Modale Infinitive und dispositionelle Modalität im Deutschen 9783050062341, 9783050049090

Modale Infinitkonstruktionen vom Typ (i) Die Aufgaben sind zu lösen, (ii) einige zu lösende Aufgaben sowie (iii) Sie hat

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German Pages 202 [204] Year 2010

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Modale Infinitive und dispositionelle Modalität im Deutschen
 9783050062341, 9783050049090

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Daniel Holl Modale Infinitive und dispositionelle Modalität im Deutschen

studia grammatica Herausgegeben von Manfred Bierwisch unter Mitwirkung von Hubert Haider, Stuttgart Paul Kiparsky, Stanford Angelika Kratzer, Amherst Jürgen Kunze, Berlin David Pesetsky, Cambridge (Massachusetts) Dieter Wunderlich, Düsseldorf

studia grammatica 71

Modale Infinitive und dispositionelle Modalität im Deutschen

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004909-0 ISSN 0081-6469

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Dank 1 Einleitung 1.1 Gegenstand der Arbeit 1.2 Aufbau der Arbeit 2 Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Überblick 2.1 Eckdaten zur Syntax von Modalen Infinitkonstruktionen 2.2 Eckdaten zur Semantik von Modalen Infinitkonstruktionen 2.2.1 Zur Einordnung der Modalen Infinitkonstruktionen nach der Theorie von Kratzer (199la) 2.2.2 Die Modalen Infinitkonstruktionen und das System der deutschen Modalverben nach Bech (1951) 2.2.3 Weitere Charakteristika 3 Eine kompositioneile Analyse der Modalen Infinitkonstruktionen 3.1 Auxiliar- und Infinithypothese 3.1.1 Der idiosynkratische Anteil beider Hypothesen 3.1.2 Theoretische Implikationen der Hypothesen und die deskriptiven Verhältnisse 3.2 Die beteiligten kompositionellen Bestandteile 3.2.1 Das ZM-Infinitum der se/w-MIK 3.2.2 Das -¿-Affix in der 0 - M I K 3.2.3 Der kompositioneile Beitrag von sein 3.2.4 Der kompositionelle Beitrag von haben 3.3 Zusammenfassung

7 8 8 12 15 15 21 22 28 34 39 40 41 44 48 48 57 59 62 64

4 Die semantische Analyse passivischer Modaler Infinitkonstruktionen

66

4.1 Die Semantik von Modalen nach Kratzer (1991a) 4.2 Dispositionelles KÖNNEN 4.2.1 Fähigkeits-£öK«ew vs. Moglichkeits-tó'Hwen 4.2.2 Fähigkeit und Möglichkeit: Die Wahrheitsbedingungen 4.2.3 Knowing-that und Knowing-how 4.2.4 Epistemische und dispositionelle Modalität 4.2.5 Dispositionalität und inhärente Modalität 4.2.6 Der Dispositionstyp der -òar-Bildung

66 69 71 75 81 86 89 91

6

Inhaltsverzeichnis

4.3 4.4 4.5 4.6

4.2.7 Dispositionelles können und Belebtheit 94 4.2.8 Fähigkeits-können und dispositionelles müssen 95 4.2.9 Der Dispositionstyp passivischer MIK 99 Die logische Struktur von Dispositionen 103 Die Semantik dispositioneller Modalausdrücke 112 Passivische MIK - Von der Dispositionsstruktur zur MÜSSEN-Interpretation..l 17 Passivische MIK - Einzelphänomene und Analysen 123 4.6.1 Handlungsverben 123 4.6.2 Negation 129 4 . 6 . 3 EXPERIENCER-Wahrnehmungsverben

4.6.4 Evaluative Verben 4.7 Die epistemische Lücke bei Modalen Infinitkonstruktionen 4.8 Zusammenfassung 5 Die syntaktische Struktur passivischer Modaler Infinitkonstruktionen 5.1 Argumentblockierung 5.2 Das Passiv bei der passivischen MIK: eine lexikalische oder eine syntaktische Operation? 5.3 Die syntaktische Analyse der sez'w-MIK 5.4 Die syntaktische Analyse der 0 - M I K 5.5 Zusammenfassung 6 Passivische MIK in adjektivischer Umgebung 6.1 Der leicht-Ύγρ 6.1.1 Semantik 6.1.2 Syntax 6.2 Der unhandlich-Typ

133

137 140 144 146 146 149 157 168 172 174 175 175 179 185

7 Die syntaktische Struktur der haben-MIK

188

8 Schlussbemerkungen

192

Literatur

195

Dank

Die Erleichterung darüber, dass diese Arbeit schließlich zu einem Ende gekommen ist, verbindet sich mit einer großen Dankbarkeit für die Unterstützung, die ich in all den Jahren erfahren habe. Neben meiner Familie denke ich dabei vor allem an viele Freunde und Kollegen aus meiner Tübinger Zeit, aus München und aus Ljubljana. Diese Arbeit, die 2007 in einer früheren Fassung als Dissertation an der Universität Tübingen angenommen wurde, gäbe es nicht ohne manche Kollegen, die mich mit ihrem fachlichen Rat zum weiteren Nachdenken ermuntert, aber auch gelegentlich auf Irrtümer hingewiesen haben - ich hoffe, dass die verbleibenden Irrtümer in der Arbeit nicht zu schwerwiegend sind. Dabei gilt mein großer Dank zuerst meiner Betreuerin Marga Reis fur alles, was ich bei ihr gelernt habe, vor allem aber auch für das Vertrauen, das sie in mich und meine Arbeit gesetzt hat. Kaum genug zu danken ist Ingo Reich, der mir für die semantischen Fragen ein überaus wichtiger Gesprächspartner war. Für ihre Unterstützung danke ich auch meiner Zweitgutachterin Veronika Ehrich, die zusammen mit Marga Reis Leiterin des Projekts B3 „Modalverben und Modalität im Deutschen" im Sonderforschungsbereich 441 „Linguistische Datenstrukuren: Theoretische und empirische Grundlagen der Grammatikforschung" an der Universität Tübingen war. Von der angenehmen und fördernden Arbeitsatmosphäre im Projekt habe ich nicht nur in meiner Zeit als Mitarbeiter profitiert. An das gemeinsame Jahr in unserem Projektbüro mit Katrin Axel und Serge Doitchinov denke ich noch immer gerne zurück. Außerdem danke ich den weiteren beiden Gutachtern der Dissertation, Irene Rapp und Arnim von Stechow für ihre kritischen und wohlwollenden Anmerkungen. Sehr hilfreich waren auch die anregenden fachlichen Diskussionen mit Jürgen Pafel und Ulrike Demske in den Anfangen dieser Arbeit. Für einige sprachliche und formale Korrekturen bedanke ich mich bei Andrea Löffler, die freundlicherweise Teile des Textes noch einmal durchgesehen hat. Vergessen möchte ich in meiner Danksagung nicht das Land Baden-Württemberg, das mir mit einem großzügigen Stipendium die Arbeit an meiner Dissertation ermöglichte. Und schließlich danke ich sehr herzlich Herrn Professor Bierwisch für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe.

1 Einleitung

1.1 Gegenstand der Arbeit Diese Arbeit widmet sich einer Gruppe von Modalausdrücken im Deutschen, die teils aus einer Verbindung von zw-Infinitum und sein (la) oder haben (lb), teils nur aus einem zuInfinitum (lc) bestehen. Die Konstruktionen unter (la-b) sind seit Brinkmann (1962) auch als Modale Infinitive bekannt, 1 während der Typus in (lc) teils auch als zw-Partizip bezeichnet wird. (1)

a. Die Aufgaben sind zu lösen. b. Die Schüler haben die Aufgaben zu lösen, c. die zu lösenden Aufgaben

sein-MYK. haben-MIK 0-MIK

Zwar sichert der Terminus Modaler Infinitiv für die sein- und die Âaèew-Konstruktion die Identifizierbarkeit der beiden - wenigstens aus deskriptiver Sicht wohlbekannten - Konstruktionen, weshalb er auch im Titel dieser Arbeit verwendet wird, doch legt er zwei verbreitete Auffassungen nahe, die im Verlauf dieser Untersuchungen in Frage gestellt werden sollen. Die erste Irreführung besteht darin, dass durch diese Benennung die aktivische haben- und die passivische sez'n-Konstruktion als Modale Infinitive unter einen Begriff gebracht werden, während tatsächlich die sez'w-Konstruktion sowohl syntaktisch als auch semantisch dem ebenfalls passivischen zu-Partizip in (lc) wesentlich näher als der /?aèe«-Konstruktion steht. Damit verbunden ist die zweite häufig anzutreffende problematische Auffassung, wonach man es in (la) und (lb) strukturell mit (zw-)Infinitiven zu tun habe, wie sie auch aus anderen Konstruktionen mit Infinitivkomplementen bekannt seien. Auch hier wird sich erweisen, dass wenigstens das zw-Infinitum in der seinKonstruktion mehr mit dem zw-Partizip in (lc) gemeinsam hat als mit anderen zuInfinitiven in nicht-modalen Kontexten. Selbst für das Verständnis der habenKonstruktion wird sich zeigen, dass es hilfreich ist, dem Wesen des zugrunde liegenden Infinitums nachzugehen. Deshalb wird in diesem Buch von Modalen Infinitkonstruktionen (MIK) gesprochen, worunter alle drei der unter (1) genannten Konstruktionen fallen. Dabei werden die seinMIK, die haben-MIK und die 0 - M I K unterschieden, vgl. (1). Die Bezeichnung für den in (lc) dargestellten Konstruktionstyp leitet sich daraus ab, dass er sich lediglich durch die Eigenart des zw-Infinitums bestimmt, während in (la) und (lb) das Auftreten des zu1

Je nach Theorie werden die entsprechenden Konstruktionen auch unter der Bezeichnung „modales sein/haben" bzw.,¿ein/haben + Infinitiv mit zu" oder ähnlichem abgehandelt.

Kapitel 1

9

Infinitums von einem Auxiliar, dessen Einfluss auf die konstruktionsspezifischen Eigenheiten erst noch zu klären ist, begleitet wird. Grundlegende These dieser Untersuchung ist, dass gerade für die passivischen MIK, d.h. für die sein- und die 0-MIK, das ¿«-Infinitum eine zentrale Rolle spielt. Dabei ist es das modalpassivische Affix zu, worauf die Besonderheiten der Konstruktionen zurückzufuhren sind, die uns im Folgenden beschäftigen werden: die Argumentblockierung, die sich im passivischen Charakter der sein- und 0-MIK äußert, und die modale Bedeutung, die in ihrer charakteristischen und zugleich bemerkenswerten Art von Polysemie beide Konstruktionen auszeichnet. Bemerkenswert sind diese Modalkonstruktionen deshalb, weil sie strukturell offen für Deutungen sind, die einmal einer Paraphrase mit dem Möglichkeitsmodal können und einmal der mit dem Notwendigkeitsmodal müssen entsprechen, vgl. (2). (2)

a. Die Aufgaben sind zu lösen. Lesart 1 : Die Aufgaben können gelöst werden. Lesart 2: Die Aufgaben müssen gelöst werden, b. zu lösende Aufgaben Lesart 1: Aufgaben, die gelöst werden können Lesart 2\ Aufgaben, die gelöst werden müssen

Mehrdeutigkeit ist zwar ein notorisches Merkmal von Modalausdrücken, doch betrifft dies üblicherweise unterschiedliche kontextuelle Bedeutungsvarianten eines Modalausdrucks, dessen invarianten Kern gerade die Festlegung auf die Möglichkeits- oder die Notwendigkeitsbedeutung darstellt.2 Da modalpassivische Infinitkonstruktionen dem ersten Eindruck nach nicht in dieser Weise festgelegt sind, stellen sie aus semantischer Sicht im Feld deutscher Modalausdrücke einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand dar, der in der neueren Forschung aber kaum Beachtung findet. Allerdings wird im Verlauf dieser Arbeit dafür argumentiert, dass sich beide Lesarten aus einer einheitlichen zugrunde liegenden Struktur ergeben, die für dispositionelle Modale typisch ist. Ausschlaggebend für die Mehrdeutigkeit ist dabei der Einfluss verschiedener zulässiger Redehintergründe, die wie auch bei anderen Modalen als kontextuelle Faktoren die jeweilige Interpretation bestimmen. In syntaktischer Hinsicht wird sich zeigen, dass das modalpassivische zw-Infinitum eher als Partizip denn als Infinitiv anzusprechen ist, und das nicht nur in der 0-MIK, sondern auch in der sez'w-MIK - trotz seiner morphologischen Erscheinungsform. Obwohl die se/w-MIK auf den ersten Blick in verschiedener Hinsicht sowohl Modalverbkonstruktionen als auch Konstruktionen mit zw-Infinitiv-Komplementen gleicht, offenbart sie also auf den zweiten Blick eine ganz eigene Struktur, die sie scharf von prima facie ähnlichen Konstruktionen abgrenzt.

2

Als prominenteste Referenz sei dabei auf die Arbeiten von Kratzer (1976, 1978, 1981, 1991a) verwiesen, die auch den theoretischen Rahmen für die vorliegende Arbeit vorgeben. Dabei wird der invariante Bedeutungsanteil des Modais auf seine modale Kraft (modal forcé) reduziert, dem eine universelle bzw. existentielle Quantifikation über zugängliche Welten entspricht.

10

Einleitung

Nicht ganz so scharf ist die Abgrenzung im Falle der haben-MIK. Weder liegt hier Argumentblockierung vor, noch ist die Konstruktion in ähnlicher Weise polysem, 3 und auch sonst scheint sich das dabei involvierte zw-Infinitum weniger von anderen zuInfinitiv-Komplementen abzugrenzen. Dennoch kann man auch hier in der Analyse Eigenschaften entdecken, die wenigstens auf eine größere Nähe von haben-MIK und passivischen MIK in der Vergangenheit schließen lassen. Neben den Konstruktionen unter (1) gibt es andere modale Kontexte, in denen zuInfinita auftreten, vgl. (3)-(4). (3)

a. b. c. d.

Es bleibt abzuwarten, ob Paul wirklich kommt. Es steht zu hoffen, dass sich die Lage bald verbessert. Das gibt zu denken. Zu Hause bekam er einiges zu hören.

(4)

a. b. c. d.

Du brauchst nicht zu helfen. Anna scheint zu schlafen. Anna weiß zu überzeugen. Diese Datei geht nicht zu löschen.

In einem wesentlichen Punkt gleichen allerdings nur die Konstruktionen unter (3) den Modalen Infinitkonstruktionen unter (1). Denn bei den Modalkonstruktionen in (4) ist die modale Semantik zweifelsfrei der lexikalischen Bedeutung des Matrixverbs zuzurechnen, was sich daran sehen lässt, dass die Verben auch in Konstruktionen ohne Infinitivkomplement eine der Modalkonstruktion ähnliche Bedeutung denotieren, vgl. (5). (5)

a. Wir brauchen deine Hilfe nicht. = Es ist nicht notwendig, dass du hilfst. b. Es scheint, als ob Anna schliefe. c. Anna weiß, wie man überzeugt. d. Eine solche Übersetzung geht in zwanzig Minuten, d'. [A. Kannst du mir bitte eben mal helfen?] B. Das geht gerade nicht.

Für die Verben bleiben, stehen, geben und bekommen aus den Sätzen in (3) gilt dies nicht, vielmehr tragen sie in anderen strukturellen Kontexten definitiv keine modale Bedeutung. In diesem Sinne gleichen die Konstruktionen unter (3) sem-MIK und habenMIK, denn auch sein und haben besitzen in anderen als den MIK-Kontexten keine modale Bedeutung. Im Unterschied zu den zentralen MIK-Typen weisen die Konstruktionstypen unter (3) wesentlich stärkere Selektionsrestriktionen und in allen Fällen eine zumindest stark eingeschränkte Produktivität auf.4 Grundsätzlich liegen jedoch auch dort Modale Infinitkonstruktionen im oben genannten Sinne vor, an denen sich die für MIK

3

Allerdings findet sich eine verwandte Âaôen-Konstruktion, die die für modalpassivische MIK typische Mehrdeutigkeit aufweist. So lässt sich etwa bleiben nach Höhle (1978:48ff.) nur mit abstrakten Subjekten konstruieren und stehen ist nur mit einer Reihe von epistemischen Verben kombinierbar.

Kapitel 1

11

wesentlichen Eigenschaften nachweisen lassen. Im Verlauf der Arbeit werden diese Konstruktionen allerdings eine untergeordnete Rolle spielen. Üblicherweise wird die Möglichkeit einer Modalverb-Paraphrase als heuristisches Kriterium für die modale Bedeutung von MIK verwendet. Bei manchen Konstruktionen mit sein und zw-Infinitum wie etwa dem in (6) dargestellten Fall fuhrt der ParaphrasenTest aber zu zweifelhaften Ergebnissen: (6)

(6')

Wenn die „Schallmauer" jetzt unbedenklich auch von Passagierflugzeugen durchbrochen wird - so ist das nicht zuletzt der folgerichtigen Anwendung des treibenden Gasstrahls zu danken, (nach Gelhaus 1977:100) so muss/kann das nicht zuletzt der folgerichtigen Anwendung... gedankt werden.

Dennoch wird sich nach einer näheren semantischen Analyse der MIK zeigen, dass hier durchaus eine modale Bedeutung vorliegt, während etwa die idiomatische Konstruktion in (7) keine vergleichbare modale Bedeutung aufweist. (7)

Mir ist es nicht darum zu tun, Putzfrauen wegen unangemeldeter Arbeit zu kriminalisieren.

Der Befund, dass sich eine Konstruktion mit sein und zw-Infinitum einer Paraphrasierung mit Modalverb entzieht, schließt demnach nicht aus, dass es sich um eine se/'w-MIK handelt. Im Zweifelsfall bedarf es einer genaueren Analyse, ob trotzdem ein modalpassivisches zw-Infinitum involviert ist, oder ob eine idiomatische Konstruktion wie in (7) vorliegt, die kein modales Passiv darstellt. In wesentlich stärkerem Maße treten aber in der Verbindung haben + zw-Infinitum Konstruktionen auf, die idiomatisiert sind und keine modale Bedeutung denotieren, wie etwa in (8): (8)

a. Wodka hat hier nichts zu suchen. b. Das hat nichts zu bedeuten. c. Meine ablehnende Haltung hat nichts mit meiner Meinung über Paul zu tun.

Diese Konstruktionen sind ähnlich wie die Beispiele unter (7) als sprachhistorische Residuen zu erklären, weshalb sie in dieser Arbeit, die sich der Beschreibung und Erklärung der Konstruktionstypen, die im Gegenwartsdeutschen regelmäßig gebildet werden, keine weitere Berücksichtigung finden. Von den Beispielen unter (8) sind allerdings die Âaôen-Konstruktionen in (9) klar zu trennen, die sich zwar auch von der haben-MIK in (lb) unterscheiden, aber trotzdem eine modale Bedeutung aufweisen. Als wichtigstes Merkmal ist hier hervorzuheben, dass die Sätze in (9) - anders als die haben-MIK in (lb) - eine Möglichkeitsinterpretation invol-

5

7

Im Verlauf der Arbeit wird deutlich werden, dass Modalverbparaphrasen nicht allein als heuristisches Kriterium im genannten Sinne herangezogen werden sollten. Für die exakte semantische Analyse der modalen Bedeutung von MIK birgt die starke Anlehnung an die MV-Paraphrase nämlich Probleme, wie sich zeigen wird. Meist erlaubt allerdings bereits das intuitive Verständnis die einschlägige Einordnung. vgl. Gelhaus (1977)

12

Einleitung

vieren können, wie (9a') bzw. (9b') demonstrieren. Insbesondere der Konstruktionstyp in (9b), der als Verbindung aus Possessivkonstruktion und 0-MIK eine wichtige Brücke zwischen modalpassivischen MIK und der haben-MIK schlägt, wird zur näheren Deutung der haben-MIK noch häufiger herangezogen werden. (9)

a. Mit ihr hat man viel zu lachen, a'. Mit ihr kann man viel lachen. b. Wir hatten gerade mal drei Tafeln Schokolade zu essen. b'. Wir hatten gerade mal drei Tafeln Schokolade, die man essen konnte.

Zuletzt sind aufgrund ihrer Häufigkeit und ihrer Bedeutung in der Forschung die seinKonstruktionen in (10) zu nennen. Für die se/'w-MIK (wie auch für die 0-MIK) ist nämlich eine Modifizierung durch Adverbien wie kaum, leicht oder schwer typisch, vgl. (lOa-b). Aufgrund der Ähnlichkeit mit so genannten tough moveme«/-Konstruktionen im Englischen wie in (11), in denen das Adjektiv in prädikativer Funktion auftritt, mag es auf den ersten Blick naheliegen, auch für die Konstruktionen in (10b) eine Analyse mit adjektivischem Prädikativum anzunehmen. (10) a. Paul ist kaum zu überzeugen. b. Paul ist leicht/schwer zu überzeugen. c. Die Tuba ist unhandlich zu tragen. (11)

Paul is easy/tough to convince.

Es wird allerdings gezeigt werden, dass für das Deutsche eine entsprechende Analyse abgelehnt werden muss und wie in (10a) auch ein Adverb vorliegt. Bei der Konstruktion in (10c) verhält es sich allerdings ein wenig anders. Zum einen entzieht sie sich einer Modalverbparaphrase und zum anderen lässt das Adjektiv nur eine Prädikation über NPs zu, so dass hier vieles für eine andere Analyse als in (lOa-b) spricht. Dabei wird sich herausstellen, dass eine Prädikationsstruktur mit einem komplexen Dispositionsausdruck vorliegt, wobei trotz der strukturellen Besonderheiten modale Bestandteile zu identifizieren sind. Allerdings entziehen sich diese aus noch zu erörternden Gründen einer Modalverbparaphrase.

1.2 Aufbau der Arbeit Im Folgenden wird zunächst ein erster Überblick über die syntaktischen (2.1.) und die semantischen (2.2.) Eigenschaften der Modalen Infinitkonstruktionen und die sich dabei ergebenden theoretischen Fragen gegeben. Dieses Kapitel hat demnach das Ziel, die empirischen Gegebenheiten unter einem ersten analytischen Blick darzustellen, so dass sich der Leser einen schnellen Überblick über den Gegenstand verschaffen kann. Daraus folgt, dass gewisse Schlüsselargumente für die Analyse bereits in Kapitel 2 auftreten und in den weiteren Kapiteln unter den dort betrachteten theoretischen Fragestellungen wieder aufgenommen und genauer diskutiert werden. Gewisse daraus resultierende Redundanzen sind dabei dem Versuch geschuldet, dem Leser den Nachvollzug der Argumentation zu erleichtern. Damit die Kernideen dieser Arbeit auch für Leser ver-

Kapitel 1

13

ständlich werden, die mit formaleren Darstellungsweisen weniger vertraut sind, wurden außerdem den notwendigen formalen Abschnitten längere hinführende, weniger formale Teile vorangestellt. Nach dem überblicksartigen Kapitel 2 folgen in Kapitel 3 Überlegungen zu einer kompositionellen Analyse aller drei Modalen Infinitkonstruktionen. Dabei wird dafür argumentiert, dass eine Analyse, wonach für die sein- und die 0 - M I K ein modalpassivisches zw-Infinitum sowie fur die haben-MIK ein modales Auxiliar angenommen wird, die Verhältnisse am ökonomischsten und auch am ehesten in explanativ adäquater Weise erklärt. Kapitel 4 widmet sich der Semantik passivischer MIK. Da hier die dispositionelle Lesart der MIK eine zentrale Rolle spielt, wird - nach einer kurzen Einfuhrung in Kratzers semantische Theorie für Modale in 4.1 - zunächst dem Wesen von dispositionellem KÖNNEN in Abgrenzung zum Möglichkeits-^önwe« auf den Grund gegangen (4.2). Diese Studie ist schließlich Ausgangspunkt für eine modallogische Analyse von Dispositionen in 4.3, die in Abschnitt 4.4 in einen Vorschlag für die semantische Unterscheidung unterschiedlicher Dispositionsausdrücke im Deutschen mündet. Während bis hierhin die passivischen MIK als ein Dispositionstyp mit spezifischer Ausprägung neben anderen Dispositionalen wie dem Fähigkeits-fcön/ien oder der -ftar-Bildung dargestellt werden, widmen sich die folgenden Abschnitte in Kapitel 4 ausnahmslos den Modalen Infinitkonstruktionen. Dabei bildet Abschnitt 4.5 gewissermaßen das Kernstück der semantischen Analyse, da hier gezeigt wird, wie die dispositionelle KÖNNEN- und die deontisch/teleologische MÜSSEN-Interpretation auf eine gemeinsame semantische Grundbedeutung zurückgeführt werden können. Darauf folgen in 4.6 Einzeldarstellungen, in denen exemplarisch gezeigt wird, wie mit der vorgeschlagenen Analyse auch verschiedene empirische Beobachtungen zu erklären sind. Hier ist vor allem der Einfluss unterschiedlicher Verbklassen wie Handlungsverben, EXPERIENCER-Wahrnehmungsverben und evaluative Verben zu nennen, aber auch die spezifischen Restriktionen im Negationsverhalten können im Rahmen der Gesamtanalyse motiviert werden. Der abschließende Abschnitt 4.7 widmet sich der Frage, ob es strukturelle Ursachen für die Beschränkung der Modalen Infinitkonstruktionen auf zirkumstantielle Lesarten gibt. Kapitel 5 behandelt die syntaktische Struktur der passivischen MIK. Dabei ist vor allem die Frage zu klären, wie es in beiden Konstruktionen zum Passiv-Effekt kommt. Den Ergebnissen aus Kapitel 3 folgend wird dabei eine Analyse vorgestellt, die in der sein- wie auch in der 0 - M I K ein modalpassivisches zw-Infinitum mit Partizipcharakter ausmacht, das die Argumentblockierung induziert. Dieses modalpassivische zw-Infinitum wird auch als grundlegend für die Konstruktionstypen in adjektivischer Umgebung angenommen, die in Kapitel 6 vorgestellt werden. Wenngleich dieses Kapitel eher syntaktisch ausgerichtet ist, wird im Abschnitt zum leicht-Ίγρ, mit dem sich Fälle gradierter Modali-

§

In KAPITÄLCHEN werden die Begriffe KÖNNEN und MÜSSEN in dieser Arbeit verwendet, wenn auf modale Ausdruckstypen referiert wird, die sich (prinzipiell) entweder durch können oder durch müssen paraphrasieren lassen. Dispositionelles KÖNNEN wird somit durch können, aber auch durch Medialkonstruktionen, das /aisew-Passiv, die -èar-Bildung, passivische MIK und andere Ausdruckstypen realisiert.

14

Einleitung

tät ausdrücken lassen, auch auf wichtige Fragen der Semantik dispositioneller Modale die eine hohe Affinität zu dieser Art von Modifikation aufweisen - eingegangen. Das kurze Kapitel 7 widmet sich der syntaktischen Struktur der haben-MIK, die als Reanalyse der Struktur mit modalpassivischem zw-Infinitum gedeutet werden kann. Dieses Kapitel bildet jedoch nur eine Skizze, wie das Verhältnis zwischen den passivischen MIK und der haben-MIK auch theoretisch dargestellt werden kann. Für diesen Zusammenhang wird im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Orten argumentiert, so dass der an der haben-MIK interessierte Leser auch auf die MIK-übergreifenden Kapitel 2 und 3 sowie auf den Abschnitt 4.7 über die epistemische Lücke bei MIK verwiesen sei. Der vorliegenden Arbeit, das sei noch einmal betont, liegen folgende drei Leitfragen zugrunde: (i)

Wie kann man die offensichtlich bestehenden Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Modalen Infinitkonstruktion theoretisch adäquat erfassen? (ii) Woraus lässt sich der passivische Charakter der passivischen MIK strukturell ableiten? (iii) Wie kommt es bei passivischen MIK zur grundsätzlichen Möglichkeit der KÖNNEN-/MÜSSEN-Polysemie?

Gerade die dritte Frage verweist aber auf den theoretisch-explanativen Charakter der Arbeit, insofern als eine Aufklärung über die Bedingungen der Möglichkeit dieser Polysemie angestrebt wird, anstatt zu fragen, durch welche Faktoren im Einzelnen die jeweilige kontextuelle Festlegung der Lesart bedingt sein kann. Für diese Fragen sei der Leser vor allem auf die Arbeit von Thim-Mabrey (1986) sowie auf Schwalm (1986) verwiesen. Das folgende einfuhrende Kapitel über Syntax und Semantik Modaler Infinitkonstruktionen soll jedoch zunächst einmal einen fundierteren Überblick über die vorzufindenden Verhältnisse und Zusammenhänge geben.

9

In zweiter Linie lassen sich dazu auch Antworten in Gelhaus (1977) sowie - mit Abstrichen - in den Darstellungen von Zorn (1970) und Matzke (1977) finden.

2 Modale Infinitkonstruktionen ein erster Steckbrief

2.1 Eckdaten zur Syntax von Modalen Infinitkonstruktionen Aus syntaktischer Sicht haben die Modalen Infinitkonstruktionen mit sein und haben zwei Gemeinsamkeiten: Erstens wird das zw-Infinitum jeweils von einem Auxiliar regiert, das auch mit anderen Infinita auftritt, und zweitens stellen beide MIK offenbar kohärente Konstruktionen dar, was bedeutet, dass das Infinitkomplement nicht satzwertig ist. Dem steht jedoch ein wichtiger Unterschied gegenüber: Bei der sew-MIK liegt ein modales Passiv vor (la), während die haben-MIK eine Aktivkonstruktion darstellt (lb). Auf den ersten Blick scheint dabei eine Parallele zu Konstruktionen mit dem Partizip II (vgl. (2)) zu bestehen. Dort gibt es mit dem Zustandspassiv ebenfalls eine Konstruktion mit sein (2a), in welcher die passivtypischen Argumentverhältnisse vorliegen, und eine Aktivkonstruktion mit haben (2b). (1)

a. Die Aufgaben sind zu lösen. b. Die Schüler haben die Aufgaben zu lösen.

(2)

a. Die Aufgaben sind gelöst. b. Die Schüler haben die Aufgaben gelöst.

Der strukturelle se/w-/fo¡róe«-Parallelismus weicht allerdings einer entscheidenden Differenz, sobald man in diesem Zusammenhang das Verhalten unakkusativischer Verben betrachtet. Unakkusativische Verben spielen für die Theorie der Passivierung eine wichtige Rolle, weil bei ihnen eine ähnliche Form von syntaktischer Bewegung angenommen wird wie etwa beim werden-Passiv. In beiden Fällen wird das interne Argument, das im Sinne von Dowty (1991) tendenziell Protopatiens-Eigenschafiten aufweist und somit in gewisser Weise ein zugrunde liegendes Objekt darstellt, in die Subjektposition bewegt, wo es Nominativkasus prüft. Grund fur die Bewegung ist, dass es in Konstruktionen mit unakkusativischen Verben und in Passivkonstruktionen wie dem werden-Passiv keine Position gibt, in der struktureller Akkusativ lizenziert wird, wie dies bei transitiven Verben im Aktiv geschieht. Die Bewegung an die Subjektposition ist möglich, weil es entweder - im Fall der unakkusativischen Verben - kein externes Argument gibt, das sonst nach den üblichen Prinzipien des Argument-Linkings diese Position besetzt, oder weil -

Im Falle von sein könnte man auch an ein Vorkommen als Kopula denken. Es wird sich aber zeigen, dass wir es hier mit keiner Prädikativkonstruktion zu tun haben.

16

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief 2

im Passiv-Fall - das externe Argument blockiert wird. Während im Fall der unakkusativischen Verben die Bewegung aus den lexikalischen Eigenschaften des Verbs resultiert, ist sie beim Passiv Ergebnis einer lexikalischen oder syntaktischen Operation, die die Eigenschaften des zugrunde liegenden Verbs bzw. seiner Projektionen verändert. Als Folge gleichen sich beide Fälle aber darin, dass kein externes Argument c-selegiert wird. Zur Bestimmung von unakkusativischen Verben gibt es im Deutschen zwei Hauptkriterien, die beide dessen Partizip-II-Formen betreffen. Unterscheidet man beim Partizip II funktional zwischen Perfekt- und Passivpartizip, lässt sich folgendes konstatieren: Das Perfektpartizip unakkusativischer Verben selegiert sein und kann in attributiver Funktion auftreten, vgl. (3a-b). Damit verhält es sich wie das Passivpartizip transitiver Verben, das ebenfalls in Verbindung mit sein sowie in attributiver Funktion erscheinen kann (3c-d). Anders ist es aber mit dem Perfektpartizip transitiver Verben. Dieses verbindet sich im Gegensatz zu unakkusativischen Verben mit haben und ist in attributiver Funktion nicht zulässig, vgl. (4). (3)

a. b. c. d.

Die Schüler sind pünktlich gekommen. die pünktlich gekommenen Schüler Die Aufgaben sind gelöst. die gelösten Aufgaben

[unakk./Perfektpart./supin] [unakk./Perfektpart./part] [transitiv/Passivpart./supin] [transitiv/Passivpart./part]

(4)

a. Die Schüler haben die Aufgaben gelöst. b. *Die Schüler haben pünktlich gekommen. c. * die (die Aufgaben) gelösten Schüler

[transitiv/Perfektpart./supin] * [unakk./Perfektpart./supin] *[transitiv/Perfektpart./part]

Die Verteilung von sein und haben folgt beim Partizip II, das seit Bech (1983 [1955/57]) auch als 3. Status bekannt ist, also der Regel: Bei unakkusativischen und passivierten Verben tritt sein auf, bei transitiven Verben wie lösen im Aktiv ist haben einschlägig.5 Die Modalen Infinitkonstruktionen mit ihrem zw-Infinitum, das man wie den nichtmodalen, nicht-passivischen zw-Infinitiv nach Bech auch als 2. Status bezeichnen kann, zeigen nun, dass die Regel so nicht für den 2. Status übernommen werden kann. Verhalten sich die transitiven Verben syntaktisch offenbar ähnlich wie im 3. Status, gilt dies nicht für unakkusativische Verben, so dass wir hier keinen Parallelismus mehr von passivierten und unakkusativischen Verben haben, man vergleiche die Sätze unter (5) mit denen unter (3), sowie (6) mit (4). (5)

2

3

a. *Die Schüler sind pünktlich zu kommen.

*[unakk/supin]

Der Zusammenhang von strukturellem Akkusativkasus und externem Argument ist in der Generativen Literatur auch als Burzios Generalisierung bekannt. Vgl. etwa Grewendorf (1989). Die Bezeichnungen supin vs. part beziehen sich auf die in Bech (1983 [1955/57]) eingeführte Unterscheidung zwischen Infinita, die (z.B. von einem Auxiliar) regiert werden und dort als Supina bezeichnet werden - und unregierten Infinita, die bei Bech Participia heißen. Letztere sind etwa adnominale Partizipien. Ebenso wie transitive Verben verhalten sich in diesem Zusammenhang auch unergative Verben wie lachen, auf die zum Zwecke der größeren Übersichtlichkeit in der Aufstellung verzichtet wurde.

Kapitel 2

(6)

17

b. *die pünktlich zu kommenden Schüler c. Die Aufgaben sind zu lösen. d. die zu lösenden Aufgaben

*[unakk/part] [transitiv/passivisch/supin] [transitiv/passivisch/part]

a. Die Schüler haben die Aufgaben zu lösen, b. Die Schüler haben pünktlich zu kommen. c. *die zu lösenden Schüler

[transitiv/aktiv/supin] [unakkusativisch/supin] * [transitiv/passivisch/part]

Wie der Blick auf die Beispiele lehrt, haben wir im 2. Status eher einen Parallelismus von unakkusativischen Verben und transitiven Verben im Aktiv, was das begleitende Auxiliar angeht. Außerdem gleichen sich beide Verbklassen in der Unzulässigkeit adnominaler Infinita, der Bech'sehen Participia. Die Präsenz von sein und haben in Verbindung mit dem Partizip II und dem zuInfinitum kann demnach nicht als Indiz fur parallele syntaktische Strukturen gedeutet werden. Anders als in der Fügung sein + Partizip II geht in der sew-MIK die syntaktische Bewegung stets mit der Blockierung eines Arguments einher, mit anderen Worten: Die Verbindung sein + zw-Infinitum ist immer passivisch. Dennoch sind unakkusativische Verben in der se/w-MIK offenbar nicht ganz ausgeschlossen, wie die Sätze unter (7) nahe legen. Allerdings hat man es dort auch mit passivierten Verben zu tun, blockiert wird jeweils das einzige Argument, so dass es zu einem unpersönlichen Passiv kommt. 6 Zumindest Sätze wie (7a-c) sind häufig anzutreffen, (7d-f) sind wenigstens für die allermeisten Sprecher besser als etwa (5a), wenn sie auch eher am Rande der Grammatikalität stehen. (7)

a. Es ist davon auszugehen, dass sich die Konjunktur abschwächt. b. Auf diesen Punkt ist noch einzugehen. c. Von diesem Zeug ist nur schwer loszukommen. d. ?? Zumindest heute ist mal pünktlich zu kommen. e. ??Ins Haus ist erst dann zu gehen, wenn ich pfeife. f. ?? Nun ist aber wirklich einzuschlafen.

Syntaktisch gleicht die se/'«-MIK in dieser Hinsicht damit weniger Konstruktionen mit sein + Partizip II als dem werden-Passiv. Zwar lassen sich die unter (7) genannten Verben nicht alle mit gleich gutem Resultat in einer wercfen-Passiv-Konstruktion verwenden, doch gibt es auch beim wm/ew-Passiv eine Reihe von offenbar passivierten Unakkusativa. Allerdings gilt auch hier, dass in jedem Fall das sonst selegierte Argument blockiert ist, wie (8a) vs. (8b) zeigt.

6

Vgl. Abschnitt 5.2 zur Frage, ob es sich in den Sätzen unter (7) tatsächlich um unakkusativische Verben handelt. So ist beispielsweise (i) ungrammatisch: (i) *Von diesem Zeug wurde nicht losgekommen. Rapp (1997:153) weist daraufhin, dass sich bei den Passivkonstruktionen „unakkusativischer" Verben Interpretationen einstellen, wonach „das bei der Passivierung blockierte Argument entweder pluralisch ist oder aber [...] ein repetitiver Vorgang stattfindet." Davon zu unterscheiden sind inhärent modale Fälle wie (i): (i) Jetzt wird aber aufgestanden.

18

Modale Infinitkonstruktionen

(8)

- ein erster Steckbrief

a. *Die Gladiatoren wurden in der Arena oft gestorben. b. Gestorben wurde in römischen Arenen seltener, als man bisher angenommen hatte. c. Nach der Vorlesung wurde ins benachbarte Uni-Café gegangen. d. Im Winter wird im Allgemeinen später aufgestanden als im Sommer. e. In seinen Vorlesungen wird reihenweise eingeschlafen. [Rapp 1997:152; Bsp. (3c)]

Doch neben diesen Gemeinsamkeiten im Randbereich der Grammatikalität gibt es andere wichtige Parallelen. Wie beim werden-Passiv auch, ist bei der sezw-MIK. ein unpersönliches Passiv möglich, welches entsteht, wenn ein intransitives Verb passiviert wird und infolge der Argumentblockierung des einzigen Arguments kein Subjekt zur Verfugung steht. Dies betrifft (neben den bereits genannten Fällen passivierter unakkusativischer Verben) die Passivierung von Verben, die gar keine Objekte selegieren oder aber keine direkten, sondern nur Dativ-, Genitiv- oder Präpositionalobjekte, vgl. (9)-(10). (9)

a. b. c. d.

(10) a. b. c. d.

Ab 22 Uhr wird geschlafen. Ihm wurde geholfen. Am 13. August wurde der Maueropfer gedacht. Auf Ernst wurde wie immer lange gewartet. Ab 22 Uhr ist zu schlafen. Ihm war zu helfen. Am 13. August war der Maueropfer zu gedenken. Auf Ernst war wie immer lange zu warten.

Außerdem lässt sich in der sew-MIK (und in der 0-MIK) wie beim Vorgangspassiv das blockierte logische Argument mit einer vow-Phrase realisieren (lla-b), allerdings kann beim Modalen Passiv - anders als beim Vorgangspassiv - statt einer von- auch eine fürPhrase auftreten. Die Option der für-Phrase besteht jedoch nur, wenn der Konstruktion eine KÖNNEN-Interpretation zu Grunde liegt (11c). (11) a. Die Aufgaben werden von allen gelöst. b. Die Aufgaben sind von allen zu lösen. c. Die Aufgaben sind für alle (leicht) zu lösen. Beides, unpersönliches Passiv und vow-Phrase, haben beim Zustandspassiv mit sein nur einen marginalen Status. Auch wenn es Belege, wie in (12) dafür gibt, die sich als Zustandspassiv und nicht als elliptische Form des Vorgangspassivs im Perfekt deuten lassen, bleibt es dabei, dass diese Phänomene beim Zustandspassiv stärker markiert sind als beim Vorgangs- und Modalen Passiv. (12)

Die Lampe ist von einem starken Haken gehalten. [Bsp. aus Höhle (1978:43)]

Dies muss freilich nicht heißen, dass beim werden-Passiv und beim modalen Passiv der MIK das logische Subjekt besonders häufig ausgedrückt würde. Für das werden-Passiv

9

Dazu auch Rapp (1996; 1997:164ff.).

Kapitel 2

19

finden sich Werte von 10%,10 im Korpus von Gelhaus (1977) zur modalpassivischen MIK finden sich unter 698 Belegen nur zwei mit entsprechender Präpositionalphrase, im Korpus von Brinker (1969) mit immerhin 400 Belegen findet sich kein einziger einschlägiger Fall. Dies ist aber weniger mit starken Restriktionen im Bereich der Grammatik zu erklären, als vielmehr damit, dass die Möglichkeit, das logische Subjekt auszublenden, gerade den funktionalen Gewinn von Passivkonstruktionen ausmacht. Das gilt ebenso und im Besonderen für das Modale Passiv. Ein Unterschied zwischen Vorgangs- und Modalem Passiv zeigt sich hinsichtlich der Passivierbarkeit mancher Verben. Bei einer Reihe von transitiven Verben wie etwa bekommen, erhalten, erfahren ist ein werden-?assi\ nicht zulässig, vgl. (13). Bei den modalpassivischen MIK gibt es dagegen keine entsprechenden Lücken, wie die Beispiele in (14) zeigen. (13) a. *Die Bücher werden am Schalter im Lesesaal bekommen. b. *Das Geld wurde gestern erhalten. c. *Wie gestern erfahren wurde, ist das Haus bereits verkauft. (14) a. Die Bücher sind am Schalter im Lesesaal zu bekommen. b. Das Geld war gestern zu erhalten. c. Wie gestern zu erfahren war, ist das Haus bereits verkauft. Die Möglichkeit eines Modalen Passivs bei solchen - nach dem Maßstab des Vorgangspassiv - „unpassivierbaren" Verben hat teils dazu gefuhrt, der sew-MIK den Status als Passivkonstruktion abzusprechen (vgl. Rosengren 1993:285; Brinker 1969:28). Dies setzt freilich voraus, dass man die Kategorie Passiv in starker Abhängigkeit vom werdenPassiv und nicht über die Argumentverhältnisse der Diathese definiert.11 Allerdings gibt es für die modalpassivischen Konstruktionen semantische Restriktionen, deren wichtigste darin besteht, dass Verben ohne intentionsbegabtes logisches Subjekt ausgeschlossen sind, vgl. (15). Diese in Höhle (1978:52) erstmals formulierte Restriktion für die seiw-MIK wird in der semantischen Analyse noch eine wichtige Rolle spielen. (15) a. *Dieser Kanal ist von/für eine(r) starken Quelle ohne weiteres zu speisen, b. Dieser Kanal kann von einer starken Quelle ohne weiteres gespeist werden. Eine andere Restriktion betrifft Reflexivkonstruktionen, wobei sich in dieser Hinsicht die sez'w-MIK nicht sehr vom Vorgangspassiv abgrenzt. Sowohl bei inhärent reflexiven (16) als auch bei partimreflexiven Verben (17) ist das Modale Passiv nur marginal zulässig. Dies gilt wenigstens für die Fälle, in denen das Reflexivpronomen Akkusativkasus besitzt. (16) a. ?Bei solchen Geschäftspartnern ist sich besser vorzusehen. 10

Vgl. Duden (2005:554), wonach das Vorgangspassiv „überwiegend (zu ca. 90%)" ohne Agensangabe vorkomme. Ein anderer Auschlussgrund findet sich in der IdS-Grammatik (1997:1792), wo nur von Passiv gesprochen wird, wo ein Partizip II als Träger der Konverse fungiert. Die IdS-Grammatik (1997:1278) spricht von Verben mit personalem Subjekt.

20

Modale Infinitkonstruktionen

- ein erster Steckbrief

b. *Es ist sich durchaus zu wundern, dass Paul nicht kommt. (17) a. Vor einem Vorstellungsgespräch ist sich zu rasieren, b. *In diesem Spiegel ist sich zu sehen. Inwiefern auch die jeweilige modale Interpretation auf die graduellen Bewertungsunterschiede Einfluss hat, wird noch zu erörtern sein. Geht das Reflexivpronomen wie in (18) mit Dativkasus einher, ist die Reflexivierung allerdings zulässig.13 (18)

Vom Kuchen ist sich erst zu nehmen, wenn alle am Tisch sitzen.

Die sem-MIK weist aber nicht nur Parallelen zum werden-Passiv, sondern auch zu anderen modalpassivischen Konstruktionen auf, die in (19) genannt sind. Dazu gehören die Medialkonstruktion (19a), das /os'.se«-Passiv (19b), die -ftar-Derivation (19c) und das geÄörew-Passiv (19d). (19) a. b. c. d.

Die Die Die Die

Aufgaben Aufgaben Aufgaben Aufgaben

lösen sich leicht. lassen sich leicht lösen. sind leicht lösbar. gehören gelöst.

Wie die übergreifende Benennung bereits zeigt, liegt die Hauptgemeinsamkeit dieser passivischen Konstruktionen in der Semantik. Wo dies aber in der Syntax seinen spezifischen Niederschlag findet, - und das betrifft im Besonderen die Konstruktionen unter (19a-c), die eine KÖNNEN-Bedeutung haben, - hat das Parallelen zur sezw-MIK und 0 MIK (ebenfalls in der KÖNNEN-Interpretation) zur Folge. Zuallererst ist dabei die Realisierung des logischen Arguments zu nennen. Auch wenn diese Option bei den Konstruktionen nicht in allen Fällen gleich gut ist, geben sie doch der Variante der/wr-Phrase den Vorzug, im Falle der Medialkonstruktion und der -èar-Derivation ist eine νοκ-Phrase ausgeschlossen. Die geltenden Verhältnisse sind in (20) dargestellt. (20) a. b. c. d. e.

Die Aufgaben lösen sich fur/*von Abiturienten leicht. Die Aufgaben lassen sich für/von Abiturienten leicht lösen. Die Aufgaben sind fiir/*von Abiturienten leicht lösbar. Die Aufgaben sind für/von Abiturienten leicht zu lösen. die für/von Abiturienten leicht zu lösenden Aufgaben

Die modalpassivischen Konstruktionen mit KÖNNEN-Interpretation unter (20) verbindet noch eine andere Gemeinsamkeit. Sie weisen allesamt eine starke Affinität zur Modifikation mit Adverbien oder Adverbialen auf, wie es hier in typischer Weise mit leicht dargestellt ist. Ein erster Überblick über die verschiedenen Modifikationsmöglichkeiten bei MIK findet sich am Ende dieses Kapitels.

13

14

Dies scheint aber nur für freie Dative zu gelten, worauf Marga Reis (pers. Komm.) hingewiesen hat. Für die Medialkonstruktion wird mitunter angenommen, sie sei ohne Modifikation grundsätzlich ungrammatisch. Dies trifft aber fur das Deutsche, anders als möglicherweise für das Englische, nicht zu, wie Steinbach (2002:278) mit Sätzen wie denen unter (i) zeigt.

Kapitel 2

21

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich bei Modalen Infinitkonstruktionen die aktivische haben-MIK einerseits und die passivischen Typen se/w-MIK. und 0 - M I K andererseits gegenüberstehen. Die se/'n-MIK zeigt dabei trotz der Präsenz von sein größere Ähnlichkeit mit dem Vorgangs- als mit dem Zustandspassiv. Daneben sind für die modalpassivischen MIK in der KÖNNEN-Bedeutung Effekte typisch, die bei anderen bedeutungsverwandten modalpassivischen Konstruktionstypen ebenfalls zu beobachten sind: die Option der Realisierung des logischen Subjekts in einer fiir-Pbia.sc und eine starke Affinität zur adverbialen Modifikation.

2.2 Eckdaten zur Semantik von Modalen Infinitkonstruktionen Die in der Syntax bestehende Zweiteilung in die beiden passivischen Konstruktionen einerseits und die aktivische Äaiew-Konstruktion andererseits hat ihr Pendant in der Semantik. Wahrend die passivischen Konstruktionen in ihrer modalen Bedeutung ambig sind und sowohl eine KÖNNEN- als auch eine MÜSSEN-Interpretation zulassen, ist die Äaöen-Konstruktion auf die MÜSSEN-Interpretation festgelegt. (21) a. Die Aufgaben sind zu lösen. = Die Aufgaben können/müssen gelöst werden. b. zu lösende Aufgaben = Aufgaben, die gelöst werden können/müssen c. Die Schüler haben die Aufgaben zu lösen. = Die Schüler müssen die Aufgaben lösen. Dabei ist allerdings daraufhinzuweisen, dass es neben der haben-MIK in (21c) den bereits erwähnten zweiten Konstruktionstyp mit haben gibt, der wie die passivischen MIK eine KÖNNEN- und eine MÜSSEN-Interpretation zulässt, vgl. (22). (22)

[Was die Reste nach der Party betrifft:] Wir haben noch zwei Stück Torte zu essen. = Wir haben noch zwei Stück Torte, die gegessen werden können/müssen.

Tatsächlich ist hier auch das modalpassivische zw-Infinitum im Spiel, so dass es sich eigentlich um eine Verbindung aus haben und 0 - M I K handelt. Indiz dafür ist neben der modalpassivischen Paraphrase auch, dass in (22) - anders als in der haben-is/ÜK. in (21c) - haben das Vollverb mit possessiver Bedeutung darstellt. Zur Unterscheidung der beiden Äafeen-Konstruktionen lassen sich zwei Kriterien anfuhren: Erstens hat das zwInfinitum nur in der Possessivkonstruktion den Status einer fakultativen Angabe und ist deshalb weglassbar, ohne dass dadurch die Grammatikalität des Satzes gefährdet wäre; und zweitens ist in der Possessivkonstruktion eine akkusativische NP obligatorisch. In (i) [Wenn man Amerikaner fragt, was ein gutes Manuskript auszeichne, erhält man immer zur Antwort:] Dass es gut ist und sich verkauft. 15

.

Dies wird in der Literatur kaum berücksichtigt, am ehesten noch in einem kurzen Aufsatz bei Leys (1977) und in Haider (1984), der allerdings irreführend von attributiven und prädikativen Varianten derselben sprachlichen Einheit spricht.

22

Modale Infinitkonstruktionen

- ein erster Steckbrief

vielen Fällen, so auch in (22), bestehen beide strukturelle Optionen, die der haben-MiK und die der Possessivkonstruktion, allerdings nebeneinander. Die zur Charakterisierung von (21a-c) verwendete Redeweise von KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretation soll auf die Paraphrasierbarkeit mit den entsprechenden Modalverben verweisen, was als erstes heuristisches Indiz für die Art der vorliegenden modalen Bedeutung zu verstehen ist. Dies impliziert freilich nicht die Aussage, dass etwa der Bedeutungsgehalt der haben-MIK identisch mit der analogen Konstruktion aus müssen mit dem bloßen Infinitiv sei.16 Anders als durch die sonst gebräuchliche Unterscheidung von Möglichkeits- und Notwendigkeitsbedeutung für die bei MIK auftretenden Lesarten sollen damit Implikationen für die weitere semantische Analyse vermieden werden. Das hat darin seinen Grund, dass sich im Laufe der Untersuchung zeigen wird, dass die KÖNNEN-Interpretation bei MIK stärker mit der Fähigkeitsbedeutung als mit der Möglichkeitsbedeutung von können verwandt ist, und dass diese beiden Bedeutungen in ihrer logisch-semantischen Struktur entscheidend differieren.

2.2.1

Zur Einordnung der Modalen Infinitkonstruktionen nach der Theorie von Kratzer (1991a)

Nach der Modaltheorie von Kratzer (vgl. Kratzer 1976, 1978, 1981, 1991a), die einen wichtigen Bezugsrahmen fur die semantische Analyse in dieser Arbeit darstellt, ist die Interpretation von Modalen zum einen von der denotierten modalen Kraft - Möglichkeit oder Notwendigkeit - , zum anderen von der Art des Redehintergrunds abhängig, der angibt, in welcher Hinsicht die modalisierte Proposition möglich oder notwendig ist.17 Nach Kratzer (1991) sind zwei Klassen von Redehintergründen zu unterscheiden, die miteinander interagieren: die modale Basis und die Ordnungsquelle. Im Sinne einer Deutung von Modalität im Rahmen der Mögliche-Welten-Semantik bezeichnet die modale Basis die spezifische Zugänglichkeitsrelation, während die Ordnungsquelle eine Funktion darstellt, die über die Elemente der Menge aller zugänglichen Welten eine partielle Ordnung induziert. Die Modalverben des Deutschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie systematisch verschiedene Arten von modalen Basen zulassen, zirkumstantielle sowie epistemische oder evidentielle Redehintergründe. So besteht in der zirkumstantiellen Interpretation von (23a) die Notwendigkeit, dass Paul Klavier spielt, aufgrund der geltenden Umstände, zu denen etwa die Präferenzen von Pauls Eltern zählen. In der epistemischen Lesart in (23b) besteht die Notwendigkeit der Annahme, dass Paul Klavier spielt, bezüglich bestimmter Evidenzen, etwa einschlägiger Geräusche von dem Ort, an dem sich wahrscheinlich Paul aufhält. (23) a. Paul muss Klavier spielen, sonst bekommt er Ärger mit seinen Eltern. b. Paul muss Klavier spielen, der Krach kommt eindeutig aus seiner Wohnung. 16

Bereits bei Brinkmann (1962:376) findet sich zum Verhältnis von Modalen Infinitiven und Modalverben allerdings folgende Aussage, die eine gewisse Vorsicht vor einer zu starken Parallelisierung geboten sein lässt: „Offenbar handelt es sich beim modalen Infinitiv um eine eigene Perspektive, die nicht mit Hilfe der Modalverben interpretiert werden kann und darf." Eine formalere Darstellung der Semantik von Modalen findet sich in Abschnitt 4.1.

Kapitel 2

23

Ähnliche Beispiele ließen sich auch für die anderen Modalverben können, dürfen, mögen, sollen und wollen finden. Als Polyfunktionalität ist diese Art der Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal deutscher Modalverben bekannt. 19 Für Modale Infinitkonstruktionen ist dagegen kennzeichnend, dass sie keine epistemische oder evidentielle Lesart zulassen, sondern auf zirkumstantielle Modalbasen beschränkt sind, vgl. (24). 20 (24) a. Nebenan ist Klavier zu spielen. b. Paul hat Klavier zu spielen. c. das zu bauende Haus

zirk/*ep/*ev zirk/*ep/*ev zirk/*ep/*ev

Damit ist aber bereits deutlich, dass sich Modale Infinitkonstruktionen wesentlich von Modalverbkonstruktionen unterscheiden. Auch wenn man den Unterschied von zirkumstantiellen und nicht-zirkumstantiellen Modalen darauf zurückfuhrt, dass im ersten Fall eine Kontroll- und im zweiten eine Anhebungsstruktur vorliegt, wie dies manche Syntaktiker - allerdings gegen die starken Argumente ihrer Kritiker - tun,21 wäre bei den modalpassivischen MIK, in denen ja Objekt-zu-Subjekt-Anhebung vorliegt, eine epistemische Interpretation zumindest nicht a priori ausgeschlossen, wenn sie nicht sogar eher zu erwarten wäre. In Reis (2001) wird der Zusammenhang darauf zurückgeführt, dass Polyfunktionalität bei Modalverben starke Kohärenz voraussetzt, und dass diese nur bei Rektion des 1. Status, also des bloßen Infinitivs, gegeben sei. Obwohl MIK strikt kohärent konstruieren, läge demnach wegen des zw-Infinitums keine starke Kohärenz vor. Es wird sich zeigen, dass die Generalisierung von Reis richtig ist, wenngleich sich im Falle der MIK, vor allem der modalpassivischen Konstruktionstypen, das spezifische Verhalten wohl aus einer noch größeren Differenz zu Modalverbkonstruktionen erklärt, als von Reis unterstellt wird. Hinsichtlich der möglichen Redehintergründe verläuft bei Modalen Infinitkonstruktionen eine Trennlinie zwischen KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretation. So liegt in der KÖNNEN-Interpretation stets eine dispositionelle Lesart vor. In (25a) bilden etwa die spezifischen Eigenschaften der genannten Aufgabe den Hintergrund für die modale Aussage, nicht aber die Präferenzen oder Anweisungen irgendeiner Instanz. Ebenso wird mit (25b) in der KÖNNEN- Interpretation nicht ausgedrückt, dass es mit irgendjemands Interessen eher kompatibel sei, den ersten Teil von Goethes Faust zu lesen als den zweiten. Stattdessen wird die Gültigkeit dieser Aussage inhärenten Eigenschaften der beiden Tragödien-Teile zugeschrieben. (25) a. Die erste Aufgabe ist auch für mäßig begabte Schüler zu lösen. ]8

19

Neben diesen Modalverben ist auch nicht brauchen polyfunktional und hat sowohl eine zirkumstantielle als auch eine epistemische Lesart. Vgl. Reis (2001), Diewald ( 1999). Hier zeigt sich auch ein wichtiger semantischer Unterschied zwischen der haben-MIK und dem modalen Aave-to-Konstruktion im Engl., die epistemische und evidentielle Lesarten zulässt. (i) He has to be a good musician. (zirk/ep/ev) (ii) Er hat ein guter Musiker zu sein. (zirk/*ep/*ev) Vgl. dazu die Diskussion in Reis (2001). Die IdS-Grammatik (1997) spricht hier von circumstantiellen Redehintergründen im Gegensatz zu normativen oder volitiven Redehintergründen.

24

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief b. Faust I ist leichter zu lesen als Faust II.

Allerdings zeigen die Beispiele unter (26), dass für die dispositionelle Lesart nicht die Eigenschaften des syntaktischen Subjekts allein relevant sind. So ist es im Beispiel in (26a) deutlich erkennbar, dass sich die Möglichkeit, den Watzmann-Gipfel zu sehen, nicht aus dessen inhärenten Eigenschaften allein ergibt, ebenso wenig wie dafür allein die Sehkraft der ungenannten Betrachter oder die Wetterlage ausschlaggebend ist. Vielmehr ist es eine Summe von Umständen, die das Erblicken des Watzmanns ermöglicht. In ähnlicher Weise sind es in (26b) die nach zwei Uhr geltenden Umstände, aus denen folgt, dass man nichts mehr hören kann. (26) a. Als sich der Frühnebel aufgelöst hatte, war der Gipfel des Watzmanns zu sehen, b. Ab zwei Uhr war nichts mehr zu hören. Im Gegensatz zu deontischen oder präferentiellen Lesarten korreliert die dispositionelle Lesart aber mit keiner spezifisch gefassten Ordnungsquelle, vielmehr resultiert sie aus der Verbindung von zirkumstantieller modaler Basis und leerer Ordnungsquelle. Es wird eine zentrale Aufgabe dieser Arbeit sein, den theoretischen Status dispositioneller Modalität genauer zu klären, auch wenn in einem deskriptiven Sinn die Abgrenzung von dispositioneller Modalität und anderen zirkumstantiellen Modalitäten unproblematisch erscheint. Die MÜSSEN-Interpretation der MIK tritt hingegen in deontischer oder teleologischer Lesart auf. Im deontischen Fall wird die Proposition als geboten gedeutet, wofür Normen ausschlaggebend sind, die unabhängig von den Präferenzen des logischen Subjektes bestehen (vgl. (27a-b)). In der teleologischen Lesart ergibt sich das Gebot, die modalisierte Proposition zu aktualisieren, d.h. zu verwirklichen, aus allgemeinen Gesetzen, die für das Erreichen bestimmter, vom logischen Subjekt selbst gesteckter Ziele gelten. So ergibt sich in (27c-d) die Notwendigkeit, die restlichen 150 Höhenmeter zu überwinden, aus dem in dieser Situation bestehenden Ziel, den Gipfel zu erreichen. (27) a. b. c. d.

Die Aufgaben sind bis morgen zu lösen, hat unser Lehrer gesagt. Die Schüler haben die Aufgaben bis morgen zu lösen. Bis zum Gipfel waren noch 150 Höhenmeter zu überwinden. Bis zum Gipfel hatten wir noch 150 Höhenmeter zu überwinden.

In beiden Lesarten gilt damit für das logische Subjekt die Notwendigkeit, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, aufgrund bestimmter geltender Gesetzmäßigkeiten, denen sich das Subjekt beugen muss. Dabei gelten im deontischen Fall aber Normen, die von einer Instanz mehr oder weniger willkürlich aufgestellt sind, im teleologischen Fall sind es dagegen die objektiven Verhältnisse, die unsere Welt bestimmen, welche uns ein bestimmtes Verhalten beim Verfolgen unserer Ziele diktieren. Der Unterschied tritt zu Tage, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Struktur ein Verstoß gegen die jeweilige

23

Allerdings scheint die Abgrenzung von dispositioneller und epistemischer Modalität nicht immer in gleichem Maße unproblematisch, vgl. Abschnitt 4.2.4. Die hier als teleologisch bezeichnete Interpretation wird in der IdS-Grammatik (1997) als extrasubjektiv-volitiv bezeichnet.

Kapitel

2

25

Kategorie von Gesetz bedeutet. Im deontischen Fall muss man sich dem Gesetz beugen, wenn man sich gesetzeskonform verhalten will. Wer gegen ein solches Gesetz verstößt, hat gegebenenfalls de jure mit einer entsprechenden Sanktion zu rechnen, de facto können solche Gesetzesverstöße aber auch ungeahndet bleiben. Im teleologischen Fall muss man das Gesetz beachten, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will. Gegen das (beispielsweise physikalische) Gesetz selbst kann im eigentlichen Sinne jedoch nicht verstoßen werden, durch ein Fehlverhalten wird aber gegebenenfalls das Erreichen des Ziels verhindert. Die Trennlinie zwischen deontischen Normen und objektiven teleologischen Gesetzen ist mitunter nicht leicht zu ziehen. Wenigstens wird Normen zuweilen eine Geltung unterstellt, welche an die der objektiven teleologischen Gesetze heranreicht. Die MÜSSENInterpretation der MIK scheint dabei die Tendenz zu haben, die Geltung als möglichst objektiv darzustellen, und gerade zum Ausdruck solcher quasi-objektiven Normen geeignet zu sein. Der verobjektivierende Zug des als faktisch dargestellten Gesetzeszusammenhangs trifft sich im Übrigen mit der dispositionellen Lesart der KÖNNEN-Interpretation, wo ebenfalls die realistischen Umstände den Hintergrund für die modale Interpretation abgeben. Wie der Vollzug der gebotenen Handlung im teleologischen Fall aber noch davon abhängig ist, ob das logische Subjekt bereit ist, sein Ziel anzustreben, muss auch für die Aktualisierung des dispositionellen Zusammenhangs in der MIK das logische Subjekt eine gewisse Bereitschaft dazu aufbringen. Obwohl fur die teleologische Interpretation die Einstellungen des logischen Subjektes entscheidend sind, dürfen teleologische Hintergründe nicht mit präferentiellen/buletischen26 Redehintergründen verwechselt werden. Im Gegensatz zu den buletischen besteht bei den teleologischen Redehintergründen eine Hierarchie von Präferenzen. Das heißt, den bestehenden Zielen können aktuelle Präferenzen widersprechen, was aber nichts an der Notwendigkeit der Handlung ändert. Bei der buletischen Notwendigkeit wird dagegen nicht zwischen aktuellen und übergeordneten Präferenzen unterschieden. (28a) lässt beispielsweise eine buletische, eine deontische oder eine teleologische Interpretation zu. Buletisch verstanden drückt (28a) eine starke Präferenz des Sprechers aus, einen bestimmten Film anzuschauen. Diese Präferenz kann allein darin ihre Begründung finden, dass sich der Sprecher von diesem Film einen unterhaltsamen Abend verspricht. In der deontischen Interpretation des Satzes besteht eine Norm, etwa im Rahmen eines Filmseminars, den Film zu sehen. Teleologisch verstanden dagegen besteht die Notwendigkeit, den Film zu sehen, im Kontext eines übergreifenden Ziels des Sprechers, etwa der Art, einen Überblick über das Gesamtwerk Kieszlowskis zu haben. Die MIKVarianten in (28b-d) lassen im Gegensatz zur mwiseM-Konstruktion nur die deontische und die teleologische, nicht aber die buletische Interpretation zu.27 (28) a. Diesen Kieszlowski-Film muss ich noch anschauen. b. Diesen Kieszlowski-Film habe ich noch anzuschauen. 25

deont./teleol./bul. deont./teleol./*bul.

Genau heißt dies, dass das logische Subjekt wenigstens nicht intendieren darf, dass sich die Aktualisierung nicht vollzieht, (vgl. die Intentionalitätsbedingung in Abschnitt 4.2.9). Ich gebrauche diese Ausdrücke synonym. Zur Vereindeutigung der buletischen Lesart können Zusätze wie das wünsche ich mir schon seit langem dienen. Vgl. dazu auch die Diskussion in Abschnitt 2.2.2.

26

Modale Infinitkonstruktionen c. Dieser Kieszlowski-Film ist (von mir) noch anzuschauen. d. dieser (von mir) noch anzuschauende Kieszlowski-Film

- ein erster Steckbrief deont./teleol./*bul. deont./teleol./*bul.

Bleibt die Frage, ob es in der MÜSSEN-Interpretation einen zur KÖNNEN-Interpretation vergleichbaren Fall von dispositioneller Modalität gibt. Dabei fallt auf, dass viele Fälle, die man intuitiv als dispositionelle Notwendigkeit beschreiben würde, auch durch Modalverben kaum auszudrücken sind. Wird Wasser auf 100 °C erhitzt, kocht es notwendigerweise, wofür die spezifische Disposition von H 2 0 ausschlaggebend ist, doch wird diese Tatsache mit (29a) angemessener als mit (29b) beschrieben. (29) a. Diese Flüssigkeit kocht bei 100 °C. b. Diese Flüssigkeit muss bei 100 °C kochen. In der Modalverbvariante erhält man eher einen Fall von definitorischer Modalität. Bei dieser Art der Modalität geht es weniger um die naturgesetzliche Notwendigkeit als darum, dass ein Gegenstand notwendigerweise ein bestimmtes Verhalten zeigen muss, um einer Definition zu entsprechen bzw. einer theoretisch begründeten Klasse zugerechnet werden zu können. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn in (29a-b) das Subjekt diese Flüssigkeit durch einen stärker klassifikatorischen Begriff wie Wasser oder H20 ersetzt wird. Geht es um Dispositionen von Personen, sind Modalverbkonstruktionen wie in (30) aber angemessen. (30) a. Paul muss viel husten. Er hat eine chronische Bronchitis. b. Paul muss (unwillkürlich) lachen, wenn Anna versucht, Witze zu erzählen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass passivische MIK und auch die haben-MIK keine dispositionelle MÜSSEN-Interpretation zulassen, vgl. (31). (31) a. b. c. d.

*Wenn *Wenn *Wenn *Wenn

man eine chronische Bronchitis hat, ist viel zu husten. man eine chronische Bronchitis hat, hat man viel zu husten. Anna Witze erzählt, ist (unwillkürlich) zu lachen. Anna Witze erzählt, hat man (unwillkürlich) zu lachen.

Modale Infinitkonstruktionen treten also in der KÖNNEN-Interpretation in dispositioneller und in der MÜSSEN-Interpretation in deontischer oder teleologischer Lesart auf. Dies gilt übergreifend für alle drei Typen. Interessanterweise findet sich diese Aufteilung auch bei anderen Modalen Passivkonstruktionen. Während das gehören-Passiv (32a) einen Fall von deontischer oder teleologischer Notwendigkeit ausdrückt, liegt bei der Medialkonstruktion (32b), dem lassen-Passiv (32c) und der -¿«/--Derivation (32d) mit wenigen idiosynkratischen Ausnahmen eine KÖNNEN-Interpretation mit dispositionellem Hintergrund vor. (32) a. Die Blumen gehören gegossen, b. Der Text liest sich schnell. 28

Dazu gehören Beispiele wie die unter (i)-(ii) genannten, bei denen nur eine MÜSSENInterpretation möglich ist: (i) Die Rechnung ist zum 15. des Monats zahlbar. (ii) Das Quäntchen Glück schreibt sich neuerdings mit ,ä'.

Kapitel 2

27

c. Das Bier lässt sich trinken. 29 d. Die Pilze sind essbar. Die Affinität der modalpassivischen Konstruktionen zu den genannten Bedeutungen passt zum Spezifikum passivischer Konstruktionen. Da das logische Subjekt in den Hintergrund tritt, lassen sich mit solchen Konstruktionen entweder gut Dispositionen ausdrücken, fur deren Aktualisierung es zwar eines logischen Subjektes, aber eben keines mit besonders spezifischen Eigenschaften, bedarf - oder es werden, wie etwa beim gehörenPassiv, Handlungsnormen konstatiert, die ebenfalls unangesehen des individuellen logischen Subjektes gelten. Die geringe Bedeutung des individuellen logischen Subjektes spiegelt sich bei den KÖNNEN-Konstruktionen auch darin wieder, dass häufig schon eher an generische als an modalisierte Sätze zu denken ist. Zusammenfassend ist im Rahmen von Kratzers Modaltheorie festzustellen, dass Modale Infinitkonstruktionen in der Varianz zulässiger Redehintergrundstypen anderen Modalen gleichen, angesichts ihrer Beschränkung auf nicht-epistemische Modalbasen aber klar von Modalverben im Deutschen unterschieden sind. Auffalligstes Merkmal ist allerdings, dass in den passivischen MIK KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretationen möglich sind, ohne dass diese eindeutig lexikalisch unterschieden wären. Dabei ist es gerade fur Kratzers semantische Analyse zentral, dass Modale zwar aufgrund unterschiedlicher kontextuell zu erschließender Redehintergründe mehrdeutig sind, dass aber dabei die modale Kraft, d.h. die Möglichkeits- oder Notwendigkeitsbedeutung, den invarianten semantischen Kern des Modallexems ausmacht. Damit gibt es drei Optionen, um dieser Herausforderung, die sich durch den empirischen Befund bei passivischen MIK stellt, zu begegnen. Die erste Option besteht darin, jeweils zwei homonyme modale Ausdrucksmittel anzunehmen, die zweite darin, Kratzers These zu revidieren. Die dritte und in dieser Arbeit gewählte Option ist, die KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretation der passivischen MIK auf eine gemeinsame semantische Grundstruktur zurückzufuhren. Dazu ist es vor allem notwendig zu zeigen, dass die Differenz von KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretation in diesem Fall nicht der von existentieller vs. universaler Qualifikation entspricht, weshalb in dieser Arbeit auch sorgfaltig zwischen den Begriffen KÖNNEN-Interpretation und Möglichkeits-Bedeutung bzw. MÜSSEN-Interpretation und NotwendigkeitsBedeutung unterschieden wird. Der Versuch, die beiden grundlegenden Interpretationen der passivischen MIK auf eine gemeinsame Bedeutungsstruktur zurückzuführen, ist bisher nur in Raynaud (1977) skizziert worden. Demnach sei bei den passivischen MIK eine „passive fahigkeit oder eigenschaft" grundlegend, die „als eine bedingung für die realisierung des in der Infinitivgruppe genannten geschehene" fungiere (Raynaud 1977:386). Da mit diesen Konstruktionen „nur die Verfügbarkeit des passiven grammatischen subjekts zu einer realisie29

Im Fall der -òar-Derivation, bei der sich ohnehin auch Usualisierungseffekte einstellen, kommt es aber auch zu deontischen Lesarten. Das bekannteste Beispiel dafür ist Art 1,1 GG Die Menschenwürde ist unantastbar, dessen deontische Aussage auf Demonstrationen mit dem („dispositionellen") Slogan Die Menschenwürde ist antastbar beantwortet wurde. Dabei wollten die Demonstranten nicht die Gültigkeit des zentralen Grundgesetzartikels abstreiten, woraus folgt, dass für beide Sätze - um zugleich wahr zu sein - unterschiedliche Redehintergründe gelten müssen.

Modale Infinitkonstruktionen

28

- ein erster Steckbrief

rung des in der Infinitivgruppe genannten prozesses" ausgedrückt werde, ergebe sich dadurch die Möglichkeit, dass „eine möglichkeit auf eine notwendigkeit reduziert" werde (Raynaud 1977:389). Die Notwendigkeit fasst Raynaud deshalb als „reduzierten", „verengerten" Begriff auf, weil in der MÜSSEN-Lesart eben nicht mehr alle Handlungsalternativen des potentiellen logischen Subjektes gleichberechtigt sind. Damit formuliert Raynaud, wenn auch aus formaler Sicht in etwas problematischer Weise, eine Intuition, die auch für die vorliegende Arbeit leitend ist: Die grundlegende Bedeutung der passivischen MIK liegt demnach in einer dispositionellen Struktur, welche zunächst eine KÖNNEN-Interpretation ermöglicht, aber bei entsprechendem Kontext eine MÜSSEN-Interpretation zum Ergebnis hat. Dabei wird allerdings die Herausforderung darin bestehen, diese Intuition so zu entfalten, dass sie mit der Theorie von Kratzer in Einklang zu bringen ist.

2.2.2 Die Modalen Infinitkonstruktionen und das System der deutschen Modalverben nach Bech (1951) Um vor allem die funktionale Stellung von Modalen Infinitkonstruktionen in Bezug zum System der Modalverben des Deutschen zu klären, ist es auch instruktiv, die Kategorien der ebenfalls klassisch zu nennenden Modalverbklassifikation in Bech (1951) auf die Bedeutung der MIK anzuwenden. 30 Nach Bech lassen sich die Bedeutungen der deutschen Modalverben in drei Dimensionen unterscheiden. Dabei handelt es sich um die Oppositionen von (i) Notwendigkeit/Forderung vs. Möglichkeit/Erlaubnis, (ii) intrasubjektiv vs. extrasubjektiv und (iii) kausal vs. autonom. So lässt sich der Bedeutungsumfang der Modalverben durch die jeweilige Merkmaisspezifikation darstellen, wobei in jeder Dimension entweder einer der beiden polaren Werte oder der neutrale Wert gilt. In der Notation, wonach dem ersten Wert der genannten Oppositionen jeweils die (lateinische) Minuskel und dem zweiten die Majuskel zugeordnet ist und der neutrale Wert durch die griechische Minuskel dargestellt wird, erhält Bech für die sechs Modalverben des Deutschen die in (33) dargestellte Klassifikation: (33) Klassifikation der Modalverben nach Bech (1951) müssen

aßc

Können

Aßc

mögen

aßC

sollen

aBC

Dürfen

ABC

wollen

abC

Wie sich die Dimensionen in diesem System genau charakterisieren, wird klar, wenn im Folgenden versucht wird, für Modale Infinitkonstruktionen die entsprechenden Merkmalsspezifikationen zu ermitteln. Die erste Dimension entspricht weitgehend dem Konzept der modalen Kraft bei Kratzer. Insofern muss die Spezifizierung von müssen, sollen, können und dürfen nicht erläutert werden. Erstaunlich wirkt zunächst die Charakterisierung von mögen und wollen als α-Verben. Grund dafür ist die für volitive Modalverben typische Möglichkeit zweier 30

So wirkt Bechs Klassifikation etwa auch in den einschlägigen Monographien zu deutschen Modalverben wie Öhlschläger (1989) und Diewald (1999) nach.

Kapitel 2

29

Interpretationsvarianten, die in Bech (1949) noch als ,aktiv' bzw. ,passiv' bezeichnet werden. So zielt in (34a) die volitive Einstellung des Subjekts darauf, nach München zu fahren. Im Falle von (34b) wird dagegen konstatiert, dass es keine volitive Einstellung seitens des Subjekts gibt, die einer Fahrt nach München entgegenstünde. In dem Sinne, dass dadurch die Fahrt nach München ermöglicht wird, versteht Bech die passive Variante als Instantiierung einer Möglichkeitsbedeutung. (34) a. Ich mag/will schon lange nach München fahren. b. Ich mag/will nach München fahren, wenn es von mir erwartet wird. Bech selbst nennt im Zusammenhang mit neutralisierten α-Konstruktionen auch die seinMIK: „Eine solche neutralität (α) ist in vielen anderen fallen bekannt", schreibt Bech (1951:6f.), „z.b. in gewissen infinitivischen konstruktionen im deutschen: sein + inf. ( Wie ist das zu verstehen?), lassen + inf. (ich Hess ihn kommen). Desgleichen in der lateinischen gerundivkonstruktion und im russischen dativus cum infinitivo." Ordnet man die beiden Bedeutungsvarianten der modalpassivischen MIK nicht zwei homophonen Lexemen oder Verbformen zu, lassen sich sein- und 0 - M I K also auch als α-Modale charakterisieren, wohingegen die haben-MIK aufgrund ihrer Festlegung auf die Notwendigkeitsbedeutung ein a-Modal ist. Die zweite Dimension betrifft den so genannten Modalfaktor. Er ist die Größe, die den Inhalt des „Modalfeldes", d.h. die im Skopus des Modaloperators befindliche Proposition ermöglicht bzw. notwendig macht. Dieser Modalfaktor kann intrasubjektiv oder extrasubjektiv lokalisiert werden. Strikt intrasubjektiv (und damit ein ò-Modal) ist wollen, strikt extrasubjektiv (und damit 5-Modale) sind sollen und dürfen. Bei müssen, können und mögen gibt es extrasubjektive (35) und intrasubjektive Verwendungen (36): (35) a. Die Schüler müssen die Hausaufgaben bis morgen lösen. b. Sie können jetzt nach Hause gehen. c. Er mag gerne mitkommen, wenn Ihnen daran liegt. (36) a. Ich muss diesen Film unbedingt sehen, ich freue mich schon so lange darauf. b. Ich kann gerne diese Gläser spülen. c. Ich mag heute mal ins Kino gehen. Versucht man, den Modalfaktor bei den passivischen MIK zu bestimmen, muss freilich klar sein, dass es um das logische, und nicht um das syntaktische Subjekt geht, dessen Beziehung zur Modalisierung von Interesse ist. Wie sich an den Sätzen unter (37) nachprüfen lässt, liegt sowohl in der M Ü S S E N - als auch in der KÖNNEN-Interpretation ein Fall von extrasubjektiver Modalität vor. (37) a. Die Aufgabe Nr. 22 ist für/von Klaus zu lösen, b. Der Watzmann-Gipfel ist zu sehen. 31

Allerdings ist sowohl für das Lateinische (vgl. Kühner/Stegmann 1955:733) als auch für das Russische (vgl. Maurice 1996) festzuhalten, dass für die Möglichkeitsbedeutung Negations- und Fragekontexte einschlägig sind, und auch dort die Mehrdeutigkeit nur marginalen Charakter hat. In affirmativen Assertionen ist aber anscheinend in keinem der beiden Fälle eine Polysemie zu beobachten.

30

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief c. Wir hatten noch 200 Höhenmeter aufzusteigen.

Im Falle der KÖNNEN-Interpretation scheint dies möglicherweise nicht auf den ersten Blick klar. Zwar ist es fur die Realisierung des modalisierten Verbalgeschehens nötig, dass das logische Subjekt bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten besitzt, doch betrifft dies nicht das Konzept der Lösbarkeit oder Sichtbarkeit selbst. Mit Satz (37a) wird nicht festgestellt, dass Aufgabe Nr. 22 aufgrund der Fähigkeiten von Klaus lösbar ist, sondern dass diese für Klaus mit seinen Fähigkeiten lösbar ist. Ähnlich ist die Sichtbarkeit eines Gipfels nicht durch die Sehkraft der im Kontext salienten Personen bedingt. Vielmehr gilt (37b) in Situationen, in denen Umstände herrschen, die Personen mit einem normalen Set an Eigenschaften das Erblicken des Gipfels ermöglichen. Die Grundidee der extern-/intern-Dichotomie bei Bech ist es gerade, die Bedeutungsvarianten kennzeichnen zu können, in denen die Modalisierung lediglich von subjektinternen Umständen abhängig ist. Dies ist bei den modalpassivischen MIK aber schon deswegen nicht gegeben, weil das logische Subjekt oft nicht spezifiziert wird. Thim-Mabrey (1986) bemerkt etwa gerade bei der KÖNNEN-Interpretation der se/'w-MIK eine starke Tendenz zu generischen logischen Subjekten. Für die MÜSSEN-Interpretation der haben-MlY^ und der modalpassivischen MIK ist die extrasubjektive Modalisierung deutlicher. Bei deontischer Modalität ist es offenkundig, dass die Quelle der Modalisierung eine vom Subjekt unterschiedene Instanz darstellt. Im Falle teleologischer Modalität (37c) ist die Zielvorgabe zwar subjektabhängig, die Notwendigkeit, eine damit im Zusammenhang stehende Handlung zu vollziehen, ist dabei aber durch äußere Umstände begründet. Da es keine Seilbahn gibt und man trotzdem die Hütte erreichen will, muss man sich also den Gegebenheiten anpassen und die 200 Höhenmeter aufsteigen. Auch der Vergleich mit den intrasubjektiven b-Varianten von können und müssen führt zum Ergebnis, dass Paraphrasen mit Modalen Infinitkonstruktionen ausgeschlossen sind. Klare Fälle von intrasubjektivem können sind die Fähigkeitsbedeutung in (38a), aber auch (38b), wo die Präferenzen des Subjekts die Quelle der Modalisierung darstellen. Wie die Beispiele unter (39) demonstrieren, lassen sich die Sachverhalte nicht durch MIK ausdrücken. (38) a. Sie kann die philippinische Nationalhymne singen, b. Ich kann die Gläser gerne spülen. (39) a. #Die philippinische Nationalhymne ist für sie/von ihr zu singen. Obwohl das sonst kaum wer kann, b. #Die Gläser sind für mich/von mir zu spülen. Das mache ich gerne. Bei müssen können als ¿-Fälle Verwendungen wie die unter (40a) gelten, bei der ähnlich zu (38b) die Subjektpräferenzen Quelle der Modalisierung sind. Aber auch dispositionel32

Da logische Subjekte in solchen Fällen aber grundsätzlich sehr selten phonetisch realisiert werden, begründet sie dies allein aufgrund ihrer Beurteilung introspektiver Daten. Ihrem Urteil nach sind Sätze der Art von (37a) nämlich zu interpretieren wie (i), vgl. (Thim-Mabrey 1986:239). (i) Die Aufgabe Nr. 22 ist für Leute wie Klaus zu lösen.

Kapitel 2

31

les müssen wie in (40b) fallt unter die ¿-Modalitäten, weil sich hier die Notwendigkeit ursächlich an Eigenschaften des Subjekts festmachen lässt, auch wenn es dazu eines externen Impulses bedarf. Auch hier lassen sich weder mit der sein- noch mit der habenMIK Paraphrasen bilden, vgl. (41). (40) a. Diesen Film muss ich unbedingt sehen. Ich freue mich schon seit Wochen darauf. b. Bei guter Musik muss sie unwillkürlich den Rhythmus mitschnippen. (41) a. #Dieser Film ist von mir unbedingt zu sehen. Ich freue mich schon seit Wochen darauf. a'. #Diesen Film habe ich unbedingt zu sehen. Ich freue mich schon seit Wochen darauf. b. #Bei guter Musik ist der Rhythmus von ihr unwillkürlich mitzuschnippen. b'. #Bei guter Musik hat sie den Rhythmus unwillkürlich mitzuschnippen. Wenngleich also die Einordnung des bei Modalen Infinitkonstruktionen auftretenden Modais als subjektexternes 5-Modal zu rechtfertigen ist, zeigen sich hier dennoch Mängel an Bechs Klassifikationssystem, die den mitunter subtilen Zusammenhang von subjektinternen und subjektexternen Umständen unberücksichtigt lässt. Damit sind nun aber bereits Fragen angesprochen, die erst bei der genaueren Analyse dispositioneller Modalität exakt und zufrieden stellend geklärt werden können. Die dritte Dimension betrifft die Opposition von kausal (c) und autonom (C). Dazu heißt es bei Bech (1951:7): „Die notwendigkeit oder möglichkeit ist bei den c-verben {müssen und können) kausal, d.h. sie wird als auf irgend einem gesetze beruhend aufgefaßt. Bei den C-verben (sollen, dürfen, wollen und mögen) dagegen ist die notwendigkeit (forderung) oder möglichkeit (erlaubnis) autonom, d.h. sie wird als keinem g e s e t z e unterliegend hingestellt." Wie dies genau zu verstehen ist, macht ein Blick in Bechs Bedeutungsexplikationen der neuhochdeutschen Modalverben in Bech (1949) deutlich: Für die von ihm als volitiv bezeichneten Verben wollen, sollen und dürfen ist ein Wille maßgeblich, für das emotive Verb mögen ein Lustgefühl. Die Verben müssen und können seien dagegen kausal, da bei ihnen die Modalisierung durch einen Komplex von Ursachen und Wirkungen bzw. Gründen und Folgen bedingt ist. Zwar wird in Bech (1949: 27, 33) in den Darstellungen von müssen und können auch auf den Typus der volitiven Notwendigkeit und den der volitiven Möglichkeit hingewiesen, wobei dort der „betreffende Wille [...] als in derselben Weise und prinzipiell mit derselben Kraft wie ein Kausalfaktor jeder beliebigen anderen Art wirkend aufgefasst" werde. Es bleibt jedoch unklar, wie der angebliche Unterschied zwischen den c-Verben müssen und können und den C-Verben wollen und dürfen zu bewerten ist, wenn man (42) und (43) vergleicht. Meines Erachtens lassen sich die Varianten in (42) in jeder Situation äußern, in der ihre Pendants unter (43) wahr sind. (42) a. Diesen Film muss ich unbedingt sehen. Ich freue mich schon so lange darauf, b. Meinetwegen können Sie den Rasen auch sonntags mähen. (43) a. Diesen Film will ich unbedingt sehen. Ich freue mich schon so lange darauf, b. Meinetwegen dürfen Sie den Rasen auch sonntags mähen.

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief

32

Während müssen und können anscheinend auch in Kontexten auftreten, in denen wie in (42) Indikatoren explizit auf die Abhängigkeit der Modalisierung von einer persönlichen Einstellung und damit auf deren autonomen Charakter hindeuten, ist dies bei Modalen Infinitkonstruktionen nicht möglich, vgl. (41a,a') und (44). Ebenso wenig lassen sich zu den Beispielen mit den autonomen Verben sollen und dürfen MIK-Paraphrasen finden, wie unter (45) demonstriert. (44)

#Meinetwegen ist der Rasen (für Sie/von Ihnen) auch sonntags zu mähen.

(45) a. Wenn ich sterbe, sollst du mein Haus erben. a'. #Wenn ich sterbe, ist von dir mein Haus zu erben. b. Erwin darf im ,Tantris' gratis Austern essen. b'. #Im ,Tantris' sind (für/von Erwin) gratis Austern zu essen. Interessant ist auch die in (46a) dargestellte Verwendung von müssen mit extrasubjektivem Modalfaktor und autonomer Modalisierung. Auch hier sind MIK-Paraphrasen nicht möglich, vgl. (46b-c). (46)

[Weißt du, was ich mir am meisten wünsche?] a. Du musst noch mal dieses Lied singen. Bitte. b. #Dieses Lied ist (von dir) noch mal zu singen. Bitte. c. #Du hast noch mal dieses Lied zu singen. Bitte.

Während sich demnach mit müssen offenkundig eine Notwendigkeit ausdrücken lässt, die sich allein auf einen starken Wunsch - intrasubjektiv oder extrasubjektiv - gründet (vgl. (42a), (46a)), vermögen die Modalen Infinitkonstruktionen nur eine kausale Notwendigkeit auszudrücken, die im Kontext von (46) aber unangemessen ist. Eine kausale Modalisierung ist jedoch in den Beispielen in (47) möglich und entsprechend können diese Modalisierungen auch mit Modalen Infinitkonstruktionen ausgedrückt werden, vgl. (48). (47) a. Meiner Ansicht nach kann der Rasen bei Regen gemäht werden, b. Neuerdings muss um 22 Uhr die Musik abgeschaltet werden. (48) a. Meiner Ansicht nach ist der Rasen bei Regen zu mähen, b. Neuerdings ist um 22 Uhr die Musik abzuschalten. b'. Neuerdings hat man um 22 Uhr die Musik abzuschalten. Es scheint also gerechtfertigt, die bei MIK zugrunde liegenden Modale als reine cModale zu charakterisieren, während müssen und können entgegen Bechs Klassifikation eher als γ-Verben einzustufen sind. Die Beschränkung der MIK auf die c-Modalität spiegelt im Übrigen das, was bereits in der Untersuchung der Kratzerschen Redehintergründe über das objektivierende Moment der MIK gesagt wurde und was im deontischen Bereich zu kaum mehr zurückweisbaren normativen Aussagen führt.33 Während in der dispositionellen KÖNNEN-Interpretation wie auch in der teleologischen MÜSSEN-Interpre33

Dazu passt ebenso, dass darüber hinaus die se/'w-MIK häufig in wissenschaftlichen Textsorten auftritt, wo die Verwendung der MIK die Rationalität der Argumentation unterstreicht, vgl. auch IdS-Grammatik (1997:1900).

Kapitel 2

33

tation der Grund der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit in den „objektiv gegebenen", d.h. rein faktischen Gegebenheiten unserer Welt liegt, werden auch in den deontischen Lesarten der MIK persönliche Einstellungen als Grund fur die Modalisierung ausgeschlossen. Man vergleiche dazu noch das folgende Beispiel in (49), in dem dies zum Ausdruck kommt. (49) a. Bevor du Fußball spielen gehst, ist dein Zimmer aufzuräumen. [*Bitte./*Tu es wenigstens mir zuliebe./*Versprich mir das.] b. Bevor du Fußball spielen gehst, hast du dein Zimmer aufzuräumen. [*Bitte./*Tu es wenigstens mir zuliebe./* Versprich mir das.] c. Bevor du Fußball spielen gehst, musst du dein Zimmer aufräumen. [Bitte./Tu es wenigstens mir zuliebe./Versprich mir das.] Während in (49a,b) Zusätze ausgeschlossen sind, die darauf hindeuten, dass das Gebot, das Zimmer aufzuräumen, den Interessen bzw. Präferenzen des Sprechers entspricht, ist dies bei müssen in (49c) möglich, was noch einmal für den strikt kausalen Charakter Modaler Infinitkonstruktionen spricht. Damit lassen sich die Modalen Infinitkonstruktionen in die - nun für müssen und können leicht modifizierte - Bech'sche Klassifikation einordnen, wie es unter (50) dargestellt ist. (50) (modifizierte) Klassifikation von Modalverben und MIK nach den Parametern in Bech (1951)m Müssen

aßy

können

Αβγ

mögen

aßC

sein-ySKl 0-MIK

aBc

Sollen

aBC

dürfen

ABC

wollen

abC

haben-MIK

aBc

Die Darstellung macht zwei Erkenntnisse dieser strukturalistisch-klassifikatorischen Analyse deutlich. Erstens grenzen sich die Modalen Infinitkonstruktionen hinreichend von den Modalverben ab, so dass sie funktional gesehen einen stabilen Platz im semantischen System einnehmen. Dafür ist in großem Maße die eben besprochene Festlegung auf die kausale c-Modalisierung ausschlaggebend. Noch wichtiger scheint aber das Ergebnis, dass sich hinsichtlich der Bech'schen Parameter die KÖNNEN- und die MÜSSENInterpretation der MIK mehr gleichen, als man nach einer Analyse der Kratzerschen Redehintergründe vielleicht vermuten würde, wo dispositionelle, deontische und teleologische Lesarten nur jeweils in der MÜSSEN- oder in der KÖNNEN-Interpretationen auftraten. Bei allen Modalisierungstypen handelt es sich nämlich um einen Fall von ß c ' Modalität, also um eine kausale Modalisierung mit extrasubjektivem Modalfaktor, was sowohl im Hinblick auf die Mehrdeutigkeit der modalpassivischen MIK, aber auch für die Beziehung der syntaktisch so unterschiedlichen sein- und haben-MIK interessant ist. Die Differenz reduziert sich damit auf die erste Dimension. Zwar ist es nicht sinnvoll, 34

Die Werte für müssen und können weichen dabei von Bechs Analyse ab. Genaueres s. oben. Syntaktisch ist dieser stabile Platz aber bei der se/«-MIK auch durch den passivischen Charakter und die damit einhergehenden spezifischen informationsstrukturellen Eigenschaften gegeben.

34

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief

innerhalb des vorgestellten Klassifikationsmodells den bereits geäußerten Bedenken gegen die Gleichsetzung von KÖNNEN-Interpretation und Möglichkeitsbedeutung (d.h. ,Α'-Modalität) Rechnung zu tragen, doch werden die Überlegungen zur dispositionellen Modalität ergeben, dass die Unbestimmtheit in der ersten Dimension kein Problem für die These einer einheitlichen Grundbedeutung darstellen muss.

2.2.3

Weitere Charakteristika

Im Folgenden sollen noch weitere Aspekte der semantischen Charakterisierung Modaler Infinitkonstruktionen genannt werden, die im semantischen Überblick noch nicht zur Sprache gekommen sind. Auf eine wichtige semantische Restriktion wurde allerdings bereits im einleitenden Syntax-Abschnitt hingewiesen. Als logisches Subjekt können bei passivischen MIK lediglich intentionsbegabte Entitäten fungieren. Entsprechend haben die unter (51) dargestellten Sätze mit Modalverben kein zulässiges Pendant mit Modalen Infinitkonstruktionen, auch wenn die typischen dispositionellen bzw. deontischen Lesarten, vorliegen, vgl. (52). (51) a. So ein Kanal kann von dieser Quelle leicht gespeist werden. b. Die Deckenkonstruktion muss laut Bauverordnung von mindestens drei Säulen getragen werden. (52) a. *So ein Kanal ist für/von diese/r Quelle leicht zu speisen. b. *Die Deckenkonstruktion ist laut Bauverordnung von/ftir mindestens drei Säulen zu tragen. Die Subjektrestriktion gilt nicht fur die haben-MIK, wie (53) zeigt: (53) a. Laut Bauverordnung haben mindestens drei Säulen die Deckenkonstruktion zu tragen. b. Die Tür hat geschlossen zu sein. Aufgrund des deontischen Redehintergrundes muss freilich jeweils ein intentionsbegabter Veranlasser bzw. Verantwortlicher für den Vollzug der modalisierten Proposition mitgedacht werden, so dass sich auch hier ein gewisser personaler Bezug einstellt. Wie bereits vermerkt wurde, stellt die bei passivischen MIK beobachtbare Mehrdeutigkeit ein Problem für modallogisch orientierte Theorien natürlichsprachlicher Modale dar, was beispielsweise für Kratzers Theorie zutrifft. Eine mögliche Lösung dieses Problems ist, die KÖNNEN- und die MÜSSEN-Interpretation auf zwei unterschiedliche homonyme Modale zurückzuführen, die in MIK auftreten. Es gibt jedoch Konstruktionen, die hinsichtlich MÜSSEN- und KÖNNEN-Interpretation unbestimmt erscheinen. Jedenfalls bestehen bei Sprechern keine klaren Intuitionen, welche der beiden Modalverbparaphrasen in (54) bzw. (55) angemessener ist. Es sind zwar spezifische Kontexte denkbar, in denen beispielsweise (54b) besser ist als (54c), bemerkenswert ist allerdings, dass in den meisten Fällen, in denen Sätze wie (54a) oder (55a) geäußert werden, ein hinsichtlich der beiden Paraphrasen neutraler Kontext vorliegt, der beide Modalverbvarianten gleichermaßen als unangemessen spezifizierte Deutung erscheinen lässt.

Kapitel 2

35

(54) a. Dieser Film ist dem Genre des film noir zuzurechnen. b. Dieser Film muss dem Genre des film noir zugerechnet werden. c. Dieser Film kann dem Genre des film noir zugerechnet werden. (55) a. Nach 15 km waren schon die ersten Ausfalle zu verzeichnen. b. Nach 15 km mussten schon die ersten Ausfalle verzeichnet werden. c. Nach 15 km konnten schon die ersten Ausfalle verzeichnet werden. Bei den Fällen, in denen dieses Unbestimmtheitsphänomen zu beobachten ist, handelt es sich um evaluative Verben, die den Vollzug einer Handlung oder das Einnehmen einer Einstellung denotieren, die aus der Auswertung der aktuellen Umstände resultiert. Dabei wird durch die MIK zunächst die Option der genannten Handlung bzw. Einstellung denotiert, während die Modalverbparaphrasen (in einer Lesart) zusätzlich ausdrücken, in welchem Verhältnis die Handlung bzw. Einstellung zu anderen Einstellungen bzw. Präferenzen des logischen Subjekts steht. Dieser Kontrast wird in Beispiel (56) noch deutlicher. (56) a. Es ist davon auszugehen, dass Paul seine Frau zur Party mitbringt. b. Wir müssen davon ausgehen, dass Paul seine Frau zur Party mitbringt. c. Wir können davon ausgehen, dass Paul seine Frau zur Party mitbringt. Die Sätze unter (56) können alle geäußert werden, wenn Grund zur Erwartung besteht, dass Paul mit seiner Frau zur Party kommt. (56b) und (56c) unterscheiden sich nun weniger darin, dass die Obligation, eine entsprechende Erwartung zu hegen, unterschiedlich stark ist. Vielmehr wird in (56b) das Kommen von Pauls Frau als eher negativ bewertet, während in (56c) eine neutrale oder eher positive Bewertung vorherrscht. Eine klar positive Bewertung liegt im dritten Paraphrasetyp, der außer bei evaluativen nicht als MIKParaphrase geeignet ist, der dürfen-Paraphrase, vor, vgl. (57).36 (57)

Wir dürfen davon ausgehen, dass Paul seine Frau zur Party mitbringt.

Die sew-MIK in (56a) verhält sich dagegen neutral in der Frage, ob das Erscheinen von Pauls Frau erwünscht ist oder nicht. Der Kontrast zeigt sich noch einmal gut an dem Beispiel unter (58), wo angesichts der kontextuell salienten negativen Einstellung gegenüber dem Resultat der Evaluation die ¿/wr/ên-Paraphrase unangemessen ist und die neutrale ¿öwwew-Paraphrase ebenso wenig angemessen wirkt. (58) a. b. c. d.

Es ist anzunehmen, dass Paul die Operation nicht überleben wird. Wir müssen annehmen, dass Paul die Operation nicht überleben wird. #Wir können annehmen, dass Paul die Operation nicht überleben wird. #Wir dürfen annehmen, dass Paul die Operation nicht überleben wird.

Dieser Fall von Unbestimmtheit bei der se/w-MIK ist möglicherweise auch ein Indiz dafür, dass sich KÖNNEN- und MÜSSEN-Interpretation nicht so sauber lexikalisch trennen lassen, wie dies etwa von Höhle (1978) oder von Stechow (1990, 2004) angenommen wird. Höhle, der bei den verschiedenen Interpretationen der se/w-MIK zwei homonyme 36

Dies schließt freilich nicht aus, dass solche αΐί/^«-Konstruktionen häufig ironisch verwendet werden.

36

Modale Infinitkonstruktionen

- ein erster Steckbrief

lexikalische Instanzen von modalem sein am Werke sieht, nennt ein Kriterium, mit dem sich die beiden modalen Interpretationen unterscheiden lassen, ohne auf Modalverbparaphrasen rekurrieren zu müssen. Während in der Konstruktion mit notwendigkeitsbezeichnendem sein das logische Subjekt durch eine von-Phrase auszudrücken sei, leiste dies bei der Konstruktion mit möglichkeitsbezeichnendem sein ausschließlich eine fürPhrase. Die Zulässigkeit einer von- bzw. /wr-Phrase sei demnach ein distinktives Merkmal, wie in (59) dargestellt. (59)

Verteilung von von- und füt-Phrase in der sein-MIK nach Höhle (1978) a. Die Aufgaben sind (unbedingt) von allen/*für alle zu lösen. MÜSSEN-Interpr. b. Die Aufgaben sind (leicht) *von allen/für alle zu lösen. KÖNNEN-Interpr.

Allerdings beschreibt Hohles Generalisierung die sprachliche Realität nicht korrekt. Zwar ist in der MÜSSEN-Interpretation eine /«r-Phrase ausgeschlossen, doch gilt gleiches nicht für die vow-Phrase in der KÖNNEN-Interpretation, wie die Belege in (60) zeigen: (60) a. Eine Tür, die nach außen aufgeht, ist von jedem Einbrecher leicht zu öffnen, selbst wenn sie ordnungsgemäß von innen abgeschlossen wurde. (Mannheimer Morgen, 14.09.1996) b. Zum einen braucht der Spieler die Spielerfrau, die aus PR-Gründen von der ranFernsehkamera auf der Tribüne dabei zu beobachten sein muss, wie sie (...) stolz auf den Gatten ist. (SZ, 23.05.2002) c. Gestritten wird um einen Vortrag Sloterdijks und darüber, was er tatsächlich gesagt hat. Letzteres «ist nicht einmal von Sloterdijk leicht zu beantworten», polemisiert die «Zeit», die ihm zuvor vorgeworfen hatte, mit einem «Zarathustra-Projekt» fordere er «eine gentechnische Revision der Menschheit». (St. Galler Tagblatt, 16.09.1999) Die Generalisierung lässt sich demnach offenbar besser so wie unter (61) formulieren: (61) Generalisierung über die Art der Realisierung von logischen Subjekten in passivischen MIK Für das logische Subjekt in passivischen MIK gilt: i. Eine Realisierung in einer von-PP ist unabhängig von der modalen Bedeutung möglich. ii. Liegt eine KÖNNEN-Interpretation vor, ist auch eine Realisierung in einer für-PP möglich. Es wurde aber bereits im Einleitungskapitel zur Syntax von MIK darauf hingewiesen, dass sich /ù>-Phrasen auch bei anderen modalpassivischen Konstruktionen finden, die ebenfalls eine KÖNNEN-Interpretation aufweisen. Insofern scheint es plausibel, dass diese zusätzliche Option zur Realisierung des logischen Subjekts mit der spezifischen modalen Interpretation in Zusammenhang steht. Doch muss daraus noch nicht folgen, dass in der sez'H-MIK (und analog in der 0 - M I K ) zwei unterschiedliche Modale vorliegen. Zuletzt sei auf die Fälle hingewiesen, in denen modalpassivische MIK in adjektivischer Umgebung vorkommen. Wie bereits festgestellt, treten bestimmte, teils sehr frequente Konstruktionstypen nur in Verbindung mit der dispositionellen KÖNNENInterpretation auf. Dabei handelt es sich um Fälle wie die in (62) dargestellten:

Kapitel 2

37

(62) a. Paul ist leicht/schwer zu überzeugen. b. Paul ist gut/schlecht zu überzeugen. c. Die Tuba ist unhandlich zu tragen. Zu (62a) gibt es die gleichbedeutende, in (63a) dargestellte inkohärente Konkurrenzkonstruktion, bei der das Adjektiv nicht in adverbialer, sondern in prädikativer Funktion auftritt, und die nicht-passivische Infinitivkonstruktion als Subjekt fungiert.37 Ähnliches gilt für die anderen beiden Typen in (63b,c) nicht. (63b) ist zwar grammatisch, hat aber eine andere Bedeutung: Gut bzw. schlecht bezieht sich hier nicht auf die Eignung Pauls als Objekt von Überzeugungsversuchen, sondern auf eine Bewertung der Handlung. (63) a. Es ist leicht/schwer, Paul zu überzeugen. b. Es ist gut/schlecht, Paul zu überzeugen (^62b) c. *Es ist unhandlich, die Tuba zu tragen. Für den Konstruktionstyp in (62c) ist charakteristisch, dass das Subjekt den Selektionseigenschaften des Adjektivs entspricht, so dass auch die Konstruktion in (64c), bei der das prädikative Adjektiv ohne Infinitum auftritt, grammatisch ist und eine ganz ähnliche Bedeutung wie (62c) denotiert. Für die anderen Beispiele unter (62) gilt das nicht in dieser Form. Die prädikativen Adjektive in den damit korrespondierenden Fällen unter (64) werden ohne Kontext anders interpretiert, auch deshalb, weil die Eignung, überredet zu werden, zu spezifisch ist, als dass sie analog zu (64c) ohne besonderen Kontext als Ellipse rekonstruiert werden könnte. Während beim gw/-Typ (vgl. (64b)) eine zu (62c) analoge Parallelform aber prinzipiell ausgeschlossen ist, gilt dies für den leicht-Typ nicht. Das zeigen die Beispiele in (65), in denen das Infinitum auf ein Verbalgeschehen verweist, das als typisch fur die entsprechenden Subjekte gelten kann. Wenn jedoch der Kontext klar genug ist, lässt sich somit auch (66a) in der Bedeutung von (66b) verstehen. (64) a. Paul ist leicht/schwer. b. Paul ist gut/schlecht. c. Die Tuba ist unhandlich. (65) a. b. c. d. (66)

37

Die Aufgaben sind leicht/schwer (zu lösen). Das Klavier ist leicht/schwer (zu tragen). Die Aufgaben sind gut/schlecht *(zu lösen). Das Klavier ist gut/schlecht *(zu tragen).

[A. Was die Verschiebung des Reisetermins angeht, müssen jetzt nur noch Paul und Lisa überzeugt werden.] a. B. Paul ist leicht. Den übernehme ich. b. B. Paul ist leicht zu überzeugen. Den übernehme ich.

Es sei aber nach den einführenden Worten in Kapitel 1 noch einmal darauf hingewiesen, dass es keinen synchronen syntaktischen Zusammenhang zwischen den Konstruktionen unter (62a) und (63a) gibt, wonach das Subjekt des eingebetteten Satzes in irgendeiner Form an die Subjektposition der MIK angehoben würde. Klares Indiz sind MIK mit adverbialer Modifikation, denen keine Prädikativkonstruktion entspricht (i), vgl. auch IdS-Grammatik (1997:1279f.) (i) Paul ist kaum zu überzeugen.

38

Modale Infinitkonstruktionen - ein erster Steckbrief

Die Modifikationstypen des leicht- und gwi-Typs verbindet, dass dort das Adverb das Modal modifiziert (vgl. (67a-b)), während bei anderen Modifikationen wie in (67c) das Modal Skopus über das Adverb hat. (67) a. Paul ist leicht zu überreden. b. Paul ist gut zu überreden. c. Paul ist vorsichtig zu überreden. Auch in anderer Weise unterscheidet sich (67c) von (67a-b): Es ist kein Modifikationstyp, der auf die KÖNNEN-Interpretation beschränkt ist, vielmehr tritt dieser auch zusammen mit der MÜSSEN-Interpretation auf. Der in (62c) dargestellte und in (68a) noch einmal wiederholte Konstruktionstyp bedarf einer besonderen Betrachtung, da er sich, wie bereits zu Beginn des Kapitels festgestellt wurde, einer Modalverbparaphrase entzieht, vgl. (68b). (68) a. Die Tuba ist unhandlich zu tragen. b. *Man kann die Tuba (nur) unhandlich tragen. Dennoch wird sich zeigen, dass auch in diesem Fall eine Modale Infinitkonstruktion mit dispositioneller KÖNNEN-Interpretation vorliegt, wenngleich diese wegen der spezifischen semantischen Struktur der Gesamtkonstruktion nicht durch eine Modalverbparaphrase ausgedrückt werden kann.

3 Eine kompositionelle Analyse der Modalen Infinitkonstruktionen

Während über die grundlegenden syntaktischen und semantischen Eigenschaften der MIK weitgehend Einigkeit herrscht, ist es strittig, wie sich diese Eigenschaften kompositioneil ableiten bzw. aus den Merkmalen der beteiligten sprachlichen Einheiten motivieren lassen. Dabei stehen eingehendere konfigurationelle Analysen der einzelnen Modalen Infinitkonstruktionen, die sowohl den Form- als auch den Bedeutungsaspekten Beachtung schenken, noch aus.1 Deshalb soll im folgenden Kapitel versucht werden, diesen Zusammenhang zwischen den konstruktionsspezifischen Eigenschaften der MIK und den dabei involvierten sprachlichen Mitteln zu rekonstruieren. In Tabelle (1) sind die einschlägigen Eigenschaften und sprachlichen Mittel überblicksartig zusammengestellt. (1)

MIK: syntaktisch-semantische Eigenschaften und sprachliche Mittel

MIK-Typ se/«-MIK 0-MIK haben-MIK

Eigenschaften modale Interpretation MÜSSEN/KÖNNEN MÜSSEN/KÖNNEN MÜSSEN

Diathese Passiv Passiv Aktiv

sprachl. Mittel Auxiliar Infinitum sein zu-V-en zu-V-en(-d-) haben zu-V-en

Bereits die Frage nach dem Träger der modalen Bedeutung macht klar, dass keine Lösung umhinkommt, Lexeme oder Morpheme als modal auszuweisen, die homophone nicht-modale Doppelgänger besitzen. Dies gilt für sein und haben ebenso wie für die beim Infinitum anzutreffenden Morpheme zu, -en und -d-, Für die syntaktische Analyse, - und das heißt vor allem: - für die Korrelation von Diathese und lexikalischem bzw. morphologischem Trigger, scheinen durch Parallelen mit sein und haben in Verbindung mit dem 3. Status die Dinge etwas klarer zu liegen. Wie jedoch bereits im einleitenden Kapitel festgestellt wurde, besteht diese Parallele nur bei oberflächlicher Betrachtung, so dass auch in dieser Hinsicht eine eigenständige Analyse das besondere Verhalten der MIK erklären muss. Zwar handelt es sich bei den in Betracht kommenden Einheiten ohnehin um polyfunktionale Ausdrucksmittel, die auch außerhalb von Modalen Infinitkonstruktionen in unterschiedlicher Bedeutung und Funktion auftreten, doch führen die spezifischen Erfordernisse bei MIK unweigerlich zu Erweiterungen des Inventars grammatischer und lexi1

In Ansätzen findet sich eine solche Analyse in von Stechow (2004), Ackerman & Webelhut (1998), Höhle (1978). Andere Analysen beschränken sich auf die Syntax, so Demske-Neumann (1994), Toman (1986), Wurmbrand (2001).

Eine kompositioneile Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

40

kalischer Mittel. Eine kompositionelle Analyse Modaler Infinitkonstruktionen trägt deshalb zunächst einen idiosynkratischen Zug. Darum muss eine Analyse, die sowohl deskriptiv als auch explanativ adäquat sein soll, zweierlei berücksichtigen: Sie muss erstens innerhalb der MIK-Gruppe das unterschiedliche syntaktisch-semantische Verhalten adäquat erfassen, und sie sollte zweitens die Menge des dafür benötigten „Sonderinventars" an MIK-spezifischen homophonen Ausdrucksmitteln möglichst gering halten. Dabei sind die unvermeidlichen idiosynkratischen Annahmen dort zu treffen, wo sie sich am plausibelsten ins Gesamtsystem der Grammatik einfügen lassen. Anders als bei Modalverbkonstruktionen muss aus diesem Grund die Untersuchung von Syntax und Semantik der MIK zunächst mit der Klärung des kompositioneilen Beitrags der einzelnen lexikalischen und morphologischen Elemente beginnen, bevor eine eingehendere Analyse der komputationeilen Verarbeitung in Syntax und Semantik folgen kann. Ziel des vorliegenden Kapitels ist dabei, im Sinne der genannten theoretischen Maßgabe vor allem im Vergleich mit anderen Vorkommen der fraglichen polyfunktionalen Elemente zu untersuchen, welche syntaktisch-semantischen Eigenschaften sich mit welchen Elementen am ehesten adäquat korrelieren lassen. Diese Überlegungen sollen die Grundlage für die weiteren systematischen Analysen in den darauf folgenden Kapiteln bilden.

3.1 Auxiliar- und Infinithypothese Kern und Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung bildet die λβ/«-ΜΙΚ. Dies ist einerseits theoretisch dadurch begründet, dass diese mit jeder der beiden anderen MIKTypen spezifische Eigenschaften teilt, und eine Analyse der .sem-MIK deshalb stets auf ihre Implikationen für die beiden anderen Analysen zu prüfen ist. Andererseits spiegelt die zentrale Behandlung der je/w-MIK auch deren relative Bedeutung, der ihr in der (nicht allzu breiten) Forschungsdiskussion beigemessen wird. Bei der Analyse der seinMIK sind - beschränkt man sich auf das overte Material - zwei Extrempositionen möglich: Entweder leitet sich das syntaktisch-semantische Verhalten, d.h. die spezifische Art der modalen Bedeutung und die Passiv-Diathese, von sein ab, oder es ist das zw-Infinitum, aus dessen Eigenschaften sich der modalpassivische Charakter der Konstruktion ableitet. Die erste Position wird im Folgenden als Auxiliarhypothese (2), die zweite als Infinithypothese (3) bezeichnet. (2)

2

Auxiliarhypothese Die modale Bedeutung und der Passiv-Effekt bei der sez'w-MIK lassen sich auf Eigenschaften eines modalen Auxiliars sein zurückführen. Beim Infinitum liegen keine inhärenten MIK-spezifischen Eigenschaften vor.

Man beachte, dass sich die Hypothesen ausschließlich auf die Deutung der se/'n-MIK beziehen, wenngleich sie Implikationen für die Analyse der anderen MIK-Typen mit sich bringen.

Kapitel 3 (3)

41

Infinithypothese Die modale Bedeutung und der Passiv-Effekt bei der se/w-MIK lassen sich auf Eigenschaften des zw-Infinitums zurückführen. Bei sein liegen keine inhärenten MIK-spezifischen Eigenschaften vor.

Zunächst sollen beide Hypothesen danach verglichen werden, (i) wie hoch der idiosynkratische Anteil der jeweils daraus folgenden Analyse ist, und (ii) welche theoretischen Implikationen sich jeweils in Hinblick auf eine kohärente Erfassung aller drei MIK-Typen ergeben.

3.1.1

Der idiosynkratische Anteil beider Hypothesen

Die Auxiliarhypothese wird, mehr oder weniger explizit, häufig vertreten, so etwa in Höhle (1978), Demske-Neumann (1994), Wurmbrand (2001) und von Stechow (1990, 2004).3 Vorzug dieser Hypothese ist, dass sich damit die augenfälligen Unterschiede, die zwischen sein- und haben-MIK hinsichtlich der modalen Bedeutung und der Diathese bestehen, auf lexikalische Unterschiede der beteiligten Auxiliare zurückführen lassen. Indem der Träger der modalen Bedeutung mit einem Modalauxiliar identifiziert wird, welches einen Infinitiv einbettet, hat die Analyse Ähnlichkeit mit dem Vorbild der Mo4

5

dalverben und anderer modaler Verben wie scheinen, wissen (zu), vermögen. Syntaktisch ergäbe sich aber auch eine Parallele zu anderen Passivtypen, die somit alle über die Spezifika der involvierten Auxiliare zu erklären wären, wie dies Höhle (1978) in seinem lexikalistischen Ansatz zum deutschen Passiv versucht hat. Freilich wurde schon in Kapitel 2 festgestellt, dass sich die sew-MIK in wesentlichen Aspekten von den übrigen Modalverbkonstruktionen unterscheidet. Außerdem scheint mit Blick auf das Passiv die se/«-MIK auch größere Verwandtschaft zu passivischen Konstruktionen wie Medialkonstruktionen, das /ossew-Passiv und die -¿ar-Derivation zu zeigen, die sich wenigstens nicht alle auxiliargesteuert analysieren lassen. Außerdem ist hier zu wiederholen, dass die haben-lsein-Alternation bei näherem Vergleich von zw-Infinitum und Partizip II ein asymmetrisches Verhalten zeigt, wenn man unakkusativische Verben betrachtet. Während sich unakkusativische Verben wie sterben oder gelingen als Partizip II mit sein, aber nicht mit haben verbinden (4), ist bei MIK das Gegenteil der Fall (5): (4) 3

a. Annas Lieblingsgans ist noch vor Weihnachten gestorben.

In der IdS-Grammatik (1997) wird zumindest die modale Bedeutung sein zugeschrieben, der Passiveffekt wird hingegen mit dem zw-Infinitum in Verbindung gebracht. Für das Deutsche ist der kategoriale Status von Modalverben umstritten. Die Auffassung, wonach deutsche Modalverben Auxiliare sind (etwa Wurmbrand 2001, auch Hinterhölzl 1999, Abraham 2001, Durbin/Sprouse 2001; sowie grammatikalisierungstheoretische Ansätze wie Diewald 1999, Heine 1995) kontrastiert mit der Vollverbanalyse (Reis 2001). Anders als im Englischen lassen sich im Deutschen jedenfalls auxiliartypische Phänomene wie eine defektive Flexion oder eine Infinitheitslücke nicht nachweisen, so dass nach Reis sowohl für zirkumstantielle als auch für epistemische Modalverben Vollverbstatus anzunehmen ist. In Grammatiken findet sich mitunter der Begriff Halbmodalverben/Halbmodale für diese Verben (vgl. Eisenberg 1999:353; IdS-Grammatik 1997:1282).

Eine kompositionelle Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

42

b. *Annas Lieblingsgans hat noch vor Weihnachten gestorben. c. Der dritte Versuch ist gelungen. d. *Der dritte Versuch hat gelungen. (5)

a. b. c. d.

*Annas Lieblingsgans ist noch vor Weihnachen zu sterben. Annas Lieblingsgans hat noch vor Weihnachten zu sterben. *Der dritte Versuch ist zu gelingen. Der dritte Versuch hat zu gelingen.

Die bei MIK vorliegenden Verhältnisse sind also durch die Auxiliarhypothese nicht so problemlos erklärt, wie es auf den ersten Blick scheint. Da Auxiliare aber notorisch polyfunktional sind, und sie nach der starken Auxiliarhypothese in MIK außerdem mit modaler Bedeutung auftreten, mag man einwenden, dass mit modalem sein und haben ohnehin separate Lexikoneinheiten angenommen werden müssen, die somit auch andere syntaktische Eigenschaften aufweisen können. Es bleibt jedoch in jedem Fall zunächst festzuhalten, dass die Auxiliarhypothese in semantischer, aber auch in syntaktischer Hinsicht zu idiosynkratischen Annahmen bezüglich der Eigenschaften der involvierten Auxiliare führt. Vertritt man die Auxiliarhypothese, um die besonderen Verhältnisse bei der sew-MIK zu motivieren, ermöglicht dies eine analoge, ebenfalls auxiliargesteuerte Analyse bei der haben-MIK. Demgegenüber ergeben sich aus den Annahmen der Auxiliarhypothese keine Anhaltspunkte für eine Klärung der Verhältnisse in der 0-MIK. Offensichtlich liegt in den Sätzen unter (6) nämlich keine Ellipse von sein oder einem anderen Auxiliar vor. (6)

a. die zu lösenden (*sein/*seienden) Aufgaben b. Die Texte, unterhaltsam und auch für Lerner der Grundstufe leicht zu verstehen (*seiend), finden Sie außerdem auf unserer Webseite als Audiodatei.

Als Folge der Auxiliarhypothese ergibt sich somit, dass die modale Bedeutung und der Passiv-Effekt in der 0 - M I K in anderer Weise als bei der se/n-MIK motiviert werden müssen. So wird in v. Stechow (1990, 2004) angenommen, dass in der 0 - M I K das -dAffix die modalpassivischen Eigenschaften trägt.6 Die Konsequenz dieser Lösung ist, dass die Auxiliarhypothese mit einer noch vergrößerten „idiosynkratischen Last" einhergeht, da dieses -¿/-Affix homophon zum -¿/-Affix beim Partizip I ist. Eine andere Lösung schlägt Demske-Neumann (1994) vor. Ihr zufolge resultiert zumindest das passivische Verhalten der 0 - M I K aus dem adjektivischen kategorialen Status, den sie dem pränominalen ZM-Infinitiv im Unterschied zum verbalen zw-Infinitiv der sei«-MIK zuschreibt. Wie allerdings die modale Bedeutung der 0 - M I K erklärt werden kann, wird von Demske-Neumann nicht weiter erörtert. In jedem Fall wird mit dieser Analyse allerdings zwischen einem aktivischen 2. Status beim Supinum und einem passivischen 2. 6

Auf nicht-pränominale Vorkommen der 0-MIK wie etwa in (6b) geht von Stechow nicht ein. Dass aber Demske-Neumanns kategoriale Behandlung des ¿«-Infinitums angreifbar ist, zeigt Holl (2001). Vgl. auch die Diskussion in Abschnitt 5.4. Die Termini Supinum und Partizipium für das (status-)regierte und für das unregierte Infinitum folgen hier Bech (1983 [1955/57]).

Kapitel 3

43

Status beim Partizipium unterschieden. Im Gegensatz zur Analyse von v. Stechow liegt damit eine asymmetrische Behandlung des zw-Infinitums vor. Die konkurrierende Infinithypothese, die in Holl (2001) und zumindest in syntaktischer Hinsicht etwa in Haider (1984a), in Toman (1986) und in der IdS-Grammatik (1997)9 sowie in semantischer Hinsicht in Wunderlich (1997) vertreten wird, fuhrt dagegen in anderen Bereichen zu Idiosynkrasien. Sie rekurriert auf das fur alle MIK typische zw-Infinitum und korreliert dies in der se;«-MIK und in der 0-MIK mit deren (modal-) passivischen Eigenschaften. Allerdings fuhrt diese Hypothese vorderhand zu dem Problem, klären zu müssen, weshalb das zw-Infinitum in der teòew-Konstruktion nicht passivisch ist oder jedenfalls an der Oberfläche nicht als solches in Erscheinung tritt. Schließlich liegt dort keine passivische Konstruktion vor. In Haider (1984a) führt das dazu, dass eine Theorie entwickelt wird, die nicht nur Trigger für Argumentblockierung kennt, sondern ebenso Trigger fur eine so genannte Deblockierung. Demnach ist zw ein (syntaktischer) Blockierer, dessen Wirkung auf die Argumentstruktur in entsprechenden strukturellen Kontexten unterbunden wird. Dies geschieht entweder bei lexikalischer Deblockierung durch haben, wodurch der aktivische Charakter der haben-MIK erklärt wird, oder durch syntaktische Deblockierung via INFL 0 , was dazu führt, dass auch inkohärente zwInfinitive nicht passivisch sind." Der in Haider (1984a) vertretene Ansatz wirft jedoch nicht nur die Frage auf, wie man sich einen solchen Deblockierungsmechanismus syntaktisch implementiert vorstellen soll,12 sondern er zeigt auch mit dem Anspruch, das Verhalten anderer zw-Infinitive via Deblockierung zu erklären, dass zu nach dieser Theorie zwar passivisch ist, aber anscheinend nicht modal. Andernfalls wäre nicht verständlich, warum das zw-Infinitum lediglich bei MIK mit Modalität einhergeht.13 Damit aber bleibt in diesem Rahmen unklar, worauf die modale Bedeutung in passivischen MIK zurückgeführt werden soll. Eine alternative Lösung des Problems bestünde darin, synchron von unterschiedlichen zw-Infinita in den modalpassivischen MIK einerseits und in der haben-MW^ andererseits auszugehen. Während man gemäß der Infinithypothese die Eigenschaften der passivischen MIK einem modalpassivischen zw-Infinitum zuschreiben könnte, ließe sich für die aktivische haben-WÛK. annehmen, dass dort ein zw-Infinitiv ohne konstruktionsspezifische Eigenschaften vorliegt, der von einem modalen Auxiliar haben selegiert wird. 9

10

In gewisser Weise gilt dies auch für Ackerman & Webelhut (1998:254), wo das von den Verfassern als zw-Infinitiv klassifizierte Infinitum, von dem es eine prädikative und eine attributive Variante gebe, als „categorial core" der sein- und der 0-MIK bezeichnet wird. Dass aber vor allem die Analyse, wonach es sich bei der ,se/«-MIK um eine Prädikationsstruktur handle, falsch ist, wird die vorliegende Arbeit zeigen. Toman (1986) beschränkt sich in seiner Untersuchung auf modalpassivische MIK. Parallel zum syntaktischen Blockierer zu nimmt Haider das Partizip II als lexikalischen Blockierer an, so dass PartizipII-Kontexte ebenfalls passivisch sind, solange nicht der Deblockierer haben auftritt. Ein Vorschlag dafür ist im Rahmen der HPSG-Theorie in Müller (2002) ausgearbeitet. Wenigstens gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich syntaktische und lexikalische Deblockierung darin unterschieden, dass nur erstere die modale Bedeutung tilgen würde. Man beachte, dass die Infinithypothese wie auch die Auxiliarhypothese nur Aussagen über die sew-MIK machen.

44

Eine kompositioneile Analyse filr die Modalen Infinitkonstruktionen

Durch diese Asymmetrie wäre auch erfasst, dass die haben-MIK nicht nur nicht passivisch ist, sondern auch in ihrer Beschränkung auf die MÜSSEN-Interpretation von den beiden anderen Konstruktionstypen abweicht. Vertritt man die Infinithypothese für die sez'w-MIK, besteht der idiosynkratische Anteil also zunächst in der Annahme eines modalpassivischen zw-Infinitums, so dass weder für sein noch für das in der 0-MIK auftretende -¿/-Affix konstruktionsspezifische Eigenschaften postuliert werden müssen. Weiters muss dabei für die haben-MIK angenommen werden, dass entweder ein entsprechender Mechanismus die passivischen Eigenschaften des Infinitums aufhebt und dessen modale Bedeutung modifiziert, oder dass, wie in der zuletzt diskutierten Option dort ein modales Auxiliar haben auftritt, das einen (nichtmodalen) zw-Infinitiv ohne konstruktionsspezifische Merkmale selegiert. Der Vergleich der beiden Hypothesen hinsichtlich ihrer idiosynkratischen Anteile führt damit zu folgendem Ergebnis: Der Anteil der Idiosynkrasien ist offensichtlich bei der Auxiliarhypothese mit den strukturell und semantisch idiosynkratischen Auxiliaren sein und haben und idiosynkratischem -¿/-Affix oder idiosynkratischem pränominalem 2. Status etwas größer als bei der Infinithypothese, die die Annahme eines idiosynkratischen zw-Infinitums und eines idiosynkratischen haben-Auxiliars zur Folge hat. Diese buchhalterisch anmutende Gegenüberstellung hat freilich noch keine Aussagekraft, solange die beiden Hypothesen nicht auf weitere theoretische Implikationen untersucht werden und schließlich auch gezeigt wird, wie gut sich die jeweiligen Ergebnisse in die Reihe verwandter Konstruktionen und lexikalisch-morphologischer Mittel integrieren lassen.

3.1.2 Theoretische Implikationen der Hypothesen und die deskriptiven Verhältnisse Die Überlegungen im vorhergehenden Abschnitt zeigten, dass sich im Hinblick auf eine kohärente Erklärung aller drei MIK-Typen bei beiden Hypothesen unterschiedliche Gewichtungen ergeben. Favorisiert man für die Analyse der sew-MIK die Auxiliarhypothese, nimmt man eine Asymmetrie mit der 0-MIK, bei der Auxiliare keine Rolle spielen, in Kauf, und folgt man der Infinithypothese, grenzen sich die modalpassivischen MIK von der haben-MIK ab, bei der dem Auxiliar offenbar eine wesentlich prominentere Rolle zugesprochen werden muss. Dies ist in Tabelle (7) noch einmal dargestellt. (7)

die aus beiden Hypothesen jeweils resultierende Gruppierung der MIK-Typen Auxi liarhypothese

Infinithypothese

0-MIK

se/n-MIK

0-MIK

sewi-MIK

-i/-/zM-Infinitum

sein

ZM-Infmitum

zw-Infinitum

haben-MIK

haben-MIK

haben

haben

Wie durch den Überblick in Kapitel 1 bereits deutlich geworden ist, entspricht die durch die Infinithypothese induzierte Gruppierung durchaus den empirischen Verhältnissen. Im

Kapitel 3

45

Folgenden sind noch einmal die wichtigsten Gemeinsamkeiten von sez'w-MIK und 0 MIK zusammengestellt. In beiden Fällen liegt ein modales Passiv vor, das - solange keine desambiguierenden Faktoren wie Modifikation oder entsprechende kontextuelle Faktoren vorliegen - sowohl eine dispositionelle KÖNNEN- als auch eine deontische/ teleologische MÜSSEN-Interpretation zulässt (8a-b). Das logische Subjekt kann jeweils durch eine von- oder eine ,/wr-Phrase realisiert werden (9a-b). Ebenso sind die gleichen Arten von adverbialer Modifikation möglich, sowohl der Typus mit gradierter Modalität wie unter (10), wo das Modal von einem Adverb modifiziert wird, als auch der Typus, bei dem sich das Adverb im Skopus des Modais befindet (11). Schließlich bleibt der Konstruktionstyp mit Adjektiven wie unhandlich, der keine Modalverbparaphrase zulässt (12). (8)

a. Die Aufgaben sind zu lösen. LAI: Die Aufgaben können (hinsichtlich der relevanten Umstände) gelöst werden. (dispositionelles KÖNNEN) LA2: Die Aufgaben müssen (hinsichtlich der bestehenden Gebote/Ziele) gelöst werden. (deontisches/teleologisches MÜSSEN) b. zu lösende Aufgaben LAI: Aufgaben, die (hinsichtlich der relevanten Umstände) gelöst werden können (dispositionelles KÖNNEN) LA2: Aufgaben, die (hinsichtlich der bestehenden Gebote/Ziele) gelöst werden müssen (deontisches/teleologisches MÜSSEN)

(9)

a. Die Aufgaben sind von allen/für alle zu lösen. (yon-ljur-Phrase) b. von allen/für alle zu lösende Aufgaben {von-lför-Phrase)

(10) a. Die Aufgaben sind leicht zu lösen. b. leicht zu lösende Aufgaben

(gradierte Modalität) (gradierte Modalität)

(Π) a. Die Aufgaben sind schnell zu lösen. b. schnell zu lösende Aufgaben

(Modal » Adv) (Modal » Adv)

(12) a. Die Tuba ist unhandlich zu tragen. b. die unhandlich zu tragende Tuba

(keine MV-Paraphrase) (keine MV-Paraphrase)

Auch hinsichtlich der Argumentrealisierung bei den bereits diskutierten unakkusativischen Verben zeigen se/'w-MIK und 0-MIK das gleiche Verhalten. Anders als beim Partizip II (vgl. (13)) kann das interne Argument eines unakkusativischen Verbs nicht in Subjektposition realisiert bzw. mit dem Bezugsnomen des partizipialen Attributs koindiziert werden, vgl. (14). (13) a. b. c. d.

Die Gans ist noch vor Weihnachten gestorben. Der dritte Versuch ist gelungen. die noch vor Weihnachten gestorbene Gans der gelungene dritte Versuch

(14) a. *Die Gans ist noch vor Weihnachten zu sterben. b. *Der dritte Versuch ist zu gelingen. c. *die noch vor Weihnachten zu sterbende Gans

46

Eine kompositionelle Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen d. *der zu gelingende dritte Versuch

Die enge Beziehung zwischen sem-MIK und 0-MIK kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich beide Konstruktionen in der Art von (15a-b) wechselseitig transformieren lassen, ohne dass sich dabei Unterschiede in der Argumentrealisierung oder in der Spezifikation der modalen Bedeutung ergeben. (15) a. zu lösende Aufgaben b. Aufgaben, die zu lösen sind Vergleicht man dagegen das syntaktisch-semantische Verhalten von se/w-MIK und ha¿ew-MIK, fallen einige Unterschiede ins Auge. Die wichtigsten sind bereits bekannt und betreffen die aktivische Diathese und die Beschränkung der modalen Bedeutung auf die MÜSSEN-Interpretation auf Seiten der Äaiew-Konstruktion. Ebenfalls wurde bereits erwähnt, dass die haben-MIK auch bei unakkusativischen Verben keine Restriktionen zeigt (vgl. (16)). (16) a. Der dritte Versuch hat zu gelingen. b. Die Gans hat noch vor Weihnachten zu sterben. Darüber hinaus teilt die /jaòew-Konstruktion offenbar auch bestimmte semantische Restriktionen der passivischen MIK nicht. Bei diesen gilt bekanntermaßen, dass das logische Subjekt eine intentionsbegabte Entität darstellen muss, was die Unangemessenheit der Sätze unter (17) begründet. Es sei noch einmal wiederholt, dass diese Restriktion für die haben-MVL nicht gilt, wie die Beispiele in (18) zeigen. (17) a. #Die Deckenkonstruktion ist laut Baubehörde von/für mindestens drei Säulen zu tragen. b. #Der Feind war von den Befestigungsanlagen mindestens drei Tage zurückhalten. (18) a. Laut Bauverordnung haben mindestens drei Säulen die Deckenkonstruktion zu tragen. b. Die Befestigungsanlagen hatten den Feind mindestens drei Tage zurückzuhalten. Hat man diese Gegebenheiten im Blick, so scheint die sich aus der Infinithypothese ergebende theoretische Behandlung der verschiedenen MIK-Typen durchaus angemessen. Während semantische und strukturelle Parallelen auf die gleiche Ursache, nämlich das modalpassivische zw-lnfinitum zurückgeführt werden, entspricht der Asymmetrie im Verhalten von modalpassivischen MIK und der haben-MIK ein grundsätzlicher Unterschied in der theoretischen Behandlung dieser Konstruktionen. Der theoretisch-deskriptive Vorzug der Infinithypothese wird schließlich noch durch einen weiteren Befund aus dem Umfeld der haben-WllYL gestützt. Bei Modalen Infinitkonstruktionen, bei denen ein zw-Infinitum in der Umgebung von haben auftritt, sind nämlich zwei Konstruktionstypen zu unterscheiden. Der erste ist die eigentliche habenMIK (19), der zweite eine 0-MIK, die als Attribut zu einem direkten Objekt von haben fungiert (20). (19)

Paul hat seiner Mutter zu helfen.

Kapitel 3 (20)

47

[Was unsere Vorräte angeht:] Wir haben noch zwei Fische zu essen.

Wie in Kapitel 2 bereits festgestellt, muss man beide Fälle, in denen jeweils haben und ein ZH-Infinitum vorliegen, unterscheiden. In (19) stellt haben ein Auxiliar dar, das ein Infinitkomplement selegiert. Der Satz hat eine modale Bedeutung, die auf die MÜSSENInterpretation beschränkt ist, und das logische Subjekt des Infinitums fungiert als syntaktisches Subjekt des Gesamtsatzes. (20) lässt hingegen neben einer Analyse, die parallel zu der für (19) skizzierten verläuft, eine zweite Analyse zu. Danach liegt mit haben das Vollverb mit possessiver Bedeutung vor, das ein direktes Objekt selegiert. Die Infinitkonstruktion wird nicht von haben selegiert, sondern bildet ein Adjunkt, das als Attribut des direkten Objekts fungiert. Klarstes Indiz dafür ist, dass in (20) das Infinitum für die Vollständigkeit und Grammatikalität des Satzes nicht obligatorisch ist, im Gegensatz zu (19), vgl. (21). (21) a. *Paul hat seiner Mutter. b. Wir haben noch zwei Fische. Was die modale Bedeutung der Possessivkonstruktion in (20) angeht, die, wie die nichtmodale Konstruktion in (21b) beweist, erst durch das zw-Infinitum ins Spiel kommt, so ist eine KÖNNEN- und eine MÜSSEN-Interpretation möglich. Das logische Subjekt des Infinitums schließlich ist blockiert und nicht unbedingt referenzidentisch mit dem Matrixsubjekt, so dass von einem passivischen Charakter der Infinitkonstruktion gesprochen werden kann, vgl. (22). (22)

Wir haben noch zwei Fische, die gegessen werden können/müssen.

Damit aber deutet alles daraufhin, dass in der Possessivkonstruktion in (20) eine passivische MIK vorliegt. Dies bestätigt auch die Möglichkeit der Transformation in die entsprechenden anderen passivischen MIK-Typen, vgl. (23). Wenn (23a) auch den am wenigsten eleganten Weg darstellt, den beschriebenen Sachverhalt auszudrücken, ist dieser Satz doch nicht ungrammatisch. (23) a. Wir haben noch zwei zu essende Fische. b. Wir haben noch zwei Fische, die zu essen sind. Da in der Possessivkonstruktion aber kein Auxiliar auftritt (haben ist dort ja possessives Vollverb), und der modalpassivische Charakter allein durch das zw-Infinitum induziert wird, liegt eine adjungierte 0-MIK vor. Das ist bemerkenswert, da bisher nur 0-MIK mit pränominalem zw-Infinitum betrachtet wurden, bei denen das Infinitum mit dem Bezugsnomen kongruiert und deshalb Nominalflexion aufweist. Durch das Beispiel der Possessivkonstruktion in (20) wird allerdings klar, dass modalpassivische zu-Infinita auch ohne Flexion und damit äußerlich ununterscheidbar von gewöhnlichen nichtmodalen zw-Infinitiven auftreten können. Dabei beschränkt sich das Vorkommen solcher modalpassivischer flexionsloser zuInfinita aber nicht auf die genannten postnominalen attributiven Fälle in der Umgebung

15

Vgl. dazu schon die Analysen in Behaghel (1923:332) und Ebert (1976:113) sowie außerdem Demske (2001:70) und Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit.

48

Eine kompositioneile Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

von haben, vielmehr tritt ein entsprechendes zw-Infinitum auch in appositiver oder subjektsprädikativer Funktion auf, vgl. (24a) bzw. (24b). (24) a. Die Texte, unterhaltsam und auch für Lerner der Grundstufe leicht zu verstehen, finden Sie außerdem auf unserer Webseite als Audiodatei, b. Eben wegen des Nebels noch kaum zu sehen, stand er mit einem Mal gut sichtbar am anderen Ufer und rief. Dieser Befund hat weit reichende Konsequenzen: Erstens stellt er die Analyse von v. Stechow (2004) in Frage, wonach in der pränominalen 0-MIK das -¿/-Affix für den modalpassivischen Charakter verantwortlich ist, weil es offenkundig auch passivische 0 MIK ohne -¿/-Affix gibt. Zweitens ermutigt der Befund zur Annahme, dass auch bei der sez'rt-MIK ein zw-Infinitum vorliegt, das modalpassivische Eigenschaften hat, obwohl es in der phonetischen Realisierung nicht von nicht-modalen zw-Infinitiven zu unterscheiden ist. Und drittens spricht nichts dagegen, dass die Verhältnisse bei der haben-MIK durch die Annahme eines Modalauxiliars haben, das einen 2. Status mit keinerlei konstruktionsspezifischen Merkmalen regiert, adäquat erfasst sind. Damit aber findet die Infinithypothese mit allen benannten Konsequenzen empirische Unterstützung.

3.2 Die beteiligten kompositioneilen Bestandteile 3.2.1

D a s zw-Infinitum der s e m - M I K

Durch die Aufdeckung der Differenz zwischen der haben-MIK und der Possessivkonstruktion, die als haben + 0-MIK zu analysieren ist, fand sich Evidenz für die Annahme eines modalpassivischen zw-Infinitums, das phonetisch nicht von nicht-modalpassivischen zw-Infinitiven zu unterscheiden ist. Dies ist von großer theoretischer Bedeutung, da die Auxiliarhypothese vor allem deshalb so prominent ist, weil von deren Vertretern kaum in Zweifel gezogen wird, dass in MIK grundsätzlich die gleiche Verbalform vorliegt, wie etwa in (25)-(26). (25) a. Paul scheint zu schlafen. b. Sie bedauert, eingeschlafen zu sein. (26)

Morgens eine Stunde Zeitung zu lesen, bedeutet für mich, den Tag gut zu beginnen.

Der zw-Infinitiv in den Sätzen unter (25)-(26) ist eine Verbalform mit rein verbalen Merkmalen und unterscheidet sich vom bloßen Infinitiv durch den Infinitivmarker zu. Der Infinitivmarker besitzt keine lexikalischen Eigenschaften und hat im Gegenwartsdeutschen lediglich die Funktion der Statuskennzeichnung. Die Opposition von 1. und 2. Status bzw. bloßem Infinitiv und zw-Infinitiv ist dabei rein strukturell und vor allem für die Statusrektionsbeziehung von Bedeutung. Auch für die Kohärenzeigenschaften ist der Statusunterschied wesentlich. So geht der 1. Status stets mit Kohärenz einher, während zw-Infinitive in kohärenten wie auch in inkohärenten Konstruktionen (vgl. (25a-b)) auftreten können. Reis (2001:310) unterscheidet drei Grade von Kohärenz: (i) obligatorische

Kapitel 3

49

Kohärenz aufgrund des 1. Status, (ii) obligatorische Kohärenz aufgrund von Anhebung im 2. Status, und (iii) fakultative Kohärenz bei Kontrolle im 2. Status. Dabei liegt bei (i) „starke Kohärenz" und bei (iii) „schwache Kohärenz" vor.16 Modale Infinitkonstruktionen, bei denen das interne Argument an die Subjektposition angehoben wird, zählen offenbar zum Typus (ii) und sind demnach obligatorisch kohärent, aber nicht stark kohärent. Bei einer näheren Betrachtung fallt jedoch auf, dass das zw-Infinitum der MIK keine komplexen Formen zulässt. Dass die Bildung von Infinitiv Passiv, wie er in anderen Umgebungen wie etwa unter (27) auftritt, ausbleibt, ist dabei freilich erwartbar, wenn man bedenkt, dass bereits in der Konstruktion mit nicht-komplexem zw-Infinitum in (28a) ein Passivtrigger vorhanden ist. (27) a. Sie scheint fotografiert zu werden. b. Sie bedauert, fotografiert zu werden. c. Sie muss fotografiert werden. (28) a. Sie ist zu fotografieren. b. *Sie ist fotografiert zu werden/zu sein. Nicht unbedingt zu erwarten ist jedoch, dass es auch keinen Infinitiv Perfekt gibt, wenigstens wäre ein Auftreten in der MÜSSEN-Interpretation parallel zum müssen-Fall in (29c) denkbar. (29) a. Er scheint sie fotografiert zu haben. b. Er bedauert, sie fotografiert zu haben. c. Er muss sie bis morgen fotografiert haben. (30)

*Sie ist (bis morgen) fotografiert zu sein/zu haben/worden zu sein.

Interessanterweise ist dagegen bei der haben-MIK nicht nur Infinitiv Passiv (31), sondern teils auch Infinitiv Perfekt (32) möglich, auch wenn im Falle unakkusativischer Verben (32c) die Bewertung schlechter als bei transitiven Verben ausfällt. (31) a. Das Buch hat bis morgen gelesen zu werden. b. Das Buch hat bis morgen gelesen zu sein. c. Anna hat bis morgen das Geschenk überreicht zu bekommen. (32) a. Ein Germanist hat das Nibelungenlied gelesen zu haben, b. Anna hat das Buch bis morgen gelesen zu haben. 16

18

Zu Kohärenz/Restrukturierung beim 2. Status als graduelles Phänomen s. Wurmbrand (2002), Grosse (2005). Wie sich in Abschnitt 4.7 zeigen wird, sind es jedoch nur Oberflächenphänomene, die bei passivischen MIK von Kohärenz sprechen lassen, da eigentlich keine zwei verbalen Domänen involviert sind. Allerdings zeigen Modalverbkonstruktionen mit Infinitiv Perfekt Tendenz zu epistemischer Interpretation, s. etwa Diewald (1999:368ff.), die Konstruktionen mit Infinitiv Perfekt eine wesentliche Rolle zur systematischen Herausbildung epistemischer Modalverbverwendungen zuschreibt. Epistemische Verwendungen von modalpassivischen MIK sind aber ausgeschlossen. Vgl. dazu auch die Diskussion in 4.7.

50

Eine kompositionelle Analyse für die Modalen

Infinitkonstruktionen

c. ? Die Versuche haben bis morgen gelungen zu sein. Es bleibt zu fragen, weshalb das zw-Infinitum in der se/w-MIK keine Vorzeitigkeit ausdrücken kann. Die kohärenten Konstruktionen in (29a,c) zeigen, dass sich die Restriktion nicht aus der Kohärenz der Konstruktion ableiten lässt. Es bieten sich zwei Erklärungen an: Die erste semantisch motivierte Erklärung könnte darin bestehen, die deontische Interpretation der se/'w-MIK nicht unabhängig von der dispositionellen K.ÖNNENBedeutung zu sehen. Es liegt nämlich im Wesen dispositioneller Modalität, dass das Aktualisierungsereignis zum Zeitpunkt der Geltung der Disposition noch nicht abgeschlossen ist. Zwar kann die Disposition in der Vergangenheit bereits beliebige Male aktualisiert worden sein, zum Zeitpunkt, in dem eine zu lösende Aufgaben gelöst werden kann, muss es aber immer noch mögliche Aktualisierungen in der Zukunft geben. Deshalb tragen Dispositionsaussagen „quasi-futurische" Züge. Nun wird im folgenden Kapitel für die These argumentiert, dass die deontische MÜSSEN-Interpretation und die dispositionelle KÖNNEN-Interpretation aus derselben semantischen Grundstruktur ableitbar sind. Damit aber würde die deontische MÜSSEN-Interpretation der sem-MIK anders semantisch repräsentiert als die deontische Variante des Modalverbs müssen, und es wäre gut möglich, dass das strukturelle Korrelat des „Futur-Effekts" dabei nicht nur bei der KÖNNEN-Interpretation, sondern auch bei der MÜSSEN-Interpretation der MIK virulent ist. Dazu passt, dass die se/w-MIK neben der deontischen auch eine teleologische MÜSSEN-Interpretation hat, die ähnlich wie die dispositionelle Interpretation per se Zukunftsbezug hat, da die Modalisierung durch erst noch zu erreichende Ziele bestimmt wird. Ob diese semantische Erklärung tatsächlich greift, kann allerdings erst überprüft werden, wenn die semantische Analyse eingehender in Kapitel 4 diskutiert ist. Es ist aber auch eine syntaktische Begründung für die Unzulässigkeit von Infinitiv Perfekt in se/rc-MIK denkbar. Nach Demske-Neumann (1994) habe sich die se/w-MIK teils aus prädikativen Infinitiven, so genannten Small Clauses, teils aus prädikativen Adjektivkonstruktionen mit Infinitiv, so genannten tough wovewewí-Konstruktionen, entwickelt. Dabei trete der Infinitiv der íe/κ-ΜΙΚ erst im Frühneuhochdeutschen als reanalysierte verbale Form auf, in den beiden Vorgängerkonstruktionen habe der Infinitiv die kategorialen Merkmale [+V,+N] gehabt und sei daher adjektivisch gewesen. Deutet man die Ungrammatikalität des Infinitiv Perfekt in der ,se/«-MIK als Indiz für den nicht voll entwickelten verbalen Charakter des Infinitums, könnte man dem ReanalyseSzenario von Demske-Neumann folgend erwägen, dass die Reanalyse - wenigstens bei 19 der se/w-MIK noch nicht vollständig vollzogen ist. Das zw-Infinitum der se/«-MIK würde demnach im Gegenwartsdeutschen eher verbaladjektivischen Partizipien als verbalen Infinitiven oder den partizipialen Bestandteilen des Verbalparadigmas gleichen. Die Partizipialkonstruktionen in (33) zeigen, dass bei anderen Vorkommen verbaladjektivischer Partizipien auch keine komplexen Formen zulässig sind. (33) a. *der gespielt habende Pianist b. *das gespielt werdende Klavier 19

Allerdings geht Demske-Neumann selbst davon aus, dass das zw-Infinitum in der sem-MIK rein verbale Eigenschaften hat.

Kapitel 3

51

c. *das repariert seiende/wordene Klavier d. *der abgefahren seiende Tourist Aufgrund dieser Eigenschaft von Partizipien lässt sich - anders als bei Infinitiven im Gegenwartsdeutschen - der Unterschied zwischen Gleich- und Nachzeitigkeit vs. Vorzeitigkeit nicht systematisch ausdrücken. Während in (34a) mit dem Partizip I eine Handlung denotiert wird, die sich gleichzeitig zu dem Geschehen ereignet, das durch das finite Verb bezeichnet wird, liegt in (34b) bei der gleichen Partizipialform Vorzeitigkeit vor. (34) a. Paul steht rechnend an der Tafel. b. Eben noch rechnend, lag Paul nun bewusstlos am Boden,

(gleichzeitig) (vorzeitig)

Gleiches lässt sich beim Partizip II (35) feststellen, aber auch bei der 0-MIK (36): (35) a. Von 80 Sklaven gezogen, glitt der Steinblock die Rampe hinauf. (gleichzeitig) b. Über 2 km von Sklaven gezogen, wies der Block nun starke Schleifspuren auf. (vorzeitig) (36) a. Paul stand, wegen des Nebels nur undeutlich zu erkennen, am anderen Ufer und rief. (gleichzeitig) b. Eben wegen des Nebels noch kaum zu sehen, stand er mit einem Mal gut sichtbar am anderen Ufer und rief. (vorzeitig) Man beachte, dass die Sätze in (36) wiederum Beispiele für eine 0-MIK sind, bei der das zw-Infinitum ohne -¿/-Affix auftritt und damit in gleicher Gestalt wie der zw-Infinitiv erscheint. Dass die Unzulässigkeit des Ausdrucks von Vorzeitigkeit tatsächlich kategoriale Gründe hat, zeigen auch die substantivierten Infinitive in (37), wobei diese von den diskutierten zw-Infinita dadurch strikt zu trennen sind, dass die nominalisierten Infinitive keinen lexikalischen Kasus zuweisen und deshalb keine verbalen kategorialen Merkmale besitzen. (37) a. Er glaubte, ihr Kommen hinge mit ihm zusammen. a'. *Er glaubte, ihr Gekommen-Sein hinge mit ihm zusammen, b. Er wurde vor allem wegen seines guten Abschneidens in Latein geehrt, b'. *Er wurde vor allem wegen seines guten Abgeschnitten-Habens in Latein geehrt. Die Unzulässigkeit von Infinitiv Perfekt könnte also durchaus ein Hinweis darauf sein, dass das zw-Infinitum der se/«-MIK in seiner syntaktischen Struktur von zw-Infmitiven, die üblicherweise Infinitiv Perfekt zulassen, zu unterscheiden ist. Einen weiteren Beleg fur diesen Unterschied könnte aber auch eine genauere Betrachtung der Infinitpartikel zu ergeben. Es wurde eingangs darauf hingewiesen, dass der 20

Vgl. dazu auch Weber (2000). Davon zu unterscheiden sind freilich phrasale Nominalisierungen wie in (i): (i) Dieses ewige Von-allem-nichts-gewusst-haben nehme ich euch nicht mehr ab.

52

Eine kompositìonelle Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

Infinitivmarkierer zu in (nicht-modalen) zw-Infmitiven rein strukturelle Funktion hat. Das zw-Infinitum in modalpassivischen MIK zeigt jedoch eine gewisse Ähnlichkeit mit präpositionalen zw-Infmitiven, in denen zu durchaus eine eigene lexikalische Bedeutung zukommt. Präpositionale zw-Infinitive bestehen aus der Präposition zu und einem substantivierten, d.h. rein nominalen Infinitiv. Dabei gibt es Fälle, bei denen eine Paraphrase möglich ist, die von modalpassivischen MIK bekannt ist, vgl. (38)-(39): (38)

A. Was für einen Koffer suchen Sie? B. Ich suche einen Koffer zum Ziehen. = Ich suche einen Koffer, der gezogen werden kann.

(39)

Sie verteilt Arbeitsblätter mit Bildern zum Ausmalen. = ... mit Bildern, die ausgemalt werden können/müssen

In beiden Beispielen fungiert der präpositionale zw-Infinitiv als Attribut und denotiert eine dispositionelle Eigenschaft des Bezugsnomens. Einmal wird ein Koffer als ein Gegenstand spezifiziert, den man ziehen kann, das andere Mal geht es um Bilder, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ausgemalt werden können. Durch einen geeigneten Kontext ist bei (39) auch eine wöj5e«-Paraphrase möglich. Wie bei modalpassivischen MIK auch, ergibt sich diese Interpretation, wenn kontextuell eine externe Instanz gegeben ist, die die Aktualisierung dieser Disposition gebietet. Der passivische Effekt liegt bei präpositionalen zw-Infmitiven in attributiver Verwendung allerdings nicht systematisch vor, wie etwa (40) zeigt. (40)

Junger Mann zum Mitreisen gesucht. = Junger Mann gesucht, der mitreist/mitreisen kann.

In manchen Fällen sind auch eine aktivische und eine passivische Variante gleichermaßen möglich, wie etwa in der in (41a) genannten Konstruktion. Die Belege in (41b) und (41c) machen die Interpretationsunterschiede deutlich - während in (41a) die PP zum Fotografieren aktivisch zu verstehen ist (vgl. 41b'), ergibt sich bei (41c) eine passivische Paraphrase, wie in (41c') dargestellt. (41) a. Endlich hatte er jemanden zum Fotografieren. b. Sie benötigen jemanden zum Fotografieren Ihrer Feiern, Feste oder sonstiger Angelegenheiten? (Internetbeleg)22 b'. sie benötigen jemanden, der fotografiert c. „Da ich endlich mal jemanden zum Fotografieren hatte", hab ich mich mal an Portraitfotografie versucht. (Internetbeleg)23 c\ ich hatte endlich jemanden, der fotografiert werden konnte/musste Neben der attributiven Interpretation des präpositionalen ZM-Infinitivs ist prinzipiell auch eine adverbiale möglich. Häufig sind beide strukturellen Deutungen zugänglich. So lässt sich der zw-Infinitiv in (42a) entweder als Attribut zusammen mit dem Bezugsnomen topikalisieren (42b) oder aber als Adverbiale alleine ins Vorfeld bewegen (42c). 22 23

Vgl. http://www.jackofspades.de (04.03.2009) Vgl. http://forum.worldofplayers.de/forum/showthread.php?t=76123&page=20 (04.03.2009)

Kapitel 3

53

(42) a. Wir suchen eine Studentin zum Fotografieren. b. Eine Studentin zum Fotografieren suchen wir nicht mehr. c. Zum Fotografieren suchen wir keine Studentin mehr, aber zum Filmen. In der adverbialen Deutung bietet sich weniger eine dispositionelle oder deontische als vielmehr eine finale Paraphrase an, die in (43a) für die aktivische, in (43b) fur die passivische Interpretation gegeben ist. (43) a. Wir suchen eine Studentin, damit sie fotografiert, b. Wir suchen eine Studentin, um sie zu fotografieren. Es sind also weniger die Argumentverhältnisse, die einen Vergleich von passivischen MIK und präpositionalen zw-Infinitiven so suggestiv machen, als vielmehr der jeweils intensionale Charakter des präpositionalen zw-Infinitivs, der durch die modalen Paraphrasen zum Ausdruck kommt. Auch wenn sich bei diesen präpositionalen zw-Infinitiven unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten ergeben, lässt sich für diese übereinstimmend feststellen: Der zw-Infinitiv drückt jeweils eine dispositionelle Eigenschaft aus, die dem Bezugsnomen bzw. dem Nomen, das in der Finalparaphrase erneut als externes oder internes Argument auftritt, zukommt. Dabei wird die Aktualisierung kontextuell als a) nur möglich, b) als von einer Instanz geboten, die die Aktualisierung nicht selbst herbeiführt, oder c) als von der Person beabsichtigt, die die Aktualisierung selbst herbeifuhrt, dargestellt. Dadurch aber zeichnen sich recht ähnliche semantische Verhältnisse wie bei modalpassivischen MIK ab. Die parallele Betrachtung gewinnt noch mehr an Überzeugungskraft, wenn man sich klar macht, dass sowohl bei passivischen MIK als auch bei den präpositionalen zwInfinitiven eine Intentionalitätsbedingung gilt. Das logische Subjekt des Aktualisierungsgeschehens muss intentionsbegabt sein, andernfalls ist die Konstruktion ungrammatisch. Die Beispiele in (44)-(46) belegen dies. (44) a. Ich suche eine Kletterpflanze, die schnell wachsen kann/soll/muss, b. *Ich suche eine Kletterpflanze zum (schnellen) Wachsen. (45)

*Für eine geeignete/von einer (geeigneten) Kletterpflanze ist schnell zu wachsen.25

(46) a. *Wir stellten Fahnenmasten zum Säumen der Straße auf. b. Wir stellten Fahnenmasten auf, damit diese die Straße säumten. Während die bisher betrachteten präpositionalen zw-Infinitive als Attribut oder Adverbiale fungierten, gibt es auch zwei Konstruktionstypen mit prädikativem zw-Infinitiv. Der erste ist konsekutiv zu interpretieren und erzwingt eine wimew-Paraphrase, vgl. (47): (47) a. Die Situation ist zum Weinen. = Man muss angesichts der Situation weinen, b. Der Hund ist zum Knuddeln. = Man muss den Hund knuddeln. 24

Für die finale Deutung kommen nur die Varianten b) und c) in Frage. Man vergleiche aber: (i) Eine geeignete Kletterpflanze hat schnell zu wachsen.

54

Eine kompositioneile Analyse für die Modalen

Infinitkonstruktionen

In den beiden wössen-Paraphrasen liegt jeweils dispositionelles müssen vor. Die gegebene Situation bzw. ein bestimmter Hund zeichnen sich dadurch aus, dass man nicht anders kann als zu weinen bzw. den Hund zu knuddeln. Hier liegt demnach eine Art von modaler Bedeutung vor, die bei MIK nicht auftritt, wie die entsprechende sew-MIK in (48) zeigt. (48)

Der Hund ist zu knuddeln.

Satz (48) lässt sich entweder so interpretieren, dass der Hund hinsichtlich seiner Beschaffenheit und anderer in der Welt geltender Fakten geknuddelt werden kann, oder dass er hinsichtlich gewisser Gebote oder eigener Ziele des logischen Subjekts geknuddelt werden muss. Es liegt also eine dispositionelle KÖNNEN-Interpretation bzw. eine deontische/teleologische MÜSSEN-Interpretation vor, doch keine dispositionelle MÜSSEN-Interpretation, die vergleichbar wäre mit der konsekutiven Konstruktion in (47). Obwohl die Konstruktion mit konsekutiven präpositionalen zw-Infinitiven, die als Prädikativum auftreten, an der Oberfläche große Ähnlichkeit mit der sew-MIK aufweisen, unterscheiden sich beide Konstruktionen also semantisch deutlich voneinander, wenngleich zumindest auch eine dispositionelle Interpretation vorliegt. Etwas anders ist dies bei einem weiteren Konstruktionstyp. Hier tritt der zw-Infinitiv auch als Prädikativum auf, er gleicht in seinem Bedeutungsspektrum allerdings stark dem modalpassivischen zw-Infinitum, vgl. (49). (49) a. Diese Tropfen sind zum Schlucken, und die anderen dort zum Inhalieren. b. Diese Tropfen kann man schlucken, und die anderen dort kann man inhalieren. c. Diese Tropfen muss man schlucken (wenn man gesund werden will), und die anderen dort muss man inhalieren (wenn man gesund werden will). d. Diese Tropfen muss man auf Weisung des Experimentleiters schlucken, und die anderen dort inhalieren. Die drei Paraphrasen geben die dispositionelle KÖNNEN-, die teleologische MÜSSEN- und die deontische MÜSSEN-Interpretation wieder. Insofern gleichen sie in ihrem modalen Spektrum exakt der sezVz-MIK. Es gibt jedoch einen Unterschied, der an der Oberfläche nicht sichtbar ist, und der damit zusammenhängt, dass der präpositionale zw-Infinitiv als Prädikativum fungiert, während die Struktur der sez'«-MIK eine Anhebungsstruktur ist. Der Unterschied macht sich daran fest, dass die Konstruktion mit dem präpositionalen zw-Infinitiv keine ,de dicto'-Lesart zulässt, vgl. (50). Anders verhält sich dies bei der se/n-MIK, vgl. (51). (50)

Zwei von diesen drei Medikamenten sind zum Schlucken. => de re: Es gibt unter diesen Medikamenten zwei, für die gilt: Man kann/muss sie schlucken. Φ> de dicto: Man kann/muss folgendes: zwei beliebige von diesen drei Medikamenten schlucken.

(51 )

Zwei von diesen drei Medikamenten sind zu schlucken. => de re: Es gibt unter diesen Medikamenten zwei, für die gilt: Man kann/muss sie schlucken.

Kapitel 3

55

=> de dicto: Man kann/muss folgendes: zwei beliebige von diesen drei Medikamenten schlucken. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass präpositionale zw-Infinitive in mancherlei Hinsicht Parallelen zu MIK aufweisen: Sie haben eine intensionale Bedeutung und verweisen auf ein Verbalgeschehen, das eine dispositionelle Eigenschaft aktualisiert. Das logische Subjekt dieses Verbalgeschehens muss intentionsbegabt sein. Es sind sowohl müssen- als auch ¿öMweH-Paraphrasen möglich. Dabei gibt es einen Konstruktionstyp, bei dem das zw-Infinitum als Prädikativum fungiert, und der wie die se/w-MIK „modalpassivisch" ist und die drei MIK-typischen Interpretationen zulässt. Diese Ergebnisse verleihen nicht nur einer Analyse eines modalpassivischen zw-Infinitums Überzeugungskraft, sondern auch einem Ansatz, wonach der eigentlich modalpassivische Kern der MIK das Element zu ist. Dabei ist klar, dass sich auch nach einer solchen Analyse das modalpassivische zu deutlich von der intensionalen Präposition zu abgrenzt. Das modalpassivische zu selegiert keine Nomina, sondern ein Infinitum, das in jedem Fall (wenigstens zum Teil) verbale Merkmale besitzt, wie sich etwa an der unveränderten Zuweisung von lexikalischem Kasus zeigt. Außerdem kann es Skopus über das Argument haben, das als syntaktisches Subjekt fungiert, so dass es dieses in einer syntaktischen Repräsentation c-kommandiert, was bei der Präposition zu nicht der Fall ist. Ziel des vorliegenden Abschnitts ist jedoch lediglich, Argumente fur eine bestimmte kompositioneile Analyse von MIK vorzustellen, die im Weiteren in einem ausführlicheren semantischen und syntaktischen Teil in systematischerer Weise untersucht werden. Keinesfalls sollen die hier vorgestellten Beobachtungen Ausgangspunkt einer sprachhistorischen Rekonstruktion Modaler Infinitkonstruktionen bilden. Insbesondere ist eine Einordnung des zw-Infinitums in eine Entwicklungsgeschichte des zw-Infmitivs, an die man in Erinnerung an die These von Haspelmath (1989) denken könnte, nicht beabsichtigt. Dort wird fur das Auftreten inkohärenter zw-Infinitivkomplemente eine zeitliche Entwicklung postuliert, wie der Grammatikalisierungspfad unter (52) darstellt. (52) Grammatikalisierungspfad von zu (nach Haspelmath

1990:298)

benefactive . allative

>

purposive

irrealisdirective

.

irrealis. . · , - > potential

realisnon-factive

(realis^ ~ factive)

causative

Demnach setzte das Aufkommen so genannter irrealis-potentialer Komplemente, zu denen Haspelmath Komplemente modaler Prädikate wie ,be necessary', ,be able' oder ,be possible' zählt, voraus, dass bereits irrealis-direktive Komplemente, die von Verben des Bittens, Forderns und Befehlens selegiert werden, existieren. Die realis-non-faktiven Verwendungen (53a), die Komplemente der Verben des Denkens und Assertierens darstellen, und die realis-faktiven Verwendungen (53b) als Komplemente von inferentiellen 26

Wenigstens zur syntaktischen Geschichte der modalpassivischen MIK sei dazu auf die fundierte Studie in Demske-Neumann (1994) verwiesen.

56

Eine kompositioneile Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

Verben wie wissen, feststellen oder herausfinden stehen nach Haspelmath an noch späteren Punkten der Entwicklungsgeschichte. (53) a. in dûhte daz im al diu lant...warn bekant (Parzival 590, 7) ,er dachte, dass ihm all die Länder ... bekannt waren' b. ?*Sie stellte fest, in einer schwierigen Lage zu sein. (nach Haspelmath 1989:300)27 Demske (2001) hat allerdings gezeigt, dass Haspelmaths Versuch, die Entwicklungsschritte der Grammatikalisierung des deutschen zw-Infinitivs zu datieren, klar widerlegt werden können. Schon im Althochdeutschen lassen sich etwa Belege fur den realis-nonfaktiven Typus finden, der nach Haspelmaths Modell erst im Frühneuhochdeutschen zu erwarten wäre (vgl. Demske 2001:72). Außerdem spricht gegen Haspelmath, dass im Althochdeutschen bei vielen Verben wie z.B. Kontrollverben eine funktionale bzw. semantisch motivierte Trennung zwischen bloßem und zw-Infinitiv nicht gegeben ist. Dies betrifft allerdings nur Infinitivkomplemente. Für adverbiale und prädikative Verwendungen gilt dies nicht. Dort ist nach Demske (2001) die Wahl des zw-Infinitivs durch die finale Bedeutung des Infinitivmarkierers semantisch motiviert. Darunter fallen aber auch die Vorgängerkonstruktionen gegenwartsdeutscher Modaler Infinitkonstruktionen, so dass danach wenigstens in früheren Sprachstufen der modale Charakter der MIK auf die Bedeutung von zu zurückgeführt werden kann. Betrachtet man allerdings das offenbar residuale Muster für Modalkonstruktionen mit bloßem Infinitiv wie in (54), ist nicht auszuschließen, dass entweder auch in diesem Bereich die Trennung von 1. und 2. Status nicht immer ganz scharf war, oder dass auch die Kategorie des Infinitivs, der im Indoeuropäischen selbst Direktionalität und Finalität ausdrückte, einen semantischen Beitrag leistete. (54) a. Hier ist gut leben. b. Du hast leicht lachen. Auch die Sätze unter (55)-(56) lassen eine solche Beziehung zwischen dem Infinitiv und einer direktionalen bzw. finalen Bedeutung erkennen, und auch hier treten synchron beide Infinitivvarianten in recht ähnlichen strukturellen Kontexten auf. In jedem Fall fungieren beide Infinitivkonstruktionen als Adjunkt. (55) a. Wir gehen essen. b. Paul geht Bier holen. (56)

Paul ging hinaus, Bier für alle zu holen.

Die aufgezeigten Parallelen - gerade auch in Fällen, die weniger restriktive Verwendungsbedingungen aufweisen - zwischen präpositionalem zw-Infinitiv und modalpassivischem zw-Infinitum sind jedoch so sprechend, dass sie eine Analyse, die zu einen stär-

27

Der von Haspelmath als (16a) aufgezeichnete Satz (53b) ist als möglicherweise zweifelhaft gekennzeichnet, was sich auch darin niederschlägt, dass die letzte Stufe der ,realis-faktiven' Verwendung in Haspelmaths Grammatikalisierungspfad (vgl. (52)) eingeklammert ist.

Kapitel 3

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keren Einfluss auf die Konstruktion denn als bloßer Statusmarkierer zuweist, plausibel machen. 28 3.2.2

D a s - ¿ / - A f f i x in d e r 0 - M I K

Wie schon deutlich wurde, sind die Überlegungen zum zw-Infinitum in der sez'n-MIK auch für die Deutung der 0 - M I K fruchtbar. Die semantischen Parallelen zu präpositionalen zw-Infinitiven sind für die 0 - M I K ebenso relevant, zumal auch die Verbindung zu attributiven und adverbialen zw-Infinitiven aufgezeigt wurde. Außerdem macht die Nominalflexion in pränominaler Position ohnehin deutlich, dass das zw-Infinitum der 0 MIK verbaladjektivische Eigenschaften hat und damit wenigstens in dieser Hinsicht ein Unterschied zu nicht-modalen zw-Infinitiven gegeben ist. Allerdings tritt bei pränominalen zw-Infinitiven neben der Flexion ein -¿/-Affix auf, dessen Status vorderhand ungeklärt ist. Strukturell scheint eine Parallele zum Partizip I gegeben, wie (57) zeigt. (57) a. die zu lösen-d-en Aufgaben b. die die Aufgaben lösen-d-en Schüler Nach Toman (1986:400) liegt in beiden Fällen ein phrasales Affix -end vor, das als INFL-Element an die Verbalphrase herantritt. Dass das -d- allerdings in beiden Fällen unterschiedlichen Status hat, wird klar, wenn man die Konstruktionen in (58) vergleicht, in denen die Partizipien in subjektsprädikativer Funktion auftreten. (58) a. Eben noch Witze erzählen-d, lag Paul nun schwer atmend auf dem Boden, b. Aus der Ferne kaum zu bemerken-0, schoss der Fotograf seine Bilder. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei postnominalen attributiven Vorkommen der Partizipien, in denen, wie bereits im Zusammenhang mit der Possessivkonstruktion bemerkt wurde, das Infinitum nicht kongruiert, vgl. (59). (59) a. Sie hatte ihren Vater, leicht gebeugt und sich beständig am Bart zupfen-d, sofort erkannt. b. Man riss das Haus, seit langem baufällig und kaum mehr zu verkaufen-0, endlich ab. Während beim Partizip I das -¿/-Morphem unabhängig von Funktion und Position des Partizips auftritt, findet sich das -¿/-Affix beim zw-Infinitum nur in der kongruierenden pränominalen Position. Dieses muss beim zw-Infinitum deshalb einen anderen Status als beim Partizip I haben. In v. Stechow (2004), wo die Auxiliarhypothese vertreten wird, findet sich der Vorschlag, diesem -¿/-Morphem analog zu sein in der se/w-MIK die modalpassivischen Eigenschaften der 0 - M I K zuzuschreiben. Diese Lösung führt zu zwei unbefriedigenden Ergebnissen: Erstens bleibt weiterhin ungeklärt, wie die genannten Konstruktionen mit zw-Infinita, die ohne -d- und ohne sein auftreten, zu ihrer modalpassivischen Eigenart kommen. Denn die Option, diese Fälle als Ellipsen zu erklären, fallt aus, wie die Sätze in (60) demonstrieren:

28

Entsprechende Auffassungen finden sich auch ansatzweise in Leys (1977), Wunderlich (1997) und Abraham (2004).

58

Eine komposìtionelle Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

(60) a. *Wir haben noch zwei Fische zu essen seiend/seiende. b. ?*Aus der Ferne kaum zu bemerken seiend, schoss der Fotograf seine Bilder. c. ?*Sie reißen das Haus, seit langem baufällig und kaum mehr zu verkaufen seiend, endlich ab. (60a) ist gänzlich ungrammatisch, (60b) und (60c) fuhren zwar zu keinem so strikten Urteil, doch ist das sez'n-Partizip dort ebenfalls unangemessen und wirkt nicht besser motiviert als wenn man ein solches zur Ergänzung des Adjektivs baufällig in entsprechender Funktion annähme. Neben diesen systematischen Folgerungen aus der Annahme eines modalpassivischen -¿/-Affixes bleibt ein zweiter Vorbehalt. Es zeigt sich nämlich keine unabhängige Erklärung dafür, wie das -¿/-Affix zu seinen modalpassivischen Eigenschaften kommen soll, weshalb sich das modalpassivische -d- und das modalpassivische sein in so auffalliger Weise in ihren Eigenschaften gleichen und wie darüber hinaus der suggestive Zusammenhang zwischen Partizip 1 und pränominaler 0-MIK erfasst wird. Plausibler scheint eine Deutung, die auf den Annahmen der Infinithypothese basiert. Falls in der sew-MIK ein modalpassivisches zw-Infinitum vorliegt, ist die ökonomischste komposìtionelle Interpretation fur alle 0-MIK, egal ob mit -¿/-Affix oder ohne, dass auch dort die modalpassivischen Eigenschaften der Konstruktion durch das zw-Infinitum induziert werden. Das -¿/-Affix hingegen ist weder Trigger für Argumentblockierung noch trägt es modale Bedeutung, wie dies ja auch nicht beim Partizip I der Fall ist. Dennoch zeigt, wie bereits erwähnt, das -d-Affix der 0-MIK nicht exakt das gleiche Verhalten wie das -¿/-Affix beim Partizip I, da es bei der 0-MIK nur in pränominaler Position auftritt. Das -¿/-Affix erscheint somit nur dann, wenn beim zw-Infinitum Infinit- und Kongruenzmorpheme aufeinander treffen. Eine plausible Erklärung scheint deshalb zu sein, dass das -¿/-Affix in der 0-MIK sprachhistorisch als Analogiebildung zum pränominalen Partizip I zu verstehen ist. Dazu ist zu bemerken, dass die pränominale 0-MIK mit -d-Affix erst seit dem frühen 17. Jahrhundert belegt ist.29 Bis dahin trat die attributive 0-MIK nur in postnominaler Funktion auf, wo sie - wie auch im Gegenwartsdeutschen - keine Kongruenzflexion aufwies. Was auch immer das Aufkommen dieser Konstruktion verursacht haben mag, so ist doch anzunehmen, dass sich die Herausbildung des pränominalen Modells auf der Vorlage des Partizip I vollzog. Dennoch führte die Analogie nicht so weit, dass sich das -¿/-Morphem auch dort hätte ausbreiten können, wo es bereits bestehende Konstruktionsmodelle gab. Als Folge davon ließe sich das -¿/-Affix in der 0-MIK synchron als Element analysieren, das beim zw-Infinitum regelmäßig auftritt, wenn es flektiert wird. Damit ist einerseits der Parallele zum Partizip I Rechnung getragen, andererseits aber auch geklärt, weshalb dieses Affix nicht in allen unregierten Fällen, d.h. in allen attributiven und adverbialen Varianten auftritt. Der Beitrag des -¿/-Affix lässt sich demnach auf 29

Bei Eckert (1909:23) findet sich ein Erstbeleg für das Jahr 1603, im Korpus von DemskeNeumann für 1609 (vgl. Demske-Neumann 1994:170) Die Kongruenzmorphologie ist nicht mit der Kasusmorphologie zu verwechseln, die die Vorgängerkonstruktionen gegenwartsdeutscher MIK tragen konnten. Diese war dadurch induziert, dass der Infinitivmarkierer noch präpositionalen Charakter hatte. Zu entsprechenden Erklärungsversuchen s. Demske-Neumann (1994:170ff.).

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59

rein morphologische Gründe zurückfuhren, so dass es als Auslöser des modalpassivischen Charakters der 0-MIK ausgeschlossen werden kann.

3.2.3

Der kompositionelle Beitrag von sein

In der bisherigen Diskussion wurden die stärksten Argumente fur die Infinithypothese aus Daten zu 0-MIK, bei denen sich Evidenz für ein modalpassivisches zw-Infinitum fand, und aus dem Vergleich mit präpositionalen zw-Infinitiven gewonnen. Ein genauerer Blick auf das Auxiliar der sezM-MIK macht jedoch auch deutlich, dass diesem kaum modale Bedeutung zugeschrieben werden kann. Diagnostisch sind in diesem Fall besonders Koordinationsfalle wie in (61). (61) a. Sie ist werktags von 10 bis 16 Uhr besetzt und über die - närrische und gut zu merkende - Telefonnummer 29 11 11 (Fax 29 15 16) zu erreichen. (Mannheimer Morgen, 10.09.1994) b. „Das Gelände ist gut zu erreichen und auch zur Kernstadt optimal gelegen", lobten die Codic-Leute im Ausschuß das Gesamt-Projekt. (Mannheimer Morgen, 02.05.1991) c. Fragen zu ihrem Alkoholkonsum sind tabu und (tunlichst) zu unterlassen. Ließe sich ein modalpassivisches Lexem sein von der nicht-modalen Kopula bzw. einem nicht-modalen Auxiliar unterscheiden, wäre zu erwarten, dass sein zweimal auftritt: einmal als nicht-modale Kopula bzw. Auxiliar, das besetzt bzw. optimal gelegen regiert und einmal als Modalauxiliar. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall, so dass daraus gefolgert werden kann, dass es sich in beiden Fällen um das gleiche Lexem handelt, und sein nicht modal ist. Auch scheinen die Daten gegen sein als Passivauxiliar zu sprechen. Wenigstens sind vergleichbare Fälle bei werden nicht möglich, wie (62) zeigt. (62)

*Anton wurde geschlagen und (deshalb) sehr traurig.

Eher sind die Daten in (61) so zu deuten, dass der passivische Charakter der passivischen MIK mit sein verträglich ist, als dass er tatsächlich von ihm induziert wird. Ein Vergleich von sew-MIK mit Modalverbkonstruktionen zeigt auch, dass sein getilgt werden kann (63a), während dies für Modalverben nicht gilt, vgl. (63b-c). Damit gleicht das Auxiliar in der se/M-MIK weniger Modalverben als vielmehr anderen Vorkommen von nicht-modalem sein, wie sie in (63d-e) illustriert sind. (63) a. b. c. d. e.

[A: Kommt Grit auch mit?] B: Mmh - das ist anzunehmen/schwer zu sagen. B: *Das kann man annehmen/schwer sagen. B: *Das kann angenommen werden/(nur) schwer gesagt werden. B: Das ist fraglich/unklar/mir nicht bekannt. B: Mmh - die ist krank geworden/nicht eingeladen.

60

Eine kompositioneile Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

Ebenso kann sein im Gegensatz zu Modalverben auch in diskursinitialen Sätzen getilgt werden, vgl. (64).32 (64) a. Es ist kaum zu glauben, dass dies das Ende sein soll. b. Dieses Auto ist zu verkaufen [Aufschrift auf einem Gebrauchtwagen] c. Das ist noch zu erledigen [Notiz auf einem Aktenstapel] Trotzdem muss betont werden, dass mit dem zw-Infmitum in der se/'«-MIK kein Prädikativum vorliegt und sein deshalb als Auxiliar und nicht als Kopula zu analysieren ist. In diesem Sinne gibt es einen strukturellen Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen in (65). (65) a. Die Texte sind zu lesen, b. Die Texte sind leserlich. Indiz für diesen Unterschied ist, dass in (66) nur die sem-MIK eine ,de dicto'Interpretation zulässt, während in der Konstruktion mit leserlich stets ein modales Prädikat auf das syntaktische Subjekt angewendet wird. (66) a. Zwei von diesen drei Texten sind zu lesen. de re: Für zwei bestimmte Texte von diesen dreien gilt: man kann sie lesen. (nämlich: Text A & Text C) de dicto: Man kann folgendes: zwei beliebige Texte von diesen dreien lesen, (nämlich: A&B oder A&C oder B&C) b. Zwei von diesen drei Texten sind leserlich. de re: Für zwei bestimmte Texte von diesen dreien gilt: man kann sie lesen, (nämlich: A&C) *de dicto: Man kann folgendes: zwei beliebige Texte von diesen dreien lesen, (nämlich: A&B oder A&C oder B&C) Entsprechend denotiert leserlich stets eine Disposition, die einem Individuum zukommt, während im Fall der sem-MIK auch über Aktualisierungsereignisse gesprochen werden kann, die nicht allein von den Eigenschaften der Texte, sondern auch von anderen Umständen (beispielsweise einer beschränkten Zeitvorgabe) abhängig sind. Eine ,de dicto'Interpretation, wie sie die je/w-MIK zulässt, ist aber nur möglich, wenn in einer syntaktischen Repräsentation das syntaktische Subjekt zwei von diesen drei Texten vom Modal ckommandiert wird. Wie dies genau syntaktisch zu analysieren ist, wird in Kapitel 5 dargestellt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass es sich bei der sew-MIK um eine Anhebungsstruktur handelt, während dies bei leserlich nicht der Fall ist. 32

Man beachte, dass Konstruktionen wie unter (i)-(iii) keine Modalverbellipsen darstellen, vgl. Reis (1995, 2003:297): (i) Radfahrer rechts abbiegen! (ii) Einmal Rom sehen! (iii) Wohin sich wenden? Besonderheit dieser Konstruktionen ist, dass sie nicht mit deklarativem Satzmodus einhergehen, was ebenfalls ein Unterschied zu den Sätzen unter (61) ist. Die modale Bedeutung in den Sätzen (i)-(iii) resultiert aus dem illokutiven Potential.

Kapitel 3

61

Dass es sich bei dem zw-Infinitum in der sej'w-MIK um kein Prädikativum handelt, wird auch an den Beispielen in (67a-b) offenkundig. So sind in der se/w-MIK Sätze ohne syntaktisches Subjekt möglich, während dies etwa für das Prädikativum schön nicht gilt, vgl. (67c). (67) a. Ihm ist zu helfen. b. Heute ist zu singen. c. *Heute ist schön. Dies kommt auch in der Ungrammatikalität von (68) zum Ausdruck, wo beide Fälle miteinander kollidieren. (68) *Es war heiß und viel zu arbeiten. So fungiert sein als Auxiliar und ermöglicht die Ausbildung der entsprechenden funktionalen Kategorien, die für die Satzwertigkeit der Konstruktion nötig sind und die das zuInfinitum als partizipiales Infinitum, das nicht rein verbale Merkmale aufweist, nicht selbst projizieren kann. Dabei trägt sein weder modale Bedeutung, noch fungiert es als Passivtrigger, das ein aktivisches Komplement selegiert und dies passiviert. Semantisch leistet sein aber den Beitrag, den es nach Maienborn (2003:222) auch als Kopula in Prädikativkonstruktionen leistet: Es fuhrt ein referentielles Argument für einen Zustand ein, der in unserem Falle durch das Zutreffen der modalen Relation charakterisiert ist.33 Eine solche Analyse verträgt sich auch mit der Möglichkeit des Auftretens modalpassivischer MIK in Nachbarschaft von bleiben, wie in (69). (69) a. Es bleibt anzumerken, dass Peter fehlte, b. Diese Aufgabe bleibt zu lösen. Wenngleich die 2>/eiZ>ew-Konstruktion anscheinend restriktiver als die se¿«-MIK ist,34 lässt sich die Konstruktion kompositionell so deuten, dass bleiben nicht nur ein referentielles Argument fur einen Zustand einfuhrt, sondern zugleich denotiert, dass dieser Zustand in einer Vorphase bereits bestanden hat. Interessanterweise tritt das zw-Infinitum aber nicht mit werden auf, das als weitere Kopula zunächst als geeigneter Kandidat erscheint. Damit ergibt sich etwa ein Kontrast zwischen dem modalpassivischen zwInfinitum und der dispositionellen -èar-Bildung, die, wie (70b,d) zeigt, als Prädikativum zu werden zulässig ist. (70) a. b. c. d.

*Durch diesen Hinweis wurde die Aufgabe zu lösen. Durch diesen Hinweis wurde die Aufgabe lösbar. *Gegen 11 Uhr wurde der Watzmann zu sehen. Gegen 11 Uhr wurde der Watzmann sichtbar.

Bis ins Frühneuhochdeutsche hinein sind aber Konstruktionen mit werden und zuInfinitum belegt, wie die Beispiele unter (71) zeigen (vgl. Demske-Neumann 1992:76; Bsp. (112a-c)). 33

34

In der semantischen Analyse in Kapitel 5 wird von dieser Zustandsvariablen abgesehen, so dass dort sein vereinfacht als semantisch leer betrachtet wird. Vgl. Höhle (1978:48ff.).

62

Eine kompositionelle Analyse für die Modalen

Infinitkonstruktionen

(71) a. iz wirdit iu zi wissanne (Otfrid IV,11,28; um 863/71) ,es wird euch zu wissen' b. wä er im ze vindenne wart (Erec 5574; 1180) ,wo er ihm zu finden wurde' c. so bald das inen zu wissen wurt (Geiler-Artikel 158,21; 1501) ,so bald das ihnen zu wissen wurde' Allerdings handelt es sich bei diesen Konstruktionen nach Demske-Neumann (1994) um Kopula-Prädikativ-Konstruktionen, wie dies auch bei den -¿ar-Bildungen der Fall ist. So liegt der Verdacht nahe, dass die Unverträglichkeit von werden mit dem modalpassivischen zw-Infinitum im Gegenwartsdeutschen eine Folge von dessen verändertem (Anhebungs-)Charakter ist. Da das gegenwartsdeutsche zw-Infinitum die Basisposition für das syntaktische Subjekt stellt, liegt in der se/'w-MIK keine modale Eigenschaft, sondern eine modale Proposition vor. Der Unterschied zwischen den beiden Strukturen ist demnach folgender: Im Fall der Prädikativkonstruktion werden zwei Mengen via Prädikatsmodifikation geschnitten, nämlich die Denotatsmenge des syntaktischen Subjekts und die des Prädikats. Während dabei ein Prädikat auf das Subjekt angewandt wird, wird im Falle der gegenwartsdeutschen modalpassivischen MIK eine (modalisierte) Proposition auf eine Situation angewandt. Dieser Bezug auf eine Auswertungssituation wird durch das Auxiliar sichergestellt. Mit dem statischen Charakter der modalisierten Proposition sind die ebenfalls statischen Lexeme sein und bleiben verträglich, nicht aber werden mit seinem Vorgangscharakter. Tritt werden dagegen als Kopula mit einem modalen Prädikat auf, zeigt es an, dass die Gesamtproposition in einer Situation gilt, die Teil eines Intervalls ist, dessen rechtes Ende ein Zeitpunkt bildet, zu dem das modale Prädikat gilt.

3.2.4 Der kompositioneile Beitrag von haben Über haben in Verbindung mit Modalen Infinitkonstruktionen ist bereits gesagt worden, dass man die haben-MIK (72a) und die Possessivkonstruktion mit 0 - M I K (72b) unterscheiden muss. (72) a. Wir haben der Mutter zu helfen, b. Wir haben drei Brote (zu essen). Der kompositioneile Beitrag von haben in der Possessivkonstruktion ist klar. Dort fungiert haben als Vollverb und zeigt eine Besitzrelation an. In (72a) stellt haben hingegen ein Auxiliar dar, das ein Infinitivkomplement selegiert. Dieses Auxiliar hat - anders als sein - eine modale Semantik. Entsprechend sind Koordinations-Fälle wie die unter (73) ausgeschlossen, bei denen haben im einen Konjunkt als nicht-modales haben (als Vollverb oder Perfektauxiliar) und im anderen Konjunkt als modales haben fungiert. (73) a. *Paul hat viel Arbeit und seiner Mutter zu helfen. b. *Paul hat erst Fußball gespielt und jetzt seiner Mutter zu helfen. Auch wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Komplement des Auxiliars haben ein nicht-modaler zw-Infinitiv ist, bei dem sowohl unakkusativische Verben (74a) auftreten können als auch Infinitiv Passiv (74b,c) und Infinitiv Perfekt (74d).

63

Kapitel 3 (74) a. b. c. d.

Die Gans hat noch vor Weihnachten zu sterben. Das Haus hat renoviert zu werden, bevor es neu vermietet wird. Das Haus hat renoviert zu sein, bevor es neu vermietet wird. Ein Germanist hat das Nibelungenlied gelesen zu haben.

Die modale Bedeutung ist auf MÜSSEN-Interpretationen beschränkt, wobei neben deontischen (75a) und teleologischen (75b) auch definitorische Redehintergründe (75c) möglich sind. (75) a. Paul hat pünktlich zu sein. b. Zum Gipfel hatten wir noch 200 Meter aufzusteigen. c. Ein echter Lottokönig hat schon etwas mehr zu gewinnen/gewonnen zu haben als nur 30 Euro. Damit gleicht die haben-MIK in stärkerem Maße Modalverbkonstruktionen: Die Konstruktion ist aktivisch, das Infinitkomplement ist ein rein verbaler Infinitiv -wenngleich dieser ein zw-Infinitiv und kein bloßer Infinitiv ist - , und es gibt neben der MÜSSENkeine KÖNNEN-Interpretation wie bei den modalpassivischen MIK. Allerdings lässt haben keine epistemischen oder evidentiellen Lesarten zu und unterscheidet sich darin von den klassischen Modalverben, aber auch von modalverbartigen Ausdrücken an der Peripherie wie (nicht) brauchen, bei dem epistemische Lesarten möglich sind, vgl. (76) vs. (77). (76) a. Nur weil das Licht brennt, braucht Paul noch lange nicht zu Hause sein, b. Paul braucht nicht der Mörder zu sein. Peter hat ja auch kein Alibi.

(ep) (ep)

(77) a. Nur weil das Licht brennt, hat Paul noch lange nicht zu Hause sein. b. Paul hat nicht der Mörder zu sein. Peter hat ja auch kein Alibi.

(*ep) (*ep)

Dies ist auch ein wichtiger Unterschied zur englischen have to-Konstruktion, die epistemische Lesarten zulässt. Allerdings spielt have to im englischen Modalsystem eine andere Rolle, da es aufgrund des defektiven Formenparadigmas von must wesentliche Funktionen von letzterem übernimmt und damit auch die Lücke von flektierten epistemischen Notwendigkeitsmodalen schließt. Auf den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang von Possessivkonstruktion mit 0 - M I K und der haben-MIK. mit modalem haben wird bereits von Ebert (1976) in seiner Untersuchung der infiniten Komplementation im Frühneuhochdeutschen hingewiesen. Ebert nennt drei Konstruktionstypen, deren erster mit unserer Possessivkonstruktion mit 0 - M I K identisch ist: „From a synchronic point of view, haben occurs (1) in the meaning ,possess, have' in a shared-object construction; (2) as a modal predicate with the infinitive of intransitive verbs or verbs with dative or genitive objects and (3) in constructions with verbs that take accusative object, with a blending of shared-object and modal characteristics. Historically the development must have been (1)>(3)>(2)." (Ebert 1976:113).35 Zuletzt sei auf einige transitive Verben hingewiesen, die in Parallelkonstruktionen zur Possessivkonstruktion mit 0 - M I K auftreten. Hier ist in erster Linie die Konstruktion mit 35

Vgl. auch Behaghel (1923:332), Demske (2001:70).

64

Eine kompositionelle Analyse für die Modalen Infinitkonstruktionen

es gibt zu nennen, die ähnlich geringe Restriktionen wie die Possessivkonstruktion aufweist. Wie die Beispiele unter (78) zeigen, ist das zw-Infinitum modalpassivisch und fungiert als Attribut zum direkten Objekt. (78) a. b. c. d.

Es gibt viel zu tun. Es gibt noch drei Flaschen Bier zu trinken. Hier gibt es nichts zu sehen. *Es gibt ihr zu helfen.

Im weiteren finden sich auch Konstruktionen mit geben, sowohl mit belebtem Subjekt (79a-c) als auch mit unbelebtem Subjekt (79d), wobei sich für letztere kaum andere Beispiele als mit zu denken finden, so dass diese Konstruktion als idiomatisch bezeichnet werden kann. (79) a. b. c. d.

Er gab uns einige Aufsätze zu lesen. Er gab uns zu spüren, dass wir unerwünscht waren. Er gab zu bedenken, dass Peter schon gestern krank ausgesehen habe. Das gab uns allen zu denken.

Daneben gibt es Fälle mit bekommen/kriegen, wie sie unter (80) dargestellt sind. (80) a. Wann haben Sie das Erdbeben zu spüren bekommen? (Hörbeleg) b. Paul kriegt die Verträge als erster zu lesen. In allen diesen Fällen lassen sich die strukturellen und semantischen Verhältnisse auf die Eigenschaften eines modalpassivischen zw-Infinitums zurückführen, so dass damit ein letztes Argument für die Infinithypothese gegeben ist. Vertritt man die Auxiliarhypothese, müsste man nämlich neben den Modalen sein und haben zudem modale Varianten von es gibt, geben, bekommen und kriegen annehmen, das modale Passivauxiliar bleiben nicht zu vergessen.

3.3 Zusammenfassung Im vorliegenden Kapitel wurde der Frage nachgegangen, welchen kompositionellen Beitrag das involvierte sprachliche Material in den verschiedenen Modalen Infinitkonstruktionen leistet. Daraus ergab sich, dass die Annahme von modalpassivischem zu in den passivischen MIK {sein- und 0-MIK) und von modalem haben in der aktivischen haben-MIK zu den besten Ergebnissen führt, was Ökonomie und Erklärungsadäquatheit angeht. Dabei fungiert sein in der se/w-MIK dennoch nicht als Kopula, sondern als Auxiliar, dessen Funktion sich allerdings auf die Ausbildung der notwendigen sententialen Projektionen bzw. die Einfuhrung eines referentiellen Zustandsarguments beschränken lassen. Entsprechend tritt in den modalpassivischen MIK ein spezifisches zw-Infinitum auf, das von den sonst bekannten zw-Infmitiven zu unterscheiden ist. Dieses zw-Infinitum trägt sowohl in der se/rc-MIK als auch in der 0-MIK kategorial verbale und nominale/adjektivische Züge, es hat also tendenziell partizipialen Charakter. Das -¿/-Affix der pränominalen 0-MIK hat lediglich die Eigenschaft, das Flexiv zu begleiten, das für

Kapitel 3

65

adjektivische pränominale Attribute notwendig ist. Es ist wahrscheinlich sprachhistorisch bei der Herausbildung der pränominalen Verwendung auf der Vorlage des Partizip IMusters aufgekommen. In der haben-MIK tritt schließlich - anders als in der se/w-MIK ein zw-Infinitiv von der Art auf, wie er auch aus anderen kohärenten Anhebungskonstruktionen bekannt ist.

4 Die semantische Analyse passivischer Modaler Infinitkonstruktionen

Im folgenden Kapitel soll die Bedeutung passivischer MIK systematisch untersucht werden. Wie in den vorhergehenden Kapiteln bereits dargestellt, lässt sich dabei der seinMIK weitgehend die gleiche Bedeutung wie der 0 - M I K zuweisen. Das zentrale Ziel ist dabei vor allem, die logische Struktur der modalen Bedeutung genauer zu untersuchen und damit zu verstehen, wodurch die strukturelle Mehrdeutigkeit bezüglich KÖNNENund MÜSSEN-Interpretation ermöglicht wird. Es wird sich zeigen, dass zum tieferen Verständnis der spezifischen modalen Bedeutung vor allem der Status dispositioneller Modalität und dabei insbesondere die Semantik von können in dispositioneller Lesart geklärt werden muss, so dass die weitere Untersuchung über das begrenzte Feld Modaler Infinitkonstruktionen hinausweist. Aufbauend auf die Ergebnisse von Kapitel 3 wird die modale Bedeutung mit dem Modalaffix zu in Verbindung gebracht. Dabei stellt zu ein spezifisches dispositionelles Modal dar, das aber auch vor bestimmten Redehintergründen interpretiert werden kann, die als deontische oder teleologische Ordnungsquelle fungieren. Aufgrund der hier vorgeschlagenen semantischen Struktur von Dispositionalen ergibt sich daraus die bekannte Mehrdeutigkeit hinsichtlich einer KÖNNEN- und einer MÜSSEN-Interpretation. Die Analyse erlaubt außerdem, Besonderheiten bei modalpassivischen MIK in Verbindung mit bestimmten Verbtypen und im Negationsverhalten zu erklären. Schließlich wird versucht, die Beschränkung auf zirkumstantielle Lesarten, die es etwa bei Modalverben so nicht gibt, mit den Ergebnissen in Einklang zu bringen. Eine abschließende Bewertung dieses Vorschlags wird allerdings erst die Implementierung in eine syntaktische Analyse in Kapitel 5 erlauben.

4.1 Die Semantik von Modalen nach Kratzer (1991a) Im einleitenden Überblick über die Semantik Modaler Infinitkonstruktionen wurden bereits die Kategorien modale Kraft, modale Basis und Ordnungsquelle als Parameter der semantischen Analyse von Modalen eingeführt. Die fur diese Begriffe grundlegende Theorie von Kratzer (1991a) wird im Folgenden kurz dargestellt, da sie den Rahmen fur die weitere Analyse bildet. Kratzers Theorie stellt insofern einen modallogischen Ansatz dar, als sie die Bedeutung von können und müssen auf zwei Grundoperationen zurückfuhrt, die sich mit den 1

Diese strukturelle Mehrdeutigkeit ist de facto häufig durch ko- und kontextuelle Faktoren sowie durch stereotype Interpretationen disambiguiert.

Kapitel

67

4

Modaloperatoren ,0' und , • ' ausdrücken lassen. Diese modalen Relationen kann man auch als Existenzquantifikation bzw. Allquantifikation über intensional zugängliche Welten deuten, so dass etwa eine Proposition ρ in einer Welt w genau dann möglich ist, wenn es eine von w aus zugängliche Welt w' gibt, in der ρ gilt. Die Proposition ρ ist andererseits in einer Welt w genau dann notwendig, wenn für jede von w aus zugängliche Welt w' zutrifft, dass in ihr ρ gilt. Die Zugänglichkeitsrelation ist in Kratzers Theorie ein Redehintergrund, d.h. eine Menge von kontextuell gegebenen Propositionen. So kann man auch sagen, dass aus einem bestimmten Redehintergrund die Proposition ρ genau dann folgt, wenn ρ notwendigerweise gilt, und andererseits, dass ρ mit einem bestimmten Redehintergrund genau dann verträglich ist, wenn ρ möglich ist. Dieser Redehintergrund, der modallogisch betrachtet als Zugänglichkeitsrelation fungiert, bildet die modale Basis. Bei Kratzer werden zirkumstantielle modale Basen („in Hinsicht auf die relevanten Umstände in der Auswertungswelt w") und epistemische modale Basen („in Hinsicht auf das, was wir wissen in w") diskutiert. Sie teilen beide die Eigenschaft, dass sie realistische Redehintergründe sind, insofern als sie nur Propositionen aufweisen, die auch in w gelten. Daraus ergibt sich, dass vor diesen Hintergründen jede Auswertungswelt von sich selbst aus zugänglich ist. Modallogisch handelt es sich dabei also um reflexive Zugänglichkeitsrelationen. Nicht-realistische Redehintergründe sind etwa deontische oder präferentielle Redehintergründe: Nicht jede existierende Welt ist auch eine, die den Geboten oder Präferenzen genügt. Deontische oder präferentielle Redehintergründe fungieren allerdings nicht als modale Basis, sondern als Ordnungsquelle. Da auch die Ordnungsquelle von einem Redehintergrund gebildet wird, handelt es sich hier ebenso um eine Menge von Propositionen. Diese Menge wählt nun aber keine zugänglichen Welten aus wie die modale Basis, sondern sie induziert eine partielle Ordnung über die von der modalen Basis bestimmte Potenzmenge der zugänglichen Welten. Die drei Dimensionen sollen noch einmal anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Es gelte (1) in einer Welt w. (1)

Paul muss Klavier spielen.

Dabei lässt (1) mehrere Interpretationen zu, je nach den kontextuell gegebenen Redehintergründen. Zunächst lässt sich aber einmal davon unabhängig die Bedeutung von (1) so angeben, dass es in irgendeiner Hinsicht notwendig ist, dass Paul Klavier spielt. Dem entspricht die Grundbedeutung von müssen, wobei in der vereinfachten Form in (2) nur ein Redehintergrund bei der Interpretation involviert ist.2 (2)

\müsseri\'f

[p)=

1 gdw.

Vw[w e H / ( w )

ue ρ]

=1

Hinsichtlich eines Redehintergrundes / der z.B. aus einer Menge von relevanten Umständen besteht, die in unserer Auswertungswelt w gelten, ist die modalisierte Gesamtproposition genau dann wahr in w, wenn folgendes zutrifft: Jede Welt u, die in Hin2

Im Folgenden gelten jeweils folgende Konventionen bei der Verwendung von Variablen: w, u, ν, z werden für Welten verwendet, x, y für Individuen, / g für Redehintergründe,/?, q und a für Propositionen.

Die semantische Analyse passivischer Modaler Infinitkonstruktionen

68

sieht auf diesen fur die Auswertungswelt w spezifizierten Redehintergrund f(w) zugänglich ist, ist auch eine Welt, in der ρ gilt. Wenn der Redehintergrund also z.B. aus den in w geltenden Fakten gebildet wird, dass Paul ein Klavier in seiner Umgebung sieht und dass Paul gesund ist, dann gilt fur jede Welt, in der dies zutrifft, ebenso, dass Paul Klavier spielt. Das Beispiel wirkt noch etwas unnatürlich, was zum einen daran liegt, dass der propositionale Gehalt des als modale Basis fungierenden zirkumstantiellen Redehintergrunds sehr stark reduziert ist, zum anderen aber daran, dass bislang kein zweiter Redehintergrund in der Funktion als Ordnungsquelle ins Spiel gekommen ist. In (3) tritt nun mit g ein weiterer Redehintergrund hinzu, der als Ordnungsquelle fungiert. (3)

\müssenY'f "g (p) = 1 gdw. V « [ [ « e n / ( w ) & - , 3 v [ v e n / ( w ) & v < t W « ] ] - * w e p~\ =1

Die Ordnungsquelle g ordnet die Elemente der Potenzmenge der zugänglichen Welten Π/(w) in Welten, die näher, und solche, die weiter von einem bestimmten Ideal entfernt sind. Mit dieser metaphorischen Redeweise ist gemeint, dass manche Welten mehr Propositionen der Menge g wahr machen als andere. Für unsere Zwecke genügt es, davon auszugehen, dass es tatsächlich auch immer Welten gibt, die näher an diesem Ideal sind als andere. In manchen Fällen, die aber für die in dieser Arbeit betrachteten Modalisierungen keine Rolle spielen, muss dies jedoch nicht der Fall sein, weshalb Kratzer (1991a) eine komplexere Bedeutungsexplikation als in (3) angibt. Die Formel in (3) ist dann so zu lesen, dass die modalisierte Gesamtproposition in w hinsichtlich der modalen Basis / und der Ordnungsquelle g genau dann wahr ist, wenn Folgendes gilt: Jede Welt u, die hinsichtlich flw) zugänglich ist und fur die außerdem gilt, dass es keine zugängliche Welt ν gibt, die näher an dem von der Ordnungsquelle g(w) etablierten Ideal ist, ist zugleich eine p-Welt. In unserem Beispiel sei g nun eine Menge von Präferenzen von Paul, die beschreiben, was er gerne macht. Dazu zählen: Tauchen, Schafkopf spielen, Klavier spielen, Rotwein trinken. Demnach gilt, dass Paul hinsichtlich seiner Präferenzen in w Klavier spielen muss, wenn gilt, dass jede zugängliche Welt, die möglichst viele von Pauls Präferenzen wahr macht, zugleich eine Welt ist, in der Paul Klavier spielt. Offensichtlich ist, wenn (1) wahr ist, Pauls Präferenz, Klavier zu spielen, stärker als die anderen, wenigstens dann, wenn wir, wie in unserem Fall, über Welten sprechen, in denen er ein Klavier in seiner Umgebung sieht. Wäre dem nicht so und es genauso möglich, dass Paul in dieser Situation lieber Rotwein trinkt, wäre (1) zu stark und wir müssten (4) formulieren. (4)

3

Paul kann Klavier spielen.

Vgl. Kratzer (1991a:644): „A proposition ρ is a necessity in a world w with respect to a modal base f and an ordering source g iff the following condition is satisfied: For all ue nf(w) there is a ve nf(w) such that ν