Name und Text: ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik 9783111713120, 9783484106802


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German Pages 199 [200] Year 1992

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Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Onomastik
Zum Verhältnis von Name und Appellativum im Deutschen
Zur Frage der Namenfelder
Onomastische Strukturen in der deutschen Sprache der Gegenwart
Deonymische Derivation
Zur Vokalquantität in den eingedeutschten altsorbischen Ortsnamen des ostmitteldeutschen Sprachraums
Zur Geschichte der deutschen Personennamen in ostmitteldeutschen Ortsnamen
Stilistik, Sprachpflege und Sprachkultur
Einige Bemerkungen über Ziele und Aufgaben unserer Sprachpflege
Grundfragen der Stilklassifikation unter funktionalem Aspekt
Zur stilistischen Charakterisierung wissenschaftlicher Texte in der deutschen Gegenwartssprache
Über Möglichkeiten und Grenzen linguistischer Untersuchung literarischer Werke
»Vorgegebene« Sprache und künstlerisches Schöpfertum
Bibliographie
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Name und Text: ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik
 9783111713120, 9783484106802

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Wolfgang Fleischer Name und Text

Wolfgang Fleischer

Name und Text Ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik

Zum 70. Geburtstag herausgegeben und eingeleitet von Irmhild Bari, Ulla Fix und Marianne Schröder

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fleischer,

Wolfgang:

Name und Text : ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik / Wolfgang Fleischer. Zum 70. Geburtstag hrsg. und eingeleitet von Irmhild Barz... - Tübingen : Niemeyer, 1992 NE: Barz, Irmhild [Hrsg.] ISBN 3-484-10680-8 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck und Einband: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt

Inhalt

Vorwort

VII

Abkürzungen

X

Onomastik Zum Verhältnis von Name und Appellativum im Deutschen

3

Zur Frage der Namenfelder

25

Onomastische Strukturen in der deutschen Sprache der Gegenwart . . . Deonymische Derivation Zur Vokalquantität in den eingedeutschten altsorbischen Ortsnamen des ostmitteldeutschen Sprachraums Zur Geschichte der deutschen Personennamen in ostmitteldeutschen Ortsnamen

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Stilistik, Sprachpflege und Sprachkultur Einige Bemerkungen über Ziele und Aufgaben unserer Sprachpflege

105

Grundfragen der Stilklassifikation unter funktionalem Aspekt

118

Zur stilistischen Charakterisierung wissenschaftlicher Texte in der deutschen Gegenwartssprache Über Möglichkeiten und Grenzen linguistischer Untersuchung literarischer Werke

148

»Vorgegebene« Sprache und künstlerisches Schöpfertum

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Bibliographie

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V

Vorwort

Wolfgang Fleischers vielseitiges Schaffen umfaßt bereits seit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit die Onomastik und, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre einsetzend, Arbeiten zu Stilistik, Sprachpflege und Sprachkultur. Hierher gehören auch Wolfgang Fleischers Arbeiten zur Sprache und zur Sprachreflexion von Schriftstellern. Anders als in der Stilistik legte Wolfgang Fleischer in der Onomastik sehr früh mit umfassenden Buchpublikationen, Ergebnissen intensiver historisch-regional orientierter Forschungen, den Grundstein für sein über mehr als vier Jahrzehnte anhaltendes Interesse am Eigennamen, das er auch dann weiterverfolgte, als Lexikologie, Wortbildung und Phraseologie mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt waren. Während anfangs die Beschäftigung mit dem Namenschatz den Blick erst auf den Gesamtwortschatz gelenkt hatte, waren es später gerade die Einsichten in die Beschaffenheit des appellativischen Wort- und Phrasembestandes sowie die Erforschung der Wortbildung des Deutschen, die den Vergleich mit dem Eigennamen anregten und zur Herausarbeitung onymischer Spezifika drängten. Einen bedeutenden, auch international beachteten Beitrag leistete Wolfgang Fleischer zur theoretischen Fundierung der Onomastik, insbesondere zur Bestimmung des Wesens der Eigennamen im Vergleich zu Nicht-Namen. Den grundsätzlichen Funktionsunterschied zwischen beiden Benennungsarten und deren Wechselbeziehungen sichtbar gemacht sowie den Eigennamen als spezifischen Bestandteil des Wortschatzes der Einzelsprache bestimmt zu haben gehört zu den Leistungen Wolfgang Fleischers, die die Entwicklung der Onomastik ganz wesentlich prägten. Auf ihnen basierten auch seine weiteren Arbeiten zur detaillierteren Bestimmung der Eigenart der Namen innerhalb des Sprachsystems, wie etwa zu onymischen Gruppenbildungen - Namenfeld und Namentyp - , zur synchronen Klassifikation der Namen nach ihren Strukturen und deren Verhältnis zu nichtonymischen lexikalischen Einheiten sowie zur onymischen Wortbildung. Die Einsichten in die graduierte Derivationsaffinität der einzelnen Namenklassen zur BilVII

dung von Appellativa sowie in die Prozesse der Qnymisierung und Deonymisierung erhellten überzeugend das Zusammenwirken onymischen und appellativischen Wortgutes. Ebenso bedeutsam wie seine synchron angelegten Arbeiten sind Wolfgang Fleischers diachrone Untersuchungen zur Namengeographie und -entwicklung. Das Besondere an ihnen ist, daß die Geschichte der Namen mit der der Namengeber, -träger und -benutzer konsequent im Zusammenhang gesehen wird, wodurch sich ein ergiebiger Erklärungshintergrund für Sprachliches ergibt. Die Erforschimg der frühen slawisch-deutschen Sprachkontakte z.B., nachvollziehbar geblieben an der Integration slawischer Ortsnamen im Deutschen, führte zu wichtigen Einsichten bei der Analyse phonetischphonologischer und morphologischer Erscheinungen solcher Namen, die Ergebnis dieses Integrationsprozesses sind. Die diachrone Untersuchung intern-onymischer Beziehungen, wie etwa die Entwicklung von Familiennamen aus Ruf- oder Ortsnamen, die Verwendung von Personennamen in Ortsnamen oder der Gebrauch von Fluß- und Flurnamen als Ortsnamen, illustriert und erklärt die Polyfunktionalität einzelner Namenarten. Die hier wieder gedruckten, thematisch geordneten Aufsätze stehen exemplarisch für Vielfalt und Tiefe der onomastischen Bemühungen Wolfgang Fleischers. Auch wenn sie nur einen kleinen Teil des onomastischen Gesamtwerkes ausmachen, zeigen sie deutlich die Grundzüge seines Schaffens: die theoretische Einordnimg des Eigennamens in den Gesamtwortschatz bei Bewahrung seiner Spezifik sowie die methodologisch fruchtbare Verbindung der Namenforschung mit Dialektologie, Sprachgeschichte, Soziolinguistik, Stilistik einerseits und mit Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Siedlungsgeschichte andererseits. Wie die Bibliographie zeigt, war Wolfgang Fleischer nicht zuletzt auch darum bemüht, namenkundliche Erkenntnisse der Öffentlichkeit nahezubringen. Wolfgang Fleischer hat wesentlichen Anteil daran, daß die Grundgedanken der Funktionalstilistik, wie sie in der Sowjetunion und in der CSSR entwikkelt worden waren, Eingang gefunden haben in Stiltheorie und Stillehre an den Universitäten und Hochschulen der DDR. Die mitgehende, einfühlende Interpretation der Sprachgestalt von Texten, wie sie von der Interpretationsschule in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts geübt wurde, trat nun zurück, ohne daß jedoch die Analyse vernachlässigt wurde. Ebenso rückte die Betrachtung der Stilistik als Stilgrammatik in den Hintergrund. Die Auffassung von Stil als Erscheinung des Sprachsystems wurde im wesentlichen ersetzt durch eine auf den Text, auf situative Gegebenheiten bzw. auf kommunikative Funktionen bezogene Stilauffassung. Der Schritt vom System vin

zum Text und, wo Stil - wie in der Interpretationsschule - bereits auf den Text, aber ausschließlich auf den künstlerischen bezogen war, auf alle Texte, war von Bedeutung für jegliche nachfolgende Überlegung zu Stil, Sprachpflege und Sprachkultur. Ebenso bedeutsam war die Einsicht, daß Stil auf Situationen und Funktionen bezogen ist. Sie schuf die Möglichkeit der objektiven Bewertung von Stil, jedenfalls in Sachtexten, und - wechselt man die Blickrichtung - der Formulierung von Ansprüchen an Stil. So wurde Normbezogenheit in den Stilbegriff einbezogen und Stil somit lehrbar. Dies gab der praktischen Arbeit mit Stil - in der Lehre wie in der Sprachpflege - Aufschwung. Über der Normiertheit der Stilproduktion und demnach auch -rezeption von Sachtexten vernachlässigte Wolfgang Fleischer nicht den Blick auf die Sprache künstlerischer Texte. Die Betrachtung künstlerischer Texte vollzog sich auch in der Lehre und bei der Arbeit am künstlerischen Text selbst, vor allem aber in Publikationen und am Gegenstand der Äußerungen von Schriftstellern über Sprache. Wolfgang Fleischer nähert sich diesen Äußerungen im wesentlichen als Lexikologe. Es ist immer wieder das Benennungsproblem, das ihn so, wie es sich aus der Sicht des Künstlers darstellt, fesselt. Sensibilität für Sprache, Sprachkraft, Sprachvermögen mißt er am Reichtum und an der Differenziertheit des Wortschatzes, an Äußerungen über Wörter und am Spiel mit Wörtern. Die hier versammelten Aufsätze zu den Themen Stilistik/Sprachkultur/ Sprachpflege und Sprache/Sprachbewußtheit des Schriftstellers geben einen repräsentativen Einblick in die Auffassungen Wolfgang Fleischers. Sie zeigen in historischer Sicht einen Ausschnitt aus der Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin Stilistik. In aktueller Sicht zeigt sich: Vieles des damals Geäußerten gilt heute noch - auch im Rahmen einer pragmatischen, der individuellen und schöpferischen Leistung des Individuums mehr Aufmerksamkeit widmenden Stilauffassung, die zwischen vorgegebenen Normen und individuellem Problemlösen einen engeren Zusammenhang sieht. Das Bleibende betrifft vor allem die unter dem Oberbegriff der Angemessenheit geäußerten Gedanken zur Situations- und Funktionsbezogenheit von Stil. Bis auf die Tilgung einiger weniger zeitgebundener Beispiele bzw. Formulierungen entsprechen alle Texte der Erstveröffentlichung. Irmhild Barz, Ulla Fix, Marianne Schröder

IX

Abkürzungen in den Fußnoten

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle/Saale) Beiträge zur Namenforschung Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe International Congress of Onomastic Sciences Linguistische Studien. Reihe A. Hrsg. im Auftrag des Direktors des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin Namenkundliche Informationen. Hrsg. von den Sektionen Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft und Germanistik und Literaturwissenschaft der Karl-MarxUniversität Leipzig Onomastica Slavogermanica Iff. Berlin und Wroclaw Zeitschrift für deutsches Altertum Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Namenforschung Zeitschrift für Ortsnamenforschung

Onomastik

Zum Verhältnis von Name und Appellativum im Deutschen*

Die unterschiedliche Funktion von Appellativa und Eigennamen, ihre Stellung innerhalb des Wortschatzes einer Sprache und ihr Verhältnis zueinander sind seit der Antike immer wieder Gegenstand grundsätzlicher Erörterungen gewesen.1 Das Verhältnis der beiden Kategorien wurde bald als ein Art-, bald nur als ein Gradunterschied aufgefaßt,2 und es fehlt nicht an Äußerungen darüber, daß das Wesen des Eigennamens »offenbar recht schwebend und schwer zu bestimmen« sei.3 Wenn H. Paul von »zweifellosen Eigennamen« oder »wahren Eigennamen« spricht,4 so muß man annehmen, daß es seiner Meinung nach auch Wörter gibt, deren Eigennamencharakter weniger deutlich ausgeprägt, weniger zweifellos und wahr ist. B. Migliorini hat den Kem des Problems getroffen: Die »historische Grammatik« (grammatica storica) muß sich mit der Feststellung begnügen, daß es * 1

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Nach einem Vortrag auf der 9. Jahrestagung der Leipziger namenkundlichen Arbeitsgruppe am 6. Juni 1963. Vgl. hierzu an jüngeren Arbeiten: E. Pulgram, Theory of Names, BzN 5 (1954), 149-1%; A. Gardiner, The Theory of Proper Names. A Controversial Essay, 2. Aufl., London-New York-Toronto 1954; J. Kurylowicz, La position linguistique du nom propre, 1956 - Neudruck in Esquisses linguistiques, Wroctaw-Kraköw 1960, 182-192; V. Ν. Toporov, Iz oblasti teoretiCeskoj toponomastiki, Voprosy Jazykoznanija 6/1962, 3-12; P. Trost, Zur Theorie des Eigennamens, Omagiu lui Iorgu Iordan, Bucuresti 1958, 867-869; ders., Der Gegenstand der Toponomastik, Wiss. Zeitschr. d. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Gesellsch.und Sprachwiss. Reihe, 11 (1962), 257-277. An einen grundlegenden Allunterschied denkt z.B. W. Porzig, Indogerm. Forschungen 44 (1927), 308: »Liegt nicht in dem Phänomen >Name< eine Struktur vor, die in ganz andere Gebiete gehört als die Sprach...?« Vgl. auch B. Tmka, Probtem vlastnich Jmen (mit englischer Zusammenfassung), Philologica Pragensia 6 (1963), 85-89; hier heißt es: »the specific difference between both (Eigennamen und Appellativen) is not of degree ..„but of Kind« (S. 89). - Andererseits behauptet A. Dauzat, Les Noms de Personnes, Paris 1925, 3 »qu'il n'existe entre les noms propres et les noms communs qu'une difference de degr6, intellectuelle et non grammaticale«. Ebenso E. Pulgram, a.a.O., 189: »the boundary between common and proper noun is ... fluctuating and elastic, ... we must resign ourselves to the fact that the difference is not one of kind, but of degree, of usage«. So A. Noreen, Einführung in die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache. Beiträge zur Methode und Terminologie der Grammatik. Übers, von H. W. Pollak, Halle/S. 1923, 381. H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 5. Aufl., Halle/S. 1937, 89. 3

zwischen Eigennamen und Appellativen eine Grenzzone gibt, während die »logische Grammatik« (grammatica logica) die Wesenszüge des Eigennamens gegenüber dem Appellativum herausarbeitet.5 Wir möchten von einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen sprechen. Dabei ist die Spannung um die beiden Pole am stärksten und nimmt in Richtung auf den anderen Pol jeweils ab. Im lebendigen Sprachgebrauch zeigt sich die Tendenz, dieser Polarität immer wieder auch sprachlichen Ausdruck zu verschaffen; darüber wird noch zu sprechen sein. Der grundlegende Funktionsunterschied zwischen Namen und Appellativum zeichnet sich in den extremen Polen am deutlichsten ab, aber er kann sozusagen überwuchert sein von allem möglichen Beiwerk, das je nach der Art des Namens sich mit seiner Entstehung oder im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gebildet hat. Als Pole stehen sich gegenüber der Personenname - sozusagen als >proprium tantum> - und das Dingwort, die konkrete Gegenstandsbezeichnung als appellativum tantumKonvention(alität)< und >Motivation< vergleichen, deren Zusammenwirken als »eine der charakteristischsten Züge jedes synchronen Systems« bezeichnet worden ist. 10 Ein Appellativum wie etwa Löwe hat im sprachlichen System, in der Langue, eine bestimmte Bedeutung: >Säugetier, Raubkatze bestimmter Art und Gattung^ Was dieses Wort in einem gesprochenen oder geschriebenen Satz, in 5

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B. Migliorini, Dal nome proprio al nome comune. Studi semantici sul mutamento dei nomi propri di persona in nomi comuni negl'-idiomi romanzi, Genfcve 1927, 14. Für logische Grammatik< sagen wir hier besser >deskriptive< oder >funktionale< Grammatik. Die Bezeichnungen bei B. Tmka, a.a.O. - Vgl. auch J. Kurylowicz, a.a.O., 184: »... les appellatifs concrets et les noms propres constituent le noyau de la catigorie du Substantiv«; H. Ammann, Die menschliche Rede. Sprachphilosophische Untersuchungen, Bd. I, Lahr 192S, 68 (über die Sonderstellung des Personennamens) und 95 (über Bezeichnungen für >Begriffe gegenständlichen Inhalts* gegenüber solchen fiir >Begriffe von Vorgängen, Eigenschaften, Beziehungenmeinen< kann, ist durch die Bedeutung in der Langue motiviert. Ist von einem einzelnen, aus einem Zirkus ausgebrochenen Löwen die Rede, so ist stets die allgemeine Bedeutung der Langue mitgegeben. Anders beim Eigennamen. Der Familienname Löwe ist in seiner Beziehung auf ein Einzelwesen, einen bestimmten Menschen,11 sprachlich völlig unmotiviert. Die allgemeine Bedeutung des Wortes Löwe in der Langue, also »Säugetier, Raubkatze bestimmter ArtSetzung< sprachlicher Zeichen ...« Vgl. Ch. F. Hockett, Idiom Fonnation, Festschr. f. Roman Jakobson, Den Haag 1956, 228. Vgl. V. N. Toporov, a.a.O., 8. Der Unterschied besteht allerdings darin, daB ein Name eben nicht auf einen verallgemeinerten Begriff festgelegt ist; vgl. dazu auch H. Ammann, a.a.O., 103f. Die Entwicklung der Terminologie in dieser Richtung fuhrt schließlich zu Zeichensystemen, die nicht mehr sprachlichen Charakter tragen (Mathematik, symbolische Logik u.a.). Vgl. J. H. Greenberg, Language and Evolutionary Theory, in: Essays in Linguistics, Chicago 1957, mit seinen drei Stufen der prelanguage - language - postlanguage; hier zitiert nach L. F. Brosnahan, Language and Evolution, Lingua 9 (1960), 225-236, der sich mit Greenberg auseinandersetzt - Auf den besonderen Charakter des Terminus in unserem Sinne weist auch H. Glinz, Die innere Form des Deutschen, 2. Aufl. Bein-München 1961, 60-62, hin.

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Zweck des Namens ist Identifikation,17 nicht Charakterisierung. Namen liefern nur den »Schlüssel« zu einer Information, nicht wie die Appellativa unmittelbar eine Information.18 Das zeigt sich in Fällen völlig unmotivierter Namen wie Mississippi, Kabul, Ariovist. Wer nicht weiß, daß es sich hier um einen Fluß in den USA, die Hauptstadt von Afghanistan und einen berühmten Swebenfürsten handelt, kann mit diesen »Schlüsseln« nichts anfangen. In wessen Händen dagegen dieser »Schlüssel« schließt, dem ist das durch den Namen bezeichnete Objekt vollständig erfaßt - mit allen seinen Merkmalen, vollständiger, als es bei den meisten charakterisierenden Beschreibungen der Fall ist. 19 Individualisierung, Bezeichnung eines Einzelwesens oder -Objektes kann auch durch die Demonstration (du; der da; dieser) oder ein Appellativum, meist in Verbindung mit einem demonstrativen Element (mein Haus, dieses Haus), erreicht werden; doch sind hierfür bestimmte Voraussetzungen der Sprechsituation erforderlich. Nur da - Eigenname ist »unabhängig von der augenblicklichen Bewußtseinslage imstande, uns seinen Träger und damit den Gegenstand der identischen Beziehung zu vergegenwärtigen, wenigstens wenn es sich um den Träger eines auch dem Hörer bekannten Namens handelt«. 20 Wird ein Appellativum zum Namen, so vollzieht sich also eine »Erweiterung des Bedeutungsinhalts und eine Einschränkung des Bedeutungsumfangs«. 21 Einerseits sind im Namen alle Merkmale des benannten Objektes enthalten, andererseits ist der Name nur noch auf ein bestimmtes, so benanntes Objekt anwendbar (vgl. Lindental als Appellativum: ein Tal mit Linden, ohne Aussage über sonstige Eigenschaften dieses Tals; aber anwendbar auf jedes Tal, in dem Linden stehen - Lindental als Ortsname: gibt dem Kundigen alle Merkmale des Ortes, aber anwendbar eben nur auf den betreffenden Ort). Dieses Spannungsverhältnis zwischen Bedeutungsin17

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Vgl. H. Ammann, a.a.O., 69ff., wo nähere Erörterungen auch über das »Wesen der Identität«. Vgl. auch die von A. Gardiner, a.a.O., 73, gegebene treffende Definition des Eigennamens: »A proper name is a word or a group of words which is recognized as having identification as its specific purpose, and which achieves, or tends to achieve, that purpose by means of its distinctive sound alone, without regard to any meaning possessed by that sound from the start, or acquired by it through association with the object or objects thereby identified«. Vgl. A. Gardiner, a.a.O., 32. Vgl. auch Ε. Pulgram, Historisch-soziologische Betrachtung des modernen Familiennamens, BzN 2 (1950/51), 132-165, insbesondere 134: »... wo persönliche Bekanntschaft aller mit allen nicht möglich ist, kann ein Familienname mit einem Schlage dem Hörer die Stellung eines Mannes und seiner Familie zum Bewußtsein bringen.« H. Ammann, Vom doppelten Sinn der sprachlichen Formen. Sitzber. der Heidelberger Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. Jg. 1920, 12. Abh., 10. F. Solmsen, Indogermanische Eigennamen als Spiegel der Kulturgeschichte. Herausgegeben von E. Fraenkel, Heidelberg 1922, 2.

halt und Bedeutungsumfang (oder Verwendungsbreite) führt auch zu einer Abstufung innerhalb der verschiedenen Arten von Namen und innerhalb der Appellativa. Das Wort Dackel z.B. bietet eine differenziertere Aussage mit mehr Merkmalen als das Wort Hund; also ist die Verwendungsbreite von Dackel geringer.22 Das Pronomen, dessen Bedeutungsinhalt so gering ist, daß er sich in der Regel erst klar aus der Sprechsituation ergibt, ist dafür auf fast jedes Objekt - mit gewissen Einschränkungen in bezug auf das Genus - anwendbar. Beim Eigennamen ist - wie gesagt - das Verhältnis gerade umgekehrt. Das Abstraktum ist aus der Opposition Name - Appellativum auszuklammern; es ist »eine spätere Form des Substantivs als Name oder Dingwort«;23 gehört in die »dritte Etage des linguistischen Gebäudes«.24 - Unter den Personennamen hat die Kombination von Vor- und Familiennamen den größten Bedeutungsinhalt (über >Bedeutung< beim Namen s.u.) und damit den geringsten Bedeutungsumfang: Willi Schulze drückt die Beziehung auf einen bestimmten Menschen genauer aus als Willi oder Schulze, ist aber dafür auf weniger Menschen anwendbar. Wie Konvention und Motivation im sprachlichen System überhaupt, so durchdringen sich im Namenschatz auch die beiden Prinzipien der Identifikation und der Charakterisierung. Nicht alle Namen erreichen den gleichen Grad »reiner« Identifikation.25 Je weniger beschreibende Charakterisierung ein Name enthält, je weniger er motiviert ist, desto stärker tritt in ihm das Element der »reinen« identifizierenden Benennung hervor, um so mehr ist er konventionell bestimmter >NameWeißkopf< und >groß< durch den Widerspruch zur Realität angeregt; von ihr lebt teilweise der Namenspott. Das ist deutlich bei den Spitznamen; da überwiegt die charakterisierende Absicht, die identifizierende tritt zurück, die lexikalische Wortbedeutung ist relevant. Das gilt für Spitznamen wie Zwecke (nach einer Kopfbedeckung, die einer großen Reißzwecke ähnelt), Frosch (nach dem Gesichtsausdruck), Hirsebäuch (als Ortsneckname nach der bevorzugten Speise) u.ä. 37 In der Beschränkung des Bedeutungsumfanges, dem direkten Gegenstandsbezug in der jeweiligen Sprachgemeinschaft unterscheiden sich diese Namen aber doch von den Appellativen Zwecke, Frosch, Hirsebäuche. Ein besonderes Problem bilden auch Bezeichnungen wie Mühlbach, Mühlgraben, Steinberg. Ob sie eine identifizierende Funktion haben, die lexikalische Motivierung sekundär ist und es sich damit um Namen handelt, muß von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden. Auch die Stadt, der Bach können als Eigennamen gebraucht werden. Wenn die Einwohner eines Dorfes bei Leipzig sagen »Wir fahren in die Stadt!«, so ist mit die Stadt eine ganz bestimmte Stadt, eben Leipzig, gemeint Es handelt sich um eine Identifikation. Ahnlich sprechen Dorfbewohner von dem Bach, dem einzigen Dorfbach, der häufig keinen weiteren Namen hat 34

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So P. Trost, Zur Theorie des Eigennamens, a.a.O., 868. Auf jeden Fall ist hier einschränkend zwischen Namengebung und Namenbenutzung zu differenzieren (s.u.). Vgl. auch E. Buyssens, Du nom propre et du nom commun, Neophilologus 23 (1938), 118: »L'usage du nom commun döpend ent&rement de son sens ... Le choix du nom propre ne d6pend de son sens que lorsque celui-ci est percu par ceux qui l'emploient«. Zwischen >Funktion< und >semantischem Gehalt< unterscheidet bei Personennamen auch Α. de Vincenz, Les fonctions anthroponymiques. Evolution et structure, Orbis 11 (1962), 33, Anm. 3. So P. Trost, a.a.O., 869. S.o. S. 370 über die Abstufung der Motivation. Der Unterschied zwischen Namengebung und Namenbenutzung wird herausgearbeitet von P. v. Polenz, Name und Wort, Mitteilungen für Namenkunde 8 (1960/61), 1-11. - Vgl. auch H. Sommer, Von Sprachwandel und Sprachpflege, Bern 1945, 63. Es gibt allerdings auch Spitznamen, die etymologisch völlig undurchsichtig geworden und damit heute nicht mehr motiviert sind. So hat zJJ. in Benskausen Kr. Suhl jede einheimische Familie einen Spitznamen, von denen die meisten keine lexikalische Bedeutung erkennen lassen, z.B. simuwöl, mag u.a. (Hinweis von H. Rosenkranz und K. Schaftlein.)

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Was Bezeichnungen für Dinge betrifft, die es überhaupt nur in einem gleichartigen Exemplar real oder in menschlichen Vorstellungen gibt - z.B. Erde, Himmel, Paradies - , so möchten wir uns denen anschließen, die sie nicht zu den Eigennamen rechnen.38 Die Begrenzung auf ein Objekt liegt nicht im Wort, sondern in der beschränkten Zahl der Objekte. Auch der Mond, die Sonne sind vorläufig in der Gemeinsprache noch zu diesen »Monosemantika«39 zu zählen. Wenn allerdings die Bezeichnung Monde für >Trabanten eines Planeten< aus dem Fachwortschatz der Astronomen in die Alltagssprache gelangen sollte, dann könnte der Mond mit Bezug auf den Erdmond als Eigenname aufgefaßt werden - entsprechend den obengenannten Bezeichnungen die Stadt, der Bach. Ein Wachrufen der lexikalischen Wortbedeutung - oder die Furcht davor - kann zu Namensänderungen führen bei Personennamen wie Kalb, Schuft u.ä.40 Aufwertende Umbildungen begegnen auch bei Flurnamen, vor allem, wenn sie als Straßennamen verwendet werden sollen: Aus einem Flurnamen Fuchsloch wird dann die Bezeichnung Am Roten Fuchs; wo es früher hieß im Loche, findet sich heute die Talstraße,41 Bahnhofstraße ersetzt den Fröschengraben, Paradeplatz den Säumarkt, Spitalgasse die Lottergasse.42 Das gleiche Bedürfnis führt zum Austausch der Grundwörter >Weg< oder >Gasse< gegen das höherwertige >Straßeonomastischen Zeichens< gegenüber dem gewöhnlichen >Sprachzeichen< noch zu definieren bleibt.56 Der grundsätzliche Funktionsunterschied aber zwischen Eigennamen und Appellativen37 drückt sich auch in einer Tendenz aus, die beiden Kategorien in der sprachlichen Form zu scheiden, und zwar gilt das für die einzelnen Arten von Namen - entsprechend dem Obengesagten - in unterschiedlichem Ausmaß.58 Man hat von einer >Isolierung< des Namens vom Appellativum gesprochen,59 aber damit nicht die ganze Problematik erfaßt Selbstverständlich ergeben sich lexikalische Unterschiede zwischen Namen und Appellativum aus mehreren Gründen: Ein als Appellativum abgestorbenes Wort kann in Namen weiterleben (Flurname Leite in Sachsen; Flußnamen mit -ach und viele andere; Personennamen wie Hildegund usw.). Mundartwörter können in Namen über ihr appellativisches Verbreitungsgebiet hinaus gebräuchlich sein {brink, >Grashang< in Brinkmann, Lorelei mit lei >FelsenFleisch, Fleischer< sagen für das Appellativum, können den Personennamen Fleischer mit hochsprachlichem Diphthong aussprechen. Namen wie Hoffmann, Kirchhoff statt Hofmann, Kirchhof zeigen Aussprache mit kurzem δ nach der Schreibung mit - f f - , nicht wie die Appellativa mit langem ö. 64 Bekannt sind die gegenüber dem Appellativum zahlreichen orthographischen Varianten solcher Namen wie Meier, Meyer, Maier, Mayer. Das Leipziger Femsprechverzeichnis von 1961 enthält keinen einzigen Bäcker, aber 36 Becker; nur 2 Hase, aber 20 Haase; nur einen Freier, aber 9 Freyer. Die Schreibung der Familiennamen unterliegt nicht der Norm des Dudens, und sie zeigen teilweise bis heute Schreibgewohnheiten des 17./18. Jahrhunderts mit den erwähnten Schwankungen. Weißbrot als Familienname ist viel seltener als Weisbrod, Weisbrodt, Weißbrodt. Heute ist die Schreibung dieser Namen »gesetzlich geschützt«; sie sind erstarrt, von der lebendigen Entwicklung der Sprache jedenfalls in ihrer schriftlichen Form ausgeschlossen. - Abo- Unterschiede in der Schreibung von Namen gegenüber den Appellativen sind nicht erst dadurch entstanden, sondern schon alt: In den deutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts wird z.B. fast ausschließlich Cuno und Conrad auch dort geschrieben, wo für Appellativa die Schreibung K- üblich ist. 65 Die l a u t l i c h e E n t w i c k l u n g der Namen verläuft nicht immer parallel deijenigen der Appellativa, und auch in der B i l d u n g s w e i s e sind Besonderheiten erkennbar. 63 64

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1942, Nr. 3/4, 7-9. Weitere Literatur s.u. Vgl. den Hinweis bei O. Höfler, Über die Grenzen semasiologischer Personennamenforschung, Festschr. f. D. Kralik, Hom/Nieder-Österreich 1954, 26f. Vgl. A. de Vincenz, Les probl6mes et mdthodes d'une &ude structurale en onomastique, Orbis 10 (1961), 392: Diese Aussprache nach der Schreibung sei ein Mittel, die Homonymie zwischen Name und Appellativum zu beseitigen. Hierzu auch D. Gerhardt, a.a.O., 10, über die Beseitigung der Homonymie. Vgl. Th. Frings und K. Gleissner, Zur Urkundensprache des 13. Jahrhunderts, Zeitschr. für Mundartforschung 17 (1941), 33f.

Das zeigt zunächst deutlich die Bildung der Kurzformen unserer heimischen Rufnamen.66 Dazu werden expressive Sprachmittel verwendet, die im appellativischen Bereich kaum begegnen. Wir finden z.B. h y p o k o r i s t i s c h e G e m i n a t i o n e n : Odo > Otto, Fridrich > Friddo 827, Eberhart > Eppo. Auch der Umlaut kann in diesem Sinne verwendet werden und ist dann weder lautgesetzlich durch folgendes i, j entstanden noch als grammatisches Mittel zu betrachten (wie nhd. Hämmer): Köbes für Jakob, Lemme für Lambertus, Bültes, Hens, Klär, Arme für Balthasar, Hans, Klara, Anna. Heute sind diese Namen landschaftlich unterschiedlich verbreitet, worauf hier nicht einzugehen ist. Der Umlaut dient auch der Differenzierung sonst gleichlautender Ortsnamen: In Thüringen stehen nebeneinander Mückern - Muckern, Pürschiitz - Purschütz.61 Nicht nur lateinischem Einfluß ist es sicherlich zuzuschreiben, wenn viele Vornamen heute kein reduziertes -e in der Endsilbe, sondern einen volltönenden Vokal haben: Arno, Hugo, Irma, Rosa. »Die α-Laute am Schlüsse fremdländischer Namen wie Anna, Martha, Paula, Veronika fallen angenehm ins Ohr ,..« 68 In diesem Zusammenhang ist auch auf Ortsnamen wie Eicha, Heicia, Wiesa, Ekkartsberga hinzuweisen, die ein -a anstelle eines dem entsprechenden Appellativum zukommenden -e zeigen. Hier wirkt sicherlich nicht nur »Rücksicht auf den Wohlklang«,69 sondern auch das Bestreben, die Homonymie mit dem Appellativum Eiche, Heide usw. zu vermeiden oder zu beseitigen. Die Empfänglichkeit der Rufnamen für expressive, »wertende« Formen hat zur Produktivität einer Reihe von S u f f i x e n geführt, die dem appellativischen Wortschatz z.T. grundsätzlich fremd sind oder dort erst spät und mit beschränkter Verwendung auftauchen,70 so besonders -tz in Fritz (Frid-rich), Heinz (Hein-rich) und dessen Variante -t(z)sch in Fritzschfe), Nietzsche) usw.71 Die Übertragung auf Tierbezeichnungen wie Ratz, Spatz, Wanze bestätigt nur die Sonderstellung dieses Suffixes. Ein Suffix -i kennt unsere Literatursprache für den appellativischen Wortschatz heute nicht (nur in gewissen oberdeutschen Mundarten wird es als Diminutivum verwendet). Aber im Namenschatz ist es durchaus geläufig: Rudi (Rudolf), Hansi, Heini, 66 67

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71

Hierzu ausfuhrlich A. Bach, a.a.O., Bd. I, Heidelberg 1952, § 93. Vgl. Ο Weise, Zeitschr. f. hochdtsch. Mundarten 1 (1900), 354. Vgl. auch P. Zinsli, Lautlich abgewandelte Flumamenpaare in der westlichen deutschen Schweiz, Zeitschr. f. Mundartforschung 27 (1960), 143-159. O. Weise, Ästhetik der deutschen Sprache, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1905, 20. So O. Weise, a.a.O., 22. So z.B. auch im Russischen: vgl. A. Fokker, Expressive Derivation of Proper Names in Russian, Lingua 9 (1960), 267-276. Vgl. auch J. Kurylowicz, a.a.O., 190, mit Hinweis auf die beschränkte Verwendung expressiver Mittel außerhalb der Eigennamen. Über das Verhältnis von -tz und -tzsch vgl. W. Fleischer, Beiträge z. Gesch. d. dtsch. Spr. u. Lit. 81 (1959), 303-322. 15

Si(e)gi. Gelegentlich wird die suffigierte Kurzform nicht nur als hypokoristische Variante des entsprechenden >Vollnamens< benutzt, sondern als der eigentliche Vorname betrachtet, wobei sich z.T. - wie im Falle Siegi - das Geschlecht des Namenträgers nicht erkennen läßt. Andere Bildungseigentümlichkeiten der Namen stehen nicht im Zusammenhang mit dem Drang zur Expressivität, verdeutlichen aber ebenfalls die Sonderstellung des Namens. So werden zwei Varianten des Suffixes -isch heute fast ausschließlich für Ableitungen von Eigennamen verwendet: - ionisch (kantianisch, der opitzianische Vers) und - mit Synkope des -i sch 2 (Bramsche Röhre, Grimmsches Wörterbuch, Brühische Terrasse)? Bei Ableitungen von Ortsnamen steht allerdings in der Regel die unsynkopierte Form: berlinisch. Im appellativischen Wortschatz begegnen mit -chen diminuierte Substantive als erste Kompositionsglieder in Zusammensetzungen nicht, abgesehen von isolierten Fällen wie Kaninchenfell, Mädchenschule.73 Im Namenschatz sind solche Bildungen dagegen ganz geläufig; man vergleiche Flurnamen wie Brückchenfeld, Gräbchenfeld, Gräbchenwiese, Hühnerwieschenteile.74 Diese Rurnamen drücken orientierend eine Zugehörigkeit aus, und der Volksmund stößt sich dabei nicht an dem schweren ersten Kompositionsglied. Die Entwicklung der Namen ist unter Umständen anderen A n a l o g i e w i r k u n g e n unterworfen als die der Appellativa, so daß andere Modelle als Muster für Neubildungen wirksam werden. Es sei an die Ländernamen mit dem lateinischen Suffix -ia (Italia) erinnert, die im Mittelhochdeutschen auf -ie enden. Sie schließen sich nicht dem romanischen -ie > -ei der Appellativa an (z.B. Wüstenei < mhd. wüestenie), sondern den Ländernamen auf -en - wie Hessen, Sachsen - , wodurch sich das Suffix -ien ergibt: Spanien, Italien, Sibirien, Indien. Einzelne derartige Beispiele begegnen schon im 12. Jahrhundert, z.B. Sicilienland. Wie die Entwicklung vor sich gegangen ist, vermag ein Beispiel wie Persen neben Persia >Persien< in der Bibel von 1529 zu beleuchten.75 - Auch Ortsnamen zeigen vielfach eine Neigimg zur Anfügung eines auslautenden -n, vor allem nach -/ und -r, wobei allerdings auch noch andere Gründe mitspielen (vgl. z.B. Agnetheln 72 73 74 75

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Vgl. W. Mötsch, Das System der Adjektivableitungsmoipheme in der deutschen Sprache der Gegenwart, Diss. Humboldt-Univ. Berlin 1960 (Masch.), 67f. Vgl. W. Henzen, Deutsche Wortbildung, 2. Aufl., Tübingen 1957,48. W. Fleischer, Namen und Mundart im Raum von Dresden, I, Berlin 1961, 247. Vgl. hierzu zuletzt E. Eremätsä, Über die Ländernamen auf -ie und -ien im Kontinentalgermanischen, Neduphilolog. Mitteilungen 57 (1956), 224-227. - Eine Reihe von Landschaftsnamen hat aber -ei < -ie: Walachei, Lombardei.

aus Agnethendal).76 Daß die Namen benachbarter Orte ihre Form unter wechselseitigem Einfluß verändern können (auch Flurnamen), sei hier nur am Rande erwähnt; die namenkundlichen Monographien liefern dafür reiche Belege.77 Die etymologische Isolierung der Namen, die Tatsache, daß sie für den Namenbenutzer vielfach keine bedeutungstragenden Morpheme oder Morphemkonstruktionen darstellen, erklärt auch ihre mangelnde morphematische Stabilität. In diesem Sinne sind sie also keineswegs konservativ, sondern »l'61£ment instable par excellence dans un milieu qui tend ä la stability ,..« 78 Sie sind Reduktions- und Abschwächungsvorgängen in viel stärkerem Maße ausgesetzt als Appellativa, die ja teilweise auch auf ein hohes Alter zurückblicken können. Das gilt für Personennamen mit zweiten Gliedern wie -ram aus hraban (Wolfram), -ulf(-olf) aus -wolf (Gundolf), bert aus -beraht (Albert), und das betrifft auch die Ortsnamen (Wilsdruff aus Wilandestorff 1259) und besonders die durch amtlich-schriftliche Fixierung noch weniger geschützten Flurnamen (Bobertsbusch für >Busch am Burgwartsbergi). Die unklaren Morphemgrenzen begünstigen ferner die D e g l u t i n a t i o n und A g g l u t i n a t i o n von Artikel, Präpositionen oder einzelnen Lauten des Namens (Dröda < zu der Ode 1328; im Ergenborn < im Mergenborn).19 Besonders anfällig für Veränderungen sind l, r, n; sie schwinden vielfach überhaupt oder werden auch miteinander vertauscht. Diese Vertauschung wird durch die akustische Ähnlichkeit der drei Laute begünstigt Dem Hörbild des Namens entspricht kein Element der Langue, das regulierend wirken könnte. Das gilt besonders für eingedeutschte fremdsprachige Ortsnamen. So erscheint der Ortsname Nöthnitz (bei Dresden) als Netenicz 1378 Notelicz 1378 - Netoricz 1471.80 Weitere Beispiele dafür finden sich in ganz Deutschland.81 Schwund von l, r, η zeigen etwa Namen wie Behn, Benno zu Bernhart, Fockfe) zu Volk-her, Kutz, Ko(o)tz zu Kunz, Kuonrat; vgl. Vök von Laubenberg 1405 = Volk von Laubenberg 1410 = Völker von Laubenberg 1416 und Ego Conradus dictus Kutz de Langengunse 1332.82

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Näheres hierzu bei W. Fleischer, a^.O., 258f. Vgl. speziell hierzu M. Koch, Die Ablenkung als typische Flurnamenform, Wörter und Sachen, N. F. 23 (1943/44); ders., Ablenkungen bei den Siedlungsnamen, BzN 13 (1962), 69-75. E. Buyssens, a.a.O., 121. Die Beispiele mit vielen anderen bei A. Bach, Die deutschen Ortsnamen, Bd. I, Heidelberg 1953, § 58. Vgl. W. Heischer, a.a.O., 79. Vgl. dazu W. Heischer, Beiträge z. Gesch. d. dtsch. Spr. u. Lit 81 (1959), 317f., 321f. Vgl. J. K. Brechenmacher, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen, 2. Aufl., Limburg/Lahn 1957 bis 1963, Bd. I, 481; Bd. Π, 141. 17

Diese Art von Labilität des Lautkörpers haben die Namen mit den I n t e r j e k t i o n e n gemeinsam, zu denen sich auch sonst noch manche Beziehungen ergeben.83 Eine Sonderstellung nehmen die Namen, und zwar in diesem Falle vor allem Orts- und Flurnamen, kaum die Personennamen, auch in der B e t o n u n g ein; hier ist allerdings noch längst nicht alles geklärt Vielfach läßt sich jedenfalls »eine Tendenz wahrnehmen, zusammengesetzte Ortsnamen als solche mit Starkdruck des zweiten Bestandteils des Kompositums auszuzeichnen«,84 wodurch sich eine Art »funktioneller Akzent« ergibt; Heiligenkreuz aber appellativisch Hiiligenkreuz, ferner Weißensee, Tiefensee, Saarbrücken (vgl. auch Schbrugg für Innsbruck). Ob es sich hierbei tatsächlich um den Reflex eines sehr alten grundsätzlichen Unterschiedes zwischen appellativischen Kompositionen und Namenkompositionen handelt, lassen wir dahingestellt; es ist möglich.85 Auch Akzentdubletten begegnen: In Kärnten neigen die höfischen Namen zur Endbetonung, während die Bauemnamen Erstbetonung haben; die Burgennamen Lerchenäu, Hirschenäu stehen den Ortsnamen Grafenau, Riichenau gegenüber.86 Endbetonung haben vor allem Ortsnamen mit schwerer Endsilbe {-a-, -«-) außerhalb des Gebietes, in dem sie heimisch sind. Der Fremde spricht zunächst nach dem Schriftbild Tabärz, Stralsund, ehe er die in der mündlichen Tradition des Ortes selbst geläufigen Formen Täbarz, Strälsund kennenlernt. Von Tharandt bei Dresden wird im 19. Jahrhundert berichtet, daß »einige Fremde und besonders die Berliner« den Ton »fälschlich auf die 2te Syllbe« setzen und »unter Dresdens haute νοίέβ Viele ihnen nachäffen«.87 Auch die Flurnamen bieten in der Betonung besondere Probleme. Es gibt Landschaften, in denen bestimmte Wörter als zweites Kompositionsglied nahezu regelmäßig den Hauptton tragen, während andere im gleichen Typ von Zusammensetzung ihn nahezu regelmäßig ablehnen. In den Gemarkungen von Wyhlen und Grenzach bei Basel zeigen z.B. regelmäßige Anfangsbetonung die Kompositionen mit -acker, -tal, -berg, -gaß, -Straß, -matte, -bach, -halde, -loch, -platz, -grübe, regelmäßige Endbetonung dagegen Kompositionen mit -brunnen, -weg, -holz, -boden, -graben, -hau; es heißt also Steingrube - Steinweg, Klosterbach - Klosterbrunnen .88 83 84 85 86 87 88

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Vgl. D. Gerhardt, BzN 1 (1949), Iff. - Allerdings dürfen die funktionellen Unterschiede zwischen Inteijektion und Namen nicht übersehen werden: vgl. H. Ammann, £La.O., 60. L. L. Hammerich, Zur deutschen Akzentuaüon, Kobenhavn 1921, 260. Vgl. H. Kaufmann, Bildungsweise und Betonung der deutschen Ortsnamen, Heidelberg 1959. Vgl. E. Kranzmayer, Ortsnamenbuch von Kärnten, Bd. I, Klagenfurt 1957,146. Vgl. A. Schiffner, Handbuch der Geographie, Statistik und Topographie des Königreichs Sachsen, 2. Lieferung, Dresdener Kreisdirektionsbezirk, Leipzig 1839/40, 681. Vgl. E. Richter, Die Flurnamen von Wyhlen und Grenzach in ihrer sprachlichen, sied-

Auch in der F o r m e n l e h r e finden sich Sonderentwicklungen des Namenschatzes.89 Bei Orts- und Ländernamen stimmt das grammatische Geschlecht nicht mit dem der zugrunde liegenden Appellativa überein, auch wenn die Namen noch etymologisch durchsichtig sind: die Stadt - das schöne Neustadt, der Ort - das große Ruhrort, der Berg - das alte Klingenberg, die Burg - das interessante Altenburg. Dieses neutrale Einheitsgenus der Ortsnamen hat sich erst allmählich völlig durchgesetzt; in älterer Zeit waren vor allem fremde Ortsnamen weiblich, so noch bei Klopstock die hohe Rom und bei Schiller die edle Bern, die rege Zürich.90 Mundartliche Formen kennen das Femininum noch heute, im Ostmitteldeutschen besonders für die slawischen Ortsnamen: >Bielain ZethauNamen-Normalgenus< zu einem unterscheidenden Merkmal des Namens vom Appellativum geworden; es heißt: die schöne Gellert-Stadt Hainichen, die Kleiststadt Frankfurt!Oder - aber das industriereiche Karl-Marx-Stadt. Besonders relevant ist dieser Genusunterschied bei Ortsnamen wie Aue, Berg, Grund, die auch als Appellativa heute noch vorkommen.91 Für Ländernamen gilt Ähnliches: das kleine Dänemark - die Mark, das schöne Oldenburg - die Burg; hier in Analogie zu -land, -reich u.ä. Genusdifferenzierung ermöglicht eine Unterscheidung zwischen Ortsnamen und Raumnamen aus dem gleichen Wort etwa im Falle von Teltow: als Ortsname Neutrum - das kleine Teltow, als Raumname Maskulinum - der Teltow (südlich Berlin). Was die K a s u s f l e x i o n betrifft, so sei auf die bekannte Erscheinung, daß ein erstarrter Lokativ zum Nominativ umgedeutet wird (Ludwigsfelde, Herzogswalde, Finsterbergen, Sigmaringen), nur am Rande hingewiesen. Wichtiger ist, daß auch die Entwicklung der lebendigen Kasusformen selbst bei den Namen anders als bei den Appellativen verläuft, und zwar »zeigt die Flexion der Personennamen im Vergleich zu den Appellativen häufiger Neuerungen als Relikte«.92 Wörter wie ahd. heri, wini, fridu haben als

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lungsgeschichtlichen und volkskundlichen Bedeutung, Freiburg i.Br. 1962, 341ff. - Weiteres zur Betonung bei A. Bach, £La.O., Bd. 1,44ff.; ders., Zur Betonung der zusammengesetzten deutschen Ortsnamen, Wütendes Wort 1 (1950/51), 331ff. Zwischen Personennamen einerseits und geographischen Namen andererseits lassen sich hierbei unterschiedliche Entwicklungsgesetze erkennen: vgl. W. Mariczak, Une tendence g6nirale dans le d6veloppement de la flexion des noms de personnes, Revue Internationale d'onomastique 12 (I960), 125-136. Vgl. A. Bach, a.a.O., Bd. I, 66f. Vgl. hierzu auch I. Iordan, GenusunregelmäBigkeiten in der rumänischen Toponomastik, Beitrage z. Gesch. d. dtsch. Spr. u. Lit. 79 (1957) Sonderband, 232-246. Die meisten Ortsnamen hier »weichen ... dahingehend ab, dafi sie weiblich sind« (232). W. Mariczak, a.a.O., 126. - Zum Folgenden vgl. die übersichtliche Darstellung der Eigen-

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zweite Kompositionsglieder von Namen teilweise schon im Althochdeutschen, alle aber im Mittelhochdeutschen keinen vokalischen Auslaut mehr: Gunther, Ortwin, Sifrit. Ohne Endung bleiben als Namenbestandteile - und dies zeigt allerdings Bewahrung eines älteren Standes - die starken Feminina -gunt, -hilt, -lint, -run, während sie als Appellativa teilweise schon im Althochdeutschen den Nominativ wie den Akkusativ auf -a bilden: linda, runa. Mhd. -e haben nur die schwach flektierenden Namensformen: Otte, Wate, Hilde, Uote. Eine Neuerung besteht schließlich darin, daß die Maskulina im Akkusativ, später auch im Dativ, die Endung ahd. -an, mhd. -en erhalten: Hartmuotan, Ludewigan. Noch heute kann man in Mundart und mundartlicher Umgangssprache hören Hast du's Karin gesagt? Die nhd. Literatursprache zeigt allerdings eine deutliche Tendenz, die Kasusendung beim Eigennamen zu meiden - womit sich die obenerwähnte Gesetzmäßigkeit wieder bestätigt Noch Goethe schreibt im >Werther< vom Spazierengehn mit Lotten, und Herder flektiert 1796 seinem Deutschlande Aber nicht nur in diesen Fällen verzichten wir heute auf Kasusendungen. Besonders deutlich ist das auch beim Genitiv-s. Wichen die Namen bisher schon leicht von den Appellativen dadurch ab, daß der Genitiv fast stets -s und nicht -es hatte (Freibergs, Österreichs, Karls),94 so wird heute die Neigung immer stärker, das -s ganz wegzulassen; das gilt für die Namen selbst und auch für Titel in Verbindung mit Eigennamen: die Landschaften des südlichen Frankreich 95 der Traum des Hauptmann Loy (Filmtitel). Im Material I. Ljungeruds96 werden von 40 Städtenamen 36 und von 96 Ländernamen 65 ohne Flexionszeichen verwendet Eine Opposition Singular : Plural kann für Namen nicht relevant sein, wenn ein Name sich nur auf e i η Objekt bezieht. Aber es gibt Personengruppennamen, die natürlich im Plural vorkommen, und unter den Ländernamen Pluralia tantum (die Niederlande, die Vereinigten Staaten (von Nordamerika)). Der Plural von Familiennamen zur Bezeichnung der Personengruppe wird mit -s gebildet, worin sich deutlich das Bestreben zeigt, die Homonymie von Name und Appellativum zu meiden: die Bocks - die Böcke, die Müllers - die Müller.

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namenflexion bei W. Wilmanns, Deutsche Grammatik, III. Abt., 2. Hälfte, StraBburg 1909, 40Iff. Zitiert nach E. Lerch, a.a.O., 9. Vgl. hierzu W. Wilmanns, a.a.O., 403. - Steht der Name allerdings gewöhnlich mit Artikel, dann ist auch -es geläufiger (403): des Rheines, des Bayrischen Waldes. In diesen Fällen ist die Spannung zum appellativischen Pol nicht so ausgeprägt. Obwohl der Duden grundsätzlich noch das -s fordert, muB er in diesem Falle dem offiziellen Sprachgebrauch ein Zugeständnis machen: vgl. Der Große Duden, IS. Aufl., Leipzig 1959, 123. I. Ljungerud, Zur Nominalflexion in der deutschen Literatursprache nach 1900, Lund und Kopenhagen 19SS, 134. - Vgl. auch H. Glinz, aa.O., 282.

- Bei Flurnamen kann die Pluralform eine andere Funktion haben. Der Plural die Folgen, die Steinichte, die Sünde von einem Flurnamen die Folge, das Steinicht, der Sand bezeichnet vielfach >die (Einzel)-stücke auf der Folge, dem Steinicht, dem Sandbuz; Wilschwitz, mda. wildS, aso. Vilökovici; Wülknitz, mda. wilgm, aso. *Vil'kanici; - Dallwitz, mda. dolbds, aso. *Datovici; Folbern, mda. fulworn, aso. *Volbof; Oelsitz, mda. §lsds, aso. *Ol' Se, -α; Ρ eisen, mda. b§ldsn, aso. *B6lSin; Pulsitz, mda. bolds, aso. *Polst'; Wölkau, mda. wylga, aso. *Voikov. c) 7mal Länge in Mundartformen mit / + d(t), die durch Kontraktion aus mehrsilbigen entstanden sind: Eulitz, mda. qelds, aso. *Ulica; Maltitz, mda. malds, aso. *Matotici; Mohlis, mda. molds, aso. *Miodavici, 1328 Muldawicz; Saultitz, mda. saolds, aso. *Sulatici; Seelitz, mda. sialds, aso. *2elici, Selica; Seilitz, mda. saelds, aso. *2ilici; Zscheilitz, mda. dSaelds, aso. *Ölici, Ödici.

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d) 5mal Länge bei mehrsilbigen, wenn nach -/- der Mittelvokal erhalten blieb bzw. bei synkopierten Formen mit / + Konsonant außer d(t): Mahlitsch I, mda. mälS, aso. *Mal§c-, *Malitk-; Mahlitzsch II, mda. mälS, aso. *Mal'ac-; (Nieder-, Ober-) Polenz, mda. bölpids, aso. *Poleiisk, *Pol'ansk; Saalhausen, mda. sö°lhaosn, aso. *Ζα16έηο; Sahlassan, mda. saldsn, aso. *Zal6Sno. e) Sonderfälle sind Sieglitz I, mda. sTxlds, aso. *Zilici, 1428 Silitz, 1543 Sigelitz, mit Vokalspaltung, und Mohlis, mda. molds, aso. *MalS', 1220 Rüdolfus de Mals, angeglichen an das benachbarte Maltitz (s.o.). Ein Einzelfall ist femer - im Gegensatz zu oben IIa - Strölla, mda. Sdreid, aso. *Strol-, 1290 Ztroln, 1336 Strolle. 12. Vor -r- überwiegt - entsprechend dem Charakter des Konsonanten bei weitem Länge: insgesamt 42mal gegenüber 15mal Kürze und einem Ortsnamen mit Doppelformen. a) Kürze begegnet 11 mal in der Verbindung -rn-: Barnitz, mda. bcfnds, aso. *Borenovici (-an-); Bornitz, mda. bfalsch, schwach< wird wohl auf den Wüstungscharakter hingewiesen und vom benachbarten Lampertswalde (östlich Großenhain) abgehoben. Auch weitere PN und - in geringerem Maße - appellativische Substantive können als differenzierende Zusätze verwendet werden. Hierher gehört Teichwolframsdorf Ί, 78, mit diesem Zusatz erst seit Anfang des 16. Jh., n. 1210 Wolvrammestorf; 1403 erscheint als PN Teych von Wolframsdorf. Der Zusatz zum ON kennzeichnet den Besitz und dient der Unterscheidung vom benachbarten Wolfersdorf. Die beiden benachbarten Orte Geringswalde im Kreis Rochlitz (vgl. 3, 54-57) werden bereits 1233 unterschieden als Gerungeswalde (heute die Stadt Geringswalde) und (in) antiquo Gerungeswalde (1481 Aldingeringiswalde, heute Dorf Alt-Geringswalde). Einen dritten Bestandteil dieses Namenfeldes bildet Kloster-Geringswalde, »Ortschaft mit ehem. Benediktinerinnenkloster und Klostergut« (3, 56), 1233 claustrum sanctimonalium in Gerungeswalde. Topf-Seifersdorf 3, 130, 1208 Sifridesdorp, 1539 Topfseifferschdorff, in dessen Umgebung es mehrere Seifersdorf gibt, wird von diesen durch den Zusatz abgehoben, der zugleich »auf die früher im Orte betriebene Töpferei« hinweist (3, 130).

Neuere Forschung zieht die Bezeichnung »Kontaktbildung«, »Kontaktname« vor; vgl. H. Walther, Namenkundliche Beiträge zur Siedlungsgeschichte des Saale- und Mittelelbegebietes bis zum Ende des 9. Jahrhunderts, Berlin 1971, S. llOff., 197ff. 87

Die beiden ON Ranstädt bei Leipzig 8, 75f. werden schon früh unterschieden als antiquum Ranstede 1195 (heute Dorf Altranstädt, 1285 Aldenranstete) und (in) Ranstete forensi 1287 (heute Stadt Markranstädt, 1355 Marktranstete, 1454 Marg-Ranstet; bereits seit 1292 Markt, worauf der Zusatz hinweist). Eine besondere Rolle spielt in einigen ON bei Leipzig schließlich der PN Knaut. 1285ff. werden milites dicti Knut erwähnt (8, 49). Ihr Name erscheint zur Kennzeichnung des Besitzes und zugleich Abhebung von gleichlautenden ON der Nachbarschaft in folgenden ON: Knautkleeberg 8, 48, 1350 Cleberg, 1696 Knaut-Klebergk (abgehoben davon Markkleeberg, 1190 Cleberg, 1606 Marek Clebergk)', Knauthain (1174 Hagen, 1350 Knutenhain, 1456 zeum Knuthayn)\ Knautnaundorf (1277 Nuendorf, 1477 Naundorf, 1498 Knautnauwendorf). Diese ON gehören also nicht zum Typ Hermamsdorf, da der PN - wenn auch teilweise schon im 14. Jh. - erst sekundär hinzugetreten ist. Im Anschluß an Knautnaundorf sei darauf hingewiesen, daß die große Zahl von ON Naundorf vielfältige Differenzierungen erforderte, die sich z.T. historisch veränderten und bei denen auch PN auftauchen, die heute daraus verschwunden sind: Zweinaundorf 8, 64f., 1335 Kellners, Gotschalges Nuendorf, 1359 Goschalkisnüwendorf vnde Schümanznüwendorf, 1438 Schumansdorff, 1474 Obirnuwendorff, 1548 Beden Nauendorf, 1580 Zwej Nauendorff. Mit den zuletzt erschienenen Zusätzen wird nur noch auf die Tatsache zweier Besitzer hingewiesen, ohne daß deren Namen genannt werden, möglicherweise wegen Personenwechsels. Ähnlich auch Abtnaundorf 8, 64, 1335 Kemmerien-Nuendorf (kemmerie >Fiskus, öffentliche KasseGeflechtes< der Rede ist bestimmt durch den Charakter des Denkens.«9 Im Prozeß der Kommunikation in der sprachlichen Äußerung »verwirklicht sich die Einheit von Bewußtsein ... und Sprache als zweier Merkmale des Menschen, die zugleich in enger Wechselbeziehung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Tätigkeit des Menschen stehen.«10 Es erscheint mir deshalb angebracht, bei der funktionalstilistischen Differenzierung zunächst einmal von bestimmten Hauptzügen auszugehen, die das Wechselverhältnis von Denken und Sprache und die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmen - und erst dann zu fragen, ob diese »Typen« bestimmten Kommunikationsbereichen entsprechen. Wir versuchen, diese Gliederung durch einen Algorithmus zu erfassen (vgl. die Skizze). Der

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Ebenda, S. 152. Ebenda, S. 199. Ebenda, S. 166.

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Charakter der Rede/des Textes weist im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen/Schreiben eine erste grobe Differenzierung (binär) derart auf Knoten 1), daß die Rede entweder spontan und »ungezwungen« nur auf den außersprachlichen Zweck gerichtet ist - oder daß sie andererseits als Formulierung stärkerer Selbstkontrolle unterworfen, mehr oder weniger »ausgefeilt« ist. Die erste Art (A) begegnet gewöhnlich in den - meist dialogischen - Äußerungen des alltäglichen Lebens; sie ist typisch (wenn auch nicht ausschließlich hier angewandt) für den funktionalen Stiltyp der »Alltagsrede«.11 In diesem funktionalen Stil kann man sich auch über eine wissenschaftliche Frage äußern, nicht nur über das Wetter oder das Befinden der Familienmitglieder. Nicht der den Gegenstand der Mitteilung bildende Sachverhalt ist entscheidend. Welches Thema auch der Mitteilung zugrunde liegt - es dominiert die Ungezwungenheit und Spontaneität, wobei eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur Verwendung lexikalischer Elemente salopp-umgangssprachlichen Charakters nicht zu übersehen ist. Hierzu gehören zum Beispiel auch Privatbriefe. Die »literarisch-ausgefeilte« Sprachverwendung (Knoten 2) 12 läßt sich wiederum binär gliedern nach der Frage: Dient der Text neben der begrifflichen Information in bestimmter Weise auch der Hervorbringung ästhetischer Wirkungen? Stellt er eine künstlerisch geformte Äußerung dar? Ist die Frage zu bejahen, so handelt es sich um den funktionalen Stiltyp der schönen Literatur (B). 13 Das kann auch ein Stück Alltagsgespräch sein; es ist dann stilisiert, bewußt eingesetzt in künstlerischer Absicht. Der belletristische Text verliert nicht die kommunikative, das Denken materiell formende Funktion, denn nur auf Grund dieser Funktion kommt auch die ästhetische Wirkung zustande. Sie beruht wesentlich auf einer Umfunktionierung der R e d u n d a n z , die für ästhetische Zwecke ausgenutzt wird. Dabei scheut der Schriftsteller (und insbesondere der Verfasser »gebundener« Poesie) das Stereotype, die Schablone, den »automatisierten« Ausdruck,14 er sucht den ungewohnten, nur ihm eigenen aktualisierten Ausdruck. Im Prägen neuer Benennungen, in der kühnen Konstruktion ungewohnter und unerwarteter Kombinationen und Wortbindungen usw. rea11 12

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Vgl. E. Riesel, Der Stil der deutschen Alltagsrede, Moskau 1964. Zum Terminus vgl. auch M. D. Duznec und J. M. Skrebnev, Stilistik der englischen Sprache, Leipzig 1966, S. 139f. Dazu L. Dolefcl und K. Hausenblas, Ο sootnoäenij lingvistiki i poetiki, in: Poetics, Warszawa 1961, S. 42ff. Vgl. B. Havränek, IJkoly spisovnäio jazyka a jeho kultura; russ. Übersetzung in: PraZskij lingvistiCeskij kruiok. Sostavlenie, redakcija i predislovie N. A. KondraSova. Moskva 1967, S. 338-377, bes. S. 354ff.

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lisiert sich die ästhetische Funktion des Textes; das »Wie« der S p r a c h g e s t a l t (die nicht nur »Form« ist!) ist eine wesentliche Komponente bei der Erzeugung des ästhetischen Effektes, der nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf das Gefühl des Lesers gerichtet ist. Von besonderer Bedeutung ist das Prinzip der P o l y v a l e n z , das vor allem die gebundene Sprache der Poesie kennzeichnet. Der Leser muß sich den Zusammenklang der polyvalenten Strukturen erarbeiten, manches Detail kann in der Schwebe bleiben - womit die der Grundhaltung des Dichters entsprechende Eindeutigkeit der Gesamtaussage nicht gefährdet zu sein braucht. Der funktionale Stiltyp der schönen Literatur erlaubt die weiteste Auswahl sprachlicher Mittel - jeweils der künstlerischen Absicht untergeordnet; alle anderen funktionalen Stiltypen begrenzen die Auswahlmöglichkeiten stärker. Ist die Frage »künstlerisch geformt oder nicht« zu verneinen, so handelt es sich um den funktionalen Stiltyp der S a c h ρ r ο s a. Hier ließe sich eine weitere binäre Untergliederung vornehmen (Knoten 3) nach der Frage: Dominiert gedanklich-sprachlich die Informationsvermittlung, Erkenntnisvermittlung oder dominiert die Verhaltenssteuerung, die Meinungsbeeinflussung? Wenn hier der Ausdruck >dominieren< gebraucht wird, so soll damit klargestellt werden, daß in der Regel eine Äußerung (auch der »Alltagsrede«, hier fehlt nur die bewußte Sprachgestaltung) - sowohl »informiert« als auch »steuert«. Aber die Proportionen der beiden Faktoren - und damit, was für uns entscheidend ist, die Auswahl der sprachlichen Mittel bei der Realisierung - sind unterschiedlich. In ähnlicher Weise spricht L. Dole Μ von einem »Erkenntnisstil« und einem »Direktivstil« (neben »Konversationsstil« und »künstlerischem Stil«, ausgehend von vier »funktionellen Kommunikationskreisen« - also von einem anderen Ausgangspunkt).15 Der erste Fall begegnet wohl am eindeutigsten in wissenschaftlichen Texten (D). Der zweite Fall betrifft den nichtwissenschaftlichen Bereich der Sachprosa (C), wofür ein zusammenfassender Terminus noch zu finden wäre (vielleicht Dolezels »Direktivstil«). Wenn wir das Adjektiv »nichtwissenschaftlich« gebrauchen, so heißt das nicht »unwissenschaftlich«. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa zur Leitung von Produktionsprozessen oder zur Bewußtseinsbildung des Menschen muß nichts »Unwissenschaftliches« an sich haben, aber sprachliche Äußerungen mit einer derartigen Funktion sind anders aufgebaut als solche, die wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln oder gewinnen.16 Im wissenschaftlichen 15

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Vgl. L. Doleiel, Zur statistischen Theorie der Dichtersprache, in: Mathematik und Dichtung, München 1965, S. 275 bis 293, bes. S. 284f. Vgl. dazu die Definition von »Wissenschaft« im Lehrbuch der marxistischen Philosophie, Berlin 1967, S. 619: »... höchste Form der theoretischen Tätigkeit des Menschen ... das

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Text muß z.B. Schritt für Schritt die N a c h p r ü f b a r k e i t gewährleistet sein. Natürlich gibt es dann Unterschiede, je nachdem, ob es sich um die Darbietung von Fakten, die Erörterung von Hypothesen oder den Aufbau von Theorien handelt. Das Lehrbuch und die populärwissenschaftliche Darstellung sind besondere »Gebrauchsformen« des funktionalen Stiltyps der Wissenschaft, stehen aber nicht außerhalb dieses Stiltyps. Was den Kommunikationsbereich betrifft, der vielfach unter der Sammelbezeichnung »Publizistik und Presse« zusammengefaßt wird, so begegnen hier Äußerungen b e i d e r funktionaler Stiltypen der Sachprosa (und - seltener allerdings - darüber hinaus auch des funktionalen Stiltyps der Belletristik). In manchen Genres dominiert die Vermittlung von Informationen (die als solche natürlich stets auch meinungsbildend und -beeinflussend wirkt), in anderen die Verhaltenssteuerung, wobei die Grenzen in der Praxis sehr fließend sind. Wir halten es deshalb nicht für angebracht, von e i n e m funktionalen Stiltyp der Presse und Publizistik zu sprechen. Das übersprachliche Ziel der Meinungsbildung wird auf zu heterogene Weise gedanklichsprachlicher Wechselwirkung angestrebt, vom Feuilleton über die Film- und Theaterkritik bis zur Nachricht, dem Kommentar und dem populärwissenschaftlichen Bericht. Aber wenn man sich über das Wesen der Sprachverwendung in der Presse und Publizistik klar ist, so braucht die Frage, ob man nun dafür einen besonderen funktionalen Stiltyp anzusetzen hat oder nicht, die Gemüter nicht zu erhitzen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf K. Sommerfeldt, den die Untersuchung der Substantivgnippe in Texten ganz verschiedenen Charakters zu der Erkenntnis führte, daß in der Presse und Publizistik eine außerordentlich große Streuung auftritt. Er wirft deshalb die Frage auf, »ob man bei solchen starken Abweichungen ... von e i n e m funktionalen Stil sprechen kann.«17 Ausgeprägt ist die Funktion der Verhaltenssteuerung in vielen Äußerungen des Amts- und Verwaltungsverkehrs, bei Gesetzes- und Verordnungstexten usw. Hervorstechendstes Merkmal ist die absolute Eindeutigkeit und Genauigkeit - auf Kosten ästhetischer und anderer für diesen Zweck sekundärer Gesichtspunkte. Deshalb ist die ästhetische Ausdrucksvariation, die Sucht, sogenannte »allgemeine« Wörter wie durchßhren oder erfolgen zu vermeiden usw., hier nicht angebracht. Kennzeichnend für unsere algorithmisch angelegte funktionalstilistische Typisierung ist die H i e r a r c h i e der differenzierenden Faktoren.

17

aus der Praxis erwachsende, sich ständig entwickelnde System der Erkenntnisse über die Gesetze der Natur, der Gesellschaft und des Denkens ...« K.-E. Sommerfeldt, Zur Struktur der Substantivgruppe in einigen funktionalen Stilen. In: Deutsch als Fremdsprache 5, 1968, S. 287-295, bes. S. 293.

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>SpontaneitätNichtspontaneität< (o.ä.) ist allen anderen übergeordnet. Das ist von prinzipieller Bedeutung auch für die praktische Anwendung unserer Erkenntnisse über die funktionalstilistische Differenzierung. Der spontane Sprachgebrauch, wie er z.B. die Alltagsrede kennzeichnet, muß nicht gründlich »gelehrt« werden.18 Seine Besonderheiten ergeben sich sozusagen »von selbst«. Erforderlich ist es allerdings, daß sich der Lehrer über diese Besonderheiten klar ist und nicht Ansprüche stellt, die aus anderen funktionalen Stiltypen genommen sind und hier gar nicht eingehalten werden k ö n n e n ! 1 9 Alle anderen funktionalen Stiltypen sind in höherem Maße zu lehren, da ihnen eben bewußter Sprachgebrauch zugrunde liegt. Unter ihnen nimmt der funktionale Stiltyp der Belletristik eine Sonderstellung ein, die es erlaubt - oder besser: erfordert - , ihn auf der nächsten Stufe unseres Algorithmus auszugliedern. Und zwar aus folgendem Grund: Er läßt die stärksten Möglichkeiten individueller Gestaltung - bis zur Durchbrechung bestimmter semantisch-grammatischer Normen - nicht nur zu, sondern sie sind mit seinen Hauptfunktionen als Wesenselement verknüpft. Allerdings ist eine optimale individuelle Gestaltung nur möglich, wenn die funktionalstilistischen Grundlagen beherrscht werden. So konzentriert sich die funktionalstilistische Lehre auf die S a c h p r o s a, innerhalb deren wir - nun auf letzter Stufe - die informierende und die verhaltenssteuernde Komponente unterscheiden. Die Unterscheidung von »praktischem Sachstil«20 und »wissenschaftlichem Sachstil« oder »Sprache des Wissenschaftlers« und »Sprache des Praktikers«, von »Wissenschaftssprache« und »Werkstattsprache«21 ist auf der Ebene einer ersten Grobklassifizierung funktionaler Stiltypen nicht angebracht und trifft nicht ganz den Kern der Sache. Diese »Sprache des Praktikers« trägt entweder die Züge der Alltagsrede (z.B. das Gespräch zweier Monteure bei der Reparatur eines Fahrzeuges), lediglich durchsetzt mit Termini und Fachjargonismen, oder Züge der nichtwissenschaftlichen 18

19

20

21

Mit dieser Feststellung, die sich auf die wesentlichen funktional-stilistischen Besonderheiten bezieht, wird natürlich nicht bestritten, da£ in der Schule die mündliche Ausdrucksfähigkeit ständig entwickelt werden muB, d.h. der Schüler befähigt werden muß, folgerichtig zusammenhängende Gedanken, ohne sie zu Papier gebracht zu haben, mündlich zu äußern, und daß schließlich auch im mündlichen Sprachgebrauch bestimmte Regeln - bis hin zur einwandfreien phonetischen Realisierung - beherrscht werden müssen. Dazu gehört gegebenenfalls auch, daß einem Schüler die Neigung abgewöhnt wird, den Stil eines geschriebenen Textes mündlich nachzuahmen - eine Neigung, die etwas Unnatürliches darstellt und beim Schüler nur als Reaktion auf einseitige und falsche Hinweise entstehen kann. E. Beneä, Zur Typologie der Stilgattungen der wissenschaftlichen Prosa, in: Deutsch als Fremdsprache 6, 1969, S. 225-233, bes. S. 226. H. Ischreyt, Sprachwandel durch die Technik. In: Wirkendes Wort 18, 1968, S. 76.

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Sachprosa (z.B. eine Eingabe an die Betriebsleitung) oder sie ist schließlich - bei Dominanz der Erkenntnisvermittlung in bewußter Sprachgestaltung dem funktionalen Stiltyp der Wissenschaft zuzuordnen. Die Verwendung einzelner Fachausdrücke in einer sprachlichen Äußerung reicht nicht aus, um einen besonderen funktionalen Stiltyp zu konstituieren. Im übrigen ist der größte Teil aller unserer Äußerungen in irgendeiner Weise »fachbezogen«. Solche »fachbezogenen« Äußerungen gibt es im Alltagsgespräch wie in der Belletristik, in wissenschaftlicher wie nichtwissenschaftlicher Sachprosa. Die K o m m u n i k a t i o n s f o r m (das Medium der Mitteilung), also die Tatsache der mündlichen oder schriftlichen Kommunikation, beeinflußt ebenfalls den Stil einer Äußerung. Sie läßt sich aber nicht ohne weiteres unter die bisher erörterten funktionalen Stiltypen subsumieren, sondern bildet eine neue Matrize, die über die funktionalen Stiltypen zu legen ist. Bestimmte Gesetzmäßigkeiten oraler Kommunikation wirken sich innerhalb aller funktionalen Stiltypen aus, die die orale Kommunikation kennen: hohe Frequenz redundanter Formen (als förderliche Redundanz dem Schutz gegen Informationsverlust dienend); niedrige Frequenz attributiver Teile in Form von Block- oder Reihenbildung (dafür Bevorzugung selbständiger, auch attributiver Satzabschnitte); lockere Fügungsweise (bedingt durch die sukzessive Entwicklung des Gedankens und die Tendenz zur Redundanz«; Ch. Leska). Weitere Differenzierungen zeigen sich etwa in der fast ausschließlich schriftlichen bzw. mündlichen Verwendung bestimmter Konjunktionen: schriftlich - wenngleich, obwohl, indem, da; mündlich - wie wenn, als wenn, wo (temp.) wie (temp.) usw. 22 Selbstverständlich ist zu bedenken, daß zwischen geschriebener und gesprochener Form der Mitteilung ein abgestuftes Verhältnis besteht: nicht nur monologisch/dialogisch, sondern: Vortrag auf Grund schriftlicher (mehr oder weniger ausführlicher) Vorlage vor kleinem oder großem Zuhörerkreis; Streitgespräch intern/bei Verbreitung durch Massenkommunikationsmittel; Diskussionsbeitrag usw. Völlig freie mündliche Äußerung ist in der Regel auf den spontanen Sprachgebrauch der Alltagsrede beschränkt. Deshalb zeigen sich hier die obligatorischen Gesetzmäßigkeiten der mündlichen Kommunikation auch am deutlichsten. Zwischenstufen besonderer Art sind u.a. etwa die Sprache des Lehrers im Unterricht oder die mündliche Sportberichterstattung (Fußball, Eishokkey u.ä.). Eine Kommunikationssituation wie die letztgenannte ist nicht mit 22

Vgl. dazu ausführlicher Ch. Leska, Vergleichende Untersuchungen zur Frequenz, statistischen Verteilung und Korrelation syntaktischer Erscheinungen gesprochener und geschriebener Sprache. Diss. Leipzig 1966 (Masch.).

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dem spontanen freien Sprachgebrauch der Alltagsrede gleichzusetzen. Es handelt sich um Massenkommunikation, nicht interpersonale; ferner liegt eine stark typisierte, stereotype außersprachliche Situation vor, und schließlich wird die sprachliche Äußerung nur von wenigen, besonders trainierten Sprechern abgegeben. Der funktionale Stiltyp der schönen Literatur kennt die mündliche Kommunikationsform heute nur als Reproduktion (auch im Drama ist Geschriebenes als mündliche Äußerung stilisiert). Die mündliche Kommunikation spiegelt die Unterschiede in den funktionalen Stiltypen wider, indem etwa der Vortrag eines wissenschaftlichen Textes in bezug auf Rhythmus und Intonation anders erfolgt als eine aufrüttelnde politische Rede oder als der mündliche Vortrag belletristischer Werke. Im Zusammenhang mit der vorgetragenen Ansicht über die funktionalstilistische Differenzierung ist auch ein - kurzes - Wort über den Gebrauch des Terminus »Fachsprache« zu sagen, womit entweder Fach W o r t s c h a t z oder Fach s t i 1 gemeint ist »Fachstil« entspricht dem funktionalen Stiltyp der Wissenschaft, so daß der Terminus uns im Grunde als überflüssig erscheint. Es ist u.E. kein Grund vorhanden, »Fachsprache« aus der Differenzierung der funktionalen Stiltypen herauszuhalten mit der Begründung, die Terminologie stelle »keine Auswahl aus gemeinsprachlichen Mitteln« dar. 23 In einer wissenschaftlichen Äußerung ist durch die Notwendigkeit terminologisch gebundener Ausdrucksweise in besonders hohem Grad (grundsätzlich gibt es ja terminologisch gebundene Ausdrucksweise auch außerhalb wissenschaftlicher Äußerungen) die synonymische Variation im Sprachgebrauch eingeschränkt, aber nicht unmöglich gemacht. Diese Einschränkung ist ein Merkmal des funktionalen Stiltyps der Wissenschaft, zwingt aber nicht zu einer Trennung dieses Stiltyps von der »Fachsprache«. Es kann auch nicht jeder Wissenschaft, jedem Wissenschaftszweig eine besondere »Fachsprache« zugeordnet werden (wohl aber natürlich seine Terminologie, sein Fachwortschatz). Das wäre nur möglich, wenn eine »Fachsprache der Chemie« oder »Fachsprache der Medizin« usw. über den charakteristischen Wortschatz hinaus (der außer der Teiminologie im engeren Sinn noch standardisierte, klischeehafte lexikalische Elemente anderen Charakters umfassen kann) spezielle, nur ihr eigene stilistische Eigenheiten syntaktischer und morphologischer Art in relevanter Zahl aufwiese. Das ist für das Deutsche bisher nicht überzeugend nachgewiesen. Der Terminus »Fachsprache« erweist sich bei näherem Durchdenken unserer funktionalstilistischen Differenzierung also als recht problematisch.24 23

24

Vgl. W. Schmidt u. J. Scherzberg, Fachsprachen und Gemeinsprache. In: Sprachpflege 17, 1968, S. 65-74, bes. S. 67. E. Beneä, a.a.O.

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Wichtiger ist m.E., innerhalb des funktionalen Stiltyps der Wissenschaft - wie überhaupt der funktionalen Stiltypen - zu S u b k l a s s i f i z i e r u n g e n zu kommen, wie sie etwa von E. Bene 5 skizziert werden.25 Er verwendet folgende Kriterien zur Subklassifizierung des wissenschaftlichen funktionalen Stiltyps 1. Kommunikationsbereich bzw. Themenkreis (verschiedene Wissenschaftszweige), wobei auf »Strukturunterschiede« zwischen den Einzelwissenschaften hingewiesen wird (Mathematik - Archäologie): »Je mehr in einer Disziplin die subjektive Wertung und Darstellung eine Rolle spielt, desto weniger kommen die typischen Elemente des wissenschaftlichen Stils zur Geltung«.26 Diese Feststellung halte ich für problematisch. Sie liegt zu sehr auf der Linie der an anderer Stelle von Bene 3 gefundenen Formulierung, der wissenschaftliche Funktionalstil sei eine »unpersönliche Standardsprache«.27 Hier sind bestimmte Kommunikationssituationen (Gebrauchsformen) zu stark verabsolutiert (etwa die Beschreibung der Vorgänge in einem Explosionsmotor für ein Physiklehrbuch o.a.). Aber mit solchen Beschreibungen erschöpft sich doch nicht der Gebrauch der Sprache in der Wissenschaft. Man kann m.E. nicht pauschal von einer »unpersönlichen Standardsprache« sprechen. Es gibt ganz bestimmte subjektive Komponenten, und zwar nicht zufälliger- oder ungerechtfertigterweise, die irgendwie »entschuldigt« werden müßten, sondern notwendigerweise.28 Begründete, nachvollziehbare Bewertung und Stellungnahme, individuelle, subjektive Hypothesen und schöpferische Phantasie gehören zur Wissenschaft und drücken sich auch im Stil des Wissenschaftlers aus. Das ist nicht dasselbe wie verschwommene Emotionalität, Unklarheit und mangelnde Präzision. Trotzdem soll nicht in Abrede gestellt werden, daß sich außersprachliche Unterschiede zwischen Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften in der funktionalstilistischen Subklassifizierung niederschlagen können. 2. Als zweites Kriterium verwendet BeneS den »Fachlichkeitsgrad« der Texte und den Charakter der Einstellung zum Empfänger und gliedert da-

25 26 27

28

Ebenda. Ebenda, S. 227. Vgl. E. BeneS, Syntaktische Besonderheiten der deutschen wissenschaftlichen Fachsprache. In: Deutsch als Fremdsprache 3, 1966, H. 3, S. 26-36, bes. S. 27. - E. BeneS sieht den Gebrauch dieser Standardsprache »besonders in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern«. Näheres dazu W. Fleischer, Zur stilistischen Charakterisierung wissenschaftlicher Texte in der deutschen Gegenwartssprache. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden (1970), S. 317-323.

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nach aus z.B. den Forscherstil, den Stil des Lehrbuchs, des Nachschlagewerks usw. Hier läßt sich u.E. auch der Terminus der »Gebrauchsformen« verwenden. 3. Das dritte Kriterium ist die Mitteilungsform (gesprochen - geschrieben). Dazu s.o. 4. Schließlich subklassifiziert BeneS nach der Art der »Stoffbehandlung« (»Darstellungsarten«), wobei sich eine gewisse Berührung mit 2. ergibt. Wenn man das dritte Kriterium ausklammert, da - wie bereits gesagt die Mitteilungsart generell als gesonderte Matrize über die funktionalstilistische Differenzierung zu legen ist, so lassen sich die übrigen Kriterien mit entsprechenden Gliederungsgesichtspunkten auch der anderen funktionalen Stiltypen auf einen Nenner bringen. Die Subtypen weisen (1) gattungsbedingte und (2) situationsbedingte funktionalstilistische Besonderheiten auf. Damit sind nicht individuelle Varianten gemeint, sondern gesellschaftlich bedingte Strukturbesonderheiten von Textgruppen bzw. Subtypen.29 Hier sind auch die sprachpragmatischen Faktoren und die ideologische Komponente einbezogen, soweit sie einerseits typenbildenden Charakter hat und soweit sie andererseits nicht bereits - wie die ideologische Prägung bestimmter lexikalischer Elemente - Angelegenheit des Sprachsystems ist. G a t t u n g s b e d i n g t e Unterschiede (Gebrauchsformen) führen z.B. zu funktionalstilistischen Subdifferenzierungen - innerhalb des funktionalen Stiltyps der Wissenschaft - zwischen Monographie mit Erarbeitung neuer Erkennmisse einerseits und Lehrbuch andererseits (s.o.). S i t u a t i o n s b e d i n g t e Unterschiede innerhalb des Subtyps wissenschaftliche Kritik< (Rezension o.ä.) führen zu funktionalstilistischen Subdifferenzierungen z.B. folgender Art, nach folgenden Klassen von Kommunikationssituationen: (1) Kritik mündlich; Verfasser des kritisierten wissenschaftlichen Textes ist anwesend. Interpersonale Kommunikation, kleinster Kreis. (2) Kritik schriftlich als Gutachten einer Dissertation. (3) Kritik schriftlich als Rezension in einer Fachzeitschrift. (4) Kritik mündlich als Diskussionsbeitrag auf einer Tagung. Es handelt sich hier vorläufig nur um einige Andeutungen. Gerade im Hinblick auf die Subdifferenzierung ist die meiste Arbeit noch zu leisten. Aus der Einsicht in die funktionalstilistische Differenzierung der Norm der deutschen Nationalsprache ergeben sich entscheidende Konsequenzen für die wissenschaftliche Sprachpflege und die Bemühungen um die Verbesserung der Sprachkultur. Hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit die Not29

Vgl. Μ. N. Koiina, a.a.O., S. 179.

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wendigkeit einer praktischen Nutzanwendung der funktionalen Stilistik. Es ist unzulässig, Äußerungen eines funktionalen Stiltyps mit den Maßstäben eines anderen funktionalen Stiltyps zu messen. Es ist ebenso unzulässig, von »gutem Deutsch« schlechthin - ohne funktionalstilistische Markierung - zu sprechen. Man kann - bewußt überspitzend - viele der herkömmlichen und bis heute in allen möglichen Stilfibeln zu findenden Regeln undifferenzierter und deshalb - das muß nachdrücklich betont werden - letzten Endes unwissenschaftlicher Sprachpflege umkehren, wenn man sie funktionalstilistisch relativiert. So etwa: 1. Gebrauche das Fremdwort, auch wenn es ein heimisches Äquivalent gibt (als Terminus ist ein Fremdwort meist einem heimischen Wort vorzuziehen; vgl. etwa die medizinischen Termini für Körperteile und Körperfunktionen). 2. Gebrauche den allgemeinen, nicht den speziellen Ausdruck (nett, interessant im Alltagsgespräch über den letzten Film oder den Besuch bei Familie Müller, zeitsparend und rationell, für die Gattungs- und Situationsspezifik ausreichend). 3. Reichere den Text durch eine größere Zahl redundanter Formen und Wendungen an und vermeide zu stark konzentrierten Ausdruck (mündlicher Vortrag, Vorlesungen). 4. Unterdrücke so viel wie möglich das finite Verb und beschränke dich weitgehend auf nominalen Ausdruck (Lexikon, Gebrauchsanweisungen, Kurzfassung des Wetterberichts u.a.). 5. Variiere im Ausdruck so wenig wie möglich. Verwende für ein Denotat stets dieselbe Benennung (Gebrauch wissenschaftlicher Terminologie). Die Aufzählung solcher - wie gesagt absichtlich zugespitzter - Regeln ließe sich fortsetzen. Die genannten reichen aus, um klar zu machen, worauf es ankommt. Für alle Kommunikationssituationen ist eine der wichtigsten sprachlichen Voraussetzungen die Fähigkeit zu funktionalstilistisch differenzierter Auswahl der sprachlichen Mittel. Dazu gehört auch die Einsicht in sprachpragmatische Gesetzmäßigkeiten und in die Notwendigkeit des logischen Aufbaues eines Textes. Darauf hat sich die Sprachpflege beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu konzentrieren. Denken und Sprache hängen bekanntlich eng zusammen. Wer die Sprache nur als bloße äußere »Form« betrachtet - in der Meinung, es komme demgegenüber doch vor allem auf die Gedanken, auf den Inhalt an - , vertritt einen unmarxistischen Standpunkt, isoliert in unzulässiger Weise den Gedanken von seiner materiellen Realisation, in der allein er für den Kommunikationspartner faßbar wird. In diesem Sinn muß die Wissenschaft von der Muttersprache Elemente einer Leitungswissenschaft gewinnen. 131

Zur stilistischen Charakterisierung wissenschaftlicher Texte in der deutschen Gegenwartssprache

1.1. Wie strittig auch immer der Stand der Diskussion um die funktionalstilistische Differenzierung der Schriftsprache (auch: Literatursprache, des sprachlichen Standards) noch sein mag,1 so besteht doch darin Übereinstimmung, daß sprachliche Äußerungen wissenschaftlichen Charakters in der Verwendungsweise sprachlicher Mittel Besonderheiten zeigen, die eine terminologische Fixierung als >Funktionalstil der Wissenschaft o.ä. (darüber noch unten) verlangen.2 Wir möchten uns im folgenden einigen damit zusammenhängenden Fragen zuwenden, ohne selbstverständlich das Problem hier erschöpfend behandeln zu können. Es erscheint zweckmäßig, vorher ein - als Diskussionsbeitrag aufzufassendes - kurzes Wort über den Ort dieses >Funktionalstils der Wissenschaft im System der funktionalstilistischen Differenzierung, wie es sich dem Verfasser gegenwärtig darstellt, zu sagen. Wir möchten dabei zunächst nicht von außersprachlichen Kommunikationsbereichen als Klassifikationskriterien ausgehen, sondern von typischen Merkmalen in der Gestaltung sprachlicher Äußerungen. Sie können statistisch ermittelt werden und erlauben die Zusammenfassung zu funktionalen Stiltypen. 1.2. In Erörterung der Frage, ob es »so etwas wie >Stil als Languecuprum< über Gallien mit der rheinischen Messingindustrie verbinden darf oder wird man am ehesten aus dem älteren Niederländischen herleiten oder den Konstruktionen mit es scheint, es ist möglich, es ist schwer zu sagen, ob ... und endlich sehr vorsichtigen, fast tastenden Aussagen wie: ... wobei allerdings die Möglichkeit jüngerer Kürzung nicht aus dem Auge zu verlieren ist (die Beispiele nach [13, S. llff.]). Dazu treten noch Einschränkungen durch Modalpartikeln wie wohl, vielleicht, offenbar und die Möglichkeiten der Abstufungen durch Modalverben: Der gewaltige Mittelblock ... muß dabei eine besondere Rolle gespielt haben. - Von hier mag sie ihren Ausgangspunkt genommen haben [13, S. 10, 12]. Auch hier stellen wir zwei in dieser Hinsicht grundverschiedene Texte nebeneinander. Text I: » E s i s t n i c h t a n z u n e h m e n , daß der Gau Engilin den ursprünglichen Gesamtraum anglischer Siedlung umfaßt hat. Der Name k ö n n t e sich auf ein Teilgebiet zurückgezogen haben ... In die Geschichte des altthüringischen Reiches gehören d o c h w o h l auch die ersten Träger der Ortsnamen auf -leben ... Daß das Altthüringische vor 531 reines Nordseegermanisch gewesen ist, ist d u r c h a u s nicht w a h r s c h e i n - l i e h . ... Daß dies Altthüringische ... von den Sachsen einfach vernichtet und ausgerottet worden ist, v e r m a g i c h n i c h t z u g 1 a u b e n.« [7, S. 75f.] Text II: »Mit dem Einbruch der Franken s t ü r z t die Römerherrschaft am Rhein und in Gallien endgültig zusammen. Seit dem Vorbruch der Sachsen in die östlichen Niederlande, um 300, s i n d die Franken gegen Süden in B e w e g u n g . Damit w i r d ein neuer Abschnitt der westeuropäischen Sprachgebiete eingeleitet... [17, S. 30].

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Auch hier bedeutet die Unterscheidung noch nicht ohne weiteres ein Werturteil, das sich erst nach gründlicher Auswertung größerer Textkomplexe bilden läßt. Auch die Statistik reicht dann noch nicht aus, denn es »braucht die Verwendung der einschränkenden Adverbien nicht stets ein Zeichen von Unkenntnis, Schwäche, Leisetreterei oder gar Feigheit zu sein, sie kann auch der Ausdruck echter Bescheidenheit sein oder der peinlichen Gewissenhaftigkeit eines Menschen, der zu viel Einsicht in alle Gründe und Gegenstände hat, als daß er sich auf eine einseitige Meinung ohne Vorbehalt festlegen könnte.« [48, S. 282] Allerdings gibt es hier Grenzen, die sich bei komplexer Analyse des Textganzen ermitteln lassen. Durch Modalwörter, die Wahl bestimmter Verben u.ä. kann auch noch die subjektive Anteilnahme des Verfassers an seinen Ausführungen zum Ausdruck gebracht werden: Eine alte Südgrenze der p-Form läßt sich l e ide r nicht mehr gewinnen (Beleg nach [13, S. 10]). 5. Wir brechen unsere Bemerkungen hier ab. Es war unser Bestreben, deutlich zu machen, daß in der differenzierenden Erforschung des funktionalen Stiltyps der Wissenschaft noch viel zu tun ist. Jedenfalls kann man nicht pauschal von einer »unpersönlichen Standardsprache« sprechen. Es gibt ganz bestimmte subjektive Komponenten, und zwar nicht zufalligeroder ungerechtfertigterweise, sondern notwendigerweise. Begründete, nachvollziehbare Bewertung und Stellungnahme, Hypothesen und schöpferische Phantasie gehören zur Wissenschaft und drücken sich auch in der Sprache des Wissenschaftlers aus. Das ist nicht dasselbe wie verschwommene Emotionalität, Unklarheit und mangelnde Präzision. Die sprachlichen Mittel sind differenziert zu handhaben, und die Germanistik kann und wird auch in dieser Hinsicht einen Beitrag als Leitungswissenschaft leisten.

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Über Möglichkeiten und Grenzen linguistischer Untersuchung literarischer Werke*

»Ein Gedicht ist wie jedes andere Objekt dieser Welt ein Gegenstand auch der Wissenschaft, doch man darf eine Dichtung nicht so befragen, als ob sie eine wissenschaftliche Aussage sei.« (F. Fühmann, >Erfahningen und WidersprücheBotschaft< ist ... nicht ... die Konsequenz ihrer besonderen sprachlichen Strukturiertheit, sondern diese ist vielmehr ihrerseits die adäquate Umsetzung der Spezifik und der Polyfunktionalität dieser Botschaft« (R. Schober, Zum Problem der literarischen Wertung. In: Weimarer Beiträge 7/1973, S. 30) Vgl. auch Gesellschaft Literatur - Lesen, a.a.O. S. 335. R. Kirsch, Das Wort und seine Strahlung. Über Poesie und ihre Übersetzung, Berlin und Weimar 1976, S. 26.

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punkt, für den Linguisten ist es ein besonderer Fall der Sprachverwendung; die Sprache literarischer Texte ist »nur ein schmaler Streifen im Spektrum der Sprache.«18 Ein weiterer Unterschied liegt in der Betrachtungsweise, in der Aufgabenstellung: Der Literaturwissenschaftler untersucht das Werk unter Verarbeitung aller wesentlichen ästhetischen, ideologischen usw. Komponenten. »Wissenschaftliches Studium literarischer Erscheinungen schließt die analytische Betrachtung ihrer Struktur, die Erarbeitung eines Systems von Begriffen und Kategorien ein, die den Eigenschaften und der Spezifik der Kunstwerke gerecht werden und auf bestimmte Kennzeichen des literarischen Prozesses hinweisen ...« Sie sollen »über Besonderheiten der literarischen Erscheinungen Aufschluß bieten. Sie sollen helfen, deren Aufbau, historische Entwicklung und sozialethische Funktion zu begreifen.« 19 Die Zuständigkeit des Linguisten erstreckt sich dagegen »lediglich« auf die Handhabung der Sprache. Diese darf freilich nicht in isolierender Weise untersucht werden, und zwar in zweierlei Hinsicht nicht: nicht isolierend im Hinblick auf andere Aspekte der Struktur des Kunstwerkes und nicht isolierend im Hinblick auf das gesamtsprachliche System und andere, nichtkünstlerische Verwendungen der Sprache. Der Linguist ist offensichtlich in höherem Maße einzelsprachlich gebunden als der Literaturwissenschaftler, dessen Fragestellungen und Probleme wohl vielfach über die einzelne Nationalliteratur in einer bestimmten Nationalsprache hinausweisen. Und nicht nur das: Der Literaturwissenschaftler bringt unter Umständen das literarische Werk in Zusammenhang mit anderen Künsten (Musik, Malerei). Er ist Kunstwissenschaftler, der Linguist dagegen nicht Aber beide treffen sich in der Arbeit am literarischen Text. Literaturwissenschaftler, die den Nutzen linguistischer Arbeit für ihre Aufgabenstellungen leugnen, halten wohl »die Inkompetenz in poetischen Fragen mancher engstirniger Linguisten fälschlicherweise für die Unangemessenheit der linguistischen Wissenschaft selbst.«20 Die sprachlichen Mittel des literarischen Werkes sind in ein »zweiseitiges Bezugsgefüge eingebettet...«, das gegeben ist »durch die semantische Relation der sprachlichen Mittel als Systemelement einer natürlichen Sprache und durch ihre semantische Relation als Systemelemente des sprachli18 19 20

Vgl. A. Berger, a.a.O. S. 1. M. Chraptschenko, a.a.O. S. 90. R. Jakobson, Linguistik und Poetik, 1961; wieder abgedr. bei J. Ihwe, a.A. 13 a.O., S. 142-178, bes. S. 178. Jakobson spitzt seine Ansicht zu der Formulierung zu, »daS sowohl ein Linguist, der taub ist für die poetische Funktion der Sprache, ebenso wie ein Literaturforscher, dem linguistische Fragen gleichgültig sind und der linguistische Methoden nicht kennt, krasse Anachronismen sind«. (S. 178)

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chen Kunstwerks, das seine Gesamtbedeutung mit Hilfe der Teilbedeutungen seiner Stufen, Schichten und Elemente konstituiert.«21 Die Sprache schafft »den Intonationsaufbau des Werkes ..., ohne den keine andere Stilkomponente zur Geltung gelangt«, und gleichzeitig »bewährt« sie sich »als Mittel der Figurengestaltung.«22 Das literarische Werk besitzt auf diese Weise einerseits seinen besonderen künstlerischen (literarischen) Stil wie jedes Kunstwerk und andererseits seinen sprachlichen Stil wie jede - auch nicht-künstlerische - sprachliche Äußerung. Aber der Sprachstil ist nicht ein »Bestandteil« des literarischen Stils, mit anderen auf einer Ebene stehend, sondern in ihm spiegeln sich »als eigentümlicher und geschlossener Organisation der sprachlichen Ebene des literarischen Werkes ... die spezifischen Züge des literarischen Stils« wider.23 Mit der Zurückweisung, »ein Gebilde der Dichtung zu befragen, als ob es eine wissenschaftliche Widerspiegelung wäre«,24 ist darauf verwiesen, daß die unmittelbare sprachlich vermittelte gedankliche »Information«25 nicht das Wesen des Literarisch-Künstlerischen erschöpft.26 Die Kenntnis historischer, politischer usw. Fakten ist nicht selten eine Voraussetzung, um das literarische Kunstwerk überhaupt erfassen und genießen zu können. Man denke z.B. an Brechts Gedicht >Der große Oktober. Zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution und vergleiche es mit der knappen Faktendarstellung in der >Weltgeschichte in Daten< oder der emotional betonten Darstellung in den Thesen des ZK der KPdSU zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution.27 Die »über das unmittelbar Benannte hinausweisenden Bedeutungen«28 können zwar auch in nichtkünstlerischen Äußerungen am kommunikativen Effekt mitbeteiligt sein, sind aber im künstlerischen Werk notwendiges Struk-

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W. Spiewok, Zur ästhetischen Funktion der Sprache. In: Weimarer Beiträge 4/1972, S. 113. M. Chraptschenko, a.a.O. S. 137. L. Doleiel, K. Hausenblas, a.a.O. S. 48. F. Fühmann, Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur, Rostock, 1975, S. 214. Dabei ist zu bedenken, dafi der Informationsbegriff außerordentlich problematisch ist; vgl. z.B. ö . Dahl, What is new information? In: Reports on Text Linguistics. Approaches to Word Order. Edited by N.E. Enkvist and V. Kohonen, Abo 1976, S. 37-49. Vgl. z.B. F. Fühmann, a.a.O. S. 153ff. am Beispiel von M. Claudius, >Abendliedtätige Subjekt«^ 34 29

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Vgl. W. Mötsch, Sprache als Handlungsinstrument. In: Linguistische Studien (Zentralinstitut f. Sprachwissenschaft der Akademie der Wiss. der DDR) 19, 1975, S. 21. Vgl. Gesellschaft - Literatur - Lesen, a.a.O. S. 326. Ebenda S. 322. - Über die »Intensivierung« sprachlicher Mittel ebenda S. 60. Ebenda S. 46. Vgl. R. Kirsch, a.A. 17 a.O. S. 78ff. Gesellschaft - Literatur - Lesen, a.a.O. S. 83ff. - Vgl. auch R. Schober, a.a.O. S. 29: »Die Kunstrezeption ist kein passives Aufnehmen, sondern ein aktives Mithandeln.« Ferner ebenda S. 34f. mit Hinweis auf die Notwendigkeit »der Ausbildung der rezeptiven

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Aus dem bisher zur Kennzeichnung der Sprachverwendung im literarischen Werk Gesagten ergeben sich Unterschiede auch in der Zielstellung linguostilistischer Untersuchungen gegenüber Texten anderen funktionalstilistischen Charakters.35 Gehen wir - in grober Vereinfachung - aus von den drei großen Bereichen der Sachprosa (wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Kommunikation, Presse und Publizistik, Amtsverkehr), des Alltagsverkehrs (Alltagsrede) und der künstlerisch-literarischen Kommunikation. Was die Sachprosa betrifft, so dürfte ein über die Linguistik selbst hinausweisender »praxisorientierter« Hauptzweck stilistischer Untersuchungen darin bestehen, daß durch die Analyse Kriterien gefunden werden für die effektive Gestaltung derartiger Texte (in Abhängigkeit von unterschiedlichen Kommunikationsaufgaben) und diese Kriterien lehrbar gemacht werden. Der »Anteil« der sprachlichen Gestaltung an der erfolgreichen und wirkungsvollen Kommunikation soll ins Bewußtsein gehoben werden. 36 Einen besonderen Fall stellen die Herausarbeitung des Zusammenhangs von Sprachverwendung und Ideologie und die Aufdeckung sprachlicher Mechanismen der Manipulation des Lesers bzw. Hörers dar. 37 Erst in zweiter oder dritter Linie wird es auch darum gehen, individuelle Züge in der Sprachverwendung eines Wissenschaftlers oder Publizisten herauszuarbeiten, wie das beispielsweise H. Kolb in seinem Nekrolog auf Th. Frings getan hat. 38 Die sprachlich-stilistische Charakterisierung von Äußerungen des Alltagsverkehrs ist in anderer Weise praxisorientiert. Es geht sicherlich weniger darum, daraus Konsequenzen für die effektive Gestaltung derartiger Texte zu ziehen. Es ist vielmehr hervorzuheben, daß typische Stileigentümlichkeiten der Alltagsrede 39 nicht auf die Sachprosa

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Sinne, die nicht nur ein Produkt, sondern auch eine Voraussetzung der Kunstrezeption sind.« Als Aufgabe der Stilistik (Linguostilistik) fassen wir mit V.M. Schirmunski »die funktionale Betrachtung sprachlicher Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendung in gesellschaftlich bedingten Genres mündlicher oder schriftlicher Rede: Alltagsgespräch oder intimer Freundschaftsbrief, wissenschaftliches Werk oder Vorlesung, politische Rede oder publizistischer Artikel, schließlich literarisches Kunstwerk - Poesie oder Prosa.« (Deutsch von mir). So V.M. Zirmunskij, Opyt stilistiCeskoj interpretacii stichotvorenij Gjote (Goethe). In: Voprosy germanskoj filologii Π. Izdatel'stvo Leningradskogo Universiteta 1969, S. 39-70, bes. S. 39. Vgl. dazu W. Fleischer (Hrsg.), Linguistische Untersuchungen zur Sprache der Gesellschaftswissenschaften, Leipzig 1977; ders. (Hrsg.), Sprache - Stil - Ideologie. Beiträge zur Rolle der Sprache bei der BewuBtseinsbildung, Linguistische Studien (Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akad. d. Wiss. d. DDR) 41/1977. Vgl. Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von W. Härtung, Berlin 1974, S. 482ff. H. Kolb, Theodor Frings 23.7.1886 - 6.6.1968. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik II, 1,1970, S. 179-204, bes. S. 197. Vgl. dazu z.B. E. Riesel, Der Stil der deutschen Alltagsrede, Moskva 1964.

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übertragen werden dürfen, weil sie deren stilistischen Normen nicht entsprechen.40 Die stilistische Analyse von Sachprosa und Alltagsrede strebt also nach der Erfassung und Bewußtmachung von stilistischen Nonnen, im weiteren Sinne auch von Normen des kommunikativen Verhaltens überhaupt. Sie bemüht sich dabei um die Erhöhung des Niveaus der Sprachkultur, insbesondere bei der Gestaltung von Texten der Sachprosa durch alle Mitglieder unserer Gesellschaft.41 Derartige Texte werden in der Regel bei entsprechender Sprachbeherrschung und Sachkenntnis ohne zusätzliche »Interpretation« rezipiert. Von Sonderfällen kann dabei abgesehen werden. Anders verhält es sich mit der stilistischen (linguostilistischen) Analyse literarischer Werke, deren volles Verständnis nicht selten zusätzliche Anstrengung, »Interpretation« erfordert, ohne daß es dabei um Informationen geht, deren Erfassung wissenschaftliche oder technische Spezialkenntnisse verlangt 42 Der Hauptzweck der stilistischen Analyse besteht nicht darin, Normen der Sprachverwendung herauszuarbeiten und den Leser zur selbständigen Herstellung derartiger Texte mit hohem Wirkungsgrad zu befähigen. Der Leser soll vielmehr in den Stand gesetzt werden, sich das literarische Werk voll zu erschließen; dazu gehört auch Verständnis und Sensibilität für den ästhetischen Effekt künstlerischer Sprachgestaltung. Dies ist ein anderer Aspekt sprachlicher Aktivität, keineswegs nur deshalb als passives Verhalten zu bezeichnen, weil es nicht um die eigene Abfassung von Texten geht. Das Verarbeiten und Genießen literarischer Werke enthält durchaus ein »schöpferisches« Moment. »Künstlerische Aneignung umfaßt... Aneignung von Realität durch Kunst und Aneignung von Kunst als soziales Organ ... In beider Hinsicht entstehen darin neue ideelle Beziehungen, ästhetische Sensibilisierung und über das Bewußtwerden ein praktisch relevantes Verhältnis.«43 Unter Berücksichtigung des Gesagten lassen sich die Möglichkeiten linguistischer (linguostilistischer) Analyse literarischer Werke in differenzierender Überschau etwa folgendermaßen zusammenfassen: 1. Beitrag zur Beschreibung der literarisch-künstlerischen Kommunikation, zur Erfassung des Wesens, des spezifischen Charakters und der spezifischen 40

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Über die Lehrbarkeit der funktionalstilistischen Differenzierung vgl. Fleischer, G. Michel, aA. 27 a.O. S. 248f. Grundsätzlich über Sprachkultur E. Ising, Aufgaben der Sprachkultur in der sozialistischen Gesellschaft In: Sprachpflege 25, 1976, H. 10, S. 193-195; 26, 1977, Η. 1, S. 5-8. Vgl. auch F. Fühmann, Erfahrungen und Widersprüche, a.A. 24 a.O. S. 72: »Literatur wirkt auf den ganzen Menschen, und auch dadurch unterscheidet sie sich von der Wissenschaft und deren Kalkül, und gerade das erwarten wir ja. Von der Wissenschaft verlange ich Spezifiziertes ...« J. Kuczynski, W. Heise, a.A. 28 a.O. S. 280.

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Wirkungsmöglichkeiten literarischer Werke; Charakterisierung des Unterschiedes von wissenschaftlicher und künstlerischer Aneignung. 2. In Verbindung damit Beitrag zur Bewertung von literarischen Werken, zur Herausarbeitung entsprechender Kriterien und Methoden.44 3. Beitrag zur Erhöhung des Niveaus der Sprachkultur auf dem Wege über das Bewußtmachen des ästhetischen Reizes sprachlicher Gestaltung. 4. Beitrag zur Erfassung der individuellen Gestaltungsweise eines Schriftstellers und in Verbindung damit seiner weltanschaulichen und ästhetischen Positionen sowie zur Charakterisierung literarischer Strömungen. 5. Beitrag zum vollen Verständnis eines bestimmten literarischen Werkes. Dabei ist zu bedenken, daß - wie gesagt - die Sprachwissenschaft nur Beiträge leisten kann und daß die genannten Gesichtspunkte voneinander nicht zu isolieren sind; aber es kann jeweils der eine oder andere Gesichtspunkt in den Vordergrund rücken bzw. zurücktreten. Im folgenden soll auf einige der erwähnten Gesichtspunkte zur Verdeutlichung etwas näher eingegangen werden. Dabei soll auch die Praktikabilität linguistischer (linguostilistischer) Betrachtungsweise am konkreten Beispiel veranschaulicht werden. Der sprachwissenschaftliche Ansatz ist vor allem von der Semantik her zu entwickeln,45 und die Entwicklung der Textlinguistik hat die sprachwissenschaftlichen Möglichkeiten erweitert und methodisch konsolidiert 46 Wenden wir uns zunächst dem allgemeineren ersten Gesichtspunkt zu. Das Verhältnis von wissenschaftlicher und künstlerischer Aneignung der Welt, wissenschaftlicher und künstlerischer Abbildung ist gerade in letzter Zeit wiederholt Gegenstand der Erörterung gewesen,47 auch von Seiten der 44

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Zur Problematik vgl. z.B. H. Nalewski, Sprachkünstlerische Gestaltung. Stilkritische Anmerkungen zur jüngeren Epik, Halle/S. 1968; W. Fleischer, G. Michel, aA. 27 a.0. S. 362ff. »Die wesentliche Ebene für eine linguistische Konstruktion des Poetischen scheint die Ebene der Semantik zu sein, wenn man sie als die Gesamtstruktur aller Bedeutungsbeziehungen auffaßt«: K. Baumgärtner, aA. 16 a.O. S. 36. Vgl. z.B. W.O. Hendricks, »Zum Begriff >über die Satzgrenze hinaus«·, 1967; wieder abgedr. bei J. Diwe, aA. 13 a.0. S. 92-141. Dort wird - m £ . allerdings zu stark verabsolutierend - »die eigentliche Aufgabe des sprachwissenschaftlichen Ansatzes zur Analyse von Texten, insbesondere literarischen« so formuliert: »Sie besteht darin, die Lücke namentlich zwischen satzübergreifenden Einheiten und den >rangtieferen< Einheiten des Systems zu schließen ...« (S. 137) Mit Recht ist Hendricks aber skeptisch »gegenüber einem von übermäßiger Begeisterung getragenen Versuch, die Textanalyse samt und sonders auf die Sprachwissenschaft zurückzuführen ...« (S. 133) Vgl. z.B. R. Schober, a.A. 16 a.0. S. 33f.; J. Kuczynski, W. Heise, aA. 28 a.0.; Gesellschaft - Literatur - Lesen, aA. 4 a.O. S. 39ff. - Vgl. auch den Hinweis auf den Unterschied »zwischen wissenschaftlicher und poetischer, künstlerischer Erbeaneignung ... als methodologisches Grundverständnis« bei W. Mittenzwei, Der Realismusstreit um Brecht (ΙΠ). In: Sinn und Form 29,1977, S. 348.

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Schriftsteller.48 Das muß hier nicht über die bereits gegebenen Verweise hinaus wiederholt werden. Es ist offensichtlich, daß sich daraus auch bestimmte Konsequenzen für die Sprachverwendung ergeben.49 Allerdings ist die ästhetische Wirkung sprachlicher Gestaltung von Texten nicht auf das literarische Werk beschränkt. Ästhetische Gesichtspunkte spielen in jeder sprachlichen Äußerung eine mehr oder weniger große Rolle, mit der bewußt ein bestimmtes Kommunikationsziel angestrebt wird, dessen Erreichen durch unbeabsichtigte, den Zweck der Äußerung beeinträchtigende »Nebenwirkungen« erschwert oder verhindert werden kann. In der Sachprosa sind die ästhetischen Momente jedoch prinzipiell der kommunikativen Hauptaufgabe untergeordnet (vgl. z.B. die »trockene« und teilweise »umständlich« erscheinende Genauigkeit von Gesetzestexten); im literarischen Werk sind sie konstitutives Wesenselement, und zwar auf einer höheren Ebene der künstlerischen Gestaltung von Konflikten, Handlungen und Reflexionen. Zu Recht weist G. Michel in einer Betrachtung über ästhetischen Sprachgebrauch darauf hin, daß auch andere mit Bezug auf Sprachverwendung und Textgestalt vielfach genannte Charakteristika der »Unterscheidung künstlerischer und nichtkünstlerischer Text« wie »Fiktionalität«, »Polysemie« (Polyvalenz), »Konnotation« und »Deautomatisierung« nicht auf künstlerische Werke beschränkt sind.50 Das gilt auch für die von R. Jakobson als »fundamental« angesehene Erscheinung von sprachlichen Konstruktionen des »Parallelismus«, wobei nicht zu leugnen ist, daß er für bestimmte Arten von Poesie grundlegend ist. 51 Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß konnotative neben denotativen Elementen im Text eine mit der Sprache gegebene Potenz für die Konstituierung künstlerisch-ästhetischer Wirkung eines literarischen Werkes bilden.52 48 49

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Vgl. die zitierten Werke von F. Fühmann, R. Kirsch und Ch. Wolf. Das bedeutet keine Zurücknahme der oben vertretenen Ansicht, daB an der Sprachverwendung allein mit linguistischen Mitteln der künstlerische Charakter einer Äußerung nicht mit Bestimmtheit abgelesen werden kann. Vgl. G. Michel, Ästhetischer Sprachgebrauch und künstlerischer Sprachstil. In: LS/ZISW/ A 50, Berlin 1978, S. 40-70. Vgl. R. Jakobson, aA. 20 a.O.; ders., Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. In: Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft. Zusammen mit R. Gunzenhäuser herausgegeben von H. Kreuzer, München 196S, S. 21-32. - Zur Kritik an Jakobson von Seiten der marxistischen Literaturwissenschaft vgl. M. Chraptschenko, aA. 9 a.O. S. 261-264; ferner Gesellschaft - Literatur - Lesen, aA. 4 a.O. S. 342ff. G. Lerchner, Die Sprachgestaltung als potentieller Wirkungsfaktor bei der ästhetischen Aneignung von Kunstwerken. In: Weimarer Beitrage 9/1976, S. 17 äußert sogar die »Hypothese ...«, es seien »die funktionalen Wirkungsmerkmale poetischer Texte in erster Linie in den konnotativen semantischen Komponenten und ihren Kombinationen im Text zu suchen.«

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Nicht selten wird in diesem Zusammenhang auch von sprachlicher »Expressivität« gesprochen. Allerdings sind die Auffassungen vom Wesen der Expressivität sprachlicher Konstruktionen sowie ihrer Konnotation recht unterschiedlich (wenn überhaupt darüber reflektiert wird), und es bleibt meist auch offen, ob Konnotation und Expressivität einander entsprechen oder ob es sich dabei um Verschiedenes handelt. M. Chraptschenko leitet die Feststellung, daß »jede Komponente eines Kunstwerks ... zugleich eine expressive Funktion« erfülle, davon ab, daß »ein Schriftsteller ... seine Auffassung vom Leben, seine Beobachtungen und künstlerischen Entdekkungen nicht simpel« mitteile, sondern »darauf bedacht« sei, »ihnen die Gestalt zu verleihen, in der sie das Lesepublikum am stärksten beeindrukken.« Das Kunstwerk werde auch geschaffen, »um auf den >Kunstverbraucher< einzuwirken.«53 Hier ist »expressiv« nicht nur auf die sprachlichen Mittel und Konstruktionen bezogen, aber sie sind davon nicht auszuklammern. Uns kann es zunächst nur um den linguistischen Begriff der Expressivität gehen. Die Auffassung, expressive sprachliche Elemente seien »elements that serve to express the speaker's attitude toward his collocutor or to the thing spoken about«,54 scheint uns nicht in ausreichendem Maße die sprachliche Spezifik der Expressivität zu kennzeichnen, denn diese »Haltung« des Sprechers kann doch auch durch nicht-expressive Mittel zum Ausdruck gebracht werden. Das Wesen linguistisch faßbarer Expressivität besteht u.E. in der deutlich wahrnehmbaren »Andersartigkeit« sprachlicher Konstruktionen gegenüber dem, was in der betreffenden Kommunikationssituation als »normal« erwartbar ist. »Expressivität läßt sich nur dann erfassen, wenn daneben Formen der gewöhnlichen, üblichen Widerspiegelung dieser oder jener Erscheinung existieren. Außerhalb der Wechselwirkung mit diesen letzteren ist die Expressivität nicht erfaßbar.«55 Es entspricht der von tschechoslowakischen Linguisten in Anknüpfung an die russischen Formalisten entwickelte Polarität von »Automatisierung« und »Aktualisierung« (Deautomatisierung).56 Mit dieser Feststellung folgen wir keineswegs 53

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M. Chraptschenko, Von Eigenart und Funktion des literarischen Kunstwerks. In: Sinn und Forni 26, 1974, H. 4, S. 790-819, bes. S. 800, 793. - Vgl. auch R. Schober, a.a.O., S. 22: »Die Mitteilungsabsicht ist in der Kunst immer auch eine Wirkungsabsicht.« Vgl. E. Stankiewicz, Expressive Language. In: Style in Language. Edited by Th. A. Sebeok, Cambridge (Massachusetts), 2nd Printing 1964, S. 96f. Vgl. A.P. Gorbunov, Ο suäinosti ekspressii i formach ejo realizacii (na materiale publicistiCeskich proizvedenij L. Leonova). In: Voprosy sülistiki. Sbomik statej k 70-letiju so dnja roZdenija professora K.I. Bylinskogo. Red.-Kollegija A.V. AbramoviC, Ju. A. Bel'Cikov, V.P. Vomperskij (otvetstv. red.), D.E. Rozental', Izdatel'stvo Moskovskogo Universiteta 1966, S. 224-234, bes. S. 226. Vgl. z.B. B. Havränek, Die Aufgaben der Literatursprache und die Sprachkultur. In: Grundlagen der Sprachkultur, a A . 6 a.0. S. 119ff.

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der Verabsolutierung dieser Erscheinung in ihrer Bedeutung für den künstlerisch-ästhetischen Effekt literarischer Werke, wie sie z.B. bei den russischen Formalisten zu finden ist.57 Vgl. dazu weiter unten. Das Wechselspiel von Erwartbarem und Unerwartetem, Gewohntem und Ungewohntem in der Textgestaltung darf selbstverständlich nicht auf die »Einhaltung« oder »Durchbrechung« grammatischer Regeln und Normen eingeengt werden. Es geht auch nicht nur um »lebendige« Metaphern und andere Arten »bildlichen« oder »bildhaften« Ausdrucks.58 Es sind einzubeziehen Konstruktionen und Ausdrücke, die aus einem funktionalen Stiltyp oder Kommunikationsbereich in einen anderen übertragen werden, wo sie »eigentlich« nicht hingehören: das »amtliche« Rauchen verboten! in das persönliche Alltagsgespräch; die saloppe Wortwahl des familiären Alltagsgesprächs in die wissenschaftliche und politische Diskussion. Es gibt auch eine kontextgebundene Expressivität durch betonte »Sachlichkeit«. Ein Text über einen Sachverhalt, der »normalerweise« als solcher Emotionen hervorruft, kann durch betont sachliche, nüchterne, »unbewegte« Darstellung expressiviert werden, weil sie im Kontrast zum Erwartungswert steht (z.B. die Schilderung eines Mordes). Expressivität ist variabel, und zwar individuell wie sozial. Außersprachliche Faktoren, das Vermögen des Kommunikationspartners, den expressiven Ausdruck auf einen »neutraleren« Erwartungswert zu beziehen, spielen dabei z.B. eine Rolle. Die gleiche Konstruktion wirkt nicht in gleicher Weise auf alle Menschen expressiv. Auch die Richtung dieser Wirkung muß nicht für alle Menschen identisch sein. Pathos, das den einen ergreift, wirkt auf den anderen lächerlich. Auch Expressivität ist also keineswegs an die Sprachverwendung im literarischen Werk gebunden, sondern begegnet im Alltagsgespräch wie in der Sachprosa. Sie kann unterschiedliche Funktionen haben. Sie kann dem Abreagieren eines emotionalen Erregungszustandes des Sprechers oder Schreibers dienen oder den Zweck haben, die besondere Aufmerksamkeit des Kommunikationspartners für bestimmte Passagen der Äußerung zu wecken. Sie kann beim Kommunikationspartner Emotionen hervorrufen, ohne eine gegenüber der unexpressiven Fassung andere Erscheinung, andere Zusammenhänge der objektiven Realität sprachlich abzubilden: »Das ist ein Weinchen / guter Wein.« Im literarischen Werk wird sie in einem Zusammenspiel von sprachlichen und nichtsprachlichen Faktoren zu einem ästhetisch-künstlerischen Wirkungselement. Daß ein literarisches Werk an Wirkung in der Regel verliert, wenn es schon oft Gesagtes in gleicher Weise wiederholt, läßt sich zwar nicht auf die »Handhabung der Sprache« 57

Zur Kritik auch Gesellschaft - Literatur - Lesen, a.A. 4 a.O. S. 69ff.

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reduzieren. Aber der überraschende Blickwinkel, aus dem Bekanntes gesehen wird, neue Zusammenhänge, die aufgedeckt werden, Denkanstöße, »produktive Schocks«, die der Leser erhält, das Vergnügen, das Humor und Ironie vermitteln - all dies wird durch die sprachliche Gestaltung wesentlich mitbestimmt: geweckt, gefördert oder beeinträchtigt. »Die gesellschaftliche Funktionspotenz der Werke ist von dem, w a s in ihnen steht, genau so abhängig wie von dem, w i e es in ihnen steht.«59 Dabei sollte Expressivität nicht zu eng aufgefaßt werden. In Brechts Gedicht »Morgens und abends zu lesen« sei, so wird z.B. festgestellt, »von expressiven Sprachmitteln ... nichts zu entdecken«.60 Man vergleiche: »der den ich liebe / Hat mir gesagt / Daß er mich braucht. Darum / Gebe ich auf mich acht / Sehe auf meinen Weg und / Fürchte von jedem Regentropfen / Daß er mich erschlagen könnte.« Demgegenüber fasse ich bereits die Konstruktion »der den ich liebe« gegenüber mein Liebster, mein Geliebter als expressiv auf, denn sie hebt sich von dem »Erwartbaren«, »Gewohnten« deutlich ab. Expressiv ist ferner sicherlich die Kombination des Verbs erschlagen in bezug auf einen Menschen als Objekt mit Regentropfen als Agens. Femer sind die eigenwillige Zeilengliederung, die einen bestimmten Lese- und Rezitationsrhythmus vorschreibt, wie auch die Zeichensetzung nicht außer acht zu lassen.61 Bei aller kritischen Haltung gegenüber R. Jakobson ist ihm schließlich darin sicher zuzustimmen, daß expressive Gestaltung durch sprachliche Bilder nicht auf lexikalische Tropen begrenzt ist, sondern daß es auch »grammatische Tropen und Figuren« gibt; sie sind »selten den Kritikern bekannt geworden und wurden fast gänzlich von den Linguisten übersehen und doch meisterhaft beherrscht von schöpferischen Schriftsteilem.«62 R. Jakobson hat dafür selbst einen glänzenden Nachweis geliefert mit der Analyse des Brechtschen Gedichtes >Wir sind sieGraphostilistische Mittel im WortkunstwerkDie Absatzstnikturen in Goethes theoretischer und «zählender Prosa.< In: Weimarer Beiträge 14,1968, H. 4, S. 853-867. R. Jakobson, Linguistik und Poetik, aA. 20 a.O. S. 175. R. Jakobson, Der grammatische Bau des Gedichtes von B. Brecht >Wir sind sieÜberfahrtDas Vertrauern, S. 14) Das vorangestellte Genitivattribut ist in diesen Fällen für die Gegenwartssprache ungewöhnlich. Der lexikalische Historismus Tarnkappe und die archaische syntaktische Wortverbindung klingen zusammen. Über Weiteres wird unten noch zu sprechen sein. In charakteristischer Weise expressiv für die Prosa ist heute auch die Verwendung des bestimmten Artikels oder des Personalpronomens im ersten Satz eines Romans, einer Erzählung, wo noch gar kein Bezug auf Vorangegangenes gegeben ist, was »normalerweise« für die Verwendung dieser sprachlichen Mittel Voraussetzung ist. Ch. Wolfs Roman »Der geteilte Himmel« beginnt mit den Worten: »Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht nach dem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftiger als sonst.« Von einer Stadt war bisher überhaupt noch nicht die Rede. Dem Leser wird Vertrautsein mit der Stadt suggeriert; er wird nicht langatmigumständlich »hingeführt«, sondern sofort unmittelbar »hineingezogen«. Ahnlich der erste Satz des Romans »Das Vertrauen« von A. Seghers: »Je weiter sie nach Westen fuhren, desto stärker glühte es rot und gold in den 64 65

M. Chraptschenko, a.A. 9 a.O. S. 139. Vgl. dazu auch U. Kendler, Zur ästhetischen Funktion und Verwendung der Sprache in erzählenden Texten. In: Weimarer Beiträge 1/1976, S. 100-114. - Darin, daB auch der Stil der Wissenschaft expressive Sprachmittel kennt, stimmen wir J. Kuczynski in seiner Polemik mit Kagan zu (J. Kuczynski, W. Heise, a.. 28 a.O. S. 398): vgl. W. Fleischer, Zur stilistischen Charakterisierung wissenschaftlicher Texte in der deutschen Gegenwartssprache. In: Wiss. Zeitschr. d. TU Dresden 19, 1970, H. 2, S. 317-323, bes. S. 321f.

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Buchenwäldern.« Im zweiten Satz wird das sie nur teilweise »aufgelöst«, präzisiert: »So kam es wenigstens Riedl vor. Sie waren auf seinen Wunsch von der Autobahn abgebogen.« Möglicherweise läßt sich in bezug auf dieses sprachlich-technische Verfahren von einem »expressiven sprachlichen Standard«66 sprechen: einerseits »noch« expressiv, weil von der gewohnten, üblichen Verwendung in nicht-künstlerischen Texten sich abhebend, andererseits in Roman und Erzählung bereits so viel angewendet, daß die expressive Einmaligkeit verlorengeht. Damit ist zugleich ein Hinweis auf Veränderungen in den Möglichkeiten expressiver Sprachgestaltung gegeben. Die Untersuchung derartiger Prozesse ist eine besondere Aufgabe des Sprachwissenschaftlers. Wie sich zeigt, handelt es sich dabei nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie - um das »Verblassen« und die Lexikalisierung von Metaphern. Veränderungen in Morphologie und Syntax des Sprachsystems führen zu neuen Möglichkeiten expressiver sprachlicher Gestaltung, und andererseits kann die bevorzugte Anwendung bestimmter expressiver Konstruktionen Rückwirkungen auf das Sprachsystem haben. Zur Veranschaulichung führen wir ein weiteres Beispiel an. Die Konjunktion auf daß wird in unserem Berliner > Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache« (unter daß, Bd. I, 763) als »veraltet« bezeichnet, d.h. es gehört zu den Wörtern, »die heute nicht mehr gebraucht werden ...« (S. 014). Dies eröffnet die Möglichkeit expressiver Verwendung, so z.B. wiederholt in A. Seghers' >TransitTransit< mit verschleppen und Lösegeld für »Kaution« die Konnotation »verbrecherisch, erpresserisch«, die Handlungsweise von Organen des imperialistischen Staates charakterisierend. Bisweilen wird die Reflexion über die Konnotation zum Element der epischen Darstellung; die konnotativen Elemente werden »veranschaulicht«, expliziert, so bei K.-H. Jakobs, >Die Interviewen (S. 228f.): »Ich erzählte, wie ich den Häschern entkam. Was verziehst du dein Gesicht? Ja, ich habe das Wort Häscher benutzt. Das ist ein Wort, dessen Sinn sich eingebürgert hat. Häscher, das sind die üblen Vollzugsorgane einer üblen Staatsmacht, und wer ihnen entkommt, ist ein Gerechter.« Im >Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache ist das Wort erläutert als » a b w e r t e n d >von einer Instanz (zu einem bösartigen Zweck) beauftragter Verfolgen«. Ch. Wolfs Reflexionen in dem Roman >Kindheitsmuster< beschäftigen sich weitgehend mit den Konnotationen von Wörtern, so z.B. mit der Bloßlegung der konnotativen Verfälschung im Sprachgebrauch der faschistischen Massenmedien: Endlösung der Judenfrage als sachlich-wissenschaftlich klingende Bezeichnung für den planmäßigen Massenmord (S. 306ff.); sachlich-begrifflich nicht gerechtfertigte Aufladung mit negativen Konnotationen (Brutstätten der Kommune S. 182, der Russe S. 417). Wesentliches Element des Sprachporträts einer Figur, die in distanzierender Ironie durch ihre eigenen Worte charakterisiert wird, ist die Veranschaulichimg der Konnotationen von Kern, kerngesund, kerndeutsch einerseits und Backpflaume andererseits in H. Kants >AulaBackpflaume< hört? Lauter Dinge, die dem Verkauf nicht förderlich sind; Begriffe wie >vertrocknetverschrumpeltverhutzelt< hat er sofort zur Hand, ältere Fräuleins kommen ins Bild ...« - »Aber ... was assoziieren Sie denn mit dem Wort >KernKernigBuddenbrooksMoosflecken< und Göps >Handvoll< in H. Nachbars Roman »Die Liebe des Christoph B.«: »Die Moosplacken auf den Dächern leuchteten in einem satten tiefen Grün ...«; »... spritzte ihm eine Göps Wasser ins Gesicht...«. Brecht nutzt die Konnotation bairischer Ausdrücke gern zu einer Art ironischer Distanzierung, so in der Erzählung >Der verwundete SokratesDer gordische Knoten< auftaucht. In den zuletzt genannten Fällen beruht die Konnotation auf der Expressivität sprachlicher Mittel, wie sie weiter oben erläutert ist. Aber die erste Art der Konnotation ist nicht notwendig an expressive sprachliche Konstruktionen gebunden, obwohl dies nicht selten vorkommt. Mit der besonderen Rolle der Konnotationen im literarischen Werk hängt es auch zusammen, daß der Begriff der Redundanz in bezug auf die Gestaltung literarischer Texte nicht brauchbar ist in der Weise, wie er für die Sachprosa verwendet wird. Redundante sprachliche Konstruktionen bringen 71 72

So K. Bochmann, a.a.O. S. 25 nach L. Bloomfield. Näheres dazu W. Fleischer, Zum Gebrauch landschaftlich begrenzten Wortschatzes in der Literatursprache. In: Linguistische Arbeitsberichte, a.A. 70 a.O. S. 52-56.

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keine neuen sachlich-begrifflichen Informationen und werden deshalb nur soweit als »förderliche Redundanz« angesehen, als sie dem Schutz gegen Informationsverlust dienen oder das Einprägen von Informationen, das Nachvollziehen komplizierter Gedankengänge erleichtern. Da aber die Übermittlung sachlicher Informationen nicht der eigentliche Zweck literarischer Werke ist, kann von Redundanz keine Rede sein, auch wenn beispielsweise ein und derselbe »Sachverhalt« in immer neuen Bildern mit wechselnden Konnotationen »ausgedrückt« wird, so in E. Lasker-Schülers Gedicht >Senna Hoy< oder in G. Maurers Gedicht >Arbeits Wir verzichten hier auf das Zitat. Aber auch dem Roman sind solche Konstruktionen nicht fremd: »Er glaubte nicht, zuverlässige Übersicht über sich selbst zu haben, aber er wußte von Momenten, von denen her er um einiges mehr mit der Welt vertraut geworden war. Es waren Umschlagspunkte vom bloßen Tun hinüber zum Begriff gewesen, Übergänge aus der Erfahrung ins Bewußtsein, Schaltungen vom Erlebnis zu einer Regel.« (H. Kant, >Das Impressing S. 406). Handelt es sich hier immerhin noch nicht um lexikalische Synonyme, so werden selbst diese miteinander verbunden, ohne daß eine feine begriffliche Unterscheidung beabsichtigt wäre; sie dienen lediglich der Erzeugung eines Konnotationsnetzes: »Rechtsanwalt Neumann schickt immer mal wieder einen schrägen Blick zu seinen Spießgesellen hinüber, so zwischendurch zu diesem Kumpan oder jenem Komplizen.« (J. Bobrowski, »Litauische Claviere< S. 41). P. Hacks bringt in seinem Stück >Moritz Tassow< die beiden Synonyme Ferge und Fährmann unmittelbar nebeneinander in einen Vers; der Konnotationsunterschied (Ferge laut »Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache< »veraltet« und »dichterisch«) läßt dies ohne weiteres zu: »... Käufer und Verkäufer rufen jammernd an den zwei Seiten des ökonomischen Hellespont Und Ferg zu sein und Fährmann diesen beiden, Das, Fräulein, ist des Händlers heilige Sendung.«

Im folgenden Text ist das Verfahren der Häufung von Verben, die teilweise als Synonyme anzusehen sind, teilweise zwar nicht, aber doch letzten Endes den gleichen Sachverhalt ausdrücken, nur mit unterschiedlichen Bildern, genutzt, um die Rede einer Figur raffend, ohne ihre einzelnen Sätze wiederzugeben, konnotativ zu charakterisieren: »Er lag zurückgelehnt im Stuhl und ließ Lianes Worte über sich rieseln, mit denen sie seinen Einwurf verdünnte, vergewaltigte, anästhetisierte, als unbestellbar an den Absender zurückgehen ließ, auskratzte, verstümmelte, verzerrte, an die Psychiatrie überwies, ausrodete, einfrostete, ausradierte, kastrierte, umkippte und aus167

leerte, auslaugte, anpfählte und auspeitschte, pulverisierte, zerquetschte, auskochte und zum Trocknen aufhängte, ausfranste, aushob, ihn als Gefangenen davontrieb, geißelte, in Streifen schnitt und räucherte, zu Schrot mahlte, anbiß und ausspuckte, knackte, isolierte, kleinschlug, ihn in den Ofen steckte, stoppte und ihm die Durchreise verwehrte, vor die Eisenbahn stieß, fesselte und auslieferte, absichelte, vor das Kanonenrohr band und abfeuerte, ihn in den Mülleimer der Geschichte schleuderte.« (K.-H. Jakobs, >Die Interviewen S. 36f.) Anders zu beurteilen ist die kontrastierende Nebeneinanderstellung von Synonymen mit dem Ziel, feine Nuancierungen des Bedeutungsunterschiedes zu akzentuieren: »... bald sprach ich vor jeder Feier in dieser Stadt Gedichte ... Was ich aufsagte? Vielerlei. Alles gefühlvoll, nichts mit Gefühl.« (Ch. Wolf, >Der geteilte HimmelWörterbuch der deutschen Gegenwartssprache< setzt gefühlvoll mit 2 Sememen an: 1. >tiefer Empfindungen fähig, empfindsamim Gefühl schwelgend, sentimental·. Zweifellos aktualisiert Ch. Wolf hier die Bedeutung 2 von gefühlvoll: >alles sentimental, nichts mit (echtem) Gefühl·. Dieser Fassung fehlte es an expressiver Wirkung. Nicht nur »Redundanz«, auch »Polyvalenz« und »Genauigkeit« der sprachlichen Gestaltung haben im literarischen Werk einen anderen Charakter als in der Sachprosa. Doch wir müssen uns eine Weiterführung dieser Gedanken hier zunächst versagen. Wir wenden uns in Anknüpfung an die genannten Gesichtspunkte mit einigen Überlegungen dem Beitrag zu, den linguistische Untersuchung bei der Herausarbeitung der individuellen Gestaltungsweise eines Autors leisten kann. »Das Individuelle in der Literatur ist nicht Beiwerk, nicht Zugabe zum Objektiven ..., sondern eine Methode der ästhetischen Aneignung des Lebens.«73 Die Einmaligkeit, Unersetzbarkeit jedes literarischen Werkes von Rang wird immer wieder hervorgehoben.74 Die ästhetische Wirkung eines Werkes wird mit dadurch bestimmt, wie es dem Individuum des Künstlers gelingt, dem Werk seinen Stempel aufzudrücken. Die Individualität und Originalität der sprachlichen Gestaltung hebt die auf begrifflichen Inhalten beruhende Kommunikation nicht grundsätzlich auf. Das literarische Werk wird als »gesellschaftliche Objektivität, ..., in der das Individuelle als

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M. Chraptschenko, a.A. 9 a.O. S. 81. Vgl. z.B. F. Fühmann, Erfahrungen und Widersprüche, a A . 24 a.O. S. 77f.; R. Schober, a.a.O. S. 15, 33.

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Nur-Individuelles erlischt«, rezipierbar, und darin wird »die vergesellschaftende Funktion der Poesie« deutlich. 75 Das Streben nach individueller sprachlicher Gestaltung wird in Abhängigkeit vom literarischen Genre, vom einzelnen Autor und Werk in unterschiedlichem Maße auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen faßbar. Ein Beispiel für die zusammenfassende Betrachtung des Individualstils eines Schriftstellers im Hinblick auf Kompositionstechnik und »Erzählhaltung« gibt T. Silman im vorliegenden Band mit ihrem Beitrag über die Entwicklung des Erzählstils von Th. Mann. Einen Beitrag zur Kompositionstechnik von A. Seghers liefert auch H. Nalewski mit der Erörterung der »Anfang-Ende-Relation in Erzählungen von Anna Seghers«.76 Auf das »Problem des Anfangs erzählender Dichtung«77 und seine Bedeutung für die Charakterisierung der individuellen Schaffensweise wie auch literarischer Strömungen ist mehrfach hingewiesen worden. 78 Linguostilistische Untersuchung der Figurenrede, die Herausarbeitung des »Sprachporträts« vermag im Vergleich mit der Gestaltung der Figuren überhaupt zu verdeutlichen, wie »genau« der Autor gearbeitet hat und wie weit sich die Redeweise der Figuren mit ihrer Persönlichkeit deckt Ein Beispiel dafür gibt J. Keil, der die sprachlichen »Mittel zur Personencharakterisierung in Jurij BrSzans Roman >Mannesjahre< « untersucht.79 Es werden syntaktische (Grad der Satzfüllung, Hypotaxe, Ausruf- und Aufforderungssätze u.a.) wie lexikalische (z.B. Verben des Sagens, Redundanz) Erscheinungen für die Hauptpersonen zahlenmäßig differenziert erfaßt und dann qualitativ interpretiert. Er kommt zu dem Ergebnis: J. BrSzan hat, »abgesehen von geringfügigen Ausnahmen«, die sprachlichen Mittel in der Redeweise seiner Figuren angemessen »verwendet und richtig aufeinander abgestimmt, so daß sie in ihrer Gesamtheit die hauptsächlichen Wesenszüge und Eigenschaften der einzelnen Figuren treffend veranschaulichen.«80 Linguostilistische Untersuchung arbeitet mit dem sprachlichen Detail, und »um die Sprache wirklich zu erfassen, darf man keine Angst haben, die allereinzelsten Beobachtungen an der Sprache zu machen und diese für die

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J. Kuczynski, W. Heise, a.a.O. S. 306. H. Nalewski, Anfang-Ende-Relation in Erzählungen von Anna Seghers. In: Weimarer Beiträge 11/1975, S. 35-55. Vgl. W. Rasch, Das Problem des Anfangs erzählender Dichtung. Eine Betrachtung zur Form der Erzählung um 1900. In: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende, Stuttgart 1967. Vgl. auch F. Fühmann, a.a.O. S. 107: »Erster Satz im Roman, erstes Wort im Gedicht ließen sich Werictypen nach ihnen bestimmen?« J. Keil, Linguostilistische Mittel zur Personencharakterisierung in Jurij Brizans Roman >MannesjahreDie Entscheidungc »Den Bäumen läßt er [der Herbst - W.F.] Zeit, sich in allen Farben auszuglühen ... Er wickelt die Weinberge in weichen, goldschimmemden Nebel ein.« (S. 51) »Solange das Abendrot glühte, war der Mond machtlos.« (S. 341) Aus >Das Vertrauern: »Je weiter sie nach Westen fuhren, desto stärker glühte es rot und gold in den Buchenwäldern.« (S. 7) - »Im Hellen glänzten Pimis Augen wie die Augen von Nachtvögeln weniger stark. Sie waren schimmrig.« (S. 123) Aus >ÜberfahrtDas wirkliche BlauKindheitsmusterNachdenken über Christa T.< wird dieses Verfahren angewandt. Die Re-Motivation wird durch den Gebrauch des Bindestrichs aktualisiert, ohne daß zugleich die geläufige, »gängige« idiomatisierte Bedeutung ganz ausgeschaltet ist. Die ästhetische und weltanschauliche Position eines Schriftstellers läßt sich auch von der Sprachverwendung her beleuchten. So ergab eine linguostilistische Untersuchung des Sprachstils im Spätwerk von J. R. Becher am Beispiel von Verteidigung der Poesie< unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Sprache und Ideologie, daß sich Bechers ideologische Position weniger im Gebrauch des politischen als vielmehr in der Verwendung allgemeinen Wortschatzes manifestiert. Sein Traditionsbewußtsein spiegelt sich im Gebrauch alltagssprachlicher Elemente (Zwillingsformeln, Phraseologismen) in Verbindung mit teilweise leicht antiquierter Lexik (vormals, alsogleich, in diesen Zeitläuften, wider sich streiten) sowie entsprechender syntaktischer Konstruktionen (der Dinge sind ganz wenige, der schwierigen Wahrheiten gibt es übergenug) wider. Mit einer Reihe von »Schlüsselwörtern« wie Licht und Kraft greift Becher auf humanistisch-progressive Traditionen der Klassik und des Realismus zurück, und im Volk verwurzelte und emotional wirksame Wörter religiöser Konnotation werden in neue Kontexte gestellt und umfunktioniert (heilig, Glaube, Auferstehung). Durch den Faschismus mißbrauchte und daher belastete Ausdrücke werden bewußt aufgewertet: »Wille zum Frieden, das ist unser Wille zur Macht«; »eine ungebrochene humanistische Bildungsmacht«. Der in starker Nutzung der Hypotaxe sich äußernde Zug »zur Breite, ja Weitschweifigkeit wird unterstützt durch Bechers Neigung zur Amplifikation und durch Wiederholungen aller Art (steigernde und synonyme Doppelungen, wörtliche Wiederholungen von Einzel Wörtern, Sätzen, ganzen Passagen, Anapher ...). Auf ihnen beruht auch Bechers explizierender, lehrhaft-agitatorischer Zug.« 82 Bei derartigen weitergehenden Schlußfolgerungen besteht immer bis zu einem gewissen Grade die Gefahr einer »Überinterpretation«, so daß die Möglichkeiten linguistischer Methoden und Aussagen überzogen werden. 82

B. Kluge, Zum Verhältnis von Sprache und Ideologie. Untersuchungen zum Sprachstil im Spätwerk J.R. Bechers (am Beispiel von Verteidigung der PoesieKrabat oder Die Verwandlung der Welt< gestaltet J. Bräzan ein neues Zeit- und Raumbewußtsein, die dialektische Einheit des Widerspruches von Geschichte und Gegenwart, von räumlichem Hier und Dort. »Liegt Heimat nur innerhalb eigener Volksgrenzen? Gibt es für uns eine >fremde< Geschichte?«83 Diese Dialektik und die Problematik einander ausschließender Ja-/Nein-Antworten wird auch in der Verwendung charakteristischer sprachlicher Konstruktionen deutlich. Da ist das okkasionelle Kompositum Regenbogen-Antwort (S. 130), Regenbogen-Wahrheit (S. 131), Regenbogenantwort (S. 549): Licht ist nicht ohne Schatten, »die Dinge« sind »vielflächig«. Die kantige Wirklichkeit ist kein rundes Märchen (S. 7). Es werden die verschiedensten antithetischen Konstruktionen verwendet, die nicht selten einander aufzuheben scheinen: daran ist manches wahr und alles falsch (S. 11), unendlich lange, kurze Nacht (S. 106), ihre vertraute Fremdheit. Oder doch: fremde Vertrautheit (S. 127), unendliche Endlichkeiten von Bildern (S. 196), ausgestattet mit einem Teil der Allmacht und selbst zu fiinfl allohnmächtig; unersetzlich für IHN und auswechselbar wie abgefahrene Autoreifen ... (S. 256), meine Furcht zugleich eine seltsame aggressive Nicht-Furcht (S. 435), war es hier so hübsch altmodisch, richtig modern (S. 497), ein märchenfremdes, märchennahes Ding (S. 540). Neben die expressive Kombination von geläufigen antonymischen Adjektiven und Substantiven tritt die Bildung okkasioneller antonymischer Wortbildungskonstruktionen mit un-, nicht-, anti-: Wort - Unwort (S. 81) Jeder Gedanke abgleitet an der Glätte von Anti-Zeit und Anti-Raum (S. 196), Gräte von dem Nicht-Fisch (S. 404), Un-Paradies (S. 505), Un-Menschheit (S. 519). Antonyme stehen nicht nur kontrastierend nebeneinander (gegeneinander) in Art des Oxymorons (woran sich hier zweifellos ein Wesenszug des Werkes ablesen läßt), sondern werden in einer Verwendung, die das Gegensätzliche oder Unterschiedliche in der sprachlichen Konstruktion »normal« berücksichtigt, zur Charakterisierung der Widersprüchlichkeit des Lebens gebraucht: die Große Gerechtigkeit macht niemanden satt, wenn sie nicht das Wort ist für tausend kleine Gerechtigkeiten (S. 453), jedes Vorrecht ein Un-

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H. Koch, Der dritte Krabat. Zu einem neuen Buch Jurij BrSzans. In: Neues Deutschland v. 27.5.1976.

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recht ist, größer oder kleiner, aber ein Unrecht (S. 453), sich einer für das größere Allgemeine um so besser empfehle, je weniger er das eigene Kleine achte (S. 464), er liebte keinen Menschen, aber die Menschheit liebte er laut (S. 464). In diesem Zusammenhang läßt sich schließlich auch die expressive Verwendung des Zeitadverbs morgen in Verbindung mit dem Verb im Präteritum und durch ausschließendes oder an das antonymische gestern angeschlossen stellen: einmal - gestern oder morgen - hing der Baum voller Früchte (S. 232). Expressive Wortbildungskonstruktionen werden auch verwendet, um das Bild der Atomwüste als Zukunft der Menschheit zu zeichnen, wenn es nicht gelingt, die »Reissenbergs« endgültig zu besiegen: Das Verb veraschen im Berliner >Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache< als » f a c h s p r a c h l i c h >zu Asche verbrennenzur mondartigen Wüste machen< gebraucht: »Alles vermondet, General.« (S. 55) »... ihr seid atomtot, ..., Alles vermondet ...« (S. 419) Das Land ist verkratert, ein zerrostetes Eisenrohr ragt neben anderem aus der Erde (S. 55). Charakteristisch für BrSzans Metaphernkonstruktionen ist die Verbindung attributiver Substantivgruppen, in denen meist ein Abstraktum syntaktisch von einem Konkretum abhängt, aber semantisch das Bestimmende ist und durch das Konkretum metaphorisch veranschaulicht wird: das Denken ... nicht ein Mahlknecht des Gehorsams (S. 68), in den Wind der Jahre (S. 219), mit Denkmälern aus heiliggesprochenen Sprüchen (S. 233), Ein Atömchen Glück (S. 249), eine Dunstglocke aus eifrigem Lärm (S. 319), Dunstbrei der Unverantwortung (S. 321), dröhnende Glocke aus Panik und Verzweiflung (S. 367), ein Mühlbach von Gedanken (S. 441), ein Klangschleier von Trauer (S. 465), Fluß seiner Gedanken ... tief unter der Schicht der Worte (S. 533). Die Sprache eines literarischen Werkes ist - bei aller Originalität und Individualität - eine Ausprägung der Nationalsprache auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand. Sie ist mit deren System historisch verbunden und entsprechenden Wandlungen unterworfen. Das macht ein Vergleich von G. Keller und E. Strittmatter deutlich. Wenn die sprachwissenschaftliche Untersuchung den Zusammenhang zwischen der Sprachverwendung eines Autors und der Nationalsprache als Ganzem in allen ihren Existenzformen aufhellt, dann ist dies auch ein Beitrag zur Gestaltungsweise des betreffenden Autors. Die künstlerische Sprachverwendung insgesamt wie im konkre173

ten Einzelfall ist allerdings eben nicht durchweg repräsentativ für den nationalsprachlichen Standard. Komposita wie Goethes schlangenwandelnd, Knabenmorgenbliitenträume u.ä. können z.B. nicht in einer sprachgeschichtlichen Darstellung als »Bereicherung des nationalen Wortschatzes« registriert werden, sondern sind als individuelle Konstruktionen an den Text eines bestimmten literarischen Werkes gebunden; sie »stellen einen einmaligen künstlerischen Ausdruck des neuen dichterischen Weltgefuhls des jungen Goethe und seiner Zeitgenossen dar.«84 Die Ableitung deutig ist nur im Kontext von H. Schütz' >Polenreise< verständlich: »Zugegeben, unsere Haltung ist deutig. Dreideutig, würde ich sagen.« (S. 183). Die Wortbildungskonstruktion deutig >deutbarKultur der Sprachen - W. Dietze u.a. (Hrsg.): Herder-Kolloquium 1978. Referate und Diskussionsbeiträge. Weimar (1980), S. 392-398. Sprachreflexion und Sprachverwendung bei Schriftstellern der DDR. - W. Steinberg (Hrsg.): Funktion der Sprachgestaltung im literarischen Text Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Wiss. Beiträge 52 (1981) (F33). Halle (1981), S. 49-70. * »Vorgegebene« Sprache und künstlerisches Schöpfertum. - Realismus und literarische Kommunikation. Dem Wirken Rita Schobers gewidmet. (= Sitz.Ber.dAkad.d.Wiss.d.DDR 8 G), Berlin (1984), S. 21-29. Künstlerisches Sprachbewußtsein im Gedicht - Grammatik - Text - Sprachkunst. Dem Wirken Rudolf Ruzickas gewidmet (= Sitz.Ber.d.Akad.d.Wiss.d.DDR 15 G), Berlin (1988), S. 45-54.

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