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German Pages 242 Year 2001
PETER SCHRÖDER
Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht
Schriften zur Rechtstheorie Heft 195
Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius
Von Peter Schröder
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schröder, Peter: Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht : eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius / Peter Schröder. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 195) Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10183-9
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10183-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ
Vorwort Diese Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 1999 vom Fachbereich Geschichte der Philipps Universität Marburg angenommen wurde. Obwohl das Manuskript im wesentlichen bereits im Sommer 1998 abgeschlossen war, habe ich versucht, auch die vielfältigen neueren Studien zu meinem Thema zu berücksichtigen. Da diese Arbeit ohne die Unterstützung und Diskussion vieler Freunde und befreundeter Kollegen nicht denkbar gewesen wäre, möchte ich hier wenigstens einigen von ihnen meinen Dank aussprechen. Von den Freunden und Kollegen in England habe ich selbst, und wie ich hoffe auch diese Arbeit, am meisten profitiert. Die Zeit meiner Forschung in Oxford ist daher mit der dankbaren Erinnerung an Dr. Ray Ockenden, Dr. David Parrott, Dr. John Robertson und Dr. Timothy Hochstrasser verbunden. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank für ganz unterschiedliche und vielfaltige Hilfe weit über diese Arbeit hinaus. Daneben habe ich durch die konstruktive Gesprächsbereitschaft von Professor Dr. Friedrich Vollhardt, PD Dr. Simone Zurbuchen, Dr. Dieter Hüning, Dr. Thomas Ahnert und Dr. Fiammetta Palladini viel lernen können. Ohne die hier Genannten wäre diese Arbeit kaum mehr als eine akademische Pflichtübung gewesen und hätte mich wohl nicht über mehrere Jahre inspirieren und bereichern können. Selbstverständlich gebührt meinem Doktorvater Professor Dr. Dr. h.c. Klaus Malettke mein vorzüglichster Dank, denn ohne seine Unterstützung wären die ersten Schritte zu dieser Arbeit viel schwerer gewesen. Sein Vertrauen ließ mir dann aber auch den nötigen Raum zu selbständiger Arbeit - vor allem im Ausland, den es an den heutigen Universitäten leider immer weniger zu geben scheint. Durch die hilfreichen Bibliothekare besonders in Halle und Oxford ist mir der Zugang zu den Quellen erheblich erleichtert worden. Auch für diese Unterstützung möchte ich hier ausdrücklich danken. Die FriedrichNaumann-Stiftung hat meine Dissertation durch ein Promotionsstipendium aus Bundesmitteln gefördert. Ohne diese materielle Unterstützung hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Zuletzt möchte ich meiner Freundin Christiane Fenske und meinem Bruder Frank danken, die sich der Mühe unterzogen haben, das Manuskript Korrektur zu lesen. Meinen Eltern, denen ich mehr verdanke, als sie bereit wären zuzugestehen, widme ich diese Arbeit. Peter Schröder
Inhaltsverzeichnis I.
Einleitung
II.
Der Naturzustand bei Hobbes
III.
Exkurs: Die zeitgenössische Kritik - ihr Verständnis des Hobbesschen Naturzustandstheorems 1. Die zeitgenössische Kritik in England 2. Aspekte der zeitgenössischen Kritik auf dem Kontinent 3. Pufendorfs Naturzustandskonzeption im Verhältnis zu Hobbes' Naturzustandstheorie
9 16 43 43 56 66
IV.
Status Civilis - die theoretische Begründung des Staates bei Hobbes
100
V.
Thomasius' Naturrechts- und Souveränitätslehre
131
VI.
Reform und Erziehung
162
VII. Kirche und Staat 185 1. Das Individuum zwischen den obrigkeitlichen Gewalten des Ancien Régime 195 2. Der Konflikt zwischen dem weltlichen Souverän und dem Klerus
203
Vin. Schlußbetrachtung
219
IX.
224 224 224 229 239
Bibliographie 1. Unveröffentlichte Quellen 2. Gedruckte Quellen 3. Literatur Sachwortverzeichnis
I. Einleitung Kaum ein Autor war und ist bis heute so umstritten wie der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679). In ihm wird zu Recht „ein Klassiker des politischen Denkens" gesehen, „der es verstanden hat, mit großer gedanklicher Schärfe und Mut zur Konsequenz ein umfassendes politiktheoretisches System zu entwickeln", das bis zum heutigen Tag „Philosophen, Theologen, Politikwissenschaftler und Historiker [provoziert,] Position zu beziehen" 1 . Hobbes nimmt in der Ideengeschichte des 17. Jahrhunderts einen außerordentlichen Rang ein. Allein schon die Tatsache seines langen Lebens führte dazu, daß er Zeuge der wichtigsten Ereignisse dieser wechselvollen Epoche wurde. Nur fünf Jahre jünger als der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius, gehörte Hobbes eigentlich zu dieser Generation, „but whereas the Dutchman was an intellectual prodigy whose first publication appeared before he was twenty, Hobbes was forty-one when he first published a book. Moreover, not until he was nearly fifty do we have any clear evidence of his philosophical views" 2 . Dadurch steht Hobbes gewissermaßen zwischen den Generationen von Grotius und Locke. In seiner wichtigen Studie weist Metzger darauf hin, daß Hobbes mit seinem philosophischen Werk in England außerhalb der politischen Diskussion verblieb und kaum rezipiert wurde. Er „mußte mit seinen traditionsfremden Theorien nicht nur die Parteigänger des Parlaments vor den Kopf stoßen. Er überforderte mit seinen Umwertungen auch die Anhänger des herkömmlichen Königtums" 3 . Hobbes wird immer wieder als Theoretiker des Absolutismus bezeichnet, der durch die Unruhen des englischen Bürgerkriegs zu seiner absolutistischen Staatslehre gelangt sei. Diese Annahme unterschätzt aber den Gehalt seiner methodisch-systematischen Philosophie, denn seine Erkenntnisse und Positionen waren weitestgehend unabhängig von den Bürgerkriegsereignissen gewonnen worden. Wohl wird man aber sagen müssen, daß sein Blick durch die Sorge um das bedrohte Gemeinwesen geschärft worden ist. Hobbes hat wie kaum ein anderer vor ihm die Ursachen von politischen Krisensituationen untersucht. Aber die Motivation 1
W. Euchner, Thomas Hobbes, in: I. Fetscher, H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Neuzeit. Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München 1985, S. 353-368, hier S. 367. 2 R. Tuck, Philosophy and Government 1572-1651, Cambridge 1993, S. 279. 3 H.-D. Metzger, Thomas Hobbes und die Englische Revolution, Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, S. 50f. Vgl. auch S. 144f.
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I. Einleitung
für die Antwort des Leviathan nur aus der Bürgerkriegssituation begründen zu wollen, verkennt allzu leicht den rechtsphilosophischen Gehalt von Hobbes' Staatslehre. Es ist ein Anliegen dieser Arbeit, die Philosophie Hobbes' in ihrem historischen Kontext einzuordnen, ohne seine epochalen rechtstheoretischen Leistungen zu trivialisieren 4 . Die zentralen Argumente von Hobbes' Staatslehre werden hier deshalb erneut darzustellen und zu erörtern sein. Hiervon ausgehend soll dann aber vor allem am konkreten Beispiel des Hallenser Rechtsgelehrten Christian Thomasius (1655-1728) untersucht werden, inwieweit Hobbes auf die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre des 17. Jahrhunderts eingewirkt hat. Es hat i m Heiligen Römischen Reich deutscher Nation keine offene Hobbesrezeption gegeben, und es gibt keine detaillierteren deutschsprachigen Untersuchungen 5 über das Verhältnis der deutschen Reichspublizisten 6 zu dem umstrittenen englischen Philosophen. Wichtige Hinweise finden sich vor allem in den Arbeiten von Dreitzel, Denzer und nun vor allem Weber sowie bereits in den Werken Otto von Gierkes 7 . 4
Vgl. z.B. J. Sommerville, Thomas Hobbes: Political Ideas in Historical Context, London 1992, der in dieser Untersuchung die epochalen Erkenntnisse von Hobbes' Rechtslehre kaum würdigt. 5 Vgl. die wichtige Arbeit von F. Palladini, Samuel Pufendorf Discepolo di Hobbes. Per una reinterpretazione del Giusnaturalismo moderno, Bologna 1990. Vgl. aber auch aus der älteren Literatur: H. Wätjen, Die erste englische Revolution und die öffentliche Meinung in Deutschland, Heidelberg 1900 und G. Zart, Der Einfluß der englischen Philosophen auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin 1881. Diese beiden Arbeiten sind zwar sehr generell angelegt, aber sie enthalten dennoch wichtige Hinweise für den hier behandelten Fragenkomplex. Auf einige Aspekte geht ferner ein Aufsatz von H. Marti ein: Naturrecht, Ehrbarkeit und Anstand im Spiegel frühaufklärerischer Hobbeskritik, in: Aufklärung 6 (1991), S. 69-95. 6 Zur Reichspublizistik vgl. R. Hoke, Reichspublizistik (Neuzeit), in: HRG IV-1, Sp. 720-727, Berlin 1990; H. Dreitzel, Berichte und Kritik. Zur Reichspublizistik. Forschungsergebnisse und offene Probleme, in: ZHF 5 (1978), S. 339-346; M. Stolleis, Reichspublizistik - Politik - Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 1995, S. 9-28; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1: Reichspublizistik und PoliceyWissenschaft 1600-1800, München 1988; B. Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Wiesbaden 1984. 7 H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970; Ders., Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln 1991; H. Denzer Moralphilospohie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972; W. Weber, Die deutsche Prudentia politica des 17. Jahrhun-
I. Einleitung Thomasius war im 17. Jahrhundert einer der einflußreichsten Natur- und Staatsrechtslehrer. Die Forschung der letzten 15 Jahre dokumentiert ein wachsendes Interesse an dem streitbaren Gelehrten, dessen Œuvre 8 nicht nur von Juristen, sondern auch von Historikern und zunehmend auch von Germanisten hinsichtlich der unterschiedlichsten Aspekte untersucht worden ist. Die jüngst von Schneiders und Vollhardt vorgelegten Sammelbände9 dokumentieren nicht nur das facettenreiche Interesse der Forschung an Thomasius, sondern sie zeigen auch die interdisziplinäre Kooperation bei der Interpretation seines Werkes. Eine Untersuchung über den Einfluß von Hobbes auf Thomasius findet sich unter all diesen Arbeiten jedoch nicht 1 0 . Euchner hat bereits in den achtziger Jahren darauf hingewiesen, daß innerhalb der Hobbesforschung eine der leitenden Fragestellungen „eine bessere Klärung des historischen (...) Hintergrundes der Hobbesschen Theorie und der Beziehungen zu anderen Autoren der politischen Ideengeschichte" 11 sei. Dennoch ist auch von der Hobbesforschung die naheliederts und Thomas Hobbes, in: G. Borelli (Hg.), Thomas Hobbes, Le ragioni del moderno tra teologia e politica, Neapel 1990, S. 165-191; Ders., Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992; Ders., Ein „deutscher Hobbes"? Der oettingische Hofrat Johann Elias Keßler (1644-1726) und sein Staatsräson werk, in: Rieser Kulturtage. Eine Landschaft stellt sich vor. Dokumentation Bd. IX, hg. v. Verein Rieser Kulturtage e.V., Nördlingen 1993, S. 276-288; sowie O. v. Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht. IV. Band: Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit, [ND] Darmstadt 1954. 8 Vgl. R. Lieberwirth, Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie, Weimar 1955. Dieser weist über 300 Titel von Thomasius nach, wobei die Dissertationen, die unter seinem Vorsitz entstanden, mit Inbegriffen sind. Es war in der deutschen Universitätslandschaft im 17. Jahrhundert durchaus üblich, den Präses und nicht den Respondenten als den eigentlichen „Autor" der jeweiligen Dissertation aufzufassen. Die bei Lieberwirth zufindenden Angaben sind jedoch nicht immer verläßlich und um die neueren Erkenntnisse zu ergänzen. Es gibt aber bisher keine Bibliographie zum Werk Thomasius', die die Arbeit von Lieberwirth korrigiert, so daß sie nach wie vor das wichtigste Hilfsmittel darstellt. 9 W. Schneiders (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung, Hamburg 1989; F. Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (16551728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997. Eine hervorragende Fortsetzung der Bibliographie Lieberwirths liegt vor von F. Grunert, der in beiden Sammelbänden insgesamt die Jahre 1945-1996 erfaßt hat. Ältere Literatur wird ferner nachgewiesen in dem Sammelband von M. Fleischmann (Hg.), Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, Halle 1931 (ND Aalen 1979). 10 F. Vollhardt hat in seinem Aufsatz Die Grundregel des Naturrechts auf Bezüge von Hobbes zu Thomasius und Proeleus hingewiesen. Ich bin Friedrich Vollhardt für die Überlassung dieses und anderer Manuskripte vor der Veröffentlichung dankbar. Auch die demnächst erscheinende Studie von T. Hochstrasser, Natural Law Theories in the Early Enlightenment, Cambridge (im Druck), zeigt einige Aspekte in diese Richtung auf, ohne jedoch detaillierter auf Hobbes einzugehen. Auch Tim Hochstrasser danke ich für die Überlassung dieses und anderer Manuskripte.
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I. Einleitung
gende Untersuchung über den Einfluß von Hobbes' Staatsrechtslehre auf Thomasius' Werk sowie die Bedeutung von Hobbes für die Entwicklung von Thomasius' Positionen nicht unternommen worden. Bobbio versuchte, Hobbes' Rechtslehre im Kontext der Naturrechtstradition zu interpretieren und behauptete: „the theory of natural rights is born with Hobbes" 12 . Er meinte allgemein ausmachen zu können, daß in der einschlägigen Forschung die Meinung vorherrsche, „that modern natural law theory begins with Hobbes rather than Grotius" 1 3 . Diese Sicht dürfte inzwischen wieder revidiert worden sein. Vor allem in den Versuchen von Tuck, Grotius und Hobbes in einer Entwicklungslinie zu interpretieren, in der „the pivotal figure in the history of the discipline was Hugo Grotius" 1 4 , wird erneut deutlich, welche Bedeutung von Teilen der Forschung Grotius zugemessen wird 1 5 . Neben der Schwierigkeit, daß es keine offene Rezeption von Hobbes im Reich gegeben hat, und daher die meisten Bezüge nur hinter den verdeckten Argumenten aufzuspüren sind, ist damit ein weiteres Problem für diese Fallstudie angesprochen: Die verschiedenen Einflüsse auf Thomasius' Werk lassen sich nicht klar identifizieren und einander zuordnen. Vor allem die Bedeutung Samuel Pufendorfs, der ein enger Freund und sicherlich der wichtigste Mentor Thomasius' war, ist hier von entscheidendem Gewicht. Hobbes' Einfluß auf Pufendorf wurde in jüngster Zeit vor allem durch die Arbeiten von Palladini zunehmend erhellt, und es wird in dieser Arbeit auch versucht werden müssen, die Frage zu beantworten, ob bei Thomasius eine Hobbesrezeption auszumachen ist, die über diejenige Pufendorfs hinausgeht. Die bekannte Tatsache, daß der Austausch unter den Gelehrten und den hommes des lettres weitaus größer war, als lange Zeit vermutet, wird auch in dieser Arbeit erneut bestätigt. Dabei konnten die verschiedensten Linien, die es lohnen würde, eingehender nachzuzeichnen und zu untersuchen, jeweils nur angerissen werden. Der Historiker, der sich mit der Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigt, findet sich unvermittelt in einem Beziehungsgeflecht der bedeutendsten Denker dieser Epoche. Darin liegt ein außerordentlicher Reiz, aber auch die Not11
W. Euchner, Thomas Hobbes (Anm. 1), S. 368. N. Bobbio, Thomas Hobbes and the Natural Law Tradition, übersetzt von D. Gobetti, Chicago 1993, S. 154. 13 N. Bobbio, Thomas Hobbes (Anm. 12), S. 149. 14 R. Tuck, Philosophy and Government (Anm. 2), S. 154. Vgl. auch S. 346. Vgl. ferner R. Tuck, Natural Rights Theories. Their Origin and Development, Cambridge 1979. S. Goyard-Fabre interpretiert Hobbes als ausdrücklichen Vertreter des Rechtspositivismus, der sich gegen die Naturrechtstradition gewandt habe. Siehe z.B. S. Goyard-Fabre, Montesquieu adversaire de Hobbes, Paris 1980, bes. S. 27. 15 Vgl. auch K. H. Ziegler, Die Bedeutung von Hugo Grotius für das Völkerrecht, in: ZHF 23 (1996), S. 355-371. 12
I. Einleitung wendigkeit, sich immer wieder an die leitende Fragestellung zu erinnern, um ein Abschweifen in andere gleichermaßen faszinierende Richtungen zu vermeiden. Eine weitere Schwierigkeit stellt sich in der Interpretation von Hobbes' Staatsrechtslehre. Seit Rousseau, spätestens aber mit Kant, wurde der epochale rechtstheoretische Gehalt der Hobbesschen Naturzustands- und Souveränitätstheorie erkannt und von diesen beiden Denkern auch entscheidend weiter entwickelt 16 . Hinter diese Interpretation zurückzufallen würde der Rechtsphilosophie von Hobbes nicht gerecht werden. Auch Thomasius hat an entscheidenden Punkten Hobbes' epochale rechtsphilosophische Leistung nicht verstanden. Eine Suche nach der Übernahme dieser gewissermaßen durch die spätere Interpretation kristallisierten Positionen von Hobbes wäre daher nicht nur vergeblich, sondern auch unhistorisch. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Polemik und Kritik gegen Hobbes wird sich aber zeigen lassen, daß Thomasius vielleicht wie kaum ein anderer Staatsrechtler des 17. Jahrhunderts in intensiver Auseinandersetzung mit Hobbes durchaus zentrale Positionen von diesem übernommen hat. In enger Anlehnung an die einschlägigen Schriften der umfangreichen Werke von Hobbes und Thomasius soll in der vorliegenden Studie daher die Beziehung zwischen diesen beiden Denkern erhellt werden. Die allgemeine Auffassung, daß Thomasius seine Souveränitätskonzeption zu einem wesentlichen Teil Hobbes verdanke, wird in detaillierter Erörterung zu diskutieren und zu verifizieren sein. Es wird aber nicht nur ein sich schon lange haltender Allgemeinplatz der Historiographie belegt werden können, sondern es werden auch bisher unvermutete Zusammenhänge und Übereinstimmungen der Argumentationsmuster aufgezeigt werden können. Deutlich wird an dem Einfluß von Hobbes ein weiteres Mal auch die bekannte Tatsache, daß Epochenbegriffe wie „Aufklärung" oder „Absolutismus" 17 an 16 Vgl. vor allem G. Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), S. 161-189; sowie K. Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg 1989. 17 Vgl. zur jüngst erneut entbrannten „Absolutismusdebatte" nun N. Henshall, The myth of absolutism: Change and continuity in early modern European monarchy, London 1992; H. Duchhardt, Absolutismus - Abschied von einem Epochenbegriff? [Rezension von N. Henshall, The Myth of Absolutism], in: HZ 258 (1994), S. 113-122; sowie R. G. Asch/H. Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-1700), Köln 1996. Ausgehend von den Behauptungen Henshalls, der den historiographischen Epochenbegriff des „Absolutismus" als untauglich und irreführend kritisiert hatte, wurde diese Debatte auch in Deutschland aufgegriffen. In einer Rezension von Henshalls provokanter Studie hatte Duchhardt sich ebenfalls von dem Begriff des Absolutismus distanziert. Diese Position revidierte er allerdings bereits wieder in dem jüngst erschienenen Tagungsband, in dem ausdrücklich die von Henshall angestoßene Debatte fortgesetzt wurde.
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I. Einleitung
Trennschärfe verlieren, sobald man sich dem Detail nähert 18 . Verblüffende argumentative Übereinstimmungen über die Frage der Toleranz zeigen, daß Hobbes durchaus auch als einer der ersten Denker anzusehen ist, der den Philosophen der Aufklärung bereits das intellektuelle Rüstzeug für ihre Forderungen lieferte 19 .
Bemerkenswert an Duchhardts Position scheint mir, daß er den Begriff des Absolutismus durch den Begriff des Barock als Epochenbezeichnung ersetzen wollte. Dieser, von ihm selbst als nicht allzu origineller Vorschlag bezeichnete Versuch, einen neuen Epochenbegriff einzuführen, zeigt meiner Einschätzung nach zunächst und vor allem ersteinmal eines: Nämlich, daß man gut beraten ist, in der Geschichtswissenschaft überhaupt an einem Epochenbegriff festzuhalten. Da Henshall all die von Oestreich und anderen erarbeiteten Differenzierungen in der deutschsprachigen Absolutismusforschung erst gar nicht zur Kenntnis genommen hatte, wäre es müßig an dieser Stelle darauf eingehen zu wollen. Für meine eigene Arbeit waren aber folgende Überlegungen leitend, an dem Begriff des Absolutismus festzuhalten. Wenn man anerkennt, daß ein Epochenbegriff als erste Etikettierung hilfreich und daher beizubehalten sei, dann eignet sich gerade für den Bereich der politischen Ideengeschichte der Begriff des Absolutismus weitaus besser als der des Barock. Grundsätzlich ist es natürlich evident, daß eine entsprechende Differenzierung eines so grobrastigen Begriffes unbedingt geleistet werden muß. Dies ist aber wie gesagt spätestens seit den einschlägigen Studien von Oestreich gleichsam ein Allgemeinplatz geworden. Hinrichs hat im Zusammenhang mit der jüngsten Debatte darauf hingewiesen, daß neben den geographischen, territorialen oder zeitlichen Unterschieden in der Ausprägung des Absolutismus noch ein weiteres Differenzierungskriterium zu berücksichtigen sei. Er hob hervor, „daß Absolutismus in .Reinkultur4 mehr fürstliches Programm, theoretisches Konzept von Juristen und Philosophen und allenfalls Ministern war als Verfassungsrealität 44. E. Hinrichs, Abschied vom Absolutismus?, in: R. G. Asch/H. Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus - ein Mythos?, S. 353-371, hier S. 361. Gerade auch aus diesem Grund scheint es mir sinnvoll, bei Fragestellungen, wie sie für diese Studie leitend waren, an dem Begriff des Absolutismus festzuhalten. Ob und inwieweit Thomasius und Hobbes dann aber tatsächlich berechtigterweise als Theoretiker des Absolutismus zu bezeichnen wären, wird im Rahmen dieser Untersuchung aufgezeigt werden können. Neben der hier bereits zitierten Literatur waren die folgenden älteren Untersuchungen für mich ebenfalls erhellend: K. O. von Aretin, Aufgeklärter Herrscher oder aufgeklärter Absolutismus?, in: FS für K. Bosl, hg. v. F. Seibt, München 1988, S. 78-87; K. Malettke, Fragestellungen und Aufgaben der neuen AbsolutismusForschung in Frankreich und Deutschland, in: GWU 30 (1971), S. 140-157; G. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 179-197. 18 Vgl. für den Konnex zwischen Absolutismus und Aufklärung die wichtige Untersuchung von R. Kosellek, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main 1973. 19 Vgl. A. Ryan, A more tolerant Hobbes?, in: S. Mendus (Hg.) Justifying Toleration, Cambridge 1988, S. 37-59 und P. Schröder, Thomas Hobbes, Christian Thomasius and the Seventeenth-Century Debate on the Church and State, in: History of European Ideas 23 (1997), S. 59-79.
I. Einleitung Bei dem Bemühen, Kongruenzen und Differenzen in den Staatsrechtslehren von Hobbes und Thomasius aufzuzeigen, werden nicht nur säulenartig und unvermittelt nebeneinander die entscheidenden Argumentationsgänge und inhaltlichen Positionen der beiden Theorien dargestellt werden, sondern es wird auch in einem methodisch zweiten Teil (siehe VI. und VII.) in direkter Verschränkung der Argumente von Hobbes und Thomasius diese Diskussion fortgesetzt. Anhand ihrer Positionen zu Fragen der Toleranz und zum Verhältnis von Kirche und Staat allgemein, sowie hinsichtlich ihres reformatorischen und erzieherischen Anspruches ergeben sich Themenfelder, die bisher noch nicht von der Forschung in dieser vergleichenden Perspektive in den Blick genommen oder gar untersucht worden sind. In dieser direkten Gegenüberstellung der Standpunkte der beiden Denker wird erstmals ein fundierter Vergleich unternommen. Der Versuch, in einer bewußten Eingrenzung der Fragestellung die Einflüsse von Hobbes' Staatslehre auf Thomasius' Werk herauszuarbeiten, muß zwangsläufig einseitig sein. Neben dem Erkenntnisgewinn, der sich aus dem Nachweis dieser spezifischen geistigen Beziehung ergibt, zeigt diese Arbeit weitere Fragestellungen und lohnende Untersuchungsfelder auf. La Rochefoucauld hat dieses Dilemma in seinen Maximes bereits formuliert: „Pour bien savoir les choses, i l en faut savoir le détail; et comme il est presque infini, nos connaissances sont toujours superficielles et imparfaites" 2 0 . Im Wissen um diese Begrenzung kann der Versuch gewagt werden, die Analyse zu beginnen.
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La Rochefoucauld, Maximes, Paris 1994 [1665], S. 29.
II. Der Naturzustand bei Hobbes Wohl kaum ein anderer philosophischer Gedanke war Anlaß zu so vielen MißVerständnissen und polemischen, ja heftigen Gegenreaktionen wie die im De Cive von Thomas Hobbes vertretene Auffassung des Naturzustands sowie seine dort erstmals publizierte Staatslehre 1. Obwohl inzwischen weitgehend Einigkeit in der Forschung über Gehalt und Bedeutung dieses Theorems besteht, so halten sich nach wie vor hartnäckig alteingesessene Vorurteile, die Hobbes' philosophischer Leistung nicht nur nicht gerecht werden, sondern sie auch in erschreckender Weise banalisieren 2. Um die Kritik und teilweise geifernde Polemik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich vor allem an der Hobbesschen Naturzustandskonzeption entzündete, beurteilen zu können, ist es unerläßlich, den wesentlichen Gehalt dieser Konzeption in Erinnerung zu bringen und kurz zu skizzieren. Die Schrift De Cive erschien 1642 zunächst anonym, als Hobbes im Pariser Exil bereits Kontakte zu dem Kreise um Mersenne geknüpft hatte. „Thanks to his connection with Mersenne, Hobbes was quickly absorbed into the intellectual life of the capital" 3 . Diese Schrift wurde zunächst Descartes zugeschrieben, der nach der Kontroverse über seine Meditationen mit Hobbes vermutete, daß es sich bei der Autorschaft der anonymen Schrift um dieselbe Person handle 4 . Schon bald war die erste Auflage vergriffen, und 1647 konnte durch die Vermittlung von Sorbière Hobbes' überarbeitete Fassung seiner Rechtslehre bei dem Verleger Elzevir in Amsterdam gedruckt werden. Diese Ausgabe erfreute sich ungewöhnlicher Nachfrage, so daß Sorbière Hobbes aus Leiden bereits im Sommer 1647 schreiben konnte:
1 Daß dieser Lehre bereits eine im Manuskript kursierende englische Abhandlung im Zusammenhang mit den Kontroversen in der Zeit des short Parliament vorausging, sei hier nur erwähnt. Vgl. hierzu ausführlicher Kap. IV. 2 Vgl. als ein neueres Beispiel H. Haan/G. Niedhardt, Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1993, S. 167f.: „Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges, den er [Hobbes] als Kampf aller gegen alle wahrnahm und als Beweis für sein Menschenbild wertete, wonach der ,Mensch des Menschen Wolf 4 sei, entwickelte Hobbes seine absolutistische und antikirchliche Souveränitätstheorie". 3 N. Malcolm, A summary Biography of Hobbes, in: T. Sorell (Hg.), The Cambridge Companion to Hobbes, Cambridge 1996, S. 13-44, hier S. 28. 4 R. Descartes, Oeuvres, hg. v. Adam/Tannery, IV S. 67, 88.
. Der Naturzustand bei Hobbes „Gestern war dein Verleger Elzevir bei uns und bat mich dir mitzuteilen, daß es von deinem Buch keine Exemplare mehr gibt, und da er von überall her für hunderte Nachfrage erhält, denkt er über eine Neuauflage nach"5. Der Erfolg von Hobbes' De Cive ließ ihn auf dem europäischen Kontinent weitaus bekannter werden als in seinem Heimatland. 1651 erschien in London zwar eine von Hobbes nicht autorisierte englische Übersetzung (nachdem 1649 von Sorbière bereits eine französische erschienen war), aber im Grunde war es erst Hobbes' Leviathan (1651), der ihm in England wirklich einen Namen machte. Diese leicht anders akzentuierte Perzeption von Hobbes' rechtsphilosophischem Werk ist ein Grund für die unterschiedliche zeitgenössische Aufnahme seiner Gedanken. Konzeptionell rekurriert der Leviathan auf De Cive. Ohne sich auf einen genaueren Vergleich einzulassen, kann man sicherlich sagen, daß die eigentliche Rechtslehre in De Cive systematischer erarbeitet ist, während der Leviathan stärker auf die unmittelbare politische Situation in England Bezug nimmt und in seiner Ausrichtung wesentlich polemischer und rhetorisch brillanter verfaßt ist. Hobbes behauptete selbstbewußt, daß die Moralphilosophie auf eine neue Grundlage gestellt werden müsse, denn, so argumentierte er, wenn »jetzt der Krieg mit den Schwertern und der Krieg mit den Federn kein Ende nimmt; wenn die Kenntnis des Rechts und der natürlichen Gesetze heute nicht größer ist als in alten Zeiten; wenn jede Partei ihr Recht mit Ansprüchen der Philosophen unterstützt; wenn dieselbe Handlung von dem einen gelobt und von dem andern getadelt wird; wenn derselbe Mensch heute das billigt, was er morgen verdammt, und wenn er die eigenen Taten anders beurteilt, sofern sie andere tun: so sind dies überaus deutliche Zeichen, daß die bisherigen Schriften der Moralphilosophen zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beigetragen haben" 6 . In seiner ersten, zunächst nur handschriftlich in 5
The Correspondence of Thomas Hobbes, hg. v. N. Malcolm, 2 Bde., Oxford 1994: „Heri adfuit nobis Elzevirius Typographus tuus, qui rogavit ut significarem tibi nulla superesse amplius libri tui Exemplaria cum tarnen undique centena ab ipso expetantur; itaque cogitare se de nova Editione adornanda", Bd. 1, S. 54 (19.8.1647). Vgl. auch den Brief Sorbières an Hobbes vom 21. Mai 1646, in welchem er Hobbes in Aussicht stellt, daß Elzevir, der u.a. auch Descartes' Werk verlegt hatte, Hobbes Schriften verlegen wird. Ebd. S. 126. 6 Th. Hobbes, Vom Bürger, hg. v. G. Gawlick, Hamburg 1994, Widmungsschreiben, S. 61. De Cive (im folgenden DC), hg. v. H. Warrender, Oxford 1983, Epistola Dedicatoria, S. 74f.: „Nunc quod bellum gladii vel calamis perpetuum est: quod non sit iuris & legum naturalium maior scientia hodie quam olim: quod sententiis Philosophorum utraque pars suum ius tueatur: quod alii laudem, alii vitupèrent eandem actionem: quod idem nunc probet quae alio tempore damnat & sua facta in aliis aliter aestimet; signa manifestissima sunt, nihil profuisse ad scientioam veritatis quae hactenus scripta sunt a Philosophis moralibus; placuisse vero non illuminando animum, sed venusta & secunda affectibus oratione, opiniones temere receptas confirmando". 2 Schröder
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
England zirkulierenden Schrift über die Frage der Souveränität, die in wesentlichen Teilen von Hobbes in De Cive eingearbeitet worden war, hatte er dies bereits genauso eindringlich formuliert 7 . Hobbes erhob mit De Cive keinen geringeren Anspruch als die Grundlagen gelegt zu haben, von denen aus er „die Notwendigkeit der Verträge und der Einhaltung der Treue und damit die Elemente der sittlichen Tugend und der bürgerlichen Pflichten (...) in völlig klaren Folgerungen dargelegt" 8 habe. Dies schien 1642 angesichts der Bürgerkriegssituation in England um so dringender, als gerade über die Frage der Souveränität zwischen Parlament und König keine Einigung möglich schien. Im folgenden ist hier Hobbes' Lehre vom Naturzustand nachzuzeichnen, da seine gesamte Argumentationsführung von den dort entwickelten Prämissen ausging. Auf den theoretischen rechtsphilosophischen Begründungsgehalt dieser Naturzustandslehre sind nur wenige Zeitgenossen von Hobbes eingegangen, um so schärfer war aber ihre Ablehnung der Hobbesschen Lehre, da man klar erkannte, daß hier ein radikaler Bruch mit der bisherigen Rechtsphilosophie vollzogen worden war. Die Dimension der Hobbesschen Lehre hatte man offensichtlich von Anfang an erfaßt, denn nur so läßt sich der ungewöhnliche Aufschrei gegen diesen streitbaren Gelehrten erklären. Hobbes wandte sich mit seiner Rechtsphilosophie ausdrücklich gegen Aristoteles, dessen Lehre man in den letzten 2000 Jahren im wesentlichen gefolgt war, und erklärte selbstbewußt, daß erst mit seiner Schrift De Cive ein entscheidender Einschnitt in der Geschichte des politischen Denkens gesetzt worden sei. ,,Für Hobbes bedeutet der Bruch mit Aristoteles zugleich auch und vor allem eine Distanzierung gegenüber den zeitgenössischen Theorien. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles gewinnt damit exemplarischen Charakter"9. Die klassische und im wesentlichen Aristoteles folgende Naturrechtstradition der Scholastik hatte den Menschen stets als Teil innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung begriffen und das Individuum als Rechtssubjekt noch nicht in den Blick bekommen 10 . Nach Aristoteles war der Mensch aufgrund seiner Natur ein politisches Wesen und fand nur in der Polis, die nach Aristoteles gleichfalls von Natur aus gegeben ist, seine sinnvolle Verwirklichung 1 1 . 7 Th. Hobbes, The Elements of Law Natural and Politic. Human Nature and de Corpore Politico, hg. v. J. C. A. Gaskin, Oxford 1994, S. 21. 8 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 62, DC, S. 75f.: „Ab his principiis pactorum & fidei conservandae necessitatene atque virtutis moralis officiorumque civilium Elementa (...) evidentissima connexione (...) demonstrasse". 9 G. Geismann, K. Herb, Hobbes über die Freiheit, Würzburg 1988, S. 11. 10 Vgl. H. Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez, Mönchen-Gladbach 1926.
Π. Der Naturzustand bei Hobbes
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Der klare Aufbau von De Cive offenbart die begründungstheoretische Struktur von Hobbes' Argumentationsführung. Die Gliederung in drei Teile von Liberias, Imperium und Religio korrespondiert inhaltlich in ihren ersten beiden Teilen mit der Lehre, wie er sie bereits vorher in den Elements of Law entwickelt hatte. Der dritte Teil, der sich mit der Religion befaßt, „ist ohne systematische Notwendigkeit, und er steht nicht, wie die beiden ersten Teile von ,De Cive' über »Freiheit 4 und »Staatsgewalt4 miteinander, mit diesen in einem strikten systematischen Zusammenhang" 12 . Für Hobbes' rechtsphilosophische Argumente gilt zwar, daß sie ohne einen Rekurs auf Gott als Begründungsinstanz auskommen und theologische Argumente bei Hobbes daher keine systematische Begründungsfunktion haben 13 , die politische und historische Bedeutung im Kontext seiner Zeit ist aber ebenso evident und wird nach der Darlegung seiner eigentlichen Rechtsphilosophie im direkten Vergleich vor allem anhand des Leviathan mit Thomasius zu erörtern sein. In der Konzeption des De Cive ist der dritte Teil über die Religion lediglich eine Zugabe, in der nur nachgewiesen wird, daß die vorher in den Kapiteln Liberias und Imperium entwickelte Lehre der christlichen Lehre nicht widerspreche, was Hobbes selbst auch ganz offen ausführt: „Die Zugabe [!] über das Reich Gottes ist deshalb geschehen, damit nicht zwischen den natürlichen Geboten Gottes und dem Gesetz Gottes, welches in der Heiligen Schrift überliefert wird, der Schein eines Widerspruchs stehen bleibe"14. Die Argumentation der Lehre vom Naturzustand, die in unmittelbarem begründungstheoretischem Zusammenhang mit der Hobbesschen Staatslehre steht, ist anhand der ersten vier Kapitel, die als erster Teil unter dem Titel Liberias zusammengefaßt sind, im folgenden zu erörtern. Hobbes macht in der Überschrift des ersten Kapitels gleich eindringlich deutlich, worum es ihm geht, denn „de statu Hominum extra Societatem civilem" 1 5 meint nicht den Zustand, in welchem sich der Mensch 11
Vgl. Aristoteles, Politik, 1-2, S. 4f., hg. v. G. Bien, Hamburg 1981: „Nun ist aber einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache begabt. (...) Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht (...). Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat. Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher da als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil". 12 G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 52f. 13 D. Gauthier, Why ought one obey God? Reflections on Hobbes and Locke, in: Canadian Journal for Philosophy 7 (1977), S. 425-Φ46. 14 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 63. DC, S. 76: „Quod adiectum [!] est de Regno Dei, eo Consilio factum est, ne quid inter dictata Dei per naturam, & legem Dei traditam in scripturis, repugnantiae esse videretur". Vgl. auch DC IV-1, S. 122. 2*
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
von Natur aus befindet, sondern den Zustand, „in welchem sich die Menschen (die Menschheit) in Gemeinschaft miteinander von Natur befinden (...) zunächst als Menschen und dann - entscheidend - als Rechtssubjekte" 16 . Der Hobbessche Naturzustand ist daher nicht von einer besonderen Natur im Sinne einer spezifischen Veranlagung des Menschen gekennzeichnet, sondern wird von Hobbes als ein Zustand aufgefaßt, in dem die Menschen sich vor der Etablierung einer Civitas und damit einer geltenden Rechtsordnung miteinander befinden. Status hominum weist auf Hobbes' Intention eindeutig hin, denn der Zustand des Menschen ist für ihn nicht relevant für die hier entwickelte Problematik. Die Natur des Menschen behandelt Hobbes in seiner Abhandlung De Homine 17, wohingegen hier eindeutig das Verhältnis mehrerer Menschen zueinander außerhalb des Staates gemeint ist. Dieser vorstaatliche Zustand ist nicht i m Sinne einer historischen Anthropologie der Menschheit aufzufassen, sondern als theoretische Prämisse für die dann im zweiten Teil folgende Staatslehre und die dort erarbeitete Etablierung der Herrschaft (Imperium) als Rechtssicherungsinstanz. Seine Ausführungen über den Naturzustand intendierte Hobbes nicht, wie dies bis heute immer wieder behauptet wird, als eine Beschreibung der menschlichen Natur, sondern sie fungierten als rechtstheoretische Begründung. Es ist daher auch zutreffender, vom Naturzustandstheorem und nicht vom Naturzustand der Hobbesschen Rechtsphilosophie zu sprechen. Obwohl Hobbes auf dieser elaborierten, spezifisch rechtsphilosophischen Reflexionsebene argumentiert, rekurriert er selbst immer wieder auf die empirische Ebene, die den Naturzustand als ein Übel betrachtet, dem man durch die Staatsgründung zu entgehen habe. Diese rein nutzenkalkulatorischen beziehungsweise klugheitstheoretischen Aspekte machen aber nur einen Teil der Hobbesschen Überlegungen aus. Die Staatsgründung bei Hobbes ist nicht - wie dies noch genauer zu zeigen sein wird - lediglich 15
Th. Hobbes, DC, S. 89. G. Geismann, Κ. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 95. 17 Hobbes hatte ursprünglich die Darstellung seiner Philosophie in anderer Reihenfolge in drei systematischen Teilen geplant, was er selbst in seinem Vorwort an die Leser ausdrücklich mitteilt: „Im ersten handle ich vom Körper [De Corpore] und seinen allgemeinen Eigenschaften; im zweiten vom Menschen [De Homine] und insbesondere von seinen Vermögen und Leidenschaften [NB]; im dritten vom Staat und den Pflichten der Bürger [De Cive]. (...) Indem ich dies alles vervollständigte, ordnete, langsam und vorsichtig niederschrieb, (...) traf es sich, daß mein Vaterland, einige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges, durch Erörterungen über die Rechte der Herrscher und den schuldigen Gehorsam der Bürger, die Vorläufe des nahenden Krieges, heftig aufgeregt wurden. Dies veranlaßte mich, den dritten Teil mit Zurückstellung der vorangehenden zunächst zur Reife und zum Abschluß zu bringen". Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 71 f. Für De Corpore und De Homine vgl. OL Bd. 2. 16
. Der Naturzustand bei Hobbes das Ergebnis einer subjektiven Kosten-Nutzenbilanz 18 . Da es hier nicht darum geht, eine konsistente Interpretation im Sinne einer rechtsphilosophischen oder politikwissenschaftlichen Analyse 19 zu. präsentieren, sondern lediglich die wesentlichen Inhalte der Hobbesschen Naturzustandslehre zu referieren, um die sich daran anschließende Kritik und dann, der These dieser Arbeit folgend, vor allem Thomasius' Rezeption der Hobbesschen Gedanken diskutieren zu können, werden im folgenden Hobbes' rechtsphilosophische und empirische Argumentationen - wie dies bei ihm selbst ja auch gegeben ist - unvermittelt nebeneinander stehen. Genau in dieser Verschränkung der Erörterung von vernunfttheoretischer und empirischer Argumentation liegt ein wesentlicher Grund für die bis heute anhaltende disparate Interpretation von Hobbes' Lehre. Das Skandalon für Hobbes' Zeitgenossen war aber nicht so sehr diese Verschränkung unterschiedlicher Argumentationsebenen, die den Mißverständnissen und Angriffen aber ganz offensichtlich Vorschub leisteten, sondern der radikale Bruch seiner Philosophie mit allen Autoritäten, wie sie in dem komplexen System der Scholastik über Jahrhunderte zusammengetragen und etabliert worden waren. „Nirgends zeigt sich der von Hobbes vollzogene Bruch mit dem , Naturrecht 4 der Antike und des Mittelalters inhaltlich und methodisch deutlicher als in der Theorie des Naturzustands" 20 . Dieser von Hobbes vollzogene Bruch und die zeitgenössischen Reaktionen darauf bilden daher auch das hauptsächliche geistesgeschichtliche Interesse dieser Arbeit. Die fast schon notorisch sinnentstellend zitierte Stelle homo homini lupus des Widmungsschreibens verdient im Kontext dargestellt zu werden, da sich hier schlaglichtartig offenbart, wozu eine Verkürzung der Hobbesschen Aussagen führt. Es heißt dort: „Nun sind sicher beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gott fir den Menschen und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener wenn man die Bürger untereinander, dieser wenn man die Staaten untereinander vergleicht"21. 18
So aber z.B. H. Münkler, Thomas Hobbes, FfM 1993, S. 105 und W. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992, S. 114f. Letzterer folgt in seiner Interpretation des Kosten-Nutzenkalküls der spieltheoretischen Interpretation des prisoner's dilemma , wie dies auf Hobbes Philosophie bezogen am eindringlichsten von J. Hampton, Hobbes and the social Contract Tradition, Cambridge 1986, (bes. S. 132-137 und S. 148-152) vorgetragen worden ist. 19 Das ist auch wiederholt geschehen, wobei der klaren rechtsphilosophischen Analyse vor allem von Geismann und Herb (vgl. Anm. 9) sicherlich die beweiskräftigeren Argumente zukommen. Vgl. diesen folgend nun auch D. Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtslehre des Thomas Hobbes, (Diss. Phil.) Marburg 1996. 20 G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 23. 21 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 59. DC, S. 73: „Profecto utrumque vere dictum est, Homo homini Deus, & Homo homini Lupus. Illud si concives inter se; Hoc, si civitates comparemus".
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
Ganz eindeutig bezieht Hobbes erstens den Satz, daß der Mensch für den Menschen ein Wolf sei, nicht auf das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern auf das Verhältnis von Staaten zueinander, die sich, so legt es diese Stelle nahe, in ständiger gegenseitiger Bedrohung befinden. Ganz anders aber verhalten sich zweitens die Menschen zueinander, wenn sie Bürger sind, also den Naturzustand bereits verlassen haben und in der Rechtsordnung eines Staates leben. In diesem nähert sich der Mensch zum Wohl seiner Mitmenschen „durch Gerechtigkeit und Liebe" 2 2 einem gottähnlichen Zustand. Die immer wiederkehrende Behauptung, Hobbes habe den Naturzustand als Kriegszustand charakterisiert, weil die Natur des Menschen wolfsartig und böse sei, rekurriert vornehmlich auf diese Textstelle. Aber Hobbes hatte im Gegenteil im Vorwort an die Leser, das er der zweiten mit Anmerkungen versehenen Ausgabe ja vorangestellt hatte, um den Mißverständnissen und der Kritik nach der ersten Auflage zu begegnen, ausdrücklich festgestellt, daß „man anerkennen [muß], daß die Menschen von Natur Begierde, Furcht und Zorn und andere tierische Leidenschaften haben können, ohne deshalb von Natur böse erschaffen zu sein" [Hervorhebung vom Verf.] 2 3 . Hobbes' Argumentation in der Erörterung des Naturzustandes ist begründungstheoretisch ganz anders gelagert. Ebenfalls im Vorwort an die Leser hatte Hobbes fast beiläufig mitgeteilt, „daß der Zustand der Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (den ich den Naturzustand zu nennen mir erlaube) nur der Krieg aller gegen alle ist, und daß in diesem Kriege alle ein Recht auf alles haben" 2 4 . Damit antizipierte Hobbes in einer klar und prägnant gezeichneten Skizze die wesentlichen Inhalte des von ihm entwickelten Naturzustandes und das, worum es ihm wirklich ging: eine schlüssige Begründung für die Existenz und Herrschaft des Staates zu liefern. „Hobbes ,absolutistische' Lehre im »Imperium'-Teil, derzufolge die Menschen Glieder einer , ci vi tas' (, cives') zwar als (der Willkür des Herrschers de iure gänzlich ausgelieferte) Untertanen, nicht aber unbedingt auch, wenn überhaupt als selbständige Staatsbürger sind, verstellt leicht den Blick auf die Tatsache, daß jenem Teil ein buchstäblich grundlegender Teil über die Freiheit vorausgeht. Eben dieser Teil jedoch (schon für sich genommen, dann aber auch und gerade 22
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 59. DC, S. 73: „Iustitia et charitate", daher vielleicht eher mit Fürsorge als Liebe zu übersetzen. 23 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 69. DC, S. 81: „(...) confitendum est posse homines à natura cupiditatem, metum, iram, caeterosque affectus habere animales, ut tarnen mali facti à natura non sint ". 24 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), S. 69. DC, S. 81: „(...) conditionem hominum extra societatem civilem (quam conditionem appellare liceat statum naturae) aliam non esse quam bellum omnium contra omnes; atque in eo bello jus esse omnibus in omnia".
. Der Naturzustand bei Hobbes mit Bezug auf die Thematik des Teils über die Staatsgewalt) enthält Hobbes' epochale Leistung als Rechtsphilosoph"25. Wie gesagt, geht Hobbes in der Lehre des Naturzustands - und damit auch in der Begründung des Staates - vom einzelnen Menschen als Rechtssubjekt aus 26 . Der Begriff eines indivduellen Rechts eines jeden, nämlich auf Selbsterhaltung, war der fundamentale Ausgangspunkt seiner Philosophie. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu und Bruch mit Aristoteles und der ihm i m wesentlichen folgenden scholastischen Tradition. Diese hatten den Menschen nicht als Individuum und damit als Träger individueller Rechte begriffen, sondern als naturnotwendig auf die gemeinschaftliche Existenz in der Polis angewiesen aufgefaßt. Hobbes wandte sich polemisch gegen die scholastische Tradition, indem er darauf hinwies, daß „die meisten, die über den Staat geschrieben haben, voraussetzen] (...), daß der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei. (...) Auf dieser Grundlage errichten sie ihre Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft [treffender im Sinne des Gemeinten wäre: Staat, also eine rechtlich verfaßte Gemeinschaft, in der die Menschen leben und damit zu Bürgern werden]"27. 25
G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 94. Die oft - auch von Hobbes selbst - betonte Methode more geometrico , die Staatswissenschaft auf ein wissenschaftliches Fundament gestellt zu haben (Vgl. z.B. Th. Hobbes, De Homine X-5 und De Corpore Epistola Dedicatora), liegt genau in diesem Vorgehen. Denn die gedankliche Teilung des Ganzen (hier des Staates) in seine konstituierenden Elemente (die Menschen) und die rationale Wiederherstellung der Gesamtheit auf der Grundlage dieser Elemente, wird treffend als resolutivkompositorische Methode beschrieben, als deren Begründer für die Rechtsphilosophie Hobbes mit Recht gilt. „Die von Hobbes behauptete Analogie von geometrischer und staatsphilosophischer Methode soll darauf beruhen, daß in beiden Disziplinen von Prinzipien ausgegangen wird, die von Menschen selbst erzeugt sind". W. Rod, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 24. Vgl. dazu Hobbes selbst in Six Lessons to the Professors of Mathematics, in: EW VE, S. 181— 356, hier S. 183f.: „Of arts, some are demonstrable, others indemonstrable; and demonstrable are those the construction of the subject whereof is in the power of the artist himself, who, in his demonstration, does no more but deduce the consequences of his own operation (...) Geometry is demonstrable for the lines and figures from which we reason are drawn and described by ourselves; and civil philosophy is demonstrable, because we make the commonwealth ourselves". Neben vielen weiteren Beispielen von Hobbes vor allem die rhetorisch brilliante Stelle im Leviathan (S. 145, chap. 20): „The skill of making, and maintaining Common-wealths, consisteth in certain Rules, as doth Arithmétique and Geometry; not (as Tennisplay) on Practise onely". 27 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-2, S. 75 f. DC 1-2, S. 90: „Eorum qui de Rebus publicis aliquid conscripserunt, (...) supponent (...) Hominem esse animal apptum natum ad Societatem, (...) eoquefondamento ita superaedificant doctrinam civilem". 26
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
Diese Meinung sei unzutreffend, und nach Hobbes sucht der Mensch nicht von Natur aus die Gesellschaft der Menschen miteinander um der Gesellschaft willen. Vielmehr sei „allen, die die menschlichen Verhältnisse etwas aufmerksamer betrachten, durch Erfahrung klar, daß die Menschen aus freien Stücken nur zusammenkommen, weil die gemeinsamen Bedürfnisse oder die Ehrsucht sie dazu treiben" 28 . Daß Hobbes - hier ausdrücklich - auf die Erfahrung rekurriert, wird von der weiter oben erwähnten rechtsphilosophisch systematischen Interpretationsrichtung als für den Argumentationsgang nicht erforderlich angesehen. Dieser Rekurs habe nur illustrativen Charakter. So schlüssig dies aus der Hobbesschen Argumentationsführung auch bewiesen werden kann, so bieten gerade diese Stellen Anlaß zu Mißverständnissen beziehungsweise einer anders akzentuierten Interpretation: man meinte aus dergleichen Stellen herauslesen zu können, daß Hobbes hier eben doch eine anthropologische Beschreibung des menschlichen Zustands vornahm (vgl. hierzu ausführlich das folgende Kapitel). Jedenfalls, so Hobbes, seien die menschlichen Bedürfnisse zwar durch gegenseitige Hilfe unter Umständen eher zu befriedigen, eine Begründung für die Existenz von Staaten läge darin aber noch nicht, da dies „viel besser durch die Herrschaft über andere als durch die Verbindung mit ihnen erreicht werden" 2 9 könne. Jede Staatsgründung führt Hobbes daher nicht auf gegenseitiges Wohlwollen, sondern auf gegenseitige Furcht zurück 3 0 . Die Ergänzung der zweiten Auflage um ein erläuterndes Vorwort und einige weiterführende und erklärende Anmerkungen dokumentiert an sich bereits, an welchen Punkten Hobbes Widerspruch gegenüber seiner Lehre erfahren hatte. Nicht zufallig handelt es sich jedesmal um den von ihm dargestellten Naturzustand, denn gerade darin bestand ja der grundsätzliche Angriff auf die althergebrachten Vorstellungen, die sich über Jahrhunderte in der Scholastik fortgeschleppt hatten. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Hobbes sich offensichtlich bemüßigt fühlte, diese Stelle, in der er den Ursprung des Staates als in der gegenseitigen Furcht begründet zu sehen meinte, mit einer weiteren langen Anmerkung zu erläutern. Allein die Stellen, die er mit Antworten versah, gegen die zeitgenössische Kritik zu lesen, wirft ein klares Licht auf die damaligen - und teilweise hinsichtlich der Hobbesinterpretation bis heute andauernden - Konflikte. 28 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-2, S. 78. DC 1-2, S. 91: „Ciarum adeò est experientia omnibus, qui res humanas paulo attentius considérant, quod congressus omnis spontaneus vel egestate mutua conciliatur, vel captanda gloria". 29 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-2, S. 79. DC 1-2, S. 92: „(...) tarnen id fieri multo magis Dominio possit, quam societate aliorum". 30 Th. Hobbes, DC 1-2, S. 92: „Statuendum igitur est, originem magnarum & diuturnarum societatem, non à mutua hominum benevolentia, sed à mutuo metu existisse".
II. Der Naturzustand bei Hobbes Hobbes erläutert in der Anmerkung, daß er Furcht nicht lediglich als Schrecken auffaßt. Er verstand vielmehr „unter dem Worte »Furcht* jedes Voraussehen von kommendem Unheil" 3 1 . Hobbes illustriert seine Auffassung dann in der Tat sehr eindringlich durch empirische Beispiele: „Wer sich schlafen legt, verschließt die Tür; wer eine Reise macht, nimmt eine Waffe mit aus Furcht vor Räubern. Staaten schützen ihre Grenzen durch Festungswerke, ihre Städte durch Mauern; und das alles aus Furcht vor den Nachbarstaaten"32. Hobbes leugnet überhaupt nicht, daß es vor der staatlich verfaßten Gesellschaft bereits menschliche Gemeinschaften gegeben habe. Ja, es gehöre zur Natur des Menschen, die Gemeinschaft seiner Mitmenschen zu suchen. Dies seien aber lediglich zufällige Zusammenkünfte, in denen es keine wirkliche Sicherheit, auch keine Rechtssicherheit, geben könne. Dagegen sind für ihn „die bürgerlichen Gesellschaften nicht bloße Zusammenkünfte, sondern Bündnisse, zu deren Abschluß Treue und Verträge notwendig sind" 3 3 . Kindern und Unwissenden sei der Nutzen dieser staatlich verfaßten Gesellschaft unbekannt. Da nun aber, so Hobbes* weiteres Argument, der Mensch von Natur aus zunächst als Kind auf die Welt komme, „wird der Mensch nicht von Natur, sondern durch Zucht zur Gesellschaft geeignet" 34 . Hobbes bestritt also nicht, daß der Mensch ein zur Gemeinschaft neigendes Wesen sei (animal sociale). Wogegen er sich jedoch ausdrücklich wandte, war, daß der Mensch auch von Natur aus ein zur Bildung staatlicher Gemeinschaften neigendes Wesen im Sinne der aristotelischen Lehre sei. Auch für Hobbes ist das Leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen eine biologische und kulturelle Notwendigkeit. Die naturgegebene Bildung eines Staates resultiert für ihn aus diesen aber nicht. Durch diesen fundierten Angriff war die tradierte Auffassung, daß der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen sei, widerlegt worden. Im folgenden entwickelt Hobbes eine spezifisch rechtslogische und konsequente Begründung seiner gegenteiligen Auffassung. „Der Grund der gegenseitigen Furcht liegt teils in der natürlichen Gleichheit der Menschen, teils in ihrem Willen, sich gegenseitig Schaden zuzufü31
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Anmerkung, S. 79. DC Annotatio, S. 93: „(...) ea voce futuri mali prospectum quemlibet". 32 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Anmerkung, S. 79. DC Annotatio, S. 93: „Qui dormitum eunt, fores claudunt; qui iter facit, cum telo est, quia metuunt latrones. Civitates fines suos praesidiis, urbes moenibus, tueri soient metu vicinarum civitatum". 33 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Anmerkung, S. 76. DC Annotatio, S. 92: „Societates autem civiles jion sunt meri congressus, sed Foedera, quibus faciendis fides & pacta necessaria sunt". 34 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Anmerkung, S. 76. DC Annotatio, S. 92: „Ad Societatem ergo homo aptus, non natura sed disciplina factus est".
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
gen" 3 5 . Hobbes faßte die Menschen insofern als gleich auf 3 6 , als potentiell jeder Mensch den anderen töten kann und somit jeder Mensch für jeden anderen - potentiell - die gleiche Gefahr darstellt, da auch der Stärkste durch den Schwächsten zu Schaden kommen kann. Dieses gleiche Gefährdungspotential ist zunächst offensichtlich der alleinige Grund für die Annahme der Gleichheit der Menschen. Daß jeder Mensch den Willen zu schaden (voluntas laedendi) habe, scheint erneut auf die vielzitierte Bösartigkeit des Menschen hinzudeuten. Hobbes erklärt aber schlüssig, wie jeder Mensch aus der Situation des Naturzustands als einem rechtlosen Zustand zwangsläufig sich die voluntas laedendi zu eigen machen muß. Zunächst hält er fest, daß dieser Wille aus verschiedenen Ursachen entspringen könne und nicht immer gleich tadelnswert sei. Auch der nicht böse Mensch muß nämlich zwangsläufig schaden wollen, um in dem Zustand gegenseitiger Furcht seine eigenen Interessen zu vertreten. Die voluntas laedendi entspringt somit bei dem nicht vorsätzlich unfriedfertigen Menschen „aus der Notwendigkeit, seinen Besitz und seine Freiheit gegen den anderen zu verteidigen" 37 . Dies bedeutet, daß nicht eine irgendwie bösartige Natur des Menschen den Naturzustand als unfriedlichen und unsicheren Zustand bestimmt, sondern vielmehr umgekehrt aufgrund der Rechtlosigkeit dieses Zustands die Menschen gar nicht anders können, als den anderen potentiell schaden zu wollen. „Wenngleich Hobbes in diesem Zusammenhang eine Begründung vorbringt, welche die empirisch-psychologischen Konfliktursachen betont, läßt sich (...) feststellen, daß der entscheidende Gesichtspunkt in seiner Einsicht besteht, daß ganz unabhängig von den subjektiv zufälligen Motiven, andere schädigen zu wollen oder auch bescheiden zu sein - alle Menschen aufgrund der juridischen Struktur dieses Zustandes gezwungen sind, ihren Willen in dieser Form ausschließender Besonderheit zu bestimmen und ihr Recht mit Gewalt und durch Schädigung des fremden Willens durchzusetzen. In der Tat zeichnet sich der Naturzustand ja nicht bloß durch die Schädigung eines fremden Interesses aus, sondern durch die universelle Läsion [sie!], die Verletzung eines fremden Rechtsanspruches" 38. 35
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-3, S. 79. DC 1-3, S. 93: „Causa metus mutui consistit, partim in naturali hominum aequalitate, partim in mutua laedendi voluntate". 36 Es sei hier nur angemerkt, daß es auf der Grundlage dieser von Hobbes entwickelten Gleichheit der Menschen zwangsläufig keine Legitimation für Sklaverei mehr geben kann, wie dies die aristotelische Lehre der natürlichen Unterschiedlichkeit noch vermocht hatte. Vgl. dagegen Aristoteles, Politik (Anm. 11) 1-6: „Denn man muß sagen, daß es Menschen gibt, von denen die einen überall Sklaven sind, die anderen nirgends. (...) [es] ist auch eine gegenseitige Freundschaft zwischen einem Sklaven und einem Herrn, die beide ihren Stand von Natur verdienen, nützlich". 37 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-4, S. 80. DC 1-4, S. 93: „(...) ex necessitate res suas & libertatem contra hune defendendi".
. Der Naturzustand bei Hobbes Obwohl Hobbes im folgenden ausführt, daß die Menschen miteinander am häufigsten in Konflikt geraten, „weil viele denselben Gegenstand zugleich begehren, der sehr oft weder gemeinsam genossen noch geteilt werden kann" 3 9 , so ist die Interpretation, daß eine Güterknappheit oder die modernen „Marktgesetze" diesen Konflikt begründet hätten, irreführend 40 . Denn erstens hatte Hobbes im davorgehenden Abschnitt festgestellt, daß „der geistige Kampf der heftigste ist (...) [so] daß die größten Uneinigkeiten aus diesem Streit entstehen" 41 . Zweitens aber, und für Hobbes' Argumentationsgang bedeutender, würde auch die Annahme einer ausreichenden Gütermenge an dem strukturellen Problem des unentscheidbaren Streites im Naturzustand über beliebige Ansprüche oder Gegenstände nichts ändern. Die von Hobbes weiterentwickelte Argumentation belegt dies eindeutig. Es sei bei der potentiell gefährlichen Konfliktlage des Naturzustands nur konsequent, wenn der Mensch bestrebt sei, dieser zu entgehen, und „daher ist die erste Grundlage des natürlichen Rechts, daß jeder sein Leben und seine Glieder nach Möglichkeit zu schützen versucht" 42 . Wie die korrespondierende Stelle im Leviathan verdeutlicht, ist das Fundament des natürlichen Rechts die Erlaubnis, die für jeden weiteren Gebrauch der Freiheit notwendige empirische Selbsterhaltung zu verfolgen. Das natürliche Recht der Selbsterhaltung ist jedem Individuum eigen, aber wie Hobbes im folgenden erörtern wird, bedeutet die Tatsache, daß jedem einzelnen Men38
D. Hüning, Freiheit und Herrschaft (Anm. 19), S. 60. Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-6, S. 81. DC 1-6, S. 94: „(...) quod multi simul eandem rem appetant, qua tarnen saepissime neque fruì communiter, neque dividere possunt". 40 C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, FfM 3 1990. 41 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-5, S. 80. DC 1-5, S. 93: „(...) cum maximum sit certamen ingeniorum, necesse est oriri ex ea contentione maximas discordias". 42 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-7, S. 81. DC 1-7, S. 94: „Itaque Iuris naturalis fundamentum primum est, ut quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur". Leviathan (14/S. 91) präzisiert diese Stelle: „The RIGHT OF NATURE, which Writers commonly call Jus Naturale , is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature; that is to say, of his own Life; and consequently, of doing any thing, which in his own Judgement, and Reason, hee shall conceive to be the aptest means thereunto (...) A LAW OF NATURE, (Lex Naturalis), is a Precept, or generali Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit, that, by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject, use to confound Jus, and Lex , Right and Law ; yet they ought to be distinguished; because RIGHT, consistetti in liberty to do, or to forbeare; Whereas LAW, determineth, and bindeth to one of them: so that Law, and Right, differ as much as Obligation, and Liberty; which in one and the same matter are inconsistent". 39
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
sehen dieses Recht zusteht, zugleich auch, daß dieser individuelle Rechtsanspruch das Verhältnis der Menschen untereinander bestimmt. Hobbes entwickelt die folgenden Gedanken in zwingender Stringenz und verblüffend schneller Abfolge. Zunächst sei es logisch zwingend, daß - da das Recht auf einen Zweck ohne die zu dessen Erlangung erforderlichen Mittel unbedeutend bleibt aus dem Selbsterhaltungsrecht auch das Recht folgt, „alle Mittel zu gebrauchen und alle Handlungen zu tun, ohne die er [der Mensch] sich nicht erhalten kann" 4 3 . Die Entscheidung über den Gebrauch der Mittel kommt notwendigerweise ebenfalls dem einzelnen zu, denn durch das Naturrecht hat nicht nur jeder ein Recht auf Selbsterhaltung und demzufolge auch auf die dazu erforderlichen Mittel, sondern „durch das Naturrecht ist jedermann Richter über die Mittel zu seiner Erhaltung" 44 . In diesem Axiom ist die Besonderheit des Hobbesschen Naturzustands entwickelt, dessen Konsequenzen Hobbes i m folgenden weiter darstellt. Festzuhalten bleibt bis hierhin, daß jeder Mensch im Naturzustand keine zufriedenstellende Sicherheit erlangen kann und deswegen jeder Mensch darauf bedacht sein muß, sich selbst zu schützen. Dies liegt an der durch den Naturzustand charakterisierten Situation, in der sich alle Menschen hypothetisch - vor dem Zusammenschluß in einem rechtlich verfaßten Staat befinden. Es ist diese Rechtsunsicherheit und nicht eine spezifische Natur des Menschen, die die potentiell unfriedliche Struktur des Naturzustandes ausmacht. Der Gebrauch aller notwendigen Mittel zur Selbsterhaltung steht dem Individuum aufgrund des Naturrechts i m Sinne einer Erlaubnis zu, und der einzelne ist Richter über deren zweckmäßigen Gebrauch. Diese Erkenntnis, auf die Hobbes die gedankliche Entwicklung des Naturzustandes hingeführt hat, besticht in ihrer Eindringlichkeit. Denn nun läßt sich zunächst zwingend feststellen: „Die Natur hat jedem ein Recht auf alles gegeben"45. Die rechtsphilosophische Leistung besteht nun in der Erarbeitung der hieraus resultierenden Rechtsantinomie: „Es brachte den Menschen durchaus keinen Nutzen, in dieser Weise ein gemeinsames Recht auf alles zu haben. Denn die Wirkung eines solchen Rechts ist so 43
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-8, S. 81. DC 1-7, S. 94: „(...) utendi omnibus mediis, & agendi omnem actionem, sine qua conservare se non potest". 44 Th. Hobbes, DC 1-9, S. 95 (Randbemerkung): „Iure naturali, unumquemque judicem esse mediorum ad sui conservationem". Die deutsche Übersetzung hat die Randbemerkungen nicht mit aufgenommen, die häufig in noch eindringlicherer Prägnanz die Hobbessche Argumentation vorantreiben. Vgl. ebenfalls Leviathan Kapitel 14. 45 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-10, S. 82. DC 1-10, S. 95: „Natura dedit unicuique ius in omnia ".
. Der Naturzustand bei Hobbes ziemlich dieselbe, als wenn überhaupt kein Recht bestände [NB]. Wenn auch jeder von jeder Sache sagen konnte: diese ist mein, so konnte er doch seines Nachbarns wegen sie nicht genießen, da dieser mit gleichem Rechte und mit gleicher Macht behauptete, daß sie sein sei"46. Der Mensch ist - das wird hier in aller Schärfe erkennbar - aufgrund dieses strukturellen Konfliktes über den Gebrauch der je subjektiven Rechte im Naturzustand nicht in der Lage, Frieden zu halten. Der Nutzen des Rechts auf Selbsterhaltung kommt der Aufhebung jeglichen Rechtes gleich, da potentiell „der eine mit Recht angreift und der andere mit Recht Widerstand leistet" 4 7 . Dieser im Naturzustand unaufhebbare Gegensatz ist der Grund für Hobbes' zutreffendes Ergebnis seiner hier rekonstruierten bisherigen Argumentationsführung, „daß der natürliche Zustand der Menschen, bevor sie zur [staatlich verfaßten] Gesellschaft zusammentraten, der Krieg gewesen ist, und zwar nicht der Krieg schlechthin, sondern der Krieg aller gegen alle" 4 8 . Die von Hobbes erarbeitete Rechtsantinomie legt die Interpretation nahe, ja fordert geradezu zwingend aus dem bisher Gesagten, daß es „ i n dieser These (...) nicht länger um Selbsterhaltung und die dazu erforderlichen Mittel, nicht um Furcht und empirische Unsicherheit [geht]; sondern um Recht und Rechtsansprüche, um Rechtsunsicherheit und Rechtslosigkeit" 4 9 . Der Naturzustand wird hier erstmals nicht als ein Zustand aufgefaßt, in welchem die Menschen unter irgendwelchen vorpositivistischen Rechtsnormen dennoch friedlich miteinander leben, sondern als das strukturelle und prinzipielle Nichtvorhandensein von gesichertem Rechtsfrieden. Hobbes zieht nun - zunächst implizit - die erwartete und notwendige Konsequenz seiner Argumentation, denn „wer also meint, daß man am besten in dem Zustand geblieben wäre, wo allen alles erlaubt war, der widerspricht sich selbst; denn jeder verlangt aus natürlicher Notwendigkeit nach dem für ihn Guten, und niemand wird einen solchen Krieg aller gegen alle, welcher diesem Zustande natürlicherweise anhaftet, als etwas für ihn Gutes ansehen" 50 . Das heißt also, daß der Mensch bestrebt sein müßte, 46 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-11, S. 83. DC 1-11, S. 96: „Minimè autem utile hominibus fuit, quod huiusmodi habuerint in omnia, ius commune. Nam effectus eius iuris idem penè est, ac si nullum omnino ius extiterit. Quamquam enim quis de re omni poterai dicere, hoc meum est, fruì tarnen ea non poterat propter vicinum, qui aequali iure, & aequali vi, praetendebat idem esse suum". 47 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-12, S. 83. DC 1-12, S. 96: „(...) quo alter iure invadit, alter iure resistit". 48 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-12, S. 83. DC 1-12, S. 96: „(...) quin status hominum naturalis antequam in societatem coiretur Bellum fuerit; neque hoc simpliciter, sed bellum omnium in omnes". 49 G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 129. 50 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-13, S. 84. DC 1-13, S. 96f.: „Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi; nam unusquisque naturali necessitate bonum sibi appétit, neque est
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
diesen Zustand zu verlassen, da er im Naturzustand, „wegen jener Gleichheit der Kräfte und der anderen menschlichen Vermögen nicht erwarten [könne], sich lange zu erhalten" 51 . In diesen ersten fünfzehn Abschnitten des ersten Kapitels von De Cive hat Hobbes also bereits die strukturelle Konfliktsituation des Naturzustands dargestellt und die Lösung, nämlich denselben zu verlassen, zumindest angedeutet. Der weitere Argumentationsgang wendet sich nun aber nicht direkt der eigentlichen Staatslehre zu, sondern erörtert die Bedingungen, unter denen es zur Staatsgründung kommen kann, oder anders gewendet: Es werden nicht nur die Bedingungen untersucht, die das Verlassen des Naturzustands gebieten, sondern auch die Konditionen, unter denen dies vollzogen werden kann. Erneut sei betont, daß es hierbei nicht um empirisch-anthropologische Bedingungen geht, sondern um die rechtslogische Konsequenz, die Hobbes zu beweisen sucht. Die objektive Erkenntnisgültigkeit liegt in diesem Verfahren, welches durch die rechte Vernunft (recta ratio) dem einzelnen Menschen als vernunftbegabtem Wesen nachvollziehbar ist. Die strukturelle Unsicherheit des Naturzustands läßt Hobbes nun das erste Kapitel mit der Feststellung schließen: „Deshalb ist ein Gebot der rechten Vernunft, den Frieden zu suchen, sobald eine Hoffnung auf denselben sich zeigt, und solange er nicht zu haben ist, sich nach Hilfe für den Krieg umzusehen. Dies ist ein Gebot der Natur, wie gleich gezeigt werden wird" 52. Da bisher keine Einigkeit über den Gehalt der natürlichen Gesetze gegeben war, was vor allem daran lag, daß diesen nicht nur formale Geltung, sondern auch materiale Geltung im Sinne der jeweiligen Naturrechtslehre aristotelisch-scholastischer Provenienz zugeschrieben worden war, unternimmt Hobbes es nun seinerseits, den formalen Gehalt des natürlichen Gesetzes zu bestimmen. Es ist nach seiner ausdrücklichen Definition „das Gebot der rechten Vernunft in betreff dessen, was zu einer möglichst langen Erhaltung des Lebens und der Glieder zu tun und zu lassen ist" 5 3 . Hobbes selbst erachtete es in der zweiten Auflage für quisquam qui bellum istud omnium contra omnes, quod tali statui naturaliter adhaeret, sibi existimat esse bonum". 51 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-15, S. 85. DC 1-15, S. 97: „Propter tarnen aequalitatem illam virium, caeterumque facultatum humanorum, hominibus (...) conservatio sui diuturna expectari non potest". 52 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 1-15, S. 85. DC 1-15, S. 97: „Quare quaerendam esse pacem, quatenus habendae eius spes aliqua affulserit; ubi haberi ea non potest, quaerenda esse belli auxilia, rectae rationis dictamen est; hoc est lex Naturae, ut proxime ostendetur". 53 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), II-l, S. 86f. DC Π-l, S. 98: „(...) Dictamen rectae rationis circa ea, quae agenda vel omittenda sunt ad vitae membrorumque conservationem, quantumfieri potest, diuturnam".
. Der Naturzustand bei Hobbes notwendig, die fundamentale Bedeutung der recta ratio in einer längeren Anmerkung genauer zu erläutern, die er eindeutig auf den Kontext des Naturzustandes beschränkt. Da im Naturzustand jeder Richter in eigener Sache ist, muß zwangsläufig auch jeder für sich über den Gebrauch und Gehalt dieser rechten Vernunft entscheiden. Voraussetzung dafür, daß diese Vernunft dann auch wirklich wahr ist, ist dann aber nicht mehr das Urteil des einzelnen. Dies bestimmt sich vielmehr aus der korrekten methodischen Anwendung von Vernunftschlüssen. ,„Wahr' nenne ich die Schlußfolgerung, wenn sie aus wahren, richtig geordneten Grundsätzen schließt" 54 . Dies klingt nun nach einem klassischen Zirkelschluß, der nichts anderes zu sagen scheint, als das wahr sei, was wahr ist; er läßt sich aber bei weiterer Differenzierung zumindest teilweise aufheben. Denn der Grund für die vermeintlich zirkuläre Argumentation muß wohl darin gesehen werden, daß im Naturzustand das Recht des Urteils, ob die Bedingung erfüllt ist, daß nach wahren und geordneten Grundsätzen geschlossen worden ist, wieder nur dem einzelnen zukommen kann. Zwischen der Erkenntnisgültigkeit der rechten Vernunft im Sinne wahrer Vernunftschlüsse und der objektiven Rechtsverbindlichkeit der Gebote der rechten Vernunft im Naturzustand ist allerdings zu unterscheiden, wenn man die theoretische Möglichkeit wahrer Vernunftschlüsse im Naturzustand weiterhin für gegeben halten will. Eine vollständige objektive Geltung kann der rechten Vernunft aufgrund des ipse-judex-Prinzips des Naturzustandes daher nicht zukommen. Von dem grundlegenden Gebot der rechten Vernunft, den Frieden zu suchen, welches im Naturzustand insofern verbindlich ist, als jeder vernunftbegabte Mensch erkennen muß, daß die rechte Vernunft eben dieses gebietet, da er sich selbst und der Möglichkeit seiner Selbsterhaltung sonst prinzipiell widersprechen würde, leitet Hobbes nun alle weiteren natürlichen Gesetze ab. Über den Geltungsgrund dieser natürlichen Gesetze als rechtsverbindliche Gebote ist in der einschlägigen Hobbesforschung kontrovers debattiert worden. Nach den oben erarbeiteten Überlegungen wird man sagen müssen, daß ihre objektive Geltung i m Sinne wahrer Vernunftschlüsse gegeben ist, wohingegen ihre tatsächliche Aktualisierung und Anerkennung nach wie vor der Subjektivität des einzelnen unterworfen bleibt. Rechtsverbindlichkeit i m Sinne positiver staatlicher Rechtsnormen kann ihnen daher nicht zukommen. Es zeigt sich hier ausgehend vom Begriff der natürlichen Gesetze „die rechtliche Problematik einer bloß naturgesetzlichen Normierung unter vorstaatlichen Bedingungen und die aus ihr hervorgehende Notwendigkeit der Positivierung dieser Normen 54
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π Anmerkung, S. 87. DC II Annotatio, S. 99: „Veram dico, id est, ex veris principiis rectè compositis concludentem".
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
durch Gründung des staatlichen Zustands" 55 . Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen ist zunächst an seiner Selbsterhaltung (sui conservandi) interessiert, und ihm kommt im Naturzustand das Recht zu, alle Mittel, die er für seine Selbsterhaltung für notwendig erachtet, zu nutzen. Diese vernunftrechtliche Handlungsbefugnis bestimmt den Menschen als frei handelndes, individuelles Rechtssubjekt, dem daher ein Recht auf alles, was zur Selbsterhaltung notwendig ist, zukommt. „In dieser Fähigkeit vernünftiger Selbstbestimmung, nicht in der Bindung des Naturrechtsbegriffs an das Streben nach Selbsterhaltung, liegt das fundierende Moment der Hobbesschen Rechtstheorie" 56 . Die Rechtsantinomie des Naturzustands hatte das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als wertlos und hohl erwiesen, da die Wirkung dieses Rechts fast dieselbe war, als wenn überhaupt kein Recht bestände (vgl. DC 1-11). Der Mensch ist aber frei, in vernünftiger Selbstbestimmung die Konditionen zur Sicherung dieses Rechts selbst zu schaffen. Diese Freiheit auch tatsächlich zu nutzen, gebietet die rechte Vernunft, so daß Hobbes mit Recht sagen konnte, daß das erste und grundlegende Gesetz der Natur dahingehe, den Frieden zu suchen, das heißt, wie Geismann und Herb zutreffend hervorheben, den Frieden zu stiften. Die menschlichen Verhältnisse lassen sich nur in einem Zustand gestalten, in dem Frieden herrscht. Dies bedeutet nicht, daß dieser Friedenszustand ein konfliktloser, geradezu paradiesischer Zustand wäre, sondern daß (Rechts-)Konflikte ausgetragen und entschieden werden können. Damit hat Hobbes den Frieden im Sinne eines Rechtsfriedens als die fundamentale Bedingung für ein erträgliches Leben der Menschen aufgezeigt. Im Leviathan hat Hobbes - eindringlicher noch als in De Cive - beschrieben, was es bedeuten würde, wenn die Menschen diesen Frieden nicht etablieren sollten: „In such condition, there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing such things as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuali feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty brutish, and short" . Oberstes Ziel für die Einrichtung der menschlichen Verhältnisse sei daher der Friedenszustand. Die von Hobbes im folgenden entwickelten natürlichen Gesetze, die von dem grundlegenden Gebot, den Frieden zu suchen, abgeleitet sind, beschreiben den Weg zur Erlangung dieses Ziels. 55 K. Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg 1989, S. 22. 56 D. Hüning, Freiheit und Herrschaft (Anm. 19), S. 47. 57 Th. Hobbes, Leviathan, chap. 13, S. 89.
. Der Naturzustand bei Hobbes Ein in seiner rechtsphilosophischen Bedeutung nicht zu unterschätzendes natürliches Gesetz besteht nach Hobbes in der Forderung, „daß das Recht aller auf alles nicht beizubehalten sei, sondern daß einzelne Rechte zu übertragen oder aufzugeben seien" 58 . Dieser für die Stiftung eines friedlichen Zustands notwendige Rechtsverzicht bedeutet keine umfassende Aufgabe des je individuellen Rechts, sondern es genügt offenbar ein begrenzter Verzicht. Wie weit dieser zu gehen hat und wo Hobbes die entscheidenden Grenzen zu ziehen versucht, wird von ihm hier noch nicht thematisiert und offenbart sich erst im Zusammenhang seiner Staatslehre beziehungsweise seiner Souveränitätskonzeption. Genau hier wird es Hobbes dann auch nicht gelingen, die Widersprüchlichkeit von Souveränitätslehre und individuellem Selbsterhaltungsrecht aufzulösen (vgl. IV.). Ein anderer Aspekt dieses natürlichen Gesetzes ist von besonderer Bedeutung: Der Verzicht auf das für jeden geltende Recht auf alles, „bedeutet (...) nichts anderes als den rein rationalen, apriorischen Aufweis der rechtlichen Notwendigkeit der »Abschaffung der Gemeinschaft aller Güter 4 " 5 9 . Diese notwendige Forderung ergibt sich aus der rechtlichen Unmöglichkeit, im Naturzustand die Güter konfliktfrei gemeinsam zu nutzen. Die Aufgabe eines Teils des Rechts auf alles ist ein erster Schritt in diese Richtung und somit ein Gebot der Vernunft und ein Derivat der obersten Forderung, den Frieden zu suchen. Der folgende Abschnitt steuert auf die weiter unten im Zusammenhang der Souveränitätstheorie zu erörternde Problematik zu; nun behauptet Hobbes, was nach dem bis hierher Entwickelten durchaus schlüssig ist, daß es zwei Möglichkeiten gebe, von seinem Recht abzugehen. Zum einen könne dies durch eine allgemeine Erklärung geschehen, wodurch der einzelne sein Recht schlicht insofern einschränken würde, als er zu erkennen gäbe, „daß es ihm nicht länger erlaubt sein solle, etwas zu tun, was er bisher mit Recht tun konnte" 6 0 . Zum anderen könne man von seinem Recht abgehen, indem man dieses auf einen anderen übertrage. Hobbes geht davon aus, „daß die Übertragung des Rechts nur darin besteht, daß man nicht Widerstand leiste". Diese Annahme sieht er dadurch begründet, „daß der, auf den die Übertragung geschieht, schon vor dieser Rechtsübertragung das Recht auf alles besaß. Der andere konnte ihm daher kein neues Recht verleihen; aber das Recht zum Widerstand bei dem Übertragenden, durch das der andere nicht frei von seinem Rechte Gebrauch machen konnte, wird 58
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), II-3, S. 87. DC II-3, S. 100: „(...) ius omnium in omnia retinendum non esse, sed iura quaedam transferenda, vel relinquenda esse". 59 G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 146. 60 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π-4, S. 88. DC Π-4, S. 100: „(...) se non licitum sibi amplius fore certum facere, quod iure anteà fecisse poterat". 3 Schröder
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
völlig aufgehoben" 61 . Der strukturelle Rechtskonflikt des Naturzustandes wird durch Rechtsverzicht, nicht durch Rechtsübertragung aufgehoben, da offensichtlich keinem, der bereits ein Recht auf alles besitzt, noch ein darüber hinausgehendes Recht verliehen werden kann. Dieses - bisher zweiseitig gedachte - Übereinkommen reicht aber noch nicht aus, um die strukturelle Rechtsantinomie des Naturzustands insgesamt aufzuheben. Denn demjenigen, dem von einem anderen erklärt worden ist, daß er hinkünftig von seinem Recht, den anderen in seinem ebenfalls rechtmäßigen Nutzen nicht länger einzuschränken, keinen Gebrauch mehr machen will, wird mit dieser Willenserklärung eines anderen noch nicht viel geholfen. Derjenige, der den Rechtsverzicht geleistet hatte, „nimmt nur sich allein, aber nicht auch anderen das Recht" 6 2 . Die potentielle Konfliktstruktur bleibt also erhalten und kann durch einzelne Rechtsverzichtserklärungen noch nicht aufgehoben werden. I m Gegenteil scheint es vielmehr so zu sein, daß diejenigen, die einen Rechtsverzicht erklären, dies im Grunde nur dann tun können, wenn sie davon ausgehen können, daß sich alle anderen zu ihrem gemeinsamen Vorteil genauso verhalten, um so Frieden zu stiften. Dies scheint das klassische prisoner's dilemma 53 zu sein, weswegen der Hobbessche Naturzustand auch als solches interpretiert wird. Da es offensichtlich nicht ausreicht, daß ein einzelner lediglich zugunsten eines anderen auf sein Recht verzichtet, ist es, um den strukturellen Konflikt des Naturzustands verlassen zu können, geboten, daß die Menschen gegenseitig auf ihr Recht auf alles verzichten. Dies geschieht durch eindeu61
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π-4, S. 88. DC Π-4, S. 100: „Iuris autem translationem in sola non-resistentia consistere (ex eo intelligitur), quod ante iuris translationem, is in quem transfertur, ius habebat iam tum in omnia; unde novum ius dare non potuit, sed iusta transferentis resistentia, propter quam, iure suo alter fruì non potuit, extinguitur". 62 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), II-4, S. 88. DC Π-4, S. 100: „ (...) sibi soli ius (...), non aliis item adimit". 63 Überzeugend gegen die Interpretation des Hobbesschen Naturzustands als prisoner's dilemma hat jüngst A. Ryan, Hobbes's political philosophy, in: T. Sorell (Hg.), The Cambridge Companion to Hobbes, Cambridge 1996, S. 208-245 argumentiert. Die spieltheoretische Annahme des prisoner's dilemma scheint oberflächlich dem Hobbesschen Naturzustand zu ähneln. Bei gegebenen zwei Parteien besteht das Dilemma darin, daß derjenige, der sich kooperativ verhalten würde, die Gefahr einginge, daß der andere die Kooperationsbereitschaft des ersten für seinen Vorteil ausnutzen würde. Das Nutzenkalkül legt es daher auch für den ersten nahe, sich nicht kooperativ zu verhalten. Dadurch vergeben sie die Möglichkeit, das für beide optimale Ergebnis zu erreichen, aber sie vermeiden es, durch den anderen übervorteilt zu werden. „For example, the other person disarms himself, and I take advantage of his unarmed condition to take what I want from him. Hobbesian man is supposed to repress this desire. This is why the state of nature is not a true prisoner's dilemma". A. Ryan, Hobbes's political philosophy, S. 224. Vgl. auch oben Anm. 18.
Π. Der Naturzustand bei Hobbes
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tige gegenseitige Willenserklärung. „Fehlt dieser Wille auf einer von beiden Seiten, so bleibt das Recht unverändert" 64 . Die Bedeutung des Willens, der für den Rechtsverzicht der bisher von den einzelnen genossenen Rechte hier von Hobbes betont wird, deutet eindeutig auf den freiwilligen Charakter dieses Rechtsverzichtes hin. Der Mensch wird als frei gedacht, auf sein Recht zugunsten eines anderen zu verzichten. Geboten wird dies zwar durch die rechte Vernunft, aber der Mensch kann nicht, wie später bei Rousseau 65 , zu seinem Glück gezwungen werden. Die Bereitschaft zur Verpflichtung, die die Menschen durch ihre geäußerte Willenserklärung zu erkennen geben, kann daher nur eine innere „Verpflichtung" in foro interno sein. Wo die Freiheit aufhört, beginnt die Verpflichtung (DC 11-10), aber die Einlösung des materiellen Gehaltes dessen, wozu sich der Mensch verpflichtet hat, kann i m Naturzustand nicht eingeklagt werden. Daher sind „Verträge auf gegenseitiges Vertrauen (...) im Naturzustand ohne Nutzen und Wirkung, nicht so i m Staat" 66 . Der klare Bezug auf die Selbstverpflichtung des einzelnen muß Hobbes' Souveränitätslehre in argumentative Schwierigkeiten bringen, denn selbst wenn man der rechtsphilosophischen Interpretation hier weiter folgen will, daß die Selbstverpflichtung als Gebot der rechten Vernunft zur Überwindung des rechtsantinomischen Naturzustands eingegangen wird, so wird diese Selbstverpflichtung doch dort an ihre Grenzen stoßen müssen, wo der einzelne sich in seiner Existenz bedroht sieht. Hobbes vermag seine Analyse und seine darauf folgenden Begründungen nicht von dem Selbsterhaltungsgebot zu lösen. Das Selbsterhaltungsgebot und aus diesem folgend das Widerstandsrecht werden sich mit der Hobbesschen Souveränitätslehre als begründungstheoretisch unvereinbar erweisen. Diese Unvereinbarkeit resultiert aus den Prämissen, die er in den bisherigen ersten zwei Kapiteln von De Cive erarbeitet hat. Andererseits hat Hobbes bereits hier grundlegende Aspekte der modernen Rechtslehre (wie z.B. das Zeugnisverweigerungsrecht) antizipiert, die den „psychologischen" Aspekten des Menschen Rechnung zu tragen versucht. Das Gebot der Selbsterhaltung bezeichnet in der Tat die Grenze, über die hinaus man eine Verpflichtung des Menschen, auch eine Selbstverpflich64
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), II-5, S. 88. DC II-5, S. 100: „Si utrauis [voluntas] absit, ius manet". 65 J.-J. Rousseau, Du contrat social, Paris 1992, 1-7, S. 42f.: „Afin donc que le pacte social ne soit pas un vain formulaire, il renferme tacitement cet engagement qui seul peut donner de la force aux autres, que quiconque refusera d'obéir à la volonté générale y sera contraint par tout le corps: ce que ne signifie autre chose sinon qu'on le forcera d'être libre". 66 Th. Hobbes, DC Π - l l (Randbemerkung), S. 102: „Pacta mutae fidei in statu naturae frustrò & invalida sunt; in civitatem non item". 3'
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
tung, vernünftigerweise nicht erwarten kann. Es ist deswegen mit der Begründung der Souveränitätslehre zwar unvereinbar, aber doch mit der menschlichen Kondition kongruent, wenn Hobbes feststellt, „von zwei Übeln das kleinere nicht zu wählen, ist unmöglich; ein solcher Vertrag würde also zu etwas Unmöglichem verpflichten, was der Natur der Verträge widerstreitet" 67 . Da nun der sichere Tod ein größeres Übel als der Kampf ist, wird man nicht erwarten können, daß jemand sich durch Vertrag völlig und vorbehaltlos der Disposition eines anderen unterwirft. Er kann, sobald seine eigene Selbsterhaltung betroffen ist, wieder in das Recht des Krieges eintreten, „in dem alles erlaubt ist, also auch der Widerstand" 68 . Die grundsätzliche Annahme, daß es der „Natur eines Vertrages" widerspricht, sich zu etwas zu verpflichten, was dem Gebot der Selbsterhaltung entgegensteht, gilt dann konsequenterweise auch für den im zweiten Teil (Imperium) von Hobbes erarbeiteten staatsstiftenden Vertrag. Die Frage über das Widerstandsrecht im Staat wird damit im Grunde bereits hier antizipierend entschieden, da Hobbes, w i l l er die Konsistenz seiner Argumentation wahren, gar nicht mehr anders kann, als ein Widerstandsrecht des einzelnen im Staat - auch gegenüber dem Souverän - anzunehmen. Bevor Hobbes im dritten Kapitel des ersten (Liberias-)Teils gemäß seiner Ankündigung weiter entwickelt, „was die Gebote der Vernunft verlangen" 6 9 , geht er am Ende des zweiten Kapitels noch auf die Bedeutung des Eides ein. Ganz dem Aufbau des gesamten Buches folgend, in welchem der die Religion betreffende Teil lediglich ein Anhang zu der übrigen Beweisführung war, weist Hobbes bereits hier nach, daß dem Eid keine rechtlich bindende Funktion zukommt. Der Eid ist lediglich „die einem Versprechen hinzugefügte Rede, durch welche der Versprechende erklärt, daß er, wenn er nicht Wort halte, auf die Barmherzigkeit Gottes verzichte" 70 . Ein Eid fügt daher dem bloßen Vertrag keine weitere rechtsverbindliche objektive Bindung hinzu, „denn der Vertrag ist es, welcher uns bindet, während der Eid sich auf die göttliche Strafe bezieht, die man nicht sinnvoll herausfordern könnte, wenn die Verletzung des Vertrages nicht an sich unerlaubt wäre; das wäre nicht der Fall, wenn nicht schon der Vertrag bände" 71 . Ähnlich wie im dritten Teil über die Religion kommt einem Eid demnach ledig67
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π-18, S. 95. DC Π-18, S. 105: „(...) duorum malorum impossile est non eligere minus. Tali ergo pacto teneremur ad impossibile, quod naturae pactorum répugnât". 68 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π-18, S. 95. DC Π-18, S. 105: „(...) in quo omnia licent, ideoque etiam resistere". 69 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Vorwort an die Leser, S. 70. DC, Praefatio ad Lectores, S. 81: „(...) quae sint rationis dictamina". 70 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), Π-20, S. 96. DC 11-20, S. 106: „[Iuris iurandum] oratio est, promissioni adiecta: qua significat promissor, nisi praestiterit, renunciare sese misericordiae divinae".
. Der Naturzustand bei Hobbes lieh nur eine subjektive zusätzliche, nicht aber notwendige Ergänzung für die Qualität und Rechtsverbindlichkeit von Verträgen zu. Das heißt in aller Radikalität: Der Rekurs auf Gott fügt der Gültigkeit von Verträgen keine zusätzliche, stärker verpflichtende Rechtsverbindlichkeit zu. „Moral obligation does not depend on God. It arises whenever, in accordance with the rational requirements of the laws of nature, we grant away some portion of our initially unlimited right. We do this in our relationship with God, but we do it also in our relationships with our human fellows, to secure ourselves against their power. (...) The laws of nature are introduced as theorems of reason, and only afterwards as commands of God"72. Die Tatsache, daß Hobbes das dritte Kapitel „Von den übrigen natürlichen Gesetzen" überschrieben hat, weist diesen den Stellenwert ihrer Begründungsfunktion zu. Hobbes hatte gezeigt, daß das erste und grundlegende Gesetz gebiete, den Frieden zu suchen. Das erste hiervon abgeleitete Gesetz der Natur bestimmte, Verzicht auf das Recht auf alles zu leisten und einzelne Rechte aufzugeben oder zu übertragen. Die hier von Hobbes vorgeführten übrigen natürlichen Gesetze leiten sich nun ebenfalls aus dem grundlegenden Gebot, den Frieden zu suchen, ab. Da Hobbes die Übertragung von Rechten durch Verträge etabliert hatte, ist es konsequenterweise geboten, daß Verträge auch gehalten werden, denn „Verträge würden nutzlos sein, wenn sie nicht gehalten würden" 7 3 . Da im Naturzustand jeder ein Recht auf alles hatte, konnte es kein Unrecht geben, da jeder mit Recht alles für sich beanspruchen konnte. Es liegt im Eigeninteresse des Menschen, diese juridische Widersprüchlichkeit durch vertragliche Rechtsübertragung aufzulösen. „Hieraus folgt, daß ein Unrecht nur gegen den begangen werden kann, mit dem man einen Vertrag eingegangen ist oder dem man etwas geschenkt hat oder dem man durch Vertrag etwas versprochen hat" 7 4 . Vertragsbruch ist für Hobbes also bereits im Naturzustand ein 71
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), 11-22, S. 97. DC Π-22, S. 106f.: „Pactum enim est quo astringimur; iuramentum ad punitionem divinam attinet, quam provocare ineptum esse, si pacti violatio non esset per se illicita; illicita autem non esset, nisi pactum esset Obligatorium". 72 D. Gauthier, Why ought one obey God? (Anm. 13), S. 435. 73 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), ΠΙ-1, S. 98. DC ΙΠ-1, S. 108: „frustra (...) esset pacta nisi illis staretur". 74 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), ΙΠ-4, S. 99. DC ΙΠ-4, S. 109: „Ex his sequitur iniuriam nemini fieri posse nisi ei quicum initur pactum, sive cui aliquid dono datum est, vel cui pacto aliquid est promissum". Hobbes hatte den letzten Halbsatz der zweiten Auflage hinzugefügt. Geismann und Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 179 f., machen darauf aufmerksam, daß dies „vermutlich auf Grund von Einwänden mit Bezug auf die anschließenden Äußerungen über das Unrecht gegen den Staat" geschehen sei und für die argumentative Konsistenz der von Hobbes im folgenden entwickelten Staatslehre „eine notwendige Ergänzung" darstelle. Vgl. hierzu ausführlich Kap. IV.
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
Unrecht, da es gegen das Gebot der rechten Vernunft verstößt, welches zuallererst gebietet, den Frieden zu suchen. Derjenige, der Verträge nicht halten würde, würde somit sich selbst widersprechen, da er etwas täte, was er für seine eigene Selbsterhaltung gar nicht wollen kann. Anders verhält es sich aber mit Schädigungen eines anderen im Naturzustand. Das Recht auf alles i m Naturzustand macht es Hobbes unmöglich, in der Schädigung eines anderen etwas Unrechtes zu sehen, da es Mein und Dein - also Eigentum im Naturzustand nicht geben kann. Eine Bestrafung jeder Art von Eigentumsdelikten ist für Hobbes erst in der Rechtsordnung eines Staates denkbar. Die psychologisierende Interpretation des Hobbesschen Naturzustandes im Sinne eines Nutzenkalküls und des daraus resultierenden prisoner's dilemmas wird durch Hobbes' Argumentation ausgeschlossen. Wenn nun jemand im Interesse seines eigenen subjektiven Nutzenkalküls „nicht den Frieden, sondern nur die günstige Gelegenheit sucht, so ist das kein Frieden, sondern Furcht, und deshalb kein Gebot der Natur" 7 5 . Hobbes' Menschenbild lag nicht der „utility-maximiser" der spieltheoretischen Interpretation zugrunde, sondern ein Mensch der danach strebt, die Bedrohung zu vermeiden. Daher würde nach Hobbes der Mensch in der rechtlosen Lage des Naturzustandes nicht zwangsläufig seinen Vorteil darin suchen, einem anderen zu schaden. Letztlich sind diejenigen, die nach den spieltheoretischen Prämissen handeln, unrational und verhalten sich unklug, weil sie nur nach ihrem Vorteil streben, und daher auch Abmachungen und Verträge brechen würden, sobald dies ihnen zu ihrem unmittelbaren Nutzen gereicht. „Hobbesian man is obliged to keep his agreements unless it is intolerably dangerous to do so, and Hobbes does not suggest we will be tempted to stray, as long as we keep our eyes on the need to avoid the state of nature" 76 . Der Mensch der Hobbesschen Konzeption würde nicht bei der erstbesten Gelegenheit seines eigenen Vorteils die eingegangenen Verträge brechen, sondern er würde bemüht sein, die mit diesen verbundenen Verpflichtungen aufgrund seines vernünftigen Kalküls so lange einzuhalten, wie er nicht bedroht wird. Die Widersprüchlichkeit der menschlichen Situation im Naturzustand resultiert nicht aus der Furcht. Denn erst aus den widerstreitenden Rechtsansprüchen ergibt sich, daß die Menschen im Naturzustand nicht auf die Aufhebung dieses strukturell unsicheren Zustands hoffen können, so daß sie einander im Naturzustand geradezu fürchten müssen. Die Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen, wurde daher von Hobbes durch diesen Nachweis der rechtlichen Widersprüchlichkeit des 75
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), ΠΙ-10, S. 103. DC III-10, S. 112: „(...) non pacem sed opportunitatem captanti, non est pax sed metus; neque igitur a natura praecipitur". 76 A. Ryan, Hobbes's political philosophy (Anm. 63), S. 225.
. Der Naturzustand bei Hobbes Naturzustandes begründet, nicht durch ein reines Nutzenkalkül, das offensichtlich die Einhaltung der Verträge nicht zu begründen vermag. Die von ihm entwickelten natürlichen Gesetze, die sich aus dem vernunftrechtlichen Gebot der Friedenssuche ableiten, führen bereits immer deutlicher auf eine Vorstufe der Staatsgründung zu. Dies wird besonders offenkundig, wenn Hobbes in dem fünfzehnten Gesetz der Natur von der Notwendigkeit eines Schiedsrichters handelt: „Wenn die Menschen auch über alle diese und andere natürlichen Gesetze einig wären und sie zu befolgen strebten, so würden doch täglich Zweifel und Uneinigkeiten über die Anwendung dieser Gesetze auf die Geschehnisse sich erheben; nämlich darüber, ob das Geschehene gegen das Gesetz verstoße oder nicht, und das nennt man Rechtsstreit; aus ihm entspringt Kampf zwischen den Parteien, von denen jede sich für verletzt hält. Darum ist es in diesem Falle zur Erhaltung des Friedens nötig, (...) daß, (...) sie sich dem schiedsrichterlichen Ausspruche eines Dritten zu unterwerfen haben" 77 . Genau dies aber ist die Rolle des Staates, die Hobbes in seiner eigentlichen Staatslehre im Imperium-Teil von De Cive entwickelt. Die Geltung und Verpflichtung der abgeleiteten natürlichen Gesetze sieht Hobbes durch die sogenannte Goldene Regef % gegeben, selbst da, wo man einwenden könne, daß die Ableitung zu schwierig sei und man daher nicht 77
Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), ΙΠ-20, S. 107. DC ΠΙ-20, S. 115: „Porrò, quoniam, etsi homines in omnes has, & si quae aliae sunt naturae leges consistèrent, easque studerent observare, dubia tarnen, & controversiae quotidie orientur, de legum harum ad facta applicatione, nimirum an quod factum sit, sit contra legem necne, (quae questio iuris dicitur:) ex quibus sequetur pugna inter partes, utrimque se laesos esse existimantes. Ad Pacis igitur conservationem (...) necessarium est ut (...) oportere utrumque de iure inter se disceptantium, submittere se alicuius tertii arbitrio". 78 DC m-26. Vgl. zur Goldenen Regel Matthäus VII, 12: „Die goldene Regel: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!" sowie Lukas VI, 31: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen". Auf die philosophische Diskussion über die ethische Bindungskraft der goldenen Regel braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Entscheidend dazu aber vor allem Kants grundlegende Kritik: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. (...) Was die notwendige oder schuldige Pflicht gegen andere betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu thun im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten. (...) Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (...),
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
erwarten könne, daß diese Gesetze allgemein bekannt wären und sie deswegen auch nicht verpflichten könnten. Hobbes räumt aber ein, daß die natürlichen Gesetze vor allem das Gewissen verpflichten, nicht aber unbedingt auch nach außen den gleichen Verpflichtungscharakter haben. Die Verpflichtung nach außen setze einen äußeren, unabhängigen Richter voraus, der über mögliche Verletzungen der Gesetze urteilen könne. Solange dies nicht gegeben sei, entscheide der einzelne über den Grad der einzugehenden Verpflichtung nach außen. Dies bedeute auch, daß er nicht wisse, inwieweit die anderen sich diesen Gesetzen nach außen verpflichten. Daher würde derjenige, der eine grundsätzliche und vorbehaltlose Verpflichtung gegenüber den äußeren Gesetzen eingehen würde, solange „die andern nicht dasselbe täten, keineswegs der Vernunft folgen; er würde sich hiermit nicht den Frieden, sondern nur einen sicheren und frühen Untergang bereiten und durch Befolgung der Gesetze eine Beute jener werden, welche sie nicht befolgen. Man kann daher nicht annehmen, daß die Menschen von Natur, das heißt durch die Vernunft zur Erfüllung aller dieser Gebote verpflichtet seien, solange das Gleiche nicht auch von den anderen g i l t " 7 9 . Dies ist nun sogar die quasi wörtliche Formulierung des prisoner's dilemma. Aber für den Verpflichtungsgrad der natürlichen Gesetze i m Naturzustand bleibt festzuhalten, daß dieser nur eine theoretische Annahme von Hobbes ist, um eben genau dies nachzuweisen: daß es im Naturzustand für den Menschen keine Rechtssicherheit geben kann, nicht weil der andere Mensch ihm eventuell schaden will, sondern weil jeder mit gleichem Recht für sich beanspruchen kann, den anderen einzuschränken. In dieser Analyse liegt „Hobbes' rechtsphilosophische Pionierleistung" 80 , die aufgrund der Rechtsantinomie des Naturzustandes die Notwendigkeit eines Staates als Friedensund Rechtssicherungsinstanz schlüssig nachgewiesen hat. Ohne die Rechtsordnung eines Staates, das geht aus der Hobbesschen resolutiven Analyse des Naturzustandes klar hervor, kann es für den Menschen keine Hoffnung auf Rechtssicherheit geben. Die natürlichen Gesetze, die aus dem grundsätzlichen ersten Gebot der Vernunft, nämlich den Frieden zu suchen beziehungsweise zu stiften, von Hobbes abgeleitet wurden, können naheliegenderweise nur vor dem Gewissen verpflichten, da es gegen das individuelle Interesse auf Selbsterhaltung endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander". I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: AA IV, [ND] Berlin 1968, S. 385-463, hier S. 429f. 79 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 6), ΙΠ-27, S. 110. DC III-27, S. 118: „(...) caeteris non idem facientibus, nihil minus quam rationem sectarentur. Neque enim pacem, sed certum & maturius exitium sibi compararent, cederentque observantes non observantibus in praedam. Non est igitur existimandum, natura, hoc est, ratione obligari homines ad exercitium earum omnium, in eo statu hominum in quo non exercentur ab aliis". 80 G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 9), S. 228.
. Der Naturzustand bei Hobbes verstoßen würde, sich bereits in dem unsicheren Naturzustand auch äußerlich an diese zu binden. Hobbes erläuterte in seiner Antwort an Bramhall, daß die natürlichen Gesetze „being not known by men for any thing but their own natural reason, they were but theorems, tending to peace, and those uncertain, as being but conclusions of particular men, and therfore not properly laws" 8 1 . Die natürlichen Gesetze haben somit lediglich den Verpflichtungscharakter eines Ratschlags, den man sich zu eigen machen kann, nicht aber rechtsverbindenden Geltungsgrund eines positiven Gesetzes. Die Notwendigkeit der Positivierung der Gesetze ist evident, und es wird weiter unten zu zeigen sein, wie Hobbes in seiner Staatslehre diese Schritte entwickelt. Das individuelle Interesse auf Selbsterhaltung erwies sich in der Hobbesschen Lehre des Naturzustandes nicht nur als die grundlegende Annahme eines Rechts auf Selbsterhaltung, sondern durch diese theoretische Erkenntnis wurde der einzelne Mensch als Träger individueller Rechte anerkannt. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß Hobbes eine rein individualistische Philosophie erarbeitet hätte. Vielmehr fordert die Erkenntnis der Existenz gleichwertiger individueller Rechtssubjekte, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Durch das Theorem des Naturzustandes gelang es Hobbes, die Widersprüchlichkeit dieser je individuellen Rechte außerhalb jeder rechtlich verfaßten menschlichen Gemeinschaft aufzuweisen. Diese Rechtsantinomie ist es, die den Ausgang aus dem Naturzustand gebietet und das Eingehen und Begründen eines Staatsverbandes durch die einzelnen Rechtssubjekte als Gebot der rechten Vernunft fordert. Die resolutiv kompositive Methode, das heißt der Aufweis der einzelnen Elemente, aus denen der Staat sich zusammensetzt, steht als theoretisch-wissenschaftlicher Ansatz hinter der Hobbesschen Lehre des Naturzustandes und wird im Titelbild des Leviathan evident 82 . Es zeugt daher auch nur von fehlendem Verständnis der Hobbesschen rechtsphilosophischen Leistung, wenn ihm vorgeworfen wird, daß er sich „offenbar von dem sonderbaren Gedanken leiten [läßt], daß die bloße Existenz sich überschneidender Rechte einen selbständigen Kriegsgrund darstellt. Es wird also eine rein rechtliche Tatsache gleichgesetzt mit dem psychologischen Faktum der bösartigen menschlichen Leidenschaften, 81 Th. Hobbes, An answer to a book published by Dr. Bramhall, (...) called the catching of Leviathan, in: EW IV, S. 279-384, hier S. 284f. 82 Vgl. R. Brandt, Das Titelbild des Leviathan und Goyas El Gigante, in: U. Bermbach, M. Kodalle (Hg.), Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 201-231 und nun jüngst H. Bredekamp, Zur Vorgeschichte von Thomas Hobbes' Bild des Staates, in: H.-J. Rheinberger (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 23-37. Sowie ferner (nach Abschluß meines eigenen Manuskriptes erschienen): H. Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates, Berlin 1999.
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II. Der Naturzustand bei Hobbes
die zu Anfang als ausschließliche Kriegsursache angegeben worden sind" 8 3 . Diese Kritik, das wird an der hier erarbeiteten Skizze der Hobbesschen Argumentationsführung deutlich, muß aufgrund eines defizitären Verständnisses der Hobbesschen begründungstheoretischen Leistung ihr Ziel verfehlen. Die „wilde" Freiheit außerhalb einer rechtlich verfaßten Gesellschaft wurde von Hobbes nicht nur als leer und wirkungslos erwiesen, sondern auch als für die Selbsterhaltung des einzelnen bedrohlich. Freiheit, das ist die Konsequenz des Naturzustandstheorems, kann es mithin nur in der geordneten und Rechtsfrieden stiftenden Verfassung - i m Sinne von Zustand - eines Staates geben. Eine Charakterisierung der Hobbesschen Lehre als individualistisch trifft daher nicht die volle Bedeutung von Hobbes* Lehre. Hobbes hingegen aufgrund seiner Souveränitätslehre als doktrinären Absolutisten oder gar totalitären Staatsdenker begreifen zu wollen, verfehlt ebenfalls den wesentlichen rechtsphilosophischen Gehalt, was aufgrund seiner Lehre vom Naturzustand bereits deutlich geworden ist und weiter unten anhand seiner eigentlichen Staatslehre noch genauer gezeigt wird. In dem Nachweis der Rechtsantinomie liegt die begründungstheoretische Pointe, die den Ausgang aus dem (theoretischen) Naturzustand des Menschen notwendig gebietet. Bevor der dem Liberias-Teil systematisch folgende nächste Argumentationsschritt der Hobbesschen Staatslehre dargestellt wird, soll zunächst auf die zeitgenössische vehemente Kritik eingegangen werden, da sich an dieser ablesen läßt, gegen wieviele geistige Widerstände und Vorbehalte eine positive Hobbesrezeption seitens Thomasius' nur erfolgen konnte.
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S. Gehrmann, Naturrecht und Staat bei Hobbes, Cumberland und Pufendorf, Köln 1970, S. 76.
ΙΠ. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik ihr Verständnis des Hobbesschen Naturzustandstheorems Die zeitgenössische Kritik, die hier nur exkursorisch dargestellt werden soll, bietet die Möglichkeit, Thomasius' Hobbesrezeption vor dem Hintergrund des Kontextes zu beurteilen. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit Thomasius sich Positionen und Überlegungen von Hobbes zu eigen gemacht hat. Die vehemente Kritik seiner Zeit und die hier skizzierten inhaltlichen Einwendungen werfen ein bezeichnendes Licht auf die intellektuelle Beziehung zwischen Hobbes und Thomasius. Noch in der Vollständigen Geschichte des Rechts der Vernunjft betonte Adam Friedrich Glafey, „daß des Hobbesii Lehren ein grosses Aufsehen gemacht, und von den meisten (...) nicht ohne Grund vor überaus gefährlich angesehen worden, weshalber auch fast der ganze Schwärm der Gelehrten sich wieder ihn erhub, und seinen Zorn an ihn auszulassen suchte" 1 . So berechtigt dieses Urteil ist, so sollte man doch zwischen der englischen und der - zeitlich versetzten Kritik in Deutschland differenzieren. Naturgemäß ist die deutsche Auseinandersetzung mit Hobbes für Thomasius bedeutender gewesen, aber sie gewinnt im Vergleich mit der englischen an Konturen, so daß zunächst kurz die entscheidenden Personen und die wesentlichen Momente der englischen Hobbeskritik zu skizzieren sind.
1. Die zeitgenössische Kritik in England Edward Hyde Earl of Clarendon, der zunächst zu den bedeutendsten Gegnern des englischen Königs Karls I. gehörte, aber später einer seiner führenden Ratgeber war, hatte Hobbes' De Cive noch sehr geschätzt. Er wandte sich dann aber gegen die Argumentation des Leviathan , wobei er seine frühere Wertschätzung von Hobbes nach wie vor betonte. „MT Hobbes is one of the most antient acquaintance I have in the World, and of whom I have alwaies had a great esteem, as a Man who besides his eminent parts of Learning and knowledge, hath bin alwaies looked upon as a Man of Probity, and a life free from scandal; and it may be there are few Men now alive, who 1
A. F. Glafey, Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunfft, worinnen in dieser Wissenschaft ans Licht getretenen Schriften nach ihrem Inhalt und wahren Werth beurtheilet, Leipzig 1739, S. 159.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
have bin longer known to him then I have bin in a fair andfriendly conversation and sociablens"2. Der entscheidende Kritikpunkt Hey des war Hobbes' Auffassung über das Verhältnis von Kirche und Staat und seine von Hyde zumindest unterstellte Gottlosigkeit. Aus diesen Überlegungen speiste sich dann auch seine Kritik des Hobbesschen Naturzustandes, deren einschlägige Stelle hier ausführlicher zitiert werden soll: „Nor can any thing be said more contrary to the Honor and Dignity of God Almighty, than that he should leave his master workmanship, Man, in a condition of War of every man against every man, in such a condition of confusion, That every man hath a right to every thing, even to one anothers body; inclin'd to all the malice, force andfraud that may promote his profit or his pleasure, and without any notions of, or instinct towards justice, honour or good nature, which only makes man-kind superior to the Beasts of the Wilderness. Man only, created in the limits of God himself, is the only creature in the World, that out of the malignity of his own nature, and the base fear that is inseparable from it, is oblig'd for his own benefit, and for the defence of his own right, to worry and destroy all of his own kind, until they all become yoaked by a Covenant and Contract that Mr Hobbes hath provided for them, and which was never yet entred into by any one man, and is in nature impossible to be entrede into. After such positive and magisterial Assurtions against the dignity and probity of man-kind, and the honor and providence of God Almighty, the instances and arguments given by him are very unweighty and trivial to conclude the nature of man to be so full of jealousie and malignity, as he would have it believed to be"3. Die Kritik offenbart die Vorbehalte Heydes, die er durch die Annahme eines Schöpfergottes gegen Hobbes' Entwicklung des Naturzustandes haben mußte. Hyde konnte die theoretische Begründungsleistung von Hobbes nicht würdigen, da diese ja ausdrücklich auf die Annahme eines Gottes zur Begründung der Argumentation verzichtet hatte. In dem Moment, in dem dies bereits als Sakrileg gesehen wird, muß das gesamte argumentative Anliegen als Skandal und Affront empfunden werden. Eine angemessene Würdigung der begründungstheoretischen Leistung unterbleibt, so daß von zwei gänzlich unterschiedlichen Argumentationsebenen ausgegangen wird, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Hierin offenbart sich ein strukturelles Problem fast der gesamten Hobbeskritik: 2
E. Hyde (Earl of Clarendon), A brief View and Survey of the Dangerous and pernicious Errors to Church and State in Mr Hobbes's Book entiteled Leviathan, Oxford 1676, S. 3. Wesentliche Teile dieses Werkes sind nun wieder leichter zugänglich in: G. A. J. Rogers (Hg.), Leviathan. Contemporary Responses to the political Theory of Thomas Hobbes, Bristol 1995, S. 180-300. Vgl. zu Clarendon R. W. Harris, Clarendon and the English Revolution, Stanford (California) 1983; sowie M. Dzelzainis, Edward Hyde and Thomas Hobbes's Elements of Law, Natural and Politic, in: Historical Journal 32 (1989), S. 303-318. 3 E. Hyde (Earl of Clarendon), A brief View and Survey (Anm. 2), S. 28 f.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Läßt man sich nicht auf Hobbes Anliegen ein und ist somit nicht bereit, seine Prämissen zumindest insoweit anzunehmen, daß man von diesen aus die Konsistenz seiner Argumentation überprüft, dann wird man dieser nicht gerecht werden können. Diese strukturelle Problemlage, die in der Regel nicht gesehen und daher auch nicht gelöst worden ist, führt zu einer fast stereotypen Kritik an Hobbes. Denn offenbar waren die meisten Zeitgenossen nicht bereit, sich auf Hobbes' Argumentation tatsächlich einzulassen. Sie reagierten aus der durch die Scholastik geprägten Annahme, daß Gott den Menschen geschaffen und diesem eine Ordnung vorgegeben habe, die es lediglich zu erkennen und dann zu befolgen gelte. Die Begründung des Staates aus der juridischen Konfliktlage des Naturzustandes wurde nicht als notwendig angesehen. So wird Hobbes unterstellt, er habe die Natur des Menschen verzerrt und als eifersüchtig und böse, oder wie immer die Vorwürfe lauten mochten, dargestellt. Edward Hyde bietet ein bezeichnendes Beispiel für dieses Mißverständnis. Berechtigte Kritik, die an Hobbes Souveränitätskonzeption im Zusammenhang seines Naturzustandes geübt wurde, findet sich ebenfalls bei Heyde, worauf aber im folgenden Kapitel bei der Behandlung dieser Fragestellung in Hobbes' Theorie eingegangen werden soll. Ein weiteres interessantes Beispiel bildet John Eachards Schrift, der in Dialogform auf den Naturzustand vornehmlich von Hobbes' De Cive eingeht 4 . In der „Epistle to the Reader" bezieht Eachard nicht nur eine sehr ablehnende Position gegenüber Hobbes, sondern er wird hier dessen philosophischen Anliegen auch überhaupt nicht gerecht: „But i f thou [der Leser] (...) be not already acquainted with Mr Hobbs's [sic!] state of nature this is to let thee know, that thereby is to be understood a certain supposed time, in which it was just and lawful for every man to hang, draw, and quarter, whom he pleased, when he pleased, and after what manner he pleased" 5 . Der dann folgende Dialog schleppt sich zäh dahin und ist von bemerkenswert schlechter Rhetorik gekennzeichnet. Wollte man diesen mit den Hobbesschen Dialogen 6 lediglich auf der stilistischen Ebene vergleichen, so könnte man nur ein vernichtendes Urteil über Eachards Wechselrede fällen 7 . 4
J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature Considered in a Dialouge Between Philantus [= Hobbes] and Timothy, London 1672. Eachard war Master of St Catharine's College, Cambridge. 5 J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature (Anm. 4), The Epistel to the Reader [keine Paginierung]. 6 Th. Hobbes, Behemoth or the Long Parliament, hg. ν. F. Tönnies, Chicago 1990; Ders., A Dialogue between a Philosopher & a Student of the Common Laws of England, in: EW VI, S. 1-160 (in diesem Bd. ebenfalls Behemoth S. 161-418). 7 Hobbes selbst hat zur Kunst der Rhetorik publiziert. Vgl. Th. Hobbes, The (Whole) Art of Rhetoric, in: EW VI, S. 419-528. Die besondere Bedeutung der
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Obwohl Eachard Hobbes nicht gerecht wird, ist sein Buch interessant für die hier behandelte Fragestellung, da es gewissermaßen ein extremes Beispiel eines völlig unzureichenden Verständnisses und desto schärferer Kritik bietet. Kein geringerer als Samuel Pufendorf hatte auf diesen Umstand bereits in der Einleitung seines Hauptwerkes De Jure Naturae et Gentium hingewiesen: „Man sieht es immer wieder geschehen, daß er [Hobbes] von denjenigen, die ihn am wenigsten verstanden und gelesen haben, am überheblichsten verdammt wird"8. Eachard vermag gleich Hyde nicht, die besondere begründungstheoretische Leistung von Hobbes zu erkennen und entsprechend zu würdigen. Er verbleibt vielmehr bei der communis opinio der scholastischen Tradition, in die er Hobbes als Plagiaten und Irrläufer ebenfalls einzuordnen versucht: „Philantus: Is nothing true that I have said in my several Books ? I am sure my Works have sold very well, and have been generally read and admir'd. And I know what Mersennus and Gassendus have said concerning my Book de Cive. (...) But surely you cannot deny but there is somewhat true and considerable in my writings. Timothy: Ο doubtless a great deal of them is true; but that which is so, is none of yours; but common acknowledged things new phrased , and trim'd up" 9. Eachard vermag also offenbar das revolutionär Neue an der in De Cive entwickelten Theorie des Naturzustandes nicht zu erkennen 10 . Desto mehr verwundert es jedoch, daß er sich so sehr über Hobbes' Thesen ereifert. Wäre nichts Neues an diesen zu finden, würde kein Grund zur Kritik und Beunruhigung gegeben sein. Eachard sah daher sehr wohl, daß Hobbes Thesen mehr waren, als nur ein weiterer Aufguß der alten Lehren, oder wie er es formuliert „an old story of zoon politikon, and of the great work of Pythagoras , Plato , Aristotle , Epictetus , and Tully [Cicero]" 1 1 . Die kritische Frage lag auch für ihn in der Natur des Menschen, die er wie so viele rein anthropologisch auffaßte, wie dies der einführende Brief an die Leser bereits deutlich machte. Sein Vorwurf und eine eher träge rhetorische Frage offenbaren erneut das fehlende Verständnis der erstmals von Hobbes aufgezeigten Rechtsantinomie des Naturzustandes: Rhetorik für Hobbes hat Quentin Skinner jüngst ausführlich untersucht: Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996. 8 S. Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium Libri Octo, Amsterdam 1698, Praefatio [ohne Paginierung/S. Π]: „(...) illud non raro, contingere videas, ut ab illis maximo cum supercilio condemnetur, abs quibus minime lectus fuit aut intellectus". 9 J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature (Anm. 4), S. l l f . 10 Vgl. neben vielen weiteren Stellen auch ebd., S. 16: „You take old common things , and call them by new affected names, and then put them off for discoveries". 11 J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature (Anm. 4), S. 32.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik „You found that man is not a sociable creature. I wish there were some way to compound this business: for you know, Sir, the world is full of trade, acquaintance, neighbours and relations: and for the most part man has had the crach and fame, for five or six thousand years, of being tolerably tame; (...) I pray, Sir, what doe you mean by those words, when you say that man is not a sociable creature! . Die auf diese rhetorische Frage folgende Antwort im Dialog verfehlt die von Hobbes geleistete begründungstheoretische Erarbeitung der Rechtsunsicherheit des Naturzustandes und argumentiert rein aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Die hier von Eachard konstruierte Position, die er Hobbes unterschiebt, ist dann in der Tat leicht zu widerlegen. Mit Hobbes Anliegen hat sie freilich nur noch sehr wenig zu tun. Der springende Punkt von Hobbes' Naturzustandstheorem war ja der Nachweis, daß der Mensch sich nicht von Natur aus in einer rechtlich verfaßten Gesellschaft befindet, sondern diese erst zu stiften hat. Dies wird später von Eachard auch insoweit thematisiert, als er Philantus alias Hobbes sagen läßt, daß „possesion and invention (...) pieces of meer positive human law, not of any Natural right" 13 seien. Die Notwendigkeit der Positivierung des Naturrechts, dessen Existenz ja auch Hobbes annimmt, bekommt Eachard damit freilich nicht in den Blick. Auffallend bleibt, daß sich Eachard im Verlauf des Dialoges insofern immer weiter den Hobbesschen Positionen annähert, als er Philantus über weite Strekken zunehmend genauer die Hobbessche Argumentation referieren läßt und die Antworten des Timothy immer unzufriedenstellender und unzureichender werden 14 . Strukturell ergibt sich bei Hyde und Eachard ein ähnliches Problem: Beide verkennen die besondere Bedeutung, die die theoretische Annahme des Naturzustandes als eines Zustandes fehlender Rechtsverhältnisse für die daraus folgende Notwendigkeit einer rechtlich verfaßten Gesellschaft durch den von den Menschen in eigener Verantwortung zu vollziehenden Akt der Staatsgründung hatte. Sir Robert Filmer, der vor allem wegen seiner Schrift Patriarcha 15 als unbeugsamer Absolutist bekannt geworden ist, hat sich mit deutlichem scholastisch-biblischen Bezug für die Souveränitätsrechte der englischen 12
J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature (Anm. 4), S. 57 f. J. Eachard, Mr Hobbs's State of Nature (Anm. 4), S. 137. 14 Ein aufschlußreiches Beispiel bildet hierfür der Dialog auf S. 140, der hier aber nicht ausführlich zitiert zu werden braucht, da er meiner Argumentation nichts Wesentliches hinzufügen und lediglich eine unterhaltsame Illustrierung darstellen würde. 15 Die Schrift erschien zuerst 1680 unter dem vollständigen Titel Patriarcha. The Naturall Power of Kinges Defended against the Unnatural Liberty of the Peo Sie ist nun wieder zugänglich in: R. Filmer, Patriarcha and other Political Writings, hg. v. J. P. Sommerville, Cambridge 1991, S. 1-68. 13
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Krone stark gemacht. Er hat sich aber auch explizit mit Hobbes auseinandergesetzt 16 . Filmer erweist sich in seinen Schriften als wenig originell: „In all kingdoms or commonwealths in the world, whether the prince be the supreme father of the people or but the true heir of such a father, or whether he come [sic!] to crown by usurpation, or by election of the nobles or of the people, or by any other way whatsoever, or whether some few or a multitude govern the commonwealth, yet still the authority that is in any one, or in many, or in all of these, is the only right and natural authority of a supreme father. There is, and always shall be continued to the end of the world, a natural right of a supreme father over every multitude, although, by secret will of God, many at first do most unjustly obtain the exercise of it" 17 . Die Begründung für diese Annahme findet Filmer in den zehn Geboten, von denen das zweite bekanntlich „honour thy father" forderte. Filmers Vorbehalte gegenüber Hobbes resultieren vornehmlich aus seiner traditionellen scholastisch-christlichen Bindung, aus der er seine absolutistische Souveränitätslehre entwickelt hatte. Die Hobbessche Argumentation, daß jeder Mensch im Naturzustand ein gleiches Recht besitze, mußte Filmer und seine traditionell-patriarchische Konzeption kontradiktorisch gegenüberstehen. Auch wenn beide für einen absoluten Souverän (für Hobbes vgl. das folgende Kapitel) argumentierten, so waren ihre Begründungen doch völlig unvereinbar, so daß es bei Filmer konsequent auch heißt: „With no small content I read Mr Hobbes' book De Cive , and his Leviathan, about the rights of sovereignty, which no man, that I know, hath so amply and judiciously handled. I consent with him about the rights of exercising government, but I cannot agree to his means of acquiring it. It may seem strange I should praise his building and yet mislike his foundation, but so it is" 18 . Von einer begründungstheoretischen Grundlegung kann bei Filmer selbst keine Rede sein, da er ja mit nicht bewiesenen absoluten Wahrheiten aus der Heiligen Schrift operiert, deren Wahrheitsgehalt eben gerade nicht weiter zu hinterfragen ist. Seine konkrete Kritik des Hobbesschen Naturzustandes rekurriert daher auch auf diese Annahmen respektive den diesen entgegenstehenden Argumenten von Hobbes. „I wonder how the right of nature can be imagined by Mr Hobbes, which, he saith, is a liberty for ,each man to use his own power as he will himself for preservation of his own life 4 (...) especially since himself affirms ,that originally the father of every man was also his sovereign lord with power over him of life and death'"19. 16 R. Filmer, Observations Concerning the Originali of Government, upon Mr Hobs »Leviathan' (...), in: R. Filmer, Patriarcha (Anm. 15), S. 184-234. 17 R. Filmer, Patriarcha (Anm. 15), S. 11. 18 R. Filmer, Observations (Anm. 15), S. 184f.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Auch Filmer erkennt den rechtlichen Ausnahmezustand des Hobbesschen Naturzustandstheorems offenbar nicht, weswegen er dann auch die daraus resultierenden bereits bekannten Schwierigkeiten i m Verständnis des Naturzustandes als eines Krieges aller gegen alle hat 2 0 . Ausdrücklichen Bezug zum Naturzustand bei Hobbes nimmt James Lowde, Lord Archbishop of Canterbury 21 . Lowde wendet sich gegen Hobbes, indem er behauptet, daß der Naturzustand, „neither a State of Equality, nor a State of W a r " 2 2 sei. Hobbes aber „makes the State of Nature a State of Equality, and a State of War: These are the two imaginary Poles, upon which his State of Nature moves. (...) As doe strength of Body, the weakest has strength enough to kill the strongest; and to kill is the greatest thing, and they that can do the greatest thing, are equal. (...) By this way of arguing he might prove, that the meanest Creature in Nature is, or may be equal to Man: For did not a Fly once kill a Pope? (...) But then how this should become a Principle of Policy (...) is hard to understand".23 Es ging Hobbes bei dem Aufweis der Gleichheit der Menschen i m wesentlichen um zwei Aspekte. Erstens hatten die Fähigkeiten der Menschen in der Tat zur Folge, daß sie einander schaden konnten. Zweitens, und das unterschlägt Lowde in seiner Kritik an Hobbes, hatten die Menschen gleiche Rechte. Aus diesen beiden Annahmen wies Hobbes die Unsicherheit des Naturzustandes nach. Die Antinomie dieses Konfliktes kennzeichnete Hobbes bekanntlich als Krieg aller gegen alle, weswegen der Naturzustand von ihm auch (zutreffend) als Kriegszustand bezeichnet wurde. Da Lowde aber, wie so viele andere auch, auf die empirisch-psychologische Seite des Hobbesschen Naturzustandes abhob, entging ihm die rechtstheoretische Begründungsfunktion, die Hobbes entwickelt hatte. Auch Lowdes Kritik verfehlt das eigentliche Anliegen und die besondere Argumentation Hobbes', wenn er schreibt: „How is Government (though in small Families) consistent with that state of absolute independency, (...) where every one hath the right to every thing, and every Man an Enemy each to other? So that this exception of particular Families doth indeed destroy his general Rule"24. Da Lowde eine theoretische Annahme empirisch zu falsifizieren versucht, ist sein Ergebnis für die Argumentation von Hobbes im Grunde belang19
R. Filmer, Observations (Anm. 15), S. 187. Vgl. R. Filmer, Observations (Anm. 15), S. 188. 21 J. Lowde, A Discourse Concerning the Nature of Man, Both in His Natural and Political Capacity, both as he is a rational Creature, and Member of a Civil Society. With an Examination of some of Mr. Hobbs's [sic!] Opinions relating hereunto, London 1694. 22 J. Lowde, A Discourse (Anm. 21), S. 149. 23 J. Lowde, A Discourse (Anm. 21), S. 153f. 24 J. Lowde, A Discourse (Anm. 21), S. 158. 20
4 Schroder
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
los. Es geht an Hobbes' Argumentation völlig vorbei, wenn Lowde behauptet: „The Government and Constitution of Families is not consistent with such a state of nature as Mr Hobbs [sic!] describes"25. Lowde sah durch Hobbes die traditionelle Argumentation, die den Naturzustand stets anthropologisch, als den späteren menschlichen Staatsgründungen vorhergehend, aufgefaßt hatte, zu Recht in Frage gestellt. Jedoch stellte Hobbes diese Interpretation nicht dadurch in Frage, daß er lediglich eine andere Entwicklungsgeschichte und Natur des Menschen annahm. Vielmehr hatte er nachgewiesen, daß mit derartigen Erklärungsmustern keine hinreichende Begründung der staatlichen Souveränität erzielt werden kann, es sei denn, man w i l l einen Schöpfergott als prima causa zugrundelegen. Lowdes traditionelle Sicht verschloß ihm einen angemessenen Zugang zu Hobbes' Argumentationsführung. Daher verwundert es nicht, wenn auch Lowde Hobbes unterstellt, „that his dangerous Errors in Government and Religion, are but necessary deductions from his false Principles first laid in humane Nature" 2 6 . Die anonym erschienene Schrift The Great Law of Nature or Self'Preservation, Examined, Asserted, and Vindicated from Mr. Hobbes his Abuses ist eine der wenigen Kritiken an Hobbes, die sich seiner Position mehr annähert, als es der Titel zunächst vermuten läßt. Obwohl noch im Vorwort behauptet wird, daß „this small Treatise is chiefly the result of a few serious thoughts upon consideration of some M. Hobbes his strange Tenants, which he would seem to ground upon that Great Law of Nature, Selfpreservation; whereby, in the judgement of the world, he takes away all Foundations of Virtue and Goodness" 27 , so lassen sich doch in diesem Werk weitaus mehr Übereinstimmungen mit Hobbes' Argumentation feststellen als dies in allen hier bisher genannten englischen Schriften der Fall gewesen ist. Auch Shafto geht davon aus, „that the Right of Nature is the liberty each man hath to use his own power as he will himself for the preservation of his own Nature" 2 8 . Der entscheidende Unterschied seiner Naturzustandskonzeption, den er gegenüber Hobbes nachdrücklich betont, liegt in dem Verhältnis der Menschen zueinander und ihrer Freiheit und Rechte in diesem Zustand. Shafto faßt die Freiheit des Naturzustandes als durch die Rechte der Mitmenschen bereits begrenzt auf. „Therefore though we agree with Mr. Hobbes, that every man in the state of Nature hath a 25
J. Lowde, A Discourse (Anm. 21), S. 159. J. Lowde, A Discourse (Anm. 21), S. 163. 27 [John Shafto], The Great Law of Nature or Self-Preservation, Examined, Asserted, and Vindicated from Mr. Hobbes his Abuses. In a small Discourse; Part Moral, part Political, and part Religious, London 1673, To the Reader [unpaginiert]. 28 [John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 3. 26
ΠΙ. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
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right to everything; yet we do not agree, that this right extends to the whole thing i f there be Competitors, but to just and equal portion of i t " 2 9 . Hobbes hatte genau die Unmöglichkeit der Lösung dieses potentiellen (Rechts-)Konfliktes im Naturzustand nachgewiesen, die hier von Shafto nun wieder behauptet wird. Shaftos Argumentation kommt der Pufendorfs in entscheidenden Aspekten sehr nahe, so daß es lohnend ist, diese etwas genauer nachzuzeichnen. „Seeing men are equal by Nature, in the state of Nature, one man ought not to expect any greater service, as due to himself from another, then he thinks due from himself to another; for that were to abridge another mans liberty, in making him more a servant then his Fellow, contrary to the equality betwixt them; and therefore, according to reason, he ought to expect that the other will maintain and defend his just rights by force. Therefore seeing it is evident others are not obliged to do more for you, then you are obliged to do for others, do unto others as you would they should do unto you ; Hence it follows, that we ought to think our selves obliged to do all good Offices for others upon every just occasion, because we desire and think the same due to our selves from others; and this is called Charity; and these two Vertues of Justice and Charity, are the grounds, and foundation, and the very ligaments of all Humane Society; and all Covenants, or Pacts, express or implicite, whereby Commonwealths are constituted, or one man obliges himself to another, are binding acts of natural Justice, which one man ought to observe towards another, according to the rule of reason, grounded upon Equality and Self-reservation, it being contrary to the rules of Justice for a man to infringe his faith and promise given to another, whereas he himself would not another should do so to him: And upon these two Laws of Justice and Charity, all other Moral Vertues, which respect our Neighbours; are grounded; and actions are esteemed vertuous or vicious, good or evil, as they are conformable or repugnant to these two Laws"30. Die Gebote der Gerechtigkeit und Nächstenliebe korrespondieren in ihrer begründungstheoretischen Relevanz auffallend mit Pufendorfs Konzept der socialitas (vgl. weiter unten 3.). Es ist daher auch nicht überraschend, daß Shafto ähnliche Probleme hatte, diese Argumentation durchzuhalten, ohne nicht doch wieder stillschweigend auf Hobbes' Begründungen zurückgreifen zu müssen. Hobbes hatte aufgezeigt, daß es vor einem gesellschaftlich verfaßten Zustand für die Menschen keinen wirklichen Rechtsfrieden geben könne, da alle Übereinkünfte und Verträge im Naturzustand einer Unsicherheit unterlagen, weil das aus diesen Verträgen resultierende Recht nicht durchgesetzt werden konnte. Die Etablierung eines Schiedsrichters war daher als einzige Lösung geboten. Aus diesen Überlegungen entwickelte Hobbes dann seine weitere Souveränitätslehre (vgl. das folgende Kapitel). 29 30
4*
[John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 13. [John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 14.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Shafto sieht sich einem ähnlichen Problem gegenüber: Wie kann sichergestellt werden, daß die Menschen sich gemäß der rechten Vernunft nach den Geboten der Gerechtigkeit und Nächstenliebe verhalten? Das folgende längere Zitat offenbart, daß Shafto, will er diese Frage zufriedenstellend lösen, auf Hobbes rekurrieren muß: „So that though every man in the state of Nature should agree for quietness and securities sake, that each should have an equal share or proportion in all things, and equal services done as required of him, yet when these agreements come to be put in execution, they would not agree in their accounts and calculations of the individual and just measure to be assigned to each in particular, whence Contentious, Strife and War arise. To avoid those mischiefs, and that each may enjoy what Justice and Equity belongs to him without strife or danger, Reason advises them, as the only remedy, that they should chuse one or more to administer Justice, and to fit as sole Arbitrator of all Causes, and that they should unanimously agree to submit themselves to his or their judgement and determination in all their concerns, who is by mutual Covenant to see Justice impartially executed. But because such Judge or Judges so constituted cannot execute their charge without a Power able to force obedience in the disobedient and refractory; it is also necessary that all agree to give to such Judge or Judges, such Power as is necessary to bring Offenders to just punishment, and defend the Commonwealth from violence; and this Power is thus transferred to the Supreme Authority chosen, viz. by Promise, Covenant or Oath, express or implicit, to assist him or them with the hazard of life and estate, to the utmost of each mans power, in all things necessary for the executing Justice, and defence of the Commonwealth; of which necessity the Supreme Power to be Judge, and not the Subject: And this Supreme Power is not only to be Judge of what is just betwixt one of his Subjects and another, but also of what is just betwixt himself, and any of them, or all of them together; yet are not all his actions therefore just, nor any of them just, any further then they are conformable and consentaneous to the Law of Nature or Reason, whereby he is obliged to assume to himself no greater liberty of Command over his Subjects Persons and Estates, than is necessary for the accomblishing those ends for which he is constituted their Prince, viz. execution of Justice, and defence of the Commonwealth"31. Dies ist ganz im Geiste Hobbes argumentiert und Shafto war sich dessen nach eigenem Eingeständnis auch bewußt 32 . Er versucht daher, seine eige31
[John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 24f. Vgl. [John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 27: „Thus far we have argued only upon those principles which Mr. Hobbes makes use of, and which are before the constitution of a Commonwealth, both natura , and tempore , viz. equality amongst men and self-preservation. And this I have done and shall do, not because it is my own opinion that there are no other grounds or foundations of good and evil, but this Principle of Self-preservation and Equality; but to shew out of these Principles granted by Mr. Hobbes, that those Eternal Laws of Justice, Charity, Temperance, Reward, Vertue &c. which he by the same Principles seems to destroy, or make the Daughters only of Civil Government, are the Mothers and the Foundation of it, and grounded in the very nature of man, so as to oblige him to 32
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik nen Ausführungen, die unleugbar von Hobbes beeinflußt waren, wieder zu relativieren. Damit verwickelt er sich freilich nur in neue argumentative Schwierigkeiten. Denn es bleibt unbefriedigend, daß der Souverän, sobald er mehr Macht für sich beanspruche als ihm für die Erlangung des Staatszweckes zustehe, „absolute unjust [sei], unless that liberty be granted to him by the general consent of the people: for though the people transfer to their Sovereign so much of their power andright as is necessary to execute Justice, yet this Authorizing him to be Judge, and obliging themselves to adhere to his Decrees, doth not make those Decrees of his to be all just; for then were it impossible, in this sense, for any Judge or Arbitrator to do an act of injustice"33. Shafto wird die Frage, wer darüber letztgültig zu entscheiden hat, ob ein Mißbrauch der ursprünglich übertragenen Souveränität vorliegt, nicht hinreichend beantworten können. Die Frage nach der Kompetenzkompetenz wird sich bei seiner Argumentation nicht entscheiden lassen können, wodurch die gesamte Konstruktion der Schiedsgerichtsbarkeit zur Durchsetzung von den moralischen Geboten der Gerechtigkeit und Nächstenliebe nach wie vor auf tönernen Füßen steht. Shafto enttäuscht in der weiteren Argumentation, denn nun verfällt er in die traditionelle Linie, wenn er nach weiteren begründungstheoretischen Argumenten für seine Position sucht: „Now Reason will dictate us another Principle, from whence (...) it may be deduced and confirmed more strongly (...) that Justice and Injustice, Right and Wrong, Good and Evil, are not consequents only of a Civil Government. (...) this principle is, That there is a God"34. Der Rekurs auf Gott offenbart das argumentative Ende von Shaftos Begründungen. John Bramhall ist vielleicht einer der bekanntesten zeitgenössischen Hobbeskritiker. Sein vornehmlicher Angriff gegen Hobbes ist überwiegend religiös motiviert und daher auch weiter unten in diesem Zusammenhang zu erläutern. Aufgrund seiner religiösen Prämissen war Bramhall kategorisch nicht bereit, sich auf Hobbes' Naturzustandskonzeption einzulassen: „The primigenious and most natural state of mankind, was in Adam before his fall, that is the state of innocence. Or suppose we should give way to him [Hobbes] to expound himself of the state of corrupted nature, that was in Adam and his family after his fall. But there was no such state of meer nature as he imagineth. There was Religion, there were Laws, Government, Society: and if there were ever any such barbarous savage rabble of men, as he supposeth, in the act according to them though there were no Civil Magistrate in the world, or though the Magistrate positively command the contrary". 33 [John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 26f. 34 [John Shafto], The Great Law of Nature (Anm. 27), S. 28f.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
World, it is both untrue and dishonourable to the God of nature, to call it the state of meer nature, which is the state of degenerated nature"35. Die Grundlage der biblischen Autorität verwehrt Bramhall die nötige sachliche Auseinandersetzung mit Hobbes, so daß es auch nicht überrascht, daß Bramhall wieder auf die alten Autoritäten rekurriert, um Hobbes' Argumentationsführung zu kritisieren. „All other Writers of Politicks do derive Common-wealths from the sociability of nature, which is in mankind, most truely. But he [Hobbes] will have the beginning of all humane society to be from mutual fear: as much contrary to reason as to authority"36. Diese Argumentation ist nun i m wesentlichen bereits vertraut, doch interessant sind hier - neben der stereotypen Kritik - vor allem zwei Gesichtspunkte: Zum einen verdient die Nennung der sociability oder Sozialität besondere Beachtung, da hier ein Aspekt formuliert wird, der in der Auseinandersetzung mit Pufendorf eine bedeutende Rolle spielen wird. Zum anderen ist es bezeichnend, daß Bramhall ausdrücklich darauf verweist, daß Hobbes mit seiner Lehre gegen die anerkannten Autoritäten verstoße. Dem ist sicherlich zuzustimmen - ein Argument gegen Hobbes liegt darin aber noch nicht. Vielmehr verdeutlicht es den epochalen Bruch mit der bisherigen Philosophie, der hier von einem der bekanntesten Kritiker Hobbes' selbst konstatiert wird. Inwieweit Hobbes' Annahmen gegen die Vernunft verstießen, konnte disputiert werden. Der Vorwurf, mit der Autorität gebrochen zu haben, ließ keinen Spielraum für Diskussionen mehr zu, da er apodiktisch die Anerkennung dieser Autoritäten zugrunde legte. Ein letztes Beispiel soll hier mit Richard Cumberland erwähnt werden, dessen Rezeption eine weitere Perspektive eröffnet, die hier nur angedeutet werden kann. Denn Cumberlands Auseinandersetzung mit Hobbes hatte nicht nur in England durch Gelehrte wie Samuel Parker, James Tyrrell und John Locke nachhaltige Wirkung, sondern auch in Deutschland durch den eindeutigen Bezug, den Pufendorf auf Cumberland nahm. Sowohl Pufendorfs naturrechtliches Haupterk De Jure Naturae et Gentium 2S1 als auch Cumberlands De Legibus Naturae 38 erschienen im selben Jahr (1672) und 35
J. Bramhall, The Catching of the Leviathan, or the Great Whale. Demonstrating out of Mr Hobbes his own works, that no man who is thouroughly an Hobbist, can be a good Christian, or a Good Commonwelthman ..., London 1658. Ich zitiere hier aus der auszugsweisen Wiedergabe in dem Quellenband bei G. A. J. Rogers (Hg.), Leviathan. Contemporary Responses to the political Theory of Thomas Hobbes, Bristol 1995, S. 115-179, hier S. 155. 36 J. Bramhall, The Catching of the Leviathan (Anm. 35), S. 178. 37 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8) 38 R. Cumberland, De Legibus Naturae: Disquisitio Philosophia; In qua earum Forma, summa Capita, Ordo, Promulgatio, & Obligatio e rerum Natura investigan-
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik die zweite Auflage von Pufendorfs Werk (1684) enthielt nicht weniger als vierzig Bezüge auf Cumberlands naturrechtliche Arbeit. Die Bedeutung, die Cumberland offensichtlich für Pufendorf gerade in seiner eigenen Auseinandersetzung mit Hobbes hatte, soll in dem Abschnitt über Pufendorf erörtert werden. Ganz offensichtlich begegnete Hobbes nachhaltigen Vorurteilen gegenüber seinem Werk bei seinen eigenen Landsleuten. Dies lag offenbar vor allem daran, daß Hobbes' Philosophie auch - wenn nicht sogar vornehmlich - in England im Zusammenhang der englischen Konflikte von Bürgerkrieg, Protektorat und Restauration aufgenommen und interpretiert wurde 3 9 . Skinner beklagte in den sechziger Jahren zu Recht, daß „there has never been any study of Hobbes reception in his own time on the continent" 40 . Auch wenn im folgenden die Erörterung sich vornehmlich auf den deutschen Raum bezieht, so ist doch auch auf die Situation in Frankreich und der Republik der Niederlande einzugehen, da nationale Grenzen ganz offensichtlich für die Aufnahme und Kritik Hobbes' nicht maßgebend waren. Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß die „Gelehrtenrepublik" des 17. Jahrhunderts von erstaunlich internationalem Charakter war. Da Hobbes durch seinen langjährigen Aufenthalt in Paris - zumindest zunächst - bekannter war als in England und er in der französischen Metropole zu fast allen maßgeblichen Gelehrten seiner Zeit in Kontakt stand, kommt gerade den Zirkeln in Frankreich eine wichtige Brückenfunktion zu. Freilich kann hier nicht annähernd erschöpfend auf dieses weite Feld eingegangen werden. Wohl aber kann exemplarisch verdeutlicht werden, wie in den persönlichen Kontakten der nach Hobbes folgenden Generation durch so unterschiedliche Persönlichkeiten wie zum Beispiel Diderot und Barbeyrac das Werk Hobbes' aufgenommen und popularisiert wurde, was auch auf die deutsche Geisteswelt ausstrahlte und diese in ihrer Hobbesrezeption beeinflußte.
tur; quin etiam elementa Philosophiae Hobbianae, cum moralis tum civilis, considerantur & refutantur, London 1672. 39 Vgl. Q. Skinner, Conquest and Consent. Thomas Hobbes and the Engagement Controversy, in: The Interregnum: The Quest for Settlement 1646-1660, hg. ν. G. E. Aylmer, London 1972, S. 79-98.; Ders., Thomas Hobbes and his Disciples in France and England, in: Comparative Studies in Society and History 8 (1966), S. 153-167; Ders., The Ideological Context of Hobbes' Political Thought, in: Historical Journal 9 (1966), S. 286-317; S. I. Mintz, The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to the Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes, Cambridge 1969; J. Bowie, Hobbes and his Critics, London 1951; J. P. Sommerville, Thomas Hobbes: Political Ideas in Historical Context, London 1992; H.-D. Metzger, Thomas Hobbes und die englische Revolution, Bad Cannstatt 1991. 40 Q. Skinner, The Ideological Context (Anm. 39), S. 288.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
2. Aspekte der zeitgenössischen Kritik auf dem Kontinent Skinners Vermutung, daß „the immediate reception of Hobbes political theory on the continent (...) much less hostile than in England" 4 1 war, wird durch die exkursorischen Untersuchungen dieser Arbeit mutatis mutandis bestätigt 42 . Dennoch zeigen sich auch bei den deutschen Reichspublizisten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts starke Vorbehalte gegenüber Hobbes, die denen der englischen Kritiker sehr ähnlich sind und aus ähnlichen Quellen gespeist zu sein scheinen: Es war vor allem die christlich-scholastische Tradition, die von Hobbes auch ganz bewußt angegriffen worden war, die eine positivere Aufnahme der Hobbesschen Gedanken verhinderte. Zunächst sind also einige dieser fast stereotypen Kritikpunkte zu skizzieren, bevor dann die besondere Stellung Pufendorfs untersucht werden soll, der aufgrund seines eigenen Werkes und seiner freundschaftlichen Beziehung zu Thomasius nachhaltigen Einfluß auf diesen ausgeübt hatte. Es wird somit auch zu diskutieren sein, inwieweit Thomasius von Pufendorf abweichende Positionen in der Rezeption von Hobbes bezogen hat. Neben Pufendorf erscheint für die hier untersuchte Thematik für die Situation im Reich vor allem ein Ausblick auf Thomasius' Freund und Schüler Nicolaus Hieronimus Gundling sowie den Vater Christian Thomasius' Jacob lohnend. Um auf den kontinentaleuropäischen Kontext wenigstens noch andeutungsweise einzugehen, wird ferner noch die einschlägige, wenn auch deutlich spätere Auseinandersetzung Diderots mit Hobbes skizziert 43 . Diese exemplarischen
41
Q. Skinner, The Ideological Context (Anm. 39), S. 291. Vgl. hierzu auch Hobbes' eigenes Urteil, der in hohem Lebensalter zu seiner Verteidigung seine Bedeutung auf dem Kontinent hervorhob und behauptete: „As for his [Hobbes'] reputation beyond the seas, it fades not yet"; Th. Hobbes, Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners, and Religion of Thomas Hobbes, in: EW IV, S. 409-440, hier S. 435. 42 Es gibt nach wie vor keine überblicksartige Studie zu diesem Aspekt. Von den wenigen Untersuchungen zu einzelnen deutschen Denkern des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die Hobbes rezipiert haben, ist besonders die Arbeit von F. Palladini, Samuel Pufendorf Discepolo di Hobbes. Per una reinterpretazione del Giusnaturalismo moderno, Bologna 1990 hervorzuheben. 43 Für den Einfluß von Hobbes auf andere deutsche Gelehrte neben Pufendorf und Thomasius, steht eine entsprechende Untersuchung nach wie vor noch aus. Einige einschlägige zeitgenössische Werke seien hier exemplarisch genannt, ohne daß darauf im Rahmen meiner Untersuchung eingegangen werden soll: C. Korthold, De Tribus Impostoribus Magnis, Kiel 1680; U. Huber, De Jure Civitatis libri très, Franeker 1684; J. Staalkopf, Ab Impiis Detorsionibus Thomas Hobbesii & Benedicti de Spinoza, Greifswald 1707; J. A. Oslander, Typus legis naturalis contra Hobbes, Tübingen 1660; G. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena 21795; I. Proeleus, Grundsätze des Rechts der Natur, nebst einer kurzen Historie und Anmerckungen über die Lehren des Herrn Baron von Pufendorff, [o.O.] 1709.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Belege wurden vor allem deswegen herangezogen, um zumindest die wesentlichen Aspekte der Hobbesrezeption zu charakterisieren. Neben den hier diskutierten deutschen Denkern, deren Beziehung zu Thomasius sich bereits aus den biographischen Bezügen ergibt, kann man in der Auseinandersetzung Diderots mit Hobbes' Philosophie sehr deutlich erkennen, wie der französische Denker bereits eine Generation später sehr deutlich über Thomasius hinaus Hobbes' Rechtslehre rezipierte, und auch im Sinne seines eigenen philosophischen Anliegens ganz anders kritisierte und akzentuierte. Eine detaillierte Würdigung der Philosophie und Naturrechtslehre Gundlings steht immer noch aus 44 . Im Kontext dieser Studie soll nur exkursorisch auf Gundlings Auseinandersetzung mit Hobbes' Schriften eingegangen werden, weil Gundling wie kaum ein anderer Gelehrter des ausgehenden 17. Jahrhunderts Hobbes rezipiert und vor allem auch verteidigt hat. Da Gundling ein „unmittelbarer Schüler [von Thomasius] und sogar sein Lieblingsschüler" 45 war, ist er von den zahlreichen Reichspublizisten, die sich mit Hobbes zumindest flüchtig auseinandersetzten, auch aus diesem Grunde für die hier behandelte Fragestellung der wichtigste Autor 4 6 . Er studierte zunächst Theologie in Altdorf, war aber auch kurz in Jena und Leipzig bevor er als Reisebegleiter Nürnbergischer Patrizier an die neu gegründete Universität nach Halle kam. Die Aufnahme des juristischen Studiums unter Thomasius läßt ihn bald einen - wenn nicht vielleicht den bedeutendsten Schüler Thomasius' werden 47 , „der als Einziger mit seinem Lehrer verglichen werden kann, was die Weite des Blicks, die wissenschaftliche Breite insgesamt anlangt" 48 . 44
Die wenigen Studien, in denen sich etwas eingehendere Erörterungen zu Gundling finden, werden in diesem Kapitel genannt. Martin Mulsow (München) machte mich darauf aufmerksam, daß er in seiner demnächst vorliegenden Habilitationschrift (Moderne aus dem Untergrund. Gelehrsamkeit und Radikalität in der deutschen Frühaufklärung) genauer auf Gundling eingeht, so daß die weitere Forschung von dieser Arbeit auszugehen haben wird. 45 M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, S. 61. Vgl. mit ähnlichem Urteil N. Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 208: „Gundling [ist] unmittelbarer Schüler, ja der Schüler des großen und bedeutenden Lehrers [Thomasius]". 46 Eine umfassende Analyse des intellektuellen Verhältnisses zwischen Gundling und Hobbes kann im Rahmen dieser Studie nicht unternommen werden und bleibt einem eigenen Projekt vorbehalten. Ich hoffe aber, erste Hinweise für die Bedeutung Gundlings für die Hobbesrezeption im Reich - vor allem im Blick auf Thomasius* Position - hier bereits geben zu können. 47 Vgl. für die „Schulenbildung" um Thomasius H. Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule (Diss. Jur.), Bonn 1968. 48 N. Hammerstein, Jus und Historie (Anm. 45), S. 215.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Gundling hatte sich wiederholt in seinen Schriften gegen den Vorwurf, Hobbes sei ein Atheist, gewandt 49 . Auf diese Auseinandersetzung braucht hier nicht eingegangen zu werden, bezeichnend ist für den hier diskutierten Zusammenhang vielmehr, daß Gundling sowohl Thomasius als auch Hobbes vor dem Atheismusvorwurf verteidigte. Sicherlich zutreffend ist Gundlings Urteil über die Parteilichkeit von Hobbes' englischen Kritikern 5 0 . Wörtlich heißt es bei ihm: „Diejenige nun, welche die Sache nicht selbsten, sondern nur, was andere sprechen, angesehen, beruffen sich auf die Auctorität und Aussage einiger Engelländer: und diese aber, wenn sie auch die grosseste Bischöffe wären, gelten in meiner Schule nichts. Sie sind partheyisch, und man weiß auch warum sie böse und partheyisch sind. Hobbes war kein Freund von der hohen Geistlichkeit und also auch nicht von der Englischen. Sein regnum tenebrarum stunde derselben so wenig an, als dem Pabst. Wer aber diesem oder jener etwas nimmt, ist ein Ketzer und Atheist. Seldenus [John Seiden] muste in eben dieser Classe stehen, weil er ihren Geistlichen Zehenden angefochten: und Hobbes gienge noch viel weiter, als Seldenus: er schmisse das Kind mit dem Bade weg: er hatte eine besondere Philosophie und Theologie, von welcher Güte oder Ungüte ich ietzund nicht urtheilen will. Hier kömmt es auf ein factum an, ob er ein Atheist gewesen? Ich habe ehemals dafür gehalten, daß aus denjenigen Beschuldigungen, so man fürbringet, diese conclusion nicht folge" 51. In Gundlings Verteidigung wird somit explizit deutlich, daß Hobbes' Argumente aus dem spezifischen englischen Kontext gelöst werden müssen und dann für die eigene Argumentation durchaus fruchtbare Verwendung finden können. Während Thomasius in seiner positiven Hobbesrezeption zurückhaltender und vorsichtiger war, findet sie sich bei Gundling in aller Deutlichkeit. Seine Staatslehre gewinnt zwar nicht die argumentative Stringenz von Hobbes' Theorie, aber es finden sich doch erstaunliche Spuren von Hobbes' Einfluß. Gundling begründet die Existenz von Staaten zunächst aus einer historischen Entwicklung. Er behauptet dann aber, „ i n Übereinstimmung mit Hobbes, von dem er i m Staatsrecht maßgebend beeinflußt ist, [.. .daß] die Furcht als die treibende Kraft bei der Umwandlung in das künstliche Gebilde des sozialen Status, in dem vor allem die Sicherheit gewährleistet werden soll" 5 2 , anzusehen ist. Die Bedeutung der Furcht ist in der Tat ein zentraler Aspekt in der Hobbesschen Begründungsleistung des Staates gewesen. 49
Ν. H. Gundling, Hobbes ab Atheismo liberatus (1706), in: ders., Observationes selectae, Halle 21737, Bd. 1, S. 37-77; Ders., Von Th. Hobbesii Atheisterey, in: Gundlingiana darinnen allerhand zur juristischen Philosophie, Historie, Critic, Literatur und übrigen Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden, Halle 1717, (14. Stück) S. 303-339. 50 Vgl. hierzu auch oben Kap. III a. 51 Ν. H. Gundling, Von Th. Hobbesii Atheisterey (Anm. 49), S. 305 f. 52 H. Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius (Anm. 47), S. 166.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Gundling sah die Furcht vor den Mitmenschen im Naturzustand aber aufgrund der Bösartigkeit der Menschen begründet. Dieses Argument war bei Hobbes zwar angelegt, aber es war wie gezeigt nicht der entscheidende Gehalt seines Naturzustandstheorems. Während Hobbes' Kritiker diesem immer wieder vorgeworfen hatten, daß er den Menschen als zu böse gezeichnet hatte, machte sich Gundling diese Auffassung nun zu eigen und behauptete, daß der Mensch in der Tat böse sei und die Furcht vor den anderen Menschen daher auch begründet sei. „Die meisten sprechen (...) er hätte sich die Menschen zu böse fürgestellet, und daher sey sein bellum omnium adversus omnes entstanden. Jacobus Thomasius53 hat ein gleiches Urtheil von ihm gefallet: Herr Leibniz hat in seinem Theodicée p. II p. 399 solchen Gedancken einiger massen Beyfall gegeben: ich nicht. Denn weil doch gewiß, daß die Menschen, so, wie sie natürlich sind, ihren Affecten nachhängen; diejenigen aber, so ihren Affecten nachhängen, nichts taugen, sondern lauter Unheil und Unruhe würcken; und die bösen Affecten sind böse; also folget nothwendig, daß die Menschen alle, so ferne man sie nach ihrem natürlichen Wesen ansiehet, böse, ja erz-böse seyn"54. Auch Gundling entgeht mit dieser Argumentation der spezifisch juridische Charakter der Hobbesschen Rechtsphilosophie. Bemerkenswert ist an Gundlings Argumentation für die hier entwickelte Interpretation nicht so sehr, daß er Hobbes verteidigt, sondern daß er sich wie die zahlreichen Kritiker von Hobbes auf den empirischen Gehalt seiner Argumentation bezieht. Bereits in seiner Verteidigungsschrift des von Hobbes entwickelten Naturzustandes von 1706 55 finden sich aber auch rechtsphilosophische Argumente, die versuchen, Hobbes in eine größere Traditionslinie zu stellen. Gundling ist in dieser Schrift bemüht nachzuweisen, daß Hobbes mit seinen Argumenten gar nicht so allein gestanden habe. Vor allem der niederländische Mediziner Velthysen, der Hobbes' Philosophie in der Tat als einer der ersten verteidigt hatte 56 , wird von Gundling ins Feld geführt. Weiterhin seien Pufendorf und Grotius in vielem für die Argumente von Hobbes zwar blind gewesen, aber ersterer habe Hobbes doch in vielem verteidigt und habe dessen Argumente übernommen 57 . Sowohl Grotius' als auch Pufendorfs Lehren seien in vielem der Hobbesschen sehr nahe. Insgesamt hielt er 53
Vgl. J. Thomasius, Praefationes sub auspicia disputationum suarum in academia Lipsiensi recitatae, Argumenti varii, Leipzig 1683: Praefatio LH: De Hobbesii primo principio Philosophiae practicae (Disputation vom 17.2. 1666, Respondent Volrado Carolo aus Watzdorf), S. 301-306; und: Praefatio LVII: De Jure Bestiali Hobbesii (Disputation vom 10.7. 1667, Respondent Johannes Justin Muhlpfort aus Jena), S. 335-357. 54 N. H. Gundling, Von Th. Hobbesii Atheisterey (Anm. 49), S. 307. 55 N. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii in corpore iur civ., o.O. 1706. 56 Vgl. L. van Velthysen, Epistolica dissertatis de principiis iusti, et decori, contineus apologiam pro tractatu clarissimi Hobbaei, De cive, Amsterdam 1651.
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
den Kritikern von Hobbes vor, daß sie auf ihrer grundsätzlichen negativen Meinung und ihren Vorurteilen beharren würden und nicht, wie dies sonst üblich sei, die guten und schlechten Seiten eines Autors abwägen würden. Gundling führt diese grundsätzliche Ablehnung vor allem auf die Interessen des Klerus zurück. Im Grunde sind aber nach Gundling die Positionen von Grotius, Pufendorf und Hobbes nicht so verschieden. Auch Hobbes habe behauptet, daß es außerhalb des Staates keinen gesicherten Frieden für die Menschen geben würde 5 8 . Gundling teilt damit Hobbes* vornehmliches Ziel, die Notwendigkeit souveräner staatlicher Herrschaftsgewalt ausgehend von dem Naturzustand zu begründen. Die natürliche Freiheit ist auch ihm ein Übel, das es durch die staatliche Herrschaft zu bessern g i l t 5 9 . Es ist bezeichnend, daß Gundling Grotius und Pufendorf fast durchgehend in diesem Traktat als gleichwertige Gewährsleute ins Feld führt. Er differenziert kaum zwischen den unterschiedlichen Positionen dieser beiden Naturrechtslehrer, sondern zieht sie im Kontext dieser Schrift lediglich als Vertreter einer quasi homogenen Lehrmeinung heran. Diese grenzt er dann gegen die eigentlichen Gegner von Hobbes ab, die seiner Meinung nach die zutreffenden Argumente von Hobbes entweder schlecht angewandt, ignoriert oder schlichtweg nicht verstanden hätten. Die eigentliche Auseinandersetzung sieht Gundling in der strittigen Frage, ob der Mensch ein zur Gesellschaft neigendes Wesen sei. Seine hier vertretene Position wird wie kaum eine andere des frühen 18. Jahrhunderts der von Hobbes vertretenen Auffassung gerecht. Zum Angelpunkt dieser Kontroverse habe Pufendorf vieles zur Verteidigung der Annahme, daß der Mensch ein soziales Wesen sei, gesagt. Gundling zeigt nun aber durchaus zutreffend, daß Hobbes sich nicht gegen die Sozialität und die Bedürftigkeit des Menschen gewandt habe, sondern daß er lediglich und durchaus zutreffend behauptet habe, daß der Mensch nicht von Natur zu einer beständigen und dauernden, kurz einer staatlich verfaßten Gesellschaft neige 60 . Diese wird erst künstlich durch den Vertragsschluß ermöglicht. Gundling ist damit wesentlich weitergehend als Pufendorf und Thomasius bereit, die Argumentation von Hobbes zu verteidigen. Dies erklärt sich aber auch vor allem daraus, daß Gundling sich auf die Leistungen von Pufendorf und Thomasius stützen konnte. Die zahlreichen anderen Autoren, wie zum Beispiel den Friesen Ulric Huber, die er in dieser Schrift noch ins Feld führt, weisen in ihren zustimmenden Positionen gegenüber Hobbes ebenfalls nicht über 57 Vgl. Ν. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii (Anm. 55), Vorwort: „Defendit in multis eum Pufendorffius, eiusque demonstrationes non infelicites est secutus". 58 Vgl. Ν. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii (Anm. 55) § 6, S. 4. 59 Vgl. Ν. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii (Anm. 55) § 35, S. 31. 60 Vgl. Ν. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii (Anm. 55) § 9, S. 6.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Gundling hinaus. Eine ganz andere Frage, die hier aber nicht verfolgt werden kann, wurde von Gundling selbst aufgeworfen, nämlich: „Inwieweit Spinoza von Hobbes* Lehre abweicht?" 61 . Gleich Thomasius war Gundling nicht bereit, sich auf diese Diskussion weiter einzulassen. Daß die vermeintliche Übernahme Hobbesscher Positionen sich auch fast schon zur Groteske steigern konnte, belegt ein anderes Zeugnis. Karl Ferdinand Hommel hatte in seinen Kleinen Plappereyen auch erörtert, ob der Mensch unter die zahmen oder die wilden Tiere zu rechnen sei. Für ihn „ist das Band ganzer Republiken im geringsten nicht aus Liebe zur Geselligkeit gewebet, sondern die Grundfeste der Städte ist Furcht und Zwang" 6 2 . Die Natur des Menschen ist böse und aggressiv und Hommel glaubte für diese Annahme keinen besseren Gewährsmann als Hobbes finden zu können. Und in der Tat erinnert es an die Hobbesschen Argumente, wenn er behauptet: „Wäre des Menschen Natur nicht von einer wilden sondern geselligen Art, wozu wären denn Strafen, Gesetze, Gefängnisse und Kriegs Knechte nöthig? Glaube nicht, daß die Leute, so dir auf der Gaße begegnen, Engel sind. Der größte Theil sind aufrechts gehende Wölfe, denen aber Gewohnheit, Furcht, Gesetze Zaum Gebiße angeleget. Sol ich frey meine Meynung sagen, so ist der Mensch ein durch Gewohnheit und Furcht zahm gemachtes Wild. Wenn ich zu Bette gehe, saget Hobbes, so verrügele ich alle Thüren: wenn ich verreisen will nehme ich Gewehr mit und sehe mich beständig um, wenn Jemand hinter mir hergehet. Wozu dieses alles, wenn man den Menschen für zahm und gesellig hält?"63. Derartige Behauptungen mußten eine der Hobbesschen Rechtsphilosophie tatsächlich rechnungtragende Würdigung zusätzlich erschweren. Die wenigen Verteidiger, die Hobbes gefunden hatte, leisteten ihm keinen guten Dienst, wenn sie in der Manier eines Hommel daherplapperten. Adam Friedrich Glafey deutet Hobbes' Schriften im Kontext der revolutionären Ereignisse in England. Die biographische Beschreibung offenbart die defizitäre Kenntnis der frühen Schriften von Hobbes, denn Glafey unterschlägt offenbar aus Unkenntnis das frühere Erscheinen von Hobbes' Elements of Law 64, wenn er behauptet, Hobbes habe, „als ein erfahrner Mann, aus politischen Ursachen gar wohl zum voraus sehen [können], daß in Engelland alles bund übergehen, und man mit denen, so Königliche Parthey hielten, hart umgehen würde, weswegen er in der Zeit seinen 61
Vgl. Ν. H. Gundling, Status Naturalis Hobbesii (Anm. 55) § 36, S. 32f. K. F. Hommel, Ob der Mensch unter die zahmen oder wilden Thiere zu rechnen, in: ders., Kleine Plappereyen, Leipzig 1773, Siebzigstes Stück, S. 310-315, hier S. 311. 63 K. F. Hommel, Ob der Mensch (Anm. 62), S. 312. 64 Zu den Elements of Law vgl. oben Kapitel Π, sowie ausführlicher Kapitel IV. Glafey nennt S. 181 allerdings die Elements of Law, jedoch erst die Ausgabe von 1650. 62
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Abschied in der Stille nahm, und sich nach Paris, um allda (...) sich mit Mersenno in der Physique zu exerciren, begab. So bald er sich durch die Flucht in Sicherheit gesetzet sähe; nahm er sich vor [,] seinen Lands-Leuten die Thorheit ihres dermaligen Unternehmens zu erkennen zu geben, zu welchem Ende er sein Buch de Cive schrieb, worinnen er die Königl. Hoheit wieder [sie!] die WiedrigGesinneten mit starcken Beweisthümern zu behaupten getrachtet"65. In seinem Artikel Hobbisme sowie in anderen einschlägigen Artikeln zum Natur- und Staatsrecht hat Diderot seine Positionen zu Hobbes' Rechtslehre entwickelt. Über die bisher übliche Rezeption und Kritik wies Diderot mit seinen Ansichten, über dessen Verbreitung er sich aufgrund der Publikation in der Encyclopédie sicher sein konnte, signifikant hinaus. Da es zu dem Bereich des droit naturel aber mehrere, gleichsam konkurrierende Lemmata in der Encyclopédie gibt, ist Diderots Auseinandersetzung mit Hobbes auch gegen diese anders akzentuierten Positionen innerhalb der Encyclopédie abzugrenzen. So wird in dieser Skizze bereits deutlich werden können, daß auch in der Encyclopédie selbst ein erheblicher Unterschied hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Hobbes bestand 66 . Die lexikalische Übersicht über die Naturrechtstradition von d'Argis, einem eher unbedeutenden Juristen, nennt folgende „auteurs modernes" als die Hauptvertreter des modernen Naturrechts: Grotius, John Seiden, Thomas Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Barbeyrac und Burlamaqui 67 , wobei die Abschnitte zu Grotius und Hobbes jeweils ein Drittel des gesamten Artikels ausmachen. Dieser rein äußerliche Aufweis dokumentiert auf vordergründige aber doch anschauliche Art die Bedeutung, die der Hobbesschen Theorie offensichtlich selbst im Kontext der europäischen Naturrechtstradition zukam, gegen die Hobbes mit seinem Werk auch angetreten war. Offensichtlich war der Stein des Anstoßes auch für d'Argis noch die Hobbessche Naturzustandskonzeption: „Thomas Hobbes, un de plus grands génies de son siècle, mais malheureusement trop prévenu par l'indignation qu'excitoient en lui les esprits séditieux qui brouil65
A. F. Glafey, Vollständige Geschichte (Anm. 1), S. 141. Hilfreich waren in diesem Zusammenhang vor allem folgende Studien für mich: J. Proust, La contribution de Diderot à l'Encyclopédie et les théories du droit naturel, in: Annales historiques de la Révolution française 35 (1963), S. 257-286; J. Lough, The Encyclopédie, (London 1971), [ND] Genf 1989; R. Wokler, The Influence of Diderot on the Political Theory of Rousseau: Two Aspects of a Relationship, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, CXXXII (1975), S. 55111; Ders., Rousseau's Pufendorf: Natural Law and the Foundations of Commercial Society, in: History of Political Thought 15 (1994), S. 373-402; E. Weis, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 14, Wiesbaden 1956; sowie Y. Glaziou, Hobbes en France au XVIII e siècle, Paris 1993. 67 Vgl. [d'Argis], Droit de la Nature, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5, Paris 1755, Sp. 131-134. 66
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik loient alors Γ Angleterre, publia à Paris en 1642, un traité du citoyen, où entr'autres opinions dangereuses, il s'efforce d'établir, suivant la morale d'Epicure, que le principe de sociétés est la conservation de soi-même, & l'utilité particulière; il conclut de-là que tous les hommes ont la volonté, les forces, et le pouvoir de se faire du mal les uns aux autres, & que l'état de nature est un état de guerre contre tous"68. Die wahrscheinlich für Hobbes durch Gassendi in Paris vermittelte Kenntnis Epikurs 6 9 kommt in der Interpretation der Naturzustandskonzeption eine zentrale Bedeutung zu. Kritiker von Hobbes, wie zum Beispiel Cumberland, hatten sich fast ausschließlich auf die stoisch-ciceronische Tradition bezogen, die den Naturzustand als einen dem Staat vorausgehenden Friedenszustand aufgefaßt hatte. Genau mit dieser Tradition hatte Hobbes aber gebrochen, und es ist nicht verwunderlich, daß Hobbes selbst an der epikureischen Tradition sehr interessiert war, da diese bekanntlich den Naturzustand als Zustand der Fried- und Gesetzlosigkeit beschrieben hatte. Es verkürzt aber die rechtsphilosophische Bedeutung von Hobbes' Theorie, wenn man ihn, wie d'Argis das hier tat, lediglich als Epikur folgend beschreibt. Denn so sehr von Epikur „auch die Defizienz des Naturzustandes betont werden mochte, so wenig war doch der als historischer Anfangszustand der Zivilisationsgeschichte konzipierte Naturzustandsbegriff geeignet, die rechtstheoretischeen Begründungsaufgaben zu erfüllen, die Hobbes der Naturzustandstheorie für seine ,phüosophia civilis4 stellt. Das , Neue4 dieses Teils der Hobbesschen Rechtsphilosophie liegt nicht in der negativen Kennzeichnung des vorstaatlichen Zustands als solcher, sondern in dem rechtsphilosophischen Aufweis der Gründe dieser Negativität"70. Diderot erklärte, vordergründig ähnlich wie Glafey, Hobbes' politischphilosophische Schriften zunächst durch die Bürgerkriegssituation in England 7 1 . Seine Ausführungen in dem Artikel Hobbisme über die Aufnahme 68
[d'Argis], Droit de la Nature (Anm. 67), Sp. 133 f. Hobbes korrespondierte mit Sorbière über die von Gassendi geplante Monographie zu Epikur. Vgl. Th. Hobbes, Correspondence, Bd. I, hg. v. N. Malcolm, Oxford 1994, S. 161. Daß Hobbes dieses Buch auch tatsächlich besessen hat, erhellt aus einem anderen Brief von F. du Verdus an Hobbes. Vgl. ebd. S. 193. Sauter behauptet, daß Hobbes „in allen seinen philosophischen Schriften ein getreuer Weggefährte von Epikur" sei. J. Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre, [Wien 1932] Frankfurt/Main 1966, S. 208. Vgl. nun auch B. Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes' philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640-1651, Frankfurt/Main 1998. (Da diese wichtige Studie erst nach Abschluß meines eigenen Manuskriptes erschien, sind die Einsichten, die ich aus der Lektüre gewinnen konnte, nicht mehr in meine hier entwickelten Argumente eingeflossen). 70 G. Geismann, K. Herb, Hobbes über die Freiheit, Würzburg 1988, S. 23 f. 71 Vgl. auch D. Diderot, Hobbisme, ou philosophie de Hobbes, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 8, Neufchatel 69
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
von Hobbes' Leviathan läuft aber auch auf eine Rüge an der bis dato vordergründigen und stereotypen zeitgenössischen Kritik hinaus. „Les troubles qui devoient bien-tôt arroser de sang Γ Angleterre, étoient sur le point d'eclater. Ce fut dans ces circonstances qu'il publia son Léviathan : cet ouvrage fit grand bruit, c'est-à-dire qu'il eut peu de lecteurs, quelques défendeurs, & beaucoup d'ennemis"72. Diderot war offensichtlich bemüht, Hobbes nicht zu richten, wie dies allgemein üblich war. Dennoch verfiel er in die später von Rousseau 73 noch vehementer genutzte Rhetorik der Freiheit. Auch Diderot verzeichnet Hobbes' begründungtheoretische Leistung, wenn er schlichtweg behauptet, ,41 [Hobbes] pensa que la nature humaine étoit mauvaise, & de-là toute sa fable ou son histoire de l'état de nature. Les circonstances firent sa philosophie; il prit quelques accidens momentanés pour les regies invariables de la nature, & il devint l'aggresseur de l'humanité & l'apologiste de la tyrannie"74. Vor allem Pufendorf und Thomasius, sowie einige von Hobbes' englischen Kritikern waren durchaus noch bereit gewesen, Hobbes gerade in wesentlichen Aspekten seiner Souveränitätstheorie zu folgen. Diese lehnte Diderot nun aber als Apologie der Tyrannei ab 7 5 . In seiner Erörterung über den Charakter und die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft ging Diderot wie Hobbes zunächst von einem vorstaatlichen Naturzustand aus, in dem es zwar Herrschaftsverhältnisse aber keine wirklich gesicherte Rechtsprechung gebe, weswegen die Menschen durch Vertrag auf einen Teil ihrer Freiheit zu Gunsten einer souveränen Staatsgewalt verzichten müßten 76 . Diderot bemüht den Begriff legitimer Herrschaft, welche für ihn nur durch Ver1765, Sp. 232-41: „(...) notre philosophe [Hobbes] effrayé des maux qui accompagnent toujours les grandes révolutions, jetta les fondements de son système politique; il croyoit de bonne-foi que la voix d'un philosophe pouvoit se faire entendre au milieu des clameurs d'un peuble rèbelle", hier Sp. 232. 72 D. Diderot, Hobbisme (Anm. 71), Sp. 232. 73 Es ist hier nicht der Ort, auch auf Rousseau einzugehen. Vgl. aber P. C. Mayer-Tasch, Hobbes und Rousseau, Aalen 1991, der (auf S. 9) die „dogmatische Verwandtschaft zwischen Rousseau und Hobbes" betont. 74 D. Diderot, Hobbisme (Anm. 71), Sp. 233. 75 Bemerkenswert ist, daß Rousseau stärker noch als Diderot gegen den Despotismus von Hobbes polemisiert, in einem Brief an Mirabeau vom 26. Juli 1767 über die ideale Regierungsform dann aber ausführt: „Si malheureusement cette forme n'est pas trouvable, et j'avoue ingénument que je crois qu'elle ne l'est pas, mon avis est qu'il faut passer à l'autre extrémité, et mettre tout d'un coup l'homme autant au-dessus de la loi qu'il peut l'être; par conséquent établir le despotisme arbitraire et le plus arbitraire qu'il est possible: je voudrais que le despote pût être dieu. En un mot, je ne voit point de milieu supportable entre la plus austère démocratie et le Hobbisme le plus parfait: car le conflit des hommes et des lois qui met dans l'état une guerre intestine continuelle est le pire de tous les états politiques". J. J Rousseau, Correspondance, Paris 1817, S. 415. Zieht man die Rhetorik Rousseaus ab, dann ergibt sich in der Tat eine auffällige Nähe zu Hobbes' Theorie.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik tragsschluß, also durch die Zustimmung der Bürger, begründet werden könne 7 7 . Mit dieser Position lehnte er jede Etablierung von Herrschaftsverhältnissen ohne ein entsprechendes Einverständnis der Bürger ausdrücklich als illegitim und despotisch ab 7 8 . In Diderots Artikeln findet sich eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Hobbes' Vertrags- beziehungsweise Souveränitätslehre. Trotz aller Kritik greift er die von Hobbes erstmals formulierten rechtsphilosophischen Probleme auf und entwickelt in dieser kritischen Diskussion substantiell weiterführende Lösungsvorschläge. Der Begriff des Bürgers, dem seit Rousseaus Contrat social eine bisher nicht gekannte rechtsphilosophische und politische Bedeutung zugekommen war 7 9 , hatte auch bei Hobbes bereits eine zentrale Rolle gespielt 80 . Aber Diderot kritisiert an Hobbes, daß er die staatsrechtliche Bedeutung, die in dem Begriff des Citoyen enthalten sei, nicht erkannt habe, da „Hobbes ne met aucune différence entre le sujet et le citoyen "81. Diderot definierte den Bürger daher selbst als „membre d'une société libre de plusieurs familles, qui partage les droits de cette société" 82 . Ausgehend von den durch Hobbes aufgeworfenen Problemstellungen diskutierte Diderot die Bedingungen legitimer Herrschaft. Er wurde damit zu einem der ersten Kritiker von Hobbes, 76 Vgl. D. Diderot, Autorité Politique, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 1, Paris 1751, S. 898-901, hier S. 898: „Si la nature a établi quelque autorité , c'est la puissance paternelle: mais la puissance paternelle a ses bornes; & dans l'état de nature elle finiroit aussi-tôt que les enfants seroient en état de se conduire. Toute autre autorité vient d'une autre origine que de la nature". Vgl. ferner L. de Jaucourt, Souverains (Droit naturel & politiq.), in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 15, Neufchastel 1765, S. 423^25, hier S. 423: „On sentit qu'il falloit, que chaque homme renonçât à une partie de son indépendance naturelle pour se soumettre à une volonté qui représentât celle de toute la société". Jaucourt stützt sich in seinen Artikeln vornehmlich auf Pufendorf. 77 Vgl. Diderot, Autorité Politique (Anm. 76), S. 898: „La puissance qui s'acquiert par la violence, n'est qu'une usurpation. (...) La puissance qui vient du consentement des peuples, suppose nécessairement des conditions qui en rendent l'usage légitime, utile à la société, avantageux à la république, & qui la fixent & la restraignent entre des limites". 78 An dieser Argumentation macht sich natürlich der Einfluß von Montesquieus und Rousseaus Theorien bemerkbar. 79 Vgl. J.-J. Rousseau, Du contrat social, [1762] Paris 1992, S. 120, 111-14: „L'essence du corps politique est dans l'accord de l'obéissance et de la liberté, et que ces mots de sujet et de souverains sont des corrélations identiques dont l'idée se réunit sous le seul mot de citoyen ". 80 Das wird bereits aus dem Titel von Hobbes' De Cive deutlich, und es ist kaum zufällig, daß Pufendorf eine seiner wichtigsten Abhandlungen De Officio Hominis et Civis juxta Legem naturalem betitelte. 81 D. Diderot, Citoyen, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 3, Paris 1753, S. 488-489, hier S. 489. 82 D. Diderot, Citoyen (Anm. 81), S. 488. 5 Schröder
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
der seine Rechtsphilosophie im Kern als Herausforderung annahm und entscheidend weiterentwickelte. Mit seiner Kritik unterschied sich Diderot nachdrücklich von Thomasius, der die souveränitätstheoretischen Aspekte nicht rechtsphilosophisch weiterentwickelte, sondern in den Dienst einer absolutistischen Staatslehre stellte. Durch Diderots Interpretation wird damit bereits eine alternative Richtung einer fruchtbaren Rezeption von Hobbes' Philosophie aufgezeigt, die durch Rousseau und Kant dann entscheidend weitergeführt werden sollte. Gegenüber dieser Entwicklung bildet die zeitgenössische Rezeption Pufendorfs, von der Thomasius dann selbst ausgehen sollte, eine eigenständige Traditionslinie. M i t Diderot ergibt sich eine neue Perspektive, aber Pufendorfs Rekurs auf Hobbes ist vor allem im Kontext der hier zuvor skizzierten zeitüblichen Kritik an Hobbes zu würdigen.
3. Pufendorfs Naturzustandskonzeption im Verhältnis zu Hobbes9 Naturzustandstheorie Samuel Pufendorf ragt nicht nur wegen seiner besonderen Auseinandersetzung mit Hobbes und einer auffallenden Rezeption von Hobbes' umstrittenem und streitbaren philosophischen Werk aus der zeitüblichen Hobbeskritik heraus: In dem hier behandelten Kontext gewinnt Pufendorf auch vor allem deswegen an Bedeutung, weil er von nachhaltiger Wirkung auf Thomasius war. Dies wird sowohl in dem gut zugänglichen Briefwechsel 83 , von dem leider nur noch die Korrespondenz Pufendorfs an Thomasius erhalten ist, als auch durch die vielfältige Herausgebertätigkeit und Kommentierung Pufendorfscher Werke durch Thomasius 84 eindringlich belegt. Anspruch der hier zu entwickelnden Skizze ist es lediglich, den ungefähren geistesgeschichtlichen Kontext zu umreißen, in dem Thomasius' Auseinandersetzung und Rezeption Hobbesscher Argumente gesehen werden muß, um eine angemessene Bewertung zu ermöglichen. Pufendorf nahm in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle und in gewissem Sinne eine Bindegliedfunktion zwischen Hobbes und Thomasius ein. Auf Pufendorf ist hier aber auch deswegen zumindest etwas ausführlicher einzugehen, weil nur so zu beurteilen ist, inwieweit sich Thomasius unter Umständen mehr an Hobbes angenähert hat, als Pufendorf hierzu offensichtlich bereit war. 83 E. Gigas (Hg.), Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius, München 1897. Vgl. nun auch D. Döring (Hg.), Samuel Pufendorf, Briefwechsel, Berlin 1994, passim. 84 Vgl. insgesamt R. Lieberwirth, Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie, Weimar 1955.
ΙΠ. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
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In einer jüngst erschienenen Monographie zu Pufendorf wurde zu Recht festgestellt, daß „die nach wie vor umstrittene Verortung der Pufendorfischen Anthropologie und Naturzustandskonzeption zwischen klassischem und modernem (hobbesianischen) Naturrechtsdenken" noch der „analytischen Präzision" 85 bedürfe. Ganz ohne Zweifel ist in der Naturzustandskonzeption Pufendorfs ein bedeutender Aspekt für dessen Auseinandersetzung mit Hobbes zu sehen, wenn nicht sogar der entscheidende Gesichtspunkt hier gefunden werden kann. Von Pufendorfs Werk sind in diesem Zusammenhang vor allem drei Schriften von besonderem Interesse: In seiner frühen Schrift (1660) Elementorum Jurisprudentiae universalis 86 finden sich erste deutliche Rekurse auf Hobbes. Daneben sind vor allem Pufendorfs bekanntes Hauptwerk De Jure Naturae et Gentium und eine später veröffentlichte kleinere Schrift, in der Pufendorf ausdrücklich zum Naturzustand Stellung bezog und die unter dem Titel De Statu Hominum Naturali 87 erschien, heranzuziehen. Pufendorf hatte die wesentlichen Aspekte seines naturrechtlichen Hauptwerkes in seinem, bald über ganz Europa verbreiteten Kompendium De Officio Hominis et Civis juxta Legem naturalem liber duo ss zusammengefaßt. In diesem einflußreichen Buch, das nicht nur von Locke und Rousseau gepriesen wurde, sondern auch als Grundlage der Fürstenerziehung zum Beispiel in Rußland und Österreich diente, geht Pufendorf nicht mehr ausdrücklich auf Hobbes ein. Obwohl Pufendorf im Aufbau von De Officio im wesentlichen der sachlichen Gliederung von De Jure Naturae folgt, unterläßt er in seinem Kompendium eine Diskussion mit Hobbes und anderen Theoretikern zugunsten einer stringenteren und komprimierten Darstellung seiner eigenen Ansichten. Die Bedeutung dieses Werkes wird emphatisch von Luig zusammengefaßt: Pufendorfs „Kompendium (...) hat in über 150 Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in allen europäischen Ländern und darüber hinaus in Nordamerika Verbreitung gefunden. Ohne große Übertreibung kann man sagen, daß in dem Jahrhundert zwischen dem Erscheinen dieses Buches und der 85
T. Behme, Samuel Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995, S. 11. Behme wird seinem eigenen Anspruch - zumindest was Pufendorfs Verortung gegenüber Hobbes anbelangt - nicht gerecht. 86 S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae universalis libri Π, Cantabrigae 1672. 87 S. Pufendorf, De Statu Hominum Naturali, in: Dissertationes academicae selectiores (...), Frankfurt/Leipzig 1678, S. 497-538. 88 S. Pufendorf, De Officio Hominis et Civis juxta Legem naturalem libri duo, Londini Scanorum [Lund] 1673. Eine moderne deutsche Übersetzung dieses Werkes liegt nun vor von K. Luig (Hg.), Samuel von Pufendorf. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, FfM 1994. *
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Publikation von Kants ,Metaphysik der Sitten4 alle europäischen Juristen und vielleicht sogar überhaupt alle Gebildeten in Europa dieses Werk gelesen oder zumindest in Vorlesungen über dieses Werk (...) gehört haben"89. Auch in dieser Schrift ist eine inhaltliche Abhängigkeit von Hobbes deutlich erkennbar. Ausdrücklichen Bezug auf Hobbes nimmt Pufendorf wie erwähnt vor allem in seinem naturrechtlichen Hauptwerk 90 . Dieser Bezug ist zwar gut dokumentiert - neben Grotius ist Hobbes der am häufigsten zitierte nichtklassische Autor - aber abgesehen von Palladinis Arbeit 9 1 gibt es nach wie vor keine detaillierte Interpretation dieses Sachverhalts. Einige weiterführende Hinweise finden sich in der Studie von Medick, der in einer längeren Fußnote (!) diesen Aspekt erörtert: „Die entscheidende Abhängigkeit Pufendorfs von Hobbes (...) ist noch weitgehend unerforscht. (...) Ein erster Überblick läßt das Verhältnis Pufendorfs zu Hobbes ambivalent erscheinen. In der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen Hobbes in De Jure Naturae et Gentium zitiert wird, führt ihn Pufendorf als negatives Beispiel an, doch berühren diese Zitate entweder meist Randfragen oder es läßt sich erkennen, daß die negative Wertung als Konzession an den Zeitgeist rein deklaratorischen Charakter trägt, so daß sich trotz der zunächst negativen Charakteristik im Kontext der Darstellung, meist eine volle Übernahme der Hobbesschen Position ergibt"92. Hier soll nur i m Zusammenhang der Naturzustandskonzeption auf die Kongruenzen zwischen Pufendorf und Hobbes eingegangen werden. Für eine detaillierte Darstellung der gesamten Moralphilosophie Pufendorfs sei auf die hier zitierten Arbeiten verwiesen. So kann und soll zum Beispiel die Auseinandersetzung, die Pufendorf gegenüber der lutherischen Orthodoxie führte, deren Positionen „mit seiner Naturrechtslehre schlechthin unvereinbar" 93 waren, im Kontext dieser Arbeit nicht Gegenstand der Betrachtung sein. 89
K. Luig, Nachwort zu Samuel Pufendof. Über die Pflicht des Menschen (Anm. 88), S. 231. 90 Sowohl die Edition von C. H. Oldfather/W. A. Oldfather (Hg.), Samuel Pufendorf De Jure Naturae et Gentium Libri Octo, 2 Bde. (Bd. 1 lat. Original/Bd. 2 engl. Übersetzung) Oxford 1934, S. 1397, als auch H. Denzer, Moralphilospohie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972, S. 351, geben ausführliche Nachweise der von Pufendorf zitierten Autoren in De Jure Naturae et Gentium. Denzers in Deutschland oft gerühmter Index verdankt sich offenbar der Arbeit von Oldfather. 91 F. Palladini, Samuel Pufendorf (Anm. 42). Die bisher kaum erfolgte Rezeption dieser Studie scheint vor allem auf Sprachbarrieren zurückzuführen zu sein. 92 H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 21981, S. 44 - Anm. 17.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Auch Pufendorf begreift den Naturzustand als eine theoretische Annahme, er ist „bei Hobbes und bei Pufendorf der logisch-prinzipielle, nicht der empirische Ausgangspunkt" 94 . Der wesentliche Unterschied liegt aber dennoch genau auf dieser Ebene, von der aus sich alle weiteren Unterschiede erklären lassen. Ganz offensichtlich hatte Pufendorf die Hobbessche Naturzustandskonzeption nicht als einen juridischen Konflikt im Sinne der hier herausgearbeiteten Rechtsantinomie aufgefaßt. Er argumentiert gegen die Hobbessche Annahme des Naturzustandes als eines Krieges aller gegen alle - worin sich die Rechtsantinomie manifestierte - gerade doch empirisch. Hierin liegt die Verschiebung der begründungstheoretischen Ebenen, die es letztlich auch Pufendorf nicht erlaubte, der Hobbesschen Naturzustandskonzeption gerecht zu werden. Dies vorgreifende Urteil gilt es aber im einzelnen zu untermauern. Pufendorf wendet sich in De Statu Hominum mit empirischen Argumenten - implizit gegen Hobbes - gegen die Annahme, daß jeder Mensch im Naturzustand ein Recht auf alles habe, woraus dann bekanntermaßen der strukturelle Rechtskonflikt des vorstaatlichen Zustands für Hobbes resultierte: „Denn, wenn nur ein einzelner Mensch auf der Welt existieren würde, dann könnte man wirklich von ihm behaupten, daß die Natur ihm ein Recht auf alles gegeben habe. (...) Aber da nun die Welt viele Menschen beherbergt, hat sicherlich keiner von ihnen ein Recht auf solche Mittel für seine Selbsterhaltung, die Schaden und Zerstörung von anderen nach sich ziehen und die auf die anderen Menschen keine Rücksicht nehmen. Es ist vielmehr widersinnig anzunehmen, daß in dem Naturzustand ein Recht auf alles enthalten wäre, daß sogar gegen die Menschen selbst ausgeübt werden könnte"95. Entweder ohne sich dessen bewußt zu werden oder aber um die inhaltliche Abhängigkeit von Hobbes zu verschleiern, zieht Pufendorf dann jedoch zunächst dieselben Konsequenzen wie Hobbes: „Es ist nutzlos zu behaupten, daß jemand einem anderen nach eigenem Belieben schaden kann, da dies Recht als nutzlos und leer betrachtet werden muß, wenn der eine mit Recht angreift und der andere mit dem gleichen Recht selbst mit Gewalt widerstehen kann"96. 93
H. Denzer, Moralphilosophie (Anm. 90), S. 101. H. Medick, Naturzustand (Anm. 92), S. 47. 95 S. Pufendorf, De Statu Hominum (Anm. 87) § 10, S. 516f.: „Unde si unicus duntaxat homo in orbe terrarum existeret, de eo revera dici posset: naturam dedisse ipsi jus in omnia. (...) Ast postquam plures homines orbis capit, non utique ulli homini jus erit talia sui conservandi media adhibere, quae cum aliorum injuria ac pernicie sunt conjuncta, nullamque rationem hominum habeant. Adeoque absurde in statu naturali fingitur aliquod jus in omnia, etiam adversus ipsos homines exercendum". 94
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Das ist genau die von Hobbes herausgearbeitete Rechtsantinomie des Naturzustandes. Pufendorf läßt diese für den Naturzustand nun aber nicht gelten. Der Grund hierfür liegt in Pufendorfs Annahme, daß es auch im Naturzustand bereits den Menschen bindende Pflichten gebe. Dies ist der prinzipielle Unterschied von Hobbes' und Pufendorfs Naturzustandskonzeption. Hieraus resultieren für beide Denker unterschiedliche argumentative Schwierigkeiten hinsichtlich der Konzeption und Begründung normsetzender und gegebenenfalls auch erzwingender Souveränität. Für Hobbes kann dafür nur erneut auf das folgende Kapitel verwiesen werden, während für Pufendorf hier nur en passant einige Aspekte hinsichtlich seiner Souveränitätstheorie erörtert werden können. Bereits in seiner frühen Schrift Elementorum Jurisprudentiae universalis hatte Pufendorf in impliziter Auseinandersetzung mit Hobbes behauptet, daß es lohne, den Zustand zu erwägen, in dem die Menschen leben würden, wenn sie von Natur aus ohne jegliche Verpflichtung zur Ausbildung einer Gesellschaft untereinander bestimmt und keine sozialen Wesen wären 97 . Pufendorf fährt in offensichtlich sehr enger Anlehnung an Hobbes fort, daß es ohne jeden Zweifel ersichtlich sei, daß, solange kein Recht unter den Menschen gegolten hätte, jeder ein gleiches Recht auf alles gehabt habe, und somit habe jeder jeden beliebigen anderen ohne jedes Unrecht im Bemühen für seine eigene Selbsterhaltung beeinträchtigen können, soweit seine eigene Kraft es erlaube. Dies hätte einen Krieg aller gegen alle verursacht, was genau dem Leben der wilden Tiere entspreche 98 . Pufendorf hat hier demnach ziemlich genau die Hobbessche Argumentation von De Cive referiert, ohne sich Hobbes' Konsequenzen zu eigen zu machen: Für Pufendorf war es nicht vorstellbar, daß die Menschen aus einem rechtlosen Zustand - wie er von Hobbes im Naturzustand als theoretische Annahme aufgezeigt wurde - in einen rechtlichen Zustand übertreten könnten. Es wird sich zeigen, daß dieses in der Tat eines der zentralen und nach wie vor kontrovers diskutierten Probleme der Hobbesschen Souveränitätskon96
S. Pufendorf, De Statu Hominum (Anm. 87) § 10, S. 517.: „Quia enim in ilio statu cuique jus competit omnibus modis repellenti ab sese, quae ad ipsius perniciem ab aliis eidemintentantur; vanum est dixisse; cuilibet homini licere in alterum agere, quae sibi vi dean tur". 97 S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae (Anm. 86), Buch II, Observatio ΙΠ6, S. 278f.: „Operae pretium est autem considerasse, quanam conditione victuri essent homines, si omni destituerentur obligatione a natura ad colendam inter se societatem; vel si non essent ammalia socialia". 98 S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae (Anm. 86), Buch II, Observatio III6, S. 279: „Ubi sane adparet, cum nullum ipsiius invicem fuerit intercessurum, futurum fuisse ut quilibet in quodlibet aequale caeteris jus habuerit; ac sine ulla injuria potuerit quilibet cuilibet inferre, quod ad conservationem suiipsius facere videretur, quantum vires cujusque id admisissent; ex quo oriturum fuisset bellum omnium adversus omnes, quae ipsissima est bestiarum vita".
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik zeption ausmacht. Pufendorf greift in der Ablehnung von Hobbes' Position und bei dem Bemühen, eine alternative Lösung zu formulieren, auf bereits vertraute Argumentationsmuster zurück: Gott habe den Menschen dazu bestimmt, ein soziales Leben zu kultivieren". Diese Alternative kann - wie bereits die Skizze der englischen Hobbeskritik gezeigt hat - begründungstheoretisch nicht befriedigen. Auch Pufendorf war sich dessen ganz offensichtlich bewußt, und so oszilliert sein gesamtes Werk zwischen dem Rekurs auf einen Schöpfergott und dem Versuch, in deutlicher Anlehnung an Hobbes und wie dieser von einer fiktiven - den Staaten vorausgehenden - Naturzustandskonzeption ausgehend, eine konsistente Souveränitätstheorie ohne einen Rekurs auf Gott theoretisch zu begründen. So sind die Naturgesetze für Pufendorf dem Menschen bemerkenswerterweise „ohne eine übernatürliche Unterstützung" 100 allein durch die recta ratio zugänglich. Ihre verpflichtende Kraft für die Menschen erhalten sie aber nach Pufendorf von der Autorität des Schöpfers 101 . Da er sich selbst - vielleicht sogar mehr als dies durch die weitere Entwicklung seiner Standpunkte gerechtfertigt war von seinen Elementa im Vorwort zu De Jure Nature et Gentium distanzierte 1 0 2 , mögen die Überlegungen dieser Schrift für den hier zu untersuchenden Zusammenhang genügen: Deutlich wird, daß Pufendorf sehr früh seine eigene Theorie in detaillierter Auseinandersetzung mit Hobbes' Argumenten entwickelte. Dies setzt sich in Pufendorfs Hauptwerk fort. Hier manifestiert sich nicht nur im formalen Aufweis von häufigen Zitaten Hobbesscher Provenienz Pufendorfs Auseinandersetzung mit Hobbes: Weit bezeichnender ist die materielle, inhaltliche Auseinandersetzung, so daß man ohne Übertreibung sagen kann, daß Pufendorfs Naturzustandstheorie maßgeblich auf Hobbes' Argumenten basiert. Es ist in der Forschung inzwischen allgemein anerkannt, daß Pufendorfs Souveränitätstheorie im wesentlichen Hobbes 99
S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae (Anm. 86), Buch Π, Observatio ΙΠ-6, S. 279: „(...) Deus directe destinaverit hominem ad colendam vitam socialem". 100 S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae (Anm. 86), Buch Π, Observatio IV-1, S. 281: „Haec (...) ex consideratione naturae & conditionis humanae absq; adminiculo aliquo supernaturali innotescit". 101 S. Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae (Anm. 86), Buch Π, Observatio IV-3, S. 283: „Obtinet autem dictamen illud rationis, seu lex naturae, vim obligandi homines ex autoritate Creatoris". 102 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Praefatio [ohne Paginierung/S. I]: „Et primo quidem cum quondam juvenilibus annis Elementa quaedam hujus disciplinae in lucem dare sustinuissem, non tarn ex temeritate, aut irreverentia adversus eruditissimum seculum, quam ut illi, qui mihi tunc bene cupiebant, qualecunque haberent specimen, ex quo occasionem me commendandi ampere possent; quae apud plerosque bonos excusationem ex aetatis atque conatus simplicitate invenerunt: decorum sane videbatur, maturiore aliquo scrripto priores immaturitatem velut publice deprecan .
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
f o l g t 1 0 3 . Dies wurde hingegen von der Naturzustandstheorie nicht angenommen, wobei hier dann vor allem auf die Bedeutung der socialitas bei Pufendorfs Konzeption verwiesen wurde 1 0 4 , die er angeblich von Grotius übernommen habe. Bereits Albrecht Randelzhofer machte aber darauf aufmerksam, daß diese Annahme irreführend und nicht haltbar ist: „Anders als Grotius, der von der Existenz eines sozialen Triebes (Appetitus societatis) ausgeht, sieht Pufendorf, daß das Problem nicht dadurch lösbar wird, daß der Mensch sich einfach diesem Sozialtrieb überläßt, sondern daß es dazu sittlicher Einsicht und Anstrengung bedarf 4105 . Wirklich neue Impulse lieferte Palladini mit ihrer wichtigen Studie und weiteren Aufsätzen zum Thema 1 0 6 . Für ein Verständnis der besonderen Position, die Pufendorf offensichtlich gegenüber der Hobbesschen Naturzustandskonzeption einnimmt, genügt es hier, die wesentlichen Aspekte von Pufendorfs Argumentation hinsichtlich dieser Fragestellung vornehmlich in Rekurs auf De Jure Nature et Gentium zusammenzufassen. Pufendorf hatte im Vorwort zu seinem naturrechtlichen Hauptwerk ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er die Sozialität des Menschen zur Grundlage des allgemeinen Naturrechts gemacht habe 1 0 7 , womit er selbst die irreführende Interpretation nahelegte, daß er hier Grotius folge. Auf diesen Zusammenhang, der wie erwähnt kontrovers in der Forschung diskutiert wird, ist im weiteren Verfolg der Pufendorfschen Argumentation an der entsprechenden Stelle einzugehen. Es wird sich zeigen, daß in der Argumentationsfigur der socialitas kein prinzipieller Widerspruch zu Hobbes' Argumenten besteht. Zunächst gilt es, die Annahme von Pufendorfs Naturzustandskonzeption zu skizzieren. Pufendorf unterschied insgesamt drei Aspekte, die den Naturzustand des Menschen in unterschiedlicher Modifikation charakterisierten: 103
N. Hammerstein, Samuel Pufendorf, in: M. Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 172-196; H. Denzer, Moralphilosophie (Anm. 90). 104 S. Goyard-Fabre, Pufendorf et le droit naturel, Paris 1994. 105 A. Randelzhofer, Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf, Berlin/New York 1983, S. 16. 106 Ygi u a ρ Palladini, Samuel Pufendorf (Anm. 42); Dies., „Appetitus Societatis44 in Grozio e „Socialitas44 in Pufendorf, in: Filosofia Politica Χ (1996) S. 61-70; Dies., Is the »socialitas4 of Pufendorf really anti-Hobbesian? [unveröffentliches Paper des Internationalen Worshops in Göttingen (Max Planck Institut für Geschichte) vom 26-30 Juni 1989]. Ich möchte Frau Palladini hier erneut für die Überlassung verschiedener Manuskripte und ihre Diskussionsbereitschaft danken. 107 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Praefatio [ohne Paginierung/S. ΠΙ]: „Caeterum id quoque monere visum, me fundamentum universi juris naturalis posuisse socialitatem hominis; quod nullum aliud principium deprehenderem, ad quod admittendum, ipsa mortalium conditione suffragante, adigi possent omnes homines, quamcunque demum circa divina persuasionem haberent44.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik „Allein im Lichte der Vernunft kann der Naturzustand unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden, entweder im Verhältnis zu Gott als Schöpfer oder im Verhältnis der einzelnen Menschen zu sich selbst oder unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zu anderen Menschen"108. Der rechtsphilosophisch interessanteste Gesichtspunkt dieser drei verschiedenen Naturzustandskonzeptionen liegt ohne Frage in dem dritten Aspekt des Verhältnisses der Menschen zueinander. Aber ein Bezug allein auf diesen Teil der Pufendorfschen Naturzustandskonzeption ist hier nicht nur dadurch gerechtfertigt, daß sich in diesem die begründungstheoretisch bedeutendste Argumentation findet, sondern auch dadurch, daß allein dieser Teil mit dem Hobbesschen Naturzustandskonzept korrespondiert und nur mit diesem wirklich verglichen werden kann. Freilich können und sollen diese von Pufendorf unterschiedenen drei Teile nicht völlig isoliert betrachtet werden. Aber da es hier nicht um den Nachweis einer konsistenten Argumentation Pufendorfs geht, scheint es angebracht, den Schwerpunkt der Diskussion so zu akzentuieren. Pufendorf nahm an, daß dem Menschen aufgrund der Tatsache, daß er ein Mensch und kein wildes Tier war, bereits im Naturzustand nicht nur bestimmte Pflichten, sondern auch bestimmte Rechte zukommen 1 0 9 . Pufendorf betont somit zunächst die Pflicht des Menschen im Naturzustand, bevor er dessen Rechte erörtert. Auch Hobbes hatte den Menschen im Naturzustand nicht nur ein Recht auf alles attestiert, sondern es bekanntlich auch als oberstes Gebot der natürlichen Vernunft aufgefaßt, den Frieden zu suchen, sofern er zu haben sei. Der prinzipielle Unterschied zwischen Hobbes' und Pufendorfs Naturzustandskonzeption manifestierte sich aber im Verpflichtungscharakter dieser Gebote im vorstaatlichen Zustand. Vor allem aber hat Hobbes - damit Kant antizipierend 110 - die Freiheit des Menschen als Rechtssubjekt zur Grundlage auch seiner Staatslehre gemacht. 108
K. Luig (Hg.), Samuel von Pufendorf. Über die Pflicht des Menschen (Anm. 88), Buch Π, Kap. 1-2, S. 141. S. Pufendorf, De Officio (Anm. 88) Liber Π, cap. 1-2, S. 149: „[Status] Naturalis triplici modo considerali, solo praelucente rationis lumine, potest, vel in ordine ad Deum Creatorem, vel in ordine singulorum hominum ad seipsos, vel in ordine ad alios Homines." Vgl. auch T. Behme, Samuel Pufendorf (Anm. 85), S. 57-73. 109 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch I, Kap. 1-7, S. 4: „(...) ex eo statu fluit, quod quis homo sit certae obligationes proveniant, nec minus certa eidem jura competant". 110 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ders., Akademie Ausgabe Bd. VHI, [ND] Berlin 1968, S. 273-313, hier S. 280f.: „Der Begriff eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor. (...) Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbe-
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
So resultiert bei Hobbes die Zwangsgewalt des Staates - und damit auch die Pflicht des Bürgers, also des Menschen im staatlich verfaßten Zustand aus der rechtlichen Freiheit des Menschen. Der Verpflichtungscharakter der Pufendorfischen Pflichtenlehre geht gerade nicht von dieser gefährdeten Freiheit des Naturzustandes aus, sondern versucht, diese bereits im Naturzustand durch die Etablierung von grundsätzlichen menschlichen moralischen Pflichten einzuschränken. Da Pufendorf den Menschen zunächst und vor allem als ein von Gott geschaffenes Wesen auffasste, kam dem Menschen eine passive und empfangende Rolle zu. Die moralischen Gebote waren für die Menschen verpflichtend, weil sie Teil der göttlichen Schöpfung und damit Ausdruck des göttlichen Willens waren. Der Verpflichtungscharakter der naturrechtlichen Pflichten der Menschen wurde von Pufendorf somit auf göttliche Autorität zurückgeführt. Hobbes hatte wiederholt gezeigt, daß im Naturzustand den Naturgesetzen keine verpflichtende Bindungskraft zukommt: „Daher sind jene natürlichen Gesetze eigentlich keine Gesetze, sofern sie aus der Natur selbst hervorgehen; sofern sie indes von Gott in der Heiligen Schrift gegeben worden sind (...) heißen sie recht eigentlich Gesetze"111. Der hier entwickelten Interpretation liegt zu Grunde, daß Hobbes die rechtsverbindliche Verpflichtung durch einen Schöpfergott als begründungstheoretische Annahme ausgeschlossen hatte. Sein Verweis auf Gott und der Nachweis, daß seine Argumentation mit der heiligen Schrift übereinstimmte, war lediglich ein Anhang zu seiner sonstigen Argumentationsführung. Es wäre widersprüchlich, annehmen zu wollen, daß der Mensch im Naturzustand gefährdet wäre, wenn doch Gott bereits alles nach seinem Ratschluß eingerichtet hätte. Der rechtlose Zustand des Menschen resultierte bekanntlich aus den widerstreitenden Rechten, die jeder Mensch mit gleichem Recht für sich beanspruchen konnte. In dieser Gedankenführung und das ist Hobbes ja auch immer wieder vorgeworfen worden! - ist kein Raum für Gott als Gesetzgeber. Hobbes trennte diese religöse Sphäre bewußt von seinen staatsphilosophischen Erörterungen. Aus den Überlegungen zum Naturzustand und der von Hobbes deduzierten Rechtsantinomie resultierte die Folgerung, daß es i m Naturzustand kein griff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen. Da nun jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines Anderen Zwang heißt: so folgt, daß die bürgerliche Verfassung ein Verhältnis freier Menschen ist, die (unbeschadet ihrer Freiheit im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen) doch unter Zwangsgesetzen stehen". 111 Th. Hobbes, Vom Bürger, hg. v. G. Gawlick, Hambrug 1994, 1-33, S. 114. De Cive, hg. v. H. Warrender, Oxford 1983, 1-33, S. 121: „(...) non sunt illae proprie loquendo leges, quatenus a natura procedunt. Quatenus tarnen eadem a Deo in scripturis sacris latae sunt (...) legum propriissime appellantur".
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Recht oder Unrecht geben könne. Erst durch die Normsetzung in einem staatlich verfaßten Zustand war Recht und Unrecht für Hobbes denkbar: „Denn vor der Errichtung irgendeiner Herrschaft hat das Gerechte und Ungerechte nicht bestanden" 112 . Pufendorf war - bei aller inhaltlichen Nähe zu Hobbes - offenbar nicht bereit, ihm in dieser Argumentation zu folgen 1 1 3 . Zu differenzieren ist hier zum einen zwischen der prinzipiellen Frage, ob und in welchem Umfang es im Naturzustand - oder treffender vorstaatlichem Zustand - eine bindende Verpflichtung durch die Naturgesetze geben kann. Und zum anderen, ob es im vorstaatlichen Zustand den Unterschied zwischen Recht und Unrecht geben kann. Offensichtlich ergibt sich die Antwort auf die zweite Frage aus der Beantwortung der ersten: So hatte Hobbes bekanntlich argumentiert, daß, da es im Naturzustand durch das gleiche Recht auf alles gleichsam kein Recht gebe, es folglich auch weder Recht noch Unrecht geben könne. Pufendorf geht in seiner Schrift De Obligatione erga Patriam ausdrücklich auf Hobbes ein und zitiert dessen gerade referierte Position aus De Cive, um dann dagegen zu halten, daß dies sehr roh geschlossen sei und daß „es falsch ist, [anzunehmen,] daß vor der Errichtung staatlicher Herrschaft Recht und Unrecht nicht existiert hätten" 1 1 4 . Anhand von Pufendorfs einschlägigen moral-philosophischen Schriften wird nun nachzuweisen sein, ob man auch den Umkehrschluß ziehen kann. Daß nämlich, wenn es die prinzipielle Möglichkeit von Recht und Unrecht auch bereits i m vorstaatlich-natürlichen Zustand geben kann, konsequenterweise auch in diesem Zustand bereits bindende Gesetze zur Geltung kommen. Auch Pufendorf faßte den Naturzustand des Menschen in Anlehnung an Hobbes in dem Sinne auf, daß die Menschen in diesem keinen übergeordneten Herrn über sich hätten und niemandem unterworfen seien 1 1 5 . 112 Th. Hobbes, Vom Bürger (Anm. 111), ΧΠ-1, S. 193. DC ΧΠ-1, S. 186: „Ante imperia iusîum & iniustum non existere". Vgl. auch Th. Hobbes, The Elements of Law Natural and Politic. Human Nature and de Corpore Politico, hg. v. J. C. A. Gaskin, Oxford 1994, Part I, XVII-6, S. 95: „For where every man is his own judge, there properly speaking is no judge at all; as where every man carveth out his ownright,it hath the same effect, as if there were noright at all". 113 F. Palladini, Samuel Pufendorf (Anm. 42), behauptet dagegen allerdings in dem Bemühen Pufendorf als Schüler von Hobbes nachzuweisen, daß er ihm auch hier folge, S. 36: „E soprattutto resta di osservare che la tesi pufendorfiana secondo cui le leggi di natura sono leggi in senso proprio solo in quanto comandi di Dio è identica alla dottrina hobbesiana degli Elements (...) non che di De cive". An dieser Stelle vermag ich die insgesamt sehr wichtige Argumentationsführung von Palladinis Buch nicht zu teilen. 114 S. Pufendorf, De Obligatione erga Patriam, in: Ders., Dissertationes Academicae selectiores (...), Frankfurt/Leipzig 1678, S. 1-94. „Enimvero isthaec valde cruda videntur. Falsum est, ante imperia civilia justum & injustum non extitisse" (§14, S. 25).
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
Er wendet sich aber gegen Hobbes' Auffassung, daß der Naturzustand durch den Krieg aller gegen alle gekennzeichnet sei 1 1 6 . Was Hobbes mit dem berühmten Diktum des Krieges aller gegen alle gemeint hatte, wurde wiederholt dargestellt: Es ist die permanente (Rechts-) Unsicherheit, nicht ein tatsächlich ständig geführter Krieg. Inwiefern unterscheidet sich der von Pufendorf konzipierte Naturzustand nun aber tatsächlich von Hobbes' Naturzustandskonzeption? Pufendorf geht selbst auf diese Frage explizit ein: „Es ist eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, ob der Naturzustand der Menschen im Verhältnis zueinander als Kriegszustand oder als Friedenszustand zu charakterisieren ist. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, ob diejenigen die in einem solchen Zustand auf Grund eines fehlenden gemeinsamen Herrschers oder gegenseitigen Gehorsams leben, als gegenseitige Freunde oder Feinde betrachtet werden müssen. Hier verdient die Meinung von Hobbes sehr behutsam untersucht zu werden, denn dieser nennt den reinen Naturzustand einen Krieg (nicht etwa nur einen einfachen Krieg, sondern einen Krieg aller gegen alle) und behauptet, daß diejenigen, die in einem gleichen staatlich verfaßten Gemeinwesen zusammenkommen, ihre feindselige Gesinnung gegenüber den Mitbürgern beiseite legen, während sie alle übrigen nach wie vor als Feinde betrachten"117. Zunächst fällt auf, daß Pufendof die Charakterisierung des Naturzustandes als Krieges aller gegen alle nicht als juridischen Konflikt, sondern als empirische Annahme eines tatsächlichen physischen Krieges auffaßt 118 . Ferner impliziert die Frage nach Freund oder Feind eine psychologisierende Interpretation, da Pufendorf nach der „Geneigtheit" der Menschen, einander zu schaden, fragt. Die von Hobbes nachgewiesene voluntas laedendi der Menschen war aber wie gezeigt nicht von der Disposition des Menschen zu schaden ausgegangen.
115 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch I, Kap. 1-7, S. 5: „Quo sensu in statu naturali invicem vivere dicuntur, qui neque communem habent dommum & quorum unus alteri non est subjectus, quique inter se neq; beneficio neque injuria sint coginti". 116 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch I, Kap. 1-8, S. 5: „Bellum aliquod commune aut universale omnium in omnes inter homines non datur". 117 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch Π, Kap. Π-5, S. : „Majores momenti disquisitio est, an status naturalis, in ordine ad alios homines, habeat indolem belli, an pacis; seu quod eodem redit, an qui in statu naturali vivunt i. e. qui neq. communem habent dominum, neque unus alteri paret, aut imperat, invicem pro hostibus, an vero pro pacatis & amicis sint habendi? Quo loco potissimum meretur expendi sententia Hobbesii, qui uti statum mere naturalem vocat bellum non simplex, sed omnium in omnes; ita qui in eandem ci vitatem coi vere hostilem statum invicem exuere tradit, reliquos hostium loco manere". 118 Vgl. auch S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. II-7, S. 114: „Ad quae reponimus, inquiri heic a nobis de statu naturali, non qualis abstrahendo concipi possit, sed qualis revera existât".
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Gegenüber Hobbes hält Pufendorf einen auf „gegenseitige, freiwillige Respektierung von natürlichen Rechten und Pflichten gegründeten Friedenszustand (...) auch unter der Bedingung des Fehlens staatlicher Herrschaft nicht nur für vorstellbar, sondern für den Normalzustand zwischenmenschlichen Zusammenlebens und damit für den eigentlichen Naturzustand" 119 . Das bedeutet letztlich, daß sich Pufendorf um den rechtsphilosophischen Ertrag der Hobbesschen Naturzustandskonzeption bringt, da ihm offensichtlich der strukturelle Nachweis der Rechtsantinomie im vorstaatlichen Zustand entgeht. Dies wird schlagartig deutlich, wenn Pufendorf seine Alternative zu Hobbes entwickelt: „Es gibt jedoch eine gegensätzliche Anschauung [gegenüber Hobbes, den Pufendorf im Satz vorher zitiert hatte], die vornehmlich auf den Ursprung der Menschheit gegründet ist, wie sie die unfehlbare Autorität der Heiligen Schrift lehrt, in der der natürliche Zustand des Menschen eher friedfertig als kriegerisch und die Menschen untereinander eher als Freunde denn als Feinde beschrieben werden"120. Auf die strukturellen juridischen Konflikte, um die es Hobbes vor allem in seiner Naturzustandskonzeption ging, geht Pufendorf hier nicht ein. Der Rekurs auf die Heilige Schrift ist aber nur ein Aspekt der Pufendorfischen Naturzustandskonzeption, der die eigentliche begründungstheoretische Bedeutung auch von Pufendorfs Argumentation eher verdunkelt 121 . Aber auch Pufendorfs empirisch-psychologisierende Argumentation verstellt ihm eher den Blick auf Hobbes' epochale rechtsphilosophische Leistung. Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, daß auch Hobbes keine reine, abstrakt theoretische Rechtslehre, die vom Naturzustand ausging, entwickelt hatte, sondern selbst immer wieder auf empirische und psychologische Argumente und Erfahrungen rekurrierte 122 . Man wird aber dennoch sagen müssen, daß Pufendorfs „Widerlegungen" von Hobbes' Positionen nicht zu überzeugen vermögen. Denn auch wenn Pufendorf selbstsicher behauptet, daß er nicht in Verlegenheit sei, Hobbes' Argumente zu widerlegen, so sind
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T. Behme, Samuel Pufendorf (Anm. 85), S. 69. S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. Π-7, S. 113: „Enimvero pro contraria sententiam inprimis faciunt origines generis humani, prout illas fallere nescia sacrarum literarum autoritas nos edocet; quae sane naturalem hominum statum pacificum potius, quam bellicum, hominesque invecem potius amicos quam hostes arguunt". 121 Vgl. dagegen D. Döring, Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992, der die Bedeutung der Theologie für Pufendorf betont. 122 Vgl. G. Geismann, K. Herb, Hobbes (Anm. 70). 120
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III. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik
die dann von ihm gegen Hobbes angeführten Punkte doch denkbar unzureichend: „Diejenigen, die durch räumliche Entfernung voneinander getrennt sind, können einander nicht direkt schaden. Denn wer immer mich verletzt, solange er abwesend ist, tut dies durch irgend jemanden, der anwesend ist, und auch mein Eigentum kann nur durch jemanden, der präsent ist, zerstört werden. Daher können diejenigen, die weit verstreut voneinander leben, einander solange nicht schaden, wie sie nicht enger aneinader grenzen. Es ist daher unverständlich, warum sie nicht auch genauso gut als Freunde anstatt als Feinde betrachtet werden können"123. Pufendorf argumentiert weiter, daß die Gründe, die Hobbes für das „Verlangen der Menschen, einander zu schaden" 124 anführt, nur vereinzelt und besonders nachzuweisen seien und daher nicht ausreichten, einen Krieg aller gegen alle als die übliche Situation des Naturzustandes anzunehmen. Sowohl Pufendorfs Rekurs auf die Autorität der Heiligen Schrift als auch seine empirisch-psychologisierende Interpretation von Hobbes werden dem rechtstheoretischen Gehalt seines Naturzustandstheorems nicht gerecht. Die weiteren Argumente, die Pufendorf an dieser Stelle noch vorbrachte, fügen dieser Erkenntnis nichts hinzu und brauchen daher hier nicht wiederholt zu werden. Das Ergebnis seiner Überlegungen lautete für Pufendorf: „Wir schließen aus all diesen Gründen, daß der natürliche Zustand des Menschen, selbst wenn er sich außerhalb eines gesetzlich verfaßten Staates befindet, nicht der Krieg ist, sondern Frieden"125. Interessant ist an Pufendorfs Argumentationsführung in seiner Moralphilosophie, daß er, nachdem er Hobbes' Position verworfen hat, nun doch wieder auf diesen rekurriert. Damit stellt Pufendorf selbst seine gesamte bisherige Argumentation in Frage: „Dennoch muß zugegeben werden, daß dieser natürliche Friede eher instabil und unzuverlässig ist und daher ein Zustand, der ohne andere Sicherungen nur einen sehr unzureichenden Schutz für das menschliche Wohlergehen gewährt"126. 123
S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. II-8, S. 114: „Non possunt sibi invicem immediate nocere, quos locorum intercapedo disjungit. Nam qui absens mihi nocet, id facit per aliquem preasentem. Neque res meae nisi per praesentem perdi queunt. Ergo cum longe inter se dissiti, quamdiu non propius inter se junguntur, nocere invicem nequeant, non adparet, quare non inter amicos potius quam hostes tales sint consendi". 124 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. II-8, S. 115: „homines sese mutuo velint laedere". 125 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. II-9, S. 116: „Ex quibus omnibus concludimus, naturalem hominum statum, etiam extra civitates consideratorum, non esse bellum, sed pacem". 126 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch Π, Kap. 11-12, S. 119: „Fatendum tarnen est, pacem ist hanc naturalem esse satis debilem, & infidam, quaeque adeo sola salutem hominum citra alia praesidia maligne admodum custodit".
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Es drängt sich natürlich sofort die Frage auf, warum Pufendorf zunächst so viel Aufhebens um den Nachweis seiner angeblich gänzlich anders akzentuierten Argumentationsführung macht, wenn er am Ende dieses Bemühens in fast schon ironischer Nonchalance seine gesamte Argumentation selbst in Frage stellt. Über seine diesbezügliche Motivation soll hier jedoch nicht spekuliert werden. Der Sachverhalt an sich wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf die inhaltliche Nähe von Pufendorfs Argumentation zu Hobbes. Was Pufendorf mit der unvermittelten Wendung zu Hobbes jedoch nicht gelingt, ist ein zureichendes Verständnis für die juridische Konfliktsituation des Hobbesschen Naturzustandes. Pufendorf behauptet hier beinahe stärker als Hobbes selbst, da jener einseitig in diese Richtung argumentiert, die Bösartigkeit und Verworfenheit der menschlichen Natur: „Der Grund hierfür [daß der natürliche Frieden nur ein unsicherer Frieden ist] ist die Verdorbenheit des Menschen, seine ungezügelte Begierde, seine eigene Macht zu vermehren, und seine Habgier, die den Besitz anderer bedroht"127. Pufendorf bemüht hier - wie Hobbes dies auch tat - psychologische Argumente. Unabhängig von diesen hatte Hobbes aber auch eine eindeutig formulierte Rechtslehre aus dem Naturzustandstheorem abgeleitet 128 . Welche begründungstheoretische Funktion kommt nun aber dem Naturzustand in Pufendorfs Argumentation zu? Da auch Pufendorf zugeben mußte, daß die natürliche Verpflichtung des Menschen nicht ausreiche, um ihn tatsächlich dazu anzuhalten diese Pflichten auch zu befolgen, sah er sich genötigt zu erklären, warum eine naturrechtliche Verpflichtung im Naturzustand letztlich nicht ausreichte, einen durch die Pflichten der Menschen geordneten Zustand zu gewährleisten. Offenbar kommt Pufendorf zu ähnlichen Ergebnissen wie Hobbes, auch wenn er nicht wie dieser die juridische Konfliktlage des Naturzustandes explizit herausgearbeitet hat. Dies verwundert auch nicht, denn für beide Denker war der Naturzustand ein für den Menschen nicht ausreichend gesicherter Zustand, so daß es nahe lag, diesen zu verlassen (status naturalem exeundum). Der entscheidende Unterschied zu Hobbes liegt allerdings in der Tatsache, daß für diesen der Naturzustand strukturell ein gefährdeter 127
S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch Π, Kap. Π-12, S. 119: „Cujus re causa est malitia hominum, & effrenis augendae propriae potentiae libido, alienisque imminens cupiditas". 128 Die Fortführung dieser Rechtslehre durch Rousseau und Kant belegt - gewissermaßen von der anderen Seite - die Bedeutung der Hobbesschen Rechtsphilosophie. Vgl. hierzu auch: G. Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), S. 161-189; M. Diesselhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant. Zugleich ein Beitrag zu den Ursprüngen des modernen Systemdenkens, Göttingen 1988.
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Zustand war. Der von Pufendorf beschriebene natürliche Frieden ist der Sache nach insofern mit dem von Hobbes für den Naturzustand als charakteristisch nachgewiesenen Kriegszustand identisch, als auch Pufendorf die Instabilität und Unsicherheit als charakteristisch hervorhebt: Denn, so führt Pufendorf aus, so wie es für einen ehrenhaften Menschen kennzeichnend sei, mit seinen ihm eigenen Dingen zufrieden zu sein und nicht andere zu provozieren oder nach ihrem Besitz zu streben, so sei es ebenso charakteristisch für einen vorsichtigen Menschen, für den sein eigenes Wohlergehen bedeutend sei, daß er alle anderen Menschen als Freunde betrachte. „Jedoch in solcher Art, daß sie unvermittelt zu Feinden werden können und daß man mit allen nur einen Friedenszustand unterhält, der unvermittelt in einen Krieg umschlagen k a n n " 1 2 9 . Das ist der von Hobbes als Krieg beschriebene Zustand, nur daß Pufendorf hier grundsätzlich von einem Friedenszustand ausgeht, der jederzeit in einen Krieg umschlagen kann, während Hobbes ausdrücklich sagt, daß, wenn es keinen gesicherten Frieden geben könne, dieser Zustand bereits ein Kriegszustand sei: „Hereby it is manifest, that during the time men live without common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as if of every man, against every man. For WARRE, consistetti not in Battell onely, or the act of fighting; but in a tract of time, wherin the Will to contend by Battell is sufficiently known: and therefore the notion of Time, is to be considered in the nature of Warre; as it is in the Weather. For as the nature of Foule weather, lyeth not in showre or tow of rain; but in an inclination thereto of many days together: So the nature of War, consisteth not in actualfighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary. All other time is PEACE" 130 . Inhaltlich läßt sich in Pufendorfs Annahme eines permanent gefährdeten friedlichen Naturzustandes kein Unterschied zu Hobbes' Auffassung feststellen. In beiden Konzeptionen befindet sich der Mensch von Natur aus in einem unsicheren - und das heißt vor allem einem rechtlich nicht geordneten und gesichertem - Zustand. Ein Unterschied bleibt allerdings durch die divergierenden Prämissen von Hobbes und Pufendorf erhalten. Für Hobbes war der Naturzustand strukturell ein unsicherer Zustand, während es in der Logik von Pufendorfs Argument lag, ihn nur potentiell als unsicher aufzufassen. Präkär und unsicher ist der Naturzustand aber letztlich in beiden Naturzustandskonzeptionen für den Menschen. 129
Ich zitiere hier auch das lateinische Original meiner Paraphrase: S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. 11-12, S. 119: „Ergo uti probi est hominis rebus suis contentum alios non lacessere, nec aliena adpetere: ita cauti est viri, suaeque salutis amantis, ita omnes homines amicos credere, ut tarnen iidem mox hostes fieri queant; ita pacem istam cum omnibus habere, quasi quae mox in bellum erumpere possit". 130 Th. Hobbes, Leviathan hg. v. R. Tuck, Cambridge 1992, chap. 13, S. 88f.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik So ist es nicht überraschend, daß auch die Konsequenzen, die Pufendorf und Hobbes ziehen, identisch sind, indem beide die Etablierung eines Souveräns als Schiedsrichter und Sicherungsinstanz als adäquate Lösung anbieten. Hinsichtlich dieser inhaltlichen Übereinstimmung zwischen den beiden Denkern besteht weitgehend Einigkeit in der Forschung. Man wird aber, stärker als dies bisher geschehen ist, offenbar auch sagen müssen, daß Pufendorfs Naturzustand der Sache nach - trotz aller gegenteiligen rhetorischen Beteuerungen von ihm selbst - der Hobbesschen Naturzustandskonzeption insofern entspricht, als beide letztlich von einem unsicheren und unfriedlichen Naturzustand ausgehen. Was aber hinsichtlich des Naturzustandes bei Pufendorf noch zu klären bleibt, ist die konzeptionelle Bedeutung der socialitas, da diese doch offensichtlich der Hobbesschen Annahme widerstreitet. Pufendorf hatte nicht behauptet, daß der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen sei, sondern daß ein der socialitas folgendes Verhalten eine durch die reine Vernunft gebotene Forderung sei, um ein erträgliches und gesichertes Leben der Menschen zu gewährleisten. Pufendorf hatte, gleich Hobbes, den Menschen als „bereit und in der Lage, Schaden [gegenüber seinen Mitmenschen] zuzufügen" 1 3 1 beschrieben. „Für ein so geartetes Wesen ist es daher notwendig, damit es sicher sein und seine Güter genießen kann, die ihm in seiner weltlichen Kondition widerfahren, daß es sozial i s t " 1 3 2 . Die Sozialität des Menschen wird hier also nicht als eine natürliche Veranlagung beschrieben, sondern als ein sittliches und durch die Vernunft gefordertes Gebot aufgefaßt. Dies Gebot korrespondiert auch für Pufendorf mit dem Eigeninteresse des Menschen: Denn, „das heißt, daß er selbst wollen muß, sich mit denen, die ihm ähnlich sind, zu vereinigen und sich diesen gegenüber so zu verhalten, daß er ihnen keinen Anlaß bietet, ihm zu schaden, sondern daß stattdessen diese vielmehr Grund haben, seinen Vorteil zu unterstützen oder zu fördern" 1 3 3 . Das Eigeninteresse gebietet offenbar auch für Pufendorf, sittlichen Geboten zu folgen, dessen vornehmstes er in der Forderung der socialitas enthalten sah. Aber dieses moralische Gebot hatte für Pufendorf weit stärkeren Verpflichtungscharakter als für Hobbes, für den die sittlichen Gebote des 131 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch III, Kap. 111-15, S. 140: „(...) ad noxam inferendam promtum ad validum". 132 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch HI, Kap. ΠΙ-15, S. 140: „Ejusmodi animali ut salvum sit, bonosque fruatur, quae in ipsius conditionem heic cadunt, necessarium est, ut sit sociale". 133 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch ΠΙ, Kap. ΙΠ-15, S. 140: „id est, ut conjungi cum sui similibus velit, & adversos illos ita se gerat, ut ne isti ansam accipiant eum laedendi, sed potius rationem habeant ejusdem commoda servandi, aut promovendi". 6 Schröder
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Naturzustandes (lediglich) aus der sittlichen Freiheit und Vernunft des Menschen Geltung beanspruchten, denen aber kein bindender Rechtscharakter zukam. Pufendorf behauptete dagegen: „das grundlegende Gesetz der Natur ist dies: »Jeder Mensch muß, soweit er es vermag, gegenüber anderen eine friedliche Sozialität, die mit dem angeborenen Charakter und der Bestimmung der Menschheit im allgemeinen übereinstimmt, erhalten und bewahren4. Unter Sozialität verstehen wir hier (...) eher eine so geartete Disposition, durch die der Mensch sich anderen Menschen durch Bande des Wohlwollens, des Friedens, der Hilfsbereitschaft und somit durch gegenseitige Verpflichtung anschließt"134. Interessanterweise rekurriert Pufendorf hier, sobald er auf den für seine Theorie besonderen Verpflichtungscharakter der socialitas zu sprechen kommt, zur Begründung dieser Verpflichtung doch auf eine angeborene Disposition - und das heißt doch wohl Veranlagung - des Menschen, sich im Sinne der socialitas zu verhalten. Offensichtlich speiste sich die Argumentation des Pufendorfschen Naturrechts aus zwei voneinder verschiedenen Quellen: Seine Moralphilosophie fußt nachweislich einerseits auf der klassischen Naturrechtstradition, deren bedeutendsten Exponenten in antiken Autoren der Stoa und vor allem in Cicero gesehen werden müssen. Andererseits rekurriert Pufendorf aber auch ausdrücklich auf Hobbes' Argumentation, mit der dieser bewußt gegen die klassisch-scholastische Tradition angetreten war. Daher lag in dem ,„hobbismo' di Pufendorf (...) anche la ,modernità 4 e la »novità* del suo diritto naturale" 1 3 5 . Diese Ambivalenzen, die sich aus Pufendorfs Argumentationsführung ergeben, lassen die Gegensätze deutlicher hervortreten, die sich durch den Rekurs auf unterschiedliche Traditionslinien geradezu zwangsläufig ergaben. A n diesen Friktionen gewinnen nicht die Argumente von Pufendorf an Klarheit, sondern der Ursprung dieser Widersprüche wird vor allem deutlicher. Inwieweit Pufendorfs Konzept der socialitas entweder mit der klassischen Naturrechtstradition korrespondierte oder eher mit Hobbes' Theorie kongruent war, ist nicht ohne weiteres zu entscheiden. Voreilig ist sicherlich die allgemein übliche Interpretation, die bereits auf Grund der Begrifflichkeit der socialitas diese gegen Hobbes auszuspielen versucht. Es spricht viel dafür, daß Pufendorfs Konzept der socialitas sich auf zwei unterschied-
134 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch III, Kap. III-15, S. 140: „(...) fundametalis lex naturae isthaec erit: cuilibet homini, quantum in se, colendam & conservandam esse pacificam adversos alios socialitatem, indoli & scopo generis huma universum congruentem. Neque enim per socialitatem heic intelligimus (...) ejusmodi dispositionem hominis erga quemvis hominem, per quam ipsi benevolentia, pace & caritate, mutuaque adeo obligatione conjunctus intellegitur". 135 F. Palladini, ,Appetitus Societatis" (Anm. 106), S. 61.
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liehen Argumentationsebenen entwickelt, wodurch dieses sich dann sowohl auf die klassische Tradition als auch auf Hobbes zu beziehen scheint. Palladini hat in ihrem Versuch, Pufendorf als Schüler von Hobbes nachzuweisen, ähnliches für Grotius angenommen 136 , um erklären zu können, warum Pufendorf sich sowohl auf Grotius als auch auf Hobbes beruft. Meines Erachtens wird damit aber die interessante These über Pufendorf als discepolo di Hobbes überstrapaziert. Diese fruchtbare Interpretation nun aber auf Pufendorf selbst - und damit auch zu einem gewissen Grad gegen Palladinis Lesart von Pufendorf - anzuwenden, scheint durch die Zweigleisigkeit, wenn nicht sogar Widersprüchlichkeit von Pufendorfs Argumentation hinsichtlich der socialitas gerechtfertigt. Das Gebot, sich sozial zu verhalten, konnte als dem Hobbesschen Gebot, den Frieden zu suchen, wo er zu haben sei, verwandt interpretiert werden. Der Unterschied zu Hobbes' naturrechtlichem Gebot liegt aber eindeutig darin, daß Pufendorf behauptet: „es muß als unumstößlich angenommen werden, daß der Verpflichtungscharakter der natürlichen Gesetze von Gott selbst herrührt, dem Schöpfer und obersten Herrscher der menschlichen Gattung, der kraft seiner souveränen Vollmacht über die Menschen, die seine Schöpfung sind, diese zur Befolgung der natürlichen Gesetze verpflichtet hat" 137 . Pufendorf nimmt somit schon für den natürlichen, vorstaatlichen Zustand der Menschen an, daß es nicht nur bereits die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in diesem gibt, sondern daß die natürlichen Gesetze schon vor der Etablierung einer staatlich verfaßten Herrschaft den Menschen verpflichten. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zur Hobbesschen Naturzustandskonzeption. Aber dieser fundamentale Unterschied gegenüber Hobbes bewahrte Pufendorf nicht davor, dennoch als Hobbist angegriffen zu werden. Seine Kollegen Joshua Schwartz und Nikolaus Beckmann an der Universität von Lund, wohin Pufendorf 1670 einem Ruf des schwedischen Königs Karl XI. gefolgt war, machten ihm genau diesen Vorwurf, woran sich eine langanhaltende und aggressiv-polemische Auseinandersetzung entzündete 138 . Obwohl alle intellektuellen Gegner Pufendorfs „had a variety of elaborate argu136
F. Palladini, ,Appetitus Societatis" (Anm. 106), S. 65: „Si tratta invece, a ben guardare, di due concezioni diverse della nozione di natura sociale dell'uomo, che Grozio usa entrambe senza distinguerle e, anzi, sfruttando l'ambiguità per passare impercettibilmente dall'una all'altra". 137 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch II, Kap. III-20, S. 147: „omnino statuendum est, obligationem legis naturalis esse ab ipso Deo Creatore, ac summo generis humani moderatore, qui homines creaturas suas ad istam observandam pro imperio adstrinxit". 138 y gì ρ Palladini, Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663-1700, Bologna 1978, S. 163 ff. *
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ments to make against Pufendorf, their central claim was that he was in effect a Hobbesian, and that he had therefore departed from the metaphysical and theological orthodoxy of the Protestant church" 1 3 9 . Pufendorf sah sich somit genötigt, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen 140 . Es lag geradezu nahe, daß Pufendorf auf Richard Cumberlands De Legibus Naturae zurückgriff. Cumberland hatte, wie dies weiter oben bereits ausgeführt wurde, zwar Positionen von Hobbes übernommen, aber er hatte sich hinsichtlich des Verpflichtungscharakters der natürlichen Gesetze nachdrücklich von Hobbes' Auffassung distanziert. Zwischen den beiden naturrechtlichen Schriften von Pufendorf und Cumberland besteht eine auffallende inhaltliche Übereinstimmung. Beide versuchten, Hobbes' Theorie zu nutzen, ohne sich auf dessen Prämisse des Naturzustandes einzulassen, das heißt ohne seiner Annahme zu folgen, daß es im Naturzustand noch keine Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen gebe und somit i m Naturzustand kein Unterschied zwischen Gut und Böse herrsche. „Given the congruity between their projects it is no surprise to see Pufendorf turning to Cumberland's more explicitly anti-Hobbesian work to provide support for his case" 1 4 1 . Pufendorf hatte auf Cumberland nicht nur in der zweiten Auflage seines naturrechtlichen Hauptwerkes immer wieder rekurriert, sondern auch an anderen Stellen wiederholt die Bedeutung Cumberlands 142 gerade in der Auseinandersetzung mit Hobbes' Position betont 1 4 3 .
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R. Tuck, The »modern4 Theory of natural Law, in: A. Pagden (Hg.), The Language of political Theory in early-modern Europe, Cambridge 1990, S. 99-119, hier S. 102. 140 Vgl s Pufendorf, Samuelis Pufendorfii Epistola ad Amicos suos per Germaniam, in: Eris Scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium objecta diluuntur, Frankfurt/Main 1686, S. 111-138, hier S. 122: ,,Id porro commentum non minus scelestum, quamabsurdum est, quod odium, quo Hobbesii nomen apud multos laborat, in me transfundere studet Beckmanuus, & caeteri, qui me allatrant". 141
J. Parkin, Trespassing on the Territories of Malmesburry: Richard Cumberland's De Legibus Naturae, Cambridge o. J. [1993, masch. PhD Diss., das einzige öffentlich zugängliche Exemplar dieser Dissertation befindet sich in der Universitätsbibliothek in Cambridge], S. 210. 142 Zu Cumberland vgl. auch L. Kirk, Richard Cumberland and Natural Law. Secularisation of Thought in Seventeenth-Century England, Cambridge 1987. 143 Relativierend zum Verhältnis von Pufendorf-Hobbes-Cumberland allerdings F. Palladini, Samuel Pufendorf (Anm. 42), S. 189: ,A dire ü vero, qualche argomento antihobbesiano il nostro autore [Pufendorf] lo aggiunse alla seconda edizione anche di propria inizitiva; ma, per lo più, ο non si tratta propriamente di nuovi argumenti, bensì dell'indicazione di dottrine errate di Hobbes che conseguono da tesi che vengono criticate in altra sede, oppure gli argumenti che vengono aggiunti confondono, invece di arricchire, la linea ben altrimenti netta della prima edizione".
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Eine der frühesten Bezüge auf Cumberlands De Legibus Naturae findet sich in Pufendorfs polemischer Epistola ad Scherzerium, in welchem er sein Konzept der socialitas als die bestimmende Grundlegung des Naturrechts gegenüber Hobbes verteidigt: „Unter Fundament [des Naturrechts] verstehe ich das grundlegende Prinzip der Naturrechtslehre (...), unter welches andere Lehrsätze leicht subsumiert werden können. (...) So wie diese Meinung charakteristisch ist für Aristoteles, Piaton und besonders die frühen Stoiker, so widerstreitet sie vollständig der Annahme von Hobbes* Grundsatz der Selbsterhaltung, gegen den sich mit mir auch Cumberland wendet"144. In dem Versuch, sich gegen den Vorwurf des Hobbismus zu verteidigen, behauptete Pufendorf eine eher an den Stoikern ausgerichtete Moralphilosophie, die er mit der epikureischen Philosophie von Hobbes kontrastierte. Bei diesem Bemühen wurde Cumberland für Pufendorf zu einem willkommenen Verbündeten. „Nach meiner Meinung hat unter den Engländern Richard Cumberland seine [Hobbes'] Thesen am gründlichsten in seinem gelehrten und bedeutenden Buch de Legibus Naturae widerlegt. Hierin hat er Gegenthesen erhoben, die den Ansichten der Stoiker sehr nahe kommen - beides hatte auch ich beabsichtigt. Und ich muß gestehen, daß ich sehr angenehm berührt war, dies Werk im Ausland im selben Jahr [wie Pufendorfs eigenes Werk De Jure Naturae et Gentium] publiziert zu sehen, wenn auch eher in einer anderen Aufmachung. Aber nichts desto weniger stimmt es doch mit meiner Philosophie überein und es widerlegt viele der von mir bereits kritisierten Hobbesschen Lehren" 145.
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S. Pufendorf, Epistola ad Scherzerium [Helmstedt 1674], in: Eris Scandica (Anm. 140), S. 77-87, hier S. 84: „Per fundamentum [legis naturalis] ego intelligo primariam propositionem in disciplina iuris naturalis (...), sub qua caeterae propositiones facile possint subsumi (...). Sicut & ea sententia Piatoni, Aristoteli, ac cum primis Stoicis est familiarissima; ac fundamento Hobesii [sie!] de conservatane sui ipsius praeeipue opponitur, quod & ipse Cumberlandus mecum oppugnat". 145 S. Pufendorf, Specimen Controversiarum circa Jus Naturali ipsi nuper motarum, in: Eris Scandica (Anm. 140), S. 193-238, hier 1-6, S. 207: „Quantum tarnen mihi constat, ipsius hypothesin inter Anglos solidissime destruxit Richardus Cumberlandus, libro erudito et ingenioso de Legibus Naturae ; simulque adversam hypothesin, quae ad Stoicorum placita proxime accedit, firmissime adstruxit, quorum utrumque et mihi propositum fuit. Et fateor me magnopere gavisum, cum id scriptum in diversa terrarum parte eodem anno prodiisse conspicerem, dispari quidem facie adomatum, sed quod tamen eandem mecum hypothesin assereret, et pleraque a me in Hobbesio notata destrueret". Vgl. auch S. Pufendorf, Epistola ad Amicos (Anm. 140), S. 122: „Et si quis Richardi Cumberlandi scriptum, eodem anno in Anglia, quo meum opus in Suecia editum, cum meo accurate conferre velit, videbit, omnia fere, quae iste in Hobbesio reprehendit, a me quoque fuisse notata; cum tamen idem ex professo hoc egerit, ut Hobbesii hypothesin destrueret, ego autem in accessorii duntaxat loco habuerim ejusdem errores notasse".
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Cumberland bot Pufendorf nicht nur die Möglichkeit, seine eigene Position gegen Hobbes zu stärken; sondern die Theorie von Cumberland ermöglichte es ihm auch, seine eigene Annahme eines bereits im Naturzustand verpflichtenden Naturrechts mit den Argumenten Cumberlands zu unterstützen 146 . Neben dem Einfluß Cumberlands auf Pufendorf, der dessen Position zu Hobbes offensichtlich beeinflußt hatte, ist in diesem Zusammenhang ein anderer Gelehrter von besonderer Bedeutung: Der Sohn hugenottischer Flüchtlinge, Jean Barbeyrac, hatte Pufendorfs naturrechtliche Schriften in Berlin übersetzt und kommentiert 1 4 7 . Durch diese Kommentare hatte die Pufendorfische Lehre eine andere, ausdrücklich sich von Hobbes entfernende interpretative Stoßrichtung erhalten. Barbeyrac hatte freimütig darauf hingewiesen, „que j ' a i [Barbeyrac] quelquefois rectifié les idées de l ' A u t e u r " 1 4 8 . Die Analyse der Auseinandersetzung Barbeyracs mit Hobbes bleibt weiterhin ein Desiderat der Forschung, sie braucht und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht unternommen zu werden. Wichtig i m hier betreffenden Kontext ist festzuhalten, daß nach Pufendorfs Tod durch die Übersetzung und ausführliche Kommentierung Barbeyracs dessen Schriften eine deutlichere Wendung gegen Hobbes nahmen. Kein geringerer als Vattel hatte, ebenfalls in Gegensatz zu Hobbes, bereits implizit auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß Barbeyrac Pufendorfs Schriften durch seine Kommentare in ihrer Aussage verändert hatte: „Hobbes, dans l'ouvrage de qui on reconnoit une main habile, malgré ses paradoxes & ses maximes détestables, Hobbes, dis-je [Vattel], est (...) le premier qui ait donné une idée distincte, mais encore imparfaite du droit des gens. Il divise la loi naturelle en loi naturelle de l'homme , & loi naturelle des états. Cette dentiere, selon lui, est ce que l'on appelle d'ordinaire droit des gens. (...) Pufendorf déclare quii souscrit absolument à cette opinion de Hobbes [Hobbes' angebliche 146 S. Pufendorf, De Jure (Anm. 8), Buch Π, Kap. ΠΙ-21, S. 150: ,Ac bonorum quidem alia ex liberali donatione Creatoris, aut ultronea aliorum hominum benevolentia proficiscuntur, aut etiam per industriam hominis, ad quam is libere & ultro sese determinavit, adquiruntur. Quae legum observantiae non deberi adparet. Alia autem ex actione legibus praecepta per naturalem consecutionem promanant, dum Creator certo legibus congruo perpetuum & naturalem effectum, bono hominis cedentem, assignavit. Quae Rich. Cumberland praemia naturalia vocat". 147 Vgl. vor allem: E. L. Rathlef, Geschichte jetzlebender Gelehrten, Johan Barbeirak, Zelle 1740, Bd. 1, S. 1-65; S. Othmer, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und eine Analyse seiner Leserschaft, Berlin 1970 und T. Hochstrasser, Conscience and Reason: The Natural Law Theory of Jean Barbeyrac, in: The Historical Journal 36 (1993), S. 289-308. 148 J. Barbeyrac, Les Devoirs de l'Homme et du Citoyen. (Traduits du Latin du Baron de Pufendorf par Jean Barbeyrac), London 1712, Avertissement, S. XV.
. Exkurs: Die zeitgenössische Kritik Ansicht wurde von der Sache her noch etwas genauer von Vattel skizziert. Für den hier gebrachten Beleg sind diese Inhalte aber kaum von Bedeutung und deshalb im Zitat ausgelassen]. (...) Barbeyrac, traducteur & commentateur de Grotius & de Pufendorf, a beaucoup plus approché de la juste idée du droit des