Nachgelassene Manuskripte und Texte.: Geschichte. Mythos: Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, ... Nachgelassene Manuskripte und Texte) 3787312471, 9783787312474

Der Band versammelt Texte Cassirers, die in einem thematischen wie zeitlichen Zusammenhang miteinander stehen. Dabei ist

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German Pages 369 [371] Year 2002

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Table of contents :
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Impressum
Geleitwort
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeber
GESCHICHTE. MYTHOS
GESCHICHTE
Geschichte (histor[ische] Erkenntnisform)
Geschichte (Verh[ältnis] zur Kunst)
Geschichte (Allg[emeine] Disposition)
Geschichte (Allg[emein] )
Geschichte
Geschichte (Allg[emein] - Erkenntnisform
Geschichte (Allg[emein] Erkenntnisform) Histor[ische] “Objektivität”
Geschichte (Kategorienlehre)
Geschichte (Allgem[ein] Erkenntnisform) Histor[ische] “Objektivität” (Ranke
Geschichte (“Zeitstufen”)
Geschichte (Objektivität)
Geschichte (Historiographie)
Geschichte (Wahrheitsbegriff)
Geschichte (Typik)
MYTHOS
Mythos (Verhältnis zur Geschichte; Analyse des M[ythos] als Organ geschichtlicher Erkenntnis)
BEILAGEN
Biologie
Ethik
»Form«
Kategorienlehre
Kunst
Organologie
Sinn, Wert
Sprache
Zeit
ANHANG
ZUR TEXTGESTALTUNG
EDITORISCHE HINWEISE
ANMERKUNGEN DER HERAUSGEBER
LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
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Nachgelassene Manuskripte und Texte.: Geschichte. Mythos: Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, ... Nachgelassene Manuskripte und Texte)
 3787312471, 9783787312474

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Ernst Cassirer Nachgelassene Manuskripte und Texte Band 3

Meiner

Geschichte. Mythos

ERNST CASSIRER GESCHICHTE. MYTHOS

ERNST CASSIRER NACHGELASS ENE MANUSKRIPTE UND TEXTE Herausgegeben von Klaus Christian Köhnke John Michael Krois und Oswald Schwemmer Band 3

FELIX MEINER V E RL AG H A M BU RG

ERNST CASSIRER GESCH ICH TE. M YTH O S MIT BEILAGEN : B IO L O G IE , ETH IK, FORM KATEG O RIEN LEH RE, KUN ST, O R G A N O L O G IE , SINN, SPRACH E, ZEIT

Herausgegeben von Klaus Christian Köhnke, Herbert Kopp-Oberstebrink und Rüdiger Kramme

FELIX MEINER V E RL AG HAMBURG

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut­ schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar

Zitiervorschlag: ECN 3

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2002. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Spei­ cherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Plat­ ten und andere Medien, soweit es nicht §§53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. - Satz: H & G GmbH, Hamburg. Druck: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach. Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin. Èinbandgestaltung: Jens Peter Mardersteig. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

GELEITWORT ►Ernst Cassirer * Nachgelassene Manuskripte und Texte«

Die nachgelassenen A ufzeichnungen und Papiere Ernst Cassirers sind seit Anfang der sechziger Jahre im Besitz der Beinecke Rare Book and Manu­ script Library an der Yale University>und sie sind vollständig erhalten. Der um fangreiche , fü r diese Ausgabe erstmals systematisch gesichtete und durchgän gig erschlossene Nachlaß umfaßt neben R einschriften der von Cassirer selbst zur Veröffentlichung gebrachten Werke und Schriften eine groß e An­ zahl unveröffentlichter Manuskripte aus allen Bereichen seines wissenschaft­ lichen und philosophischen Lebenswerks. Neben den Forschungs- und Vor­ lesungsmanuskripteny die nicht unm ittelbar zum Zweck der Publikation ausgearbeitet wurden, aber gleich w oh l zum materialen Grundbestand seines Werkes gehören , sind es v o r allem die seit der 1933 erzw ungenen Emigration Cassirers unter erschw erten B edingungen in England , Schweden und den USA entstandenen unveröffentlichten A ufzeichnungen , Vorträge und Schriften, die fü r die Beurteilung der systematischen Konzeption und Fort­ entwicklung der Philosophie Ernst Cassirers von unschätzbarer Bedeutung sind. Die Ausgabe Ernst Cassirer • Nachgelassene Manuskripte und Texte w ird a u f Grundlage der in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library und in w eiteren Bibliotheken sow ie in Privatbesitz befindlicher Manuskripte ein e umfassende, nach thematischen Gesichtspunkten in 20 Bände gegliederte kritische Edition aller wissenschaftlich relevanten Texte aus dem Nachlaß Ernst Cassirers vorlegen. Sie m acht neue und bislang unzugängliche Texte Cassirers zur theoretischen B egründung und Ausar­ beitung der Philosophie der sym bolischen Formen (Abt I), zur Geistesge­ schichte (Abt II) und zur G eschichte der Philosophie (Abt. III) erstmals zugänglich. H ervorzuheben sind hier die bislang unbekannt gebliebenen Texte zu seiner Lehre über Basisphänomene, die als die w oh l w ichtigsten theoretischen Untersuchungen Cassirers zur Begründung der Philosophie der sym bolischen Formen gelten können (siehe die Bände 1, 2, 3 und 5), aber auch seine w eiterführenden Untersuchungen zu anderen Themenkrei­ sen (z. B. zur G eschichtstheorie und Rechtsphilosophie). Ergänzt w ird die Ausgabe durch die Edition des Briefwechsels Ernst Cassirers (Abt. IV). Klaus Christian Köhnke *Joh n M ichael Krois Oswald Schw em m er

INHALT

Geleitwort »Ernst Cassirer * Nachgelassene Manuskripte und Texte«.................... ...................................................................

V

Vorwort der Herausgeber...............................................................

IX

GESCHICHTE. MYTHOS Geschichte .......................................................................................

3

Geschichte (historische] Erkenntnisform).....................................

3

Geschichte (Verhältnis] zur Kunst).............. ................................

18

Geschichte (Allgemeine] Disposition)...........................................

51

Geschichte (Allgemein] ) ................................................................

59

Geschichte (historische] Erkenntnisform / Allgemein].................

83

Geschichte.................... ..................................................................

90

Geschichte (Allgemein] - Erkenntnisform)..................................

92

Geschichte (Allgemein] Erkenntnisform) Historische] “Objektivität*............................................................

112

Geschichte (Kategorienlehre).........................................................

126

Geschichte (Allgemein] Erkenntnisform) Historische] “Objektivität” .............................................. 134 Geschichte (“Zeitstufen”) ...............................................................

138

Geschichte (Objektivität)...............................................................

143

Geschichte (Historiographie).........................................................

146

Geschichte (Wahrheitsbegriff) ........................................................ 147 Geschichte (Typik)......................................................................... 162 Mythos....................... ....................................................................

175

Mythos (Verhältnis zur Geschichte; Analyse des M[ythos] als Organ geschichtlicher Erkenntnis)................................................. 175

Vili

Inhalt

BEILAGEN Biologie........................ ................... ............................ ........ ......

195

Ethik . . . . ....... ................................. . ........ ................................... 196 »Form« .............................. ......................... ............... . .202 »Form«. Zur »Objektivität der Form«....................... .................202 »Form« (Objektivität der Form) ......................................... ........ 212 Form (Kontemplation). (VfcrhfältnisJ zur Geschichte).............. ..217 Form (Geschichte der Form).............................. ........................ 222 Form, Formanalyse.... ........................................... ......... ..........230 .237 Kategorienlehre.................. . . . ............... ........................ ........ Kategorienlehre, »Form« und »Ursache«.................... .......... ..... .241 ..247 Kunst.................................................................... ...... Kunst - (Lyrik).............. ..................... .................... . . . . __ .... 257 Kunst. Zur Kunst als »Intuition«..................................... ............264 Organologie.................................................... .........................

.268

Sinn, Wert........................ ......................... ............... ...................... 269 Sprache (Ursprung).......... ....................................................

.270

Zeit............. .......................................... ................ ......................... 272 ANHANG Zur Textgestaltung 1. Zeichen, Siglen, Abkürzungen.................................................275 2 . Regeln der Textgestaltung.............. ...................... ........ ..........276 Editorische Hinweise 1. Ziel und Gestalt der Ausgabe »Ernst Cassirer • Nachgelassene Manuskripte Texte« ...................... ........................ ........... ........279 2 . Zum Inhalt dieses Bandes................................... ................ 279 Die Manuskripte: Die Konvolute 146 und 184c ............. ..............280 a) Geschichte: Konvolut 146............. .................... ................... ..280 b) Mythos: Konvolut 146 ...................................... ........... ..... ..287 c) Beilagen: Konvolut 184c (Über Basisphänomene)....... ........... .288 d) Nicht veröffentlichtes Material aus Konvolut 146 und 184c ... 291 3. Zur Entstehung der Texte.......... ................... ................ ......... 291 4. Zum Zusammenhang der Texte mit anderen Manuskripten aus Ernst Cassirers Nachlaß.................................................... 291 Anmerkungen der Herausgeber.............................................. .293 Literaturverzeichnis.................... . . ................................ ............ 335 Personenregister................................. ........................... ...357

VO RW O RT DER HERAUSGEBER

Mit den Manuskripten Geschichte und Mythos sow ie den unter verschie­ denen Stichwörtern stehenden Beilagen, die in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht w erden , w ird die Edition der nunm ehr in den ersten drei Bänden der Nachlaßausgabe dokumentierten Theorie der sogenannten ‘B a­ sisphänom ene’ fortgesetzt Während die einzelnen K apitel des Bandes Ziele und Wege der Wirk­ lichkeitserkenntnis (ECN 2 ) a u f ein e Abfassungszeit von 1936 und 1937 eindeutig datiert sind , können die in diesem Band abgedruckten Ge­ schichte, Mythos und die aus dem K onvolut 184c stam m enden Beilagen nur indirekt anhand der Literaturangaben a u f einen terminus post quem 1936 datiert werden. Daß der ebenfalls aus dem K onvolut 184c stam m ende und bereits in Band 1 abgedruckte Text Über Basisphänomene (ECN 1, S. 111 -195) dort (w ohl zu spät) a u f ca. 1940 datiert wurde , jed o ch unm ittelbar in den zeitlichen (1936-37) und in sich geschlossenen theoretischen Zusam­ m en h a n g (B asisp hän om ene) d e r im v o r lie g e n d e n B an d v ersa m m elten Texte

gehört , erklärt sich daraus, daß die hier in der Beilage w iedergegebenen Manuskripte von den H erausgebern ursprünglich überhaupt nicht zum Druck vorgesehen waren. Erst w ährend d er Bearbeitung der Manuskripte Geschichte und Mythos zeigte sich ein so en ger Verweisungszusammen­ hang , daß die H erausgeber glaubten , a u f die Edition dieser Beilagen nicht verzichten zu können. Für m ancherlei H ilfen danken w ir Jutta Faehndrich (Leipzig), Dr. Willfried G eßner (Berlin /Leipzig), Dr. Gerald H artung (Berlin tLeipzig), Arno Schubbach (Berlin) und P rof Karl Schuhmann (Utrecht). Für die institutionelle und finanzielle Unterstützung dieser Edition dan­ ken w ir dem Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und der Deutschen Forschungsgemeinschaft Klaus Christian Köhnke • H erbert Kopp-Oberstebrink R üdiger Kram me

GESCHICHTE. MYTHOS [Konvolut 146]

GESCHICHTE

GeschichteA (historische] Erkenntnisform)!1 Auch geschichtliche Erkenntnis muss in Rücksicht auf die drei Grundphaenomene (Basisphaenomene2) betrachtet werden und erhält erst ihren vollen Gehalt durch die gleichmässige Berücksich­ tigung aller dieser verschiedenen Dimensionen »Geschichte« kann zunächst als einfache Aufbehaltung des Geschehenen, als Aufbewahrung im Gedächtnis beschrieben werdenSolche Aufbewahrung, Reproduktion, Wiedergabe des Geschehenen ist in der Tat der erste unentbehrliche Schritt die »Wiederholung« 3 ist eine Grundfunktion alles geistigen Lebens Dieses Leben fliesst nicht einfach weiter und weiter - von einer Phase zur ändern - im steten Uber -Gang, es ist Fortgang - und dieses Fort- und Weitergehen ist nur in der Art möglich, daß die früheren Stufen sich in den späteren erhalten Sie müssen sich aber, sofern wir es mit geschichtlichem Leben zu tun haben, nicht nur an sich erhaltenderart, daß die Wirkungen, Nachwirkungen des Früheren im Späteren erhalten bleiben Ein solches Fort bestehen ist wesentlich schon für alles was wir »Na­ tur« nennen [.] Nichts geht hier verloren4 - alles bleibt in seinen Wirkungen erhalten und insbesondere alles Leben ist eine solche ReiheBzeitlich ineinander greifender sich ver k e t t e n d e r 0 Wirkungen Jedes individuelle Lebewesen jede Art, die sich reproduziert bildet eine solche Daseins kette - L 1 vgl.D insbesondere] Geschichte (Allgemein]) - y à, 7, 8!E zurF histori­ schen] / Erkenntnisform / vgl. z. B. Litt, / Einleitung] 293 ff[.], 304f.5

A Geschichte] unterstrichen; a u f dem Rand: y 1) B Reihe] über die Zeile geschrieben fü r gestrichen: Kette c verkettender] verkettend er, DErkenntnisform ... vgl.] m it Querstrich verbunden Evgl.... y 6,^8!] ein e Zeile höher bis a u f den Rand geschrieben F Erkenntnisform ... zur] m it zw eitem Querstrich verbunden

4

Geschichte

und schliesslich steht (deszendenztheoretisch, evolutionistisch) das Gan­ ze der Daseinsformen als eine solche einheitliche Daseins- und Wirkens­ kette vor uns[,]6 Das ist die Konzeption des biologischen Geschehens (wie sie p hilosophisch bei Aristoteles angelegt ist und wie sie reifer bei Leibniz vorliegt Über das Kontinuitätsprinzip)[.]7 Aber der Übergang von der Biologie zur Geschichte erfordert einen ändern Schritt eine ju erd ß a o ig e t ç akXo yév o ç[.]% Denn hier stehen wir nicht nur vor einem Geschehen, das sich wieder­ holt und das sich in dieser Wiederholung zu neuen und neuen Formen emporsteigert all dies Emporsteigern ist noch nicht “Geschichte” es ist »Geschichte« nur für den menschlichen] Beobachter, B e­ trachter, der sich selbst in dieses Geschehen versetzt, sich in dasselbe p r o j i ­ ziert, sich als dessen Ende und »Zweck« betrachtet Das ist im Grunde das Wesen aller Naturphilosophie und jede Lehre von der »Evolution« ist nicht positivistisch-wissenschaft­ lich; sie ist naturphilosophisch 9 ... Am reinsten ist dieser Typus bei Schelling vertreten, der als Schüler Kants kritisch genug ist, um sein eigenes Verfahren zu durchschau­ en er we iss um diese Projektion, um diese Hineinlegung des Ich indie Natur 10 und er nimmt dies als das Grundrecht des Idealismus in Anspruch Ein »Verstehen« der Natur gibt es nur vom Ich aus durch Rückverlegung, Wie d erf in d en des Ich in den Naturformen Das ist das Thema des Schelling sehen Idealismus - die Natur ist die Odyssee des Geistes, der sich selber suchend sich selbst flieht[.] u Aber diese Entwicklungsgeschichte, auch wenn sie metaphysisch als Geschichte des Geistes beschrieben und gedeutet wird, ist noch nicht dasjenige Phaenomen, was uns in der Menschen geschichte tatsächlich entgegentritt[.]

Historische Erkenntnisform

5

zDenn hier tritt das ganz neue »subjektive« Moment [auf] Zur »Geschichte« wird das Geschehen erst, indem es sich nicht nur fort­ setzt und in dieser Fortsetzung zu neuen Formen weitergeht - L indem es sich nicht nur in der Zeit wiederholt - L sondern indem es als solche Wiederholung (- als ein einheitliches, mit sich identisches Geschehen, als ein »zusam­ menhängendes« Geschehen) gewusst wird Dazu bedarf es der Wiederholung in einem neuen aktiven Sinne Es genügt nicht, daß das Geschehen ewig wiederkehrt und sich in dieser Wiederkehr ständig neu erzeugt, in bestimmten Formen re p r o d u ­ zi ert es muss »erinnert« werden d. h. es muss immer wieder der Gefahr des Versinkens entrissen aus dem Abgrund des Vergessens herausgehoben - wieder-ge hol t wer­ den. Dies Wieder-Holen (Re-petere) ist die große Funktion der geschichtlichen Mneme, Mnemosyne Daß er diese Funktion in ihrer Bedeutung erkannt u[nd] daß er sie in ihre Rechte eingesetzt hat: das ist der Fortschritt, den Hegel gegenüber Schelling vollzieht Hier bildet die Vorrede zur “Phaenomenologie des Geistes”, die die grosse Abrechnung mit Schelling vollzieht, einen Markstein in der Ent­ wicklung des philosophfischen] Geistes, insbesondere des idealisti­ schen] Geistes [.] - Vgl. die Stellen über die E rinne rung [,]12 über den Geist, der sich selbst (in seiner Geschichte) w e i s s 13 - als die Erinnerung und die Schädelstätte [.] 14 Aus der Quelle dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlich­ keit 15 Das ist die erste philosophische Erkenntnis der Geschichte - L das erste Mal, daß Geschichte zum philosophischen Thema erhoben wirdL - und diese Thematik ist ganz unabhängig von der metaphysischen] Lösung, die Hegel gegeben hatA - L es ist nicht nur eine materiale Geschichtsphilosophie -

A hat] hat.

6

Geschichte

es ist die erste Analyse der historischen] Erkenntnisform, die Hegel gegeben hat - L eine Analyse, die den Hebel erheblich tiefer ansetzt, als es die metho­ dologischen Betrachtungen der Neueren, insbesondere Rickerts, getan haben Denn bei R i c k e r t kommt trotz aller erkenntnistheoretischen Subtilität und trotz all des methodologischen Details doch im Grunde nur eine recht-kümmerliche negative Charakteristik des historischen] Erkennens heraus er schildert, was Geschichte nicht ist bzw. seiner Auffassung nach nicht sein soll - ihre Abgrenzung vom naturwissenschaftlichen] »Begriff« 16 aber er verkennt durchaus, daß auch sie eine Form der A 11 g e m einh e i t besitzt schiebt das Thema dadurch von vornherein auf eine andere Ebene Die Unterscheidung nomothetischer und ideographischer Methode, die er Windelband entnimmt,17 hat durch seine weitschweifige Ausführung nicht gewonnen Und ebenso verdunkelt seine Beziehung auf die Allgemeinheit der Werte das wirkliche] Problem Viel reicher und viel tiefer ist hier Dilthey, der wirklich wieder zu den Grundfragen der St ru k tu r der historischen] Erkenntnis 18 zurück­ dringt und in dieser Hinsicht das Problem wieder an dem Punkt erfasst, an dem Hegel es gelassen hattef.] Um die Frage in ihrer ganzen Weite zu erfassen, gilt es zunächst die Stufen der Er-Innerung, 19 Wieder-Holung = Wieder Hinauf -Holung von einander zu unterscheiden. Jede solche Wiederholung ist ein Werk der Phantasie denn das Geschehen kann nicht einfach, so wie es abgelaufen ist, noch einmal ablaufen Auch beim historischen Erkennen, wie bei jedem Erkennen über­ haupt, versagt jedwede A b b ild th eo rie ; ja hier wird die Kluft fast noch deutlicher1 - wir können nicht in dem Sinne in die Vergangenheit hinab tauche n , daß wir zu dieser Vergangenheit w e r d e n ­ daß wir, was sie war und was sie erlebte, noch einmal sind und noch einmal erleben - L

Historische Erkenntnisform

7

einer solchen R epr od ukt ion des Vergangenen schiebt der Heraklitische Satz, daß Niemand zweimal in denselben Fluss hinabsteigen könne, 20 einen Riegel vor. Auch in den Fluss der Geschichte können wir nicht zum zweiten Male herabsteigen - er ist, real gesehen, für immer dahinL das Geschehene kehrt nicht wieder Wie aber kann es nichts destoweniger historisches Erkennen o h n e A diese Wiederkehr geben? Das ist das Grundproblem des historischen] Wissens Wenn der Chemiker in seinem Laboratorium ein Stück Eisen oder Gold oder eine sonstige Substanz analysiert wenn der Physiker bestimmte Versuchsreihen, die zur Entdeckung eines best[immten] Gesetzes geführt haben, wiederholt, um das Gesetz entwe­ der zu bestätigen oder zu berichtigen - L so setzen wir voraus, daß beide dasselbe »Ding« (Gold, Eisen) oder dasselbe Geschehen (Bewegung eines Körpers auf einer schiefen Ebe­ ne, Bewegung eines Pendels u.s.f.)L »wiederfinden« können, um an ihm gewisse Eigenschaften abzulesen Aber ein solches Wiederfinden gibt es im Bereich des historischen Erkennens nicht - L was einmal gewesen, das kehrt nie wieder in derselben Gestalt zurück es ist für immer versunken im Strudel der ZeitWie also kann es wieder gerettet, dem Untergang entrissen, restituiert und historisch re-konstruiert werden Hier ist jede Restitution in der Tat nur durch Rek on str u k tio n mög­ lich und in diesem Sinne enthält jede noch so einfache Geschichtserzählung einen k o n s t r u k t i v e n 8 A k t (Am besten hierüber: Simmel, Probl[eme] der Geschichtsphil[osophie], 2 [.] Aufl., vgl. dort.) 21

A ohne] doppelt unterstrichen B k onstr uktiv en] davor gestrichen: re[ konstr uktiven]

8

Geschichte

zDiese »Konstruktion« ist plastische Konstruktion: sie erneut das Geschehen, nicht indem sie es abbildet, “kopiert”, in all seinen Einzel­ heiten aufs neue an uns vorübergehen lässt eine solche “Erneuerung” wäre schon aus rein stofflichen Gründen unmöglich - L sie erneut es vielmehr, indem sie es zu »Gestalten« zusammenschiessen lässt Die Vergangenheit in dieser Weise zu gestalten - . d.h. sie als Gestalt sichtbar werden zu lassen: das ist die erste, wesentliche Aufgabe des Historikers Sie reicht von den primitiven Anfängen der Geschichtserzählung bis zu den höchsten Stufen historischen Begreifens wie es etwa das Begreifen der eigenen Lebensgeschichte durch ein großes Individuum ist Goethes “Dichtung und Wahrheit”L - das ist nicht einfach wiederholender Rückblick auf das eigene Le­ ben noch etwa, wie in anderen großen Konfessionen, ethische Selbstbe ­ sinnung es ist reine “Geschichte” »Vergangenes in ein Bild verwandeln« 22 diese Maxime von Goethes Poesie wirkt auch hier sich aus - daher der Titel: Dicht [un]g und Wahrheit1 - nur durch “der Dichtung Schleier”23 kann das Individ [uum] die Wahr­ heit, die ihm selbst eignet, erblicken nur durch dies Medium hindurch kann es gewahr werden, was es ist[.] - Und diese Funktion: »Vergangenes in ein Bild zu verwandeln« wirkt sich auch in jedem geschichtlichen Erkennen rein »objektiver« Tatbe­ stände aus Hierin, - nicht etwa nur nachträglich und äusserlich in der Form der Darstellung, ist der Historiker dem Künstler verwandt Der echteAHistoriker wird nicht etwa erst dadurch zum Künstler, daß er ändern seine »Gesichte« 24 m it tei lt er ist es schon in der Art, wie er diese Gesichte g e w i n n t ; er ist es schon in seiner ursprünglichen A rt des Sehens selbst-

A echte] nachträglich in den Text eingefügt

Historische Erkenntnisform

9

zUnd diese Eigenschaft gilt nicht nur von den großen Historikern von Mommsen, Ranke u.s.f. sie reicht vielmehr bis in die Urstufen und Urweisen historischer ‘Erin­ nerung’ herab -denn jede Erinnerung ist an diese Bild-Werdung (Verdichtung zum Bilde = Dichtung!) geknüpft. Wo diese Kraft der bildenden Phantasie - die aber eine »Phantasie für die Wirklichkeit des Realen« 25 ist noch nicht vorhanden ist, da gibt es noch keine Erinnerung noch kein historisches Bewusstsein Insofern sind die Primitiven “geschichtslos” Aber schon in ganz primitiven Kulturen ringen sich die ersten Stufen geschichtlichen Bewusstseins empor sobald die spezifische »Bildkraft« des Menschen sich regt26 - L sobald der Mensch nicht mehr beim unmittelbaren Dasein und beim unmittelbaren Bedürfnis verweilt Das Dasein heftet ihn an einen bestimmten Gegenwartspunkt das Bedürfnis treibt ihn über die Gegenwart hinaus für die Zukunft und um die Zukunft zu sorgen - L aber daneben beginnt er sich innerlich - in reiner Anschauung, Kontemplation, Rück-Besinnung ein Bild der Vergangenheit aufzubauen (Vergangenes in ein Bild zu verwan deln)[.] Diese Metamorphose ist der Anfang u[nd] das Element alles ge­ schichtlichen Bewusstseins durch sie beginnt der Mensch “seiner selbst” sichtbar zu werden nicht nur seiner unmittelbaren Gegenwart ve rh af te t zu sein27 sondern sich auf seinen Ursprung zurückzuwenden und diesen “Ursprung” sich sichtbar zu machen in bestimmten Gestaltungen Ob die “Gestalten”, die er in dieser Weise aus sich herausstellt, “real” oder “irreal” sind darauf kommt es hierbei zunächst gar nicht an es handelt sich lediglich um ihren symbolischen Sinn und ihre sym­ bolische Kraft um die Funktion der Bildgestaltung selbst die ein unentbehrliches Moment ist - ein Moment, das auch in jedes höchste historisch-geläuterte und geklärte Realitätsbewusstsein ein­ geht -

10

Geschichte

zDie erste Stufe der Bi ld ge s tal tun g, durch die jedes historische Be­ wusstsein genetisch hindurchgehen muss, obwohl es ebensosehr aus ihr sich losringen muss, ist die mythische Form der Erinnerung Sie ist die erste Rückwendung auf den Ursprung Der Mensch ist nicht länger zufrieden mit der eigenen »Gegenwart« und mit der Gegenwart der »Welt«, so wie sie ihm in unmittelbarer Anse hau u n g A gegeben ist, wie sie ihm “vor Augen liegt” er fragt »Woher« er selbst, »woher« die Welt ist Und dieses »Woher« kann nicht anders beantwortet werden als durch ein mythisches V or her­ ein Etwas, das w a r - ehe denn die Welt in ihrer gegenwärtigen Gestalt gewesen Ehe denn die Berge waren ... etc.28 Nicht® alles Sein wird auf diese Weise dem mythisch-historischen Be­ wusstsein zugänglich und durchdringlich es gibt vieles im Leben des Alltags was noch immer einfach hinge­ nommen wird[,] als da-seiend stehen gelassen wird ohne daß sich der mythisch (-historische) Blick darauf richtet - L nur das Bedeutsame wird herausgehoben1 L (wobei aber natürlich keinerlei abstrakte We r t -Gesichtspunkte das Maß der Bedeutung bestimmen sondern lediglich das was in die Gegenwart fo r t w i r k t , in sie noch hineinragt, als »bedeutsam« empfunden wird[).] {Über diese Kategorie des »Bedeutsamen« im Unterschied und Ge­ gensatz zu dem Rickert sehen Wertgesichtspunkt vgl. die treffenden Be­ merkungen bei Simmel, Problfeme] der Geschichtsphil[osophie.] )229

1 h[ie]rz[u] vgl. Z[e]tt[el]: »Sinn«! 30 2 falsch0 ist es, die Kategorie / des »Bedeutsamen« in die / des »Wirksamen« zu /verengen, wie es der /bloss politischen] Geschichts-/schreibung nahe liegt / s[iehe] z. B. Ed[uard] Meyer / Zur Theorie u[nd] Methodik / der Geschichte, 1902.31 / Zur »Sinn«-Kategorie / vgl. bes. Troeltsch, Historismus] / 42f.32 / mit Verweis[ung] auf M[ax] Weber / Archjiv] f[ür] Sozfial] Wissenschaft] XXII, 133

A Anschauung] danach gestrichen: vorliegt B Nicht] davor gestrichen: Alles c hierzu ... »Sinn«!] nachträglich hinzugefügt DGeschichtsphilosophie)... falsch] m it Querstrich verbunden

Historische Erkenntnisform

11

Aber ebenso gilt, daß alles dem Menschen Bedeutsame allmählich in diesen Lichtkegel der mythischen] Erklärung einrücktvon seinem Blickstrahl 34 getroffen wird Was irgendwie bedeutsam ist das ist auch “von Alters her” — ja es ist “vom Anfang der Zeiten her” [.] Hieraus ergiebt sich die mythisch-historische Erklär[un]g vom Ursprung der Welt vom Ursprung des Stammes aber auch von allem, was sonst für das Leben des Menschen und des Stammes unentbehrlich ist vom Ursprung der Sprache, der Schrift[,] vom Ursprung der einzelnen Werkzeuge (die Axt, das Beil hat seine mythische »Geschichte«) und auch vom Ursprung der Tierarten, mit denen der Mensch noch in unmittelbarer Gemeinschaft lebt (Totemismus)[.] All das ist “vom Anfang her” u[nd] aufAdiesem Alter beruht seine Würde und seine Macht es ist övväßSi xal jtQeoßsia vjz£Q£XOv[.]35 Von dieser mythischen Bildwelt löst sich die epische Bil dwelt und in ihr entsteht ein neuer entscheidender Fortschritt, eine neue Phase der »Er-Innerung« der Menschheit[.] In »Sage« und »Lied« holt jetzt die Menschheit das Vergangene wieder »herauf« ihnen beiden vertraut sie seine »Aufbewahrung« an Das »Gedächtnis« des Epos aber ist ein anderes als das rein mythische Gedächtnis denn es ist durch eine neue Form der Zeitauffassung und der Zeit­ gestaltung ausgezeichnetDer Mythos rückt allen Ursprung, von dem er berichtet, in eine Ur zeit, Vo rz ei t zurück, die als solche nicht näher bestimmt und beschrieben ist Sie “war einmal” ohne daß nach ihrem Wann gefragt werden kann -

A auf] darunter: (Forts[etzung] s[iehe] y 2); die folgen de Seite beginnt m it der Wie­ derholung der Abschnittsüberschrift: Geschichte (historische] Erkennt­ nis f o r m) ; a u f dem Rand: y 2)

12

Geschichte

2 Auch der epischen Zeit ist noch viel von dieser Indifferenzierung, von

diesem ganz ungegliederten »Es war« eigen - und doch sind in ihr schon die ersten Ansätze einer neuen Zeitgestal­ tung sichtbar Das Epos berichtet gleichfalls von der Vorzeit aber diese ist keine blosse Urzeit mehrL sie steht zur Gegenwart in einem bestimmten Abstand, einer bestimmten Distanz[.] Die Zeit der homerischen Gesänge, die Zeit des trojanischen Krieges - L dies alles ist für die Griechen nicht mehr schlechthin vorzeitig1 - es ist noch immer ein in gewissem Sinne Gegenwärtiges, in die Gegen­ wart Hineinragendes es ist ein Etwas, das die Vorväter noch selbst gesehen und erlebt und wovon sie in ihren Gesängen den nachfolgenden Geschlechtern, den Kindern und Enkelkindern Kunde hinterlassen haben Dies alles war nicht nur »einmal« es war »dazumal« in einem Punkt der Zeit, auf den sich noch unmittelbar hin weis en u[nd] der sich durch eine bestimmte Generationenfolge “bezeichnen” lässt Dies episch-historische Bewusstsein tritt daher an die Stelle des Ahnen­ kults und übernimmt seine Funktionen Vielleicht lässt sich sagen, daß die Griechen ebenso wie sie die mythische Frage nach dem Ursprung, der &Q%rjy der N a tu r Ain eine philosophische verwandelt habenL - den gleichen Schritt auch im geschichtlichen] Bewusstsein getan ha­ ben ■ Der mythische Ahnenkult des Orients wird bei den Griechen der Home­ rischen Gesänge zum poetischen Ahnenkult Philosophie und (epische) Poesie sind somit die Quellen, aus denen die Wissenschaft der Natur und die Wissenschaft der Geschichte bei den Griechen geboren wird - Der epische Dichter® schafft den Anfang historischer Erinnerung[:] Vixere fortes ante Agamemnonamulti, sed ...36

A der Natur] nachträglich a u f den Rand geschrieben, davor ein Wort gestrichen B Der ... Dichter] a u f den Rand geschrieben c Vixere ... sed ...] a u f den Rand geschrieben

Historische Erkenntnisform

13

2 Und unbegreiflich schnell geht diese Entwicklung vor sich: Plato steht zu den Ioniern, wie Thukydides zu Herodot steht.

An dem Wandel des Bewusstseins von den Homerischen Gesängen bis zu Thukydides lässt sich der Übergang von dem epischen Zeitbewusst­ sein zum echt-historischen Zeitbewusstsein ablesen[.] Die historische Zeit knüpft eine neuartige Einheit von Gegenwart und Vergangenheit u[nd] schafft damit einen neuen Typus der »Erinnerung«[.] Sie gibt die Unbestimmtheit der blossen »Vorzeit« auf sie schafft eine feste zeitliche Ordnung, innerhalb deren jedem Gesche­ hen sein bestimmter Platz angewiesen wirdZum ersten Mal entsteht hier eine Chronologie - analog der »Physiologie« der Ionier[.] Die Zeit hat ihren »Logos«; sie besitzt eine bestimmte Ordnung und Folge, kraft deren sich das Spätere aus dem Früheren entwickelt Das besagt weit mehr, als die bloss zeitliche Fixierung der Gescheh­ nisse im Sinne einer einfachen Aufreihung “Erzählung” als “Herzählung” (Hegel )[.]37 In diesem Sinne bloss “herzählend” sind selbst die Anfänge der bloss »chroniken«-haften Geschichtsdarstellung nicht Auch die blosse historische Folge, der einfache A b la u f der Ereignisse, macht hier,Awenigstens implizit, schon etwas mehr sichtbar er zeigt, wenn auch noch so unvollkommen und vorbereitend, wie die Ereignisse ineinandergreifen; wie sich Vergangenes und Gegenwärtiges mit einander verknüpft und wie in diesem Sinne auch innerhalb der Geschichte alles sich “zum Ganzen webt”[.]38 Dieses “sich zum Ganzen weben” kannte der Mythos noch nicht und auch dem Epos ist es fremd denn Sage, Legende, Heldengesang heben einzelne große Ereignisse aus dem Strom des Geschehens heraus -

A macht hier] davor gestrichen: soll hier

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Geschichte

- sie müssen isolieren, um die Höhenschicht, die Bedeutsamkeit des Ereignisses zu kennzeichnen nur durch solche Isolierung können sie die Erinnerung fixieren[.] Die Historie aber schreitet nicht mehr in dieser Weise der mythischen oder epischen Heroisierung nur von Berggipfel zu Berggipfel fort - L sie füllt auch die T äler-L sie gewinnt ein Bild von der Einheit des Geschehens in der Einheit, der stetigen, ununterbrochenen Folge der Zeit[.j Und dies erst ist ihr die wahre Form der Erinnerung Sie taucht nicht, dem Perlenfischer vergleichbar, in die Tiefe, um aus ihr eine einzelne Perle herauszuholen sie giebt eine in sich verknüpfte Kette, eine Perlenschnur des Gesche­ hens und an ihr besitzt sie jene Wieder-Holung, jene Zurück-Holung der Vergangenheit, nach der sie strebt Das ist die wahre »Palingenesie« des Geschehens, wie Goethe es einmal im Hinblick auf Herders Geschichtsbetrachtung bezeichnet[.] 39 Näher können wir auch hier drei Formen und drei Aufgaben der Ge­ schichtsbetrachtung unterscheiden, die unseren drei “Basisphaenomenen” entsprechen. 40 A) Das Ich-Phaenomen, das Phaenomen der Monade Es ergibt eine Grundform der geschichtlichen] Er-Innerung und erfüllt eine wesentliche Funktion von ihr[.] Die Erinnerung wird zunächst auf das eigene Selbst gerichtet Die Frage: Was bin ich? lässt sich für kein Subjekt beantworten, ohne daß die Frage Was w ar ich? oder die Frage Wie wurde ich was ich »bin«? gestellt würde Und hieraus ergibt sich eine Urform historischer Selbstbesinnung die Form der A u t o b i o g r a p h i e Vgl. Misch, Gesch[ichte] der Autobiographie zur Entstehung des litterarischen G e n o s [.]41 Die Autobiographie steht auf der Grenze zwischen dichterischer und historischer Betrachtung -

Historische Erkenntnisform

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die Ich-Darstellung ist vom Ich-Roman oft kaum zu scheiden Dichtung” und “Wahrheit” greifen gerade hier ständig in einander ein, sie hemmen sich nicht, sondern treiben einander hervor (vgl. oben über Goethes Dichtung u[nd] W[ahrheit])[.]42 Das »monadische« Leben spiegelt sich nicht in ändern es wendet sich gegen sich selbst zurück und »reflektiert« sich in sich und aus dieser Form der »Reflexion« geht ihm eine ganz neue Form der Klarheit, der Bewusstheit auf Hier erst wird es zum »Ich«, im eigentlichen Sinne, zu der ihrer selbst bewussten Persönlichkeit Und es braucht nicht stets ein Individuum zu sein, das sich in dieser Weise in sich selbst reflektiert das Gleiche tritt ein, wenn eine Form “höherer Ordnung” in dieser Weise »monadisch« gesehen und monadisch interpretiert und dargestellt wird - L wenn z. B. die Geschichte eines Volkes dargestellt wirdDas Volk wird hier behandelt, als wäre es ein Ich der Historiker versetzt sich in sein »War«, um zu erfahren, was es ist Die nationale Geschichte ist in diesem Sinne der Autobiographie verwandt].] Und die wirklich-große nationale Geschichte, wie sie von den wahrhaften Meistern geübt wurde, zielte demnach auch niemals auf blosse V e r ­ herrlichung des eigenen Volkes hin — sie verfiel nicht dem Grössenwahn des Nationalismussondern sie hielt Gerichtstag vor dem Forum der Weltgeschichte, die ihr als das Weltgericht galt[.]43 Sie fragte nach der Vergangenheit, um Antworten für Gegenwart und Zukunft zu erhalten - L sie bedurfte der Erinnerung, um für die neuen Entscheidungen reif zu werdenf.] In diesem Sinne definiert ein Historiker wie Huizinga (cf. Festschrift) alle historische Erkenntnis als einen Akt der Selbstbesinnung 44B) Das Phaenomen des Wirkens und Wollens (Zweite Stufe) Hier erst scheinen wir wirklich den Boden der »Geschichte« zu betreten und viele Philosophen und Historiker glauben, daß hier erst ihre eigent­ liche Domäne, ihr Erkenntnisgebiet und ihr Herrschaftsgebiet beginnt Geschichte kann es nach ihnen nur von Staaten geben -

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Geschichte

von pol itischen Ganzheiten, die nicht nur, gleich Organismen, ruhig hervorwachsen sondern die sich einander gegenüberstehen u[nd] die sich im Kampf gegen einander behaupten Nur Staaten haben eine Geschichte (Hegel)[.]45 Der Staat aber ist nichts anderes, als eine Organisation der Einzel wi lle n; ihrer Gliederung und Zusammenfassung So stehen wir hier auf dem Boden des zweiten Phaenomens: des Ich-DuPhaenomens[,] das die Basis aller »Gesellschaft«, aller staatlichen Verbän­ de und damit aller politischen Geschichte ist Und dazu kommt ein anderes: Der Staat ist nicht die einzige Form, in der Menschen Zusammenleben “mit einander” und “für einander” sind[.]46 Er baut sich auf - auf den Vorformen von Familie, von Sippe u.s.f. Auch diese Formen können als das, was sie sind, nur erkannt werden, wenn ihr We r d e n erfasst und an diesem Werden gewisse typische Momente herausgehoben werden so ergiebt sich aus der politischen Gesch[ichte] die soziologische Geschichtsbetrachtung^] Lamprecht z. B. hat die “Deutsche Geschichte” unter diesem doppel­ ten Gesichtspunkte zu erfassen gesucht von den »Formen« (Befindlichkeiten, »Strömungen« des Ich aus) Periode der “Reizsamkeit”47 u.s.f. und von den soziologischen Formen aus aberA Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie[.]48 Aber dies führt schon zu einem dritten Moment hinüber[:] C) Das »Werk« als Grundlage der Geschichtsbetrachtung und Ge schichtserforschung In diesem dritten Moment scheint erst die wirkliche Ebene des histo­ rischen Verstehens erreicht scheint die »Erinnerung« erst ihre Vollendung zu erreichen.

A aber] über

Historische Erkenntnisform

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2 Denn wir können im Grunde keine »Er-Innerung« 49 an das heraufbe­

schwören, was nicht mehr ist, sofern es sich nicht selbst rein objektiv, eine dauernde Gegenwart erschaffen hat sofern es nicht ein Erinnerungs-Zeichen von sich hinterlassen hat, das sein flüchtigesA Dasein überlebt Nur wo es solche Erinnerungs-Zeichen, nur wo es »Monumente« gibt, ist geschichtliche Wiedererinnerung möglich Das Monument ist das zeitlich-Entstandene und zeitlich-Gebundene, das nichtsdestoweniger dem Augenblick seiner Entstehung nicht verhaf­ tet ist es ist als Werk ewig (Ich weiss es, sie sind ewig[,] denn sie sind)[.]50 Aus dieser Form des ÜberdauernsL - des »aere perennius« 51 - quillt die Kraft der ständigen Erinnerung das Werk ist dasjenige, was wirklich wieder-holt werden kann - L so wie in jeder “Wiederholung” der neunten Symphonie noch Beethoven selbst zu uns spricht].] So vollendet sich alle echte Geschichte nicht in politischer Geschichte, sondern in echter Werk-GeschichteL (als Sprachgeschichte, Litteraturgeschichte, Kunstgeschichte, Religions­ geschichte, Wissenschaftsgeschichte) [.] Hier erst wird der Skepsis gegen die Geschichte, wie sie z. B. in Goethe waltet, Einhalt geboten Goethe hat den Fortgang von der mythischen Geschichte zur »realen« Geschichte bezweifelt - am Ende bleibe doch alles Legende52 u[nd] ohne Legende lasse sich das Geschehen nicht nacherzählen, nicht wieder zur »Erinnerung« bringen Aber er begrenzt dieses Urteil gegenüber der WerkgeschichteL - seine eigenen wissenschafts-geschichtlichen Arbeiten vgl. h[ie]rz[u] den Aufs[atz] Goethe u[nd] die geschichtliche] Welt.53

A flüchtiges] darunter: F o r t s e t z u n g ] s[iehe] y 3 ); die folgen d e Seite beginnt m it der W iederholung der Abschnittsüberschrift: Geschichte ( h i s t o r i s c h e ] Erk e nn tn i sf or m) ; a u f dem Rand: y 3; nach Querstrich Fortsetzung des Textes

Geschichte A (Verhältnis] zur KunstB) (Zum Verhältnis] beider s[iehe] auch Mommsens rede[)]J4 c

Rektorats-

Aus dem was über die »theoretische« Funktion der Kunst gesagt wurde -» v g l . X 1 ) 2 ) 1 , ergibt sich auch das wahre Verhältnis von Kunst und Geschichte^ und dies Verhältnis lässt sich nur dann adaequat erfassen, wenn man sich eben jene Funktion ständig vor Augen hält Dann erst ergibt sich die Beziehung, die zwischen »aesthetischer« und »historischer« Wahrheit besteht[.]357 Man kann bei der Bestimmung dieser Beziehung nicht von dem naiven Wirklichkeitsbegriff ausgehen - L dieser v e r w i s c h t immer wieder die scharfen Grenzen und droht alles

zu verwirren[.] Nach ihm schildert die Historie das »wirklich«-Geschehene, das wirk­ lich-Gewese ne während die Kunst dem Gebiet des rein »Imaginativen« angehört[.] Geschichte und Kunst scheiden sich also darin, daß die erstere ein Seiendes, die zweite ein Nie h t - Seiendes zum Ziel, zum Gegen­ stand hat[.] 1 RedenE u[nd] Aufs[ätze]3 / 1912, S. 3-16 / (Troeltsch 660 Anm[erkung]) 2 hierzuF s[iehe] auch die / Gegenüberstellung in / Humboldt, Aufg[abe] des / Geschichtsschreibers, / IV, 40 ff. 3 Das rein-künstlerische / Ideal bei RenanG / »Natur soll man wissenschaft­ lich] / traktieren, aber Geschichte / soll man dichten« / cf. Küchler 206, der / erklärt, daß dies auch / auf Renan zutrifft[,]?8

A Geschichte] unterstrichen; a u f dem Rand: Y4,1 B Kunst] unterstrichen c (Zum Verhältnis ... Rektoratsrede] nachträgliche Einfügung in Leerzeile, Tinte

etwas dunkler

D vgl. ... 2 ) ] d o p p elt u n terstrich en EReden] über gestrichen: Vortr[äge] geschrieben F Geschichte - ...hierzu] durch Pfeil verbunden G Renan] gestrichen , darunter ; ebenfalls gestrichen: Spengler Hcf. Küchler ... zutrifft] m it Querstrich verbunden

Verhältnis zur Kunst

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Die Geschichte schildert Wirkliches die Kunst - Unwirkliches1 jene geht auf ein Objektiv-Bestehendes diese auf ein Subjektiv-Erfundenes[.]

Aber diese Scheidung geht in doppelter Hinsicht fehlkurz ausgedrückt: die Geschichte ist weder so »wirklich«, noch ist die Kunst so »unwirklich« als in dieser Trennung vorausgesetzt wird[.] Die GeschichteA ist nicht so wirklich — denn die naive Vorstellung, daß Geschichte eine “kopeyliehe^ Abschil­ derung des Wirklichen] ist, ist in keiner Weise haltbar eine solche einfache Wie der ho lun g des Geschehenen ist weder mög­ lich, noch wäre sie sinnvoll Auch »Geschichte« gibt nicht Wirklichkeit wieder; sie »entdeckt« Wirk­ lichkeit holt sie h e r a u f und dieses Re-p e te re ist keine “Repetition” im gewöhnlichen Sinne der Reproduktion (vgl. h[ie]rz[u] früher zur Funktion des Repetere60)[.] Das Vergangene steigt vielmehr in neuer verjüngter Gestalt aus der Asche empor61 - L und dieser Verjüngungsprozess ist eigentlich die wesentliche Funk­ tion der Geschichte Deshalb sprach Goethe von der Palingenesie der Geschichte durch Herder 62 - L eine solche Wi ed erg ebu rt des Gewesenen leistet jeder große Histo­ riker - und hierin, nicht in der blossen »Schilderung« besteht der Reiz der wahrhaften historischen] “Kunstwerke” Wer erinnert sich nicht, mit welch neuer Gestalt6 ihn Rom ansah, als er es zuerst mit Mommsens Augen ansah Welch neues Antlitz es ihm zukehrte unter diesem Blickpunkt-

A Die Geschichte] a) die Geschichte; die G liederung w ird nicht fortgeführt B Gestalt] a u f dem Rand ergänzt fü r gestrichen: Augen

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Geschichte

zHier herrscht durchaus dasselbe Verhältnis, wie zwischen der “Natur” einerseits und dem großen Maler oder Dichter andrerseits durch ihren Blick gesehen nimmt die Natur, die Wirklichkeit eine neue Gestalt anL vgl. Kunst x 1,1 u[nd] x 1,2[.]A3 Solche Vision ist überall unerlässlich, wenn sich für uns die Wirk­ lichkeit zum Bild formen soll[.] - Nicht etwa eine “Auswahl” nach Wertgesichtspunkten - (Rickert)[.] Eine solche »Auswahl«, ein Herausschneiden aus der vollen konkreten Lebenswirklichkeit: das wäre etwas ganz Rohes und Unzulängliches jeder Historiker würde dann einfach nach willkürlichem Rezept - denn auch der Anwendung angeblich-allgemeingültiger Wertprinzipien haftete doch immer eine solche Willkür an die Geschichte “zusammenschneiden” und sich “zurechtschneiden” einen Teil für das Ganze geben1 während jede echte »Sichtbarmachung« (Vision) ( - ob wir ihr zustimmen oder nicht zustimmen, sie anerkennen oder nicht anerkennen mögen) stetsein Ganzes vor uns hinstellt, nicht ein »Stück in Stücken« 64 Hierin[,] in dieser Art der Sichtbarmachung eines Ganzen, das als s o l ­ ches wirkt und überzeugt, ist der Historiker dem Künstler verwandt - die wahrhaft-grossen Historiker5 sind ebensolche »Visionäre« (Gestalter als Gestalt-Entdecker!) wie es die großen Künstler sind auch0 Ranke ist - und die Rankesche Idee besagt eben dies Ve 1a s qu e z gibt uns in seinen Portraits desDspanischen Hofes ein echtes Stück spanischer Geschichte und sein »Portrait« von Innocenz X lässt sich einem der großen Porträts der römischen] Päpste, die Ranke gegeben hat,65 oder Mommsens Cäsar[-] Porträt66 durchaus an die Seite stellen -

Avgl. Kunst x 1,1 und x 1,2] im fließen den Text, also nach x 1,1 u[nd] x 1,2

geschrieben

B Historiker] davor gestrichen: Visionär c auch] Auch D Portraits des] Portraits, des; nachfolgende Zeile gestrichen: z. B. in dem Portrait von Papst Innozenz

Verhältnis zur Kunst

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Besonders in dieser Kunst des Porträts begegnen sich Kunst und Ge­ schichte Wie es nicht 2 große Maler gibt, die dasselbe Bild von einem bestimm­ ten] Individuum malen so auch nicht 2 große Historiker[.] (Und doch ist es ganz unzureichend, daß der eine diese oder jene Züge, die sich alle in dem “wirklichen” Menschen oder der “wirklichen” histori­ schen Gestalt vereinen, weglässt es handelt sich nicht um eine negative (abstraktive), sondern durchaus positive (produktive) Leistung[)] Das Geheimnis des Historikers besteht darin[,] daß auch das Vergan­ gene, nicht mehr Seiende einer solchen Neugeburt, Palingenesie bedürftig und fähig ist - L daß es gar nicht »existiert« ohne ein solches ständiges Neuentdecken (Re-petere) Das Vergangene wäre versunken, tot, für ewig dahin - L wenn es nicht in solchen reinen Visionen immer wieder heraufgeholt werden könnte - L wobei es bei jeder Heraufholung in anderer und anderer Gestalt er­ scheint Diese potentielle Gestaltenfülle, die es in sich birgt - L das ist der wahrhafte Charakter alles Historisch-Bedeutsamen Was besagt diese Kategorie der histor[ischen] B ed eut sam ke it 1 Ist nur das »Wertvolle« bedeutsam (Keineswegs: das Bedeutsame schliesst keine positive oder negative Wert­ qualität in sich) oder nur das bis in unsere Zeit For twi rk end e [?] Ebensowenig - das Bedeutsame kann einer Zeit angehören, die mit der unseren gar nicht mehr in unmittelbarer kausal-realer Verbindung stehtL 1 zu dieser^ Kategorie der / Bedeutsamkeit vgl. die / Bemerkungen] bei / Geschichtsphil[osophie]67

Simmel

ABedeutsamkeit ... zu dieser] mit Querstrich verbunden

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Geschichte

von der wir ganz abgeschnitten sind, als hätte sich das Geschehen auf einem ändern Planeten abgespielt die uns (real-kausal) nicht mehr berührt[,] uns nichts “angeht” Worin also liegt das Kr i t e ri u m der historischen »Bedeutsamkeit«? Auf Grund der vorhergehenden Betrachtungen können wir hierauf eine neue und scheinbar paradoxe Antwort geben[:] Historisch8 bedeutsam ist nicht das, was einen bestimmten Rang in einer Wertordnung einnimmt,1 noch das, was uns noch irgendwie beeinflusst - L es ist vielmehr das, was noch zum Gegenstand der historischen »Entdekkung« werden kann was des ständigen Herauf- und Hervorholens (Re-petere) fähig und bedürftig ist und was uns in jeder dieser Wiederhervorholung[en] ein neues G e­ sicht zeigtWirklich-vergangen (in den Orkus des Vergessens) herabg esun ken 68 ist nur das, was dieses charakteristischen Verjüngungs prozesses nicht mehr fähig is t- L was keine Variationsmöglichkeit mehr in sich birgt was uns, so oft wir auch versuchen mögen, es aus der Vergessenheit heraufzubeschwören, immer wieder mit demselben Gesicht ansieht und dessen Wieder-Herauf-Holung für uns daher kein Interesse mehr hat Von dieser Art ist alles bloss Faktische, bloss-Chronologische - L es ist einfach “gewesen” und so wie es »gewesen« ist wird es immer und ewig bleiben In diesem Gewesen-Sein ist es er starrt, v e r-wesen. Aber solche Totenstarre kommt nicht den Gebilden zu, die die gro­ ßen Historiker vor uns hinstellen An ihnen entdecken wir jederzeit eine Fülle neuen, bisher unerschlossenen LebensL

A Betrachtungen] davor gestrichen: Bewegungen B Historisch]: Historisch

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( - Plato ist uns heute genau so lebendig, wie er früheren Epochen war)[.] Wir entdecken, unter der Leitung der grossen Historiker, an den Ge­ stalten der Vergangenheit eine quellende Fülle von Leben, die wir bisher nicht ausgeschöpft haben und wir sind sicher, daß diese Fülle prinzipiell (auch in künftigen grossen Visionen) unerschöpfbar ist Auch das historische »Sein« - nicht nur das natürliche - ist daher eine blosse »Grenzidee« (Husserl)[.]69 Es gibt eine Fülle abgestorbenen, versunkenen, nur noch der »Vergangen­ heit« angehörigen SeinsA- das sich8 für uns nicht wieder regenerieren lässt Aber dies Sein ist keineswegs “geschichtliches” Sein es ist vielmehr erloschenes, totes Sein - L es ist Sein, das für uns gleichgültig geworden ist — nicht mehr historisch »interessant«, bedeutsam ist Das echt-historische Sein ist historisches Leben und »Leben« steht nicht still - auch wenn es »objektiv« der Vergangenheit angehört es ist das was immer wiederc von der Vergangenheit z u r ü c k g e f o r ­ d er t werden kann, immer wieder regeneriert, dem Tod entrissen wer­ den kannL - dieses Repetere =Zurück fo rde rn ist die Mission und Kraft des echten Historikersund so haben Niebuhr, Ranke, Mommsen gewirktSie sind die grossen Geisterbeschwörer[,] die Nekromanten die rückwärts gewandten P r o p h e t e n 70- L die uns die Vergangenheit »visionär« deuten, wie uns der Prophet die Zukunft deutet.0 - Sie lehren uns das Vergangene sehen, und in diesem Gesicht e r ­ halten

A angehörigen Seins] angehöriges Sein B- das sich] für durchgestrichen: - aber dies c wieder] folgt ein durchgestrichenes Wort Ddeutet.] deutet,

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- als gegenwärtig erleben und als »praegnans futuri« 71 empfinden^]1 A Der wahrhaft-grosse Historiker ist immer ein solcher Geisterbeschwö­ rer­ erruft “Geister aus der grimmen Tiefe”72 und sie kommen auf seinen Ru f1Geschichte,Verhältnis] zur Kunst: y 4 / (Z u S. 10) / Blatta / zu: y 4b

Von hier aus ergibt sich der Unterschied / zwischen dem »Faktum« des Histo­ rikers und / dem bloss naturwissenschaftlichen] »Faktum« Das naturwissenschaftliche] Faktum0 ist das, was dem / betrachtenden Blick still hält - / was immer wieder in der gleichen Weise erzeugbar / ist und was bei dieser vielfältigen Wiederholung / doch stets als »dasselbe« sich zeigt Ein »Faktum« in diesem Sinne wird durch / Experimente bezeugt - / und der Erfolg des Experiments ist nicht / an ein bestimmtes Hier und Jetzt gebunden1 / wo immer, von wem immer und wann immer, / in welchem Laboratorium, zu welcher Zeit, /von welchem Experimentator es wiederholt wird: / sein Resultat muss das Gleiche sein Aber der Historiker kann nicht in diesem / Sinne ein Vergangenes wiederholen, von neuem / hervorbringen, und es in dieser Hervorbringung als / »mit sich identisch« wiedererkennen ... / Diese Art der »Rekognition« ist ihm / versagt - / und an ihre Stelle tritt eine völlig andere [.] Wenn verschiedene Historiker0 dasselbe Ereignis / beschreiben, wieder-holen, aus der Vergessenheit /emporheben - L/ so weist es ihnen doch niemals dasselbe Gesicht Zwar was an ihm ein blosses »Faktum« ist, / ein Geschehenes, ein »Gemachtes«, etwas was [an] einem /bestimmten Orte zu einer bestimmten Zeit sich / ereignet hat - / das scheint auch hier nicht zu weichen und / zu wanken; das scheint einfach konstatierbar, / »feststellbar« Wenn ein Historiker uns berichtet, daß während / der Schlacht zwischen Cyrus und seinem / Bruder eine Sonnenfinsternis eingetreten ist, / so ist das ein solches »Faktum«, das in / einem einfachen konstatierenden Bericht / festgehalten [wer-

A empfinden] Verweisungszeichen Cassirers, a u f dem Rand wiederholt: s[iehe] Blatt a B Blatt... y 4]

a u f dem Rand

c Faktum] Faktum, D Historiker] Historiker,

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z O h n e diese Funktion der Beschwörung bliebe die Geschichte immer nur ein “Kehrichtfass und eine Rumpelkammer”[.] 73 - Auch die “Haupt- und Staatsaktionen”74 könnten hieran nichts ändern, könnten das Verdammungsurteil, das Goethe über die Geschichte fällt, nicht mildern - L wäre es nicht diese Kraft der Vision und der Beschwörung, die das Vergangene nicht nur am Leben erhält, sondern in immer neuer Form lebendig macht Heisst dies nun, daß die Geschichte in blossen »Visionen« aufgeht daß ihre »Synthese« eine blosse »Phantasieleistung [«], gleich der des Künstlers, ist? 75

den] kann und das als ein unabänderlicher / Bestand gilt - / Aber dieses Faktum ist als solches auch nicht / »historisch« / es ist »astronomisch«, naturwissen­ schaftlich^] Historisch »bedeutsam« würde es in dem /Augenblick, in dem wir nicht nur dies / zeitliche Zusammentreffen zwischen der Schlacht / u[nd] der Sonnenfinsternis betrachteten - L/ - ein Zusammentreffen, das nur dazu dient, / das chronologi­ sche Datum des Ereignisses / festzulegen - L/ sondern indem wir es irgendwie in den /Aktionskreis der Kämpfenden einbeziehen - / also etwa annehmen, daß die Furcht vor / der Sonnenfinsternis bei dem Ausgang der / Schlacht irgendwie »mitgespielt« hat Poincaré Science et hypothèse /Johan ohne Land ist hier vorbeigegangen[.]76

Der Historiker sagt: das ist wichtig, das ist / ein “Ereignis*’, weil es war und

niemals wieder- / kehren wird. / Der Naturwissenschaftler] sagt: das besagt nichts, - / weil er nie wieder hier Vorbeigehen wird -

Aber es gibt noch ein Drittes ( - und dies / ist erst der eigentliche Modus historischen / Begreifens)[.] / Hier steht ein Einmaliges, nie-Wiederkehrendes, / das aber einem Zusammenhang von Ereignissen / angehört und für ihn bedeut­ sam, vielleicht entscheidend / ist Wenn ich sage: hier hat Mohammed / auf seiner Hedschrah gerastet - / so kann diese Rast unendlich viel bedeuten / für seine inneren Entscheidungen, für die Wieder- / aufrichtung seiner Entschlußkraft, kurz: / für die ganze Mission M[ohammed] s u[nd] des Mo- / hamedanismus All dies aber lässt sich nicht aus dem /einzelnen Faktum ablesen - /ich muss die gesamte Folge der Fakten / verfolgen und sie in dieser Verfolgung / unter einen geistigen »Blick« zusammen- / fassen -

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Geschichte

Keineswegs: - sondern hier setzt erst der wahrhafte Unterschied ein Die Phan tasiele ist un g des Historikers besteht; aber sie beruht auf anderen BedingungenA als die visionäre Gestaltung der Kunst - Bedingungen, die ihr ganz bestimmte Bindungen auferlegen denn diese geschichtliche Phantasie entzündet sich nur an den »Monu­ menten« und hat die »Wahrheit« dieser Monumente zu ihrer Voraussetzung Wo nur ein Schatten auf diese »Wahrheit« fällt, da ist der historischen »Erinnerung« der Weg verschlossen da kann sie das Vergangene nicht mehr sichtbar machen Deshalb muss der erste Schritt jeder historischen Forschung, jedes geschichtlichen Wissens darin bestehen, diese Quelle rein und unver­ fälscht zu erhalten Hier darf nichts Subjektives, Eigenmächtiges, keine voreilige Deutung zwischen uns und die Wahrheit treten rein ist nur was sich "aus den Quellen” gewinnen und durch sie b e­ glaubigen lässtDie Phantasie, die Rekonstruktion und die Gestaltung des Vergan­ genen kann daher nicht einsetzen, ehe sie nicht Schritt für Schritt den Weg zurück getan hat - L den Weg, der durch die T r a d i t i o n durch die kontinuierliche Erinnerung der Menschheit zurückführt — Hier muss jeder Schritt geprüft und jeder Schritt gerechtfertigt werden z Und dieser Blick ist immer neu - / das »Faktum« ist daher nie, gleich dem / naturwissenschaftlichen, ein »Abgetanes«, / das in dieser seiner “Abgetanheit” wiederholt / wird - / an ihm können sich immer neue »Aspekte« / ergeben So können wir geradezu sagen: / ein historisches Faktum ist im Gegensatz / zum Faktum (experimentum) des Natur- / Wissenschaftlers dasjenige, was nicht ein­ fach / als ewig mit sich selbst identisch, in /der Erinnerung aufbewahrt wird - / - sondern an dem die Erinnerung noch / ständig neue Züge entdecken kann - L/ das durch die Erinnerung gestaltbar und / umgestaltbar ist Was nicht in dieser Weise gestaltbar ist, / scheidet aus dem Kreise des histori­ schen / Erkennens aus - / es ist vielleicht ein Geschehenes, ein bloss- / Tatsäch­ liches “an sich” - / aber es ist nicht lebendige Geschichte / (“für uns”) / es entbehrt für uns des geschichtlichen / Sinnes und des geschichtlichen »Interes­ ses«^]

A Bedingungen] Bedingungen,

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zNur was eine fortlaufende Reihe von Zeugnissen von sich hinter­ lassen hat, hat geschichtliche Wahrheit u[nd] Wirklichkeit Sie sind die conditio sine qua non nicht das Letzte, wohl aber das ErsteL - denn nur aus der Fülle dieser Zeugen entsteht dem Historiker jene Realität, die er dann gestaltet, die er kraft der Phantasie und in ihr neu­ gebiert Und deshalb ist jedes neue Faktum, jedes neue Dokument, jede neue »Quelle« so unendlich wichtig denn es kann eine völlig neue »Geburt«, eine ganz neue E rin ne­ rungsgestalt aus sich hervorbringen Hier ist es nicht so, daß sich geduldig »Faktum« an »Faktum« reiht und daß die blosse Summierung dieser einzelnen »Tatsachen« genügt, von sich aus ein »Bild«, eine »Gestalt«, ein Ganzes zu formenL sondern jedes neue Moment verlangt, daß wir die Arbeit der »Erinne­ rung« von vorn beginnenj.] - Jedes »Dokument« muss auf das Ganze zurückgelenkt werden Es scheint eine Penelope-Arbeit immer wieder muss der Historiker, wenn auch nur e i n Faden ihm reisst, das ganze Gewebe von vorn beginnen 77 und doch eben darin, eben in diesem unablässigen Auf und Ab der Erin­ nerung webt der Geschichtsschreiber “der Gottheit lebendiges Kleid”78 Der Akt der historischen “Sichtbarmachung” - so »visionär« er ist - ist somit in seiner Materie durchaus gebunden hier darf nichts dem Kreis der »Dokumente«, die die geschichtliche Er­ innerung bestimmen und lenken, eingefügt werden die Phantasie muss sich durchaus am Faden der wirklichen historischen Erinnerung am Faden der Tradition o[der] der »Monumente« fortbewegen u[nd] rein aus diesen Monumenten muss die historische] Gestalt sichtbar gemacht werden Insofern ist die historische] Phantasie durchaus eine “Phantasie für die Wirklichkeit] des R ealen ”,79 d. h. dessen was sichtbare, wirkliche “Spu­ ren” in der empirischen Welt hinterlassen hat[.] - Denn auch jeder B ericht über ein historisches Ereignis, jede primäre oder sekundäre Quelle, ist eine solche reale »Spur«L

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Geschichte

- und nur diesen Spuren entlang darf die geschichtliche] Erinnerung zurückgehen - L sie darf nicht plötzlich abspringen und sich willkürlich einen eigenen Weg zu bahnen suchen Aber all diese Einzelspuren weisen auf der anderen Seite immer nur ein­ zelne, weit von einander abliegende Etappen des Weges - L all diese »disjecta membra« 80 zu einer Einheit, zu einer historischen] »Entwicklung« (zu einer “Biographie” d. h. der Darstellung eines Lebens, nicht der Darstellung isolierter Ereignisse) werden zu lassen: das erfordert etwas ganz anderes es verlangt einen Akt der synthetischen historischen Phantasie die allein aus den (realen) »Spuren« eine (ideale) »Gestalt« zu erschaffen vermag Aber blicken wir von hier aus wieder zu unserer Ausgangsfrage: zur Frage nach dem Verhältnis von Historie und Kunst zurück wir sagten (cf. S. 1!), ^ daß wir die Scheidung nicht so vollziehen kön­ nen, daß wir sagen, die Geschichte stelle ein »Seiendes«, die Kunst ein Nicht-Seiendes darB — diese Unterscheidung verwische die wahren Grenzen: denn die Ge­ schichte sei weder so wirklich, noch die Kunst so unw irk lic h, als in dieser Trennung vorausgesetzt wird[.] Betrachten wir jetzt den l etzten Punkt: In der Aesthetik des 18ten Jahrhunderts wird der Feldzug gegen den Rationalismus und Gottschedianismus im Namen der Einbildungs­ kraft geführt und auf Grund der “Einbildungskraft” wird das Recht des “Wunderbaren in der Poesie”82 verfochten Die Poesie ist nicht auf das “natürliche”, empirische Dasein beschränkt sie erhebt sich kraft der Phantasie über diese Welt und hat in diesem Uber-Sein ihre eigentliche Heimat — c

A (cf. S. 1!)] m it Einfügungszeichen über die Zeile geschrieben B dar] darstelle c Heimat — ] m it Querstrich verbunden: Forts[etzung] y 4,2; das nächste Blatt beginnt m it der W iederholung der Überschrift: Geschichte, Verhjältnis] zur Kunst; a u f dem Rand: y 4,2

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Aber auch die Schweizer sind keineswegs gesinnt, in ihrem Kampf gegen den Rationalismus, in ihrem Eintreten für das Recht der Einbildungskraft, die Poesie dem Phantastischen, Abenteuerlichen, der reinen »Unver­ nunft« auszuliefern Sie treten, als Wolffianer, gleichfalls für die Vernunft ein aber sie verstehen unter dieser Vernunft nicht die des Wirklichen, sondern des »Möglichen«[.] Der Dichter ist nicht an die Gesetze der wirklichen, wohl aber an die Gesetze der möglichen Welt gebunden (Hierzu vgl. Fr[ei]h[eit] u[nd] F[orm] 83 und Aufklärung 84 die Stellen aus den Schweizern und aus Lessing)[.]85 Was besagt dies, wenn wir es aus den besonderen Voraussetzungen u[nd] aus der besonderen Sprache des 18ten Jahrhunderts in die a ll ­ gemeine systematisch-philosophische Sprache übersetzen? Es besagt, kurz ausgedrückt, daß die Kunst ihre eigenen Gesetze künst­ lerischer Wahrheit hat, die mit denen der empirischen W i r k l i c h ­ keit nicht zusammenfallen ja mit ihnen innerlich nichts zu tun haben Diese »Wahrheit« darf auch von keiner »Imagination« verletzt werden - die Imagination ist zwar nicht an die Existenz, wohl aber an die Essenz der Dinge gebunden - L ihre »Transzendenz« betrifft das Wirkliche, nicht das Mögliche Darin besteht ihre Freiheit denn sie wird von der Fessel des empirisch-Gegebenen, des einzelnen “Daseienden* frei aber in dieser Befreiung gelangt sie erst zu einem echt-Universalen, zu der “inneren Wahrheit” der Dinge und des Geschehens - L zu dem was nach bestimmten Regeln “mit einander übereinstimmt^.] Diese »Übereinstimmung«A (Harmonie) darf nicht zu eng logisch genommen werden (wie es Lessing in seiner Anwendung des Leibnizischen Möglich­ keitsbegriffs auf die Welt des Dramas tutB) 86 L

A »Übereinstimmung«] »Übereinstimmung«, B tut] tut.

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sie besagt,Aweit allgemeiner, daß jede Kunst, in ihrer freien Schöpfung, (Erhebung über das “Wirkliche”) an ganz bestimmte Strukturgesetze (»seelische« Strukturen, visuelle Strukturen, haptische Strukturen U .S .f.)87

gebunden ist, die sie nicht willkürlich wegwerfen darf Diese Strukturgesetze grenzen den Bereich des in ihr Möglichen, durch sie Darstellbaren ab und auf ihnen beruht die »Wahrheit«, Objektivität der Darstellung[.] Insofern bleibt das Wort des A ri s to te le s in Kraft, daß das Drama »wahrer« seiBals die Historie88 es ist nicht an die Gesetze des tatsächlichen Geschehens, an das was in diesem tatsächlichen Geschehen stattgefunden hat, ja auch nicht an das was unter denc bestimmten empirischen Bedingungen, unter denen die Geschichte steht, stattfinden kann - L es ist nur an bestimmte psychologische Strukturgesetze (an die Gesetze der »Motivation«) gebunden Keine dramatische Handlung braucht empirisch (äusserlich) v o l l z i e h ­ bar [zu] sein aber sie muss (innerlich) motivierbar sein In der ‘Motivierung5 ist die Wahrheit des Dramas begründet ist die Grenze gesetzt, die keine Imagination überfliegen darf Das ist klassisch formuliert in Lessings »Hamburgischer Dramatur­ gie« g9 L aber es ist leicht zu ersehen, daß diese Lessingschen Ausführungen kei­ neswegs für das Drama allein gelten daß in jeder Kunstgattung besondere Strukturgesetze herrschen, die den Strukturgesetzen der Motivation im Drama analog und ihnen aequivalent sind^Q Optische Strukturen in der Malerei, Plastische Strukturen ...

A besagt] danach gestrichen: nur B sei] sei, c den] m it Einfügungszeichen eingesetzt D sind] ist

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zInsofern ist das Lessingsche Problem einer vollständigen, systemati­ schen Verallgemeinerung fähig[.] Für die bildende Kunst hat es diese Verallgemeinerung z. B. in den Theorien von Hildebrand^ u[nd] Konrad Fiedler erfahren- 1 die den Anteil der OecoQia an der Kunst scharf herausheben92 —L die zeigen, daß jede Kunst, auf ihrem Wege, zu einer Erkenntnis bestimmter Formwelten hinführt diese Formwelten (Strukturen, Möglichkeiten) nicht er findet (imagi­ nativ “sich einbildet”) sondern e n t d e c k t [.] Und in dieser Entdeckung ( —die als solche eine rein »theoretische« Leistung ist) geht die Kunst wesentlich über die Geschichte hinaus denn den »w irk lichen« Lebensformen d. h. den historisch-aktualisierten Lebensformen stellt sie den gan­ zen Bereich der »möglichen« Lebensformen gegenüber und ihre innere (»ideelle«) Wahrheit im Sinne des Schiller sehen Wortes: ‘Was sich nie und nirgend hat begeben, Das allein veraltet me/93 Näher betrachtet lässt sich wieder sagen, 94 daß das wahrhaft-grosse Kunst­ werk nicht dadurch gross ist, daß es eine ganz neue St of fw el t für uns hervorzaubert diese Bezauberung ist an sehr enge Grenzen gebunden; es lässt sich immer wieder zeigen, daß in dieses bunte Gemälde der Phantasie keine wirklich neue “Farbe* eingeht: die Phantasie kann keine Farben erfinden, sie kann sie nur in anderer und immer wieder anderer Art mischen - L es ist groß dadurch, daß es neue Möglichkeiten des Sehens für uns aufschliesst und daß es uns mit neuen Organen des Sehens beschenktDie Kunst gibt uns neue Funktionen, nicht neue Substanzen (Stoffe)L und das ist die wahrhaft tiefste Bereicherung, die wir den großen Kunst­ werken verdanken Jedes von ihnen stellt uns in ein neues Universum aber die wahre Bereicherung, die wir in der Anschauung dieses Univer­ sums empfinden, ist nicht die, daß wir in ein »mundo nuovo«, sondern daß wir in eine »vita nuova« 95 eintreten A Hildebrand] Hi l debra ndt

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daß wir neue Organe in uns finden, die Welt (die als solche stofflich “dieselbe” bleibt) zu sehen und zu erfühlen^]1 Das ist die “Fülle der Gesichte”«* und die Fülle des Gefühls, die uns die Kunst zu eigen gibt - L und damit geht sie noch weit über den Kreis des historischen »Wissens« [iatOQLTj), der historischen »Kenntnis« hinaus Gegenüber dieser historischen Kenntnis der Welt stellt sie einen neuen Typus echter Erkenntnis auf u[nd] zugleich einen neuen Typus des “Verstehens”1 1 Blatt a / Zu y 4,2 / Blatta / Zu y 4,2 S. 4 & Dieser Unterschied zwischen »Substanz«- / Aufhäufung, Aufgipfelung / und funktioneller (»Organ«) Bereicherung / ist auch ein wichtiges Kriterium, das / uns lehrt, zwischen »echter« und »unechter« / Kunst —/ zwischen dem, was »Kunst« und / was bloßer »Kitsch« ist - / zu unterscheiden. / Die »unechte« Kunst, der »Kitsch«, ist / substantiell und dadurch sensationell - / er versucht[,] die »Lösung« von der Wirk- / lichkeit, die Erlösung vom »Alltag«./ dadurch zu erreichen, daß er uns in / eine stofflich-veränderte Welt versetzt / - eine Welt[,] in der das »Neue«, / »Wunderbare«, »Aufregende« vorherrscht - / Er verändert nicht uns; er lässt uns / wie wir waren; er nimmt nicht uns selbst / in Anspruch und fordert, daß wir organisch / andere werden - / daß wir mit dem Blick des Künstlers sehen / lernen und dadurch in seine »Welt« eingehen - / er erspart uns diesen Anspruch, diese /schwierige und schmerzliche Metamorphose - /er lädt uns ein, wir selbst zu bleiben; / aber in diesem unserem eigenen Sein unter- /hält er uns mit der Schaustellung / stofflich-großer Ereignisse So der Abenteurer-Roman, der Ritter- / roman, der moderne Verbrecher[-] und /Detektiv-Roman, der nur die neuere /Abart der Ritter- und Räuberromane / ist Das alles ist “schlechte” Kunst - / nicht weil es irgendwelche schlechten /

Inhalte für uns hinstellt / —denn an sich schlechte Inhalte gibt / es für die Kunst gar nicht: - / von ihr gilt das Wort Bacons, daß, / was des Seins würdig ist, auch

der /Erkenntnis würdig ist —/sie kann daher Paläste und Kloaken /beleuchten 98 - L/ es ist vielmehr deshalb schlecht, weil / es überhaupt blosse Inhalte sind, mit deren / Darstellung ( = Schaustellung) die Kunst uns / zu fesseln, zu “unter­ halten” sucht. DieB echte Kunst lässt uns nicht / »Grosses« oder »Kleines« sehen - / sie lässt uns “groß” oder “klein” sehen / sie wandelt unsere Blickrichtung, statt uns /neue Gegenstände in unser gewohntes Blick- / feld zu rücken - / Sie ist immer ein

A Blatt... S. 4] a u f dem Rand B Die] statt gestrichen: Aber

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sie vergönnt uns, in ihre tiefste Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen 99 - L sie bereichert uns mit unerschöpflichen Möglichkeiten, die alle ihre innere Wahrheit haben ■ So sieht die Kunst auch die “Natur” so hat Goethe, als Dichter, die Pflanzenwelt gesehen Mit dem Schlüssel der “Urpflanze” in der Hand kann man Pflanzen erfinden mit der Sicherheit, sie auf Grund dieser Erfindung in der Natur zu finden weil diese Gebilde der »Phantasie« echte innere ‘Wahrheit’ haben. 100

Die Bereicherung, die Schärfung der Funktion, das Mehr an SehMöglichkeiten und allgemein an Lebens-Möglichkeiten, das im Kunst­ werk beschlossen ist

jusrapÀéjiELV im Sinne eines jusravoslv - / Eine solche »Umwendung«, Metanoia vermag / nur der Künstler in uns zu vollziehen 101 - L / nur er gibt uns »Gesichte« 102 - im Sinn / des Sehens, nicht des bloss Gesehenenj.] 103

Was hilft es[,] Grosses, Ungewöhnliches, / Schreckliches vor sich abrollen zu lassen, / “wie ein blosses Bild auf einer Leinwand” / (Spinoza) 104L/ (die eigent­ liche Charakteristik für alle Art / Sensationsromane und sensationeller Kino- / stücke )L/wenn »wir selbst« so klein, so dürftig, /so gemein bleiben, wie zuvor / und wenn wir uns gerade an diesem Gegensatz / von »uns« und den darge­ stellten Inhalten / (Gegenständen, Stoffen) erfreuenL/ statt daß wir insofern in das Dargestellte /eingehen, daß wir mit dem Blick des grossen /Künstlers sehen lernen ... (“Steigt herab in meine Augen”) 105 / Nur diese Metamorphose ist der Charakter / der echten Kunst, weil sie unsere Form / (Wesensform, menschliche Form) verändert, / statt uns mit blossem Stoff zu überhäufen /und uns in ihm zu ersticken - sie muss / zur echten Metempsychose (“Seelenwanderung”) / wer­ den^] Von dem echten Kunstwerk scheiden wir bereichert, / nicht weil es uns, wie auf einer Vergnügungs- / reise, [eine] neue “Welt” hat sehen lassen - / sondern weil es uns in uns selbst neue Möglich- / keiten aufgedeckt, »entdeckt«, zugäng­ lich / gemacht hat - / Caelum non animum mutant qui trans mare currunt[.] 106 Im Kunstwerk handelt es sich nicht um einen / blossen Klima- und Szenen­ wechsel - / es handelt sich um eine solche »mutatio / animi«].]

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( - das sozusagen* wie ein gewaltiger Sprengstoff in ihm k o n z e n ­ t r i e r t ist)1 zeigt sich vor allem auch an den veränderten Dimensionen, die das wirkliche Dasein im Kunstwerk für uns gewinnt das Kunstwerk wirkt gleichzeitig, je nach seiner Gattung, wie ein gewal­ tiges Teleskop und ein feinstes Mikroskop aber beide nicht als künstliche, sondern als “natürliche” Instrumente, als Organe gedacht­ es gestattet uns, unbegrenzte We i t e n des Daseins6 zu erblicken, neue Höhen und Tiefen zu “erfühlen”1 und andrerseits in das feinste Gewebe, in das minutiöseste Detail ein­ zudringen, das uns sonst unwahrnehmbar blieb 107 -, Jedes originelle Kunstwerk setzt unserm Auge eine neue Linse ein aber nicht als blosses Brillenglas sondern als eine i n n e r e (»organische«) Modifikation des Sehens[.]

Und damit wird unsere »Existenz« unendlich bereichert: wir sind nicht mehr in den Kreis unserer Lebenswirklichkeit ge­ banntunser gesamter Horizont erweitert sich m a g i s c h so wie der Zauberer, der Künstler es will[.] 108 - Muß in diesem Zauberkreise Leben nun nach Deiner Weise 109 - L das ist das Gefühl, womit jedes neue Kunstwerk uns beschenkt So schließt sich in der Tragödie Sophokles, Shakespeare eine Welt von übermenschlichen Maßen vor uns auf und wir betrachten diese Welt nicht nur[,] wir sind sie - der Potenz, der »Möglichkeit« nach aber diese Möglichkeit ist keine bloss-logische, sondern eine echt- vitale wir können sie, dem Kunstwerk hingegeben und seinen »Sinn« erfassend, innerlich erfüllen und ausfüllen 1 vgl. h[ie]rz[u] Blatt a!Ç10 A sozusagen] sozusagen, BDaseins] danach gestrichen: neue Höhen c ygl__ Blatta!] m it Verweisungszeichen a u f dem Rand geschrieben

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und vom Maße dieser Ausfüllung hängt unser »Verständnis« des Kunst­ werks abL wir sind ô v v â ftei d. h. nicht nur der logisch-gedanklichen Möglichkeit nach, sondern dynamisch —der Stärke, dem Tempo, dem Rhythmus des Erlebnis nach1 Oedipus und Lear, Klytemnestra und Lady MacbethL all dies als »seiend«, nicht bloss als »eingebildet« obwohl es über all unsere empirischen Grenzen unendlich hinausgeht[.] Und was die Tragödie im Grossen, das ist der Roman, insbesondere der komische Roman im KleinenEr beschenkt uns mit einer Fülle von Lebensmöglichkeiten, die wir bisher deshalb nicht gesehen haben, weil sie unserm wirklichen Leben zu fern, sondern weil sie ihm zu nah lagen-L so nah, daß wir ständig “über sie weg” sahen m - L daß wir ihr feinstes, minutiöses und in dieser Feinheit so unendlich reiz­ volles Detail, ihre Filigran- und Ziselierarbeit, unsA nicht wirklich »ver­ gegenwärtigen« konnten[.] - Diese »Vergegenwärtigung« des Kleinen leistet der Roman (Ausgezeichnete Bemerk[ung] hierüber in O r te g as Essai!)112L er setzt uns hierfür “die Augen ein*[.] 113 Das ist vor allem der Zauber der grossen Humoristen - L und insofern gehören das Erhabene und der Humor zusammen,1 weil sie erst das echte »totale« 8 Sehen ergeben den Wechsel der »Blickpunkte« ergeben, die an sich für ganz beschei­ dene Gegenstände bestimmt sind und diese sichtbar machen Diese dialektische Vereinigung von Blickmöglichkeiten, diese Zusam­ menschmelzung des Erhabenen mit dem Humor hat erst die Renais­ sance, mit ihrer ungeheuren Erweiterung des Lebenshorizontes und der dynamischen Lebens fülle entdeckt 1 h[ie]rz[u] vgl. die Bemerkungen] in Cohens Ästhetik! 114

A uns] nachträglich eingefügt B »totale«] über ein gestrichenes Wort geschrieben

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zFrühere Epochen kennen den Helden und den Narren - L aber erst die Renaissance vollzieht die eigentümliche Synopsis zwi­ schen beiden1 - eine Synopsis, die so weit geht, daß es ihr gelingt den Helden als Narren[,] den Narren als HeldenA zu sehen. Das ist das Neue und Originale an Cervantes - die Frage, ob Don Quixote Held oder Narr ist, lässt sich gar nicht beantworten Er ist ein Narr - aber ein Narr von so grandiosem Ausmaß® und von so wundervoller innerer Folgerichtigkeit, daß er darüber zum Helden wird oder auch: er ist ein Held, der aber in seiner heroischen Weltvergessenheit und Selbstvergessenheit zum Narren wird Und um den Wechsel der Beleuchtung vollständig zu machen, so zwingt uns Cervantes, die Welt bald mit den Augen Don Quixotes, bald mit denen Sancho Pansas zu sehen in einem ständigen Wechsel des Blickes, der alle gewohnten Maße aufhebt, indem er sie relativiert das eine am anderen “vernichtet” aber eben in dieser wechselseitigen Vernichtung etwas ganz Neues sichtbar werden lässtL - eine neue Lebensgestalt und einen neuen Lebensaspekt, der dem »ro­ mantischen« Mittelalter und seiner religiös-transzendenten “Heldenver­ ehrung” nicht sichtbar war[.] Und ebenso bei ShakespearePrinz Heinrich ns wird nur dadurch ganz Held (nämlich »wirklicher«, menschlicher (nicht übersinnlicher, »spiritueller«[)] Held im mittelalterlichen Sinne[)] daß Falstaff neben ihn gestellt ist[.] Das mittelalterliche, ritterliche Helden-Ideal (Percy) verträgt diese Gegenüberstellung, dieses “Konterfei” des Narrentums nicht (vgl. h[ie]rz[u] »Schule von Cambridge« )[.]116 Und seltsam: wo Prinz Heinr[ich] Falstaff ve ra b s ch ie d et : da geht auch dieses Leben, diese »vita nuova« ,117 diese neue Menschlich­ keit, die von Falstaff auf ihn ausstrahlte und zurückstrahlte, wieder ver­ loren - L

A den Narren als Helden] steht im Ms. genau unter: den Helden als Narren BAusmaß] Ausmaß,

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er scheint zu wachsen - aber in diesem Wachstum verfällt er wieder der konventionellen “Ritterlichkeit”, dieA in Heinrich V[.] m herrscht].] “Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt”®19 und das komische Epos, wie der moderne Roman setzt uns das Auge ein, zwingt uns in jene Art des Sehens, in der das Erhabene lächerlich aber auch umgekehrt das Lächerliche erhaben wird So werden bei A r i o s 1 120 und B o i a r d o cm die mittelalterlichen Helden, in ihren gigantischen, übermenschlichen Maßen komisch wir lachen über den Riesen Morgante; cf. Pulci [.] 122 Aber es gilt auch das Umgekehrte denn die komischen Helden Molières werden erhaben diese Erhabenheit eignet nicht nur A l c e s t e , 123 sie eignet auch Harpagon.124

Der Geiz ist das “gemeinste”, das kleinlichste Laster aber der Geizige Molières gewinnt eine wahrhafte Grösse und Erha­ benheit in der Folgerichtigkeit seines Charakters, die keine Kom­ promisse kennt[.] Es ist daher nicht richtig, wenn verschiedene aesthetische Theorien den Reiz der Komik durch das »Überlegenheits-Gefühl« erklären wollen Ob psychologisch dieses Motiv mitspielt und ob es an der »Lust« am Komischen Anteil hat, - dies kann dahingestellt bleiben[.] Aber das aesthetische »Wesen« des Komischen wird dadurch nicht ge­ troffen Wenn wir wirklich in die aesthetische Wesensebene eingetreten sind, so haben wir die Maße, die ausserhalb ihrer, in unserem empirischen Dasein und unserer empirischen alltäglichen »Wirklichkeit« gelten, hinter uns gelassen wir vergleichen weder die Helden, noch die Narren mit “uns” (im Sinn unserer empirischen Individualität)1 wir »erleben« überhaupt noch nicht echt, noch nicht »rein« aesthetisch, solange wir solchen Vergleichungen noch Raum geben -

A die] der B Schritt59] Schritt« c Boiardo] Bajardo

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zWir erfassen das Kunstwerk nur, wenn wir unseren Standpunkt mit­ ten in ihm selbst nehmen: wenn wir in ihm “leben, weben und sind.”125 So fühlen wir unsA in der Sphaere der echten aesthetischen Betrachtung (Kontemplation) nicht unt er den Helden und nicht über den NarrenL - wir “sind” diese Helden und Narren selbst, wir erfahren i h re Geschikke unmittelbar “am eigenen Leibe”1 und die große Kunst ist die, der diese »Verleiblichung« gelingt - L die uns “über uns weinen” und “über uns lachen” lässt. Daß wir dieser »Nähe« und »Ferne« fähig werden daß wir diese Perspektive für beides gewinnen, und daß sie an die Stelle der gewöhnlichen All tag s perspektive tritt die die Wirkung eines Kompromisses ist, die uns weder das allzu Nahe, noch das allzu Ferne in seinen echten »Dimensionen« sehen lässt -: das ist die Wirkung der großen Kunstwerke1 die weit über das bloss Emotionelle hinausgeht; wenngleich dieses, wenngleich unser Gefühlsleben entscheidend an dem Prozess des® künstlerischen »Sehens« beteiligt ist Jeder neue »Aspekt« schliesst zugleich eine neue Dynamik des G e f ühl s für uns auf (gegen Fiedler, der dies Moment als etwas Nebensächliches, bloss-Sekundäres betrachtet) 126 aber jedes Gefühl bereichert uns auch mit neuen Horizonten und Aspekten[.] (Das ist freilich nur das Vorrecht des schöpferischen Künstlers nur bei ihm wird »Gefühl« unmittelbar zum »Aspekt« — während es beim Dilettanten im »blossen« Gefühl verharrt[.] ) Shakespeare ist hierin unvergleichlich: er weckt in uns das Organ für die äusserste Weite (Hamlet, Lear, Macbeth)L und für die äusserste Enge (die »Welt« der Totengräber in Hamlet 127 der Konstabler in Viel Lärm uf m] Nichts 128 der Handwerker im Sommernachtstraum) 129 L und beides nebeneinander [.]

A uns] uns, B des] der

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zAber der Blick für das Kleine, der »miniatürliche« Blick wird uns vor allem im modernen Roman gegeben Dickens: Mr. Pickwick,130 David Copperfields Tante, Mr. Micawber131 der Apotheker Homais bei Flaubert 132 L dies alles ohne Pathos - d. h. ohne reflexiv-pathetischen Vergleich — sondern in seinem einfachen »Ist«, in seinem So-Sein hingestellt - L und wir mit dem mikroskopischen Auge begabt, dem dieses So-Sein sichtbar wird[.] Und für Grösse und Nichtigkeit, für das Erhabene und für das Komische, für die weiteste Ferne und die nächste Nähe, für Tragödie und Komödie gilt, aesthetisch gesehen, immer wieder dasselbe: Tat tvam asi - “Das bist Du”133 So vermittelt uns die Kunst “Naturwahrheit” (die Welt der optischen, der plastischen »Formen«) und »menschliche Wahrheit« - L und wie sie für die erste nicht »naturalistisch« auf die » W i rk li ch k ei t« d e r N a t u r angewiesen ist, sondern in freier Vision die Formen als reine »Möglichkeiten« (essentiae rerum - nicht existentia) erschaut (vgl. h[ie]rz[u] auch Schopenhauers Theorie, daß die Kunst die Ideen der Dinge darstellt sjiehe] Welt als W[ille] III! ) 134 L so ist sie für die letztere nicht auf das Historisch-Wirkliche angewie­ sen sie entwickelt, entdeckt die reinen »Formen« des Menschlichen u[nd] des Menschenlebens, an dem, was sich “nie und nirgend hat begeben”[.]135 Sie erfüllt ihre »Vision« an »inneren« Gebilden, Gesichten 136 L während die Historie sie an den »wirklichen«!,] raum-zeitlich »gewe­ senen«, chronologisch bestimmten, einem Hier und J e t z t angehörigen Monumenten zu erfüllen hat. (vgl. h[ie]rz[u] oben!) 137

Damit klärt sich auch eine andere Frage: die Frage, die die historische und künstlerische »Distanzsetzung« betrifft es klärt sich die Tatsache, daß der historische “Blick” erst dann wirksam

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werden kann, wenn die Gegenstände, auf die er geht, in einer bestimmten zeitlichen »Ferne« vor uns stehen[.] - Es ist eine bekannte Tatsache, daß es im strengen Sinne keine “Zeit­ geschichte” gibt - L wer seine »Memoiren« schreibt, der giebt in ihnen etwas ganz anderes, als die »Geschichte seiner Zeit« »Geschichte«[,] so pflegt man zu sagen, giebt es immer nur von dem, was schon »geschichtlich[«] geworden ist 138was nicht unmittelbar unserer eigenen Gegenwart angehört und mit direkt-gegenwärtigen Kräften auf uns einwirkt Wie erklärt sich diese Beschränkung? Man pflegt sie gewöhnlich dadurch zu erklären, daß wir der eigenen Gegenwart gegenüber das Gebot der historischen ‘Objektivität’ nicht in der rechten Weise erfüllen können - L weil wir mit dieser Gegenwart zu nahe »verbunden«, weil wir mit unsern Wünschen, Leidenschaften, Interessen zu sehr in sie verflochten sind, um sie »unparteiisch« sehen zu können Aber darauf lässt sich ein Doppeltes erwidern Einmal: der Historiker gibt seine Interessen, seine subjektiven »Wer­ tungen« A und selbst seine subjektiven Leidenschaften auch dann nicht auf, wenn er sich in die Vergangenheit versenkt Sein eigentümliches »Pathos« und sein Temperament dringt auch in der Darstellung des Vergangenen immer wieder durch und verleiht ihr erst Leben und Farbe Warum sollte er also dieses Pathos nicht der Gegenwart gegenüber festhalten und zugleich so beherrschen, wie es die historische] Objektivität verlangt denn auch in der Darstellung des Vergangenen wird ja immer wieder von ihm diese K ri t ik des blosse[n] »Temperaments« verlangt[.] Und zweitens: Warum vermag denn der Dichter, der echte Dichter, ein »gegenwärtiges« Geschehen und Erleben so darzustellen, daß er es ganz in die Sphaere aesthetischer »Wahrheit«, reiner »interesseloser« Betrachtung 139 hinauf­ hebt daß seiner Darstellung keinerlei “Tendenz” mehr anhaftet?

A »Wertungen«] »Wertungen«,

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2 Die Lösung der Frage muss daher, wie mir scheint, an anderer Stelle gesucht werden: sie beruht auf der Bindung ans Monument und Doku­ ment, die der historischen Betrachtung wesentlich ist, während die künst­ lerische von ihr frei ist (s[iehe] oben!)[.]140

Der Historiker kann seine Zeit nicht erfassen, weil sie ihm noch nicht »dokumentarisch« und »monumental« geworden ist weil er nur einen sehr beschränkten Au sschnitt ihrer Dokumente u[nd] Monumente übersieht Der Historiker darf sein Urteil immer nur auf die Gesamtheit, die Totali­ tät der Dokumente stützen Diese Gesamtheit ist natürlich auch der Vergangenheit gegenüber nur ein Ideal - das nie ganz erfüllt werden kann Aberder Gegenwart gegenüber weis s der Historiker,Adaß das Ideal - auf dem sein »Urteil«, seine historische »Objektivität« beruht - p r i n ­ zipiell unerfüllbar istund ihr gegenüber muss er sich daher, wenn er aufrichtig nach den Grundsätzen seiner Wissenschaft verfährt, bescheiden er ist sich bewusst, hier nur als Mitlebender und Mitagierender, nicht als historischer] »Zuschauer« sprechen zu können - B Aus diesem Begriff der »realen Möglichkeit«, 141 der die Sphaere der Kunst gegen die der historischen Darstellung und der historischen Realität ab­ grenzt, empfängt auch der vieldeutige Begriff der künstlerischen I l lu ­ sion erst seine volle Bestimmung Was ist künstlerische »Illusion«? 142 Sie erscheint erkenntniskritisch als das seltsamste, ja anstössigste Zwit­ terding denn sie ist Schein, der nicht als Schein genommen werden soll Schein, der sich für Wahrheit giebt und der sich an die Stelle der Wahrheit setzt. Aber wie ist solche Vertauschung der Rollen möglich - und wie lässt sie sich rechtfertigen?

A der Historiker] am Ende der Seite angelangt ; ist der restliche Text von y 4,2 a u f dem Seitenrand geschrieben Bkönnen -] daneben: Forts[etzung] y 4,3; das nächste Blatt beginnt m it der Wie­ derholung der Kapitelüberschrift: Geschichte, Verhältnis] zur Kunst; a u f dem Rand: y 4,3

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zWird nicht der aesthet[ische] Schein - wenn er sich nicht als leerer Schein bekennt, wenn er behauptet, die Wahrheit zu »vertreten«, in die­ sem Anspruch schlechthin zur Lüge Und was ist es, das uns an diese Welt der Lüge fesselt und uns immer wieder zu ihr h i n z i e h t was lässt uns die Lüge der Wahrheit vorziehen Es gibt Theorien, die den künstlerischen Genuss auf eine »bewusste Selbsttäuschung« gründen Aber ist das nicht ein hölzernes Eisen[?] 143 - Können wir an der Täuschung festhalten, wenn wir sie uns einmal als solche zum Bewusstsein gebracht haben wenn wir also durch sie nicht länger getäuscht werden Und andrerseits: birgt nicht, in d i e s e m Sinne verstanden, die Kunst

eine ständige Gefahr lehrt sie uns nicht, »Wirkliches« und »Phantastisches« mit einander zu vermischen- 1 stumpft sie uns nicht ab gegen den Ernst der theoretischen Wahrheits­ forderung und macht sie uns nicht unfähig für den sittlichen Ernst des Lebens Daß es eine gewisse Art »Kunst« gibt, der dieser Vorwurf mit Recht gemacht werden kann, leidet keinen Zweifel es ist die blosse “Stoffkunst59, die Kunst der »Sensation«[.] (cf. h[ie]rz[u] y 4,2 Blatt a ) 144 Aber der Unterschied zwischen dieser »unechten«, stofflichen Kunst und der echten Kunst kann uns auch zugleich lehren, das Problem, das hier vorliegt, tiefer zu fassen Um die Antwort, die sich uns ergeben wird, vorwegzunehmen, so können wir sagen, daß die »Illusion«, der die Kunst wesenhaft verhaftet ist, darin besteht, daß sie sich ganz im Gebiet reiner »Möglichkeiten« bewegt - daß aber jede der Möglichkeiten, die sie vor uns hinstellt, eine »reale« Möglichkeit sein muss Was bedeutet diese paradoxe Verbindung von »Realität« und »Mög­ lichkeit« [?] »Möglichkeit«, »mögliche Welt« bedeutet zunächst, daß wir es in der Kunst mit der Sphaere der Essenz, nicht der Existenz zu tun haben (s[iehe] ob[en] y 4,1 u[nd] 2 !) 145 L

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die Kunst stellt uns mit einem Schlage heraus aus derjenigen RealitätsEbene, der unser empirisches W irk en angehört der wir mit unserm Wollen und mit unserm Tun verhaftet sind Dieses reale Tun, dieses Wirken-Wo 11 en und Wirken-Müs sen auf die empirische Welt verschwindet, sobald wir in die Atmosphaere der künstlerischen »Betrachtung« (contemplatio) eingehen - L diese ganze »Dimension« (die »zweite« Dimension unserer »Urphaenomene[« ])146 ist für uns in der künstlerischen Betrachtung und im künst­ lerischen Genuss versunken - L sie ist aus unserer Sicht- und Reichweite; sie ist “abgeblendet”L und kraft dieser Abblendung erblicken wir nunmehr erst “uns selbst” in unserer monadischen Fülle und unserer monadischen Einsamkeit Jetzt erst gilt das Faustische Wort: und unserer eigenen Brust geheime tiefe Wunder öffnen sich147 Die Fülle der inneren Bewegungen des Ich, die Fülle seiner “Möglich­ keiten” wird frei, wenn es sie rein in sich selbst entfalten und schwingen lassen kann - L statt sie einseitig zu fixieren, in einem bestimmten, gegen die empiri­ sche Wirklichkeit gerichteten A k t “sich auswirken” zu lassen Denn unsere Taten selbst, so gut wie unsere Leiden - sie hemmen unseres Lebens Drang 148 Jede Tat ist räumlich-zeitlich-individuell beschränkt, begrenzt - L sie wird der Fülle des Lebens, der Fülle der inneren “Gesichte”149 nicht gerecht. Aber andererseits: es ist eben eine nicht nur vorgetäuschte, eingebildete, sondern es ist eine reale Erweiterung unseres Ich, die wir erleben, wenn wir uns der Anschauung eines großen Kunstwerks hingeben »Wir« sind in ihm, »wir« bewegen uns in ihm und mit ihm und wir werden [uns] damit erst des wahren Ausmaßes unserer Kräfte, unserer Möglichkeiten bewusst die »Wirklichkeit« steht vor uns - nicht als ein bestimmter, objektiver[,] aber eben in dieser Objektivität auch eingegrenzter Stoff- und Gegenstandsbezirk - L sondern als die Wirklichkeit unseres Ich, die, wie wir gewahr werden, eine unbegrenzte Möglichkeit vorher ungekannter Lebensphaenomene und Lebensfunktionen in sich birgt[.] Das »Objekt« also (der Stoff) muss in der Kunst zur Erscheinung, zum reinen Phaenomen, zum »Bild« herabsinken

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- es muss aus dem kausalen Wirkens- und Willenszusammenhang gelöst und »erlöst« werden damit, kraft dieses Versinkens, die neue Form der Wirklichkeit herauf­ steigt, die die Wirklichkeit des »reinen Ich« istL - und die B efreiung dieser Wirklichkeit: das ist es was wir im großen Kunstwerk erleben In ihm werden wir »unserer selbst« gewahr nicht desjenigen “realen” Selbst, das einer einzelnen realen Seins-Stelle verhaftet ist, das »verhaftet an dem Körper klebt« 150 sondern der ganzen Schwingungsebene unseres Ich nicht seiner “wirklichen” Inhalte, Stoffe, sondern seiner (funktio­ nellen) Möglichkeiten [.] 151 Und dies ist der tiefste Sinn der künstlerischen »Illusion«[.] - Die Illusion muß so beschaffen und sie muß darauf angelegt sein, uns einer neuen und tieferen Realität — (eben dieser »funktionalen« Wesenheit unseres Ich) zu versichern und sie voll ausschwingen zu lassen Man begreift jetzt, was es mit dem künstlerischen »Spiel« auf sich hat - L und wie dieses Spiel den tiefsten »Ernst« nicht ausschliesst, sondern einschliesst Verdeutlichen wir den Sinn der Frage zunächst an zwei BeispielenDas erste entnehmen wir der K i n de rps ych ol ogi e hier gehen noch immer die Deutungen über das Spiel des Kindes weit auseinander es ist zunächst klar, daß das Kind seinem Spiel h i n g e g e b e n ist, daß es nicht “über” sondern in ihm steht, daß es das Spiel durchaus Ernst nimmt, mit ihm leidet und mit ihm sich freut - und daß alles echte Spiel dieses Ergriffensein, dieses »wirkliche« Mitleiden und Mitfreuen einschließt Und doch haben andererseits die Psychologen Recht, wenn sie darauf bestehen, daß schon das Kind die reale Sphaere (die Sphaere, in der sein tägliches Leben mit seinem Rhythmus von Essen, Trinken, Schlafen u.s.f. sich bewegt) klar und scharf trennt von der Sphaere des Spiels daß es insofern ein deutliches Symbolbewusstsein besitzt; die Spiel­ dinge nicht als wirkliche Dinge, sondern als Symboldinge nimmt vgl. h[ie]rz[u] die Bemerk[ungen] von Charl[otte] Bühler[.] 152 Beides schliesst sich nicht aus - L

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das Kind lebt im Spiel - L aber es lebt nicht in einer Welt imaginärer Dinge sondern in einer Welt realer F u n k ti o n en 1 - es ist: aber es ist das, was es (als Spiel und im Spiel) ausübt 153 nicht das, was es (empirisch-real) bewirkt[.] Und genau dieselbe Transformation, Metamorphose - das Zurückziehen vom realen Wi rk en zum reinen Dasein in unseren inneren Funktionen tritt mit uns ein, sobald wir in der Anschauung des reinen Kunstwerks stehen[.] Die aesthetische »Illusion« 154 - oder besser gesagt: die aesthetische W i r k ­ lichkeit - wird zerstört sobald diese Transformation, diese jueräßaoig e iç aXXo y é v o ç 155 sich nicht mehr in der rechten Weise vollzieht[.] - Ein Beispiel: Der Zuschauer von der Gallerie, der auf die Bühne springt, um dem Helden in seinem Kampf mit dem Verbrecher zu Hülfe zu eilen er durchbricht die aesthetische Illusion er fällt aus seiner Rolle als aesthetisch-Betrachtender heraus er handelt »wider-aesthetisch« weil er praktisch handelt - L weil er aus der Bildebene, in die ihn das Kunstwerk versetzen und in der es ihn festbannen wollte, plötzlich herausspringt in die Wirklich­ keits-Ebene - L weil er dem magischen Zauber des Kunstwerks sich entzieht und wieder in die “gewöhnliche” (empirisch-dingliche) Wirkungswelt zu­ rückfällt Aber andererseits: unkünstlerisch, wider-aesthetisch empfindet auch, dem dieses ganze Schauspiel da obenA nur ein Schauspiel ist dem die Bühne nichts als ein Brettergerüst der Schauspieler nichts als eine blosse Maske oder der bekannte Herr Sonnenthal 156 ist, der jetzt die und die Rolle spielt der “sich nichts vormachen lässt”, sondern sich in jedem Augenblick bewusst ist, daß alles was da oben vorgeht, bloss »Schein« (Spiel[J “Spaß” ist) dem also die dramatische Handlung nicht “Ernst” ist A oben] oben,

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z E r fehlt im umgekehrten Sinn für ihn wird das Geschehen da oben gar nicht zum dramatischen, zum künstlerischen Geschehendenn dies kann es nur werden, wenn der »Zuschauer« aus der Rolle des blossen Zuschauers heraustritt wenn er zum M it sp iel er in dem Drama wird »Mitspieler« aber nicht im stofflichen Wirkungs-Sinne, sondern im Sinne des reinen Mit- Lebens unter Enthaltung von Mit- Wi rk en — In diesem Sinne ist der naive Zuschauer auf der Gallerie dem kühlen, gleichgültigen Zuschauer im Parkett noch weit überlegen denn er steht doch mitten in den Ereignissen, nicht “über” ihnen ihm ist dies alles Ernst, nicht Scherz W irk l ic h k e i t , nicht Illusion sein Mangel besteht darin,A daß er die verschiedenen “Ebenen” des Er­ lebens nicht zu sondern vermag — daß er nicht rein funktionell, sondern immer nur stofflich (mit-handelnd, mit-agierend) zu leben vermag Aber die rein innerliche (monadische, von der Welt des Wirkens ab­ geschlossene) Mi tbewegtheit (nicht etwa nur scheinbare, vorgespiegelte Bewegtheit) gehört durchaus zu jedem wahrhaften Genuss des Kunstwerks - L ohne sie bliebe das Kunstwerk völlig leerer Schein (ein leeres Bild auf einer Tafel) [.] 157 Die »Idee« des Kunstwerks, sein inneres Sein und seine »Wahrheit« ist nie in bloss passivem Empfangen zu erfassen sie erfordert die innere Aktivität, die volle Mitbewegung, das Mit»gehen« mit dem Kunstwerk, in seinem Auf und Ab, in seinem eigentüm­ lichen Rhythmus Ohne solche rhythmische Bewegtheit, Versunkenheit im Rhythmus des Kunstwerks, gibt es kein »Verstehen« desselben sie ist der Kern aller künstlerischen »Wahrheit«[.] - K l e i s t [,] nach der Vollendung der Penthesilea, in Tränen aufgelöst[:J »Sie ist tot«[.]

A besteht darin] besteht er

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Wollte ihn hier der Freund damit trösten, daß Penthesilea ja nicht “wirk­ lich” tot sei so wäre das absurd es wäre keineswegs “Vernunft”, wenngleich es empirisch offenbar berechtigt und vernünftig ist Aber wir fühlen sofort, daß diese empirisch-gemeinplätzliche »Vernunft« gegenüber den Gesetzen des Aesthetischen nichts vermagL —sie wäre aesthetisch die höchste U n v e r n u n f t denn sie zerstört das innere “Mitleben” mit den Geschöpfen der Kunst - L sie will, daß ih r Leben nicht unser Leben und nicht das Leben dès Künstlers sei Aber eine solche Scheidung gibt es weder für den aesthetisch- Schaffenden noch für den, im rechten Sinne, aesthetisch Ge niessendenL für sie “leben” die Gestalten im wahren, im vollen Ernst - L nur nicht als reale Bestandteile »unseres« tatsächlichen, stofflichen Schuster- oder Schneider-, Gelehrten- oder Beamten d a s e i n s L sondern als Momente unseres »Ich«, das wir im Kunstwerk befreit, zur ganzen Fülle seiner Möglichkeiten e r w e it er t sehen[.] Wir können Faust oder Hamlet, Tasso oder LearA »sein« - d. h. das innere Gesetz ihres Charakters, ihres SchicksalsL das Auf und Ab ihres geistigen Lebens, ihrer Leidenschaft die gesamte Spannkraft u[nd] Dynamik ihres Seins nachleben Könnten wir das nicht in irgend einem Sinne ( - so wenig wir all diesen Gestalten empirisch-real gleichen mögen)L so bliebe das Drama für uns stumm, verschlossen Wir könnten es nur gaffend, als Schaugepränge, an uns vorbeiziehen lassen als ein Etwas, das uns »nichts angeht« Gewiss mögen eine Fülle von Zuschauern das Drama nur in diesem Sinne als Theater {déapia) sehen für den wahrhaft aesthetisch-Ergriffenen ist es etwas anderes — es ist echte deeogta (- Erkenntnis) und zwar wesentlich Innenschau -

ATasso oder Lear] unter Faust oder Hamlet geschrieben

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Geschichte

zDie vorgeführte, dargestellte W ir k l i c h k e it reisst uns nicht fort in ihren Kreis wir springen nicht auf diese Bühne — wir verharren in der (empirischen) Ruhe des Schauens aber diese Ruhe ist die tiefste innere Bewegtheit eine Bewegtheit, wie wir sie in diesem Reichtum, in dieser Fülle, in dieser Hingerissenheit und Mitgerissenheit in dem Kreise unseres alltäglichen äusseren Wirkens, in dem engen Zir­ keltanz unseres Daseins niemals erleben können. Und auch hier können wir uns wieder, nach der negativen wie nach der positiven Seite hin, die Beziehung zwischen kü nstlerisc her und histo risc her Darstellung deutlich machen[.] - Auch der grosse H ist ori ker will uns nicht “blosse Bilder auf einer Tafel”159 sehen lassen er willA nicht ein Gemälde des Daseins vor uns aufstellen und uns zu passiver Betrachtung einladen er will, daß wir in die Gestalten, die er vor uns hinstellt, deren Charaktere und Schicksale er uns sehen lässt, eingehenL daß wir zu ihnen werden und mit ihnen leben Ohne dieses Mitleben, ohne diese Metamorphose bleiben uns auch die großen Geschichtswerke stumm sie überhäufen und erdrücken uns mit Stoff, statt uns mit einer neuen Form zu beschenken[.] Dieses M i 1 1e b e n mit den Gestalten des Historikers wird um so stärker, je mehr er selbst sich hierbei zurückhält, je weniger er uns unmittelbar seine eigene Stimme hören lässtEs ist kein Zweifel, daß der Historiker, gleich dem Dramatiker, sein ganzes Ich, seine innere gesammelte Leidenschaft, in seine Gestalten hin­ einverlegen muss - L und daß nur aus solchem leidenschaftlichen Mit-Leben erst die höchste Stufe historischer Gestaltung erwächst - L und doch geht das eigene Ich nicht unmittelbar in die Gestalt ein tritt hinter sie zurück - wir glauben lediglich[,] sie selbst zu sehen -

A will] danach gestrichen: uns

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zGerade die streng objektiven Historiker, wie Ranke, vermitteln uns in der objektiven Deutlichkeit und Plastizität der Gestalten, die sie vor uns hinstellen, die intensivste Kraft dieses Miterlebens hier erfassen wir das »Pathos« der Gestalten in all seiner Mannig fal­ tigkeit - L nicht nur das “subjektive59 Pathos des Historikers[,] das doch nur immer “sich selbst gleich59 bleibt Insofern wirkt gerade eine so »ruhige« scheinbar unbeteiligte Darstel­ lung wie die Rankes weit stärker auf uns, als eine leidenschaftlich-ten­ denziöse wie die TreitschkesL ebenso wie Shakespeare, gerade dadurch, daß wir ihn niemals “selbst* zu fassen bekommen[,] die höchste Form des Miterlebens mit seinen Ge­ stalten erzeugt und erzwingt Die Fülle der Bilder von Personen, Charakteren, Leidenschaften, Zu­ ständen, die Ranke in seiner Reformations-Geschichte vor uns ausbrei­ tet1 und all das in ihrem eigenen Lichte gesehen - . .. (nicht bloss reflek­ tiert durch R[ankes] s “Persönlichkeit5’)[.] Aber dies alles ist doch begrenzt durch die Perspektive der histori­ schen Wirklichkeit der Prozess der Gestaltung ist gebunden an die Wahrheit des histori­ schen Materials [.] Und vom Historiker fordern wir, daß er nichts in seine Gestaltung auf­ nimmt, als was er aus diesem Material zu schöpfen und durch dasselbe zu beglaubigen vermagErst allmählich ist dieses Ideal im Kreise der historischen Forschung als solches erkannt u[nd] anerkannt worden Die antike Geschichtsschreibung wirkt hierin, gegenüber der modernen, »primitiv« - L weil sie die »kritische« Scheidung zwischen künstlerischer und histori­ scher Darstellung noch nicht mit wirklicher Schärfe vollzogen hat die Einlagen der “Reden” bei den antiken Historikern (Thukydides) sind für uns nicht »organisch« mit der geschichtlichen] Darstellung verbun­ den -

1 Wallenstein, Moritz / von Sachsen, ...160

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Geschichte

denn sie gehören nicht derselben »Wirklichkeits«[-]Ebene, wie die berich­ teten Ereignisse, ansie sind frei »erfunden« im Sinne des künstlerischen »Erfindens«[,] nicht des historischen »Findens«[.] Der Historiker als solcher aber darf »erfinden« immer nur auf Grund des »Findens«L er »gestaltet« ständig, aber er bewegt sich in diesen Gestalten nicht, gleich dem Dramatiker, im Kreis der freien “Möglichkeiten” sondern in der Bindung durch das »Dokument« und »Monument« sfiehe] ob e n ! 161 Auch der historische »Bericht« ist nicht Copie —auch er gehört dem Bereich der Phantasie an, aber d e r Phantasie, die auf die Herausarbeitung der empirischen W i rk l ic h k e it , nicht auf die blosse Möglichkeit gerichtet ist der Historiker darf unser Gefühl daher nicht mit den gleichen Mitteln der »Illusion« erregen seine »magische« Welt ist immer ganz andersAals die des Dramatikers8 der stofflichen Wirklichkeit verhaftet wenngleich sie mit ihr keineswegs einfach zusammenfällt - koinzidiertf.] Denn »Geschichte« ist eben doch im Grunde jener “zweiten” Dimensi­ on der Dimension des »Wirkens« und »Wollens« verhaftet, die der Künst­ ler als solcher aufheben und “abblenden” kann162 Den H i s t o r i k e r 0 lässt diese Welt der zweiten Dimension] nicht los, und er kann sie nicht loslassen, von ihr nicht loslassen In all seiner reinen »Phantasie» zielt er doch immer wieder auf diese Wirklichkeit h i n - L die die Kunst in reine “Möglichkeit” aufhebt[.]

A anders] anders, B Dramatikers] Dramatikers, c Den Hi storiker] darüber gestrichen: Ihn lässt

Geschichte (Allgemeine] Disposition)A Wenn wir den Gesamtaufbau der geschichtlichen Welt163vom Standpunkt unserer “Basisphaenomene” betrachten so zeigt sich zunächst, daß sich die Geschichte wesentlich in der Sphaere der »zweiten Dimension« bewegt, in ihr jedenfalls ihr Centrum und ihren »Anfang« (àçx rj ) hat wenngleich sie sich nicht auf diese Dimension einschränken lässt wenngleich das wirkliche Verständnis der Geschichte über diese Sphaere hinausgeht Hierin liegt einer der fundamentalen Unterschiede zwischen der histori­ schen und der künstlerischen Betrachtung der Wirklichkeit - L denn die letztere emanzipiert sich gewissermassen von dieser gesam­ ten zweiten Dimension, in der die Geschichte ursprünglich und dauernd verwurzelt ist: der Dimension des »Wo Ile ns und Wirkens«[.] Sie sieht von ihr ab, während die Geschichte auch in ihren höchsten Gestaltungen, immer u[nd] notwendig auf sie absieht[.] Die Kunst schlägt, über die Welt des empirischen Daseins und Wir­ kens, über die »Wirklichkeit« im gewöhnlichen Sinne hinausgreifend, gewissermassen unmittelbar die Brücke von der »monadischen« Weit, der Welt des reinen Gefühls, zu einem objektiven Reich der Fo rmen 1 die Geschichte steht fest auf der “wohlgegründeten Erde”164 -aus dieser Erde quellen ihre Freuden[,] 165 L für sie gibt es die Welt des Ich (die »erste Dimension« ) 15wie die Welt der Formen nur, sofern sie wesentlich verschlungen ist in die Welt des Wollens u[nd] Wirkens,1 sie repraesentiert, von ihr Zeugnis a b le gt [.]166 Daher führt sie der Blick immer wieder auf diese Welt zurückGeschichte ist wesentlich und wesenhaft auch »Biographie« und sie ist wesentlich auch Monumenten = Formen = ( = Kultur) Geschichte1 A Geschichte ... Disposition)] unterstrichen; a u f dem Rand: Y5 B Dimension«)] Dimension«),

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Geschichte

aber all dies ist für sie zuletzt doch nur Medium - L um in den Kreis des Wollens und Vollbringens, des Herrschens und Wirkens einzudringen. Insofern ist diejenige Gruppe der Historiker im Recht, die das Zen­ trum der historischen Betrachtung in der politischen Geschichte erblicken Denn in ihr ist die Geschichte sozusagen in ihrem “natürlichen Ele­ ment”. »Geschichte« im eigentlichen Sinne ist dasjenige System von Wechse l­ wirkungen zwischen den Einzelnen, das sich herausstellt, wenn ver­ schiedene Willen aufeinander stoßen und sich mit einander auseinander­ setzen — wenn sie um die Herrschaft ringen[.] Und dieser Kampf um die Herrschaft vollzieht sich nicht zwischen den Einzelnen als »monadischen« Einheiten - L er setzt eine Organisation der Willen voraus ein zusammengefasstes Ganze und ist nur auf Grund einer solchen Organisation möglich[.] Die »privaten« Konflikte, die im Zusammenleben der Menschen immer und notwendig bestehen und ausbrechen sie sind nicht Sache der Geschichte, sie sind historisch bedeutungs­ los Geschichtliches »Interesse« gewinnen sie erst, wenn ganze Verbände Gruppen, Stämme, Nationen1 gegen einander auftreten, sich zu beeinflussen, zu verbinden, zu unter­ jochen streben [.] Solche Verbände sind nur, sie haben physische »Existenz« nur, sofern sie durch bestimmte Kräfte des Gehorsams, der Unterwerfung zusam­ mengehalten werdenL - ohne solche Kräfte müssten sie alsbald zerfallen, sich in disparate Teile auflösen[.] Wir können hier die »lockeren« Formen der Organisation die Formen von Familie, Stamm, Clan von strafferen Formen unterscheidend aber die wirkliche Höhe des geschichtlichen Lebens wird erst erreicht, wenn die Organisation der Willen ihre strengste und höchste Form an­ nimmt - L

Allgemeine Disposition

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wenn anstatt der lockeren (naturhaften) Verbände die Organisation des Staates vor uns steht. Insofern sind die Anfänge des Staates die Anfänge der Menschenge­ schichte die Staaten erst die eigentlichen Subjekte der Geschichte - »vor« den Staaten gibt es keine »Geschichte« ( Hegel ) 167 zu Hegel’s Stell[ung] des Staatsbegriffs cf. R o s e n z w e i g 168 s[iehe] auch Troeltsch 258/59[.]£9 D er Primat der politischen Geschichte in diesem Sinne kann nicht bestritten werden (Ranke, Ed[uard] Meyer)[.] Es ist treffend, wenn von dieser Seite her immer wieder betont wird, daß die wirklichen »Begebenheiten«, Ereignisse, daß die »res gestae«B den eigentlichen Kern der Geschichte ausmachen um den sich alles andere umherrankt, auf den es sich bezieht[.] Nimmt man diesen »politischen« Aspekt in seiner ganzen Weite, so wird man freilich über die bloss-pragmatische Darstellung und Erzählung derc »res g e s t a e «Dweit hinausgewiesen - L und die wahrhaft grossen “politischen” Historiker, insbesondere Ranke, haben diese Erweiterung auch bewusst vollzogenSchon die Reflexion auf die “Subjekte” der politischen Geschichte zwingt, erkenntnistheoretisch betrachtet, zu einer solchen Erweite­ rung - L denn »Staaten« sind nicht einfach in der Weise gegeben, wie empirisch physische “Dinge” es sind Sie »sind« nicht - aufweisbar an einem bestimmten Punkte des Raumes und der ZeitL - sondern sie »leben«, sie »entwickeln sich« und diese Entwicklung ist ihr Sein -

A (Hegel)... 258/59] Hegel besonders groß geschrieben, daneben in zw ei Zeilen die bibliographischen Verweise zu Rosenzweig und Troeltsch, w ohl im fließen den

Text geschrieben

B»res gestae«] H ervorhebung durch Wellenlinie c der] des D»res gestae«] H ervorhebung durch Wellenlinie

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Geschichte

2Wie macht der Historiker dieses Sein fassbar; was bedeutet es, wenn er die “Geschichte der Stadt Rom” oder die Geschichte des “deutschen Volkes” schreibt Es ist ein Abweg, wenn man dieses Problem dadurch und nur dadurch lösen zu können vermeint, daß man auf irgendwelche überempirische, metaphysische Einheiten rekurriert Diese organologische Betrachtungsweise ist erkenntnistheoretisch nur eine S c h e i n l ö s u n g sie verschanzt sich hinter der Ansetzung einer metaphysischen Ganz­ heit, statt begreiflich zu machen, was denn der historische Begriff der Ganz­ heit eigentlich bedeutet, und welche Synthesen er in sich schließt[.] So wenig wir wissenschaftlich einen Schritt weiter sind, wenn wir auf “die Natur” als eine wirkende, substantielle Macht rekurrieren - statt sie als einen Inbegriff von Relationen, von Natur-Gesetzen zu verstehen - L so wenig hilft uns historisch die H y p o s t a s e der Einheiten (“der” Stadt Rom etc[.]) weiter “Die” Stadt Rom - das hat zweifellos eine Bedeutung aber diese Bedeutung versteht man nicht wenn man sie zu einer histori­ schen Wesenheit, zu einer wirkenden Kr af t macht, die gewissennassen hinter den Kulissen steht und von dort aus, als der Regisseur, das Schau­ spiel leitet, das sich uns im Geschehen der Stadt Rom darstellt Solche »mystischen« Interpretationen sind im Grunde nichts als ober­ flächliche Antworten auf das schwierige und tiefe Problem der histori­ schen Ganzheiten Bei den wirklich großen Historikern findet sich auch ein viel schärferes methodisches Bewusstsein von dem Problem, als es in diesen organologia sehen Scheinlösungen vorliegt Ra n k e 1 A z. B. will im Gang der politischen Geschichte den Gang der “Ideen” sichtbar machen Aber was sind für ihn die »Ideen«? 1 ZuB R[anke] u[nd] zur Litteratur /über R[anke] vgL /Troeltsch, Historismus / zum Gegens[atz] von Ranke u[nd] / Hegel sjiehe] besonders] S. 238 f.I / 271 ff[.]c / die “Mär der Weltbegebenheiten” / die als ihr W ille u[nd] Wesen / anzusehen sind (238) / vgl. das Register! besonders] auch / 163: Hinweis auf das »Politische] Gespräch«0 A Ranke] Ranke* B Zu] *Zu c 271 ff] m it Bleistift, also nachträglich, hinzugefügt und doppelt unterstrichen D besonders auch 163 ... Gespräch] nachträglich m it Bleistift hinzugefügt

Allgemeine Disposition

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Sie sind nicht etwas Spirituelles, Transzendentes, sie haben einen phy­ sischen Körper und dieser K ö rp er ist eben der StaatDie verschiedenen Staaten, die grossen Mächte, die sich jeweilig in einer bestimmten historischen Epoche gegenüberstehen die sich die Herrschaft streitig machen - L die mit einander um den “historischen Lebensraum55 ringen1- L sie repraesentieren je eine bestimmte »Idee«* d. h. sie ve rk ö rp er n eine bestimmte Richtung des Herrschaftswillens Diese Richtung liegt all ihren Einzelaktionen zu Grunde - und es ist die Kunst des Historikers[,] sie sichtbar zu machen sie in den einzelnen, empirisch noch so zufälligen, Entschlüssen und Aktionen der “großen Mächte** w ied er zu er ke n n en als das eigent­ lich beseelende Grundmotiv, was die einzelnen Akte davor bewahrt, zu ze rf la tt er n , was sie zu einer (teleologischen) Einheit zusammenschliesst Diese »Teleologie« braucht dem Individuum (damit auch den leitenden Staatsmännern) nicht als ‘Vorstellung5 und in der Form der ‘Vorstellung5 bewusst zu sein aber sie ist nichtsdestoweniger in ihnen wirksam ja sie ist der eigentliche Hebel des geschichtlichen Geschehen[s] den der historische »Blick« als solchen erfasst Richelieu als »Idee«, wie ihn Ranke schildert, 170 ist daher etwas anderes als Richelieu als Individualität, Person, Charakter... Von welchen Beweggründen, Motiven Richelieu als Person gelenkt war, das macht nicht das Ganze seines “historischen Wirkens* ausBHierüber mögen wir in tausend Fällen im Unklaren sein und im Unklaren bleiben müssen ohne daß wir die Frage unbeantwortet lassen müssen, was Richelieu im Ganzen der modernen Staaten- und Völkergeschichte bedeutet - L 1 Uber Rankes »Grosse / Mächte« vgl. die Charak- / teristik bei Mei necke / Weltbürgertum 297 ff[.] ! 171 A Mächte”] folgen des Wort gestrichen: sichtbar B aus] dar

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Geschichte

wie sein Wollen sich in den Gang des historischen Geschehens einfügt - L wie er eine bestimmte Tendenz einer bestimmten “grossen Macht” (Frankreich) in einem bestimmten Wendepunkt seiner Geschichte (die Tendenz und der Drang zur Zentralisierung, zur Zusammen­ fassung aller Kräfte,) vertritt u[nd] verkörpert Das heisst nicht, daß es einen “intelligiblen” Richelieu gegenüber dem “empirischen” gibt es heisst, daß der Historiker das Individuum nicht anders verstehen kann, als indem er es in bestimmte teleologische Zusammenhänge rückt - L die er erst rückschauend erschliesst und aus dem Ganzen der »res g e s t a e «A rekonstruiert Das ist eine ganz eigentümliche Erkenntnisleistung und auf ihr beruht alle O b j e k ti v it ä t der Geschichte Sie ist nicht etwa Leistung (willkürliche “Deutung”) des einzelnen Historikers sondern sie muss streng ob je k ti v an den Dokumenten erwiesen und an ihnen durchgängig gerechtfertigt werden. Der Historiker gewinnt a n diesen Dokumenten die »Idee«Bals diejenige Sinneinheit, die ihre empirische Vereinzelung überwindet- 1 er fragt nicht, was das Individuum in diesem oder jenem Augenblick mit diesem Willensentschluß oder einzelnen Willensakt »gewollt« hat er nimmt das »Ganze des Wollens« zusammen, das sich in dem “Frank­ reich Richelieus”, dem “Deutschland Bismarcks” u.s.f. darstellt, verkör­ pert, repraesentiert[.] Der Einzelakt ist ihm “symbolisch” für dieses GesamtwollenL - diese »symbolische« Deutung ist methodisch weit t i e f e r c als die oberflächliche Metaphysik der Organologie 172 (Polemik Ed[uard] MeyersDgegen Mommsen173 aber Mjommsen] fehlt nur darin, daß er dies alles zu sehr in Caesars individuelles Bewusstsein rücktDarin mag man Ed[uard] MeyerErecht geben und doch ist Mommsen der, der »Caesar« (die Idee Caesar) besser u[nd] tiefer gesehen hat cf. Ortega, Aufstand 181/182)[.]174 A »res gestae«] H ervorhebung durch Wellenlinie B »Idee«] »Idee«, c tiefer] tiefer, DMeyers] Mayers EMeyer] Mayer

Allgemeine Disposition

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zAlso auch der politische Historiker - und gerade er - will nicht Tat­ sachen [,] »res gestae« erzählen er will Kräfte (im Ranke sehen Sinne: Ideen) sichtbar werden lassenKrä fte, die in den einzelnen Taten ihren Ausbruch und Ausdruck ge­ funden habenf.] Vonder metaphysisch-spekulativen Geschichtsdeutung ist diese Ranke sehe Auffassung dadurch geschieden, daß es nach Ranke nicht die »absolute« Idee ist, die sich im geschichtlichen Prozess auswirkt nicht der Hegelsche “Weltgeist”175 und die Hegelsche “List der Ver­ nunft*,^ für die die Individuen im Grunde nur Mittel zum Zweck, nur Marionetten sind, die an der Schnur der absoluten Idee tanzen 177 Ranke sieht die historischen Mächte durchaus als konkrete, einzelne Potenzen1 - als Einzelstaaten oder als einzelne große Politiker aber er sieht sie eben als Potenzen; d. h. als ganz bestimmte, gerichtete Kraftquellen - L gewissermassen als gewaltig aufgespeicherte Energien, als »vektorielle« Grössen[.] Und über dem besonderen Entschluß, den der Einzelne aus sehr zufäl­ ligen, vielleicht sehr kleinlichen Motiven im einzelnen Augenblick fasst setzt sich immer wieder dieses vektorielle, dieses “gerichtete* Geschehen durchL - und durch diesen Ausgleich erst erhält »die« Geschichte selbst einen bestimmten »Sinn« (nicht einen transzendenten sondern einen immanenten, eine Richtung, in der sie weiter geht...)[.] Die »res gestae« (nicht als einer “Lenkung Gottes* angehörig noch als Ausdruck einer metaphysischen Weltvernunft, 178 sondern rein in dieser immanenten Sinn-Richtung, teleologischen Struktur[)] sichtbar werden zu lassen:L das ist das eigentliche Ziel der “politischen Geschichtsschreibung*, wenn man deren Aufgabe so versteht, wie ihre grössten Meister sie konzipiert und durchgeführt haben[.]

Davon hebt sich dann jene andere Aufgabe ab, die unserm “ersten* und “dritten* Aspekt angehört:A A angehört:] angehört.

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Geschichte

a) die Aufgabe der Biographie - das “innere” (monadische) Leben der historischen] Persönlichkeiten, ohne welches doch ihre Wirk sam ke it - ihr Eingreifen in das »Wollen und Wirken«, ihre konkrete Aktivität uns nicht ganz verständlich, nicht von innen her “durchsichtig” werden kannA b) die Sphaere der Werke, Fo rmen 1 Kulturgeschichte im weitesten Sinne “Kunstgeschichte”, Religionsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte [.]B All diese Formen haben gleichfalls ihr Eigenleben und ihre eigene Ent­ wicklung Sie durchlaufen - wesensgesetzlich - bestimmte »Phasen« die Kunst,0 von »primitiveren« zu entwickelteren Formen die Wissenschaft

in bestimmten “Stufungen” von Kategorien1 all dies kann und muß zum Gegenstand selbständiger Untersuchungen gemacht werdenL - aber immer auf dem Hintergrund des »eigentlich«-geschichtlichen Daseins des Wollens,Ddes Wirkens, der res gestae[.]

A - das “innere” (monadische)... “durchsichtig” werden kann] bündig eingerückt unter a) die Aufgabe B K u l tu r geschichte im weitesten... Wissenschaftsgeschichte] bündig eingerückt unter b) die Sphaere c die Kunst,] danach gestrichen: die Wissenschaft DWollens] Querstrich a u f : Forts [etzung] s [iehe] bes[onders] y 6

Geschichte (Allgemein] )A Hat man die Geschichte als die Sphaere des »Wollens und Wirkens« erkannt und als die Darstellung der Entwicklung der großen Organisa­ tionsformen des Willens, in ihrem Ringen um die »Gestaltung« der Welt, in ihrem Kampf um die Herrschaft - L u[nd] hat man sie demgemäß wesentlich als politische Geschichte bestimmt (cf. Bl[att] y 5!)179L so erhebt sich schließlich doch die Frage, ob diese unübersehbare Kette von Wirkungen und Gegenwirkungen, die wir in der politischen] Ge­ schichte in ihrem faktischen Dasein überblicken, nicht noch einer anderen Erkenntnis fähig ist - ob wir die an sich unübersehbare Menge der Einzelwirkungen nicht auf wenige grosse Kräfte zusammenziehen und die Natur dieser Kräfte bestimmen können Dann erst hätten wir, wie es scheint, der Geschichte gegenüber geleistet, was die Naturwissenschaft der Natur gegenüber leistet Wir hätten das Geschehen, statt es lediglich als solches in seiner Bunt­ heit, Verschiedenheit, FülleB vor uns vorübergleiten zu lassen, in be­ stimmte Klassen geordnet, auf gewisse Einheiten zurückgeführt0 und erst dadurch wahrhaft er kannt wir hätten auch hier den Schritt vom xi zum ò l o t e vollzogen[.] 180 DamitDvermöchte die Geschichte für die Erkenntnis der menschlichen, der sittlichen Welt das zu leisten,E was Newton für die physische Welt geleistet hat Kant sah in Rousseau einen solchen “Newton der Geschichte* 181 - der in ihre vielfältigen, verworrenen Phaenomene zuerst “Ordnung und Re­ gelmäßigkeit* gebracht habe indem er die geheime Triebfeder aufge­ deckt habe, die alles menschliche] Geschehen bewegt[.] Das wäre sodann eine neue, erst wahrhaft »philosophische« Auffassung der Geschichte: philosophisch, weil sie nicht auf die Mannigfaltigkeit der Dinge, Ereignisse, Vorgänge, Taten gerichtet ist, - L A Geschichte (Allgemein)] unterstrichen; a u f dem Rand: y 6,1 B Fülle] Fülle, c zurückgeführt] zurückgefuhrt, DDamit] da vor gestrichen: Kant E zu leisten] geleistet

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Geschichte

sondern fürA diese Mannigfaltigkeit eine »Einheit«, als den »Grund« des Mannigfaltigen ansetzt und voraussetzt eine Einheit, die in nichts anderem gefunden werden kann, als in der Einheit der M o ti vat io n Wie die Newtonsche Schwerkraft alle Bewegungen der körperlichen Massen bestimmt u[nd] sie in einer einfachen Formel darzustellen gestat­ tet so soll, so muß es auch eine solche G ra v i t a t io n sk ra f t immenschljichen] Geschehen geben einen Grund zu g, der die Willen zu einander zwingt, und der es erst ermöglicht, daß sie sich suchen und fliehen m daß sie sich zu bestimmten Organisationen (Gemeinschaften) zu­ sammenfinden wie Sonne, Planeten, Fixsterne durch solche Gravitationskräfte gebil­ det und durch sie zusammengehalten werden[.] Und dieses Bild soll kein blosses Bild sein: es wird exakte, wissen­ schaftliche Geltung für dasselbe in Anspruch genommen und hierauf wird eine bestimmte Form der Ge schi chtsphilosophie gegründet Die Einheit der physikalischen Wirkungen wird durch die Mathema­ tik, durch die Rückführung auf Grösse und Zahl, erreicht und sicherge­ stellt, durch die Quan tif izi er un g der Phaenomene Erst durch sie wird die Physik zum Rang einer »Wissenschaft« erhoben183 Aber die menschlich-gesellschaftlichen Phaenomene scheinen u n m it ­ telbar einer solchen Quantifizierung nicht fähig zu sein Gewiss setzt auch ihnen gegenüber der Versuch der Quantifizierung ein und aus ihm hat sich jene geschichtliche Betrachtung entwickelt, die in der sogen[annten] Morals tat ist ik zum Ausdruck kommt (Quételet, Buckle[)],auch moral[ische] Erscheinungen, wie das Verbrechen, sind strengen quantitativen (statistischen) Regeln unterworfen und auf der Erkenntnis dieser Regeln muss die Wissenschaft] der Gesch[ichte] aufgebaut werden ( B u c k 1e )[.] 184 Auf der Erkenntnis der Massenerscheinungen und statistischen] Gesetzen6 beruht das Wissen in der Geschichte A für] nachträglich eingefügt B Gesetzen] Gesetzen,

Allgemein

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2 Aber eine eigentliche Quantifizierung, Mathematisierung des Gesche­

hens ist damit nicht erreicht denn die statistische Formel sagt uns nichts über das Einzelgesche­ hen aus sie behandelt nur einen »Durchschnitt«, der im Grunde fiktiv ist[.] Sollte es nicht ein Mittel geben, auch in das Einzel geschehen tiefer einzudringenL nicht um es als ein blosses »Hier« und »Jetzt« in seinem “zufälligen” Dasein zu kennzeichnen sondern um ein Allgemeines, ein So-Sein, um bestimmte konstante R e­ lationen an ihm hervortreten zu lassen. Im Bereich der menschl[ich]-sittlichen Erscheinungen können wir uns, um diese konstanten Relationen zu gewinnen - um also »Gesetze« des historischen Geschehens aufzufinden nicht unmittelbar in die Mathematik finden Sie lässt uns hier im Stich, weil geistige, psychische Erscheinungen nicht in demselben Sinne »meßbar« sind, wie körperliche weil es keine »psychische Elle«, keine exakten Maßbestimmungen des Psychischen gibt[.] - Hier muss also eine andere Form der Einheitsbildung einsetzen, als diejenige die die Mathematik uns liefern kann[.] Es gibt zwei Grundformen von Begriffen, denen wir diese Leistung der Einheitsbildung zumuten könnend die psychologischen und die soziologischen Begriffe. Psychologie und Soziologie sind die »Mathematik« der Geschichtswissenschaft}^ L weil sie es ermöglichen, die unübersehbare Mannigfaltigkeit des histori­ schen] Wirkens auf seine einfachen Grund kr äft e zusammenzuzie­ hen Denn die Gesamtheit der menschlichen Handlungen wird nicht von “mechanischen” Kräften gesteuert, wie sie den Druck und Stoß von Körpern bestimmenA 1 »Gleichläufigkeiten« / Lamprecht^ A bestimmen] bestimmten B »Gleichläufigkeiten« / Lamprecht] m it Bleistift, also nachträglich geschrieben

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Geschichte

er beruht auf inneren Kräften, auf Kräften der Motivation[.] Hier handelt es sich um Triebe A und weiterhin um die »Vorstellungen«, die durch diese Triebe erregt werden und die sich zu bestimmten Vorstellungsmassen verdichten, die ständig auf unser Handeln einwirken und den Lauf dieses Handelns wesentlich lenkenx a gà o o ei x ovç â v d g œ jt o v ç o v xà jzgayjuaxa âXXà xà jzegl xœv Jtgaypiâx ov òóyjuaxa[.] 187 Darin unterscheidet sich das »Tun« des Menschen von dem Geschehen in der Natur und auch von dem anderer, unter ihm stehender biologischer Spezies[.] Die anorganische Natur wird durch »Kräfte« - wie die Schwerkraft, die Elektrizität, den Magnetismus - bestimmt[.] Beim Übergang zur organischen Natur müssen wir an Stelle dieser “Kräf­ te”, die blosse Umschreibungen für bestimmte mathematische Relationen sind, etwas anderesf,] ein System von Trieben setzenVon Trieben im allgemeinen: dem Nahrungstrieb, Fortpflanzungstrieb1 und von Eigentrieben, spezifischen Trieben, die je bestimmten G a tt u n ­ gen von Lebewesen eigentümlich sind (Instinkte)!.] Der Mensch aber wird weder ausschließlich durch physische Kräfte, noch durch organische Triebe (Instinkte) bewegt - L sein Wille steht unter der Herrschaft von Vorstellungen (