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German Pages 252 [251] Year 2015
Mit den Worten rechnen
Ulrike Ramming (Dr. phil.) ist Stipendiatin am Institut für Philosophie der
Universität Stuttgart. Sie lehrt Philosophie an der Universität Stuttgart und an der PH Ludwigsburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Medien-, Sprach- und Zeichenphilosophie sowie Themen der analytischen und kulturphilosophischen Theorie des Geistes.
ULRIKE RAMMING
Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff
[transcript]
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Inhalt
Einleitung I 1 2
Schrift als Medium und die Medialität von Schrift Schrift als Mittel und sprachunabhängiges Medium Die Medialität von Schrift
II
Kalküle als schriftbasierte Medien Fonnale Begriffe als Inbegriff eines skriptmalen Typus' von Begriffen Was bedeutet es, etwas als schriftlich zu charakterisieren?
2
7 19
22 71
121 122 187
Schluss
231
Literatur
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Gliederung
247
Einleitung
Die vorliegende Studie lässt sich als Darstellung und kritische Kommentierung philosophischer Positionen lesen, die in unterschiedlicher Weise das formalschriftliche Zeichen thematisieren. Unter dieser Bezeichnung sollen schriftliche Symbole und Symbolsysteme verstanden werden, die ftir den Aufbau logischer, mathematischer und ähnlicher Notationen verwendet werden. In die philosophische Diskussion wurden derartige Symbolsysteme unter der Bezeichnung »typographische Schriften« eingeführt und ihre Bedeutung ftir die Entwicklung der Mathematik herausgearbeitet. Ludwig Wittgenstein, so ließe sich die Argumentationslinie fortführen, setzt in seinem Tractatus logico-philosophicus die Visualität dieses Zeichentypus' gezielt ein, um mit der Fonnulierung fonnaler Begriffe eine Lösung für das Problem der Selbstreflexivität von Aussagen zu formulieren. Und Nelson Goodman behandelt logische Symbole als Inskriptionen, als singuläre graphische Marken, über die er eine nominalistische Syntax aufbaut, welche die Grundlage seines konstruktionalen Beschreibungssystems in The Structure of Appearance darstellt. Allein Jacques Derrida, mit dessen Schriftphilosophie sich das zweite Kapitel dieses Buches auseinander setzt, fällt aus diesem Argumentationsschema heraus: Derrida hat sich an keiner Stelle seines Werkes mit jenem Typus graphisch-schriftlicher Zeichen beschäftigt, die für den Aufbau formaler Systeme benötigt werden. Lediglich in einem Unterkapitel der Grammatologie (Derrida 1990: 132 ff.) geht er auf die im 17. Jahrhundert prominent gewordene Idee einer Universalschrift oder grammatica universalis ein. Seine Diskussion der unterschiedlichen Konzeptionen dieser Idee bei Descartes und Leibniz konzentriert sich auf den Nachweis, dass diese einem doppelten, theologischen und chinesischen, Vorurteil unterliegen. Sie folgen dem "Mythos einer ursprünglichen und natürlichen, von Gott gegebenen Schrift" (ebd.: 133) und orientieren sich an einer Vorstellung von der chinesischen Schrift, die diese als das ausgezeichnete "Modell philosophischer und damit der Geschichte entzogener Sprache" auffasst. Derridas Argumentation konzentriert sich also auf den Nachweis, dass auch die lingua characteristica, obwohl es sich bei ihr um einen nicht-
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phonetischen Schrifttypus handelt, von jenem Logozentrismus geprägt ist, den er für die gesamte Tradition der griechisch-okzidentalen Metaphysik konstatiert (ebd.: 140). Wenn Derridas schriftphilosophische Arbeiten somit für die Diskussion typographischer Schriften nichts beitragen, so dient das Vorhandensein eines eigenen Kapitels zu Derrida einem anderen Zweck: In ihm soll der Frage nachgegangen werden, was es überhaupt bedeutet, ein Zeichensystem, in diesem Fall fonnale oder typographische Schriften, in der Philosophie als Medium zu thematisieren. Dieser letzte Aspekt verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil in der aktuellen philosophischen Diskussion weder die Bedeutung des Ausdrucks »Medium« geklärt ist noch Einigkeit darin besteht, was unter dem theoretischen Unterfangen einer Medienphilosophie überhaupt zu verstehen ist. Übereinstimmung besteht nur darüber, dass Medien auch in der Philosophie nicht vernachlässigt werden dürfen und dass die Philosophie einen unverzichtbaren Beitrag zur allgemeinen Diskussion leisten kann. Zu den tennirralogischen Defiziten, die in der momentanen Diskussion zu beobachten sind, hat Lambert Wiesing jüngst bemerkt, dass es leichter zu bestimmen sei, was kein Medium ist, als Kriterien festzulegen, nach denen Gegenstände als Medien zu identifizieren wären. Die Theorieabhängigkeit der jeweils verwendeten Medienbegriffe habe zur Folge, dass beinahe alles als Medium gelten kann. Begriffstheoretisch lässt sich der Sachverhalt so formulieren: Eine nicht eindeutig eingegrenzte Intension des Begriffs hat eine in die Beliebigkeit zu gleiten drohende Extension zur Folge. "In der Tat scheint die Situation derart zu sein, daß die Medienwissenschaft zwar von ausgesprochen vielen, aber doch zumindest gleichermaßen weiten, ja teilweise sogar entgrenzten Medienbegriffen bestimmt ist - von Medienbegriffen, die sich vom alltäglichen Verständnis des Mediums als Kommunikationsmittel bedenklich entfernt haben." (Wiesing 2005: 149) Die von Wiesing konstatierte Entgrenzung der Bedeutung des Medienbegriffs muss dabei, paradoxerweise, nicht in Widerspruch stehen zu willkürlichen Bedeutungseinschränkungen: "[ ... ] der Begriff bezeichnet oft nur elektronische Medien, gelegentlich wird er gar ganz auf das Feld des Leitmediums Fernsehen in allen seinen neuen technischen Facetten eingeengt." (Wiegerling 1998: 6) Eine andere Bedeutung konzentriert sich vorrangig auf die Dimension der materiellen, physischen Trägersubstanzen. (Vgl. Sachs-Hornbach 2003: 220; Schwemmer 1997: 49) Während sich derartige Überlegungen ausschließlich auf der semantischen Ebene bewegen, weist die konstatierte Vagheit des Medienbegriffs aber noch in andere Richtungen. So hat Stefan Hoffmann aus begriffsgeschichtlicher Perspektive festgestellt, dass "Veränderungen in den fachsprachlichen Semantiken ihre Ursache vor allem in der wissenschaftlichen ArbeitamBegriff [haben] [ ... ] Für das Wort Medium gilt das heute in besonderem Maße: Es ist ein Terminus in verschiedenen Wissenschaften und es ist gleichzeitig ein schillerndes Wort der Umgangssprache. Wer am Begriff Medium arbeiten will, muß diesen Umstand berücksichtigen." (Hoffmann 2002: 11)
EINLEITUNG
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Konrad Ehlich hat für den Sachverhalt eines die Fachgrenzen übergreifenden Begriffs, der zugleich in den jeweiligen Fachterminologien über einen festen Platz verfügt, die Fonnulierung »wissenschaftliche Alltagssprache« eingeführt: "Die Fonnulierung ,wissenschaftliche Alltagssprache' scheint paradox zu sein: Die Qualifizierung einer Varietät von Wissenschaftssprache als Alltagssprache scheint gerade der Opposition zu widersprechen, die dem Reden von Wissenschaftssprache zugrundeliegt Insofern mag sie als unangemessen erscheinen. Wissenschaftssprache unterscheidet sich ja gerade dadurch von der alltäglichen Sprache, daß sie - insbesondere in ihren lexikalischen Elementen - grundlegende Bestimmungen aufgegeben hat, die die alltägliche Sprache kennzeichnen: deren Vagheit einerseits, andererseits aber auch ihre Flexibilität und schließlich eine weitgehende Undurchsichtigkeit der kommunikativen Strukturen im Prozeß ihrer Aktualisierung [ ... ] Im Gedanken der alltäglichen Wissenschaftssprache wird [ ... ] die wissenschaftliche Kommunikation als eine spezifisch sprachliche Veranstaltung emstgenommen. Sie hat teil an jenen in der Terminologiebildung eliminierten Kennzeichen alltäglicher Kommunikation, die für deren Gelingen offenbar unabdingbar sind. Für die Wissenschaftssprache bedeutet dies, daß in ihr drei Aspekte ungeschieden ineinander liegen, die auch sprachanalytisch schwer zu unterscheiden sind: Elemente der alltäglichen Sprache, Elemente der alltäglichen Wissenschaftssprache und terminologische Elemente." (Ehlich 1996: 954, Sp. 1 f.)
So scheint die Notwendigkeit, die Bedeutung des Ausdrucks »Medium« festzulegen, ein Desiderat innerhalb der einzelnen Fach- und Theoriekontexte darzustellen, in denen er Verwendung findet. Zugleich deutet die Vagheit des Ausdrucks darauf hin, dass es sich bei »Medium« um einen die Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen übergreifenden Terminus handelt. Eine weitere Dimension fügt Christoph Hubig hinzu, wenn er, im Anschluss an Josef König, den Ausdruck »Medium« als absolute Metapher bestimmt: "[ ... ] die Rede von der absoluten Metapher [zielt] auf eine unersetzbare Größe. Es ist hiermit ein unbedingter Anfang gemeint als Anfang eines Denkens, dessen >Trieb< darauf geht, die Wurzeln seines V orstellens zu erhellen, ohne diesem Vorstellen bereits zu erliegen [ ... ] Solche Metaphern sind zwar zu explizieren, aber nicht auf dem Wege einer Rekonstruktion (sozusagen als Auffüllung mit begrifflichen Inhalten), sondern auf dem Wege des Aufzeigens von Teilaspekten der Wirkung dieser Formierung und ihrer Rückführung auf eine unterstellte Absolutheit ihres Ursprungs." (Hubig 2003: 190)
Feststellen lässt sich somit, dass der Ausdruck »Medium« auf drei von einander zu unterscheidende Ebenen oder Dimensionen verweist. Erstens handelt es sich bei ihm um einen Begriff im engen Sinn, von dem gefordert wird, dass er eindeutige Begriffsmerkmale aufweist, nach denen Objekte als Medien klassifiziert werden können und über die sich die Extension des Begriffs begrenzen lässt. Zweitens wird deutlich, dass der Medienbegriff historisch einem Bedeutungswandel unterzogen war, der in die augenblickliche Verwendung unter Um-
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ständen hineinspielen kann. Die aktuell zu beobachtende Vieldeutigkeit des Begriffs ist aber weniger diesem begriffsgeschichtlichen Faktum zuzuschreiben; sie ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass es sich bei »Medium« um einen Diskurse stiftenden Grundbegriff handelt, der eine Fächer übergreifende Orientierung anzeigt. Drittens markiert der Ausdruck eine Dimension, die sich der begrifflichen Bestimmung überhaupt entzieht: Medium wird hier verstanden als eine vorausliegende Größe, die sich begrifflich nicht bestimmen, wohl aber in der Reflexion erschließen lässt. Die Äquivalente für diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen lassen sich in der Diskussion der Frage danach, was als Aufgabe und Untersuchungsgegenstand einer Medienphilosophie anzusehen wäre, wiederfinden. Dabei überwiegt zunächst die Konstatierung des inter- oder transdisziplinären Charakters. So verorten Christian Filk, Sven Grampp und Kay Kirchmann Medienphilosophie an der Schnittstelle von medienwissenschaftlichen Forschungen und philosophischer Analyse: "Die verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre virulente Intonierung einer ,Medienphilosophie' nimmt sich [... ] als heteronomes Diskursgefüge aus, das nicht nur seiner diskursiven und wissenschaftshistorischen, sondern letztlich sogar seiner disziplinären Einordnung noch harrt. Denn tatsächlich ist die Zuordnung der ,Medienphilosophie' zu eher medienwissenschaftlichen oder eher philosophischen Geltungsbereichen keineswegs eindeutig. Zwar ist einerseits zu konzedieren, dass ,Medienphilosophie' grosso modo durch Vertreter der kurrenten Medien- und Kulturwissenschaften initiiert und intensiviert wurde, doch steht andererseits einer allzu planen Zuschreibung des Phänomens unter die Ausdifferenzierungstendenzen der selbst ja noch jungen akademischen Medienwissenschaft(en) zuvorderst das Selbstverständnis der meisten der als ,Medienphilosophie' klassifizierten Beiträge als eines dezidierten Interdiskurses zwischen den beiden genannten Disziplinen entgegen." (Filk/Grampp/Kirchmann 2004: 39 f.) Aus dieser Verortung ergibt sich für die Autoren die folgende doppelte Fragestellung: "Zu fragen wäre nämlich auf der einen Seite, inwieweit ,Medienphilosophie' ein neues (Inter-)Paradigma ist, welches- über die kanonisierten Methodiken der Medienwissenschaft hinausgehend - dieser neue Erkenntnisfelder und -instrumente zuzuführen imstande ist. Zu fragen wäre auf der anderen Seite, inwieweit ,Medienphilosophie' der Philosophie einen neuen, bislang womöglich vernachlässigten Gegenstandsbereich erschließt, und inwieweit dieser- gegebenenfalls- eine (und sei es nur partielle) Neuverortungder Philosophie selbst nach sich zieht." (Ebd.: 40) Während diese Diagnose den inter- und transdisziplinären Charakter von Medienphilosophie hervorhebt, führt Josef Rauscher die Unterscheidung zwischen Medien als Untersuchungsgegenstand einer Medienphilosophie und Medialität in die Diskussion ein. Für den ersten Bereich gilt:
EINLEITUNG
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"Die Definition eines ausgezeichneten Begriffs >Medium< für eine Philosophie der Medien ist ein Versuch, aus dem allumfassenden Bereich des Medialen jene Teilbereiche auszuzeichnen, in denen es gemeinsame Fragestellungen einer Wissenschaft gibt. Wenn solche Einschränkung gelingt, werden einerseits systematische Untersuchungen einzelner Medien hinsichtlich gemeinsamer Parameter möglich, andererseits sollen und müssenjedochjene Veränderungen des Menschen- und Weltbilds, die sich aus der Entwicklung neuer Medien als bestimmter Formate ergeben, wiederum unter der generellen Perspektive der Medialität betrachtet werden." (Ebd.: 31 f.) Unter Medialität sind dagegen "allgemeine Grundstrukturen der Ausfonnung von Vermittlung" zu verstehen. (Ebd.: 31) Auf der Grundlage dieser Unterscheidung zwischen Einzelmedien und Medialität lässt sich die Aufgabe von Medienphilosophie in zweifacher Weise bestimmen: Sie habe im Sinn einer Philosophie der Medien das Feld der konkreten Medien zu bestimmen; hieraus resultiere zugleich eine Reflexion auf die Strukturen der durch diese Medien bestimmten allgemeinen Medialität: "Das Grundproblem der Medienphilosophie als einer Philosophie der Medien ist also, vom reinen Begriff des Mediums in seinen verschiedenen Schattierungen zu einer Auswahl der Medien zu gelangen, die für eine Philosophie der Medien interessant sind. Gleichzeitig führt die Reflexion der gesellschaftlichen Auswirkungen der so bestimmten Medien zurück zu Fragen der Medialität im Allgemeinen." (Ebd.: 38) Medienphilosophie sei somit sowohl Theorie der Medien als auch Reflexion von Medialität. Während hiermit unterschieden wird zwischen einer gegenständlichen Dimension von Medien im Sinne einer Klasse von Artefakten, von der die Fonnulierung "die Medien" zeugt, und Dimensionen allgemeiner Medialität, die durch die einzelnen Medien bestimmt wird, betont Martin Seel, dass Medienphilosophie keinen eigenen Gegenstandsbereich habe. Der Beitrag der Medienphilosophie zur Philosophie bestehe in einem veränderten Blick: "Dieser Blick gilt der Medialität menschlicher Verhältnisse, mit besonderer Berücksichtigung der technischen Kommunikationsmedien und ihrer rasanten Evolution. Im Zuge dieser Evolution ist unübersehbar geworden, wie sehr die historisch-kulturelle Wirklichkeit von medialen Operationen geprägt ist. Dies aber sind Veränderungen, die in jedem Bereich der Philosophie eine neuerliche Reflexion verlangen -in der theoretischen Philosophie nicht weniger als in der praktischen und in der Ästhetik sowieso." (See! 2003: 10) Auch Stefan Münker vertritt die Auffassung, Medienphilosophie habe es nicht mit Medien als einem eigenständigen Objekttypus zu tun: "Medienphilosophie hat es nicht primär mit Medien zu tun - denn der Gegenstand der Medienphilosophie sind nicht die Medien selber, sondern (gewiss: sowohl durch Medien evozierte als auch wiederum medial artikulierte) philosophische Probleme. Zum philosophischen Problem[ ... ] werden Medien genau dann, wenn ihre Verbreitung und Verwendung unser Selbst- und Wertverhältnis insofern verändert, als sie aufsigni-
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fikante Weise die für dieses Verhältnis zu uns selbst und zu der uns umgebenden Welt grundlegende Ideen und Begriffe tangiert." (Münker 2003: 19) Demgegenüber fasst Reinhard Margreiter Medienphilosophie als eine entscheidende Transformation des Feldes der klassischen Philosophie auf: "Meine These lautet: Medienphilosophie kann als eine Art kultureller Grundlagendiskurs betrachtet werden - und damit als zeitgemäße Gestalt einer >prima philosophiaot) handelt es sich um Rechensteine, die im Alltag zum Rechnen mithilfe eines Rechenbretts, dem Abakus (gr. aßaKtov), verwendet und zum Berechnen von Warenmengen und Geldsummen eingesetzt wurden. Die pythagoreische Rechenstein-Arithmetik, so wie sie sich aus archäologischen Funden und schriftlich überlieferten Zeugnissen rekonstruieren lässt, ging über diese alltägliche Verwendung hinaus. Bei ihr handelte es sich um eine Rechenpraxis, bei der die psephoi eingesetzt wurden, um Eigenschaften von Zahlen aufzuweisen. Was damit gemeint ist, lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen: Mithilfe der Rechensteine lassen sich erstens so genannte figurierte Zahlen legen, von deren Gestalt abgelesen werden kann, ob es sich um gerade oder ungerade Zahlen handelt. Dieser Sachverhalt wird noch verdeutlicht durch das Legen umrisshafter Schemen. (Ebd.: 16 ff.) Über das Legen von Zahlenwinkeln, den gnomoi (gr. yvcoJlcot) ist es zweitens möglich, sowohl die Reihe der Quadratzahlen sowie diejenige der ungeraden Zahlen zu bilden. Die heuristische Leistung der psephoiArithmetik bestand also zunächst darin, die Eigenschaften von Zahlen räumlichgegenständlich darzustellen. Gegeben sind auf diese Weise die Voraussetzungen, um zwei grundlegende Klassen von Zahlen zu bilden, die der geraden und die der ungeraden Zahlen. Auf diese Grundlage aufbauend war es wiederum möglich, die Reihen dieser Zahlen sowie die Reihe der aus ihnen gebildeten Quadratzahlen zu entwickeln. Die primäre Klassifizierung, auf welche die pythagoreische Arithmetik aufbaute, schuf somit die Voraussetzungen, um das Verhalten gerader und ungerader Zahlen bei den Rechenoperationen der Addition, der Subtraktion, der Multiplikation und der Division bestimmen zu können. Krämers Darstellung knüpft an eine Studie Wolfgang Lefevres an, 6 welche die Bedeutung herausarbeitet, die der Verwendung gegenständlicher Mittel bei der Entwicklung dieser Frühfonn der Arithmetik zukommt. Nach Lefevres Darstellung bestand deren heuristische Leistung darin, Methoden zu entwickeln, mit denen gegenständliche Modelle von Zahlen hergestellt werden können, an denen sich die Eigenschaften dieser Zahlen direkt ablesen lassen und über die erste Zahlenklassen (gerade/ungerade) gebildet werden können. Entscheidend an dieser Weise der figurativen Demonstration war, dass sie nicht lediglich als Hilfs6
Siehe Lefevre 1981.
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mittel zur Visualisiemng abstrakter mathematischer Sachverhalte eingesetzt wurde; vielmehr zielte ihre Verwendung darauf ab, eine Form des Wissens zu gewinnen, das auf den Operationen des gegenständlich-erzeugenden Legens von Zahlenfigurationen selbst beruht. Erst über diese Figurationen war es möglich, basale Eigenschaften von Zahlen aufzufinden und Beweisverfahren zu entwickeln, die sich aus dem erzeugenden Legen ableiten ließen. Der Zusammenhang der Lehre beruhte im Fall der psephoi-Arithmetik deshalb nicht auf dem deduktiven Aufbau einer Reihenfolge von Lehrsätzen, sondern auf den in den Legehandlungen selbst hergestellten Zusammenhängen zwischen den einzelnen Operationen.7 Krämers Interpretation konzentriert sich auf die Herausarbeitung drei charakteristischer Merkmale der psephoi-Arithmetik. Sie deutet deren schematische Operationen zunächst als nichtsprachliche Verfahren, als "Beweisverfahren, welche selbst noch nicht sprachliche Fonn angenommen haben, sondern auf dem Vollzug gegenständlicher Handlungen beruhen." (Krämer 1991: 20) Der Akzent der Nichtsprachlichkeit wird dann dadurch verstärkt, dass Krämer den technischen Charakter dieser Verfahren betont. Dies geschieht unter Bezugnahme auf die etymologisch frühe Bedeutung von gnomon (gr. yvw~wv), wörtlich: "Zeiger". Diese Zeiger waren "Bestandteil eines astronomischen Instrumentes zur Zeitmessung, nämlich der senkrechte Stab der Sonnenuhr. Sodann findet der Terminus Verwendung im Sinne eines Instrumentes, um rechte Winkel zu ziehen." (Ebd.: 16) Der etymologische Rekurs dient nicht lediglich der Versinnbildlichung. Vielmehr leitet er eine Deutung ein, die sich als tragend erweisen wird für die von Krämer entwickelte Konzeption von Schrift. Im Unterschied zu Lefevre versteht Krämer unter gnomoi nicht eine bestimmte Art des Legens von Zahlen und Quadratzahlen, also eine Folge regelgeleiteter schematischer Operationen (Lefevre 1981: 136); vielmehr verleiht sie dem Ausdruck eine gegenständliche Bedeutung. Ihre Lesart versteht gnomoi als technische Instrumente, "nicht allein im Sinne eines Artefaktes, welches Resultat zielgerichteter Handlungen ist, sondern auch als Werkzeug, mit dessen Hilfe etwas erzeugt wird." (Krämer 1991: 17) Aus dieser Voraussetzung ergibt sich die folgende Darstellung: "Indem nun die Pythagoreer bestimmte Arten von Zahlen durch wiederholtes Anlegen eines Zahlenwinkels erzeugen wie z. B. die Reihe der Quadrate oder Heteromeke, ist 7
"Der Zusammenhang dieser einzeln gefundenen Gesetzmäßigkeiten beruht auf dem Zusammenhang der Handlungen, die die mit den psyphoi in spezifischen Formen realisierten Zahlarten umformen. Diese Umformungshandlungen werden aber durch die psyphoi-Gebilde nicht repräsentiert; sie sind vielmehr in ihnen erloschen. An diesen Gebilden läßt sich also nichts über sie ablesen. Es bedarf eines Mittels der gegenständlichen Repräsentation dieser Handlungen, um Einsicht in ihren Zusammenhang und damit in den Zusammenhang der entdeckten arithmetischen Gesetzmäßigkeiten zu erlangen." (Lefevre 1981: 164 f.) Dieses Mittel ist nach Lefevre die Sprache.
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das Gnomon nicht einfach nur Mittel zur Zahlendarstellung, so, wie z. B. eine bestimmte Konfiguration auf dem Rechenbrett eine Zahl repräsentiert, sondern ein Mittel zur Erzeugung von Zahlen." (Ebd.) Unter Bezugnahme auf das Prinzip der methodischen Ordnung 8 und im Anschluss an die Bestimmung des figurativen Legens als poietische, also erzeugende Handlung fährt Krämer fort: "Wenn also der apodeiktische Charakter der Operationen mit Rechensteinen darauf beruht, daß dabei streng einer Regel gefolgt wird, so bezieht sich diese Regel auf eine hervorbringende, eine erzeugende Tätigkeit." (Ebd.: 24) Erzeugt wird zweierlei: einmal anschauliche Evidenz, die zum zweiten auf der Erzeugung von gegenständlichen Zahlenfigurationen basiert. Diese manuelloperative Entstehungsweise der Figurationen beruht auf einer weiteren, gewissermaßen ontologischen, Prämisse: Für archaische Praktiken des Zähleus und des Rechnens gilt, dass sie Anzahlen sind, Mengen konkreter Gegenstände. 9 Unter dieser Voraussetzung formuliert Krämer zuletzt, zur Bestimmung des dritten Merkmals, die These von der Identität von Operationssystem (Medium) und ,Gegenstand'. Sie interpretiert in diesem Zusammenhang den archaischen Charakter der psephoi-Arithmetik, unter Bezugnahme auf Ernst Cassirer, im Sinne eines magischen Symbolismus, für den die Einheit zwischen ,Zeichen' und ,Bezeichnetem' angenommen werden kann. (Krämer 1991: 30) In diesem Zusammenhang gilt, dass die Anzahlen der Pythagoreer nicht als bloße, unstrukturierte Ansammlungen von psephoi anzusehen sind, sondern als Konfigurationen, in denen der jeweils einzelne Stein zwar beliebig mit anderen austauschbar ist, nicht aber die Position, die er jeweils annimmt: "[ ... ]die figurierten Anzahlen der Pythagoreer sind nicht bloße Anzahlen von Steinen, gleichsam ihre Ansammlung, sondern sind Steine in Konfigurationen fixiert. Jeder Stein ist Bildungselement der Anzahl, sofern er im Muster dieser Anzahl eine bestimmte Stelle einnimmt. Zwar sind die Steine untereinander austauschbar, nicht jedoch die Plätze, die sie innerhalb der Konfigurationen einnehmen. Ein Stein wird Bildungselement 8
9
"Ein Beweis der psephoi-Arithmetik ist jedoch kein Satz oder ein System von Sätzen, sondern eine praktische Handlung bzw. eine Reihenfolge von Handlungen, die darin besteht, Rechensteine zu Zahlengebilden auszulegen und an diesen gewisse Operationen vorzunehmen." (Krämer 1991: 22) Allgemein formuliert beruht das Prinzip der methodischen Ordnung auf dem Beherrschen und der Einhaltung bestimmter Handlungssequenzen. Vgl. Janich 1996: 36. Damerow hebt zwei Kennzeichen der frühen babylonischen Rechenpraktiken hervor, die vermutlich prinzipiell als Merkmal archaischer Rechenpraktiken angenommen werden können: Die Anzahlen wurden nicht als unabhängig existierend von den gezählten und berechneten Objekten angenommen, weshalb das Operieren mit den Rechensteinen als zählendes bzw. rechnendes Operieren mit realen Objektmengen begriffen wurde: "[ ... ] das Operieren mit den Rechensteinen ist ja nur ein Nachvollziehen realer Vorgänge und Bestandsveränderungen." (Damerow 1981: 54) Ähnlich äußert sich Krämer: "Für die Pythagoreer stellen die figurierten Zahlen Anzahlen nicht dar, sondern sind die Anzahlen." (Krämer 1991: 27)
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einer figurierten Zahl dann, und nur dann, wenn er zugleich Bildungselement eines figürlichen Gebildes ist; darin also zum geometrischen Punkt im Sinne einer Einheit mit Position wird." (Ebd.: 27 f.) Signifikant ist folglich nicht die materielle Anhäufung von Rechensteinen, sondern die Konfiguration von Positionen, über die figurierte Anzahlen gebildet werden. 10 In der räumlich-gegenständlichen Anordnung der Steine und der hierüber gebildeten Konfiguration, die sich kosmologisch deuten lässt, kann dann auch gesagt werden, dass "die Anzahlen durch Gegenstände nicht nur repräsentiert, dargestellt werden, sondern selber Gegenstände sind." (Ebd.: 29) In diesem Zusammenhang führt Krämer den Begriff des Mediums ein, der sich in der von ihr verwendeten Bedeutung auf den Konstruktionscharakter gegenständlicher Mittel bezieht: "Die Zahlenfigurierung erweist sich nicht nur als ein Medium zur Demonstration eines Sachverhaltes, der außerhalb und unabhängig dieses Mediums- in Gestalt theoretischer Sätze über diesen Sachverhalt - gegeben ist; vielmehr als ein Medium zur Herstellung dieser Sachverhalte selbst. Die Zahlenfigurierung ist nicht nur ein Instrument zur Demonstration von Zahleneigenschaften, sondern zur Konstruktion der Zahlen selbst. Der Gegenstand der altpythagoreischen Arithmetik wird durch die Rechensteinkonfigurationen nicht einfach dargestellt, sondern hergestellt." (Ebd.: 21) Und: "[Die] Differenzierung zwischen Darstellungsmittel und -gegenstand ist für die anschauliche Kraft der psephoi-Arithmetik gerade nicht erfordert, erweisen sich hierbei doch die Eigenschajien des Mediums zugleich als Eigenschajien desjenigen. das im Medium zur Darstellung gelangt. Diese Verschmelzung medialer Eigenschaften mit den Eigenschaften des Referenzgegenstandes signalisiert, daß in der psephoi-Arithmetik die Zeichen mit dem, was sie bezeichnen, ineins gesetzt werden." (Ebd.: 30) Krämers schrifthistorische Argumentation schlägt den Bogen in das Europa des 16./17. Jahrhunderts, zu den Entwicklungen in der Mathematik der frühen Neuzeit. Die historische Einstiegsstelle wird hier markiert durch die Einführung des indischen Dezimalsystems, begleitet zunächst von der Einführung der arabischen Ziffern, später von Buchstaben als Symbolen für Variablen - von Zeichenarten also, die im engeren Sinn als schriftlich gelten können. 11 Krämer spricht in dieI 0 Es handelt sich somit nicht um strukturlose Ansammlungen von Zählsteinen in Behältern, wie sie für die frühen vorderasiatischen Verwaltungspraktiken kennzeichnend sind, mit denen Warenmengen registriert wurden; vielmehr kann für die Rechensteinkonfigurationen der Pythagoreer in Anspruch genommen werden, dass sie als figurierte Darstellungen von Anzahlen bzw. ihrer arithmetischen Eigenschaften aufzufassen sind. 11 Harris bezeichnet die arabischen Ziffern und die unterschiedlichen Ausprägungen des Alphabets als "!es notations !es plus repandues dans Ia culture occidentale d'aujourd'hui." (Harris 1993: 36).
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sem Zusammenhang von einem "Medienwechsel" (Krämer 1991: 98), durch den das schematisch-gegenständliche Rechnen mit dem Abakus, dem Rechenbrett, allmählich abgelöst wurde von dem Operieren mit schriftlichen Zahlzeichen, den Ziffern. Die neue Kulturtechnik, vorerst selbstverständlich nur als Mittel wissenschaftlicher Rechentätigkeit eingesetzt, beginnt sich spätestens ab dem 14./15. Jahrhundert allgemein durchzusetzen. Der Terminus »Skripturalität« bezieht sich damit zunächst auf den Prozess eines kulturhistorischen Wandels, in dessen Verlauf sich eine auf dem Medium 12 Schrift beruhende Praxis durchzusetzen beginnt. Krämers Charakterisierung schriftlicher Rechenpraktiken verfährt analog zur Beschreibung des archaischen Modells. Auch beim indischen Dezimalsystem handelt es sich um ein Positionssystem, das Zahlen über die Stellen repräsentiert, die die Ziffern im Zahlenausdruck einnehmen: darüber also, ob sie auf der Position für Einer, Zehner, Hunderter etc. stehen. Entscheidend sind die "kalkulatorischen" Eigenschaften dieses Systems. Darunter ist zu verstehen, dass "aus einer begrenzten Menge von Individualzeichen [ ... ] unbegrenzt viele Zahlen dargestellt werden" können; ebenso ist damit die Möglichkeit gemeint, die Bedeutung eines Ausdrucks in der erwähnten Weise aus der Stellung der Ziffern abzuleiten. (Ebd.: 107) Aus der Funktionsweise dieses Systems ergibt sich außerdem die Notwendigkeit, ein bis dahin nicht gebräuchliches, da keine Mengen ,abbildendes' Zeichen, nämlich die Ziffer Null, einzuführen. 13 Bei ihr handelt es sich um ein Zeichen, das nicht auf eine reale Entität, eine reale Anzahl oder Menge, referiert; vielmehr steht es nach Krämers Interpretation für eine Zahl, ein Abstraktum, dessen Bedeutung allein über die "spezifische Bedeutung innerhalb des Systems" abgeleitet werden kann. (Ebd.: 109) Während die Nichtsprachlichkeit der Rechenstein-Arithmetik sich aus dem technisch-erzeugenden, poietischen Charakter ihrer Verfahren ableiten ließ, wird sie für das Dezimalsystem über die Referenzlosigkeit der verwendeten Symbole begründet. Die Einführung der Ziffer Null steht in Krämers methodischer Re12 »MediumEinheit der Grammatik< aufgeben." (Glück 1987: 68) Zu den Ansätzen der ersten Art ist die Kopenhagener Schule um Hjelmslev und Uldall zu zählen, zu denjenigen zweiter Art die Prager Strukturalisten, die sowjetische Schule sowie sinologische Richtungen. 30 Vgl. hierzu die Überblicksdarstellung von Ong 1987; Raible 1994. 31 Vgl. Gelb 1958; Glück 1987. 32 "Although it is commonly taken for granted that writing systems are systems of signs, surprisingly little has been published which attempts to apply sign theory in a principled way to the analysis of written communication [ ... ] The reason for this neglect is not difficult to ascertain. It stems for the unquestioned acceptance of a view long dominant in Westem education, which relegates writing to the status of a merely ancillary sign system, based on speech and to be interpreted solely by reference to speech. This view has been reinforced by the theoretical perspectives adopted in modem linguistics, a notoriously phonocentric discipline." (Harris 1994b: 41 f.) Vgl. exemplarisch für diese Diskussion die Darstellungen in Harris 1993: 21 ff. und Harris 2000: 33 ff. 33 1958 in deutscher Sprache unter dem plakativen Titel Von der Keilschriji zum Alphabet erschienen.
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Schreiben und Lesen allererst sprachliche Tätigkeiten sind[ ... ]" (Glück 1987: X) Hartmut Günther und Otto Ludwig wiederum, die Herausgeber des instruktiven zweibändigen Handbuchs Schrift und Schrifllichkeit, bestimmen den Forschungsbereich am Kreuzungspunkt zwischen Individuen und schriftlichem Text: "Es geht [ ... ] nicht nur um die Konstitution, Form und Funktion schriftlicher Texte, sondern auch um die Tätigkeit der Menschen, die schriftliche Texte herstellen und verarbeiten[ ... ] Wir haben es [ ... ]zu tun mit den Auswirkungen des Schreibens und Lesens auf das private und öffentliche Leben, mit dem Status schriftlicher Texte in Kultur, Sprache und Denken." (Günther/Ludwig 1994: V f.) Es ist die unverbrüchliche Gewissheit der von Glück vorgenommenen Zuordnung des kulturellen Phänomens Schrift zu einem allgemeinen Begriff von Sprache, die durch die kulturwissenschaftlichen Befunde der Forschungen zu Oralität und Literalität34 problematisiert wurde. Die Impulse zur Hinterfragung sprachwissenschaftlicher Vorannahmen gingen von der Einsicht in die fundamentalen Veränderungen aus, welche die Einführung von Schrift in bis dahin mündlich organisierte Gemeinschaften nach sich zieht. 35 Bei der Literalisierung von Gesellschaften handelt es sich nicht um das additive Hinzufügen eines neuartigen Zeichensystems zum bisher dominierenden der Sprache; vielmehr machen die Forschungen deutlich, dass die Vorstellung von Sprache als einem Zeichensystem erst auf der Grundlage eines durchgesetzten Schriftsystems möglich wird. Die Stichworte »Sprache« und »Schrift« markieren somit grundlegende Differenzen, die das Verständnis von Sprache selbst betreffen, die stilistischen und strukturellen Prinzipien, denen mündliche und schriftliche Verständigung unterworfen sind, sowie die Art und Weise der Darstellung und der Tradierung von Wissen. Walter Ong hat in diesem Zusammenhang deutlich hervorgehoben, dass in primär oralen Kulturen, solchen also, "die keine Berührung mit dem Schreiben hatten," (Ong 1987: 37) sprachliche Äußerungen nicht unter dem Aspekt ihres Zeichencharakters verstanden würden, sondern als Handlungen. Der Grund sei in ihrer phänomenalen Beschaffenheit zu sehen. "Ohne die Schrift besitzen die Wörter als solche keine visuelle Präsenz, auch dann nicht, wenn die Objekte, die sie repräsentieren, sichtbar sind. Sie sind Klänge. Man kann sie sich in Erinnerung ,rufen', sie ,zurückrufen'. Sie haben kein Zentrum und hinterlassen keine Spur [... ],nicht einmal in der Luft. Sie sind Erscheinungen, Ereignisse [... ]Ein Laut[ ... ] ist nicht nur vergänglich, sondern wesentlich verklingend, und er wird als verschwindender wahrgenommen [... ] Malinowski bemerkte, daß bei den 34 Wolfgang Raible weist darauf hin, dass die Ausdrücke »Oralität« und »Literalität« nicht deskriptiv zu verstehen sind, sondern als dichotomisches Paar, deren Bedeutungen sich wechselseitig ausschließen. Damit ist bereits eine Vereinfachung gegeben, aus der eine Tendenz zu idealtypisierenden Darstellungen resultiert. So lässt sich in der Literatur zum Thema feststellen, dass Ausführungen über die Literalität von Kulturen vorwiegend vor dem Horizont idealisierter oraler Gemeinschaften entwickelt werden; vgl. Raible 1994: 2. 35 Vgl. Goody 1990; Goody/Watts/Gough 1986; Ong 1987.
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,primitiven' (oralen) Völkern die Sprache im allgemeinen eine Handlungsweise ist und nicht nur Bestärkung eines Gedankens [ ... ] Die Tatsache, daß orale Völker [ ... ] den Wörtern magische Kräfte zutrauen, folgt eindeutig, wenn auch unbewußt, aus ihrem Wissen darüber, daß das Wort notwendigerweise gesprochen, verlautlicht und deswegen kraftbewegt ist." (Ebd.: 37 f.) 36 Der Sachverhalt, dass gesprochene Äußerungen keinen statischen Charakter besitzen, wirkt sich sowohl in der Stmkturiemng von Texten als auch in der Psychodynamik und den ,Denkformen' oraler Völker aus. In diesem Sinn kann Ong behaupten: "Das Schreiben konstituiert das Denken neu." (Ong 1987: 81 ) 37 36 Die Einsicht, dass erst das geschriebene Wort ein reflektiertes Verhältnis zur Sprache ermöglicht (vgl. ebd.: 105 ff.) lässt sich beispielhaft an dieser von Ong gegebenen Erklärung medienphilosophisch präzisieren. Gerade weil gesprochene Sprache in nicht literalisierten Kommunitäten keine Spur hinterlässt, ist kein Bewusstsein ihrer Medialität möglich, d. h. kein Bewusstsein ihres Ermöglichungscharakters, der Eröffnung spezifischer Möglichkeitsräume. Die Einheit von Sprechen und Handeln gestattet keine reflektierte Einstellung zu sich selbst. Erst die Einführung des Mittels Schrift ermöglicht eine distanzierte und objektivierende Haltung gegenüber Sprache; erst unter der Voraussetzung seines Vorhandenseins wird eine Bestimmung der Unterschiede von innerer und äußerer Medialität in oralen und IiteraJen Kulturen möglich. Äußere Medialität wird hier verstanden als "eine unterbestimmte vorausliegende Rahmenordnung als »Transformationsraum«, innerhalb dessen konkrete Mittel realisiert und eingesetzt werden können [ ... ]" (Hubig 2002: 24 f.) Als innere Medialität gilt dagegen die "reine Struktur des Organisierens von Raum, Zeit, Zeichengebrauch, Information, Kommunikation [ ... ]" (Ebd.: 26) Die bloße Möglichkeit, ein konkretes Mittel, nämlich Schrift, zur Aufzeichnung sprachlicher Artikulationen einzusetzen, verändert damit nicht nur die Einstellung gegenüber diesen in der Weise, dass eine objektivierende Haltung ihnen gegenüber eingenommen werden kann. Es transformiert vielmehr in sehr viel grundlegender Weise die allgemeinen Strukturen der gesellschaftlichen und kulturellen Organisation. Gerade weil Sprechhandeln keine Spuren im Sinn der Exemplifizierung von "Mittel-Möglichkeit" (ebd.: 15) hinterlässt, ist eine Reflexion aufsich selbst nicht möglich. Vgl. auch Stetter 1997: 126 ff.; in diesem BuchS. 47. 37 Ong unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen oralen und IiteraJen Strukturierungsprinzipien anhand der folgenden Dichotomien: additiv/subordinierend, aggregativ/analytisch, redundant/linear, traditionalistisch/originell, lebenspraktische Orientierung/Anhäufung eines abstrakten Wissenskorpus, einfühlend/distanziert, situativ/abstrakt. (Ebd.: 42 ff.) Die Korrelation zwischen Denken und Sprache bzw. Schrift, die sich auch in Havelocks Formulierung "literate consciousness" (Havelock 1982: 9) finden lässt, zählt zu den zentralen Thesen für "die in den Kulturwissenschaften geführte Mediendebatte [ ... ]die These[ ... ], dass Oralität und Literalität an je spezifische Formen der Mentalität gebunden seien[ ... ] und die hiermit verknüpfte ethnozentrische Hypothese, die abendländische Kultur verdanke ihre (überlegene) soziale, sprachliche und kognitive Verfassung einer mit der Erfindung des griechischen Alphabets verknüpften kulturellen Revolution, sah sich zunehmender Kritik ausgesetzt, [ ... ] die auf der Basis anthropologisch-ethnologischer Forschungsbefunde zu einer Neubewertung der medialen Eigenschaften von Oralität führte [ ... ] Wie diese ethnologischen Befunde zeigen, spricht wenig dafür, die nonliterale Sprache als das schlechthin Andere der Schrift aus dem theoretischen Aufmerksamkeitshorizont des Mediendiskurses auszublenden." (Jäger 2002: 49 ff.)
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Diese zum Programm avancierte Formulierung Ongs drückt ein im Gefolge der Oralitätsforschungen entstehendes Bewusstsein auch von spezifischen Merkmalen literalisierter Kulturen und der Unterschiede zwischen ihnen aus. Mit der Einsicht in die Vielfalt der historischen und aktuell verwendeten Schriften, ihre interne Systematik, ihre Funktionsweise und ihr Verhältnis zur gesprochenen Sprache drängte sich dementsprechend die Frage auf, inwiefern die Gleichsetzung von Schrift mit verschrifteter Sprache überhaupt noch berechtigt sei. Seit Ende der 80er Jahre wurde die Forderung nach einer theoretischen Bestimmung von Schrift dringlicher und erste Ansätze dazu nahmen ihren Ausgangspunkt von der kritischen Auseinandersetzung mit der Semiologie Saussures. Gerade die Begründung der strukturalistischen Linguistik ist zunächst im Kontext der Oralitätsforschung zu sehen. Die viel kritisierte Konzentration der Linguistik Saussures auf die gesprochene Sprache als ihrem Forschungsgegenstand richtete sich gegen das bis dahin gültige Verständnis, das Sprachwissenschaft "aufgrund ihrer historischen Orientierung vorwiegend mit schriftlichen Dokumenten beschäftigt" 38 fand. Bloomfield wiederum ging es "um die Entwicklung von Deskriptionsverfahren für nicht verschriftete Sprachen, wie er sie auf dem amerikanischen Kontinent vorfand. (Coulmas 1981: 22) In seiner Studie Rethinking Writing, die die Ergebnisse früherer Arbeiten zusammenfasst und weiterentwickelt, hebt Roy Harris deshalb hervor, dass sich die Grundhaltung Saussures zu den Phänomenen Sprache und Schrift gerade dadurch auszeichne, dass die grundlegende Mündlichkeit der gesprochenen Sprache von schriftlicher Überlieferung prinzipiell unterschieden werde: "[ ... ] writing systems are systems in their own right [ ... ] writing and speech depend on different systems of signs." (Harris 2000: 52) Diese Basisannahme, die sowohl aus der Perspektive der Oralitätsforschung als auch für ein schrifttheoretisches Unterfangen äußerst förderlich zu sein scheint, wird von Saussure allerdings nicht durchgehalten. Erkennen lässt sich dies an der strukturalistischen Bestimmung eines allgemeinen Begriffs des Zeichens, die sich eindeutig am Vorbild des geschriebenen Zeichens orientiert: "Writing [ ... ] presents us with stable, visible marks that can be examined at leisure and repeatedly [ ... ] So if [ ... ] it can be shown that the formal value of the written sign is purely negative, extending that conclusion to the linguistic sign would be a natural corollary. This argument patently relies on the written sign and the linguistic sign being semiotically comparable in the relevant aspects." (Ebd.: 50) Neben diesem Hinweis auf eine problematische Verallgemeinerung zählt die Erörterung des Modellcharakters, den die Alphabetschrift bei der Bestimmung der linguistischen Grundelemente einnimmt, zu den schrifttheoretischen Standardeinwänden gegen die Linguistik Saussures. An prominenter Stelle steht in diesem Zusammenhang der Widerspruch zwischen
38 Diese Auffassung teilt auch Roy Harris: "Saussure [... ] is also regarded as a theorist who reinstated the notion of the essential orality of langnage and emphasized the importance of not equating languages with their written texts." (Harris 2000: 51)
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phonematischem und Arbitraritätsprinzip. Letzteres betont die Willkürlichkeit des Zeichens; ersteres geht davon aus, dass die orthographische Anordnung einer Buchstabenfolge der Analyse der Lautfolge im betreffenden sprachlichen Ausdruck zu entsprechen habe. 39 Diese zweite Forderung übersieht, dass die geforderte Äquivalenzbeziehung zwischen Laut und Buchstabe nur möglich ist unter der Voraussetzung, dass ein dieser Forderung genügendes Zeichenrepertoire wie das Alphabet bereits vorhanden ist. Besser wäre von einer rekursiven Beziehung auszugehen, nach der das Alphabet das analytische Instrumentarium vorgibt, das überhaupt erst ermöglicht, linguistische Einheiten wie Phoneme und Morpheme aus dem kontinuierlichen Fluss der gesprochenen Rede herauszudestillieren und in der Folge die Äquivalenzbeziehung zwischen Lautfolge und Buchstabensequenz zu postulieren. Während daher das phonematische Prinzip stillschweigend die Existenz eines Zeichensystems wie die Alphabetschrift voraussetzt, war die Koexistenz der beiden genannten Hauptprinzipien der Linguistik Saussures nur so lange möglich, wie der illustrierende Rückgriff auf das Alphabet mit unreflektierter Selbstverständlichkeit geschah. Aus dem diesbezüglichen Reflexionsdefizit ergeben sich Schwierigkeiten, das schriftliche Zeichen im Rahmen der Semiologie Saussures zu bestimmen. Die Fragen, die Harris an dieser Stelle aufwirft, lauten wie folgt: Was kann überhaupt als schriftliches Zeichen verstanden werden, das Wort, der Buchstabe? Angenommen, man betrachtet den Buchstaben als elementares graphisches Zeichen im Rahmen einer allgemeinen Semiologie, in welcher Weise kann dann der Zeichenbegriff Saussures, der die Einheit von signifiant und signifie postuliert, darauf angewendet werden? Was wäre in diesem Fall als signifie zu verstehen: die dem Buchstaben zugeordnete Aktivität des Stimmapparats? (Harris 2000: 38) 40 Deutlich wird an dieser Stelle, dass die Anwendung dieses Zeichenbegriffs auf schriftliche Zeichen auf einer Analogie beruht, die der gerraueren Überprüfung nicht standhält. Ebenso schwierig gestaltet sich der Versuch, das schriftliche Zeichen bzw. schriftliche Zeichenfolgen als identifizierbare Einheit zu bestimmen. Was garan-
39 Dem phonematischen Prinzip "zufolge hängt die Wahl des jeweils zu schreibenden Buchstaben vom >entsprechenden< Laut des gedachten Ausdrucks ab. Schreiben wird, logisch gesprochen, als Funktion gedeutet, welche die Elemente der Definitionsmenge (Buchstaben) auf die der Wertemenge (Laute/Phoneme) abbildet[ .. .]" (Stetter 1997: 53 f.) Harris betont in diesem Zusammenhang, dass das phonematische Prinzip auf einer Fiktion beruhe, die der Alphabetschrift geschuldet sei: "[ ... ] bien au niveau de l'analyse articulatoire que sur Je plan de l'analyse acoustique. II s'agit d'une impression subjective qui a toutes les chances d'etre le produit psychologique de l'ecriture alphabetique elle-meme." (Harris 1993: 70) 40 Saussure nimmt gerrau diese Zuordnung nicht vor; für ihn ist nicht, naturalistisch, der erzeugte Laut entscheidend, vielmehr das image acoustique, das, im Gegensatz zur parole, auf einer finiten Anzahl von Elementen basiert und damit der Iangue zuzuordnen ist. Die Korrespondenz zwischen Schrift und Sprache bestünde demnach auf den Ebenen ixriture- Iangue.
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tiert die Identität eines Buchstabens, wenn, wie Saussure am Beispiel unterschiedlicher handschriftlicher Varianten deutlich macht, die visuelle Gestalt nicht entscheidend ist? Wie kann begründet werden, dass es sich bei T und t um Varianten desselben Buchstabens in Groß- und Kleinschreibung handelt, während zwei handschriftliche Exemplare von a und d, 41 die sich kaum voneinander unterscheiden, als Exemplifikationen zweier verschiedener Buchstaben zu gelten haben? Den grundlegenden Einwand gegen das phonematische Prinzip wiederum formuliert Harris folgendermaßen: wenn, wie im Fall des Alphabets, dasselbe finite Repertoire an Zeichen zur Schreibung mehrere Sprachen herangezogen wird, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Buchstabe einen Laut bzw. eine Buchstabensequenz eine Lautfolge denotiert; denn im Englischen und Französischen weist die Sequenz »chair« nicht nur unterschiedliche WOrtbedeutungen auf, sondern differiert auch in der Aussprache. (Harris 1993: 3 5) Einen Lösungsvorschlag für die skizzierten Schwierigkeiten entwickelt Harris über die Unterscheidung zwischen Notation und Schrift. 42 Bei einer Notation handelt es sich um ein finites Repertoire von Zeichen, das auf einer internen Systematisierung beruht. 43 Die gängigsten Beispiele im europäischen Kulturraum sind das Alphabet mit der alphabetischen Anordnung der Buchstaben und das arabische Ziffernsystem mit der numerischen Reihenfolge der Zeichen von 0 bis 9. Als Elemente einer Notation gelten graphische Zeichen- "graphies" (ebd.: 37) -, die definiert werden über ihre visuelle Gestalt und ihre Position im gegebenen System. 44 Eine Notation wird dann definiert wie folgt: "[ ... ] une notation est un inventaire de graphies qui peuvent servir a foumir !es signifiants des signes ecrits, et dont l'ensemble constitue un cadran emblematique. 45 Cette 41 Vgl. ebd.: 49; Goodman 1995: 135. 42 Der Unterschied zwischen den Notationstheorien von Harris und Goodman besteht vor allem darin, dass es sich bei Goodmans Theorie, wie Harris schreibt, um eine "fixed-code-theory" handelt, "i. e. all systems that conform to its requirements provide for a totally detenninate encoding and decoding of every message [ ... ] Goodman hirnself seems to regard his distinction between notational and non-notational systems as a more satisfactory replacement for the familiary distinction between digital and analog." (Harris 1994a: 1561, Sp. 2). Harris' Position kann dagegen als ein Versuch gewertet werden, die genannten Probleme im Rahmen einer Theorie der Schrift, die auf die Semiologie Saussures aufbaut, zu lösen. 43 "[ ... ] une notation se compose d'une serie de marques qui servent a ecrire, mais qui ont des fonctions differentes selon le systeme d'ecriture qui les utilise." (Harris 1993: 36) 44 "1. Chaque unite a uneforme qui lui est specifique et qui Ia caracterise uniquement dans l'ensemble. 2. Entre deux unites, il y a toujours soit une relation d'equivalence, soit une relation de priorite. Autrement dit, toutes les unites ont une position determinee dans l'ensemble. 3. Le nombre d'unites formentun ensemble Iimite." (Ebd.: 42) 45 Harris unterscheidet zwischen zwei Grundkategorien von visuellen Zeichen, den Emblemen und den Tokens. Die semiologische Funktion der zweiten Kategorie be-
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formulation appelle trois remarques. D'abord, elle laisse ouverte Ia possibilite de choisir !es unites d'une notation comme unites d'expression, de teile sorte qu'on etablisse un isomorphisme entre !es deux structures. Ensuite, Ia definition proposee n'implique pas du tout que pour ecrire il faut toujours une notation. Tout au plus, elle suggere que, dans Ia taxonomie des ecritures, il y aura une place importante reservee pour !es ecritures a notation. En troisieme lieu, elle ne eherehe pas a marquer !es limites precises des formes que peut emprunter l'ecriture. Neanmoins, elle introduit un concept qu'il faudra admettre töt ou tard au cours de ce genrede recherches." (Ebd.: 44)
Harris' Begriff der Notation gestattet zunächst, Saussures Forderung, die Identität eines Zeichens dürfe nicht über seine visuelle Gestalt bestimmt werden, in der Weise nachzukommen, dass über die Zugehörigkeit einer graphischen Marke zu einem Zeichen ihre Position innerhalb der internen Struktur der Notation entscheidet.46 Darüber hinaus wird durch seine Einführung möglich, die spezifischen Merkmale von Schrift gerrauer zu bestimmen. Über die analytische Unterscheidung zwischen Notations- und Ausdruckssystem- "what is characteristic of a notation is that its units are structurally independent of the expressive system" (Harris 1994a: 1564, Sp. 2) - kann herausgearbeitet werden, dass Schrift auf der Korrelationzweier graphischer Systeme beruht, der zugrunde gelegten Notation und ihrer modifizierten Anpassung in der jeweiligen Schrift. Schrift als Ausdruckssystem basiert demnach auf der Konstitution über ein finites Repertoire von Zeichen, dessen Struktur sich gegenüber jener des Ausdruckssystems als autonom erweist. Hierdurch unterscheidet sich Schrift grundlegend von mündlicher Rede: "The difference [ ... ] highlights a fundamental asymmetry between the structure of a spoken language and the structure of the corresponding written language [ ... ] a written English sentence, such as The cat sat on the map. is based on (and is only possible because of) the application of a notation, i. e. the alphabet, whereas there is no such system underlying the corresponding sentence in spoken English at all. Some linguists would claim that the basic units of a spoken language (at least, on the Ievel corresponding to the use of alphabetic characters in writing) are its phonemes. Even if this claim is accepted, Harris would deny that the phonemes of a language constitute an oral notation. Their structural roJe cannot be parallel to that of alphabetic characters, even though it might be possible in principle to set up a writing system in which each alpha-
steht darin, Marken zu gruppieren und einem Zeichen zuzuordnen, während die erste Kategorie der Unterscheidung der einzelnen Zeichen voneinander dient: "The semiological function of the token is simply to indicate another member of a kind already agreed. The semiological function ofthe emblem is to differentiate one such kind from another." (Harris 1994a: 1565, Sp.2) Embleme und Tokens stellen die Elemente dessen dar, was Harris als "cadran emblematique" (Harris 1993: 42) bezeichnet; dieser wiederum bildet die Grundlage flir eine Notation. 46 Im Unterschied hierzu entscheidet in Nelson Goodmans Notationstheorie lediglich die syntaktische Äquivalenz der Marken über ihre Zuordnung zu einem Charakter. Vgl. Goodman 1995: 128.
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betic symbol corresponded to a single phoneme in the spoken language. Phonemes, if they exist, cannot be divorced from the expression system. (i. e. spoken language) in which they occur." (Ebd.: 1564, Sp. 1 f.) Die von Harris vorgeschlagene Definition für Notationen gestattet, über die grundlegende Unterscheidung zwischen Schrift und Sprache hinaus, einige der von Harris aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Fragen zur Identität eines Buchstabens oder einer Ziffer - ist es ein l oder ein t? - beziehen sich demnach auf die Ebene der Notation und können über die Stellung des graphischen Zeichens innerhalb der internen Systematik beantwortet werden; Fragen über die korrekte Schreibweise eines Wortes betreffen dagegen diejenige der Schrift. (Harris 2000: 91) Unter Verwendung eines beinahe identischen Repertoires an Zeichen, nämlich des Alphabets, dem für die Schreibung des Französischen noch die Akzentzeichen hinzugefugt werden, gehorcht die Schreibweise des homographischen Beispiels »chair« den orthographischen Regeln der jeweiligen Sprache. Hieraus resultiert zwar eine identische Schreibweise im Englischen und Französischen, der aber nicht die Gleichheit der Aussprache entspricht. (Harris 1993:45;2000: 92) Während Harris Sprache und Schrift als zwei eigenständige semiotische Systeme begreift und sich vorrangig darauf beschränkt, der Semiologie Saussures vorzuwerfen, sie unterscheide nicht hinreichend zwischen den Merkmalen sprachlicher und schriftlicher Zeichen, geht Christian Stetter argumentativ einen Schritt weiter. Er wirft die Frage auf, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, Sprache als ein System von Zeichen zu verstehen. Stetters Position lässt sich an zwei Zielsetzungen charakterisieren: Zum einen formuliert auch er die Desiderate einer Theorie der Schrift; zum anderen begreift er Schrift dialektisch als einen Möglichkeitsgrund, über den sich das Sprachverständnis schriftlicher Kulturen überhaupt erst konstituiert. Die Argumentation setzt ein mit einer differenzierten Bewertung des phonematischen Prinzips und seinem Beitrag zu dem, was Stetter als "orthographischen Mythos" (Stetter 1997: 51) bezeichnet. Die Vorstellung, die korrekte Schreibweise eines Wortes orientiere sich an der Lautfolge des notierten sprachlichen Ausdrucks 47 sei eine "vom Prinzip der Alphabetschrift erzeugte Illusion." (Ebd.: 54) Dieses Prinzip bestehe darin, "durch isolierte, für sich nichts bedeutende Partikel" (Harris' Ebene der Notation) eine Universalität, eine "von einzelnen Sprachen unabhängige Anwendbarkeit" (ebd.: 47) zu ermöglichen, die später der orthographischen Regelung für die Verschriftung einzelner Sprachen bedarf. Die Interpretation des Verhältnisses von gesprochenem und geschriebenem Wort bedürfe eines zureichenden Verständnisses des phonematischen Prinzips. (Ebd.: 56) Dieses entwickelt Stetter anhand von zwei Beispielen. 47 "[ ... ] die grundlegende Orientierung [... ]liefert[ ... ] vor allem das phonematische Prinzip. Ihm zufolge hängt die Wahl des jeweils zu schreibenden Buchstaben vom >entsprechenden< Laut des gedachten Ausdrucks ab." (Ebd.: 53)
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Beispiel eins betrifft die Entwicklung des griechischen Alphabets selbst, dessen Entstehung darauf zurückzuführen ist, dass die verfügbare phönizische Konsonantenschrift nicht geeignet war, um griechische Wörter eindeutig zu schreiben: "Ihre Silbenstruktur kannte sowohl die Aneinanderreihung mehrerer konsonantischer Elemente - an er, andros [ ... ] - als auch das Auftreten derselben Konsonantengruppe in verschiedener vokalischer Umgebung mit völlig unterschiedlicher Bedeutung und morphologischem Wert, z. B. noun und nyn. Die Ökonomie des Sprachsystems beteiligte, m. a. W., im Griechischen die später Vokale genannten Elemente in anderer Weise an der Fixierung des jeweiligen semantischen Werts als in den semitischen Sprachen." (Ebd.: 56 f.) Die gemeinsame Nutzung dieser Konsonantenschrift mit einem "auf die minoische Silbenschrift zurückgehenden Syllabar" 48 scheint die Voraussetzung geschaffen zu haben, um mit dem Alphabet ein Schriftsystem zu entwickeln, das erlaubte, die griechische Sprache lesbar zu reproduzieren. "Resultat der Verschriftung griechischer Dialekte ist ein die genannten Buchstabenkategorien umfassendes Alphabet, das von der Literatur übereinstimmend als das erste »vollständige« Alphabet in der Evolution der Menschengattung beschrieben wird. Doch gehört auch diese Deutung zum Inventar des orthographischen Mythos. Denn das einzige Kriterium, von dem hier die erreichte Analyse des gesprochenen Wortes als hinreichend beurteilt werden konnte, war doch die Lesbarkeit der mit diesem Repertoire geschriebenen Wörter. Und »vollständig« war das griechische Alphabet nur insofern zu nennen, als[ ... ] alle griechischen Iogoi- was man hier noch einfach mit »Texte« übersetzen kann - mit ihm so geschrieben werden konnten, daß jeder Ausdruck von jedem anderen an der betreffenden Stelle nicht zu lesenden hinreichend eindeutig zu unterscheiden war. Man hat die phonematische Analyse nicht weiter getrieben, als es für diesen Zweck notwendig war." (Ebd.: 58 f.) Die historische Rekonstruktion legt somit den "für das Verständnis von Orthographie wesentlichen Grundsatz" nahe, das entscheidende Kriterium für die Verschriftung einer Sprache sei die Lesbarkeit der Schrift: "Buchstaben werden und wurden erst recht nicht bei der Entwicklung des Alphabets dazu verwendet, Laute zu bezeichnen, sondern ausschließlich dazu, lesbare Wörter oder Texte zu schreiben." (Ebd.: 59) Wenn aber die Zielsetzung der alphabetisierenden Ver48 "Belegt ist der Gebrauch eines auf die minoische Silbenschrift zurückgehenden Syllabars durch die griechisch sprechende kyprische Bevölkerung des 9. und 8. Jahrhunderts v. Chr. Die Koexistenz dieses Syllabars und einer Konsonantenschrift war zweifellos diejenige Konstellation, die durch den Vergleich der beiden Kodierungsweisen den entscheidenden Schluß im wahrsten Sinn des Wortes nahelegte. Die schon früh vertretene These, daß die Entwicklung des Alphabets die Kenntnis beider Systeme, des kyprominoischen Syllabars und der phönizischen Konsonantenschrift, vorausgesetzt habe, hat aus pragmatischen Gründen wie logischen Gründen vieles für sich, auch wenn sie sich kaum verifizieren läßt." (Ebd.: 57 f.)
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schriftlichung einer Sprache nicht in der einfachen Zuordnung von Laut-Buchstaben-Relationen besteht, so gilt folglich für das Verständnis des phonematischen Prinzips, dass es als Bedingung der Möglichkeit einer "rekursiven Definition des mündlichen durch das geschriebene >ElementMächtigkeitprimäre Oralität< beschrieben hat, die ,Unberührtheit [einer sprachlichen Kultur] von jeder Kenntnis des Schreibens oder Druckens', dies hält sich in analoger Form in jeder sprachlichen Kommunikation als elementarer Modus der Verständigung durch." (Stetter 1997: 37) Stetter orientiert sich an der Bedeutungstheorie Paul Grices, die er als Modell oraler Kommunikation interpretiert, wenn er Verständigung als die primäre anthropologische Funktion von Sprache begreift. Grundlegend sei, dass das Gesagte nicht präsent bleibe und nicht das Wort als semantische Einheit entscheidend sei, sondern die Verständigung. "Orale Kommunikation ist konstitutiv daran gebunden, daß Sprecher und Hörer sich in ihr zugleich mit dem Gesagten über die Gelingensbedingungen dieses Handeins verständigen." (Ebd.: 29) Es sind die phänomenalen Eigenschaften des gesprochenen Wortes, aus denen sich die spezifischen Anforderungen, denen gelingende mündliche Kommunikation unterworfen ist, ableiten lassen. "Die Flüchtigkeit des Lauts, seine Nichtpräsenz dem Ohr gegenüber- im Gegensatz zur Präsenz des geschriebenen gegenüber dem Auge -begünstigt den Umstand, daß es als Laut in der Regel gar nicht wahrgenommen wird, gerade indem es als artikulierter Laut verstanden wird. Erst in besonderen Situationen, etwa in einem fremdsprachlichen Erlebenskontext, nehmen wir den Laut der eigenen Sprache als solchen wahr, der uns gegenüber den Lauten der fremden Sprache in besonderer Weise berührt. So ist der Laut das ideale Substrat fiir ein sich Verständigen, dessen Paradoxie schon von Platon diskutiert wird, insofern es konstitutiv mit dem legein, dem Sagend-etwas-meinen, verbunden 50 In einem neueren Aufsatz unterscheidet Stetter terminologisch zwischen geschriebener Sprache und Schrift. Unter ersterer ist das "persistente Resultat ephemer Schreibhandlungen" zu verstehen; der Ausdruck »Schrift« bezeichnet dagegen "das Verfahren, mittels dessen in solchen Handlungen sprachliche Informationen fixiert, kodiert, eben niedergeschrieben wird." (Stetter 2005: 129)
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scheint. Zwar wird das Gemeinte diskursiv gesagt, aber nichtdiskursiv, nämlich als Ganzes, gemeint und verstanden." (Ebd.: 28) In diesem Sinn versteht Stetter Sprache nicht als Mittel der Verständigung, sondern als ein Medium, in dem Verständigung stattfindet: "Wir verständigen uns mit Worten. Genauer gesprochen müßte man sagen: in ihnen, denn wir verwenden sie, wo es um die Sache geht, nicht instrumentell." (Ebd.: 30 f.) An anderer Stelle: "Wir handeln nicht nur in und mit der Sprache, sondern wir verhalten uns >in ihrMächtigkeit< ausgebildet wurde, die an Fähigkeit semantischer Differenzierungen dem gesprochenen Wort äquivalent ist[ ... ]" (Stetter 1997: 273) Gerade diese Subordination der Schrift garantiert ihre Autonomie gegenüber Sprache. Die erreichte Äquivalenz von Schrift und Sprache ist nur möglich über die Ausbildung spezieller textueller Erfordernisse wie syntaktische W ohlgeformtheit und semantische Konsistenz, die in vergleichbarer Weise für mündliche Rede nicht gelten. Zugleich erweist sich die Autonomie der Schrift aber auch daran, dass sich Gelingensbedingungen für schriftliches Handeln nicht in analoger Weise zu Sprechhandeln angeben lassen. Gerade an dieser Stelle markiert Stetter die Desiderate einer Schriftphilosophie, die sich an den kategorialen Mitteln der Philosophie des späten Wittgenstein, Ryles und Austins zu orientieren hätte. Die Vorzüge einer derartigen Schriftphilosophie sieht Stetter in der Tatsache, dass sie "ihr kategoriales Gerüst ausgehend vom Handlungsaspekt der Artikulation von Gedanken und Äußerungen" (ebd.: 282) entwickeln müsste. "Will man also den konstitutiven Leistungen der Schrift für das Gelingen von Handlungen auf die Spur kommen, so ist eine Phänomenologie dessen notwendig, was wir tun, indem wir schreiben." (Ebd.: 284)
1.1.3 Terminologische Vergewisserung Die umfangreiche Präsentation von Material aus den Forschungen zu Schriftgeschichte und Schrifttheorie hat gezeigt, dass die Autarkiethese, soweit mit ihr historisch argumentiert wird, durch den aktuellen Stand gestützt wird. Die genealogische Linie von archaischen Rechensteinen zu mathematischen und logischen Symbolen und der Art ihrer Verwendung entspricht schrifthistorischem Standard. Intuitiv erscheint die These auch unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten plausibel. Wenn schon das alltagssprachliche Verständnis von Schrift, das die
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Symbiose von Schrift und Sprache unterstellt, durch Reflexionen zum Problem gemacht wird, die nach der Art dieser Symbiose und ihres Zustandekoromens fragen, so kann die Eigenständigkeit eines Schrifttyps, der niemals zum Zweck der Aufzeichnung sprachlicher Äußerungen entwickelt wurde, kaum in Zweifel gezogen werden. Bei aller grundsätzlichen Plausibilität dieser Überlegung bleibt dennoch die Frage zu erörtern, inwiefern Krämers typographische Schriften tatsächlich als Schriften zu bestimmen sind. Das von Koch entwickelte dreiteilige genealogische Schema verdeutlicht, dass Schrift im Sinn der Verschriftung von Sprache eine Möglichkeit unter mehreren der Verwendung graphischer Artikulationen darstellt. Die Rubriken »Rechnen/Kalkül/Logik« und »Buchhaltung« markieren zwei weitere Klassen, die sowohl in Hinblick auf die Vielfalt der unter ihnen befassten Möglichkeiten des Gebrauchs graphischer Zeichen als auch aus schrifthistorischer Sicht als gleich ,mächtig' angesehen werden müssen. Zweifelsohne müssen typographische Schriften der ersten Rubrik zugeordnet werden. Der Terminologie Kochs zufolge dürfen sie dann nicht als Schriften klassifiziert werden. Gegen die terminologische Festlegung Kochs, die dem Alltagsverständnis von Schrift entgegenkommt, kann mit den am Anfang dieses Kapitels vorgestellten Überlegungen zu einem allgemeinen Schriftbegriff argumentiert werden, dass graphische Zeichensysteme, die nicht der Verschriftung von Sprache dienen, über computergestützte Techniken längst Bestandteil unseres Alltags geworden sind. Es wäre daher an der Zeit, so ließe sich die Argumentation weiter entwickeln, unser alltägliches Schriftverständnis den kulturellen Gegebenheiten anzupassen. Allerdings liegt die von Krämer intendierte Erweiterung der Extension des Begriffs »Schrift« nicht in kohärenter argumentativer Form vor. Vielmehr basiert der Vorschlag zum einen auf den exemplarisch an typographischen Schriften entwickelten Merkmalen, zum anderen wurde er programmatisch umrissen im Kontext allgemeiner sprach- und schriftwissenschaftlicher Überlegungen. Beide Ansätze verbindet der Fokus auf das für den neuen Schriftbegriff konstitutive Merkmal der Sprachunabhängigkeit bzw. Lautsprachenneutralität Im Fall typographischer Schriften wurde es entwickelt in Hinblick auf deren funktionale Bestimmung, die darin besteht, dass dieser Schrifttyp nicht zum Zweck der Notierung und Kodifizierung von Sprache entwickelt wurde und eingesetzt wird. Verallgemeinert auf alle Arten von Schrift, mithin auch auf Schrift in der engen Bedeutung des Wortes, bestimmt dieses Merkmal die Neutralität schriftlicher Systeme gegenüber empirisch vorzufindenden Einzelsprachen. Diese Annahme der Neutralität von Schrift gegenüber Sprache bedarf aber einer gerraueren Überprüfung. Auf den ersten Blick wird sie gestützt durch die Beispiele von Stetter und Harris: Die Verschriftung eines oralen Dialekts bedarf der Anpassung des vorhandenen Zeichenrepertoires an die jeweils vorgefundene Sprache. Bei diesem Repertoire handelt es sich um das Alphabet, das der terminologischen Differenzierung von Harris zufolge auf der Ebene der Notation an-
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gesiedelt werden muss. Sprachfreiheit im radikalen Sinn kann nur für diese Ebene beansprucht werden. Dagegen wird auf der Ebene der Schrift eine Korrelation zwischen Schriftzeichen und Lautsprache konstituiert, die über die Bestimmung der zulässigen Kombinationsregeln ftir die Einzelzeichen des Alphabets verläuft. Im Rahmen der tennirralogischen Unterscheidung von Harris lässt sich das Merkmal der Sprachfreiheit folglich nur in abgeschwächter Form beanspruchen. Krämers Definitionsvorschlag beruft sich dagegen auf die Kriterien der Notationstheorie Nelson Goodmans - syntaktische sowie semantische Disjunktivität und endliche Differenziertheit (Goodman 1995: 128 ff.) 51 -, um das in der aktuellen Schrifttheorie dominierende Kriterium der Materialität der Zeichen durch strukturelle Merkmale abzulösen. Allerdings verschweigen Krämers Überlegungen, dass Schriften wie die Alphabetschrift in Goodmans Theorie unter den Allgerneinbegriff der Notation fallen, also nur eine Art der Notation unter anderen darstellen. Auch Harris fasst diesen Begriff als Sammelbezeichnung für "systems of marks [ ... ] developed for purposes such as mathematical calculation, recording music and dance, telling the time, indicating temperature etc." (Harris l994a: 1559, Sp.l ) 52 Krämer beabsichtigt, die notationalen Strukturen von Schrift im engen Sinn hervorzuheben, um im Anschluss daran die Klasse der Schriften in der beschriebenen Weise zu erweitern. Im Zuge dieser Bemühung tendiert sie dazu, die Ausdrücke »Schrift« und »Notation« synonym zu verwenden, ohne die damit postulierte Gleichsetzung zu begründen. Damit stellt sich umgekehrt die Frage, inwiefern typographische Schriften als Schriften bezeichnet werden können, wenn der Ausdruck »Schrift« vorrangig auf graphische Zeichensysteme bezogen wird, die der Notierung von Schriftsprache dienen. Gerade dieser Bezug wird typographischen Schriften abgesprochen und das Fehlen dieses Merkmals gilt als charakteristisches Merkmal dieses Schrifttypus'. Überprüft man das Merkmal der Sprachfreiheit von typographischen Schriften noch einmal, so ergibt sich das folgende Bild: Generell beinhaltet Schrift die Möglichkeit des nicht-referenziellen Gebrauchs von Zeichen - die Notationstheorie von Harris hob diese Möglichkeit als zentrales Charakteristikum graphischer Notate hervor. Typographische Schriften nutzen dieses Potenzial in der Weise, dass sie nicht dem tragenden Prinzip der mündlichen Rede, Verständigung, unterliegen; in Krämers Terminologie erfüllen sie nicht kommu51 Vgl. in diesem BuchS. 190. 52 Harris zählt damit alle die Arten von Notationen auf, die auch Goodmans Theorie behandelt (vgl. Goodman 1995: 149 ff.). Den Unterschied zwischen Goodmans und seiner Notationstheorie formuliert er in der folgenden Weise: "Two types of attempt to define notationswill be compared and contrasted, one (Goodman ... ) following a ,surrogational' approach and the other (Harris ... ) pursuing an ,integrational' approach. The former proceeds on the assumption that notations comprise signs having meaning in virtue of correlations with independently given items which they denote or ,stand for' , whereas the latter approach assumes that the features that characterize notations can be specified independently of the system or systems of expressions in which they are utilized." (Harris 1994a: 1560, Sp. 1)
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nikative, sondern ,technische' Funktionen, sie sind tendenziell , stumm': In gewisser Hinsicht handelt es sich bei ihnen um einen Fall "radikaler Verschriftung" (Trettin 1991:55), da die sinnlich wahrnehmbare Gestalt der Symbole, die Art ihrer Verkettung und ihrer Umformung hinreichend sind für ihre Verwendung. Wenn im weiteren Verlauf dieser Untersuchung dennoch der Ausdruck »typographische Schrift« verwendet und später derjenige der »formalen Schrift« eingeführt wird, so geschieht dies unter Berufung auf Harris' Unterscheidung von Notation und Schrift. Typographische Schriften setzen sich zusammen aus Elementen der beiden Notationen Alphabet und arabisches Ziffernsystem, ergänzt durch (Hilfs-)Zeichen für logische Operationen. Bereits mit der Festlegung von Zeichen als Elementen einer (logischen) Syntax und der Formulierung von Regeln für die Bildung von Zeichenketten und für die Transformation von Zeichenausdrücken wird aber die Ebene der Notation verlassen. Bei typographischen Schriften handelt es sich deshalb zwar nicht um Ausdruckssysteme im Sinne der Linguistik, die darunter die Bezogenheit auf den Lautcharakter von Sprache versteht, wohl aber im Sinn eines möglichen inhaltlichen Bezugs. Typographische Schriften dienen nicht der kodifizierten Wiedergabe mündlicher Rede - es handelt sich also nicht um Schrift im engeren Sinn -, sondern der Darstellung logischer Strukturen bzw. des Aufbaus eines Systems möglicher Aussagen. In diesem Sinn sind sie zwar nicht sprachbezogen, wohl aber inhaltlich (prä-)formiert. Damit handelt es sich bei ihnen nicht lediglich um ein Repertoire verfügbarer Zeichen, wie die Darstellungen Krämers nahe legen, sondern um graphische Artikulationssysteme, die der Präsentation und Konstruktion nicht primär sprachlicher Inhalte oder Strukturen dienen.
1.2
Typographische Schriften als Medien
In der bisherigen Beschäftigung mit dem Konzept der typographischen Schrift wurden diese als Medien behandelt, wobei darunter zunächst nichts anderes verstanden wurde als ein bestimmtes Zeichensystem mit spezifischen Charakteristika. Im folgenden Abschnitt soll terminologisch gerrauer unterschieden werden zwischen den verschiedenen Dimensionen, die Medien aufweisen. Zu diesem Zweck wird auf Differenzierungen zurückgegriffen, die dem Bereich der philosophischen Reflexion auf (technische) Mittel entnommen werden. 53 Untersucht werden soll in diesem Zusammenhang, inwiefern es sich bei typographischen Schriften um Medien handelt.
1.2.1 Mittel und Medien In der aktuellen philosophischen Mediendiskussion lässt sich der Ausdruck »Medium« vor allem in der geläufigen Bedeutung des materiellen Zeichen- oder Bedeutungsträgers finden. 54 Auch Krämers Charakterisierung von typographischer 53 Vgl. Hubig 2002. 54 Vgl. Sachs-Hornbach 2003: 220; Hiebe! u. a. 1998: 12.
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Schrift als dem neuen Rechenmittel der Neuzeit greift auf diese Bedeutung zurück. 55 Festzustellen ist aber auch eine Doppeldeutigkeit, mit der nicht ausdrücklich unterschieden wird zwischen dem zugrunde gelegten Zeichensystem und dem über diesem aufgebauten Kalkül. Krämer definiert diesen Schrifttyp in einer Weise, die beide Interpretationen zulässt, nämlich als ein Zeichensystem, das "[ ... ] auf einem Alphabet [beruht] und auf Regeln der Kombination der alphabetischen Zeichen [ ... ]"(Krämer 1991: 94) Die "mediale Struktur" dieses Systems wird charakterisiert durch "[ ... ] eine Folge typographischer Symbole, deren Abfolge durch nichts anderes determiniert ist denn durch die Aufbauregeln des Ziffernsystems selbst." (Ebd .) Ebenso gut lässt sich Krämers Definition auf den arithmetischen Kalkül beziehen, in dessen Rahmen die Ziffern aus einem einzigen Grundelement abgeleitet werden. In diesem Fall würde es sich bei typographischen Schriften um "[ ... ] ein Herstellungsverfahren von Figuren aus Grundfiguren nach bestimmten Vorschriften, den Grundregeln [handeln]. Dabei sind alle Figuren aus einem Vorrat an Grundzeichen oder Atomfiguren, dem Alphabet, zusammengesetzt." (Lorenz 1995: 338, Sp. l) Zu unterscheiden wäre dann zwischen Medium,, dem Repertoire graphischer Zeichen, das die Voraussetzung darstellt für Medium2, den Kalkül, über dessen Verfahren die Elemente von Medium, als ,Gegenstände' arithmetischer Berechnung erst systematisch abgeleitet werden können. Krämers Formulierungen lassen beide Deutungen zu. Daran wird deutlich, dass sie nicht klar unterscheidet zwischen den jeweils eingesetzten graphischen Mitteln und den arithmetischen Verfahren, in denen sie eingesetzt werden. Ebenso fehlt eine eindeutige Unterscheidung zwischen Mitteln und Medien. Krämer zufolge werden typographische Schriften als "Medium des Rechnens" (Krämer 1991: 115) eingesetzt. Über die Anwendung algorithmischer Rechenverfahren, die als Regeln zum Aufbau "typographischer Ausdrücke" zu verstehen sind, entwickelt sich Rechnen "[ ... ] zu einer Tätigkeit, die mit Hilfe syntaktischer Maschinen ausgeführt werden kann." (Ebd.: 114) Für die psephoi-Arithmetik der Pythagoreer stellt Krämer wiederum fest, dass diese sich nicht nur"[ ... ] als ein Medium zur Demonstration eines Sachverhaltes [erweist], der außerhalb und unabhängig dieses Mediums [ ... ]gegeben ist; vielmehr als ein Medium zur Herstellung dieses Sachverhaltes selbst." (Ebd.: 21) Dieses Medium basiert auf der Verwendung gegenständlicher Mittel, den Rechensteinen. An anderer Stelle wiederum charakterisiert Krämer die pythagoreische Arithmetik als "Mittel zur Erzeugung von Zahlen." (Ebd.: 17) Versucht man, diese terminologischen Beispiele zu systematisieren, so ergibt sich zunächst, dass der Ausdruck »Medium« zur Bezeichnung graphischer Zei-
55 Im Unterschied zu der später entwickelten Schriftkonzeption betont Krämer in ihrer Untersuchung von 1991 die materiell bedingte Visualität und Stabilität graphischer Artikulationen.
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chensysteme der eingeführten Art dient. Typographische Schriften werden als Zeichensysteme zur Durchführung kalkulatorischer Verfahren eingesetzt. In diesem Sinn handelt es sich bei ihnen um Rechenmedien oder Medien der symbolischen Darstellung (ebd.: 372). Ähnlich kann auch die Formulierung verstanden werden, dass"[ ... ] erst im Medium der typographischen Schrift[ ... ] der Aufbau von Kalkülen möglich [ist] [ ... ]" (Ebd.: 383) Wenn Krämer für die pythagoreische Arithmetik feststellt, dass sich"[ ... ] die Eigenschaften des Mediums zugleich als Eigenschaften desjenigen [erweisen], das im Medium zur Darstellung gelangt [ ... ]", so bezieht sie sich damit auf ihre These von der Identität von Medium und Gegenstand, auf die"[ ... ] Verschmelzung medialer Eigenschaften mit den Eigenschaften des Referenzgegenstandes", die in der Weise vorzustellen sei, "[ ... ] daß in der psephoi-Arithmetik die Zeichen mit dem, was sie bezeichnen, irreins gesetzt werden." (Ebd.: 30) Die Anzahlen der Pythagoreer sind nur durch Rechensteine darstellbar und herstellbar; ihnen kommt keine vom Darstellungs- und Rechenmittel unabhängige Existenz zu. Analog formuliert Krämer für die Algebra Vietes: "Viete bringt mit dem Begriff ,logistica speciosa' [ ... ] zum Ausdruck, daß seine Buchstabenvariablen letztlich Platzhalter sind für Zahlen. Doch ergab unsere Analyse des dezimalen Positionssystems, daß die Zahlen, die durch den systematischen Aufbau dieses Zeichensystems der Reihe nach erzeugt werden, nur noch als Referenzgegenstände operativ gebrauchter Symbole gegeben sind." (Ebd.: 145) Demzufolge handelt es sich, nach Krämers Tenninologie, bei den archaischen Rechensteinen ebenso wie bei den Ziffern- und Buchstabenzeichen der Algebra um Mittel der Darstellung und Erzeugung von Zahlen, die im jeweiligen Medium (verstanden als Zeichenträger), den psephoi bzw. den typographischen Zeichen, realisiert werden. Eine erste weiterfuhrende terminologische Präzisierung erlaubt John Deweys Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Mitteln, die er im Rahmen seiner Erörterung der Bedeutung von Medien für die Kunst einfuhrt. Erstere"[ ... ] sind gewöhnlich von der Art, daß andere als Ersatz dafür eintreten können." (Dewey 1980: 229) Sie sind Vehikel zur Erreichung eines gesetzten Zwecks. Für innere Mittel gilt dagegen, dass die Relation zwischen eingesetztem Mittel und Zweck nicht äußerlich ist. In diesem Sinn werden sie zu Medien. "Mittel werden unter der Voraussetzung zu Medien, wenn sie nicht bloß der Vorbereitung oder als etwas Vorläufiges dienen [ ... ] Ein Plattenspieler ist ein Vehikel, dessen Zweck sich in einer bloßen Wirkung erschöpft. Die Musik, die ihm entspringt, ist ihrerseits ebenfalls ein Vehikel, aber gleichzeitig ist sie doch mehr: sie ist nämlich ein Vehikel, welches mit dem, was es überträgt, eins wird. Es verbindet sich mit dem, was es vermittelt." (Ebd.: 231) Unter der Voraussetzung dieser Unterscheidung können die von Krämer erörterten Beispiele in der Weise gerrauer bestimmt werden, dass die pythagoreischen
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Zahlkonfigurationen sich nur in und durch das innere Mittel der Rechensteine darstellen lassen. Analoges gilt dann für die Algebra -Zahlen als abstrakte Entitäten lassen sich nur in und durch das innere Mittel der typographischen Symbole aufweisen. Christoph Hubig unterscheidet bei der Definition von Mitteln zusätzlich zwischen Handlungs- und gegenständlicher Dimension: "Allgemein verstehen wir unter Mitteln diejenigen Handlungsereignisse (act tokens) oder [ ... ] diejenigen Gegenstände und Artefakte, die geeignet sind bzw. sich in ihrer Eignung bewährt haben, unsere Handlungszwecke zu realisieren. Mit Hege! und John Dewey [ ... ]können wir diese Mittel als >äußere Mittel< bezeichnen. Elementare Handlungszwecke sind Wandlung, Transport oder Speicherung von Materie, Energie oder Information. Analog können wir solche Zwecke auch als >äußere Zwecke< bezeichnen. Die Bestimmbarkeit eines Gegenstands oder eines Handlungsereignisses als Mittel hängt ab von der Möglichkeit einer Zuordnung zu einem Zweck oder mehreren Zwecken aus dem erwähnten Spektrum." (Hubig 2002: 10)
Während der Einsatz äußerer Mittel der Realisierung äußerer Zwecke dient, gilt umgekehrt auch, dass das Vorhandensein "von geeigneten und bewährten Mitteln" (ebd.: ll) die Identifizierung von möglichen Zwecken erlaubt. Äußere Mittel beziehen sich somit auf reale Möglichkeiten, auf mögliche Zwecke, die über ihren Einsatz zu realisieren sind. Sie gestatten darüber hinaus die Entwicklung von "Nutzungsroutinen" (ebd.), über die Gegenstände "zu Kandidaten eines bewussten Disponierens" werden können, zu "möglichen (oder unmöglichen) Mitteln[ ... ] als Elemente[n] von Handlungsschemata." (Ebd.: 14) Auf diese Weise können äußere Mittel als "Potenziale" aufgefasst werden, als "Inbegriff einer realen Mittel-Möglichkeit[ ... ]" (ebd.: 15)- als innere Mittel im Sinne Deweys. Die Pointe der tennirralogischen Differenzierungen Hubigs besteht darin, dass diese erlauben, präzise zu formulieren, wodurch Mittel zu Medien werden bzw. worin der mediale Charakter bestimmter Mittel zu sehen ist. Mittel werden zu Medien dadurch, dass sie"[ ... ] einen Möglichkeitsraum von Zwecksetzungen in Erwartung ihrer Realisierung vor[geben]." (Ebd.: 29) 56 Anders fonnuliert: Die verfügbaren Mittel stellen die Bedingungen der Möglichkeit für die Setzung neuer und neuartiger Zwecke dar, die durch das Vorhandensein von Mitteln verfügbaren Potenziale weisen auf Möglichkeitsräume hin, die sich schrittweise erschließen lassen. Ernst Cassirer hat diesen Sachverhalt in der folgenden Weise fonnuliert: "Die Anschauung eines bestimmten Werkzeuges[ ... ] erschöpft sich niemals in der Anschauung eines Dinges mit besonderen Merkmalen, eines Stoffes mit bestimmten
56 Diese terminologische Differenzierung unterscheidet sich maßgeblich von derjenigen Krämers, die lediglich zwischen technischen Instrumenten als "Mittel für etwas" und Medium als "Mittler von etwas" begrifflich trennt; vgl. Krämer 1998a: 83.
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Eigenschaften. Im Stoff wird hier vielmehr sein Gebrauch, in der >Materie< die Form der Wirksamkeit, die eigentümliche Funktion erschaut: und beides trennt sich voneinander nicht, sondern wird als eine unlösliche Einheit ergriffen und begriffen. Der Gegenstand ist als Etwas bestimmt immer nur soweit und sofern er zu Etwas bestimmt ist [... ] Jedes Sein ist hier in sich bestimmt, aber es ist zugleich Ausdruck einer bestimmten Verrichtung, und in dieser Anschauung der Verrichtung geht dem Menschen ganz allgemein eine prinzipiell neue Blickrichtung [ ... ]auf." (Cassirer 1985: 64) Wendet man die eingeführten terminologischen Differenzierungen auf das Beispiel der figurierten Anzahlen an, so wird deutlich, dass es sich bei den psephoi nicht um beliebige Mittel handelt. Die von Krämer betonte materielle Stabilität und Gegenständlichkeit stellt die notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für die Möglichkeit der Bildung figurierter Anzahlen dar. Erst als Mittel in bestimmten Handlungskontexten, nämlich den Verfahren des legenden Erzeugens von Anzahlen und des legenden Demonstrierens ihrer Eigenschaften werden sie zu inneren Mitteln, die mit dem, was sie darstellen, verschmelzen. Rechensteine sind folglich als Mittel anzusehen, die für die Realisierung unterschiedlicher Zwecksetzungen eingesetzt werden können - zur Registrierung von Warenmengen ebenso wie für die Ausbildung protoarithmetischer Verfahren. Für beide Arten von Praktiken stellen sie Bedingungen der Möglichkeit für deren Entwicklung und Durchführung dar - erst unter der Voraussetzung des Vorhandenseins derartiger Artefakte lassen sich größere Warenmengen verwalten, lassen sich Anzahlen als Konfigurationen darstellen. Zu unterscheiden wäre dann zwischen Medien1 und Medien2: psephoi müssen als Medien im Sinne der Medientheorie- Medien1 -als materielle Zeichenträger gelten. Als solche sind sie einzustufen als graphische Mittel der Berechnung, Registrierung oder Darstellung. In dieser Eigenschaft stellen sie die Voraussetzung dar für die Entwicklung der protoarithmetischen Praktiken der Pythagoreer, aus deren Anwendung, als Medium2, figurierte Anzahlen gebildet werden können. Bei Rechensteinen handelt es sich folglich um innere Mittel insofern, als die Anzahlen nur in ihnen und durch sie gebildet werden können; die Bildung der Figurationen ist aber nur über die Aktualisierung der zu ihrer Anordnung erforderlichen Handlungsschemata möglich- ein Steinhaufen stellt noch keine Anzahl im Sinne der pythagoreischen Arithmetik dar. 57 So stellt in analoger Weise das arabische Ziffernsystem in Verbindung mit dem Dezimalsystem ein Medium im Sinn von Medium1 dar, als Zeichenrepertoire auf bestimmten Zeichenträgern, das ermöglicht, die Bedeutung eines typographischen Zeichens aus seiner internen Position abzuleiten. Erst in Verbindung
57 Die Unterschiede in den Möglichkeiten und Grenzen von pythagoreischer, babylonischer und altägyptischer Arithmetik lassen sich folglich nur über Differenzen auf der Ebene von Medium2, den verwendeten Verfahren, erklären. Denn das verwendete Medium 1 ist dasselbe: Rechensteine. Zur babylonischen und ägyptischen Arithmetik vgl. Damerow 1981.
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mit der Ausbildung der entsprechenden algorithmischen Verfahren, als Medium2, ist es aber möglich, wie Krämer richtig betont, die verwendeten Zeichen rein syntaktisch zu verwenden. 58 Eine Differenzierung der Dimensionen von Mittelhaftigkeit auf der Ebene von Medium2 gestattet Edmund Husserls Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der neuzeitlichen Physik, den er als einen Prozess der Neuorientierung darstellt, in dessen Verlauf sich ein neues Verständnis von Wissenschaft selbst herausbildet. Husserl betont, dass die sich im Verlauf dieses Prozesses erst vollziehende Umdeutung der Euklidischen Geometrie zunächst keine Veränderung auf der Ebene der basalen Mittel nach sich zog. Zirkel und Lineal wurden unverändert als Mittel des Messens, des Konstruierens und des Berechnens eingesetzt. Entscheidende Veränderungen finden dagegen auf der Ebene dessen, was Husserl als "Messkunst" bezeichnet, statt, auf der Ebene der Festlegung von Regeln für die Definition von körperlichen Gestalten, ihrer Größen und der Größenbestimmungen selbst: "Die Meßkunst entdeckt praktisch die Möglichkeit, gewisse empirische Grundgestalten an faktisch allgemein verfligbaren empirisch-starren Körpern konkret festgelegt, als Maße auszuwählen und mittels der zwischen ihnen und anderen Körper-Gestalten bestehenden (bzw. zu entdeckenden) Beziehungen diese anderen Gestalten intersubjektiv und praktisch eindeutig zu bestimmen- zuerst in engeren Sphären[ ... ], eben dann flir neue Gestaltsphären [ ... ] Die Meßkunst wird also zur Wegbereiterin der schließlich universellen Geometrie." (Husserl1977: 27)
Vorbereitet wird damit eine Orientierung, die darauf zielt, Messverfahren zu universalisieren, und sich darum bemüht, die Methodik von Geometrie und Messkunst auch auf nichtgestalthafte Qualitäten physischer Gegenstände, wie "Farbe, Ton, Geruch und dergleichen" (ebd.: 29) anzuwenden. "Was wir im vorwissenschaftlichen Leben als Farben, Töne, Wärme, als Schwere an den Dingen selbst erfahren, kausal als Wärmestrahlung eines Körpers, der die umgebenden Körper warm macht [ ... ], das zeigt natürlich ,physikalisch' an: Tonschwingungen, Wärmeschwingungen, als reine Vorkommnisse der Gestaltenwelt." (Ebd.: 38) Die eingeführte "indirekte Quantifizierbarkeit gewisser sinnlicher Qualitäten" (ebd.: 39) und ihre Kennzeichnung durch Größen und Maßzahlen können dann, unter der Voraussetzung einer allgemeinen Induktivität, in "allgemeine Zahlformeln [übergehen], die einmal gefunden, anwendungsmäßig dazu dienen können, an den darunter zu subsumierenden Einzelfällen die faktische Objektivierung zu vollziehen." (Ebd.: 43) Sie bilden die Grundlage dafür, Gesetze funktionaler Abhängigkeiten aufzustellen, die es ermöglichen, physikalische Größen mathematisch auszudrücken und zu berechnen. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von einer "Arithme58 Vgl. Krämer 1991: 115.
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tisiemng der Geometrie", die er als "Entleerung ihres Sinnes" interpretiert. (Ebd.: 47) An den hier zitierten Beispielen wird deutlich, dass Husserl nicht nur gegenständliche Instrumente als Mittel der wissenschaftlichen Theoriebildung berücksichtigt, sondern auch technische Verfahren, begriffliche Bestimmungen und Methoden zum Arsenal der wissenschaftlichen Mittel zählt. Sie sind nicht neutral in dem Sinn, dass sie beliebig einsetzbar wären; vielmehr handelt es sich um Voraussetzungen, die die wissenschaftliche Erforschung und Erklärung von Sachverhalten erst ermöglichen und zur Weiterentwicklung beitragen. Sie sind Ermöglichungsbedingung für die Ausbildung wissenschaftlicher Erklärungsmodelle sowie von Entwicklungen, die auf diesen weiter aufbauen. Krämer thematisiert derartige, auf der Ebene von Medium2 festzusetzende Mittel im Rahmen ihrer ausführlichen Darstellung der analytischen Geometrie Descartes' und der Infinitesimalrechnung von Leibniz. 59 Einerseits arbeitet sie deutlich die einzelnen Entwicklungsstufen, die erforderlichen methodischen Verfahren und terminologischen Festlegungen, heraus, die, ihrer Darstellung zufolge, darin münden, dass infinitesimalen Größen nur im Medium selbst Existenz zugesprochen werden kann, dass sie ,nur' symbolisch repräsentierbar sind. Andererseits argumentiert sie eher gegenstandsorientiert und resultativ, wenn sie die Identität von Medium1, typographischem Symbol, und Entität, infinitesimaler Größe, postuliert. Die Gründe hierfür sind, neben den bisher aufgezeigten mangelnden tennirralogischen Unterscheidungen in der Verwendung des Ausdrucks »Medium«, auch in der Wahl des theoretischen Beschreibungsmodells zu sehen.
1.2.2 Gegenständlichkeit von Medien und Sprachfreiheit formaler Systeme Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde die These der Sprachfreiheit typographischer Schriften vorrangig unter schrifttheoretischen Gesichtspunkten kritisch überprüft und in modifizierter Form übernommen. Im Folgenden soll die eingeführte medienphilosophische Terminologie herangezogen werden, um zu zeigen, dass eine aus der ersten These abgeleitete Behauptung der Sprachfreiheit formaler Systeme - Systemen also, die über typographischen Schriften gebildet werden - ebenfalls nur in einer abgeschwächten Variante übernommen werden kann. Das Argument wird auch hier lauten, dass der fehlende Bezug zur Lautsprache nicht gleichzusetzen ist mit dem Fehlen jeglicher inhaltlichen Bezogenheit. In diesem Zusammenhang wird die Auffassung vertreten, dass die Annahme einer grundlegenden Sprachfreiheit formaler Systeme - Algorithmen und Kalküle - nicht haltbar ist, weil sie auf einer einseitigen Betonung der gegenständlichen Komponente von Medien beruht, aus der wiederum ein technikphilosophisches Beschreibungsmodell abgeleitet wird, das zu reduktionistischen Schlussfolgerungen führt. 59 Siehe hierzu Krämer 1992; 1997a.
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Bisher wurde Krämers Autarkiethese behandelt in Bezug auf das charakteristische Merkmal typographischer Schriften: Sprachfreiheit Ausgedrückt wird damit das Merkmal der Indifferenz gegenüber natürlichen Sprachen sowie der mit typographischen Schriften gegebenen Möglichkeit des rein formalen, syntaktischen Zeichengebrauchs. In der Fonnulierung Krämers kommt ein weiteres hinzu, mit dem die Autarkiethese nicht nur gestützt, sondern sogar zugespitzt wird: die Sprachfreiheit der über typographischen Schriften errichteten Systeme. Die diesbezügliche These lässt sich in der folgenden Weise zusammenfassen: Kalküle, verstanden als Regelsysteme, die über Grundzeichen aufgebaut werden, basieren auf der notwendigen Voraussetzung der Verfügbarkeit über ein System typographischer Zeichen. Sie erweisen sich zugleich als Systeme des sprachfreien Umgangs mit ihren Elementen und können deshalb als syntaktische bzw. symbolische Maschinen bezeichnet werden. Unter den äquivalenten Voraussetzungen der Verschriftlichung, Fonnalisierung und Mechanisierung lassen sich Operationen einer syntaktischen Maschine auch von realen Maschinen ausführen. (Krämer 1991: 377 f., 383) Es lohnt sich, diese am Konzept der Turingmaschine orientierte These auf ihre schrifttheoretischen Implikationen und philosophischen Konsequenzen hin zu untersuchen. Bevor dies geschieht, müssen allerdings vier weitere Begriffe eingeführt werden. Als typographische Systeme werden Zeichen- und Regelsysteme verstanden, die unter Verwendung typographischer Schriften errichtet werden. Den Prototyp eines derartigen Systems stellt wiederum das Dezimalsystem mit der Ziffer Null dar, an dem sich die charakteristische Eigenschaft aufzeigen lässt, dass die Bedeutung der verwendeten Zeichen allein durch ihre Position im System festgelegt wird. Krämer führt in diesem Zusammenhang die Bezeichnung "intrasymbolische Bedeutung" im Unterschied zur "extrasymbolischen" (ebd.: 108 f.) ein, welche der inhaltlichen Interpretation, der Zuordnung zu einem semantischen System entspricht. In ihrer Beschreibung zeichnen sich derartige Systeme dadurch aus, dass sie generell den Bezug auf Referenzentitäten, seien es konkrete Anzahlen oder abstrakte platonistische Entitäten, unnötig machen. Im Kontext dieser schrifttheoretischen Charakterisierung steht die, wiederum schrifttheoretisch motivierte, Unterscheidung zwischen Algorithmus und Kalkülen. Bei beiden handelt es sich um schematische Verfahren, die sich vorrangig in der Art der Zeichenverwendung unterscheiden: ,,Algorithmisch heiße ein Problemlösungsverfahren, bei dem schematisch einer Regel gefolgt wird, die nicht nur für ein einzelnes Problem, sondern ftir eine Klasse von Problemen gilt, wobei die Problemlösung in endlich vielen Schritten gefunden werden kann." Das Rechnen mit schriftlichen Symbolen wird definiert wie folgt: "Kalkulatorisch heiße ein Problemlösungsverfahren, sofern die Problemstellung mit Hilfe einer künstlichen Zeichensprache fonnuliert und in dem Medium dieser künstlichen Sprache zugleich gelöst wird." (Krämer 1988: 72)
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Anders formuliert: Der Unterschied zwischen Algorithmus und Kalkül besteht darin, dass bei Kalkülen die Wahl des Rechenmittels nicht beliebig ist, da allein die Verwendung eines typographischen Alphabets die formale Verwendung der Elemente gestattet. »Kalkülisierung« bezeichnet dann den Prozess, in dessen Verlauf die methodischen Verfahren einer Wissenschaft in der Weise algebraisch formuliert werden, dass der Umgang mit wissenschaftlichen Objekten bzw. mit wissenschaftlichen Problemstellungen über das interpretationsfreie Operieren mit typographischen Symbolen behandelbar und im Medium des Kalküls algorithmisch lösbar ist. (Krämer 1991: 151) Krämer proklamiert für die neuzeitliche Mathematik eine Tendenz zur Kalkülisierung und zeichnet diese als historische Entwicklung am Beispiel der Mathematik und Philosophie von Descartes und Leibniz nach. Der historisch-methodischen Rekonstruktion wird dabei ein teleologisches Muster unterlegt, das den wissenschaftlichen Progress in der fortschreitenden Ablösung der mathematischen Symbole von jeder Referenzialität nahe legt. In diesem Modell markiert die analytische Geometrie Descartes' einen Zwischenschritt, weil sie geometrische Konstruktionen durch die "Kalkülisierung der konstruktiven Operationen" (ebd.) ersetzt, dabei aber der geometrischen Figur als Referenzobjekt mathematischer Berechnungen verpflichtet bleibt, während die Entwicklung der transzendenten Gleichungen durch Leibniz als vorläufiger Schluss- und Höhepunkt zu interpretieren wäre. Krämer folgt hier konsequent einem operationalistischen Argumentationsmodell, wenn sie davon ausgeht, dass es sich bei den durch Leibniz eingeführten Differenzialsymbolen um einen neuartigen Symboltypus handelt, der nicht mehr notwendig für eindeutig angebbare Größen steht, sondern für funktionelle Abhängigkeiten. 60 Im Zuge dieser Entwicklung vollzieht sich parallel der Wandel von Algorithmen als bloß technischen, inhaltlich nicht relevanten Rechenverfahren zur wissenschaftlichen Begründung und Fonnulierung von Kalkülen in Arithmetik und Algebra. Damit stehen die argumentativen Bausteine zur Verfügung, die gestatten, die eingangs zitierte These inhaltlich nachzuvollziehen. Entscheidend für die Begründung dieser These ist die Wahl des Beschreibungsmodells, mit dem der formale Umgang mit den Elementen typographischer Systeme charakterisiert wird. Ausgangspunkt für eine derartige Wahl ist das gemeinsame Merkmal von Algorithmus und Kalkül, das schematische, regelgeleitete Operieren mit gegenständlichen Mitteln bzw. typographischen Zeichen. Derartige Verfahren werden im Rahmen des Methodischen Konstruktivismus sowie des Operationalismus der so genannten Erlanger Schule thematisiert. 61 Krämer orientiert sich am methodi60 "Das Symbol für den Differenzialquotienten ist [ ... ] kein Zeichen, das einen gegebenen Gegenstand beschreibt, sondern eine funktionelle Abhängigkeit vorschreibt." (Krämer 1992: 131) Krämer orientiert sich dabei an Ernst Cassirers Interpretation der Leibniz'schen Differentialrechnung. Vgl. Cassirer 1962: 178. 61 Die Bezeichnung »Üperationalismus« verweist auf den zentralen Stellenwert eines Handelns, das auf dem Befolgen aufeinander folgender methodischer Schritte be-
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sehen Vorgehen beider Positionen, wenn sie sowohl im Fall der griechischen als auch im Fall der frühneuzeitlichen Mathematik die Übergänge zwischen vor-, proto- und wissenschaftlichen Verfahren rekonstruiert. 62 Neben dieser methodischen Gemeinsamkeit stellen Operationalismus und Methodischer Konstruktivismus zwei unterschiedliche Optionen für die Beschreibung schematischen Handeins zur Verfügung, die sich gravierend in den philosophischen Schlussfolgerungen, die aus der Anwendung auf fonnale Systeme resultieren, auswirken. Die erste Option, Lorenzens operationalistische Neubegründung von Logik und Mathematik, die in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgearbeitet wurde, liegt wegen der Gemeinsamkeit der thematisierten wissenschaftlichen Disziplinen nahe. Lorenzen legt seinem Begründungsversuch die elementare Fähigkeit des schematischen Operierens mit Figuren zugrunde und leitet aus ihr die grundlegenden Regeln der Ableitbarkeit und Zulässigkeit, Elimination, Induktion, Inversion und Gleichheit ab. In diesem Sinn bestimmt Lorenzen Kalküle als den zentralen Gegenstand einer operativen Mathematik: "Die These, daß Mathematik nichts als die Theorie der Kalküle (= formal systems) sei, wurde von CURRY 1951 aufgestellt. Wir benutzen von dieser These nur die eine Hälfte, nach der die Theorie der Kalküle jedenfalls zur Mathematik gehört. Unter einem Kalkül verstehen wir dabei ein System von Regeln zum Operieren mit Figuren." (Lorenzen 1969: 3 f.) In Lorenzens Begründungsversuch werden Kalküle als bedeutungslose Regelsysteme zugrunde gelegt, die als Modellsysteme im Allgemeinen gelten können. Im Rahmen der Protologik, die sowohl Logik als auch Arithmetik vorausgeht, besteht die Funktion dieser Modelle darin, einen Bereich anzugeben und aufzuzeigen, der der mathematischen Theoriebildung vorausgeht, und damit die Möglichkeit zu schaffen, über die grundlegende Praxis des seheruht. Der wissenschaftstheoretische Grundbegriff, »Operationherrschenden< Sprachwissenschaft gründen sich DERRIDAs Modelle. Sie haben den entscheidenden Nachteil, daß seine Alternative, die Grammatologie, in vielen Punkten hinter die erreichten disziplinären Standards der Sprachwissenschaft zurückfällt." (Glück 1987: 250) Diese Defizite lassen sich vielleicht auch aus der anders gearteten Perspektive erklären, die Derrida im Vergleich zu Saussure einnimmt. So betont Sirnone Roggenbuck, dass Derridas Kritik an Saussures Konzeption des Zeichens nicht auf die Formulierung und Etablierung einer alternativen Konzeption zielt, sondern dass sie vielmehr als Kritik an einer Variante eines Identitätsdenkens aufgefasst werden sollte, das eher an der Konstitution fixer Entitäten interessiert ist als an den Bedingungen der Möglichkeit einer derartigen Konstitution. "Der Unterschied zwischen der dif.ference Saussures und der difjf~rance Derridas ist [ ... ] hauptsächlich ein perspektivischer. Saussure blickt auf das Konstituierte, Derrida auf die der Konstitution zugrundeliegende Möglichkeit, die ihn letztlich zum Durchstreichen der identite führt." (Roggenbuck 1998: 3 7) Diese Charakterisiemng gibt den entscheidenden Hinweis auf das philosophische Anliegen Derridas, das andere Fragen stellt als die Linguistik Saussures. Es zielt nicht auf einen alternativen linguistischen Begriff des schriftlichen Zeichens, sondern, wie Heinz Kimmerle fonnuliert, darauf, "daß Derrida die Sprache" und mit ihr die Schrift 10 - "nicht mehr zeichentheoretisch interpretiert." (Kimmerle 2000: 32) Im Folgenden werden, in Anschluss an diese These von Kimmerle, die unterschiedlichen Dimensionen des Schriftbegriffs von Derrida rekonstruiert und analysiert. In diesem Zusammenhang soll die These vertreten werden, dass der Beitrag Derridas zur Medienphilosophie nicht nur in der Betonung der Eigenständigkeit von Schrift besteht; er ist sehr viel mehr noch in der
10 An dieser Formulierung wird noch einmal die Ambivalenz in der Einschätzung des Status der Schrift in der aktuellen Schriftdiskussion deutlich. Geht man wie Glück davon aus, dass Schrift dem Bereich der Sprache zuzuordnen ist (vgl. Glück 1987: 1) oder ordnet man sie, wie Kimmerle, automatisch dem Bereich der Sprachphilosophie zu, so kann unter den Begriff »Sprache« auch automatisch derjenige der Schrift subsumiert werden. Wird Schrift als autonomes System gewertet und analysiert, so ist eine derartige Subsumtion nicht möglich.
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Akzentuierung eines philosophischen Begriffs des Mediums und einer philosophischen Konzeption von Medialität zu sehen.
2.1 Derridas Philosophie der Schrift und der philosophische Begriff des Mediums Derrida behandelt Schrift bzw. das schriftliche Zeichen in drei seiner Texte in prominenter Weise. Es handelt sich dabei um seine erste Veröffentlichung, die ausführliche, kommentierende Einleitung zu dem von ihm selbst ins Französische übersetzten Text Busserls Der Ursprung der Geometrie (Busserl 1987). Hieran schließt sich seine bereits metaphysikkritisch orientierte Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Status des schriftlichen Zeichens in Busserls Bedeutungstheorie an, vorgelegt in Die Stimme und das Phänomen. Auf diese folgt Grammatologie, die programmatische Schrift, in der der Autor die an Busserl entwickelte Diagnose auf die Tradition der griechisch-okzidentalen Metaphysik ausdehnt. Im folgenden Abschnitt soll in der Beschäftigung mit den beiden erstgenannten Texten aufgewiesen werden, dass Derridas Frage nach dem schriftlichen Zeichen dieses nicht nur im Sinne von Medium 1 thematisiert, als Element eines semiotischen Systems, sondern auch im Sinn von Medium2 , als inneres Mittel und Ermöglichungsbedingung. Dieser Nachweis leitet über zu weiteren medienphilosophischen Differenzierungen, die sich in der Beschäftigung mit Derridas Texten entwickeln lassen.
2.1.1 Derridas frühe Auseinandersetzung mit Husserls Behandlung der Schrift Derridas Einleitung und Kommentar zu Busserls Der Ursprung der Geometrie eignet sich für eine erste Sichtung des medien- und medialitätsphilosophischen Potenzials der Arbeiten Derridas aus einem besonderen Grund. In dieser Schrift sind bereits all jene Motive aufgeführt, die für die spätere Verbindung von Schriftthematik und Metaphysikkritik bestimmend wurden; der Tenor des Kommentars ist jedoch von wohlwollendem Interesse. Er zeugt noch nicht von dem später vollzogenen Bruch Derridas mit der transzendentalen Phänomenologie Busserls. 11 Derrida folgt Busserls Fragestellung, wie Sprache und speziell Schrift Möglichkeitsbedingungen für die Objektivität von Erkenntnis sein können, noch vor aller expliziten Programmatik der Dekonstruktion. Dieser Sachverhalt gestattet eine gewissermaßen ,unbefangene' Annäherung an Derridas Behandlung des Themas Schrift. Außerdem verspricht die Konzentration auf Derridas Busserl-Lektüre einen zusätzlichen Gewinn. Busserl stellt für Derrida nicht einen Philosophen unter anderen dar, an dessen beliebigem Beispiel sich die eigene II In dieser Einschätzung unterscheide ich mich von Letzkus, der Derridas Kommentar bereits als Vorwegnahme der späteren, in Die Stimme und das Phänomen entwickelten Husserl-Kritik liest; vgl. Letzkus 2002: 76. Hierbei folge ich den Arbeiten von Strasser 1986 und Bernet 1986.
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Kritik entzünden ließe; vielmehr nimmt die Husserl'sche Phänomenologie eine singuläre Stellung ein, da es das phänomenologische Vokabular selbst ist, an dem sich Derridas philosophische Argumentation zu entwickeln beginnt. "Das Singuläre an der Husserl-Lektüre besteht [ ... ] in dem, was sich der Beispielhaftigkeit entzieht. Derrida nennt es das ,Idiom' der Dekonstruktion." (Höfliger 1995: 3) Die Besonderheit des von Derrida behandelten Husserl-Texts wird allgemein darin gesehen, dass in ihm zum ersten Mal der Gedanke der Geschichte im Werk des Autors zu finden ist und zwar in Gestalt der "Idee einer neuartigen Historizität", (Strasser 1986: 133) die als transzendentale Ursprungsgeschichte konzipiert ist. Bei dieser handelt es sich um eine Art der universalen Geschichtlichkeit, die phänomenologisch "nur unter Reduktion von der Tatsachengeschichte freigelegt" (Mai 1996: 187) werden kann. "Zu ihr gehört Husserl zufolge alles, was zu der abendländischen Idee einer universalen Wissenschaft geführt hat: der Übergang von der bloß anschaulich-typischen Erfassung der umgebenden Welt zu ihrer Beschreibung aufgrund invarianter Limesgestalten; die Vervollkommnung einer lebensweltlichen durch eine denkend-idealisierende Praxis; die Anwendung der Methode konstruktiv-exakter Bestimmung nicht nur auf ,Formen' sondern- indirekt- auch auf ,Füllen'; das Auftauchen schließlich des Zieles einer allseitig exakt zu beschreibenden Natur. Derrida [sie] betrachtet den Einbruch idealisierender Denkmethoden in eine empirisch vorhandene Kultur als eine geistige Revolution. Die Errungenschaften jener Revolution müssen aber jeweils durch das Tradieren von Wahrheiten gesichert werden; erst dann ist ihre Entfaltung, Ergänzung und Weiterentwicklung möglich." (Strasser 1986: 133) 12
Für ein auf Schrift bezogenes medienphilosophisches Interesse erweist sich dieser Text Husserls aus drei Gründen als hilfreich: Erstens, weil er den Beitrag von Schrift zur Konstitution idealer Entitäten behandelt; zweitens, weil in ihm eine nicht traditionelle Konzeption von Schrift vertreten wird und drittens, weil er Derrida zu interessanten Differenzierungen in Hinblick auf die Frage, was unter einem Medium zu verstehen ist, veranlasst. Derrida selbst folgt mit einer seiner zentralen Fragen dem Anliegen Husserls, wenn er den Beitrag von Sprache und Schrift zum Prozess der Konstitution idealer Gegenständlichkeit und wissenschaftlicher Objektivität nachzeichnet und sich dabei auch auf die Verbindung der Husserl'schen Auffassung von Sprache und Schrift zur Idee der phänomenologischen Geschichtlichkeit konzentriert. Seine Rekonstruktion der Argumentation Husserls verfährt ebenso wie seine Kritik an dieser immanent. Das Interesse Derridas konzentriert sich dabei auf die nicht-traditionellen Züge der transzendentalen Phänomenologie Husserls, die sich in der nichtplatonistischen Auffassung von idealen Entitäten zeigt. Diese äußert sich darin, dass die Objekte der Wissenschaften zum einen nicht bewusstseinsunabhängig 12 Vgl. Mai 1996: 187. Bei der Verwendung des Namens "Derrida" in diesem Zitat ist nicht klar, ob es sich nicht um ein Erratum handelt, ob nicht vielmehr der Name "Husserl" an dieser Stelle stehen müsste.
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gedacht werden, zum anderen auch nicht unabhängig von ihrer sprachlichen oder schriftlichen Konstituiertheit. Der Beitrag der Schrift, ihre Unverzichtbarkeit für den Prozess dieser Konstitution lässt sich in einer kurzen Rekonstruktion der Argumentation Busserls verdeutlichen: Der Prozess der Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände als ideale Entitäten setzt ein mit der ursprünglichen Evidenz des Gegenstands im Bewusstsein. Er wird fortgeführt über die Retention als Übergang der Aktivität dieses ursprünglichen Bewusstseinsaktes "in die Passivität des strömend verblassenden Bewußtseins von So-eben-Gewesen-sein" (Busserl 1987: 211) und in die aktive Wiedererinnerung, durch welche die gewesene Einsicht als Vergangenes in die Gegenwart des Bewusstseins zurückgeholt und darüber die Identität des Gegenstands konstituiert wird. "[ ... ]mit der aktiven Wiedererinnerung des Vergangenen [tritt notwendig] eine Aktivität mitgehender wirklicher Erzeugung ein, und dabei entspringt in ursprünglicher >Deckung< die Evidenz der Identität: das jetzt originär Verwirklichte ist dasselbe wie das vordem evident Gewesene. Mitgestiftet ist auch die Vermöglichkeit beliebiger Wiederholung unter Evidenz der Identität (Identitätsdeckung) des Gebildes in der Wiederholungskette." (Ebd.) An diesem Punkt sieht Busserl die innerpersonale Gültigkeit der Identität und Objektivität des geometrischen Gegenstands erreicht. Über die sprachliche Mitteilung des reaktivierten Sachverhalts wird dessen intersubjektive Geltung ermöglicht. Erst die schriftliche Niederlegung und Dokumentierung garantiert allerdings die Idealität und Objektivität geistiger Entitäten im Sinn ihrer Intersubjektivität und Transhistorizität In der Weise, wie Schrift selbst zum "Verwahrer einer Intention" wird, ist sie Bedingung der Möglichkeit für die Bildung von Traditionen und deutet nach Derridas Verständnis auf eine "Phänomenologie des Geschriebenen" (Derrida 1987: 120) 13 hin. Gegen die Vertikalität dieser Darstellung erhebt Derrida allerdings Einspruch. Sie erweise sich als irreführend, weil sie eine temporale Sukzession suggeriert, die nach Derridas Auffassung nicht gilt. "In Wahrheit gibt es keine zunächst subjektive Evidenz, die danach objektiv würde. Geometrische Evidenz gibt es nur >von dem Moment an, wo< sie Evidenz einer idealen Gegenständlichkeit ist und diese gibt es als solche erst mach< Eintritt in intersubjektive Zirkulation." (Ebd.: 85) Deshalb rekonstruiert Derrida die zusätzlichen Bedingungen, die in diese Abfolge eingehen, gewissermaßen horizontal zu dem skizzierten ,Aufstieg' 14 zur idealen Objektivität des geometrischen Gegenstands. Er konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf den apriorischen Charakter der phänomenologischen Fundierung dieser Idee sowie auf die mit ihr in Verbindung stehende Eidetik der Sprache. Das von Busserl entwickelte wechselseitige Bedin13 Im Weiteren zitiert als HW. 14 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Husserl1987: 210 ff. und Bernet 1986: 91 ff.
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gungsverhältnis von Historizität und Sprachlichkeit ist, so Derrida, nur möglich auf der Grundlage einer "historischen Reduktion" (HW: 46), nach der die Geschichtlichkeit einer Wissenschaft, hier: der Geometrie, nicht als Aneinanderreihung von Fakten verstanden werden kann, sondern als "Rückgang auf nichtempirische Ursprünge, die zugleich Bedingungen der Möglichkeit sind [ ... ]," (ebd.: 51) anzusehen ist. Dies kann immer nur retrospektiv geschehen, "reaktivierend" (Ebd.: 62) Zurückgegangen wird auf die ">ErstmaligkeitLöweGeist des Werkzeugs< [ ... ],als Inbegriff einer möglichen Funktion, übersteigt in einer Hinsicht den Gebrauch, von dem er [sie] sich abgrenzt, d. h., er [sie] umfasst weitere Möglichkeiten als die realisierten; andererseits >übersteigt< der Gebrauch die Funktion insofern, als er Möglichkeiten instanziiert [... ], die vonnals nicht vorstellbar waren. So lernen wir Zwecke (und Mittel) »aus der Tat« kennen (Hege!)." (Ebd.) Mittel geben auf diese Weise Spielräume vor, innerhalb derer sie"[ ... ] als Ereignisse aktualisiert werden [ ... ] [Sie] stehen damit den Mittelkonzepten gegenüber und zugleich überschreitet die Aktualisierung der Mittel die in der Ordo [sie] konzeptualisierten Merkmale." (Ebd.: 16) Hubig spricht in diesem Zusammenhang von einem"[ ... ] Modalgefälle zwischen dem Mittel an sich (reale Möglichkeit) und dem Mittel für sich (Verwirklichung als Setzung) [ ... ]" (Ebd.) Die Differenzierung zwischen realem und möglichem Mittel gestattet es, Derridas Unterscheidung zwischen Medium und Bedingung und Möglichkeit weiter zu präzisieren. Der Ausdruck »Sprache als Medium« bezieht sich im Kontext dieser Formulierung weniger auf Sprache im Sinne eines Mittels der Verständigung. Vielmehr lässt er sich in der Weise verstehen, dass er auf die Dimension des realen Mittels verweist, desjenigen Mittels also, das durch sein Vorhandensein die (reale) Bedingung der Möglichkeit für die Konstitution der Gegenstände der Wissenschaft darstellt und darüber hinaus die Möglichkeit eines derartigen Prozesses überhaupt erst vorstellbar werden lässt. In diesem Sinn werden Sprache und Schrift zum Medium in einem dritten Sinn (Medium3), zum Medium im Sinn der Eröffnung oder "Konzeptualisierung von Möglichkeitsräumen". (Ebd.) Dies ist wiederum nur möglich unter der Voraussetzung, dass es sich bei ihr nicht um ein beliebiges Mittel handelt, sondern um ein inneres. Diese Bestimmung des Mittels als reale Möglichkeit leitet über zu einer weiteren Differenzierung, die bei Derrida angelegt ist, aber nicht entwickelt wird. Derrida charakterisiert Schrift und Sprache als Möglichkeiten, allerdings in unterschiedlicher Weise: "Wenn die Möglichkeit der Sprache dem urstiftenden Geometer bereits gegeben ist, genügt es, daß dieser in sich selbst Identität und
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ideale Dauerhaftigkeit eines Gegenstandes erzeuge, um ihn mitteilen zu lassen." (HW: 113) Und er formuliert an anderer Stelle: "Nur die Möglichkeit der Schr(ft sichert die absolute Überlieferungsfähigkeit des Gegenstandes, seine absolut ideale Objektivität[ ... ]" (Ebd.: 116) Beide Formulierungen lassen sich in der Weise verstehen, dass sie sich auf die mit einem Mittel gegebene reale Möglichkeit beziehen. Der über dieses Mittel sich erschließende Möglichkeitsraum kann, im Sinn äußerer Medialität, als "[ ... ] eine unterbestimmte vorausliegende Rahmenordnung als >Transformationsraum< [aufgefasst werden], innerhalb dessen konkrete Mittel realisiert und eingesetzt werden können[ ... ]" (Hubig 2002: 24 f.) Das erste Beispiel lässt sich aber noch in anderer Weise interpretieren, als potenzielle Möglichkeit. Sprache in diesem Sinn müsste dann als eine generelle Möglichkeit gelten, über die sich überhaupt erst Perspektiven auf denkbare äußere Möglichkeitsräume hin entwickeln lassen. Folgt man den Differenzierungen Hubigs, so ließe sich diese Dimension als innere Medialität interpretieren, als eine "reine Struktur des Organisierens von Raum, Zeit, Zeichengebrauch, Information, Kommunikation etc. zu charakterisieren. Medialität im ersten Sinne ist hiervon nur ein äußerer, kontingenter Träger, der letztere >verkörpert< [ ... ]" (Ebd.: 26) Derridas Formulierungen ließen sich dann in der Weise verstehen, dass mit der Möglichkeit von Sprache überhaupt erst prinzipiell die Möglichkeit zur Bildung eidetischer sprachlicher Bedeutungen und, über diese, zur Konstitution diealer Gegenständlichkeit gegeben wäre. Die Thematik des Mediums beschränkt sich in diesem frühen Husserl-Kommentar allerdings auf eine Variante der Kritik an der Idee der phänomenologischen Geschichtlichkeit. Sie wird eingeführt über Derridas Formulierung von der "Tradition als Äther der historischen Wahrnehmung". (HW: 65) Äther galt, hierauf macht Kimmerle aufmerksam, bis in die Philosophie der Romantik hinein und bis zu Hegels Lehre vom Äther, als eine "Materie ohne Widerstand". (Kimmerle 2000: 56) Eine derartige Vorstellung prägt auch noch, wie zu sehen war, Husserls Konzeption von Geschichtlichkeit und Tradition. Derrida stellt genau diese Vorstellung einer "traditionalen Durchsichtigkeit" in Frage, die Voraussetzung einer "Femkommunikation" wäre, 23 welche die ">Rückfrage< [ ... ] nach einer ersten Sendung" erlaubte; einer Konzeption von "Tradition, die nur die Vermitteltheit selber und die Eröffuung einer Telekommunikation überhaupt" (HW: 66) wäre. Trotz dieser Einschränkung kann zusammenfassend festgestellt werden, dass Derridas unter der Rubrik »Medium« firmierende Behandlung von Schrift sich weniger auf den Aspekt des semiotischen Systems konzentriert; sie weist viel23 Vorweggenommen wird hier die Thematik von La carte postale [. ..]; vgl. Derrida 1982/1987).
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mehr auf die Medialität dieses Mediums (Medium3) im Sinn der Erschließung von Möglichkeitsräumen voraus. Damit erweitern Derridas terminologische Differenzierungen den theoretischen Rahmen der philosophischen Reflexion über Medien.
2.1.3 Die metaphysikkritische Ausrichtung der Thematisierung von Schrift Die Exteriorität des Zeichens sowie die Unmöglichkeit seiner Iterierbarkeit im Sinn der transzendentalen Phänomenologie dominieren diejenigen Arbeiten Derridas, die sich an den frühen Busserl-Kommentar anschließen. Die eingangs erwähnte Argumentationsfigur der Subordination der Schrift unter Sprache, der oder Graphe unter die Phone, der Privilegiernng der Stimme gegenüber allen anderen Artikulationsfonnen 24 wird zum durchgängigen Modell für eine ganze Tradition, der griechisch-europäischen Tradition von Metaphysik, erklärt. Derrida entwickelt diese Figur zunächst in Auseinandersetzung mit Busserls erster Logischer Untersuchung und den Ideen I. Die Kernaussagen dieser Erörterung, dokumentiert in Die Stimme und das Phänomen, sind bekannt: Derrida problematisiert Busserls Unterscheidung von Anzeige und Ausdruck als den zwei "Seiten" 25 des Zeichens; er fragt nach dem systematischen Stellenwert dieser Unterscheidung und weist auf eine "phänomenologische Reduktion avant la lettre" (SP: 52) hin. Er übt Kritik an dem Resultat der eidetischen Reduktion des Anzeichens, daran, dass das Anzeichen "aus dem Bereich absolut idealer Objektivität, d. h. der Wahrheit" (ebd.: 82) herausfällt. Dabei erhält dieser Fall von Exklusion, der auf den distinktiven terminologischen "Vorsichtsmaßnahmen" (Derrida 1976a: 239) Busserls beruht, paradigmatischen Stellenwert. Denn Derrida behandelt die Anzeige stellvertretend für all jenes, was generell durch das Verfahren der eidetischen Reduktion aus dem Bereich idealer Objektivität geschieden wird, die "Faktizität, die mundane Existenz, die wesentliche Nicht-Notwendigkeit, die Nichtevidenz." (SP: 82) Ergebnis dieser phänomenologischen Reduktionen ist zweierlei: erstens ein Begriffvon Sprache, der rein expressiv gedacht werden muss, was nichts anderes bedeutet, als dass jedes Moment der Anzeige aus ihm ausgeschlossen ist. 26 Zweitens wird über die transzendentale Epoche die Region eines reinen Bewusstseins konstituiert, welche die Bedingung der Möglichkeit für die Konstitution der reinen Bedeutungen einer auf Idealität gegründeten Wissenschaftssprache darstellt. Derrida fragt nach der Rechtsinstanz, die sowohl die funktionale Differenzierung zwischen Anzeige und 24 Derrida zitiert in diesem Sinn Bjelmslev, der, unter Berufung auf E. und K. Zirner, die von den Junggrammatikern herkommende, gängige sprachwissenschaftliche Annahme kritisiert,"[ ... ],daß die Ausdruckssubstanz einer gesprochenen Sprache ausschließlich aus >Lauten< bestehen müsse."' (G: 101) 25 Vgl. Busserl 1922: 31, wo Busserl vom Anzeichen als dem "Ausdruck nach seiner physischen Seite" spricht. 26 Siehe Bernet 1986: 68.
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Ausdruck als auch den Ausschluss anzeigender Momente aus dem reinen Bewusstsein legitimiert. Er identifiziert sie als die "Selbstpräsenz des transzendentalen Lebens." (SP: 54) Dem kritischen Husserl-Kommentar liegt das Interesse zugrunde, nach der Möglichkeit einer nicht expressiven, d. h. einer nicht über Subjektivität konstituierten Sprache bzw. Schrift zu fragen. 27 Im Verlauf seiner Befragung Husserls umreißt Derrida die Figur der phänomenologischen Stimme. Um eine Figur handelt es sich dabei insofern als mit ihr Husserl'sche "Denkmotive" zugespitzt und überakzentuiert dargestellt werden. Deutlich wird dies durch Stephan Strassers Hinweis darauf, dass Husserl das Wort »Stimme« nicht gebraucht: "[ ... ]er spricht lediglich von einem ,artikulierten Lautkomplex'. Damit istjedoch angedeutet, in welchem Zusammenhang die ,Stimme' im Rahmen seiner Sichtweise gedacht werden muß: sie gehört dem ,Ausdruck nach seiner physischen Seite' an [ ... ] Es ist kein Zufall, daß Husserl hier das Wort ,Seite' gebraucht und nicht von ,Teil' oder ,Element' spricht. Die physische Leistung und die bewußte Intention des Sprechers stellen zwei Seiten eines Aktes dar, von einer platonisch-neuplatonischen Dichotomie ist dabei keine Rede." (Strasser 1986: 150)
Vor der paradoxen Konstruktion, dass aus dem phänomenologischen Bereich der transzendentalen Subjektivität, den Husserl mit der Bezeichnung »einsames Seelenleben« versieht, nicht nur jedes Moment der Anzeige ausgeschlossen ist, sondern dass die "absolute Stille des Selbstbezugs" (SP: 124) noch durch die Ausdruckssprache gestört werden würde, solange nicht jede "Beziehung zum anderen in mir" ausgeschlossen und auch der Ausdruck auf die "Schicht des Sinns" (ebd.: 125) 28 reduziert wäre, erfüllt die Stimme die Anforderung der reinen, unvennittelten Selbstaffektion und Verständigung mit sich selbst, der temporalen Punktualität sowie der unproduktiven Wiedergabe eines auszudrückenden Sinns. "[ ... ] ein Medium, das zugleich der Präsenz des Objektes vor der Intuition und der Selbstpräsenz, der absoluten Selbst-Nähe der Akte ein Schutzdach bietet. Und da die Idealität des Objektes nur sein Sein für ein nicht-empirisches Bewußtsein ist, kann es nur in einem Element ausgedrückt werden, dessen Phänomenalität nicht die Form des Innerweltlichen hat. Die Stimme ist der Name dieses Elements. Die Stimme vernimmt sich. Die tönenden Zeichen [ ... ] werden von einem Subjekt >vernommen< (entendus), das sie in der absoluten Nähe ihrer Gegenwart (present) ausspricht. Das Subjekt muß nicht aus sich selbst heraustreten, um unmittelbar von seiner Ausdrucksfähigkeit affiziert zu werden [ ... ] So zumindest gibt sich das Phänomen der Stimme, die phänomenologische Stimme." (SP: 132)
27 Vgl. P: 75 f. 28 In Die Form und das Bedeuten formuliert Derrida dem entsprechend: "[ ... ] als ob die transzendentale Erfahrung schweigsam, von keiner Sprache bewohnt wäre." (Derrida 1988b: 161)
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Einwenden ließe sich gegen Derridas Vorgehen, dass dieser sich, nachdem er in seinem Kommentar zu Busserls Ursprung der Philosophie einen Text analysiert hatte, in dem Sprache und Schrift im Kontext eines auf Intersubjektivität und Transhistorizität gerichteten Ansatzes thematisiert wurden, nun auf eine sehr viel frühere Arbeit Busserls konzentriert, in der Intersubjektivität konzeptuell noch nicht angelegt ist und in der bedeutungstheoretische Fragen damit beinahe zwangsläufig subjekttheoretisch und intentionalistisch beantwortet werden müssen. Derrida entgegnet diesem hypothetischen Einwand mit dem Hinweis auf die diesbezügliche Durchgängigkeit in der Husserl'schen Philosophie: "Die die Idealität der Sprache betreffenden Analysen des Ursprungs setzen [ ... ] die subtilen und unverzichtbaren Unterscheidungen der L. U. 11!1 unmittelbar voraus, besonders die der ersten und vierten Untersuchung." (HW: 93, Fn. 7) "Auch in der Krisis-Arbeit und den dazugehörigen Texten, vor allem im Ursprung der Geometrie, machen sich die konzeptuellen und begrifflichen Prämissen der Untersuchungen noch bemerkbar, besonders sofern sie Probleme der Bedeutung (signification) und der Sprache (Iangue) überhaupt betreffen." (SP: 51) 29
In Grammatologie greift Derrida die Figur der phänomenologischen Stimme wieder auf: "In nächster Nähe zu sich selbst vernimmt sich die Stimme[ ... ] als völlige Auslöschung des Signifikanten: sie ist reine Selbstaffektion, die notwendigerweise die Form der Zeit annimmt, die sich außerhalb ihrer selbst, in der Welt oder in der >RealitätVergegenwärtigungeinmal< vorkommendes Zeichen wäre keins." (Ebd.: 103) 34 "Die Präsenz des Präsens ist von der Wiederholung und nicht umgekehrt ableitbar." (Ebd.: 106)
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seins; 35 in der Entwicklung der Bewegung der differance aus der "Möglichkeit der Wiederholung in ihrer allgemeinsten Fonn" und der "Spur[ ... ] im universalsten Sinn"; (SP: 122) in der Behauptung einer "ursprünglichen Supplementarität", (ebd.: 145) durch die jeder Ursprungsgedanke unmöglich wird. Schrift wird in diesem Zusammenhang zum Anti-Medium von Selbstpräsenz und Iterierbarkeit. 36 Der philosophische Beitrag von Derridas Schriftkonzeption wurde deshalb mehrheitlich in der Kritik von Philosophien der Unmittelbarkeit, der Identität, des Ursprungs, der Intuition gesehen, 37 die sich an Heideggers Kritik des Seins orientiert. 38 In diesem identitätskritischen Sinn lässt sich Derridas These von der Differenzialität und Supplementarität des Zeichens lesen. 39 Als ein Moment des dekonstruktiven Verfahrens könnte dann der Rückgriff auf den paradigmatischen Charakter von Schrift als Inbegriff dessen, was aus dem Bereich der philosophischen Reflexion ausgeschlossen wird, verstanden werden, als Inbegriff der Exteriorität, die, hypostasiert, wiederum "konstitutiven Status" (Wellberry 1993: 343) erhielte für nach-metaphyisches Philosophieren. Schrift würde in diesem Sinn zum Grenz- und Gegenbegriff, der, so das geläufige Verständnis, nicht positiv zu bestimmen wäre, sondern als "Metonymie für einschneidende[n] Theorie-Transformationen" stünde. (Gumbrecht 1993: 383) 40
35 Siehe ebd.: 115 ff.; Bemet 1986: 80 ff. 36 Dieter Mersch bezeichnet als ein Merkmal für die prinzipielle Skripturalität des Zeichens dessen Nicht-Iterierbarkeit im Sinne einer identischen Wiederholung: "Es gibt damit keine rein identischen Wiederholungen. Die Repetition bedeutet nicht die unendliche Replikation des Selben; vielmehr ereignet sich in der Wiederholung eine genuine Differierung. Vor der Identität kommt die Differenz. Gleichwohl gestattet diese Identifizierung: Etwas bleibt in der Wiederholung gleich." (Mersch 2002: 107) 37 Die identitäts- und unmittelbarkeitskritischen Komponenten der Schriftkonzeption werden vor allem in der Darstellung Kimmeries deutlich, der Kontrast zur Husserl'sehen Philosophie der Intuition bei Strasser; vgl. Kimmerle 2000; Strasser 1986. 38 Siehe G: 41 ff.; vgl. Habermas 1985: 191 ff. 39 In diesem Sinn weist Sirnone Roggenbuck als ein zentrales Motiv der Kritik Derridas an Saussure dessen Festhalten an der Identität und Konstituiertheit des Zeichens auf: "Die dijjerence Saussures bricht die in sich ruhende Selbigkeit auf und eröffnet das Spiel der Differenzen. Im Punkt des sich eröffnendenjeu liegt aber nicht nur die Gemeinsamkeit, sondern auch der Unterschied zwischen dijjiirence und difj"f!rance. Bei Saussure bleibt die difference gebunden an die Systematizität eines jeu. Sie erzeugt eine forme, d. h. ein Zeichen als Einheit von signijie und signifiant." (Roggenbuck 1998: 18) 40 Gurubrecht bringt das damit in Verbindung stehende Schriftverständnis zusammenfassend auf den Punkt: "Vor diesem Hintergrund war der Begriff ,Schrift' eine Metonymie für vielfältige Variationen und Veränderungen jener Konzeption des Zeichens, welche Sprach- und Literaturwissenschaftler meist mit Ferdinand de Saussures Cours de linguistique generate und Philosophen oft mit Edmund Busserls Logische(n) Untersuchungen assoziieren. In dem Dreifach-Titel Writing/Ecriture/ Schrift konkretisierte sich darüber hinaus ein spezifischer Aspekt jener Entwicklung, nämlich die von dem Problemtitel ,Unübersetzbarkeit' als implizite Kritik an der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition ins Spiel gebrachte Prä-
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Die kritischen Implikationen des Schriftbegriffs Derridas müssen allerdings nicht zwangsläufig zu theoriestrategischen Schlussfolgerungen der dargestellten Art führen. Sie lassen sich auch rekonstruieren über die Argumente, die Derrida in Auseinandersetzung mit Busserls transzendentaler Phänomenologie entwickelt. Innerhalb des phänomenologischen Paradigmas selbst können diese Argumente als Einspruch gegen die Möglichkeit der reduktiven Scheidungen interpretiert werden, gegen die Vorstellung, dass über den Akt der Ausgrenzung ein Bereich des reinen Phänomens zu gewinnen wäre. 41 Derrida problematisiert die reduktive Generierung der Region einer intentionalen Geschichtlichkeit, die aller Faktizität enthoben ist und der auch Identitäten zugehören (Der Ursprung der Geometrie); er stellt die Möglichkeit der Gewinnung einer rein expressiven, selbst "unproduktiven" 42 Sprache und ihrer Beschränkung auf das Telos der Logizität über die dazu erforderlichen eidetischen Reduktionen in Frage (Die Form und das Bedeuten, Die Stimme und das Phänomen); er zweifelt die Möglichkeit und den Sinn einer über die transzendentale Reduktion konstituierten Region der intentionalen, rein innerlichen Subjektivität an, die Ursprung sein soll für die beabsichtigte Idealität von Bedeutungen (Die Stimme und das Phänomen).43 Derridas Kritik setzt nicht von außen an, sie konfrontiert die Phänomenologie Busserls nicht mit einem Fremden. Wie bereits gezeigt wurde, weist Busserl dem schriftlichen Zeichen einen zentralen Beitrag in seiner Konstitutionstheorie zu. Strasser ordnet Derrida aus diesem Grund in die Reihe der konstruktiven Kritiker der transzendentalen Phänomenologie ein, neben Beidegger, Fink, Gadamer, Merleau-Ponty, Ricreur und Levinas. 44 Derridas "hochnotpeinliche Befragung der Phänomenologie Busserls" (Strasser 1986: 132) zielt auf den Status des schriftlichen Zeichens innerhalb des von der Phänomenologie vorgegebenen theoretischen Rahmens sowie der Möglichkeit seiner adäquaten methodischen Behandlung. Im Verlauf dieser Befragung treten die folgenden Schwierigkeiten auf: Erstens stellt sich heraus, dass das schriftliche Zeichen selbst als ein Phänomen
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misse, daß sich gegen die Nicht-Identität von Signifikanten keine Identität des Signifikats postulieren lässt." (Gumbrecht 1993: 382) Höfliger bestimmt die phänomenologische Reduktion sowohl restriktiv als auch konstruktiv oder produktiv: "ln dem Masse, als eine Freilegung [die Freilegung des phänomenologischen Erkenntnisfelds, U. R.] doppelsinnig ist, nämlich Bestimmung per negationem und positive Bestimmung, hat auch die phänomenologische Reduktion einen Doppelsinn. Sie ist einerseits ein Akt der Ausgrenzung, des Ausschlusses anderer Wissensgebiete und Wissensformen, Regionen, Gegenständen, Interessen und eine Ausschaltung des Vorwissens des Forschenden [ ... ] Und andererseits ein Akt der Gewinnung eines neuen Feldes [ ... ]" (Höfliger 1995: 5) "Der reine oder logische Ausdruck gilt ihm [Husserl, U. R.] als >Unproduktives Mediumwiderzuspiegeln< hat. Seine einzige Produktivität besteht darin, den Sinn in die Idealität der begrifflichen Form zu transformieren." (SP: 130) Siehe Mai 1996: 187 ff. Siehe Strasser 1986: 132.
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des Übergangs zu verstehen ist. In der Einleitung zu Der Ursprung der Geometrie formuliert Derrida, dass die transzendentale Geschichte, Geschichtlichkeit selbst, "[ ... ] nur Durchgang eines Wortes, reine Tradition eines ursprünglichen Logos zu einem polarem Telos [ ... ]" sei. "[ ... ] das Absolute ist Durchgang. Es ist Traditionalität, die sich zwischen den beiden Polen hin- und herbewegt, in gegenseitiger Erhellung und in einer Bewegung [ ... ]" (HW: 197 f.) Das Wort, das Schriftzeichen als tradierendes, zeigt sich somit als konstitutiv für diesen Charakter des Übergangs; Strasser sieht in der Thematisierung des Übergangs bereits eine Vorwegnahme der differance. 45 Zweitens erweist sich die phänomenologische Annahme der Präsenz, der Gegebenheit des Gegenstandes als problematisch; dessen Gegebenheit setzt vielmehr, wie bereits erwähnt wurde,"[ ... ] immer im nachhinein ein, nach dem Erscheinen, und zwar notwendigerweise. Dieser Umstand ruft jedoch Zweifel an einem Grundbegriff Husserls wach, an dem der ,lebendigen Gegenwart'." (Strasser 1986: 141) Derridas Analyse des inneren Zeitbewusstseins, die er in Die Stimme und das Phänomen entwickelt, macht drittens deutlich, dass Husserls Philosophie der Temporalität nicht aufrechterhalten werden kann. 46 Bemet fasst die Ergebnisse dieser Analyse zusammen: "Ist die Retention kein bloßer Zusatz zur Urimpression, sondern em wesentliches Moment der Gegenwart, so wird die Erfahrung des gegenwärtigen Jetzt notwendig von der Erfassung eines vergangeneu Jetzt begleitet. Ist diese Retention keine Wahrnehmung und kann die Gegenwart nur mit Hilfe der Retention erfaßt werden - nun, dann wird die Gegenwart auch niemals voll wahrgenommen. Daraus schließt Derrida erstens, daß die Gegenwart selbst mit Abwesenheit durchsetzt ist [... ] Derridas zweite Schlußfolgerung besteht darin zu bestreiten, daß der gegenwärtige Augenblick eine selbständige und feste Identität habe. Der Augenblick ist eher die Bruchstelle, die die Spannung zwischen dem Selbst und dem Anderen skandiert [... ] Für das Selbstbewußtsein des Jetzt bedarf es der jetzigen Retention eines schon nicht mehr jetzigen Jetzt, das Selbstbewußtsein der Gegenwart hinkt hinter der Gegenwart her, es hat die zeitliche Form der ,Nachträglichkeit'. Diese dritte Schlußfolgerung ist die bedeutendste. Wenn man nämlich sagt, die Gegenwart sei sich selbst erst nachträglich gegenwärtig, so muß man auch den Begriff des cogito, den Begriff eines Ursprungs der Zeit, den Begriff der inneren Zeit, welche der intersubjektiven und historischen Zeit vorhergehen soll, in Frage stellen." (Bemet 1986: 81 f.) Folglich muss das Problem des schriftlichen Zeichens selbst im Kern der der Phänomenologie inhärenten Problematik angesiedelt werden. Verortet als ein Phänomen des Übergangs, unverzichtbares Element der Idee einer phänomenologischen Geschichtlichkeit und der Tradition, tritt es "an die Stelle einer Bedeutung, die noch nicht besteht. Sprache und Zeit sind durchsetzt mit Abwesen45 Siehe Strasser 1986: 141. 46 Siehe SP: 115 ff.
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heit [ ... ] Gerade darum sind das Zeichen und die Retention Supplemente, die sich zu einem Nichts hinzufügen [ ... ] Die bevorzugte Form dieses Supplements ist die Schrift." (Ebd.) Derridas am Problem des Schriftzeichens entwickelte Phänomenologie-Kritik erbringt letztendlich den Nachweis, dass eine "Phänomenologie des Geschriebenen", (BW: 120) deren Möglichkeit in der Einleitung zu Der Ursprung der Geometrie zumindest angedeutet wird, aufgrund der Exteriorität des Zeichens prinzipiell nicht möglich ist. 47 Als metaphysisch erweist sich die Phänomenologie Busserls in diesem Zusammenhang aus zweierlei Gründen: einmal, wie bereits gezeigt wurde, in ihrer Verabsolutierung der Präsenz, die eine angemessene Reflexion auf das schriftliche Zeichen, als Inbegriff von Nichtpräsenz, von vornherein ausschließt; 48 zum zweiten in dem klassischen Reflex, dieses Zeichen auf die Dimension des Anzeichens, der physischen Seite des Ausdrucks, zu reduzieren. In diesem Sinn ist es gerechtfertigt, das schriftliche Zeichen als Krisenmoment der Phänomenologie selbst zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Momente des Schriftbegriffs Derridas zunächst als Gegenkonzepte zu den Präsuppositionen der transzendentalen Phänomenologie heraus: die ursprüngliche Supplementarität des Zeichens als "Nicht-Erfülltheit der Präsenz" oder "Nicht-Erfülltheit einer Intuition"; (SP: 145) das »differer« in der differance als Unmöglichkeit des Jetzt als Absolutum; 49 die retentionale Spur nicht nur als Kontrapunkt zur unmittelbaren Selbstpräsenz des Bewusstseins, sondern auch als Substitut für den phänomenologischen, auf der Vergegenwärtigung eines Ursprungssinns basierenden Begriff der Tradition, 5° als Spur, "die der Prozeß der Einschreibung hinterläßt." (Strasser 1986: 158) Der im Gegenzug von Derrida entwickelte Schriftbegriff insistiert deshalb nicht nur auf der Irreduzibilität des (phonetischen) Schriftzeichens innerhalb der philosophischen Reflexion, sondern auch darauf, dass dieses Zeichen nicht als geschriebenes Sein verstanden werden darf.
2.1.4 Die konstruktiven Züge des Schriftbegriffs und seine medienphilosophischen lmplikationen Nähert man sich Derridas Thematisierung des schriftlichen Zeichens in der beschriebenen Weise von ihren phänomenologiekritischen Implikationen her, so lassen sich darin auch konstruktive Züge feststellen. Diese führen zugleich die medienphilosophischen Motive bei Derrida weiter. Derridas Auseinandersetzung mit Busserls Bedeutungs- und Zeichentheorie visiert ein nicht-intentionalisti-
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Gleiches gilt für eine Phänomenologie der Technik. Siehe Strasser 1986: 166. Siehe Derrida 1988a: 33; Strasser 1986: 151. "Die Spur als "Urphänomen des >GedächtnissesDing selbst< ist immer schon ein repräsentamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das repräsentamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des repräsentamen besteht darin, es selbst und ein Anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen." (G: 86)
Die Differenzialitätsthese Saussures eignet sich außerdem für das schrifttheoretische Vorhaben Derridas, weil mit ihr weder Sprache noch Schrift an empirische Eigenschaften gebunden werden bzw. an eine "von Natur aus lautliche Wesenhaftigkeit der Sprache." (Ebd.: 92) Denn mit der "These von der Differenz als Quelle des sprachlichen Werts" (ebd.) wird das Zeichen nicht über materielle Eigenschaften, sondern nur über seine Position im differenziellen System definiert. Daraus folgt, dass das sprachliche Zeichen nicht automatisch dem Bereich der Phone zugeordnet werden muss, ebenso wenig wie das graphische Notatin der Folge an das sprachliche gekoppelt zu werden braucht. "Da die Differenz niemals an sich und per definitionem eine sinnlich wahrnehmbare Fülle ist, widerspricht ihre Notwendigkeit der Behauptung einer von Natur aus lautlichen Wesenhaftigkeit der Sprache. Zugleich aber stellt sie die angeblich natürliche Abhängigkeit des graphischen Signifikanten in Frage. Saussure selbst zieht diese Konsequenz, und zwar gegen die Prämissen, mit deren Hilfe er das innere System der Sprache definiert. So muß er jetzt ausschließen, wodurch er die Schrift ausschließen konnte: den Laut und seine >natürliche Bindung< an die Bedeutung." (Ebd.) Saussures Ausklammerung des Lautmaterials aus dem System/Spiel der Differenzen gesteht somit die prinzipielle Möglichkeit zu, graphische und phonische Artikulationen gleichberechtigt zu behandeln. In diesem Sinn bezieht sich Derrida wenig später auf Roman Jakobsan und Halle, die "die radikale Unähnlichkeit der beiden Elemente- des graphischen und des lautlichen-[ ... ]" (ebd.: 95) behaupten. In diesem Kontext treten die irreführenden, viel diskutierten Fonnulierungen Derridas vom "Schriftfonds" des gesprochenen Worts (ebd.: 93), von der Urschrift (ebd.: 99; 105; 243), von der "generalisierten Schrift" (ebd.: 97) und von der Sprache als "einer Art der Schrift[ ... ] einer Möglichkeit, die in der Möglichkeit von Schrift überhaupt begründet ist[ ... ]" (ebd.: 90) auf. Gerade die letzte Fonnulierung wird häufig als provokative Forderung nach einer einfachen Umkehrung des bisherigen Zuordnungsverhältnisses zwischen Schrift und Sprache verstanden. (Thiel 1997: 63) Thiel fasst den Ausdruck »Urschrift« als "eine radikale Befragung oder Korrektur der >alten< Begriffe von Schrift, Wissenschaft, Erfahrung, Phänomenologie, Präsenz, Ursprung [ ... ]"auf. (Ebd.: 74) Strasser geht, vorsichtiger, von der "Priorität der Einschreibung-Ein-
DIE MEDIALITÄT VON SCHRIFT
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prägung in Derridas Denken" aus. (Strasser 1986: 158) 58 Kimmerle betont dagegen, dass Derridas Behandlung der Schrift nicht auf eine Umkehrung des Vorrangs von Sprache gegenüber Schrift zielt, sondern auf die in der d(fferance angelegte Gleichursprünglichkeit bei der. 59 Gegenüber diesen Erklärungsansätzen soll im Folgenden eine Interpretation entwickelt werden, die eine rationale Rekonstruktion der Argumente Derridas auf der Grundlage des eingeführten schriftwissenschaftlichen Materials und der bei Derrida angelegten medienphilosophischen Differenzierungen erlaubt. Es sind gerade die Formulierungen Saussures, denen zufolge die Sprache "als eine Art Schrift" (G: 90) verstanden werden kann, auf die sich Derrida bezieht und die er fortführt. Er weist in diesem Zusammenhang auf den Modellcharakter des schriftlichen Zeichens hin, auf die "pädagogischen Qualitäten des Beispiels der Schrift." (Ebd.: 91) Dasselbe Beispiel der handschriftlichen Varianten eines Buchstabens, das nach ihm auch Harris heranzieht, wird bemüht, um zu zeigen, dass die Begriffe der Arbitrarität des Zeichens sowie des negativen und differenziellen Werts des Zeichens nur unter Rekurs auf das Schriftzeichen entwickelt werden konnten. Wissenschaftstheoretisch betrachtet handelt es sich dabei um die Möglichkeit der rekursiven Definition von Sprache durch ein kulturell selbstverständlich gewordenes Mittel, nämlich das schriftliche Zeichen, sowie um den Modellstatus, den dieses Mittel für wissenschaftliche Erklärungen zugewiesen bekommt. Derridas Argument lässt sich außerdem in der Weise verstehen, dass Saussures Unterscheidung zwischen Sprache als System (Iangue) und dem gesprochenen Wort (parole) - die wiederum auf der "Reduktion des Lautmaterials", (G: 93) der Bestimmung des Lauts als akzidentiellem Bestandteil der Sprache basiert - nur möglich ist unter der Voraussetzung, dass der Begriff des Sprachsystems selbst über den Rekurs auf das schriftliche Zeichen gebildet werden kann. Diese Möglichkeit ist mit dem Prinzip der Iterierbarkeit des Zeichens gegeben, das selbst als Möglichkeit der genuinen Skripturalität des Zeichens gelten kann. In diesem Sinn schreibt Mersch: "Wiederholbarkeit- wie auch Zitierbarkeit - verbürgen somit sowohl die Identifizierbarkeit einer Markierung als auch ihre Wiederverwendung ungeachtet der Vielheit und Variabilität der Kontexte, in denen sie vorkommen kann[ ... ] So erweist sich das Zeichen als iterierbare Marke per se als skriptural: Es konstituiert mit seiner Wiederholbarkeit gleichzeitig seine Schriftlichkeit." (Mersch 2002: 108 f.)
58 "Das Einschreiben bedarf, um Spuren (,traces') zu hinterlassen, eines materiellen Substrates, es möge Lehm, Papyrus, Wachs, Holz, Stein oder Metall sein. Damit ist offenbar der Unterschied zwischen einer Eigenheitssphäre, in der die Intentionen eines ego leben, und einer Außenwelt, in der sie für ein alter ego nicht direkt erkennbar sind, aufgehoben. Der Ausdruck ist nicht nur Exteriorisation, er ist zugleich Anzeige und Einprägung für das ego selbst. Ohne seine formende Kraft gäbe es kein Sprechen - auch nicht im einsamen Seelenleben." (Ebd.: 151) 59 Siehe Kimmerle 2000: 45.
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SCHRIFT ALS MEDIUM UND DIE MEDIALITÄT VON SCHRIFT
Der von Saussure entwickelte Begriff der Sprache ist daher nicht ohne das Modell der Schrift zu denken; er ist amalgamiert mit diesem Modell. Wenn aber der Sprachbegriff der Linguistik Saussures nicht nur am Modell der Schrift gewonnen wurde, sondern das Material von Sprache und Schrift, den artikulierten Laut sowie das graphische Notat, sogar als akzidenziell tendenziell ausschließt, so ist es gerechtfertigt, das linguistische Sprachsystem als eine "generalisierte Schrift" aufzufassen. Im Anschluss hieran formuliert Derrida: "Wir meinen, daß die generalisierte Schrift nicht allein die Idee eines noch zu erfindenden Systems, eines hypothetischen Zeichensystems oder einer zukünftigen Möglichkeit darstellt, sondern glauben im Gegenteil, daß die gesprochene Sprache bereits dieser Schrift zuzurechnen ist." (G: 97) Die auf diese Weise verallgemeinerte Schrift lässt sich im Sinn von innerer Medialität interpretieren, als eine vorausliegende Struktur, die die generelle Möglichkeit der »differance« darstellt. Anders formuliert: Allein durch die prinzipielle Möglichkeit des graphischen Notats ist auch die Möglichkeit der differenziellen Struktur des Zeichens gegeben. 60 Unter dieser Voraussetzung ist dann auch die lautliche Artikulation als genuin oder primär skriptmal aufzufassen. Der von Derrida anvisierte "modifizierte Schriftbegriff' (G: 97) weist in diesem Zusammenhang nicht nur voraus auf die »differance«, mit der die Gleichursprünglichkeit von Schrift und Sprache behauptet wird. Er thematisiert implizit ebenfalls die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit. Unterstützen lässt sich diese Interpretation dadurch, dass der von Derrida geprägte Ausdruck »Urschrift« herangezogen wird. Derrida führt ihn ein im Kontext seiner Auseinandersetzung mit ethnologischem Material, das Claude LeviStrauss in seinem Aufsatz Schreibstunden präsentiert. 61 Darin behandelt der Autor zum einen den Zusammenhang zwischen Schrift und sozialer Herrschaft, zum anderen die Problematik der Unterscheidung zwischen schriftlosen und Schriftkulturen. Derrida führt »Urschrift« in Verbindung mit der von Levi-Strauss vertretenen These ein, nach der die Entstehung von Schrift im engsten Verhältnis zur Entwicklung von Gerrealogien zu sehen ist. Er unterscheidet dabei zwischen "bildlichen Darstellungen" und "Schemata, die eine Genealogie und eine soziale Struktur beschreiben, erklären und niederschreiben" und fährt fort: "Und genau das ist das entscheidende Phänomen: Aufgrund bestimmter und sehr sicherer Informationen wissen wir heute, daß die Genese der Schrift (im geläufigen Sinn) fast überall und am häufigsten an die Sorge um die Genealogie gebunden war. Man erinnert in diesem Zusammenhang häufig an das Gedächtnis und die mündliche Überlieferung von Generation zu Generation, die bei den sogenannten >schriftlosen< Völkern in man-
60 Mersch formuliert dies in der folgenden Weise: "Genau darin besteht die eigentliche Emphase der Schriftkonzeption Derridas: Die Iterabilität des Zeichens befindet sich an der Wurzel auch der gesprochenen Sprache als >grammeTheory of Types< hinüber: Der Irrtum Russells zeigt sich darin, daß er bei der Aufstellung der Zeichenregeln von der Bedeutung der Zeichen reden mußte." (TLP: 3.33-3.331) Bei der Trennung signum/signatum handelt es sich demnach weniger um den Ausdruck eines strikten Platonismus, eher um ein methodisches Erfordernis. 8 Der Terminus »Zeichen« wird sowohl von Frege als auch von Wittgenstein synonym für ein einfaches Zeichen, das Variablenzeichen verwendet; für ein Zeichen, "unter dem man sich Verschiedenes vorstellen kann", wie Frege schreibt. (Frege 1964: § 1) 9 Demzufolge würde es sich am Variablenzeichen selbst zeigen, welcher Gegenstand unter einen formalen Begriff fällt. Diese Annahme wird gestützt durch die von Wittgenstein verwendete Formulierung "der variable Name >x' etc. This latter problem is - I think- still more fundamental and, if possible, still recognized as a problem." (Brief vom Sommer 1912, Wittgenstein 1995: 17) In den Aufteichnungen über Logik wird dann unterschieden zwischen den Bausteinen und Formen von Sätzen: "Wir verstehen ihn [den Satz, U. R.], wenn wir seine Bausteine und Formen verstehen." (Wittgenstein 1989c: 203) Diese Überzeugung gibt Wittgenstein dann für den Tractatus auf, indem er überhaupt einem gegenständlichen Verständnis dessen, was gemeint ist, eine Absage erteilt. Wie McGuinness fonnuliert: "Hier nimmt Wittgenstein vieles von seiner späteren Philosophie vorweg und gelangt zu der Einsicht, oder Überzeugung, daß auch das Benennen kein so ohne weiteres verständlicher Vorgang ist, wie er zunächst angenommen hatte. In seiner ursprünglichen Auffassung bringt der Name auch eine Vorstellung der Form des Satzes, in den er passen würde, mit sich. Diese Namen unterscheiden sich also nicht grundsätzlich von irgendwelchen anderen Bestandteilen des Satzes, die alle irgendein Prinzip der Unter-
is after y', it seems as though we must be having or have had acquaintance with the relation of sequence itself." (Russell1992: 88) 29 Vgl. TLP: 4.111; 4.112. 30 Vgl. Simons 1989: 76.
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KALKÜLE ALS SCHRIFTBASIERTE MEDIEN
scheidungvon Tatsachen mit sich bringen, weshalb sie allmählich auch allesamt Namen genannt werden." (Ebd.: 46) Simons weist in eine ähnliche Richtung: "Ihn [Wittgenstein, U. R.] beunruhigt der Umstand, daß wir imstande zu sein scheinen, Komplexe zu benennen, d. h. sie als Dinge zu behandeln[ ... ] Ein Ding, ein Gegenstand ist eben etwas Benennbares. Namen sind einfache Zeichen; sie haben keine unabhängig bedeutungsvollen Teile. Doch sofem die Sprache die Wirklichkeit unmittelbar abbildet, sollte die semantische Einfachheit der Namen die ontologische Einfachheit der Gegenstände widerspiegeln. Mit anderen Worten, Namen für Komplexe sind nicht zulässig. Obwohl Wittgenstein zu der Auffassung neigt, Komplexe seien Dinge und stünden in der gleichen Beziehung zu Namen wie einfache Gegenstände [... ], gibt er dieser Neigung nicht nach, weil er letztlich meint, daß Namen für Komplexe über komplexe Zeichen definiert werden. Die einzigen komplexen Zeichen jedoch sind Sätze." (Simons 1989: 76 f.) Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Wittgensteins Lösung der hier skizzierten Probleme nicht nur in der strikten Unterscheidung zwischen Namen und Sätzen besteht, sondern vor allem in der Einführung des schriftlichen Zeichens als Instanz in die Logik.
1.3 Der schriftliche Charakter formaler Begriffe und seine systematische Funktion im System des Tractatus Es wird im Folgenden zu entwickeln sein, was sich an den Zeichen für formale Begriffe zeigt und in welcher Weise dies geschieht. In der Literatur zum Thema wird darüber erstaunlich wenig gesagt. P. M. S. Hacker behandelt formale Begriffe als ">kategoriale< Ausdrücke [ ... ]" , die "keine Entitäten irgendeiner Art [benennen], sondern [ ... ] formale Begriffe [sind], die (da sie Variablen sind), nicht in einem vollständig analysierten, wohlgebildeten Satz vorkommen." (Hacker 1997: 61) Dies besagt, noch einmal, dass formale Begriffe nicht selbst Gegenstand einer Aussage sein können. Mit der Betonung der negativen Bedeutung formaler Begriffe, dem durch sie ausgesprochenen Verdikt über selbstreferenzielle Aussagen, steht Hacker für die Mehrzahl der Kommentatoren. Im Folgenden soll die These vertreten und begründet werden, dass fonnale Begriffe die ihnen zugewiesene Funktion - Vermeidung selbstreferenzieller Aussagen, Vereinfachung der logischen Notation sowie die Absage an eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Logik - nur erfüllen können durch die systematische Einbindung der visuellen Eigenschaften des schriftlichen Zeichens. Diese Aussage ist in gewisser Hinsicht trivial. Denn kaum jemand, der sich nur ein wenig mit der Materie auskennt, wird bezweifeln wollen, dass Logik, zumindest moderne Logik, auf der Verwendung formalschriftlicher Symbole basiert. Gerade Frege hatte ja die Un-
FORMALE BEGRIFFE ALS INBEGRIFF EINES SKRIPTURALEN TYPUS' VON BEGRIFFEN
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verzichtbarkeit schriftlicher Zeichen für den Aufbau seiner Begriffsschrift betont.31 In ihrer nicht-trivialen Variante besagt die These, dass Wittgenstein, anders als Frege, den visuellen Merkmalen logischer Ausdrücke eine signifikante Funktion zuweist mit nicht zu unterschätzenden Konsequenzen für das logische System des Tractatus. In der Terminologie philosophischer Mittelreflexion ausgedrückt ließe sich fonnulieren, dass Wittgenstein das Mittel der formalschriftlichen Zeichen nicht nur verwendet. Er reflektiert es auch und setzt dessen Eigenschaften als schriftliches Zeichen - seine Visualität und die syntaktische Anordnung seiner Elemente - zu systematischen Zwecken ein. Dies unterscheidet ihn von Frege und Russell. Formale Begriffe müssen nicht nur deshalb als genuin schriftlich aufgefasst werden, weil sich für sie nur bedingt ein lautsprachliches bzw. schriftsprachliches Äquivalent wie »Satz« oder »Gegenstand« angeben lässt; ihr schriftlicher Charakter erweist sich vielmehr darin, dass sie als schriftliche Zeichen zeigen, was sie bedeuten. Auf diese Weise tragen sie zu der spezifischen Formulierung der Logik des Tractatus bei. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass es sich bei dem, was Wittgenstein als interne oder formale Eigenschaften und Relationen bezeichnet, um syntaktische Eigenschaften und Relationen handelt. An dieser Stelle kommt noch einmal die Charakterisierung formaler Schriften durch Sybille Krämer zur Geltung. Hieran anschließend wird die Verbindung zu Wittgensteins Bemerkungen zum Satzzeichen und zur Theorie des Satzes hergestellt. Die schrifttheoretische Interpretation der diesbezüglichen Passagen wird abschließend gestützt durch die Einbeziehung paralleler Textpassagen des Prototractatus, einer frühen Version des Werkes, und durch Hervorhebung der Bezüge, die sich zwischen der Bildtheorie des Satzes bei Wittgenstein und der Bildtheorie von Heinrich Hertz herstellen lassen.
1.3.1 Interne Eigenschaften als syntaktische Eigenschaften Zu heuristischen Zwecken soll an dieser Stelle noch einmal Krämers Charakterisierung der Elemente fonnaler Schriften herangezogen werden, vor allem ihre Unterscheidung zwischen der internen und der externen Bedeutung dieser Elemente. Die Erstere resultiert aus der Position des Zeichens in der Syntax der Zeichenkonfiguration, die Zweite dagegen ist Ergebnis der nachträglichen Interpretation. Überträgt man diese Unterscheidung aufWittgensteins parallele Differenzierung zwischen den internen und externen Eigenschaften der Gegenstände und Sachverhalte, die er in Satz 4.122 ff. vornimmt, so würde sich ergeben, dass es sich bei den formalen bzw. internen Eigenschaften und Relationen um syntaktische handeln muss.
31 "Die arithmetische Formelsprache ist eine Begriffsschrift, da sie ohne Vermittlung des Lautes unmittelbar die Sache ausdrückt." (Frege 1986d: 96)
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KALKÜLE ALS SCHRIFTBASIERTE MEDIEN
Eine entsprechende Annäherung an die Bedeutung dieser Sätze hat bereits Erik Stenius vorgelegt; ihr schließt sich Kurt Wuchterl an. Beide Ansätze interpretieren diesbezüglich den Tractatus aus der Rezeption, wie sie innerhalb des Wiener Kreises entwickelt wurde. Stenius bezieht sich dabei auf Rudolf Carnap, wenn er bestimmt, dass die logische Syntax dem Ziel einer logisch korrekten Analyse der Sprache diene, über die, hier der metaphysikkritischen Orientierung des Logischen Empirismus folgend, ontologische Aussagen vermieden werden sollen. 32 Aus dieser Zielsetzung, von der Stenius als Gemeinsamkeit zwischen dem frühen Wittgenstein und den Mitgliedern des Wiener Kreises ausgeht, leitet er folgende Bestimmung ab: "Es gibt zwei Arten von Übereinkünften, die den semantischen Gebrauch einer Sprache L regieren; sie können die »Regeln der logischen Syntaxsyntaktische Qualität Ox< die Qualität bedeutet, die das Symbol >X< in >0x< besitzt. Wenn wir den Namen für einen Gegenstand, sagen wir >aX< in die Matrize >0x< einsetzen, versehen wir den syntaktischen Gegenstand >a< mit dieser syntaktischen Qualität und bilden so den Satz >0aAbsage an die Metaphysikx