseplan kann Grund zur Klage sein. 1135 Vgl. Fußnote 1199. 1136 Gärtner, H., a.a.O., 44, stellt in ihrer Praxishilfe einige Überlegungen zu den Begriffen ‚Humor‘ und ‚Selbstdistanz‘ an, übersieht aber, dass sich gerade das Spiel besonders eignet, einen wichtigen Beitrag zur Förderung beider Größen zu leisten.
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zur Kunst und zur Ästhetik liegt seine Kraft, ein Gegengewicht zur Ethisierung des Glaubens zu bilden. Spielerisch wird ein Erfahrungsspektrum jenseits alles Zweckrationalen und Informativ-Sachlichen angesprochen. Spontaneität, Phantasie, Schöpferischsein und Muße werden durch das Spiel befördert. Dadurch kann es einen angstfreien Raum schaffen, der Belastungen, Kummer und Sorgen zeitweilig transzendieren hilft. Das Spielen bietet eine hervorragende Möglichkeit, einen besonderen Freiraum zu eröffnen, da es über die Kategorien des Machens, Habens und der Leistung hinausführt hin zu den Kategorien des Seins, der Authentizität und der expressiven Freude am Sein. Der Mensch kommt im Spiel auf einzigartige Weise zu sich selbst, erlebt Ausgelassenheit und Gegenwärtigkeit und pflegt den Wesenszug eines homo ludens1137. Indem das Spiel sich jeglichem Verwertbarkeitsdenken, Leistungsanspruch und Zweckrationalismus entzieht, eignet es sich in besonderem Maße für die Seelsorge im Pflegeheim. Ihr muss nämlich daran gelegen sein, die zweckfreie Dimension als Antwort auf das vielfache Leiden an der eigenen Passivität zu kultivieren. So können Pflegebedürftige im Spielen erfahren, dass das Leben lebenswert ist und Freude macht auch ohne aktiv, produktiv oder leistungsfähig zu sein. Genießen, Muße und Sein haben ihre Zeit und sind in der stationären Seelsorge spielerisch zu fördern, denn nun ist die Zeit für solche Erfahrungen gekommen. Auch ist es die Zeit der Befreiung von der „Last des Gesetzes“, weil im Spiel alles Denken und Handeln im Sinne von Arbeit und Nutzen, Leistung, Lohn und Strafe, Zwang und Gewalt verlassen wird und eine herrschafts- und zweckfreie, Selbstfindungen und menschliche Begegnung fördernde Kommunikation zu erleben ist. Die Heimseelsorge könnte dementsprechend darauf eingestellt sein, spielerische Originalität zu entwickeln und sich ein umfangreiches Repertoire an Spielen und Betätigungen anzueignen. Sowohl Demenzkranken als auch anderen Pflegebedürftigen wird eine solche Seelsorge hilfreich sein und ‚Evangelium‘ erlebbar machen. Für demenziell Erkrankte ist eine spielerische Seelsorge insofern hilfreich, als die Krankheit das Denken und jene Teile des Gehirns angreift, die für die Vernunft zuständig sind. Im Gegensatz dazu bleiben die schöpferischen Fähigkeiten jedoch noch lange erhalten. Hinzu kommt, dass diese Fähigkeiten während des größten Teils des Erwachsenenlebens zumeist durch den Intellekt eingeschränkt wurden. In der Demenz werden Menschen
1137 Vgl. Schiller, F., Über die ästhetische Erziehung des Menschen [1795], Reclam, Stuttgart (2000): „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“; Huizinga, J., Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1939], Reinbek (1994).
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wieder so frei wie in ihrer frühen Kindheit und deshalb häufig empfänglich(er) für das Spiel.1138 Das Spielerische hat eine Verwandtschaft zur Musik1139 insofern, als beide eine andere ‚Welt‘ eröffnen und eine rekreative, vitalisierende Dimension besitzen. Zu Recht meint Martin Luther, beim Singen und Spielen gleiche der Mensch den Engeln, weil beides ‚leicht‘ macht und in ‚höhere‘ ‚Sphären‘ versetze.
1.7. Leibsorge als Pflege des Musischen Mehrmals kommt in den seelsorgerlichen Interaktionen Musik zum Einsatz: Pape, Hamberg und Laurenz bedienen sich ihrer; Hamberg ist bei seinen Besuchen sogar mit einer Flöte ausgerüstet. Pape und Laurenz wiederum sind zum Singen jeweils veranlasst durch ihr Wissen um die Bedeutung der Musik im Leben der Besuchten, was in den Interaktionen Hambergs keine Rolle zu spielen scheint. Er singt und spielt Flöte in der Annahme, seine Musik könne (jede/n) erfreuen und zerstreuen. Eine kontextlose Stimulation durch Töne oder Musik ist allerdings kritisch zu sehen,1140 wie auch eine indifferente (musikalische) Beschallung der Räume eines Pflegeheimes keine rechte Begründung haben dürfte. Kernstück der musikalisch-seelsorgerlichen Begegnung sollte allein der Dialogaufbau sein, der die Vertrautheit mit einer besuchten Person voraussetzt. Unter dem Gesichtspunkt der Anthropologie ist die Musik nicht deshalb bedeutsam, weil zu unterstellen wäre, dass jeder Mensch musikalisch sei oder dass der Musik an sich ohne Berücksichtigung eines Kontextes eine generalisierbare Wirkung zuzuschreiben sei. Auch kann keineswegs eine allgemeine Verstehbarkeit jeglicher Musik unterstellt werden. Anthropologisch interessant ist vielmehr die Tatsache, dass Musik eingebettet ist in soziale, historische und insbesondere individuell-biografische Zusammenhänge.1141 Eine Seelsorge, die die Potenziale der Musik nutzen will, muss sich deshalb auf die Suche nach der biografischen Relevanz der Musik im Leben einer/eines Pflegebedürftigen machen, da nur eine individuell-biografische Bedeutsamkeit seelsorgerliche Kraft hat.1142 Es kommt 1138 Vgl. Trilling, A. et al., a.a.O., 30. 1139 Lödel, R., a.a.O., 44, merkt unter Rückgriff auf Martin Luther an, dass der Mensch beim Singen und Spielen den Engeln ähnlich sei, zeigt in ihrer Praxishilfe dann aber lediglich die Bedeutung und Möglichkeit des Musikalischen auf (44 – 67). 1140 Vgl. Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O., 70. 1141 Vgl. Muthesius, D., a.a.O. 1142 Ebd., 9.
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in der Seelsorge also darauf an, eine entsprechende „Spur“ zu finden, die die Musik im Leben eines Menschen „eingegraben“ hat (Munro). Dabei wird sich zeigen, dass eine solche Spur häufig zurückführt in die Kindheit und Jugend.1143 Das macht es häufig erforderlich, an diese Zeit mit ihren Melodien und Stilrichtungen anzuknüpfen, wenn unbekannt ist, welchen musikalischen Geschmack eine besuchte Person hat. Die Musiktherapie unterscheidet ergotrope (= aktivierende, stimulierende) sowie trofotrope (= beruhigende, entspannende) Musik. Die Seelsorge wird auch entscheiden müssen, ob sie einen rezeptiven oder aktiven Gebrauch von ihr machen will. Im einen Fall bleiben die Pflegebefohlenen Hörende, im anderen Fall machen sie singend, summend oder sich rhythmisch bewegend mit. Seelsorgende, die die Potenziale der Musik nutzen wollen, werden sehr bewusst zu entscheiden haben, wie und in welcher Absicht sie Klänge einsetzen wollen: Wenn das Kognitive nicht mehr ansprechbar ist, bietet sich die Musik als eine Alternative; wenn Unruhe in einem Pflegebefohlenen wahrzunehmen ist, kann ein Gesang/ein Musikstück beruhigen; wenn Traurigkeit oder innere Regungslosigkeit auszumachen sind, vitalisiert möglicherweise eine geeignete Melodie; auch kann ein Musikstück als eine Art Mitbringsel (statt Blumen o.ä.) dienen, von dem angenommen wird, es könne dem/der Besuchten „aus der Seele spielen“ oder positive Erinnerungen wecken; gemeinsames „Musizieren“ (Singen, Summen, Taktschlagen, Rhythmusklopfen) selbst bei eingeschränktesten Möglichkeiten kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder Gemeinschaftsempfinden bewirken und Einsamkeit etwas zerstreuen. Mitmachen beim Musizieren kann vitalisieren; warum nicht auch einmal somnolente (schlaffördernde) Klänge ertönen lassen, um Entspannung zu fördern, das Einschlafen zu erleichtern und eine Schlafhilfe anzubieten? Auch das kann seelsorgerlich sein. Es ist ferner zu überlegen, ob das Erklingenlassen von Musik (summen, singen, Flöte spielen, ein Stück (vom Tonträger) vorspielen) sogar bei Schlafenden bisweilen noch eine mögliche, keineswegs absurde seelsorgerliche Zuwendung sein kann: Die Schlafforschung beobachtete nämlich, dass Musik, mit der Schlafende, die sich in der Traumphase befanden (REM-Phase), beschallt wurden, direkt (als Musik!) in den Traum integriert wird. Sie wird anders als sonst nicht in Symbole – die eine Stellvertreterbedeutung erhalten – umgewandelt, sondern passiert ungehindert die Traumwelt. So kann z.B. das Glockengeläut einer Kirche „eingebaut“ werden in eine geträumte Hochzeitsszene, das Klopfen an der Tür wird zum Pochen am Tor eines Schlosses oder das Weinen
1143 Ebd., 257.
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eines Babys wird zum Schrei im Traum, der aufwachen lässt.1144 Es ist deshalb denkbar, eine beruhigende Musik oder ein Stück, von dem angenommen wird, eine besuchte Person könne es mögen oder es würde es ihr etwas bedeuten, auch dann noch vorzuspielen, wenn diese in einem schlafenden, schläfrigen oder apathischen Zustand angetroffen wird. Stets gilt beim Gebrauch der Musik, wie auch sonst in der Seelsorge, das Prinzip des Verstehens und der Einfühlung als Voraussetzung für den musikalischen Dialog. Dabei kann die Seelsorge mit (Schwerst-)Pflegebedürftigen viel vom musiktherapeutischen Umgang mit Komapatienten1145 lernen, bei dem auf den Gebrauch von Instrumenten oder Tonträgern verzichtet und allein auf die menschliche Stimme gesetzt wird: Nachdem geeignete Vorbereitungen einer (nicht länger als zehn Minuten dauernden) musiktherapeutischen Begegnung geschaffen sind, konzentriert sich die Therapeutin/der Therapeut auf den Atemrhythmus des Komapatienten und stellt sich auf dessen (variierendes) Tempo, Rhythmus, Dynamik und Ausdruck (flach, flüchtig, ängstlich, kräftig, ruhig, gelassen, hastig usw.) ein. Auf diese Weise kann die Individualität des Atmens, die selbst noch bei beatmeten Patienten wahrzunehmen ist, ergründet werden. Musiktherapeutisch kann dieser Atemrhythmus aufgenommen und genutzt werden, indem die seelsorgende Person in demselben Rhythmus mitatmet und improvisierend mitsummt oder mitsingt. Im Verlauf der musiktherapeutischen Begegnung kann die Improvisation klarer phrasiert werden. Tonart und Stil sind die gesamte Zeit auf den Komapatienten eingestellt und können romantisch, liedhaft, choralartig, auf der Grundlage dur-moll-tonaler, spanischer, orientalischer, modaler oder moderner Skalen ausfallen. Auch ein eventuell vom Komapatienten hervorgebrachter Ton kann aufgegriffen werden. Jede Äußerung, Veränderung, Bewegung wird wahrgenommen und genutzt. Auch wenn die mit-unter reflexhaften Bewegungen Komatöser bekannt sind, werden sie dennoch als einzige Äußerungsform verstanden, die einem solchen Patienten zur Verfügung steht. Diese Interpretation ist auch für die Seelsorge mit Pflegebedürftigen interessant, da sie häufig auf Menschen trifft, die sich in einem schlafenden oder schläfrigen Zustand1146 befinden, wie es auch bei dieser Untersuchung mehrmals zu beobachten ist. Zu achten ist in solchen Situationen auf unscheinbarste Zeichen und Reaktionen, die z.B. an Bewegungen der Augenlider, den Fingerbewegungen oder anderen subtilen Ausdrucksformen zu entdecken sind. Das Atmen könnte wiederum, wie schon für die Musiktherapie bei Komatösen, auch für die Seelsorge im Pflege1144 Vgl. Decker-Voigt, H.-H., a.a.O., 81. 1145 Näheres bei Gustorff, D./Hannich, H.-J., a.a.O. 1146 Vgl. die Aufzählung unterschiedlicher Schlaf-ähnlicher Zustände, 325.
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heim ein Gegenstand besonderen Interesses sein, zumal die in der Theologie bedeutungsvollen Begriffe pneuma, animus oder spiritus noch ein Wissen um die seelische, geistige und religiöse Dimension dieses rein körperlich anmutenden Vorgangs bewahrt haben. Auch ist das Atmen für einige religiöse Praktiken, z.B. das leiborientierte Herzensgebet, zentral.
1.8. Leibsorge als Pflege des Atems Einige der dokumentierten Besuche (bei Schlafenden) können dahin gehend gedeutet werden, dass sich die Seelsorge hier auch auf das Atmen der Pflegebefohlenen einstellt und es bewusst wahrnimmt. In mehreren Szenen wird für einige Zeit geschwiegen und die Besuchten werden konzentriert wahrgenommen. Insbesondere der dreiminütige Besuch von Seelsorger Stempel bei der Wachkomapatientin Frau F. (SIV-6) zeigt Ansatzpunkte für ein seelsorgerliches Arbeiten mit dem Atmen. Allerdings ist während des etwa zweiminütigen schweigenden Verweilens des Seelsorgers am Bett der Besuchten nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es wirklich zu einer Fokussierung auf den Atemrhythmus der Komapatientin oder einer mitatmenden Einstimmung auf denselben kommt. Die Frage der Bedeutung des Atems und Atmens für die Seelsorge an Pflegebedürftigen liegt aufgrund der Beschreibung der Pflegekultur mit ihrem Verstummen und Symbolhaften bereits nahe. Die Seelsorge kann sich die Tatsache zunutze machen, dass das Atmen eng mit dem Seelischen verwoben ist. Wie sehr das der Fall ist, zeigt sich daran, dass der Grundrhythmus des Lebens mit seinem stetigen Wechsel von Ein- und Ausatmen extrem variabel ist: Er reicht von einer regelrechten Atemnot bei Furcht und Todesangst (die Luft wird „abgeschnürt“) bis hin zu dem Empfinden großer Erleichterung und Freude (einhergehend mit tiefen „Auf- und Durchatmen“). Ein „langer Atem“ ist Ausdruck innerer Ruhe oder Geduld. Zahlreiche Lehrbücher1147 leiten zum rechten Atmen an und verhelfen dazu, das Durchströmen des Körpers mit dem Lebensodem als Quelle körperlichseelischer Erbauung erlebbar zu machen. Insbesondere fernöstliche Lebensauffassungen haben etwas von dem Wissen um den Einfluss der Lebenskraft des Atems auf Leib und Seele bewahrt. Tai Chi etwa, eine Mischung aus Gymnastik, Atmung und Meditation, schult das bewusste Ein- und Ausatmen und fördert so innere Ruhe und Gelassenheit. Auch Qi Gong und Yoga sind in diesem Zusammenhang zu nennen. 1147 Vgl. z.B. Middendorf, I., Der erfahrbare Atem (1984); Hegi, F., Improvisation und Musiktherapie (1986).
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Das Atmen kann in der seelsorgerlichen Arbeit mit unterschiedlichen Akzenten relevant werden: Wenn Worte nicht mehr gesprochen werden können, kann sich in der Atemgemeinschaft eine Begegnungsebene erschließen und Gemeinschaft kann möglich werden durch gemeinsame Teilhabe an dem alle Menschen miteinander verbindenden Odem. Auf diese Weise kommt es zumindest zu einer „basalen Kommunikation“1148, die möglicherweise viel mehr kommuniziert, als es auf den ersten Blick scheinen will. Die Individualität und der Variantenreichtum des Atmens helfen der Seelsorge auch, die Befindlichkeit eines Menschen zu erkennen. Flacher, kurzatmiger, flüchtiger, hastiger, gleichmäßiger, unregelmäßiger, seufzender, ruhiger, langatmiger, tiefer, tonaler oder phrasierter Atem lassen die Seelsorgerin/den Seelsorger erahnen, wie es der/dem Pflegebedürftigen geht. Die jeweils wahrgenommene Atmung kann zudem vertont und ins Musikalische übersetzt werden. Eine solche Vertonung verleiht der/dem Pflegebedürftigen gleichsam „eine Stimme“. Einige Musik- und Atemtherapeuten sind der Ansicht, die Vokale A und O hätten einen besonderen (religiösen) Wert mit Heil-, Innen- oder Tiefenwirkung, wobei das A mit seinem „orgelartigen Klang“ Offenheit begünstigen solle.1149 Es wurde im ersten Hauptteil gezeigt,1150 dass Ängste und Depressionen im Pflegeheim häufig begegnen. Hier kann seelsorgerliche Atemhilfe eine wohltuende Möglichkeit sein, denn in einer bewussten Atmung findet sich eine Ressource ungeahnter Kräfte. Übungen können anleiten, den Atemraum zu erweitern, den Sauerstoffstrom belebend in verschiedene Körperregionen zu lenken oder einfach dem Durchströmen des Leibes und der Glieder mit Lebensodem nachzuspüren, um so zu (neuem) Lebensvertrauen zu finden. Es kann bei solcher Atemhilfe auch versucht werden, mittels bestimmter Farben die Atmung zu fördern. Rot etwa soll das Einatmen, Blau das Ausatmen fördern, dunkle Farben hemmen die Atmung.1151 Aus der Chirurgie sind spielerische Atemübungen bekannt, die sich auch für die Begegnung mit (demenziellen) Pflegebedürftigen eignen: Seifenblasen, Pustefußball oder die Blubberflasche zur Stimulierung flacher Atmung bieten sich hier an. Auch sollte in der Seelsorge, die die Potenziale des Atmens nutzen will, nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die Art und Weise des Atmens auf 1148 Vgl. Mall, W., Basale Kommunikation – Ein Weg zu anderen, in: Geistige Behinderung, 23 (1984), 1 – 16. 1149 Vgl. Hegi, F., Improvisation und Musiktherapie, Paderborn (1986), 83f. 307ff. 1150 Vgl. I.B.6. 1151 Van der Star, A., a.a.O., 102.
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einen Menschen mitunter überträgt: Es besteht deshalb die Möglichkeit, dass sich ein bewusstes, deutlich vernehmbares, ruhiges, tiefes Atmen auf die gepflegte Person wohltuend überträgt. Die vorangegangenen Überlegungen zum Atmen regen die Frage an, inwiefern seelsorgerliche Zuwendung das Wachsein eines Pflegebedürftigen voraussetzt. Seelsorge ist ein kommunikatives Geschehen, das sich insbesondere im Medium des Gesprächs zu vollziehen scheint. Daher ist zu fragen, inwiefern das Bewusstsein des Pflegebedürftigen Bedingung für eine sinnvolle seelsorgerliche Begegnung ist. Diese Überlegung ist auch angesichts der Tatsache anzustellen, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger in Pflegeeinrichtungen häufig auf Menschen treffen, die nicht „wach“ wirken. So treten die Seelsorgenden dieser Untersuchung mehrmals ans Bett (scheinbar) Schlafender, Schläfriger, Dösender bzw. Menschen, die sich in einem schwer definierbaren (Dämmer-)Zustand befinden.1152 Immerhin verweilen die Besuchenden an der Seite solcher Besuchten, zumeist allerdings kürzer als es bei einem Besuch durchschnittlicher Dauer der Fall war.1153 Oft geht es bei diesem Verweilen darum, festzustellen, ob die/der Besuchte tatsächlich schläft. Allein der bereits erwähnte Besuch Stempels bei der Wachkomapatientin Frau F. liefert ein Beispiel für eine längere seelsorgerliche Zuwendung, die unabhängig ist vom Reagierenkönnen oder Wachsein der Pflegebedürftigen.
1.9. Leibsorge als Pflege des Unterbewussten Wachheits- und Bewusstseinszustände, zumal bei Bettlägerigen, sind im Pflegeheim fließend und nicht immer eindeutig bestimmbar. Obgleich der Schwerpunkt dieser Untersuchung nicht auf den Pflegebefohlenen liegt, kann doch gesagt werden, dass mit unterschiedlichen Graden der Ansprechbarkeit und differenzierten Stufen der Wachheit zu rechnen ist. Pflegebedürftige können etwa apathisch, lethargisch, müde, matt, angestrengt, erschöpft, dösend, tagträumend, geistesabwesend, gedankenversunken, medikamentenbenebelt, tranceartig usw. wirken. Auch ist es möglich, dass eine Pflegebedürftige/ein Pflegebedürftiger die Augen während eines seelsorgerlichen Besuches geschlossen hält, obwohl er bzw. sie wach ist und die Seelsorgerin/den Seelsorger wahrnimmt, wie es einmal zu beobachten ist (SIV-3).
1152 Vgl. SI-3, SII-5, SIII-3, SIV-6, SV-3. Bei dem Besuch SIV-3 ist lange Zeit unklar, ob der besuchte Herr wirklich schläft oder sich nur, wie es den Anschein hat, schlafend stellt, um eine Interaktion mit dem Seelsorger zu vermeiden. 1153 SI-3 = 0‘57‘‘, SII5 = 0‘37“, SIII-3 = 0’53’’, SIV-6 = 3‘04‘‘, SV-3 = 1‘17“.
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Es ist zu fragen, ob die geschilderten Einsichten der Komaforschung, die beispielsweise für die Musiktherapie Konsequenzen haben, auch auf die Seelsorge an Pflegebedürftigen übertragbar sind. Auch hier werden Menschen angetroffen, die regungslos scheinen, weil sie dösen, schlafen oder etwa dement sind, so dass die Seelsorge nie sicher sein kann, ob eine besuchte Person wirklich schläft bzw. ob ihr Bewusstsein aktiviert ist, oder nicht. Zugleich ist zu bedenken, dass die Psychiatrie unterschiedliche Syndrome von Bewusstseinstrübungen kennt, z.B. delirante/amentielle Syndrome oder den Dämmerzustand1154, die in Kombination mit dem Phänomen des Hospitalismus mitunter einen Gemütszustand bewirken, der ein Mittelding zwischen Wachsein und Schlafen darstellt. Die Sterbeforschung wiederum differenziert zwischen mehreren „Bewusstseinen“. Rest1155 unterscheidet Haupt-, Unter- und Nebenbewusstsein, die er vom Unbewusstsein deutlich abgrenzt: Unter Hauptbewusstsein versteht er die mehr oder weniger klare Wahrnehmung der Realität (vor allem im Wachzustand); das Unterbewusstsein findet er in den intelligenten Äußerungen, deren verstandesmäßige Zusammenhänge und Herkünfte ausgeschlossen scheinen (z.B. bei Visionen und seelischen Automatismen); das Nebenbewusstsein wird für ihn erkennbar in den rational und intelligent erscheinenden Reaktionen der Sinne und des Körpers. Solche Bewusstseinsströme unterscheidet Rest deutlich vom Unbewussten, in dem er einen seelischen Vorgang sieht, der unbemerkt das bewusste Erleben begleite und beeinflusse (Triebtendenzen, Suggestionen, unterschwellige Erfahrungswerte). Bei Eintreten des sog. Gehirntodes sei der Mensch somit keineswegs „bewusstlos“. Die Bezeichnung ‚Bewusstlosigkeit‘ beziehe sich einzig auf das mit dem Gehirn eng verbundene Hauptbewusstsein. Innere, intelligente, stimmige, angemessene, personale, ich-hafte und andere Prozesse blieben weiterhin „mit Sicherheit wirksam“. Ein Komapatient auf der Intensivstation „erlebe“ demnach vollinhaltlich das Kommen seiner Angehörigen, die Sorge des Personals, die auf ihn gerichtete Liebe, besonders auch jene, die im Raum selbst nicht vorhanden sei. Nach Eintritt der Bewusstlosigkeit des Hauptbewusstseins im Sterben müsse demnach mit besonderer Wachheit des Unter- und Nebenbewusstseins gerechnet werden. Rest geht davon aus, der Mensch sei gerade im komatösen Zustand zu „Erfahrungen disponiert“, die den Helfern verschlossen blieben. Die Unterscheidung wach-schlafend bzw. bewusst-unbewusst würde damit ihre Relevanz bei der Entscheidung für oder gegen einen seelsorgerlichen Besuch (zumindest bei Komapatienten oder Sterbenden) verlieren. Die Seelsorge im Pflegeheim 1154 Vgl. Dörner K./Plog, U., a.a.O., 351ff. 1155 Rest, F., a.a.O., 136f.
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kann also an die Erkenntnisse der Koma- und Sterbeforschung anknüpfen und sich wohlbegründet für Besuche bei „Schlafenden“ entscheiden, da nicht auszuschließen ist, dass jene von einer solchen schweigenden Zuwendung profitieren.
2. Pflegebedürftigkeit und Lebensqualität Die bisherigen Gedankengänge ließen mehrfach das Thema der Lebensqualität anklingen, indem zahlreiche Möglichkeiten beschrieben wurden, hinfälligen Menschen kraft einer „anthropologischen“ Ausrichtung der Seelsorge zu einer Ermöglichung von Genüssen, Erleichterungen, angenehmen Empfindungen, Stimulationen ihrer Sinne, Erleben von Sinnhaftigkeit, kurz: einer Steigerung ihres Wohlbefindens zu verhelfen. Auch stellte in Zusammenhang mit den Ausführungen zur Menschenwürde die Frage, ob selbst noch bei Schwerstpflegebedürftigen „Lebensqualität“ zu unterstellen sei. Im Folgenden sollen dazu einige Überlegungen zum Thema angestellt werden, da von der Einschätzung des Sachverhalts Weichenstellungen für den Umgang mit Pflegebefohlenen sowie ethische Folgerungen abhängen. Nicht selten wird mit der Lebensqualität nämlich missbräuchlich argumentiert, um die Vernachlässigung Pflegebedürftiger plausibel zu machen und einen Rückzug von ihnen zu begründen. Es ist jedoch keineswegs so, dass das Leben mit einer Pflegestufe oder der Wechsel in eine Pflegeeinrichtung zwangsläufig zu einem totalen Verlust an Lebensqualität führt, der den pflegebedürftigen Menschen zwingend lebensmüde werden ließe, so dass er sich nichts anderes wünschen könnte, als den baldigen Tod. Gewiss sind bei jeder Verschlechterung des Befindens schmerzliche, nicht immer leichte Anpassungsprozesse erforderlich. Der Wechsel in ein Pflegeheim bedeutet fraglos eine gravierende Zäsur im Leben eines Menschen, die als ein kritisches Lebensereignis zu werten ist und geeignetes Copingverhalten (Bewältigungsleistung) herausfordert.1156 Häufig ist es aber überraschend zu beobachten, dass selbst Schwerstpflegebedürftige am Leben hängen und ihm noch etwas abgewinnen können, wodurch deren Lebenswillen für lange Zeit erhalten bleibt. Kapazitätsreserven sind zumeist viel länger mobilisierbar, als es allgemein vermutet wird. Für die Mehrzahl der in dieser Arbeit vorgestellten pflegebedürftigen Damen und Herren dürfte diese Einschätzung zutreffen, denn sie wirken keineswegs lebensmüde oder lebenssatt, obgleich einige von ihnen schon seit längerer Zeit bettlägerig sind. Diese schlichte Beobachtung könnte bereits eine Zurückhaltung gegenüber vorgefassten, aber stets subjektiven Kategorien nahelegen, die beurteilen wollen, was als Lebensqualität zu gelten hätte. Es ist 1156 Vgl. I.B.9.d.
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zu berücksichtigen, dass solchen Definitionen stets ein heuristischer, d.h. biografisch, weltanschaulich, kulturell bedingter Schlüssel zugrunde liegt, mit dem der Zustand und das Befinden anderer durch Außenstehende interpretiert wird. Diese höchst subjektiven Deutungsschemata sind für die Beurteilung von Lebensqualität jedoch untauglich, da sie erstens nur eine sehr eingeschränkte Perspektive erlauben und das Leben unter einem ganz bestimmten, begrenzten Blickwinkel betrachten. Zweitens rechnen sie nicht mit der Möglichkeit einer Anpassung an die neue Lebenssituation, wie sie jede ernste, chronische oder längere Erkrankung erfordert, wenn der erkrankte Mensch sich nicht aufgeben will. Eine „intraindividuelle Plastizität“ (Baltes) mit stets verbleibenden Gestaltungsspielräumen kann hingegen für jede Lebensphase unterstellt werden und wird unter anderem beeindruckend exemplarisch belegt durch Untersuchungen zur Lebenszufriedenheit querschnittsgelähmter Unfallopfer.1157 Andere Untersuchungen machen deutlich, dass die subjektiven Gesundheitseinschätzungen alter Menschen stets positiver ausfallen als die objektiven Untersuchungsbefunde, was nicht zuletzt ein Indiz für eine positive Lebenseinstellung selbst noch des hohen Alters ist.1158 Damit korrespondiert eine bemerkenswerte „hohe Lebenszufriedenheit auch Hochaltriger selbst unter ungünstigen Lebensumständen“1159, wie der Vierte Altenbericht es hervorhebt, ein als „Lebenszufriedenheitsparadox“ bekanntes Phänomen. Eine „überraschende Stabilität der Lebenszufriedenheit“1160 bis ins hohe Alter fällt auf, die als Folge einer enormen „psychologischen Widerstandfähigkeit (Resilienz)“1161 zu verstehen ist. Die Fähigkeit, selbst widrigsten Lebensumständen zu trotzen, stellt zugleich eine beträchtliche Ressource für Unterstützungs- und Hilfsangebote in unterschiedlichen Lebensund Seelsorgesituationen dar. Foucault1162 veranschaulicht am Beispiel des mittelalterlichen Narren, in welchem Maße biografische, weltanschauliche oder kulturelle Wertungen zu einer Einschätzung von ‚Lebensqualität‘ führen. Er zeigt, dass die Vernunft im mittelalterlichen Leben einen geringen Stellenwert besaß, mit der Folge, dass 1157 Vgl. Brickman, P./Coates, D./Janoff-Bulman, R., Lottery winners and accident victims: Is happiness relative?, in: Journal of Personality and Social Psychology 36 (1978), 917 – 927. Die Studie veranschaulicht, wie überraschend schnell eine Adaption an eine belastende Situation erfolgt und in der Regel zu der gewohnten Lebenszufriedenheit von einst zurückgefunden wird. 1158 BMFSFJ, Vierter Altenbericht, 352, Sp. 2. 1159 Ebd. 1160 Ebd. 1161 Ebd. 1162 Foucault, M., Madness and Civilization – A History of Insanity in the Age of Reason, New York (1965).
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Narren, die zuhauf durch die Straßen zogen, als Träger einer besonderen Gnade, sprich: Lebensqualität, gesehen wurden. Sie schienen frei von den Belastungen des Lebens, Todesangst und jedweder Unglückseligkeit. Verrücktheit, Kopflosigkeit, Naivität, Preisgabe des Rationalen u.dgl. konnten geradezu als heilig verstanden werden, wie Porter1163 zeigt. Anders als im Zeitalter der Vernunft, wurde der Verlust oder das Nicht-Verfügen(-Wollen/-Können) über kognitive Kapazitäten nicht als Bedrohung empfunden. Die Vermutung drängt sich auf, dass auch die Einstellung zur Demenz eine andere gewesen wäre als heutzutage. Die Beispiele zeigen, dass kulturelle Werte und Normen das Verständnis von Lebensqualität und die Definition von Krankheit und Gesundheit beeinflussen. Mit Blick auf die Lebenssituation Pflegebefohlener ist deshalb für einen radikalen Paradigmenwechsel zu plädieren, der eine größere Offenheit der Wahrnehmung erlaubt und Lebensqualität inhaltlich neu füllen kann. Freilich könnte gegen diese Überlegungen, die darauf aus sind, den Begriff Lebensqualität viel weiter als üblich auszulegen, der Einwand erhoben werden, die Pflegebefohlenen seien ja selbst von diesen Normen und Werten geprägt, die dazu führen, dass andere ihre Situation als nicht mehr lebenswert beurteilen. Dieses Argument ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Mit drei Überlegungen soll ihm begegnet werden: Erstens: Wie mehrfach anklang, ist nicht auszuschließen, dass das anthropologische Prinzip der Optimierung durch Selektion und Kompensation, wie es von Gehlen1164 beschrieben wurde, auch auf die Situation hinfälliger, pflegebedürftiger Menschen anwendbar ist. Wie sich beispielsweise bei Blinden oder Erblindenden eine stärkere Ausprägung des Gehör- und Tastsinns entwickelt, Leib und Seele also umdisponieren, Autisten oder Menschen mit Inselbegabung (Savants) mitunter durch ungewöhnliche Fähigkeiten auffallen (Hochbegabung, absolutes Gehör, fotografisches Gedächtnis usw.), Demenzkranke zumeist ein geradezu seismografisches Gespür für Emotionen bzw. emotionale Expressionen anderer entwickeln und selbst zu höchst differenzierten Gefühlen1165 imstande sind, so ist ebenso für den Fall der (fortschreitenden) Pflegebedürftigkeit die Ausprägung neuer Möglichkeiten denkbar. Die Einschränkungs- und Rückentwick1163 Porter, R., A Social History of Madness: The World Through the Eyes of the Insane, New York (1989). Porter findet sogar eine theologische Erklärung für seine These: „ A faith founded upon the madness of the Cross , which crusades against worldliness, which lauded the innocence of the infant, which valued the spiritual mysteries of contemplation, asceticism and the mortification of the flesh, and prized faith over intellect, could not help but see gleams of godliness in the simplicity of the fool”, 14. 1164 Vgl. Gehlen, A., Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden (1986, 5. Aufl.). 1165 Vgl. I.B.18.
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lungsprozesse des Alters eröffnen zugleich Reifungsmöglichkeiten und Kompetenzerweiterungen, die sich vermutlich teils durch individuelle Gestaltungskraft und eigenes Leisten, teils von selbst oder durch kompensatorische (externe) Unterstützung heranbilden. Ich spreche hier allerdings sehr bewusst von „neuen Möglichkeiten“, um dem Missverständnis zu wehren, ein schwerstpflegebedürftiger Mensch könne noch „sensationelle“ Fähigkeiten analog zu denen eines Blinden entwickeln, obwohl auch dies nicht völlig auszuschließen ist.1166 Tatsächlich reduzieren sie sich normalerweise im Verlauf der Hinfälligkeit zusehends. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die Pflegebedürftigkeit neue Wahrnehmungen1167 mit sich bringt und neue „Geschmäcker“ hervorbringt für Dinge, die zuvor bedeutungslos waren: Ein Besuch bekommt einen neuen Stellenwert, eine Berührung eine neue Qualität, ein freundliches Wort erreicht unbekannte Schichten, die Passivität des Daseins eines Pflegebefohlenen befördert eine ungewohnte Lust aufs Verwöhntwerden, die Sinne werden geschärft für das Unscheinbare, Leise, Subtile usw. „Wer liegt, wird ein anderer“1168, formuliert Schmid und weist damit auf den Umstand hin, dass das Sein das Bewusstsein und der Leib die Seele bestimmt. Es scheint deshalb falsch, aus der Perspektive eines Gesunden, Nicht-Pflegebedürftigen eine Situation ermessen zu wollen, die dem Beurteilenden nicht vertraut ist, in die er sich nur theoretisch hineinversetzen kann, die für ihn also lediglich mit den gewachsenen Kategorien interpretierbar ist, die ihm in der Phase der Nicht-Pflegebedürftigkeit erwuchsen. Zu Recht weist Post1169 deshalb auf die Bedeutung der Interpretation als heuristischem Schlüssel der Ethik und somit als Maßstab für den Umgang mit Demenzkranken hin und wirbt dafür, nicht mit vorgefertigten, bereits abgeschlossenen Kategorien den Zustand der Demenz (und: des Pflegebefohlenen, O.K.) zu beurteilen, weil solches nur zu einem negativen Urteil führen könne.
1166 Eine Bekannte erzählte von ihrer schwer demenzkranken Tante, die nicht mehr viel sprach und auch nicht immer wusste, wer die zu Besuch kommende Nichte war. Eines Tages fragte die Tante ganz unvermittelt, wann ihr Junge geboren werde. Die Nichte verstand diese Frage nicht, erst zwei Wochen später erfuhr sie, dass sie mit einem Knaben schwanger war. Man könnte meinen, hier habe sich eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit in der Demenzkranken entwickelt, wie sie auch sonst in mitunter erstaunlichen Formulierungen und Gedankenblitzen bei ihnen zu beobachten ist. Der Verfasser könnte davon zahlreiche Beispiele geben. 1167 Marie Luise Kaschnitz formuliert den Sachverhalt poetisch: „Das Alter ist wie ein Balkon, von dem man weiter und genauer sieht“, vgl. Gärtner, H. a.a.O., 9. 1168 Schmid, W., a.a.O. 1169 Post, S. G., a.a.O., 35 – 37.
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In Zusammenhang mit den Überlegungen zur Optimierung durch Selektion und Kompensation ist auch an die von Frankl beschriebene Kategorie der Einstellungswerte zu erinnern, vorausgesetzt, der pflegebedürftige Mensch ist zu solchen kognitiven Leistungen noch fähig. Frankl schreibt: „Das Leben erweist sich grundsätzlich auch dann noch als sinnvoll, wenn es weder schöpferisch, fruchtbar noch reich an Erleben ist. Es gibt nämlich eine weitere Hauptgruppe von Werten, deren Verwirklichung eben darin gelegen ist, wie der Mensch zu einer Einschränkung seines Lebens sich einstellt. Eben in seinem Sichverhalten zu dieser Einengung seiner Möglichkeiten eröffnet sich ein neues, eigenes Reich von Werten, die sicherlich sogar zu den höchsten gehören. So bietet ein scheinbar noch so sehr ... verarmtes Dasein noch immer eine letzte, ja nachgerade größte Chance, Werte zu verwirklichen. Diese Werte wollen wir Einstellungswerte nennen. Denn wie der Mensch sich zu einem unabänderlichen Schicksal einstellt, darauf kommt es hier an. Die Möglichkeit, derartige Einstellungswerte zu verwirklichen, ergibt sich also immer dann, wenn sich ein Mensch einem Schicksal gegenübergestellt findet, dem gegenüber es sich nur darum handeln kann, dass er es auf sich nimmt, dass er es trägt; wie er es nun trägt, wie er es gleichsam als sein Kreuz auf sich nimmt, darum geht es. Es geht um Haltungen wie Tapferkeit im Leiden, Würde auch noch im Untergang und im Scheitern. Sobald wir aber die Einstellungswerte in den Bereich möglicher Wertkategorien einbezogen haben, zeigt es sich, dass die menschliche Existenz eigentlich niemals wirklich sinnlos werden kann“.1170
Zweitens: Wenn es einer pflegebedürftigen Person (zunächst) nicht möglich ist, eine entsprechende Einstellung zu den mitunter gravierenden Veränderungen (Verschlechterungen) im Sinne Frankls zu gewinnen, gibt es noch immer die Möglichkeit motivierender, seelsorgerlicher Hilfestellung, die mitwirkt, den Blick zu schärfen und die Dinge anders als gewohnt zu betrachten: Geh aus, mein Herz, und suche Freud!, wäre die seelsorgerliche Aufgabe in dieser Situation. Mit anderen Worten: Die Seelsorge müsste sich darum bemühen, das Augenmerk der belasteten Person auf das Mögliche, Schöne, Angenehme, Positive usw. zu richten, wie es beispielsweise einer anthropologischen Seelsorge nicht schwerfallen dürfte. Ihre vitalisierende Kraft kann dazu beitragen, die Defizit-Fokussierung der/des Pflegebefohlenen zu kontrastieren und zum Aufbau einer neuen Perspektive zu verhelfen. Ohne die Religion funktionalisieren zu wollen, wäre bei diesem Versuch, einen Perspektivwechsel anzuregen, auch nach dem Potenzial des Glaubens zu fragen. Drittens ist hier von Theologie und Kirche eine intensive Kultur- und Überzeugungsarbeit gefragt, die dazu beiträgt, Schwachheit und Pflegebedürftigkeit und damit zusammenhängende Themen wie Lebensqualität und Menschenwürde im 1170 Frankl, V. E., a.a.O., 82f.
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Lichte der angestellten Überlegungen zu betrachten und so dem christlichen Menschenbild Raum zu schaffen. Eine solche Kultivierungsarbeit würde auf lange Sicht nicht nur die Haltung der Menschen, die Pflegebedürftige begleiten, verändern, sie müsste insgesamt eine neue Sicht von Schwachheit, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Angewiesensein usw. begünstigen, die die Furcht vor diesen abschwächt und hilft, zu der weisheitlichen Erkenntnis vorzudringen: „alles hat seine Zeit“ (Pred. 3). Das wäre eine kirchliche, auf die christliche Anthropologie rekurrierende Überzeugungsarbeit. Die angestellten Überlegungen wollen allerdings nicht verdrängen, dass es einen Zustand gibt, in dem das Verhältnis von ‚Lebensqualität‘ und ‚Leiden‘ aus der Balance geraten kann. Die vorliegende Studie plädiert jedoch dafür, einen solchen Zustand und Zeitpunkt viel später anzunehmen, als es normalerweise üblich ist. Die Vermutung beispielsweise, ein pflegebedürftiger Mensch sei „nicht mehr da“, wie Schwerstdemenzkranke häufig eingeschätzt und etikettiert werden, muss aufgrund des Dargelegten noch lange nicht als ein solcher Status quo gelten. Nicht einmal Inkontinenz bedeutet zwingend, dass die Lebensqualität durch diese zugegebenermaßen gravierende Beeinträchtigung derart Schaden genommen haben müsste, dass ein Weiterleben nicht mehr wünschenswert sein könne.1171 Gewiss markiert das Einsetzen von Schmerzen eine einschneidende Veränderung, die alle verbliebene Lebensqualität in den Hintergrund treten lässt. Auch der Einsatz von künstlicher Ernährung und schwerem lebensverlängerndem Gerät (Beatmung usw.) ist sicherlich der Bewahrung des Restes an Lebensqualität nicht förderlich. Viele solcher Maßnahmen werden jedoch nicht im Pflegeheim durchgeführt, sondern im Krankenhaus und tangieren somit weniger die Frage der Lebensqualität im Pflegeheim.
1171 Es ist erstaunlich, wie häufig es Inkontinenten gelingt, selbst diese massive Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität zu bewältigen und sich an sie zu gewöhnen, wie ich während meiner Zeit als Seelsorger in einer großen Hamburger Pflegeeinrichtung beobachten konnte.
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C. Pflegeheimseelsorge als Alltagsdiakonie Es werden bei den fünf Seelsorgerinnen und Seelsorgern dieser Untersuchung vereinzelt unspektakuläre, leicht übersehbare Handreichungen und Hilfestellungen beobachtet, die z.T. von sehr konkreter, praktischer Natur (Zigarette anzünden, Mund abwischen, Getränk reichen, Tablett raustragen) oder von fürsorglich-zärtlicher Art sind (Bettdecke oder Kopfkissen aufschütteln). Einmal veranlasste eine „Not“ im weitesten Sinne diese Verhaltensweisen, da die Pflegebedürftigen selbst zu diesen Handlungen kaum oder gar nicht in der Lage waren (z.B. unassistiertes Rauchen einer Zigarette im Bett, Einschenken eines Getränkes, Zu-Munde-Führen des Bechers, Aufziehen einer Gardine, Öffnen/Schließen des Fensters, Verstellen der Rückenlehne des Pflegebettes usw.). Ein anderes Mal handelt es sich um Wohltaten, die auf den ersten Blick nicht durch eine „Not“ bzw. eine Hilflosigkeit begründet wurden, sondern den Charakter einer „Streicheleinheit“ tragen (z.B. Bettdecke aufschütteln, Kissen zurechtstupsen, Süßigkeit reichen). Dabei spielt auch die Ermöglichung eines „Genusses“ eine Rolle (z.B. eine schöne Blume betrachten, eine Süßigkeit [im Beisein der Seelsorgerin!] verzehren, eine Zigarette genussvoll in Erinnerung an vergangene Zeiten rauchen [während zugleich an Champagner gedacht und von „Männern“ gesprochen wird] usw.). Beide Verhaltensweisen sind als Formen von „Alltagsdiakonie“ zu begreifen. Dieser Begriff wird von Hauschildt1172 im Rahmen einer Untersuchung zur „Alltagsseelsorge“ beiläufig erwähnt, ohne dort allerdings aufgrund seiner anders gelagerten Fragestellung näher ausgeführt zu werden. Für den Kontext der Heimseelsorge und für das Verständnis von Alltagsdiakonie ist allerdings erhellend, dass Hauschildt einen Seelsorgetyp vorstellt, der sich deutlich vom hohen Ideal der Therapie und Theologie unterscheidet und sich stattdessen an den jeweiligen, der pastoralen Profession begegnenden sozialen Anforderungen orientiert. Auf diese Weise kommt das ‚Alltägliche‘ mit seiner „Trivialität“1173 in den Blick, und es zeige sich zugleich der vermeintliche „Defizitcharakter“1174 der vom Autor analysierten pastoralen Gespräche. Alltagsseelsorge erscheine damit als Seelsorge, die methodisch nicht mehr steuerbar sei und für die die maßgeblichen theologischen Konzepte als Orientierungshilfe bedeutungslos würden. Weder eine bestimmte Thematik noch eine kontrollierte Methodik machten die Alltagsseelsorge von Nichtseelsorge
1172 Hauschildt, E., a.a.O., 379. 1173 Vgl. ebd., 135ff. 1174 Vgl. ebd., 141ff. Beschrieben werden Defizite an Therapie (141 – 145), Verkündigung (145 – 148) und praktischer Hilfe (148- 150)U.
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abgrenzbar. Alltagsseelsorge und Alltagssorge schienen fließend ineinander überzugehen. Auch die beobachteten unspektakulären Hilfshandlungen dieser Untersuchung weisen, wenn man sie als diakonisch lesen will, die Merkmale der „Trivialität“ und des „Defizits“ auf: Sie wirken spontan, beiläufig, unscheinbar und wenig existenziell, eben „alltäglich“. Zudem sind sie verwechselbar mit pflegerischen oder sozialarbeiterischen Tätigkeiten. Das Charakteristikum dieser seelsorgerlichen Verhaltensweisen (Unscheinbarkeit, Nebensächlichkeit, Beiläufigkeit) erweckt den Eindruck, hier geschehe nichts theologisch Bedeutsames. Es fällt schwer, diese Handreichungen und Hilfestellungen als Gestalten der diakonisch-prophetischen Dimension seelsorgerlicher Arbeit zu verstehen. Nauer beschreibt diese Dimension mit hehrem Anspruch als „konkrete Befreiungs- und (Über)Lebenshilfe“1175 und analysiert neun1176 spezifische Herausforderungen derselben: 1. Vernetzungshilfe, Befreiungshilfe, materielle (Über)Lebenshilfe; 2. Soziale Vernetzung vorantreiben; 3. Gemeinde-Erfahrung ermöglichen; 4. Einen optionalen Perspektiven- und Standortwechsel wagen; 5. Solidarisch, advokatorisch und zupackend vor Ort handeln; 6. Strukturen analysieren, kritisieren, verändern; 7. Gesellschaft mitgestalten; 8. Öffentlichkeits-politisches Engagement riskieren; 9. Schöpfung bewahren. Die angeführten Aufgabenstellungen einer Seelsorge diakonisch-prophetischer Provenienz machen deutlich, dass die beobachteten „alltagsdiakonischen“ Verrichtungen nur schwer mit den herkömmlichen diakonischen Kategorien fassbar sind. Auch die einschlägige Literatur zur Diakonik liefert keine Hinweise, die zur einer Deutung der beobachteten Verhaltensweisen im Sinne einer Alltagsdiakonie führen oder den spezifischen Stellenwert des Unscheinbaren und „Alltäglichen“ – zumal im Kontext der Pflege – erschließen könnten. Befragt man gängige Publikationen zur Diakonie nach ihren Themen und Schwerpunkten, so finden sich regelmäßig Gedanken zur theologischen Begründung der Diakonie sowie biblische Schlüsseltexte, ekklesiologische und ökumenische Fragestellungen, Darstellungen zur Geschichte der Diakonie, berufsspezifische und strukturelle (sozialpolitische, rechtliche, organisatorische) Erörterungen, ethische Themen oder Probleme der verfassten Diakonie.1177 Auch Themenkomplexe zu 1175 Nauer, D., Seelsorge, 202. 1176 Vgl. ebd., 202 – 223. 1177 Vgl. Herrmann, V./Horstmann, M. (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 1, NeukirchenVluyn (2006); Kohler, M. E., Diakonie, Neukirchen-Vluyn (1995, 2. Aufl.); Kohler, M.E., Kirche als Diakonie, Zürich (1991); Philippi, P./Strohm, Th. (Hg.), Theologie der Diakonie, Heidelberg (1989); Schibilsky, M. (Hg.), Kursbuch Diakonie, Neukirchen-Vluyn (1991); Seibert, H., a.a.O.; Turre, R., Diakonik – Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen-Vluyn (1991).
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Markt und Management, Innovation und Bildung usw. werden besprochen.1178 Die angeführten Schriften zeichnen sich insgesamt durch eine Tendenz zum Grundsätzlichen, eben „Hohen“ aus. Es liegt nahe, dass die Frage der Theologie der Diakonie in den meisten Schriften eine herausgehobene Rolle spielt. Gelegentlich begegnende Konkretionen zur diakonischen Praxis bewegen sich hingegen insgesamt auf einer Ebene, die den Blick für das Alltägliche und Unspektakuläre im Sinne einer Alltagsdiakonie eher verstellen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine gründliche Beschreibung der „fremden Welt Pflegeheim“ mit ihren spezifischen seelsorgerlichen Herausforderungen bislang unterblieb. Buske1179 beschreibt zwar unter diakonischen Aspekten konkrete Herausforderungen an die Seelsorge mit alternden Menschen und setzt immerhin bei der Erkenntnis an, „dass die Seelsorge mit der Leibsorge beginnt“1180. Als seelsorgerlich-diakonische Aufgaben identifiziert er das Bemühen um den Gesundheitszustand, um ein erfülltes Leben im Alter, um Psychohygiene, um Ermöglichung und Pflege von Sozialkontakten, um Erhaltung und Freilegung des Antriebs, um Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen und deren allgemeine Verbesserung, um eine sach- und situationsgerechte Beurteilung alternder Menschen, um Mithilfe beim Abbau falscher Altersstereotypien, um Betreuung und Pflege kranker und behinderter alter Menschen (z.B. durch kirchliche Einrichtungen oder Gemeinden) sowie um kirchliche Ausbildungsmöglichkeiten für einen sach- und situationsgemäßen Umgang mit alternden Menschen.1181 Es zeigt sich allerdings auch bei ihm die starke Gewichtung grundsätzlicher und struktureller Gesichtspunkte, die eine Würdigung des unspektakulären, zwischenmenschlich-alltäglichen Tuns nicht zulassen. Die von Buske angesprochenen diakonisch-seelsorgerlichen Themenfelder atmen den Geist „hoher“ Diakonie und versperren damit den Blick für das Alltägliche und Kleine. Dessen Wahrnehmung wird einmal mehr erschwert, führt man sich den Ruf nach Preisgabe der politischen Abstinenz der Seelsorge vor Augen, wie er seit etwa Ende der 80er Jahre unüberhörbar zu vernehmen ist.1182 Der Anspruch auf politische Einmischung behindert die Seelsorge ebenfalls, die besagten 1178 1179 1180 1181 1182
Schibilsky, M./Zitt, R. (Hg.), Theologie und Diakonie, Gütersloh (2004). Vgl. Buske, N., a.a.O., 303ff. Ebd. Ebd., 304. Vgl. Klessmann, M., Seelsorge zwischen individuellem Trost und politischem Anspruch, in: Wege zum Menschen 40 (1988), 394 – 404; Winkler, K., Die Seelsorgebewegung, in: Wege zum Menschen 45 (1993), 434 – 442; Henke, Th., Wahrnehmung des Politischen – Zu einer wenig beachteten Dimension in der Seelsorge, in: Schuster, N./Moser, U. (Hg.), Kirche als Beruf, Grünewald, 102 – 122; Pohl-Patalong, U., Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft, Stuttgart (1996).
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unscheinbaren Hilfshandlungen als diakonisch zu werten, da sie allesamt als völlig „unpolitisch“ zu bezeichnen sind und eben nicht dem Anspruch genügen, den etwa Ziemer1183 für die Seelsorge formuliert: Er fordert, künftig müsse den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kontexten mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nicht nur Persönlichkeitsfaktoren, sondern auch die soziale Situation eines Menschen müsse verstärkt als individuelles Leiden und persönliche Problemlagen verursachendes Bedingungsgefüge gesehen werden. Einer Überwindung der Individuum-zentrierten Perspektive, für die zuletzt Pohl-Patalong1184 eingehend warb, wird damit das Wort gesprochen. Wie sich zeigte, trifft es zu, dass ein diakonisches Seelsorgeverständnis ein Modell ist, „in dem der soziale und gesellschaftspolitische Kontext von Individuen ausdrücklich thematisiert“1185 wird, wie Nauer resümiert. Ein berechtigter und zugleich hoher Anspruch wird so an die Seelsorge gestellt, der bezogen auf die Situation Pflegebedürftiger zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Die (neue) Berücksichtigung gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Kontexte und das damit einhergehende seelsorgerliche Interesse etwa für Fragen des Strukturellen, Finanziellen, Architektonischen, Organisatorischen, Administrativen oder Personalpolitischen, wie es sich demnach für die Heimseelsorge ergäbe, könnte jedoch zur Folge haben, das Alltägliche, Symbolische oder Unscheinbare zu übersehen und in seiner (theologischen) Bedeutung für die Heimseelsorge zu verkennen. Diese naheliegende Wirkung des Politischen wird noch dadurch verstärkt, dass seelsorgerliche Arbeit, die sich ihrem Wesen nach im Stillen und in der Abgeschiedenheit vollzieht, stets in der Gefahr steht, sich sichtbar machen zu wollen, z.B. durch öffentliches (politisches) Engagement, Kampf um verbesserte Strukturen oder advokatorische Dienste. Schließlich lässt sich damit weit wirkungsvoller Präsenz kommunizieren und Tatkraft demonstrieren. Die beobachteten, wenig „dramatischen“ Hilfestellungen sind jedoch kaum geeignet, zur Sichtbarkeit pastoraler Arbeit beizutragen und deren Relevanz zu erweisen in einer Zeit, da die Pastorenschaft unter einem enormen „Selbstthematisierungsdruck“1186 steht. Eine (theologische) Verkennung der unspektakulären Hilfshandlungen wird schließlich auch dadurch begünstigt, dass die protestantische Tradition überwiegend davon ausgeht, die theologische Legitimität des diakonischen Anliegens
1183 1184 1185 1186
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Ziemer, J., a.a.O., 106. Pohl-Patalong, U., a.a.O. Nauer, D., Seelsorgekonzepte im Widerstreit, 262. Karle, I., „Wozu Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn doch alle Priester sind?“, in: Deutsches Pfarrerblatt 1 (2009), 3.
sei „im Christusgeschehen verankert“1187, wie Daiber anmerkt. So unternahm Seibert1188 im evangelischen Bereich einen charakteristischen, groß angelegten Versuch, die Arbeit des Diakonischen Werkes mit dem Hilfehandeln Jesu zu begründen. Die Diakonie bekommt damit jedoch den Charakter des „Spektakulären“, denn sie steht so unter dem geheimen Anspruch, in der Nachfolge Jesu zu stehen, und „Jesu Intentionen aufzunehmen in eigenem Zuwenden und Handeln“1189. Diese Intentionen erlauben es allenfalls noch, unscheinbarste „Notlinderungen“ der beobachteten Art als Ausformungen des Diakonischen zu verstehen. Mit ihnen begründen zu wollen, Pflegeheimseelsorge finde gerade in solchen unspektakulären Hilfshandlungen ihr Spezifikum, dürfte allerdings schwerfallen. Noch viel weniger dürfte es einleuchten, „Verwöhnen“ oder „Genussermöglichung“ als Kategorien einer diakonisch-prophetischen Fokussierung der Heimseelsorge zu begreifen. Beides ist von der Seelsorge im Pflegeheim allerdings zu fordern: Unspektakuläre Hilfshandlungen sowie Verwöhnung oder Genussermöglichung sind wichtige, unverzichtbare Bestandteile einer ganzheitlichen Seelsorge an Pflegebedürftigen. Eine Seelsorge mit diakonisch(prophetischem) Praxisschwerpunkt wird sogar sehr bewusst und wohlbegründet Handreichungen und Hilfestellungen in diesem Sinne ermöglichen und einen Beitrag dazu leisten wollen, die Situation Pflegebefohlener auf unterschiedliche Weise so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Seelsorge im Pflegeheim kann Pflegebedürftige darin unterstützen, (vielleicht ein erstes Mal im Leben) das Genussvolle, die Passivität und das Verwöhnwerden, ja die Muße zu bejahen und sogar zu begrüßen.
1. Veränderte Wahrnehmung Um die beobachteten Handreichungen und Hilfestellungen als einen – legitimen – Ausdruck der diakonisch-prophetischen Dimension von Seelsorge zu verstehen, ist es ratsam, sich den im ersten Hauptteil beschriebenen Kontext bzw. Lebensraum, in dem diese Verhaltensweisen begegnen, noch einmal vor Augen zu führen. Einige hervorstechende Merkmale der Heimkultur seien noch einmal in Erinnerung gerufen: Bei den Besuchten handelt es sich um Schwer(st)pflegebedürftige in stationären Pflegeeinrichtungen. Das Leben spielt sich für einen Großteil der hier Lebenden im Bett ab. Ein Raumwechsel ist 1187 Daiber, K.-F., Verkündigung und Diakonie. Analyse einer theologischen Diskrepanz, in: Lukatis, I./Wesenick, U. (Hg.), Diakonie – Außenseite der Kirche. Sozialarbeit im Kirchenkreis zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 15. 1188 Seibert, H., a.a.O. 1189 Ebd., 18.
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schwierig, geschieht selten, ist häufig auch gar nicht (von Gepflegten oder dem Heim) erwünscht und oftmals ohnehin schwer praktikabel. Monotonie und Passivität bestimmen den Heimalltag, Lethargie und innerer Rückzug sind eine natürliche Folge der Institutionalisierung. Pflegeheime sind „Nicht-Orte“ bzw. „Heterotopia“, die eine veränderte Wahrnehmung begünstigen. Multimorbidität kennzeichnet die hochbetagte Bewohnerschaft von Pflegeeinrichtungen, zu deren Lebenswirklichkeit eine Vielzahl von Verlusten und Einschränkungen gehört. Kurz: Das Leben ist beschwerlich, und es wird dem alten Menschen eine enorme Verzichtleistung abverlangt. Die Pflege beschränkt sich indessen auf körperbezogene Verrichtungen im Minutentakt; es kann von einer minimalistischen, körperzentrierten Funktionspflege mit zugeschnittenen Zeitbudgets1190 gesprochen werden. Die pflegerische Hilfe kommt schnell an ihre Grenzen, denn das Personal ist knapp und zudem häufig damit überfordert, Leistungen zu erbringen, die über das Pflegerische hinausgehen. Die Pflegenden müssen sich zumeist beschränken auf das Allernotwendigste. Regelmäßig kommt es vor, dass dringend erforderliche Hilfestellungen auf sich warten lassen, weil kein Personal greifbar ist.1191 Zahlreiche Indizien lassen vermuten, dass es in dieser „Welt“ mit ihrem eigentümlichen „Milieu der Schonung“1192 bzw. der systemtypischen „Überversorgung“1193 zu einer veränderten Wahrnehmung und einem neuen Erleben Pflegebedürftiger kommt: Kleines wird groß, Nebensächliches bedeutungsvoll, Alltägliches symbolisch und existenziell. Die Kultur der Körperzentriertheit und die Dominanz der Horizontalen1194 begünstigen einen Anpassungsprozess, der das Leben im Heim nicht nur erträglich(er) macht, sondern zugleich die Sinneseindrücke beeinflusst und umprägt. Dieses Phänomen deutete sich unter anderem am Beispiel des seelsorgerlichen Besuches im Krankenhaus1195 an, an dem sich regelmäßig zeigt, dass unter bestimmten Umständen ein Besuch zu „hohem“ Besuch wird – so die These Stubbes. Auch findet sich in der referierten
1190 Vgl. die kritisch zu beurteilenden Wirkungen des PVG, 108ff. 1191 Vgl. die Schilderung eines Angehörigen über zu langsames Reagieren der Pflegekräfte auf den Schwesternruf in: Schwerdt, R. (Hg.), a.a.O., 123 . Die Praxis des verstärkten Einsatzes von Magensonden in stationären Pflegeeinrichtungen hat für die Pflegenden den Vorteil, dass sie vom Essenreichen („Füttern“) entlastet sind, wie es im Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 15. Juni 2008, 2-3, beschrieben ist. 1192 Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 82, 110 – 113. 1193 Vgl. Rieben, E., a.a.O., D 6; vgl. auch den Abschnitt ‚Auswirkungen von Intituitionalisierung‘, 55ff. 1194 Vgl. I.B.11. 1195 Vgl. 260ff.
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Theorie von einer Parallelität von Lebensanfang und Lebensende1196 eine Begründung für die Vermutung, dass aus der Pflege(heim)situation ein neues, dem Erwachsenen eher ungewohntes Erleben erwächst. So kann beispielsweise regelmäßig beobachtet werden, dass Pflegebefohlene „das Erwachsensein weit hinter sich“ lassen und „in frühere Entwicklungsformen zurück(kehren)“.1197 Damit ergibt sich häufig ein verändertes Erleben und veränderte Bedürfnisse. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die zunächst befremdlich anmutende und zugleich charakteristische Äußerung des pflegebedürftigen amerikanischen Hochschullehrers aus dem Buch Dienstags bei Morrie. Wie bereits erwähnt, äußert der Gepflegte einmal, er beginne im Laufe des Gepflegtwerdens, zahlreiche Pflegehandlungen regelrecht „zu genießen“1198. Auch lassen einige der seelsorgerlichen Begegnungen mit den in vorliegender Studie vorgestellten Pflegebedürftigen erahnen, dass ihr auf Hilfe angewiesenes Dasein zu einer neuen Wahrnehmung bzw. zu neuen Gewichtungen führte, so dass etwa über das Essen gesprochen oder in Gegenwart der Seelsorgerin tatsächlich genossen wird (SI-2). So weist Rieben1199 auch auf die „große, vielschichtige Bedeutung“ des Essens und Trinkens in der Pflegesituation hin. Demnach werden Alltäglichkeiten im Heimleben oftmals als bedeutungsvoller denn je erlebt. Demenzkranke wiederum entwickeln ein seismografisches Gespür für subtilste Emotionen, die sie im Gegenüber wahrnehmen und durch welche sie in ihrem eigenen Befinden stark beeinflusst werden.1200 Auch hierin zeigt sich, dass manches, was unter normalen Umständen– wenn überhaupt – nur auf den zweiten Blick registriert wird, in der Krankheit einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren kann. Eine derart veränderte Wahrnehmung und ein durch Gepflegtwerden potenziell mutiertes Erleben ziehen wiederum eine – naheliegende – Transformation der Ansprüche gegenüber dem Leben und der Umwelt nach sich. Hiermit ist zu erklären, warum Pflegebedürftige, die nach ihrer Definition von ‚guter‘ bzw. ’schlechter‘ Pflege1201 befragt wurden, ein „sehr bescheidenes Anspruchsniveau“1202 erkennen ließen. Demnach kommt es ihnen weniger auf hohe pflegerische Professionalität an, als vielmehr auf alltägliche und zwischenmenschliche 1196 1197 1198 1199 1200 1201
Vgl. 103. Vgl. auch Koch-Straube, U., a.a.O., 82. Vgl. Fußnote 995 : „Ich begann, meine Abhängigkeit zu genießen!“. Rieben, E., a.a.O., D 6. Vgl. I.B.18. Die Interviews wurden mit Pflegebedürftigen in Einrichtungen der Kurzzeitpflege geführt. 1202 Schwerdt, R. (Hg.), a.a.O., 96.
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Zuwendungen und Hilfestellungen, die ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Wahrgenommen-werden vermitteln (jemand ist da, ansprechbar, gibt Hilfestellung usw.). Damit sich solche Empfindungen einstellen, bedarf es jedoch – wie sich zeigte – nicht zwingend „großer“ Taten oder eines „besonderen“ Verhaltens aufseiten der Pflegenden. Ein wirksames Mittel, Pflege als ‚gut‘ erlebbar zu machen, findet sich (auch) im Unscheinbaren und Unspektakulären. Der empirisch ermittelte Befund eines niedrigen Anspruchsniveaus erlaubt die Vermutung, Pflegebedürftigkeit mache anspruchslos(er) und lasse zugleich die Empfänglichkeit für das Zarte, Stille, Atmosphärische oder Symbolische wachsen. Auch das Konkrete und Praktische bekommt damit im Kontext der Pflege einen neuen Stellenwert. Damit werden diese Elemente auch für die Seelsorge im Pflegeheim interessant, denn in einem Umfeld, in dem die Empfänglichkeit für das „Alltägliche“ wächst, kann dieses Spezifikum des Pflegemilieus von der Seelsorge nicht ignoriert werden. Deren „alltägliche“ bzw. „alltagsdiakonische“ Verhaltensweisen können z.B. als „nicht selbstverständlich“, nicht in deren „Zuständigkeit“ liegend usw., und somit als wohltuendes Kümmern und als (symbolische) Gesten der Aufmerksamkeit erscheinen. Handreichungen der beobachteten Art müssen deshalb als seelsorgerliche Möglichkeit sui generis begriffen werden. Mit ihnen kann Pflegebedürftigen eine Wohl-Tat bereitet werden, die geeignet ist, das Evangelium leiblich, konkret und „ganzheitlich“ erlebbar zu machen. „Ganzheitlichkeit“ aber verlangt auch nach einer Berücksichtigung des Kleinen und Nebensächlichen, eben „Alltäglichen“, sonst würde etwas Wichtiges fehlen. Im Kontext der Pflege und in der spezifischen Kultur stationärer Einrichtungen bekommen unspektakuläre Hilfestellungen, zudem wenn sie von kirchlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern ausgehen, potenziell den Charakter einer symbolischen Interaktion. Die eigentliche, alltägliche Handlung wird transzendiert, und die seelsorgerliche Wohltat eröffnet einen neuen Horizont, sie bekommt also (größeres) Gewicht. Die Indizien sprechen dafür, dass manche kleine Handlung in der spezifischen Kultur und Situation der Pflege als „große“ Tat erlebt werden kann. Indem hier die These vom veränderten Erleben (mit der Folge einer größeren Gewichtung des „Alltäglichen“) entwickelt wird, soll allerdings nicht doch wieder das Kriterium der ‚Größe‘, des ‚Gewichtigen‘ und ‚Existenziellen‘, eben „Hohen“, als Maßstab für seelsorgerliches Handeln eingeführt werden. In der Welt der Pflege kann jede noch so kleine Erleichterung – sofern sie nicht den Charakter eines zu vermeidenden „Overcare“ hat – sinnvoll sein. Da bei einer Schwerstpflegebedürftigkeit oft leichteste Verrichtungen für den pflegebedürftigen Menschen beschwerlich oder unmöglich sind, ist der seelsorgerliche Blick auch für klein(st)e Beiträge zu einer Erleichterung der Pflegesituation zu schärfen. Dabei besteht jedesmal die Möglichkeit, dass die Pflegebedürftigen den 368
alltagsdiakonischen Verhaltensweisen ein weit höheres Gewicht beimessen, als eine nicht pflegebedürftige Person es vermuten würde.
2. Verwöhnen Koch-Straube beobachtet, dass vielen Pflegehandlungen ein „Anteil von Verwöhnt-werden, Genießen, Zuwendung“1203 innewohne. Salben, Einreiben, Baden bedeuteten nicht nur Hygienemaßnahmen, sondern könnten von Gepflegten noch anders erlebt werden, da sie häufig leibliches Wohlbefinden, Entspannung und Freude bei ihnen auslösten, wie an zahlreichen Beispielen zum Ausdruck komme.1204 Dabei spielten – unvermeidliche – Körperkontakte zwischen Pflegenden und Gepflegten, so lästig sie mitunter auch sein mögen, eine wichtige Rolle, da sie für viele Pflegebedürftige häufig die einzigen Berührungen seien, die ihnen noch zuteil würden. Häufig sei niemand (mehr) da, der sie ‚einfach‘ in den Arm nehme, sie streichele oder küsse, wie Koch-Straube anmerkt.1205 Sie fragt, ob es sogar möglich sei, dass die Bewohner und Bewohnerinnen von Pflegeheimen mehr Pflegehandlungen einforderten als notwendig, um im „unverdächtigen“ Gewande funktionaler Pflegeverrichtungen Nähe zu erfahren und sich verwöhnen zu lassen.1206 Mit solchem Verwöhnen erführen sie Nähe und liebevolle Zuwendung, möglicherweise auch Ersatz für Zuwendungen, die ihnen durch den Tod von Lebensgefährten genommen wurden, und für die mannigfachen Entbehrungen, die ein Wechsel ins Heim mit sich bringt.1207 Vorstellbar sei auch, dass die Pflegebefohlenen im Heim jetzt endlich das einforderten, was sie ein Leben lang vermisst hätten.1208 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Pflegeheime überwiegend von Frauen1209 bewohnt werden ist auch die These interessant, dass „gerade Frauen das Versorgtwerden genießen mit dem Hinweis, dass sie ja immer diejenigen waren, die andere versorgt haben“1210, wie Koch-Straube anhand der häufig zu hörenden Äußerung weiblicher Gepflegter formuliert. Es zeigt sich, dass die Kategorie des ‚Verwöhnens‘ eine durchaus relevante Größe in der Erlebniswelt Pflegeheim sein kann. Die spezifische Situation Pflegebedürftiger und das charakteristische Milieu statio1203 1204 1205 1206 1207 1208 1209 1210
Koch-Straube, Fremde Welt Pflegeheim, 225. Ebd., 225f. Ebd., 226. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. I.B.14. Koch-Straube, a.a.O. 226, vgl. Fußnote 404.
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närer Pflegeeinrichtungen bringen eine erhöhte Empfänglichkeit für leiblichkonkrete, also alltagsdiakonische Wohltaten mit sich, die für die Seelsorge im Pflegeheim eine bislang übersehene Chance bedeuten. Seelsorgerinnen und Seelsorger könnten sich demnach zur Aufgabe machen, durch Verwöhnen und alltagsdiakonische Zuwendungen einen Kontrapunkt zu den zahlreichen Entbehrungen zu setzen, die Pflegebefohlene bewältigen müssen. Jede Erleichterung kann potenziell helfen, jede Verwöhnung zerstreuen, jede Hilfestellung erleichtern. Indem die Seelsorge sich darum bemüht, solche unscheinbaren Wohltaten zu üben, treten wiederum anthropologische Gesichtspunkte in den Blick: Alltagsdiakonische Seelsorge setzt aus naheliegenden Gründen eine Kenntnis des Menschseins bzw. ein klares Menschenbild voraus. Sie sucht und findet leibseelische Ressourcen und versteht es, diese für die seelsorgerliche Begegnung zu nutzen. So ist alltagsdiakonische Seelsorge eng verwoben mit einer anthropologischen Ausrichtung der Heimseelsorge. Der Übergang zwischen einer anthropologisch-zentrierten und einer alltagsdiakonischen Heimseelsorge ist demzufolge fließend. Eine Heimseelsorge mit alltagsdiakonischer Akzentuierung ist also darauf aus, Besuche bei Pflegebefohlenen mit geschärftem Blick für die sofort möglichen (zumeist kleineren) Erleichterungen und Verbesserungen der momentanen Situation abzustatten. Einige Beispiele für ein solches Anliegen sind bei den fünf Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu finden: Da wurde beispielsweise gesehen, dass eine Gepflegte nicht richtig zugedeckt ist, die Füße frei liegen, das Kopfkissen verrutscht ist. Ein anderes Mal blendet die Sonne oder der zugezogene Vorhang verdunkelt das Zimmer; das Tablett mit den Überresten des Mittagessens befindet sich vor der Nase einer Bettlägerigen, Seelsorger Stempel trägt es hinaus; eine Besuchte hat Durst, Seelsorger Hamberg reicht zu trinken; einem Bettlägerigen läuft die Nase, Pastor Laurenz greift zum Taschentuch. Erinnert sei noch einmal an die Beispiele des Besuches von Seelsorgerin Braune bei Frau B., die zu einer Sensibilisierung dafür anregen, was an einer ungünstigen Situation sogleich verbessert werden kann. Häufig spielt dabei ganz Äußerliches, auch Ästhetisches eine Rolle: Ist es zu hell oder zu dunkel im Zimmer? Blendet die Sonne? Ist ein warmes, gemütliches Licht angeschaltet oder die kalte Deckenbeleuchtung, die an ‚Institution‘ erinnert? Könnte eine Kerze brennen im Advent/zum Geburtstag/an einem Ehrentag? Ist der besuchte Mensch zugedeckt? Drückt etwas am Körper? Sieht es unordentlich aus im Raum? Riecht das Blumenwasser übel? Sind Verschmutzungen wahrzunehmen? Sind die Kopfkissen verrutscht? Steht die Rückenlehne günstig, um bequem lesen und (fern-)sehen zu können? Hat die/der Pflegebedürftige Appetit? Möchte er/sie etwas trinken/essen/naschen? Liegt der/dem Bettlägerigen/m ein Gegenstand zu weit weg? Ist das Telefon greifbar, fällt es schwer, eine Nummer 370
auf der kleinen Tastatur zu drücken? Piept das Hörgerät? Läuft der richtige Kanal im Fernsehen? Sollte es ausgeschaltet werden? Und das Radio? Ist die Brille verschmutzt? Ist sie verrutscht und behindert das Sehen? Sticht eine dicke Staubschicht am Pflegebett ins Auge? Sind die Hände der/des Besuchten kalt und sollten (durch Händehalten) gewärmt werden? All diese alltagsdiakonischen Verhaltensweisen zielen vordergründig auf eine minimale Verbesserung der Situation, da häufig die nötige „Feinarbeit“ vom Pflegepersonal nicht mehr zu leisten ist. Bereits die Beschreibung der Pflegekultur zeigt ja, dass die kleinen, leicht zu übersehenden, scheinbar bedeutungslosen Hilfestellungen kaum in den pflegerischen Fokus geraten können, da andere Aufgaben vordringlicher scheinen. Zu sehr konzentriert sich die Pflege auf das Augenscheinliche, Grobe, Körperliche, eben das Protokollierbare und mit der Pflegekasse Abrechenbare.1211 Insofern kann alltagsdiakonische Seelsorge ein hilfreiches Korrektiv bzw. eine Ergänzung zu den systemtypischen Schwerpunktsetzungen stationärer Pflege sein. Alltagsdiakonische Seelsorge hat das Übersehene, Vergessene, scheinbar Nebensächliche im Blick und leistet damit zugleich einen Beitrag zum Atmosphärischen. Pechmann nennt Seelsorgerinnen und Seelsorger zu Recht „Atmosphären-Gestalter“1212. Diese Funktion der Seelsorge trifft jedoch nicht allein auf das gottesdienstliche AtmosphäreGestalten zu, wie vom Autor gemeint, sondern generell: Indem Seelsorgende sich in alltagsdiakonischer Weise der besagten Dinge annehmen, prägen sie eine Kultur der Achtsamkeit, die es gerade unter extremen Umständen zu pflegen gilt. Unter solchen Bedingungen kann jede kleine Wohltat zu einem Gleichnis der Freundlichkeit Gottes werden und jede Seelsorgerin, jeder Seelsorger zu einem „Engel“. Alltagsdiakonische Diakonie ist zugleich kreuzestheologische Diakonie insofern, als das Diakonische in ihr „verhüllt“, „übersehbar“, „unscheinbar“, ja „schwach“ begegnet. Es sind keine machtvollen Taten, die alltagsdiakonisch geschehen. Die alltagsdiakonische Seelsorge hüllt sich in das Gewand der Alltagssorge, das Geistliche verkleidet sich ins Alltägliche, das Diakonische ins Ästhetische. Das Diakonische (also das, was im Namen Gottes getan wird) kann demnach nur „posteriora“, also indirekt, als solches erkannt werden. Es sind lediglich kleine Taten und Elemente in einem großen, unabwendbaren Prozess des Nachlassens der Kräfte, die momentane Erleichterung, kurze Linderung, schnell vergehende Besserung verschaffen. Die alltagsdiakonische Seelsorge ist 1211 Diese Tatsache lässt sich beispielhaft auch an der Raumpflege in stationären Einrichtungen ablesen. Es fehlt die Zeit für das Putzen „hinter den Kulissen“, in den Ecken, an den Unterseiten, Kanten usw. Staubputzen bleibt zumeist auf der Strecke und den Besuchenden überlassen (wenn die sich überhaupt darum kümmern). 1212 Pechmann, B., a.a.O., 31.
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demnach von einer „kyreneischen“ Art, wie man sie in Anlehnung an das Kreuztragen Simons von Kyrene bezeichnen könnte (Mk. 15,21): Die durch Simon geschehene Erleichterung vermochte die Tragödie der Kreuzigung nicht aufzuhalten. Sie war keine systemverändernde Hilfe. Vielmehr agierte dieser Typ der Unterstützung im Rahmen des Möglichen unter Ausschöpfung kleinster Spielräume und konkreter physischer Entlastungen. Für den einzelnen Menschen sind solche Erleichterungen von unschätzbarem Wert, obwohl sie nicht die Potenz haben, eine beschwerliche Situation grundlegend zu verändern. Im Rahmen der Pflegekultur bleiben sie zudem häufig auf der Ebene des Ästhetischen, sind also nur Hilfestellungen im weitesten Sinne. In ihrer Summe jedoch bilden alltagsdiakonische Zuwendungen eine Atmosphäre der Einfühlung, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit und kommunizieren darin weit mehr als nur vordergründige Hilfestellung. Sie zeigen die Seelsorgerin/den Seelsorger von einer sehr menschlichen Seite: Nichts ist ihnen gleichgültig, selbst Kleinstes wird wahrgenommen und ggfs. zum Besseren gewendet, konkrete Möglichkeiten werden gesehen, minimale Spielräume ausgeschöpft, nichts Menschliches muss beschämen (Pastor Laurenz wischt sogar Mund und Nase ab!). „Menschlich“ ist diese „Diakonie“ auch deshalb, weil sie vom notleidenden Menschen her denkt und in ihrer auf professionellen Schein verzichtenden Schlichtheit sehr nahbar auftritt. In alltagsdiakonischer Diakonie geht es nicht um Technik oder Fertigkeit, sondern um Wohltat und Barmherzigkeit, die sich spontan ereignen und einen Blick für das je Erforderliche voraussetzen. Alltagsdiakonisches Handeln ist empathisches Handeln mit einem besonderen Gespür für das Kleine. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl und Imagination für das Hilfreiche und kommuniziert einen wichtigen Gehalt: Nichts ist gleichgültig, nichts, was hilfreich sein könnte, liegt außerhalb des pastoralen Interesses. Die Seelsorgerin/der Seelsorger ist sich für nichts Kleines, Schlichtes, Elementares zu schade. In ihrem alltagsdiakonischen Zuwenden bezeugt sich eine liebevoll-fürsorgliche Haltung, die zum Gleichnis werden kann für den Gott, „der so gern hilft“ (Ps. 13,6). Nonverbal kommuniziert diese Haltung zugleich etwas vom Wesen jenes Gottes, in dessen Namen die seelsorgerlichen Besuche sich ereignen. Es ist denkbar, dass solche alltagsdiakonisch-seelsorgerliche Zuwendung bei den Gepflegten zu einem Empfinden eigentümlicher „Intensität“ führt, wie Pastoranden es regelmäßig in der Kommunikation mit Geistlichen erleben, ohne dass diese es ebenfalls so empfinden müssen.1213 Die Asymmetrie einer alltagsdiakonischen Seelsorge mag befremdlich anmuten, denn sie scheint wichtigen diakonischen Grundsätzen zu widersprechen. 1213 Vgl. Steck, W., Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, in: ThZ 43 (1987), 175 – 183.
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Die Diakonie Jesu etwa blendet die Empfangsebene keineswegs aus, so dass in zahlreichen Wundergeschichten ‚Glaube‘ oder ‚Wille‘ als Ausdruck der Eigeninitiative oder der Mitwirkung des hilfsbedürftigen Subjekts entsprechend gefordert ist. Seibert versteht diese Betonung des Glaubens so, dass in ihm die Bereitschaft, der Mut, die Kraft erwachse, Hindernisse und Grenzen zu überschreiten, und das heißt: Die Bereitschaft mitzuwirken an einer veränderungsbedürftigen Situation.1214 Er hebt das „gegenseitige Bedingtsein von Glaube und Wunder“ hervor, womit sich das Hilfehandeln Jesu von dem seiner Umwelt unterscheide, in der „der Glaube Folge des Wunders“ gewesen sei.1215 Einseitigkeiten im diakonischen Handeln ablehnend betont H. Luther hingegen, dass „sich die seelsorgerliche Beziehung prinzipiell nur in der Einstellung der Solidarität“1216 vollziehe. Dieser wichtige Gesichtspunkt, den es gerade in der Pflegekultur mit ihrer Neigung zum Paternalismus und Overcare zu berücksichtigen gilt, sollte jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung alltagsdiakonischer Seelsorge führen. Vielmehr gilt es abzuwägen, ob sich eine solche (wohlgemeinte) Überversorgung ereignet oder ob der pflegebedürftige Mensch nicht doch letzte Spielräume zu nicht assistiertem Handeln ausschöpfen kann. Freilich stoßen Pflegebefohlene dabei häufig an Grenzen. Man darf dann (seelsorgerlich) nicht dem Mythos der Aktion bzw. Aktivität1217 verfallen, dem Passivität, passives Empfangen, einseitige Zuwendung, Muße usw. stets suspekt sind, und der auf keinen Fall seelsorgerlich zu pflegen sei. Vielmehr lehrt das Bild vom Leib Christi, wie bereits angesprochen, dass es ein einseitiges Nehmen, Empfangen und Passivsein zu seiner Zeit durchaus geben darf. In einer solchen gelassenen Haltung, die sich fallen lassen und hinnehmen kann, bekundet sich christliche Vita passiva, die sich auch im Nichtstun und Verwöhntwerden gerecht-fertigt weiß.
1214 Seibert, H., a.a.O., 35. 1215 Ebd., 36 [Kursiv O.K.]. 1216 Luther, H., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart (1992), 234. 1217 Vgl. 264ff.
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D. Zusammenfassung und Folgerungen Die vorangegangenen Auswertungen ergaben, dass selbst kleinste, „mikroskopische“ Nuancen der Körpersprache in der Heimseelsorge bedeutungsvoll sein und weit mehr kommunizieren können, als es zu vermuten gewesen wäre. Diese – teils unscheinbaren – Elemente der Interaktion setzen auf ihre Weise Akzente und summieren sich zu einem ‚Typ‘ mit differierender seelsorgerlicher Intention. Es können drei Idealtypen der Seelsorge im Altenpflegeheim beschrieben werden, die sich aus unterschiedlichen nonverbalen Figuren zusammensetzen und der individuellen seelsorgerlichen Strebung Ausdruck verleihen. Kein Detail der Körpersprache ist deshalb belanglos. Vielmehr scheint es, als folgten die Interaktionsweisen einer Maxime und ordneten sich der jeweiligen poimenischen Orientierung unter. Als Bestandteile unterschiedlicher Seelsorgetypen leisten die nonverbalen Elemente somit einen nonverbalen Beitrag zur Kommunikation und Versinnlichung einer theologischen ‚Aussage‘. Die drei dargestellten Varianten der Körpersprache müssen wegen ihrer postulierten tendenziellen „Klientenzentriertheit“ von der Poimenik aus den geschilderten Gründen1218 bisher jedoch übersehen werden. Angesichts des Umstands, dass der größte Anteil der übermittelten Informationen durch nonverbale Ausdrucksweisen kommuniziert wird,1219 ergibt sich für die Seelsorge die Notwendigkeit einer möglichst hohen Kongruenz zwischen Körpersprache und poimenischem Konzept. Zur Vermeidung eines Widerspruchs zwischen Gemeintem und Gesagtem (widersprüchliche Diskordanz) sowie zur Optimierung der Verstehbarkeit des Kommunizierten, scheint es geraten, nach den poimenischen Maximen zu fragen, die die Körpersprache bestimmen sollen. Eine „Reinheit“ des Ausdrucks ist aber nicht nur mit Blick auf Demenzkranke erstrebenswert, sondern auch sonst.1220 Insbesondere in Kontexten und Seelsorgesituationen, die durch Kürze oder kognitive Beeinträchtigungen der Pastoranden bestimmt sind, ist eine solche Stimmigkeit des nonverbalen Ausdrucks angeraten.
1218 Vgl. I.E.4. 1219 Vgl. II.A. Erinnert sei an dieser Stelle an die Einschätzung Birdwhistells, der den Anteil von Worten bei der Informationsübertragung mit höchstens 30 – 35 % annimmt. 1220 H. Dach zählt „kongruentes Verhalten des Pflegenden“ zu den unabdingbaren Voraussetzungen nonverbalen Verhaltens im Umgang mit Demenzkranken, vgl. a.a.O., 323.
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Hier kommt es in besonderem Maße auf eine Eindeutigkeit des Kommunizierten an, da die Kürze der Interaktion nicht viel Gelegenheit gibt, sich verständlich zu machen oder sich zu korrigieren. Eine Klarheit des Ausdrucks dürfte zudem eine stärkere Eindrucksbildung begünstigen und das mit einer seelsorgerlichen Intention Kommunizierte „intensivieren“.
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Teil IV. Ausblick A. Die Untersuchungsergebnisse in ihrer Bedeutung für andere Seelsorgefelder Die Auswertung des empirischen Materials führte zu einer idealtypischen Skizzierung von Seelsorgekonzepten, die sich im Kontext stationärer Pflege anbieten und je ihre Stärken haben. Wenngleich die beschriebenen poimenischen Konstrukte aufgrund ihres dargelegten Kontextbezuges in erster Linie ein Modell für den Dienst in Altenpflegeeinrichtungen sind, lassen sie sich nach ihren Potenzialen für andere Seelsorgefelder befragen. Die Kennzeichen der drei umrissenen Seelsorgetypen sollen deshalb noch einmal pointiert zusammengefasst und in Beziehung gesetzt werden zu speziellen kirchlichen Seelsorgebereichen, die für eine Berücksichtigung der vorliegenden Untersuchungsergebnisse am ehesten infrage kommen. Der verkündigende Seelsorgetyp zeichnet sich durch drei Merkmale aus: 1. Er setzt auf Impulsgebung, 2. er zielt auf das Affektive, 3. er intendiert eine Eindrucksbildung. Kurze, das Emotionale und Unterbewusste ansprechende Signale, werden zu einem Gesamtausdruck komponiert, der Impressionen auslösen und sogleich eine „Evidenz“ des Kommunizierten bewirken sollen. Dieser seelsorgerliche Ansatz stellt einen dem Kontext des Pflegeheims und der Bedürfnislage Gepflegter angepassten Versuch dar, nonverbal theologisch Bedeutsames zu kommunizieren. Es wird Rücksicht genommen auf die Konstitution Pflegebedürftiger: Kognitive und körperliche Schwäche der Besuchten führen zu Kürze und Prägnanz der Interaktion, die zugleich mit Bedeutungspotenzierungen des Nonverbalen einhergeht. Das Wissen um den spezifischen Ort des seelsorgerlichen Geschehens mit seinen eigentümlichen Reaktionsbildungen und Einflüssen begünstigt zudem die Neigung, dem nonverbalen Ausdruck erhöhte Bedeutung beizumessen. Insbesondere der Charakter einer „Bühnensituation“ und das damit verbundene Streben nach Idealisierung der „Darstellung“, verleiht dem Nonverbalen im seelsorgerlichen Besuch eine charakteristische Dynamik. Dieses vorausgesetzt, eignet sich der verkündigende Seelsorgetyp für Seelsorgefelder, bei denen eine große Personendichte anzutreffen und eine größere Zahl von Menschen zu betreuen ist, wie z.B. in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen oder vergleichbaren Institutionen. Hier verhilft der impulsgebende Kurzbesuch dazu, einen größeren Personenkreis zu erreichen 377
und ihn in Kontakt mit einer freundlichen, nonverbal kommunizierten, pastoralen „Botschaft“ zu bringen. Insbesondere scheint sich Seelsorgetyp I für Besuche bei körperlich und geistig Geschwächten zu eignen, da bei ihnen aus den oben dargelegten Gründen mit einer besonderen Empfänglichkeit für seelsorgerliche Impulse zu rechnen ist. Zu denken ist hier an einige Bereiche des Krankenhauses (z.B. Intensivstationen oder psychiatrische Abteilungen), die Kurseelsorge oder Hospize. Dieser Seelsorgetyp eignet sich darüber hinaus auch für Situationen, die keine längere Ungestörtheit erlauben, weil sie sich auszeichnen durch Hektik oder Betriebsamkeit, z.B. an Orten der Spezialseelsorge wie etwa die Betriebs-, Gastronomie-, Schifffahrts-, Hafen-, Flughafen-, Bahnhofs- Autobahn- oder Schaustellerseelsorge, wo mit einem regen Kommen und Gehen zu rechnen ist und seelsorgerliche Begegnungen oftmals zwischen Tür und Angel stattfinden. Die Intensivstation eines Krankenhauses kann ebenfalls ein solcher Ort sein. Auch eine Seelsorge für bestimmte Zielgruppen, wie z.B. Prostituierte, Abhängige oder Obdachlose, könnte sich die Vorzüge des nonverbalverkündigenden Typs zu eigen machen, da die seelsorgerlichen Kontakte zu diesen Pastoranden häufig kurz und marginal ausfallen und es somit darum gehen muss, einen „guten“, in angenehmer Erinnerung bleibenden Eindruck zu hinterlassen, der unbewusste Schichten anzurühren vermag. Ob in den erwähnten Seelsorgekonstellationen freilich dieselben hypothetischen Mechanismen wirksam sind, wie sie in vorliegender Studie für das Pflegeheim angenommen wurden, muss offen bleiben. Je größer die Übereinstimmung einer Seelsorgesituation mit der im Altenpflegeheim ist, desto eindrücklicher dürften die nonverbalen Stimuli von ihren Adressaten erlebt werden. Der anthropologische Seelsorgetyp zeichnet sich ebenfalls durch drei Eigenschaften aus: 1. Er vitalisiert, 2. er mobilisiert, 3. er motiviert. Diese Kennzeichen hängen aufs Engste miteinander zusammen: Indem unter Anknüpfung an anthropologische Einsichten Kräfte, Fähigkeiten, Potenziale mobilisiert werden, kommt es zu einer Vitalisierung der Person, die auf sie wiederum motivierend wirkt. Der seine Ressourcen ausschöpfende und seine Möglichkeiten sich vergegenwärtigende Mensch findet zu einer Quelle der Lebensertüchtigung. Auch bietet sich ihm unter Ausschöpfung seiner (leiblichen, geistigen, psychischen) Potenziale ein Gegengewicht zur Macht des Negativen, die in vielen Krisensituationen die Blicke bindet und sich der Fähigkeit Positives wahrzunehmen bemächtigt. Aus diesem Grund bietet sich der anthropologische Ansatz in Seelsorgesituationen an, die geprägt sind von Hinfälligkeit, Verfall oder Verlust gewohnter Fertigkeiten. Dieser Seelsorgetyp kann dort einen Beitrag leisten, wo die Gefahr 378
einer Fokussierung auf Defizite, Grenzen und Schwächen gegeben ist und der Lebensmut Schaden zu nehmen droht. Dies ist häufig der Fall im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder in Rehabilitationseinrichtungen. Sicherlich ist der anthropologische Ansatz auch eine Option im Hospiz, da es auch in den gezählten Tagen eines Menschenlebens sinnvoll sein kann, ihm die Erfahrung zu ermöglichen, dass er noch lebt und nicht nur ein Sterbender, Todgeweihter ist. Letzte Möglichkeiten sind deshalb auszuschöpfen und verbliebene Ressourcen zu nutzen, um die Erfahrung des Lebendigseins und des Lebendürfens so lange es geht zu erhalten, ohne dabei das Sterben zu leugnen. Eine anthropologische Seelsorge ist sicherlich eine Option für die Arbeit mit (geistig) Behinderten oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, zum Beispiel Demenzkranken, Schädel-Hirn-Verletzten oder Komapatienten. Hier bieten sich der anthropologischen Seelsorge mannigfaltige Möglichkeiten, zu unterschiedlichen Erfahrungen der oben vorgestellten Art1221 beizutragen, Dimensionen des Menschseins zu fördern und eine Ebene des Zugangs zum beeinträchtigten Menschen zu erschließen. Eine Dimension ist die leibliche, die sich in der Interaktion mit den erwähnten Personengruppen in besonderer Weise empfiehlt und Chancen ganz eigener Art birgt. Aber auch in anderen Konstellationen kann eine „Seelsorge als Leibsorge“ angeraten sein, je nachdem, wie eine Seelsorgerin bzw. ein Seelsorger die Bedürfnislage ihres/seines Gegenübers und deren Empfänglichkeit für einen bestimmten „Kanal“ einschätzt. Den alltagsdiakonischen Seelsorgetyp kennzeichnen zwei Merkmale: 1. Er verschafft Erleichterung in der unmittelbaren Situation, 2. er pflegt die Verwöhnung. Auch hier hängt beides miteinander zusammen, denn das Schaffen von kleinsten Erleichterungen hat nicht selten den Charakter des Verwöhnens. Die Kennzeichen dieses Seelsorgetyps wurden verständlich vor dem spezifischen Hintergrund der Heimsituation. Da eine veränderte Wahrnehmung und ein verändertes Erleben bei Pflegebedürftigen in stationärer Obhut vermutet wurde, lag der Gedanke nahe, mikro-diakonische Hilfestellungen und Verwöhnung könnten einen alltagsdiakonischen Typ begründen und ein legitimes Anliegen der Seelsorge unter den Bedingungen stationärer Pflege sein. Möglicherweise trifft ein verändertes Wahrnehmen und Erleben sowie eine Empfänglichkeit für das Verwöhntwerden auch auf andere Pastoranden zu. Ich denke zum Beispiel an Drogenabhängige, Obdachlose oder Menschen, mit denen Streetworker es zu tun haben (Prostituierte, Straßenkids usw.). Dieser Personenkreis gehört häufig zu jenem, die nichts besitzen, um Elementares zu kämpfen haben und kaum in den Genuss von Streicheleinheiten oder Verwöh1221 Vgl. B.1.
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nung kommen. Diese Zuwendungen scheinen vielmehr eine Kostbarkeit zu sein, so dass jede kleinste Handreichungen oder Hilfestellung als ein angenehmes Verwöhntwerden erlebt werden kann. Die seelsorgerliche Intention, Menschen, die es in der beschriebenen Weise schwer haben, durch alltagsdiakonische Zuwendungen zu „streicheln“, kann an sich sinnvoll sein. Sie hat zudem aber noch einen Symbolgehalt und kommuniziert etwas von dem Gott, der es gut meint, der „so gerne hilft“ (Ps. 13,6), oftmals im Kleinen, Unscheinbaren, Stillen, häufig sub contrario. Die einzelnen, den jeweiligen Seelsorgetyp kennzeichnenden Elemente, können freilich auch für die Parochialseelsorge fruchtbar gemacht und nach ihrem Potenzial für andere Interaktionskonstellationen und kirchliche Handlungsfelder befragt werden. Das Motiv der ‚Impulsgebung‘ beispielsweise könnte ein neues Paradigma für den pastoralen Dienst darstellen. Dies könnte dazu führen, unter bestimmten Umständen auf längere, begleitende Prozesse zu verzichten und stattdessen auf die Kraft des Impulses, der kurzen Eindrucksstimulation bzw. der dosierten pastoralen Zuwendung zu setzen. Eine modifizierte pastorale Praxis wäre gelegentlich die Folge. Kasualien etwa, als ‚Impulse‘ verstanden, könnten zur Veränderung einer an poimenischen Paradigmen wie ‚Begleitung‘, ‚Zeit haben‘, oder ‚Prozess‘ orientierten pastoralen Praxis führen. Deutet man z.B. den Kasus der Trauerfeier als (wichtigen, entscheidenden, hilfreichen, therapeutischen, beeindruckenden usw.) ‚Impuls‘, so kann es in einigen Trauersituationen sinnvoll und geraten sein, allein auf die Kraft der („impulsgebenden“) Segenshandlung zu setzen, ohne den Trauerprozess jedesmal intensiv und über einen längeren Zeitraum begleiten zu müssen. Weitere Überlegungen zu einem möglichen Potenzial der erarbeiteten Ergebnisse für andere kirchliche Bereiche werden in dieser Arbeit nicht angestellt, da sie ihren Rahmen sprengen und zu weit vom Kern der Fragestellung fortführen würden.
B. Die Relevanz der Heimseelsorge für Gesellschaft und Kirche Die vorangegangenen Kapitel beschäftigten sich mit dem Nonverbalen und fragten: Welche Sprache spricht die Körpersprache? Es wurde versucht zu ergründen, was diese für die Seelsorge im Altenpflegeheim zu leisten vermag. Die empirisch gewonnenen Einsichten wurden zu einer gegenstandsbezogenen Seelsorgetheorie nach Art einer Grounded Theory weitergeführt und in ihrer potenziellen Relevanz für andere Seelsorgefelder erschlossen. Dabei wurde 380
deutlich, dass selbst kleinste und unscheinbarste Elemente der Körpersprache im Kontext der Seelsorge als (zielgerichtetes) Signal im Sinne Argyles1222 fungieren und theologisch Bedeutsames kommunizieren können. Aufgrund der Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren (Watzlawick), verdient jedes nonverbale Detail Beachtung. Kommunikation und Interaktion wurden in dieser Untersuchung deshalb gleichgesetzt. Auch der Umstand, dass es Seelsorge in einigen Pflegeheimen gibt, in anderen nicht bzw. der Umfang kirchlicher Präsenz in stationären Einrichtungen und ihre Ausstattung und Organisation, spricht eine Sprache: Nach innen und nach außen werden mit diesen Gegebenheiten Signale gesendet, Einschätzung kommuniziert, werden Werte bezeugt. Die Öffentlichkeit erfährt beispielsweise, wie die Kirche zu Alten, Hochbetagten und Pflegebedürftigen steht, an welcher Anthropologie sie sich orientiert, welche Schwerpunkte kirchlicher Arbeit gesetzt werden, welchen Arbeitszweig die Kirche sich etwas kosten lässt und wie sie ihn materiell/personell ausstattet. Ob sie es will oder nicht, die Kirche setzt mit ihrem Engagement bzw. mit ihrer Vernachlässigung Pflegebefohlener ein unübersehbares, öffentliches Zeichen, das etwas aussagt über die der Heimseelsorge beigemessene Relevanz. Abschließend soll deshalb über die Bedeutung der Heimseelsorge für Gesellschaft und Kirche nachgedacht werden. Mit diesem Arbeitszweig verbinden sich diverse Inhalte, Aussagen und Einschätzungen, die verschiedene gesellschaftliche und kirchliche Bereiche tangieren und in einer subtilen Wechselwirkung zu ihnen stehen. Wie sich zeigte, finden sich Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung des kirchlichen Engagements im Pflegeheim (Stellenschlüssel, Personalpolitik, Qualifikationsanforderungen).1223 Auch wurde deutlich, dass die poimenische Literatur der (Pflege-) Heimseelsorge nicht dieselbe Aufmerksamkeit zukommen lässt, wie sie beispielsweise für die Krankenhausseelsorge zu verzeichnen ist,1224 obwohl das Pflegeheim mittlerweile ein nicht wegzudenkendes Element in der Versorgung Pflegebedürftiger ist und „für viele hochbetagte Menschen eine durchaus gängige Lebensform“1225 darstellt: 20 % der Deutschen1226 und ca.
1222 Zur Unterscheidung zwischen nichts beabsichtigenden Zeichen und zielgerichteten Signalen vgl. II.A. 1223 Vgl. I.A.2. 1224 Vgl. I.A. 1225 Schneekloth, U./Müller, U., Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen, 37. 1226 Dirschauer, K., Pietät ohne Pathos – Der Bestatter als Trauerexperte, in: Evangelische Kommentare 29 (1996), 670 – 672.
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70 % aller Demenzkranken1227 sterben im Pflegeheim, das damit nach dem Krankenhaus mit erkennbar steigender Tendenz der zweithäufigste Sterbeort des 21. Jahrhunderts ist.1228 Der demografische Wandel wird zudem – wie gezeigt – zu einem spürbaren Anstieg des Pflegebedarfs in Deutschland führen, der von pflegenden Angehörigen infolge zunehmender Singularisierung und Mobilität nicht mehr wie bisher zu leisten sein wird. Auch eine nachlassende Fähigkeit, angesichts von Fortschrittsgläubigkeit, Leistungsdenken und Delegieren des Betrüblichen an „Professionelle“ (Bestattungsinstitute, Pflegeheime, Hospize), mit Schwäche, Leid und Tod umzugehen, dürfte ein Faktor sein, der die Inanspruchnahme von Pflegeeinrichtungen begünstigt. Der enorme Strukturwandel des Alters, der nunmehr die Lebenssituation Hochbetagter und Pflegebedürftiger in den Blick nimmt, die in den optimistischen Altersleitbildern der siebziger und achtziger Jahre nicht vorkam, fordert kirchliches Handeln wie nie zuvor heraus und lässt nach der Bedeutung des kirchlichen Dienstes im Altenpflegeheim fragen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der kirchliche Dienst im Pflegeheim weit über seine ethische Bedeutung hinausgeht und wegen seiner vielfältigen Aspekte das Potenzial birgt, künftig eine weit größere Rolle im Ensemble der kirchlichen Dienste und für die Gesellschaft insgesamt zu spielen: Die Kirche würde einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten, wenn sie dem demografischen Wandel bzw. Strukturwandel des Alters durch Entsendung einer größeren Zahl von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Pflegeheime Rechnung trüge und so dem Phänomen der Hochaltrigkeit und daraus folgend dem der Pflegebedürftigkeit samt Begleiterscheinungen (Demenz, Nachlassen des Verbalen, Bedeutung des Leiblichen) größeres Gewicht beimessen würde. Kirchliches Handeln muss sich künftig verstärkt einstellen auf eine alternde Gesellschaft mit sinkender Sterblichkeitsrate1229 infolge medizinischen Fortschritts, Gesundheitsbewusstseins und besserer Ernährungsmöglichkeiten. Sie 1227 Wilkening, K./Kunz, R., a.a.O., 16f. 1228 Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden lag der Anteil der in Deutschland im Krankenhaus Verstorbenen 1998 bei 47,3 %. Im Vergleich zu den siebziger und achtziger Jahren ist ein Rückgang der Zahl der im Krankenhaus Verstorbenen zu verzeichnen, was „weniger auf eine Zunahme des Sterbens in privaten Umgebungen als vielmehr auf eine Verlagerung in Alten- und Pflegeheime zurückzuführen“ ist, so Helmers, S., Tabu und Faszination – Über die Ambivalenz der Einstellung zu Toten, Berlin (1989), 34. 1229 Beleg für die sinkende Sterblichkeit sei hier beispielhaft die Zahl der Bestattungen auf den Hamburger öffentlichen Friedhöfen genannt, die im Zeitraum von 2002 – 2009 von 8.214 auf 7.434 sank, vgl. Hamburger Friedhöfe – AöR -, Geschäftsbericht 2009, 2.
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kann sich deshalb in ihrer Altenarbeit nicht mehr ausschließlich an den alten Mustern und Strukturen orientieren, die sich vor allem den rüstigen, mobilen, „jungen“ Alten widmen.1230 Verstärkt ist damit zu rechnen, dass künftig ein weit höherer Anteil der Hochbetagten am Lebensabend auf ambulante oder stationäre pflegerische Versorgung angewiesen sein wird. Indem die Kirche ihre Präsenz in Pflegeheimen durch Verstärkung seelsorgerlicher Ressourcen erhöhte und sich damit auf die neue Situation einstellte, setzte sie einerseits ein gesellschaftliches Zeichen im Sinne einer Solidarität mit Pflegebefohlenen und Zugehörigen, andererseits bekundete sie durch diese Präsenz an dem Ort, der u.a. als „barrierevolle“, „fremde Welt“ oder totale Institution im Sinne Goffmans1231 beschrieben wurde, wie sinnvoll es ist, sich Schwerstpflegebedürftigen zu widmen. Wenn man zudem das Pflegeheim mit Foucault als „Heterotopos“, also einen andersartigen Ort mit spezifischen Herausforderungen versteht, kommt dem so verstanden Topos insofern besondere Bedeutung zu, als derartige ‚Orte‘ bzw. ‚Räume‘ eine erhöhte kirchliche Präsenz theologisch herausfordern, da gerade sie es sind, die seelsorgerliche Besuche existenziell werden lassen und den Besuchten oft zu der Erfahrung verhelfen, Gott sei auf einzigartige Weise nahe in den „finsteren Tälern“, „Wüsten“ des Lebens, Orten der Verbannung oder auf dem Weg des Menschen ins Ungewisse. Wenn die Kirche Seelsorgerinnen und Seelsorger in Pflegeheime entsendet und damit am bestehenden System der Versorgung pflegebedürftiger Menschen partizipiert, nimmt sie zugleich Stellung zu diesem System im Sinne einer – wenngleich nicht zwingend unkritischen – Bejahung der gewachsenen Versorgungsstruktur, die nicht unumstritten ist:1232 Gesellschaftlich steht das Pflegeheim schlecht da, und es mangelt ihm an Akzeptanz. Damit erklärt sich zugleich die allgemeine Zustimmung zur Prioritätensetzung ‚ambulant vor stationär‘, als würde häusliche Pflege per se humaner sein als stationäre.1233 Hier handelt es sich meines Erachtens um eine Indifferenz, der kirchlich widersprochen werden sollte, da sie ideologische Züge trägt und eher Ausdruck einer „sozialpolitischen
1230 Vgl. Blasberg-Kuhnke, M., Gerontologie und Als Praktische Theologie, Düsseldorf (1985). 1231 Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, 343ff. 1232 Zu den prominentesten Vertretern einer radikalen Ablehnung stationärer Pflegeeinrichtungen gehört der Psychiater Klaus Dörner, vgl. z.B. das Interview mit ihm „Das ganze Land ohne Heime – eine Utopie?“ in: Breitscheidel, M., a.a.O., 201 – 215. 1233 Zur „generellen Ablehnung des Wohnens im Altenheim“ vgl. Lehr, U., Psychologie des Alterns, Wiesbaden (1991, 7. Aufl.), 299; auch Fischer, L., Die Einstellung zum Altenheim und der Institutionalisierungsprozess, in: Zeitschrift für Gerontologie 9 (1976), 444 – 454.
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Idealisierung“1234 als der einer nüchtern-realistischen Wahrnehmung ist. Viele Autoren betonen deshalb z.B. den Vorteil der öffentlichen Kontrolle in Pflegeheimen zum Schutz Pflegebefohlener, die bessere Gewährleistung qualitativer Pflege, aber auch die Entlastungsfunktion, die das Pflegeheim für pflegende Angehörige hat, wobei noch zu bedenken ist, dass „mit abnehmender Haushaltsgröße die Überforderung in Pflegedyaden zunimmt“1235 – ein Gesichtspunkt, der angesichts kleiner werdender Familien- und Haushaltsstrukturen nicht zu verkennen ist. Auch Gröning weist auf den Überforderungsaspekt1236 hin und beschreibt das Dilemma pflegender Familienmitglieder, die sich „im Gefängnis einer Polarität von abschiebender versus überforderter Familie“1237 befänden und spricht vom „Mythos“ eines „guten“ Sterbens zu Hause.1238 Der kirchliche Dienst im Pflegeheim hingegen macht sich frei von solchen „Mythen“ und quasi-ideologischen Einseitigkeiten, ohne für die Vor- oder Nachteile der einen oder anderen Form von Pflege blind zu sein. Es ist der Kirche möglich, Pflegeheime theologisch-ethisch als ‚Kompromiss‘ zu begreifen, der seinen Platz in einer nicht idealen (da „gefallenen“), allenthalben Zugeständnisse erfordernden Welt hat, ohne doch Heime als ideale Versorgungsform verstehen zu müssen. Zudem tragen Pflegeheime unaufhaltbaren, gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung, wie z.B. der Singularisierung, Mobilität, Erwerbstätigkeit von Frauen, Anwachsen der Einpersonenhaushalte usw., welche zugleich erklären, warum pflegende Angehörige – oft beim bloßen Gedanken an häusliche Versorgung von Gliedern der eigenen Familie – schnell an ihre psychischen, physischen, logistischen oder räumlichen Grenzen stoßen. An dieser Stelle sei auf Thielickes Überlegungen hingewiesen, der in seinen Betrachtungen zum Kompromiss betont, dass auch die „gegenständliche Welt ... eine maßgebende Komponente des Ethischen“ und deshalb der Kompromiss der „ethischen Weisheit letzter Schluss“ sei.1239 Anders gewendet: Weil die Einstellung gegenüber stationären Einrichtungen nicht von gesellschaftlichen (soziologischen, demografischen, finanzpolitischen, zeitgeistlichen) Gegebenheiten absehen kann, da sie sonst weltfremd, utopisch und realitätsfern wäre, müssen solche Faktoren mit einbezogen und angemessen gewichtet werden. Wer Pflegeheime – wie z.B. Dörner1240 – grundsätzlich ablehnt, darf nicht nur für utopische Visionen der Versorgung Pflegebedürftiger werben, sondern muss 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240
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Klie,T./Pfundstein, T./Stoffer, F. J. (Hg.), a.a.O., 13. Ebd., 14. Vgl. Gröning, K., Entweihung und Scham, 94ff. Ebd., 97. Ebd., 88f. Thielicke, H., Theologische Ethik, II/1, Tübingen (1959), 59. Vgl.
auch mit deren Realisierbarkeit und Praktikabilität unter den realen gesellschaftlichen Bedingungen überzeugen. Damit soll freilich nicht innovativen Pflegemodellen, die zunächst unter Absehung des Praktikablen und Realistischen entwickelt werden, gewehrt werden, denn fraglos gehen von ihnen wie auch sonst vom Utopischen und Visionären, Impulse zur Optimierung des Status quo aus. Dennoch ist nicht sinnvoll, die grundsätzliche Abschaffung stationärer Pflegeeinrichtungen zu fordern – etwa mit dem Vorschlag der Mobilisierung eines stärkeren Bürgersinns und entsprechender nachbarschaftlicher Versorgung Pflegebedürftiger.1241 Wer Pflegeeinrichtungen per se ablehnt, übersieht die mannigfachen Chancen für eine durchaus mögliche Einflussnahme auf die Pflegekultur. Auch wäre zu fragen, ob die Argumente für eine Ablehnung von Pflegeheimen ebenfalls auf andere, ähnliche stationäre Versorgungseinrichtungen zu beziehen wären, wie z.B. Hospize, die gegenwärtig einen enormen gesellschaftlichen und politischen Zuspruch finden. Im Verlauf dieser Studie kam mehrfach der politische Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘, häusliche Pflege vor Heimpflege zur Sprache. In dieser von manchen durchaus kritisch gesehenen Maxime1242 drückt sich die Absicht des Staates aus, sich als Anbieter stationärer Pflege zurückzunehmen und eine „Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung“ (SGB XI) zu fördern. Unter dem 1241 Klaus Dörner formuliert auf dem Symposium des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und ambulante pflegerische Dienste e.V. (DEVAP) am 11.09.2002 in Hamburg zum Thema „Das Pflegeheim – Ein Auslaufmodell?“ folgende Vision: „Ich wünsche mir ..., dass der Bundestag die Bevölkerung mit einem gewissen Nachdruck auffordert, sich in Straßengemeinschaften von noch zu errechnender Größenordnung zusammenzufinden, um zumindest für die dort lebenden Alterspflegebedürftigen eine hinreichende Hausgemeinschaft zu gründen. Für die Realisierung sollte es mehrere Wahlmöglichkeiten geben: So könnte die Straßengemeinschaft eine solche Aufgabe für lästig halten und sie an einen professionellen Träger abgeben, jedoch die Trägerschaft behalten; oder sie könnte die Aufgabe selbst übernehmen und dafür einen eigenen Trägerverein gründen; oder sie könnte darauf verzichten, sich aber stattdessen dazu verpflichten, für die Betreuung der Alterspflegebedürftigen in dieser Straße selbst die Verantwortung zu übernehmen – all dies natürlich stets in Verbindung mit entsprechenden professionellen Pflegediensten und Hausärzten.“ Das Modell ist gewiss nicht ohne Charme, es setzt jedoch einen unrealistischen Bürgersinn und entsprechende Gesellschaftsstrukturen mit stabiler, kaum fluktuierender Nachbarschaft voraus und kommt selbst nicht völlig aus ohne den Gedanken professioneller Trägerschaft. So findet sich selbst noch im dörnerschen Modell die Idee einer professionellen Pflege, die sich lediglich durch eine nachbarschaftliche Trägerschaft von bisher gewohnten Trägern stationärer Einrichtungen unterscheidet. 1242 Klie, T./Pfundstein, T., Stoffer, F. J. (Hg.), a.a.O., 13f.; vgl. auch Gröning, K., Entweihung und Scham, 88ff.
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Gesichtspunkt der Subsidiarität scheint solches zunächst begrüßenswert, da so einer Monopolstellung des Staates in der Versorgung Pflegebedürftiger zugunsten eines größeren Angebotes unterschiedlicher Träger gewehrt wird. Gröning gibt unter Bezug auf den französischen Soziologen Bourdieu allerdings zu bedenken, dass „mit der umstandslosen und einfachen Forderung nach Rückzug des Staates immer auch ein Stück Zivilisation zurückgenommen wird. Neben der Wohnungsbaupolitik, insbesondere dem sozialen Wohnungsbau, der Medienpolitik, dem Bildungswesen, der Gesundheitspolitik hat der Gesetzgeber mittels des Pflegeversicherungsgesetzes nun auch das Feld der Pflege in einen Markt verwandelt, aus Schwestern Leistungsanbieter und aus Pflegebedürftigen Kunden gemacht“1243.
Man mag die Einschätzung zur Rolle des Staates unterschiedlich bewerten und die These kritisch beurteilen. Sicher wird man eine gewisse regulative Seite des Staates als Garant bestimmter Kulturgüter und Normen nicht leugnen können.1244 Wenn man sich die Einschätzung Grönings zu eigen macht, liefert sie eine weitere wichtige Begründung für ein verstärktes kirchliches Heimengagement und zwar im Sinne eines Beitrags zur „Zivilisierung“ bzw. Humanisierung der Pflegekultur durch seelsorgerliche Zuwendung, Bekräftigung der Menschenwürde, Repräsentierung der religiösen und Sinn-Dimension, Ansprechen elementarer anthropologischer Bedürfnisse, Veranschaulichen des christlichen Menschenbildes sowie durch ein Durchbrechen der heimtypischen Barrieren.1245 Die Kirche ist deshalb zum einen gefordert, den „Markt“ der Pflege nicht anderen Anbietern zu überlassen, sondern verstärkt zu investieren in stationäre Einrichtungen, in denen auch seelsorgerlich-ökologische1246 Gesichtspunkte berücksichtig werden; zum anderen ist sie gefordert, eine Strategie zu verfolgen, die ihre seelsorgerliche Präsenz in Pflegeheimen nicht kirchlicher Trägerschaft erhöht, um so wenigstens zu einer Mitgestaltung der Pflegekultur beizutragen. Auch wenn dieser Beitrag nur in Gestalt einzelner seelsorgender Personen begegnete und keinen strukturellen Niederschlag fände, wäre er nicht zu verkennen, da er einen Kontrapunkt zu dem bildete, was in der Pflege normalerwei1243 Gröning, K., Qualität und Pflege als Problem der Organisationskulturen, a.a.O., 438. 1244 Man denke etwa daran, dass der Staat daran mitwirken muss, damit die Marktwirtschaft ihren Charakter als eine soziale nicht verliert. In jüngster Zeit nehmen die Kirchen den Staat in seiner Schutzfunktion für die christliche Feiertagskultur in Anspruch, indem sie vor dem Verfassungsgericht für ein Verbot der verkaufsoffenen Adventssonntage streiten. 1245 Vgl. Koch-Straube, U., Fremde Welt Pflegeheim, Kapitel ‚Das Heim als Bastion’, 51ff. 1246 Gemeint sind die die Umwelt betreffenden Aspekte der Lebenswelt Pflegeheim, wie z.B. Architektur oder Gestaltung der Räume usw.; Näheres bei Saup, W., a.a.O.
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se möglich, oder besser gesagt: nicht möglich ist. Man denke z.B. an den vielbeklagten Zeitmangel, die auf bloße körperliche Bedürfnisbefriedigung zugeschnittenen Zeitbudgets, das Ausblenden des Religiösen, die nicht praktikable, kontinuierliche Sterbebegleitung durch die Pflegekräfte usw. So nähme die Kirche mit ihrem Seelsorgedienst zumindest „atmosphärischen Einfluss“ auf die stationäre Lebenswelt und leistete wenigstens in zeichensetzender, exemplarischer Weise ihren Beitrag zur Verbesserung der Lebensumstände Pflegebefohlener. Da Begleitung gerade an den Wendepunkten des Lebens zu den Kernaufgaben und –kompetenzen kirchlichen Handelns gehört1247 und die Übersiedlung in ein Pflegeheim einen einschneidenden Wendepunkt markiert, darf die Kirche das Pflegeheim als letzten Lebensort nicht vernachlässigen. Sie muss vielmehr die Idee weiterentwickeln, dass Amtshandlungen, die Wendepunkte im Leben begleiten, zu „diversifizieren“1248, der in letzter Zeit des Öfteren ausgesprochen wird. So ist gerade das Pflegeheim als ein wichtiges Terrain kirchlichen Handelns zu entdecken. Neben der seelsorgerlichen Begleitung ist hier auch an neu zu entwerfende, weiterzuentwickelnde oder wiederzuentdeckende rituelle Gestaltungsmöglichkeiten zu denken, die helfen könnten, die vielfältigen Verluste, die mit einer Heimübersiedlung einhergehen, zu bewältigen und sich den neuen Raum besser anzueignen.1249 Solche Rituale könnten dazu beitragen, die fremde Welt mehr zu einem Daheim und den neuen Raum zu einem Lebensraum werden zu lassen, wenngleich sicherlich eine bleibende Spannung zwischen Fremdheit und Heimischwerden unvermeidbar ist. Die Analyse der Lebenswirklichkeit in Heimen zeigt, dass die Kirche hier zu einer besonderen Sprach-, oder was dasselbe meint, Ausdrucksfähigkeit herausgefordert ist. Es ist jedoch nicht nur eine Ritual- oder Bildersprache, die sich in jener außergewöhnlichen Lebenswelt besonders empfiehlt, sondern, wie diese Untersuchung herausstellte, vor allem die Körpersprache. Indem kirchliche 1247 Sei es, weil die Krisen des Lebens einen wichtigen Bezugspunkt für die Entstehung, Entwicklung und Bewährung des Glaubens markieren, sei es, weil lebensgeschichtlich wichtige Ereignisse in besonderem Maße eine Nachfrage kirchlicher Begleitung mit sich bringen. 1248 Besonders überzeugend z.B. Wagner-Rau, U., Segensraum, Stuttgart/Berlin/Köln (2000). 1249 Zu denken ist hier beispielsweise an Rituale, die eine Aneignung oder Inbesitznahme des neuen Raumes bekräftigen. Diese könnten möglicherweise die Gestaltung des Raumes (z.B. Anbringen von Bildern, Aufstellen von bedeutsamen Gegenständen usw.). Das Bringen von Salz und Brot durch die das erste Mal zu Besuch Kommenden wäre ebenfalls ein geeignetes Ritual, für das sich möglicherweise auch andere Varianten finden lassen.
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Seelsorge verstärkt diese ungewohnte, nonverbale ‚Sprache‘ nutzte, sie aus Gründen der Notwendigkeit wie auch anthropologischer Einsicht kultivierte und kommunizierte, leistet sie einerseits einen Beitrag zur ‚Sprach‘kultur. Andererseits würde die Kirche ihrem Anspruch als Bildungsinstitution gerecht. Dabei böte sich das Pflegeheim sogar als besonders geeignete ‚Sprach‘schule der neu zu entwickelnden Ausdrucksform an und könnte, wie gelegentlich auch sonst, zu einem Ort innovativer Ansätze werden.1250 Ein solcher innovativer Impuls ginge allerdings nicht allein von der neu zu übenden ‚Sprache’ aus, sondern erstreckte sich ebenfalls auf das im kirchlichen Engagement im Pflegeheim zum Ausdruck kommende Menschenbild, welches sich sperrt gegen moderne Vorstellungen vom Menschen und damit zusammenhängenden Ideen von gelungenem Leben mit der Betonung des (Zweck)Rationalen, Erfolgreichen, Gesunden oder Machbaren. Das Pflegeheim bildete damit (auch wegen der hier gepflegten „neuen“ Sprache) eine „Gegenwelt“ zur verbalen und als höherwertig geltenden. Eine besondere Sprachfähigkeit ist ebenfalls in der Begleitung Sterbender vonnöten und zu üben.1251 Auch hier gibt es in der Kirche Nachholbedarf, insbesondere hinsichtlich der rechten Gewichtung des Sterbeortes Pflegeheim. Lammer1252 ist zuzustimmen, wenn sie die kirchliche Kompetenz als qualifizierte Begleiterin im Todes- und Trauerfall betont und als zusätzliche Maßnahme zur Rückgewinnung dieser Expertise für einen „perimortalen“, also vor Eintreten des Todes einsetzenden seelsorgerlichen Beistand plädiert. Charakteristisch scheint jedoch, dass das Ausmaß des Sterbens in Pflegeheimen mit keinem Wort zur Sprache kommt, obwohl sie sich gerade im Sinne der von der Autorin favorisierten neuen Abschiedskultur das Pflegeheim anbietet, denn sie haben gegenüber dem Krankenhaus den Vorteil einer längeren Verweildauer der Bewohnerschaft. Eine neue Trauerkultur setzt allerdings eine entsprechend geschulte Sprachfähigkeit wie auch angemessene personelle Ressourcen mit der Möglichkeit einer unkomplizierten, verlässlichen Ansprechbarkeit der Seelsorgenden voraus. Es liegt nahe, hier vor allem an den Kreis der Ordinierten zu denken, der im Pflegeheim nicht nur „nebenbei“, sondern ungeteilten Dienst tun sollte. Gefragt sind an diesem speziellen Ort besonders Geschulte von großer Interaktionskompetenz, hohem Körperbewusstsein und emotionaler Lebendig1250 Bruder macht auf den Sachverhalt aufmerksam, dass viele „neue Versorgungskonzepte überwiegend in der Welt der Pflegeheime entstanden sind. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich die Universität bisher kaum mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen befasst“, Bruder, J., Demenz zwischen Irreversibilität und Rehabilita-tion, in: Geriatrie Praxis 12 (1990), 26. 1251 Vgl. I.B.10., dort zur Symbolsprache Sterbender. 1252 Lammer, K., a.a.O., 61.
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keit. Ein verstärktes kirchliches Angebot an Fortbildung1253 wäre deshalb zu initiieren, wobei zu vermuten ist, dass eine verstärkte kirchliche Beschäftigung mit dem Thema Sterben im Pflegeheim auch positive Rückwirkungen in anderen Bereichen zur Folge hätte. Sprachfähigkeit und Menschenbild hängen, wie sich zeigte, miteinander zusammen: Indem es im Pflegeheim darum geht, das christliche Menschenbild durch Besuchen und Zuwenden zu bekräftigen, muss die Seelsorge sich um ein breit gefächertes, nuancenreiches Sprach- und Ausdrucksrepertoire bemühen, wozu diese Arbeit anregen möchte. Dieses Repertoire dient nicht allein der Kommunikation zwischen Seelsorge und Pflegebefohlenen, sondern ebenso dem Austausch mit der Öffentlichkeit (Pflegepersonal, Angehörigen usw.). Es gilt zu vermitteln, dass kirchliches Engagement im Pflegeheim nicht nur ein Dienst der Barmherzigkeit, sondern ebenso ein Ausschöpfen aller Dimensionen des Menschseins und ein Aufzeigen von Potenzialen an Lebensqualität ist.1254 An diesem Ort geht es seelsorgerlich um eine Hilfe zum Auf-, nicht zum Ableben. Eine Heimseelsorge, die diese Maxime mit Leben füllt, leistet einen Beitrag zu einer positiven Sicht des vierten Lebensabschnitts bzw. Hochbetagter, denn sie verdeutlicht, wie viele unausgeschöpfte Ressourcen und unentdeckte Möglichkeiten im hochaltrigen Menschen angelegt und fruchtbar zu machen sind. Die bisherigen Erwägungen machen deutlich, dass dem seelsorgerlichen Dienst im Pflegeheim in mehrfacher Hinsicht ein gesellschaftskritisches Potenzial zukommt, welches sich dem prophetischen Amt1255 der Kirche schuldet, selbst wenn dieser Dienst lediglich innerhalb gegebener Strukturen wirkt und sie nicht zwingend infrage stellt. Die gesellschaftskritische Seite der Seelsorge im Pflegeheim kommt besonders in ihrer Altersdiskriminierung wehrenden Dimension zum Ausdruck, denn eine Kirche, die es sich etwas kosten lässt, in einen Bereich zu investieren, der gesellschaftlich wenig attraktiv ist, setzt bereits mit dieser Präsenz ein deutliches Zeichen. Der kirchliche Dienst im Pflegeheim hat somit nicht nur eine seelsorgerliche und – wie gezeigt – das christliche Menschenbild zur Anschauung bringende Seite, er repräsentiert in seiner Zuwendung zum Menschen des dritten oder vierten Lebensalters zugleich eine Gegenwelt, in 1253 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass erste Ansätze zu solchen Standards und Curriculae zu erkennen sind, darunter besonders erwähnenswert das Weiterbildungscurriculum für Alten(heim)seelsorge, das vom Seelsorgeinstitut der Kirchlichen Hochschule Bethel in Zusammenarbeit mit dem Ev. Johanneswerk e.V. entwickelt wurde und seit 1997 für Interessenten aus den Gliedkirchen der EKD zur Verfügung steht. 1254 Vgl. III.B. 1255 M. Klessmann macht diesen Gesichtspunkt für die Krankenhausseelsorge fruchtbar, vgl. Die prophetische Dimension der Seelsorge im Krankenhaus, in: Wege zum Menschen, 49 (1997), 413 – 428.
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der Alte, Hochbetagte und Pflegebedürftige ihren gleichberechtigten Platz haben, geachtet sind und auch nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Abbaus, Verfalls oder Sterbens gesehen werden. So bedeutet die Pflegeheimseelsorge zugleich einen Protest gegen vielfältige Formen von Altersdiskriminierung1256, die, wie manche Autoren prognostizieren, zudem ein ungeahntes gesellschaftliches Konfliktpotenzial in sich bergen.1257 Die Kirche darf hier allerdings nicht unkritisch mit sich selbst sein und muss sich fragen, ob nicht auch sie für solche Diskriminierungen anfällig ist.1258 Die gesellschaftskritische Seite einer – wie in dieser Arbeit unter anderem angeregten – anthropologisch orientierten Pflegeheimseelsorge ist auch darin zu sehen, dass sie zu einer Sicht anregt, Pflegebedürftige nicht, wie mehrfach betont, einseitig unter dem Blickwinkel der Bedürftigkeit bzw. des Mangels wahrzunehmen, sondern als Menschen mit verlagerten Kompetenzen und Potenzialen, die auch in größter Hinfälligkeit viel länger als zumeist angenommen ihre spezifischen Stärken behalten und deshalb noch lange Gebende, keineswegs Lebensmüde, bleiben. Wenngleich es nach christlichem Verständnis für die Würde eines Menschen bedeutungslos ist, ob er etwas zu ‚geben’ hat oder nicht,1259 ist es doch weder für das Selbstverständnis Pflegebedürftiger noch für deren angemessene Wahrnehmung gleichgültig, ob sie als ‚Gebende‘ gesehen werden oder ob ihnen diese Rolle abgesprochen wird. Dieses Gebenkönnen Pflegebedürftiger ist allerdings nicht als „Leistung“ zu begreifen, sondern in einem umfassenden, tieferen Sinne zu verstehen, in dem auch Schwäche, Verfall und Angewiesensein ihren Platz haben, denn selbst der schwächste Mensch vermag der Gesellschaft noch etwas zu geben und erfüllt in 1256 Beschreibungen von Altersdiskriminierung in unserer Gesellschaft finden sich bei Schirrmacher, F., Das Methusalem-Komplott, München (2004, 3. Aufl.), 61ff. 1257 Vgl. Gronemeyer, R., a.a.O.; Schirrmacher, F., a.a.O. Blinkert meint: „In nicht ferner Zeit wird es mit großer Wahrscheinlichkeit zu Generationskonflikten kommen, da sich die Schere zwischen den steigenden Versorgungslasten durch ältere Menschen und der ökonomischen Belastung der Erwerbstätigen weiter öffnen wird. Insbesondere wird die Zahl der Pflegefälle dramatisch anwachsen. … Zu erwarten ist unter diesen Bedingungen, dass dann auch die Kämpfe um die knappen Ressourcen teurer Lebensverlängerungsmaßnahmen härter werden“, Blinkert, B., Sterben in modernen Gesellschaften, in: Wege zum Menschen 57 (2005), 534. 1258 Pfarrstellenausschreibungen etwa lassen nach meiner Beobachtung eine Präferenz für Bewerbungen erkennen, die ein Interesse am Engagement im Bereich von Kinder-, Jugend-, Konfirmanden- oder Familienarbeit zeigen. Mög-licherweise lässt sich auch die in dieser Arbeit aufgezeigte Vernachlässigung theologisch-poimenischer Beschäftigung mit den rund um das Pflegeheim relevanten Themen oder auch die skizzierte kirchliche Personalpolitik als Indiz solcher Altersdiskriminierung deuten. 1259 Vgl. die Ausführungen zur ‚Würde’, I.E.1.a.
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ihr eine wichtige Aufgabe. Im Sinne eines solchen Gebens ist nicht zuletzt an das gesellschaftskritische „Amt“ Pflegebedürftiger zu denken, mit dem diese kraft ihrer Schwachheit die geltenden Werte und Normen mit ihrer Leistungsfixierung infrage stellen. Die Gesellschaft braucht die hinfälligen, angewiesenen Menschen als Ermöglichungsgrund einer Humanität, die sich in besonderer Weise in der Begegnung mit Bedürftigen und Hilflosen heranbildet und zugleich die Chance eröffnet, mit der „Kraft, die in den Schwachen mächtig ist“ (2. Kor. 12,9) in Berührung zu treten. Im Kontakt mit ihnen wird es möglich, die Schwachheit der anderen zu einer Erfahrung werden zu lassen, die die Ängste vor der eigenen Schwachheit mindert und Impulse freisetzt, den pflegebedürftigen Menschen in seiner vielfachen Beschränktheit zu bejahen, anzuerkennen, zu rechtfertigen. Dies wäre ein wichtiger seelsorgerlicher Beitrag zur Unterstützung pflegebedürftiger Menschen, denn „wenn es stimmt, was Hegel sagt, dass wir für uns nur sind, was wir für andere sind und was andere für uns sind, dann bedeutet dies, dass eine (pflegebedürftige) Person nur das aussprechen kann, von dem sie annimmt, dass es von anderen als Bedürfnis anerkannt wird oder in Zukunft anerkannt werden könnte. Alles andere bleibt unbewusst und ist damit auch immer ein Stück ‚Nicht-Kultur‘ oder ‚negative Identität‘. Wer keine bejahende Anerkennung seiner Bedürftigkeit erfährt, wird stumm, sagt der Psychoanalytiker Willi Brüggen. Er verfällt dem wunschlosen Elend völliger Vereinzelung“1260.
Die Heimseelsorge stellt demnach auch vor diese Herausforderungen: Zum einen soll sie zum Leben ertüchtigen, ermutigen, zum Durchhalten befähigen, indem sie vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes1261 eine Brücke zum Pflegebefohlenen schlägt und mitwirkt, dessen brachliegende Ressourcen, Potenziale, unentdeckte Möglichkeiten zu heben bzw. an solche anzuknüpfen; zum anderen soll sie kommunizieren, dass der pflegebedürftige Mensch auch dann gerechtfertigt ist, wenn sich die Quellen seiner Möglichkeiten erschöpfen und er in die totale Hilflosigkeit gerät. Er darf „zur Last fallen“1262, darf andere beanspruchen, darf des begleitenden, seelsorgerlichen Besuches gewiss sein, auch wenn kein „Gegenbesuch“, keine Erwiderung mehr möglich ist. Der Gedanke liegt nahe, in der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung eine ideale Einbettung des seelsorgerlichen Dienstes im Heim wie für den 1260 Gröning, K., Qualität in der Pflege als Problem der Organisationskulturen, a.a.O., 442. 1261 Diese Formulierung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass von „dem“ christlichen, also einem in sich geschlossenen, systematischen „Menschenbild“ nicht gesprochen werden kann, weshalb in dieser Arbeit auch nur von ‚Elementen‘ christlicher Anthropologie die Rede ist; vgl. auch Schoberth, W., a.a.O. 1262 Die Befürchtung, anderen „zur Last zu fallen“, dürfte wohl eine der am häufigsten geäußerten Sorgen Alter und Pflegebedürftiger sein.
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Umgang mit Pflegebedürftigen insgesamt zu sehen. Sie bildet auch insofern einen sinnvollen theologischen Hintergrund für die Heimseelsorge, als in dieser Lehre beides integriert ist: Die Bedürftigkeit menschlichen Lebens wie auch deren Rechtfertigung. Der kirchliche Dienst an Pflegebefohlenen bringt somit zugleich einen zentralen reformatorischen Gedanken zur Geltung und erweist ihn auch diesem Zusammenhang in seiner Relevanz. Seelsorge im Pflegeheim ist in einem umfassenden („ganzheitlichen“) Sinne als Lebensertüchtigung zu verstehen; das muss gerade mit Blick auf die besondere „Seel“- sorgesituation stationärer Einrichtungen mit ihren Determinanten wie Nachlassen des Kognitiven (z.B. Demenz), Versiegen des Verbalen oder Körperzentriertheit betont werden. Ein solches Seelsorgeverständnis ergibt sich aus der Analyse der Lebenssituation Pflegebefohlener wie auch aus den Beobachtungen zur nonverbalen Interaktion: Der pflegebedürftige Leib ruft hier nach Zuwendung und Beachtung. In der spezifischen Lebenswelt des Pflegeheims kommt es somit darauf an, die Seelsorge nicht auf die „Seele“ und das Geistliche zu beschränken und zu meinen, beide könnten unter Ausklammerung des Leiblichen ‚tangiert’ werden. Auch der Leib mit seinen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Potenzialen muss in der Begegnung mit Pflegebefohlenen in den Blick kommen durch den Versuch einer „Inspiration“ bzw. Stimulation des Leiblichen mit Hilfe von Mimik, Gestik, fürsorglichem Zur-Hand-Gehen, Berühren, Ansprechen der Sinne, Besuchen, Dasein oder nonverbales Darstellen („Spiegeln“) im aufgezeigten Sinne. Die „Seele“ wird so über jenen Kanal erreicht, der in der Seelsorge zumeist nicht oder kaum genutzt wird, in der Welt der Pflege jedoch eine Notwendigkeit besitzt und eigene Chancen in sich birgt. Die Seelsorge im Pflegeheim kann auch insofern als eine „ganzheitliche“ bezeichnet werden, als in ihr die Grenzen zwischen Seelsorge und Fürsorge, Theologie und Diakonie, Lebenshilfe und Glaubenshilfe fließend sind, wie viele Beobachtungen der seelsorgerlichen Praxis/Interaktion dieser Arbeit veranschaulichen. Zudem bieten sich für manche Interaktionsfiguren zwei Lesarten zugleich an, die entweder eine Interpretation als ‚verkündigend‘ oder als ‚diakonisch‘ zulassen. Nicht zu verkennen ist schließlich, dass die Ermöglichung einer wohltuenden Erfahrung im Kontext der Heimseelsorge verstanden werden kann als Konkretisierung des Zuwendungscharakters des Evangeliums in der Absicht, den pflegebedürftigen Menschen zu erbauen, zu stärken, zu zerstreuen, zu motivieren, zu trösten usw. Zur theologischen Fundierung der Heimseelsorge empfiehlt sich, wie mehrfach gesagt wurde, eine Rückbindung an anthropologische Grundanschauungen. Die Forderung einer „Seelsorge als Leibsorge“ ist hier jedoch insbesondere in Zurückweisung einer Deutung von Pflegeheimen als Sterbeeinrichtungen und in 392
Frontstellung zu einer weitverbreiteten Auffassung hervorzuheben, die meint, Pflegebedürftigkeit an sich mache alle Lebensqualität und -freude zunichte, weshalb auch ein engagiertes Bemühen um Pflegebedürftige im Grunde obsolet, aussichtslos oder sinnlos wäre und man ihnen lediglich ein „humanes“ Sterben wünschen könne. Unter Anknüpfung an theologisch-anthropologische Grundeinsichten wird ein eigener Zugang zum hinfälligen Menschen möglich, welcher es erlaubt, selbst Elementarem und Unscheinbarem noch eine Bedeutung beizumessen, dieses aufzuwerten und in ihm einen legitimen seelsorgerlichen Beitrag im Pflegeheim zu sehen. Eine anthropologisch fundierte, ressourcenorientierte Heimseelsorge ist demnach ein wichtiges Charakteristikum der Seelsorge an Pflegebefohlenen, für das diese Arbeit wirbt.
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C. Schlussbemerkungen Die vorliegende Untersuchung beschäftigte sich mit der nonverbalen Kommunikation in ihrem Ausdruckspotenzial für die Pflegeheimseelsorge. In dem Bemühen, geeignete, empirisch fundierte Ergebnisse für eine Seelsorgetheorie zu generieren, wurden Seelsorgerinnen und Seelsorger in stationären Einrichtungen begleitet und ihre Interaktionen mit der Kamera aufgezeichnet, wobei der Schwerpunkt der Auswertungen auf der Person der Seelsorgenden lag. Insbesondere die Ausführungen des ersten Hauptteils, die das Pflegeheim als eine verstummende Welt zeichnen, lassen das Nonverbale als Untersuchungsgegenstand interessant werden. Hinzu kam die Beobachtung, dass die nonverbale Sprache von Seelsorgenden im poimenischen Diskurs bisher nicht umfassend genug in den Blick kam. So konzentrierten sich alle Gedankengänge dieser Arbeit auf das Interaktive und Interpersonale, ohne jedoch suggerieren zu wollen, Seelsorge (an Pflegebedürftigen) ereigne sich vor allem unter vier Augen bzw. in der Begegnung (zweier) miteinander Interagierender. Festzuhalten ist vielmehr, dass zahlreiche weitere Gesichtspunkte, die in Zusammenhang der Seelsorge an Pflegebefohlenen unbedingt zu verhandeln wären, ebenfalls von seelsorgerlicher Bedeutung sind und beachtenswerte Dimensionen der Poimenik in sich tragen. Auch strukturelle, architektonische, organisatorische, raumgestalterische, gesellschaftspolitische und viele Themen mehr sind wichtige Aspekte der stationären Altenhilfe und bedürften einer (größeren) Beachtung durch die Praktische Theologie. Im ersten Hauptteil dieser Arbeit kamen deshalb gesellschaftliche, politische und strukturelle Gesichtspunkte zur Sprache, die ebenfalls zur Milieubildung in Pflegeeinrichtungen beitragen und den Kontext der Seelsorge mitbestimmen. Mit Blick auf die angesprochenen strukturellen Themen eröffnet sich der Poimenik ein weites Feld, auf dem es – gerade im deutschsprachigen Raum – noch viel zu forschen gilt und dessen seelsorgerliche Relevanz größtenteils erst noch zu erschließen ist. Wenngleich diese Arbeit sich auf die Interaktion von Seelsorgenden und Gepflegten konzentrierte, so versteht sich von selbst, dass auch die Pflegenden1263 von der Heimseelsorge nicht übersehen werden dürfen. Sie haben eine schwere körperliche und psychische Aufgabe zu meistern, sind unentwegt mit dem Abschiednehmen und Sterben konfrontiert, stehen unter enormem Erwartungsdruck und werden in ihrer Tätigkeit durch vielerlei Sachzwänge beschnitten. 1263 Hinzuweisen ist auf das Nachwort zu F. Muntanjohls Schrift ‚Ich will euch tragen bis zum Alter hin‘, das mit den aufrüttelnden Worten überschrieben ist: „Wir sind auch noch da! Wünsche einer Altenpflegekraft“, 173ff.
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Die Seelsorge an Angehörigen ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe im Pflegeheim. Insgesamt kann für die Seelsorge in stationären Einrichtungen gelten, dass sie möglichst alle, die an diesem Ort anzutreffen sind, im Blick haben sollte, da eine Heimseelsorge auch ein poimenisches Mandat am Ganzen hat. Angesichts der vielfältigen seelsorgerlichen Herausforderungen, die aus der Beschreibung stationärer Pflegekultur erwachsen, wurde der Blick jedoch aus Gründen der Praktikabilität und Überschaubarkeit und wegen des identifizierten Forschungsdesiderats ausschließlich auf das Thema der nonverbalen Kommunikation zwischen Seelsorgenden und Gepflegten gerichtet. Dieser Fokus drängte sich mir während der Felderkundung auf: Im Laufe der Auswertung des Materials kristallisierte sich die Bedeutsamkeit sämtlicher körpersprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten heraus, die entweder einen ‚verkündigenden‘, ‚anthropologischen‘ oder ‚diakonischen‘ Seelsorgetyp konstituieren, unterschiedliche Akzente setzen und deshalb mit Bedacht gebraucht sein wollen. Die Deutung der körpersprachlichen Phänomene erfolgte unter anderem mit Hilfe des foucaultschen Konzeptes eines Heterotopos1264, mit dem bestimmte („nicht anthropologische“) Orte charakterisierbar sind. Ausgehend davon, dass auch Altenpflegeeinrichtungen zu dieser Gattung zu rechnen sind wurde das Konzept zur Erhärtung der These genutzt, dass der besondere Kontext der Interaktion zu einer Bedeutungspotenzierung und -erweiterung des Nonverbalen führt. Dieser Mechanismus wurde als ein Äquivalent zu dem in der Poimenik beschriebenen Phänomen auffälliger Reaktionen bei Krankenhauspatienten gedeutet – eine Hypothese, die sich als Grundlage für weitere Untersuchungen anbietet. Interessant scheint die aufgeworfene Frage, welchen Einfluss der jeweilige Ort auf die seelsorgerliche Interaktion hat, mit welchen Wirkungen, Reaktionen, Chancen und Behinderungen an der Stätte eines seelsorgerlichen Geschehens (für alle Beteiligten!) zu rechnen ist und welche Seelsorgestile sich jeweils empfehlen. Diese Fragestellung dürfen von der Poimenik nicht vernachlässigt werden.1265 1264 Zur Charakterisierung des Pflegeheims als Heterotopos vgl. I.D. 1265 Erwähnt wurde bereits E. Stubbe, die auf unterschiedliche philosophische und pastoralpsychologische Konzepte zurückgreift, um auffällige Patientenreaktionen im Krankenhaus zu erklären, vgl. a.a.O, 66 – 95. Auch W. Wiedemann, a.a.O., berücksichtigt den Ort der Seelsorge in seiner Theoriebildung. Hinzuweisen ist auch auf E. Nauraths Ausführungen zum Raum in der Klinikseelsorge, in denen insbesondere proxemische, die räumliche Lokalisation betreffende Gesichtspunkte, angesprochen werden, vgl. a.a.O., 190 – 192. Einen wichtigen Beitrag zum Thema des Ortes bzw. Raumes der Seelsorge leistet M. Josuttis, Segenskräfte, München (2000), vgl. insbesondere 127 – 141. Seine Ausführungen verbleiben zumeist jedoch im Grundsätzlichen und zielen vor allem darauf, phänomenologisch und inkarnationstheologisch zu begründen,
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Angesichts der beachtlichen Diversifizierung1266 seelsorgerlicher Angebote infolge des kirchlichen Trends zu einer stärkeren Berücksichtigung nicht parochialer Tätigkeitsfelder1267, werden solche „besonderen“ Orte der Seelsorge künftig noch stärker zu reflektieren sein. Es scheint geboten, den spezifischen Herausforderungen, die sich durch den jeweiligen Seelsorgekontext ergeben, mehr Beachtung zu schenken, denn am Beispiel der Pflegeheimseelsorge zeigt sich, wie stark der jeweilige Ort, Kontext bzw. Raum seelsorgerliches Verhalten mitbestimmt. Zu fragen ist mit Blick auf die unterschiedlichen Seelsorgekontexte somit, welchen Einfluss sie auf das seelsorgerliche Verhalten nehmen. Welche Vor- und Nachteile bringen sie mit sich? Welche Seelsorgestile und Arbeitsweisen werden durch sie begünstigt oder behindert? Lassen sie ausgedehnte Besuche oder Kurzbesuche ratsam sein? Begünstigen sie Gruppenarbeit oder Einzelseelsorge? Bewirken sie, allein auf die Kraft des Nonverbalen zu setzen oder eher auf den verbalen Austausch? Geht es hier um Impuls oder Prozess? Ist Länge oder Kürze gefragt? Soll ‚verkündigt‘, das ‚Menschsein gepflegt‘ oder ‚geholfen‘ werden? Hinsichtlich der Person der Pflegebefohlenen wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die nonverbalen Stimuli, mit denen jene konfrontiert werden, nicht wirkungslos bleiben, sondern zwingend Impressionen hervorrufen müssen. inwiefern der Raum zur ‚Atmosphäre‘ beitrage, die in seinem poimenischen Konzept eine zentrale Kategorie ist. Er will zeigen, dass der jeweilige Raum auf Personen, die sich in ihm aufhalten, wirkt, sei es mit Segens- oder sei es mit destruktiven Kräften. In beiden Fällen bilde sich an jedem Ort eine Art ‚Fluidum‘, von der die Seelsorgesituation nicht unberührt bleibe. Mit diesen Überlegungen leistet Josuttis einen wichtigen Beitrag zur Berücksichtigung der Faktoren ‚Raum‘ und ‚Ort‘ in der Poimenik (er spricht von „Ortsräumen“). Es wäre sinnvoll, die Fragestellung zu erweitern und die Überlegungen zu konkretisieren, indem z.B. mit Blick auf spezielle Seelsorgefelder die Orte und Räume näher betrachtet, exakte Raum- und Ortsanalysen – sofern möglich – erstellt würden, und eine möglichst realistische Felderkundung in poimenische Reflexionen und Theoriebildungen einflösse. Interessante Konkretisierungen zu einer solchen Berücksichtigung räumlicher Faktoren finden sich im Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, vgl. Eulenberger, K./Friedrichs, L./Wagner-Rau, U. (Hg.), Gott ins Spiel bringen – Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh (2007), 15 – 53. 1266 Nauer unterscheidet 27 unterschiedliche Felder der Spezialseelsorge und 25 der Zielgruppenseelsorge, vgl. Nauer, D., Seelsorge, 13. 1267 Als exemplarisch für diesen Trend kann das Impulspapier der EKD gelten, vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche der Freiheit – Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Hannover (2006); auch das von U. Pohl-Patalong vorgetragene ekklesiologische Zukunftsmodell lässt die Bedeutung nicht parochialer Orte hervortreten, vgl. Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten, Göttingen (2006, 2. Aufl.).
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Da ein Wirkungszusammenhang zwischen den körpersprachlichen Signalen eines Senders und dem subjektiven Eindruck eines Empfängers zu unterstellen ist, kann es einer Seelsorgerin bzw. einem Seelsorger nicht gleichgültig sein, welche nonverbalen Kommunikationsweisen sie/er zu Gesicht bringt und welche potenzielle „Evidenz auf einen Blick“ der pastorale Ausdruck beim Gegenüber begünstigt. Die Überlegungen, die sich auf die Person der Pastoranden konzentrierten, mussten sich jedoch auf die bloße Annahme einer Eindrucksbildung beschränken. Lohnend wäre deshalb eine intensive praktisch-theologische Beschäftigung mit der Rezeptionsforschung1268, die einen jungen Zweig der Psychologie bildet und sich mit der Frage der Wirkung nonverbaler Reize beschäftigt. Dieser Forschungszweig könnte Einsichten dazu beisteuern, welche Reaktionen von welchen Ausdrucksweisen ausgehen, welche Attributionsprozesse von ihnen ausgelöst werden und welche Übersetzungsregeln bei der Interpretation nonverbaler Stimuli zur Wirkung gelangen. Antworten auf diese Fragen sollen der Seelsorge freilich keine Türen zur Manipulation öffnen. Das wäre fatal und käme dem Versuch gleich, den Segen zu erzwingen, die Unverfügbarkeit Gottes anzutasten und Seelsorge „machbar“ zu machen. Auch wäre ein solcher Ansatz der Würde der Pastoranden abträglich. Erkenntnisse aus dem Bereich der Rezeptionsforschung könnten allerdings zu einem modifizierten Körperbewusstsein und Körpereinsatz (zumal in bestimmten Seelsorgesituationen) beitragen. Auch ist es denkbar, dass Erkenntnisse zu der Frage, welche Schlüsse aus den nonverbalen Stimuli bei einer Empfängerin bzw. einem Empfänger gezogen werden, zu einer Neubewertung der gewohnten Interaktionsweisen führen: Gibt es hilfreiche oder störende Interaktionsmodi? Finden sich günstige Gesten und Gebärden oder ungünstige, die besser zu meiden wären, da sie einschüchtern, beängstigen oder bedrohen? Gehen einige mit (stärkerer) Emotionalität einher als andere? Lassen sich Verhaltensweisen von besonderer Eindruckskraft benennen? Die Rezeptionsforschung könnte dazu beitragen, christliche Inhalte nonverbal pointierter zu kommunizieren und sie damit für eine Empfängerin bzw. einen Empfänger leichter erkennbar oder dechiffrierbar zu machen. Das Nonverbale bekäme damit eine die Erfassung, Aufnahme und Verarbeitung des Kommunizierten erleichternde Funktion. Damit wäre sowohl der Seelsorge als auch dem Wort Gottes gedient.
1268 Informatives findet sich z.B. bei Frey, S., a.a.O. oder Kempter, G., a.a.O.
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