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German Pages 140 [176] Year 1966
Jesus von
D. Dr. Martin Dibelius t ehem. o. Professor an der Universität Heidelberg
Vierte A u f l a g e mit einem Nachtrag von
Dr. Werner Georg Kümmel o. P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t
Marburg/Lahn
Sammlung Göschen Band 1130
Walter de Gruyter & Co. • Berlin 1966 vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung • J. G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung
• Georg Reimer
• Karl J. Trübner
• V e i t 6c
Comp.
© C o p y r i g h t 1966 by W a l t e r de G r u y t e r Sc C o . , v o r m a l s G . J . Göschen'sche Verlagsh'andlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . T r ü b n e r — V e i t & C o m p . , Berlin 30. — Alle Rechte, einschl. d e r Rechte d e r H e r s t e l l u n g v o n P h o t o k o p i e n u n d M i k r o f i l m e n , v o m V e r l a g v o r b e h a l t e n . — A r c h i v - N r . 72 30 660 — S a t z u n d D r u c k : W e r n e r H i l d e b r a n d O H G . , B e r l i n . — P r i n t e d in G e r m a n y .
I N H A L T Seite
Vorwort 1. Jesus in der Geschichte
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2. Die Quellen
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3. Volk, Land, H e r k u n f t
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4. Die Volksbewegung
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5. Das Reich Gottes
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6. Die Zeichen des Reiches
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7. Der Menschensohn
73
8. Der Mensch vor Gott
85
9. Die Feinde 10. Glaube und Unglaube
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Nachträge
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Literatur
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Stellen-Register
136
Register
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Vorwort zur 3. Auflage Die 1939 erschienene Jesusdarstellung von Martin Dibelius ist nach seinem Tode ( f 11. November 1947) in einer unveränderten, nur im Literaturverzeichnis leicht ergänzten zweiten Auflage noch einmal erschienen. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen. Die Jesusforschung ist in den letzten Jahren erneut in Fluß gekommen, nicht zuletzt durch die aufsehenerregenden Funde des „Thomasevangeliums" in Ägypten und der Schriften einer jüdischen Sekte in den Höhlen am Toten Meer. Trotz mancher dadurch ermöglichter neuer Einsichten hat die meisterhafte, geschlossene Darstellung von Martin Dibelius nichts von ihrem Wert und ihrer überzeugenden Kraft verloren. Jedoch hat der Leser den Anspruch, über die Bedeutung des koptischen Evangeliums und der Qumrantexte für unser geschichtliches Verständnis Jesu unterrichtet zu werden. Es sind darum dem von kleinen Versehen gereinigten unveränderten Text von Dibelius zwei Nachträge angefügt, die in der gebotenen Kürze über die Funde und ihre geschichtlichen Lehren unterrichten. Auch das Literaturverzeichnis ist völlig neu gestaltet worden. Werner Georg
Kümmel
Vorwort zur 4. Auflage Für die 4. Auflage wurden Versehen verbessert, die Angaben in den Nachträgen dem neuesten Stande unserer Kenntnis angeglichen und das Literaturverzeichnis ergänzt. Werner Georg Kümmel
1. Jesus in der Geschichte Von Jesus redet der christliche Glaube, die christliche Kirche, die christliche Lehre. Von Jesus redet aber auch die Weltgeschichte, die Geschichte des Alten Orients wie des römischen Kaiserreichs, die Geschichte der jüdischen wie der christlichen Religion. Nur sind es sehr verschiedene Gesichtspunkte, unter denen sie das Christentum betrachten und von Jesus reden. Der christliche Glaube beruht auf der Uberzeugung, daß in Jesus sich Gott selbst geoffenbart habe. Gott ist es, der in seinen Worten redet; daß diese Worte menschlich sind, schon in ihrer uns verlorenen ursprünglichen Prägung durch eine uns fremde semitische Sprache, muß zugegeben werden; aber die christliche Theologie bemüht sich nicht nur um den Sinn der uns erhaltenen griechischen Ubersetzung, sondern auch um die Bedeutung dieser Worte als Offenbarung Gottes. Gott ist es, der nach christlichem Glauben auch in Jesu Taten handelt; daß wir sie nicht alle kennen, daß wir auch die, die uns berichtet werden, nur so kennen, wie sie die Gläubigen von damals ihrer Zeit schilderten, wird dabei vorausgesetzt. Der christliche Glaube bekennt aber auch, daß Gott in Leiden und Tod Jesu seinen Willen offenbarte, ja, daß er ihn nicht im Tode ließ, sondern zu sich erhöhte, „von dannen er wiederkommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten". Daß die geschichtlichen Berichte an diesem Punkt teils auseinandergehen, teils überhaupt versagen, zeigt nur, daß der Glaube hier den Boden irdischen Geschehens verläßt und sich allein auf Gottes Handeln und Wollen richtet. Eine Störung und Widerlegung des Glaubens ist es nicht. Die Geschichte betrachtet Jesus unter einem völlig anderen Gesichtspunkt. Am Rande des römischen Reiches, in einem kleinen, nicht wichtigen Lande des Orients und in einem weltpolitisch nicht hervorragenden Volk, tritt ein
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Jesus in der Geschichte
Mann auf mit der Verkündigung einer nahen Weltwende durch Gottes Eingreifen. In Gottes N a m e n richtet er Drohung, Verheißung und Forderung an seine Hörer, in Gottes A u f t r a g verrichtet er auffallende Taten, heilt Kranke, gewinnt Anhänger; er gerät in der H a u p t s t a d t mit den religiösen und politischen Autoritäten in Konflikt und wird hingerichtet. Seine Anhänger aber sammeln sich in dem Glauben, daß er auferstanden, zu Gott aufgenommen sei und demnächst in Herrlichkeit auf Erden erscheinen werde. Dieser Glaube aber, in allerlei Veränderungen und Ausweitungen, macht seinen Weg ins römische Reich und gewinnt einen beträchtlichen Teil der Menschheit (und gerade der abendländischen!). Die Geschichtswissenschaft bemüht sich nun um eine Antwort auf die Frage, warum gerade diese Botschaft, und nicht eine andere orientalische oder griechische Verkündigung, so entscheidend in die Geschichte eingegriffen und das Geschick ganzer Völker bestimmt hat. Aber Kritik allein führt dabei nicht zum Ziel. J e weniger Glauben man den christlichen Berichten schenkt, je mehr man Bewegung und Botschaft Jesu als eine unter vielen in die Zeitgeschichte einreiht, desto rätselhafter wird jene weltgeschichtliche Wirkung! Die Gesichtspunkte des Glaubens und der Geschichte lassen sich nicht einfach verbinden. Man kann nicht das, was der Glaube sagt, geschichtlich beweisen. Glaube wäre ja nicht Glaube, wenn man ihn jedem anbeweisen könnte. Glaube setzt den Entschluß voraus, auf eine Botschaft, eine Wahrheit, eine H o f f n u n g hin das Leben (und das Sterben) zu wagen. Dabei muß jene Botschaft über andere menschliche Botschaften hinausgehoben werden: als Offenbarung, als Gottes Wort. U n d gerade dieses entscheidende Herausheben aus den Zusammenhängen des Geschehens kann man von der Geschichte nicht verlangen. Auch wenn die Geschichte nicht nur feststellt, sondern urteilt, kann sie es doch nur im Rahmen jener Zusammenhänge tun. Sie kann erforschen, warum das Christentum die Menschen anzog und worin es anderen Kulten überlegen war. Aber die Historie kann diese Fragen niemals mit dem Hinweis auf Gott er-
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ledigen. M i t einer a n d e r n A n t w o r t aber, sie laute wie sie wolle, k a n n sich wieder der Glaube nicht zufrieden geben. Verbinden l ä ß t sich wissenschaftliche Arbeit und christlicher G l a u b e wohl im einzelnen Menschen; wenn es anders wäre, w ü r d e dies Buch nicht geschrieben sein. N u r m u ß dieser Mensch darauf achten, d a ß ihm nicht Gewißheiten seines Glaubens als wissenschaftliche Ergebnisse erscheinen; und umgekehrt, daß er nicht „gesicherte" Resultate seiner Forschung deswegen f ü r Heilswahrheiten ausgibt, weil sie gesichert sind. D e r Forscher h a t seine kritische Arbeit zu leisten, ohne — im voraus — nach dem Ergebnis zu blicken. Allein das bedeutet nicht, d a ß er innerlich unbeteiligt sein m u ß . W e r immer unbeteiligt ist, lernt nie die große Kunst des Verstehens. D e m Glauben wie der leidenschaftlichen Ablehnung Jesu erschließt sich oft Wesentliches — und Nietzsches K r i t i k am Christentum ist nur ein Beispiel f ü r die Scharfsichtigkeit der Feindschaft. Es gibt keine im absoluten Sinn voraussetzungslose Geschichtswissenschaft; die Wesensart des Forschers und seine eigene E r f a h r u n g w i r k t mit an jedem geschichtlichen Bild, das er entwirft. Er k a n n n u r so gewissenhaft wie möglich die kritische Technik seiner Wissenschaft anwenden u n d so redlich wie möglich das Vergangene gegenwärtig machen. E r muß, im Falle des Lebens Jesu, die Begrenztheit unseres Wissens deutlich machen (s. K a p . 2). E r m u ß aber auch der eigentümlichen Lebendigkeit der Überlieferung, ihrem hohen Alter und ihrer relativen Einheitlichkeit ihr Recht werden lassen. D e n n t r o t z aller Begrenztheit unseres Wissens steht es doch nicht so, daß wir auf ein Bild Jesu verzichten oder gar an der Geschichtlichkeit seiner G?stalt zweifeln m ü ß ten. W i r können z w a r den Ablauf der Ereignisse dieses Lebens, abgesehen v o n den letzten Tagen, nicht schildern. Die Gemeinden, die Sprüche und Geschichten v o n ihm sammelten, waren weder an Entwicklung noch an Psychologie interessiert. W o h l aber w a r e n sie darauf bedacht, Worte und T a t e n Jesu a u f z u b e w a h r e n , und das ist ihnen auf ihre Weise, die nicht die unsere ist, gelungen. Schon
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zehn bis fünfzehn Jahre nach Jesu Tod erhält Paulus wie die anderen Missionare solche Traditionen, mündlich oder schriftlich. Schon vierzig Jahre nach Jesu Tod existieren Bücher mit solchen Sammlungen in den Gemeinden. Und das unzweifelhaft späteste unserer vier Evangelien, das des Johannes, ist etwa 90 Jahre nach Jesu Tod bereits in Ägypten, fern seinem Ursprungsland, gelesen worden — und ein kleines Fragment eines solchen ägyptischen Exemplars liegt heute, im Original, in der John Rylands Bibliothek in Manchester! Unsere Evangelien haben also um 100 n. Chr. bereits alle vier existiert. Audi zeigen Zitate der christlichen Schriftsteller im zweiten Jahrhundert, daß es noch mehr solcher Bücher gab, daß die Berichte allmählich durch fremde Gedanken und Geschichten erweitert, ja entstellt wurden, daß aber eine einheitliche Grundlage vorhanden war. Diese ganze Entwicklung überschauen wir heute viel besser als noch vor fünfzig Jahren. Darum wird die immer einmal wieder auftauchende Meinung, die Geschichte Jesu sei der ins Menschliche versetzte Mythus eines Gottes, immer unglaubwürdiger. Denn wenn dem so wäre, müßte eine umgekehrte Entwicklung angenommen werden; es müßten an erster Stelle jene ins Mythische reichenden Darstellungen des zweiten Jahrhunderts angesetzt werden, an letzter unsere Evangelien des Markus und Lukas. Auch der Zweifel an der Erhaltung unserer Evangelien in ihrer ursprünglichen Gestalt stellt sich immer mehr als unberechtigt heraus. Wohl gibt es in den massenhaften Abschriften zahlreiche Abweichungen; aber man ist immer wieder erstaunt, wie unwesentlich, aufs Ganze gesehen, diese „Varianten" sind. Jenes älteste Fragment des Johannes-Evangeliums aus der Zeit von 100—140 weicht nicht mit einem Wort von unseren gedruckten griechischen Texten ab. Wir besitzen sorgfältige Handschriften der Evangelien vom dritten und vierten Jahrhundert an. Die griechischen und römischen Klassiker aber kennen wir nur aus Handschriften, die durch erheblich längere Zeiträume vom Datum der Abfassung getrennt sind. Kein Buch der Antike
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ist in so alten, so zahlreichen und so relativ übereinstimmenden Texten auf uns gekommen wie die Evangelien und die Paulusbriefe! So kann die Geschichtswissenschaft ohne Bedenken die Gestalt Jesu in den Kreis ihrer Untersuchungen einbeziehen; die dafür notwendigen Grundlagen sind ihr gegeben. Sie muß versuchen festzustellen, was wir von der geschichtlichen Erscheinung Jesu wissen. Sie kann dabei dem Glauben nicht beweisen, was er und nur er zu sagen hat. Wohl aber kann sie Bekennern wie Gegnern des Christentums vor Augen stellen, worum es ihnen geht: was die einen zum Weiser ihres Lebens erheben und was die anderen f ü r sich ablehnen oder in seiner Weltwirkung bekämpfen. Die Bedeutung solchen Wissens um die geschichtliche Wirklichkeit auch f ü r den Glauben hat bereits der Evangelist Lukas betont, wenn er demTheophilus, dem er sein Buch widmet, als Zweck der Darstellung nennt: „daß du die Zuverlässigkeit der Lehren erkennst, in denen du unterrichtet wurdest". Neben den Gläubigen stehen heute, bedeutsamer als je seit den ersten Jahrhunderten, die Gegner des Christentums. Ihnen geht es jetzt nicht mehr um den Kampf gegen Vorstellungen oder Forderungen, die zum Christentum gehören, aber nicht seinen Bestand ausmachen. Was bekämpft wird, ist das Wesen des Christentums selbst; was erstrebt wird, ist nicht eine Reform der Kirche, sondern ein Verschwinden des Christentums überhaupt. Dieser Kampf, der selbst Geschichte werden wird, kann nicht durch Wissen entschieden werden; es sind stärkere Kräfte, letztlich eben Kräfte des „Glaubens", die beide Seiten einzusetzen haben. Das Christentum hat diese Auseinandersetzung nicht zu scheuen, darf sie aber seinen Anhängern auch nicht verkleinern. Sie hat sich seit Jahrzehnten angekündigt; sie wird in unserer Generation nicht zu Ende geführt werden. Voraussetzung einer echten Entscheidung ist aber dies, daß nicht gegen Phantome gekämpft wird, sondern gegen den wirklichen Gegner. Wer das Christentum radikal be-
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Die Quellen
seitigen will, darf nicht D a t e n der Kirchenpolitik aufgreifen, sondern m u ß das Christentum ins Auge fassen als Erscheinung der Gegenwart wie der Vergangenheit, das reformatorische, das mittelalterliche, das biblische Christentum. I m m e r wieder zeigt sich, ein wie verzerrtes Bild v o n den A n f ä n g e n des Christentums verbreitet ist. I m I n t e r esse des Glaubens h a t man diese A n f ä n g e über die geschichtlichen Zusammenhänge erhöht — so lange bis ihre Geschichtlichkeit zweifelhaft wurde. Im Interesse der Bildung h a t m a n menschliche G r ö ß e u n d vollendete Sittlichkeit, Reichtum der G e f ü h l e und Einzigartigkeit der E r lebnisse im N e u e n Testament g e f u n d e n . Es gibt aber „schönere", es gibt interessantere, es gibt auch „moralischere", energischer z u r Nacheiferung a u f r u f e n d e Bücher als das N e u e Testament. D a s N e u e Testament ist weniger und ist mehr. Es ist der schlichte, unter menschlicher Bedingtheit zustande gekommene Niederschlag eines Geschehens. O b in diesem Geschehen G o t t seinen Willen offenbar gemacht habe — das ist die Entscheidungsfrage im Kampf um das Christentum. Eine wissenschaftliche D a r stellung wie die folgende kann nicht die Entscheidung enthalten, aber sie k a n n das Geschehen kennen lehren.
2. Die Quellen Unser Wissen von der Geschichte Jesu ist begrenzt. Eine Begrenzung ist es schon, d a ß wir die Urteile der Gegner nicht unmittelbar vernehmen: denn v o n nichtchristlichen Zeugnissen über Jesus ist uns nur weniges erhalten, und dieses wenige ist interessant, f ü g t aber dem Bilde, das wir aus christlichen Quellen gewinnen, nichts Wesentliches hinzu (siehe unten N r . 1). U n t e r den christlichen Quellen stehen die Evangelien des N e u e n Testaments im V o r d e r grund; von den außerbiblischen christlichen Nachrichten über Jesus haben wir nur Bruchstücke. Die Evangelien der Bibel aber sind nicht literarische Schriften, deren Verfasser auf G r u n d von E r f a h r u n g und E r k u n d u n g das W i r k e n Jesu selbständig darstellen. Sie sind weder modernen noch antiken Biographien zu vergleichen; und darin liegt eine
Die Quellen
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weitere Einschränkung unseres Wissens ( N r . 2). Sie haben viele Fragen, deren B e a n t w o r t u n g w i r v o n einem geschichtlichen Lebensbilde Jesu e r w a r t e n würden, ü b e r h a u p t nicht behandelt. D a s Johannes-Evangelium ist z w a r eine selbständige Leistung, h a t es aber nicht in erster Linie auf die Vermittlung geschichtlicher K u n d e abgesehen. Die drei anderen Evangelien aber sind Sammlungen v o n Ü b e r lieferung — u n d z w a r im wesentlichen der gleichen U b e r lieferung, n u r in verschiedener A u s f o r m u n g , A n o r d n u n g und R a h m u n g . Diese Uberlieferung enthält W o r t e Jesu und Geschichten v o n ihm. U n d dabei w i r d eine dritte Begrenzung unseres Wissens bemerkbar. Sie liegt darin, d a ß hier nicht f o r t l a u f e n d e Geschichte berichtet wird, sondern einzelne Geschichten erzählt werden — und dies in der Weise des Volkes, des f r o m m e n Volkes, das T a t e n Gottes b e w u n d e r n und nicht sich menschliche Z u s a m m e n h ä n g e überlegen will ( N r . 3). Es liegt dieser Erzählungsweise fern, kritische Fragen a u f z u w e r f e n und zu untersuchen, ob und w a r u m dies h ä t t e geschehen oder jenes h ä t t e gesagt werden können. Unser sicheres Wissen von der Geschichte Jesu beruht also auf dem, was die ersten Gemeinden v o n dem Leben ihres Meisters überlieferten, und ist begrenzt durch die Eigenart dieser Uberlieferung. 1. Die nichtchristlichen Zeugnisse von Jesus sollen t r o t z dem hier genannt werden, weil immer einmal die Frage auftaucht, ob sie nicht anderen u n d besseren Bericht v o n Jesus gäben als die Evangelien. D a s mit Recht berühmteste unter ihnen steht in den Annalen desTacitus ( X V 44), die nach 110 entstanden sind; hier w i r d erzählt, wie N e r o sich zu der Beschuldigung verhält, die ihm selber den B r a n d zur Last legt: „um nun dem Gerücht ein Ende zu bereiten, w u ß t e N e r o Schuldige zu erfinden und mit den härtesten Strafen zu bedenken; es w a r e n die ohnehin wegen allerlei Schändlichkeiten verhaßten Leute, die beim gemeinen Volk Chrestianer hießen. D e r N a m e hängt zusammen mit einem ,Christus', den der P r o k u r a t o r Pontius Pilatus unter der Herrschaft des Tiberius h a t t e hinrichten lassen. T r o t z solcher augenblicklichen Schwächung k a m
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Die Quellen
der verderbliche Aberglaube wieder auf, und nicht nur in Judäa, wo diese Plage entstanden war, sondern auch in Rom, wo alles, was schimpflich und schändlich ist, aus der ganzen Welt zusammenströmt und gern gepflegt wird". Was in diesen Worten nicht Kritik (an den Christen und an der Stadt Rom) ist, sondern geschichtliche Mitteilung, das konnte Tacitus wohl von jedem römischen Christen ums J a h r 100 erfahren. Wir brauchen also nicht nach besonderen Quellen zu suchen; sehr gut könnten sie auch nicht gewesen sein, da Tacitus den Namen Jesus gar nicht kennt und Christus offenbar f ü r einen Eigennamen_hält. Den Namen verändert das Volk, wenn es die Anhänger des jüdischen Propheten als Chrestianer bezeichnet; dieses durch den bekannten Namen Chrestus nahegelegte Mißverständnis ist auch sonst bezeugt. Wenn wir es als verbreitet annehmen, können wir auch bei einem anderen römischen Historiker eine Erwähnung Jesu finden. Suetonius erzählt in seinem etwas später als die Annalen des Tacitus geschriebenen Werk „Uber das Leben der Kaiser" (V 25, 4), daß Claudius „die Juden, die auf Veranlassung des Chrestus beständig Unruhen erregten, aus Rom auswies". Wenn diese Nachricht etwas mit dem Christentum zu tun hat, so handelt sie von Unruhen, die durch das Eindringen des Christentums in die römische Judenschaft verursacht wurden. Sueton hätte dann in diesem Zusammenhang den Namen Christus vernommen, ihn als Chrestus gedeutet und als Bezeichnung eines römischen Juden mißverstanden. Auch aus jüdischen Quellen ist nicht viel zu gewinnen. Der jüdische Geschichtsschreiber dieser Zeit, Josephus, erwähnt in seinem „Altertümer" genannten Werk ( X X 9, 1) die Steinigung des „Bruders Jesu, des sogenannten Christus, Jakobus war sein N a m e " . Das ist nicht auffallend. Josephus, der in Rom um 90 schrieb, mußte wissen, daß man den Heiland der Christen „Christos" nannte, als ob dies ein Eigenname wäre; für ihn als Juden war es aber die Übersetzung des Titels „Messias" und mußte darum mit dem entwertenden Zusatz „sogenannt" versehen werden.
Die Quellen
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Gerade wenn man diese vorsichtige Haltung des Josephus versteht, kann man ihm die Worte nicht zuschreiben, die an anderer Stelle des gleichen Werkes ( X V I I I 3, 3) das Auftreten Jesu beschreiben. Denn dort heißt es u. a.: „dieser war der Messias" (griedi. ,Christos') und „am dritten Tage erschien er ihnen wieder lebend, was ja samt vielem anderen Wunderbaren die göttlichen Propheten von ihm gesagt hatten". Liest man vollends am Anfang dieser Stelle „Jesus, ein weiser Mann, wenn man ihn überhaupt einen Mann nennen darf", so kann kaum zweifelhaft sein, daß hier ein christlicher Einschub vorliegt oder mindestens eine christliche Überarbeitung. Ob es sich um das eine oder das andere handele, wird immer wieder gefragt. Die Entscheidung ist aber f ü r unsere Betrachtung ohne Belang; denn selbst wenn wir genau wüßten, daß Josephus an dieser Stelle auch im ursprünglichen Text von Jesus gesprochen habe, könnten wir doch den Wortlaut nicht rekonstruieren; wir kennen nur Josephus-Handschriften, die den vollen christlich klingenden Text enthalten. Es gibt übrigens noch eine slawische Übersetzung des anderen Geschichtswerkes des Josephus, des „Jüdischen Krieges", die an einigen Stellen Jesus erwähnt. D a aber die wichtigste Stelle von jenem christlichen Zeugnis in den „Altertümern" abhängig zu sein scheint, ist auch hier keine alte geschichtliche Kunde zu gewinnen. Endlich ist noch des großen, in Jahrhunderten entstandenen jüdischen Uberlieferungswerkes, des Talmud, zu gedenken, der ein paar Anspielungen auf Jeschu h a - N o j r i und seine Schüler enthält (z. B. er sei am Rüsttag des Passa gehängt worden, Babylon. Talmud, Traktat Sanhedrin 43a). Aber da es sich hier nur um letzte Nachklänge von Geschichtlichem, und sogar auch um Verwechslungen und Verzerrungen handelt, kommt der Talmud als Quelle f ü r das Leben Jesu nicht in Betracht. 2. Wir sind also auf die christlichen Zeugnisse über Jesus angewiesen. N u n hat es zweifellos mehr Berichte von Jesu Worten und Taten gegeben als im Neuen Testament enthalten sind. Der Evangelist Lukas, der das Johannes-
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Die Quellen
Evangelium noch nicht kannte, redet von „vielen" V o r gängern und meint damit doch nicht nur M a t t h ä u s und Markus. U n d bis in die jüngste Zeit hinein werden immer neue Bruchstücke entdeckt, die Sammlungen von Worten Jesu oder Erzählungen aus seinem Leben enthalten. Auch werden in Schriften der Kirchenväter Titel anderer E v a n gelien und Zitate aus ihnen angeführt (in deutscher U b e r setzung bei Hennecke-Schneemelcher, Neutest. A p o k r y phen I, 3. Aufl., 1959)*. Aber was diese „ a p o k r y p h e n " Texte von Jesu Leben erzählen, widerspricht häufig den feststellbaren Verhältnissen des Landes Palästina; zum Teil erscheint es auch als Deutung oder Ausarbeitung des Inhalts unserer biblischen Evangelien. Was die erwähnten Zeugnisse an Worten Jesu mitteilen, ist wertvoller. Wir finden da gelegentlich ein Wort, das nach F o r m und Inhalt den biblischen Sprüchen Jesu an die Seite gestellt werden darf. Wir finden vor allem Parallelen zu diesen Sprüchen, die zeigen, daß die W o r t e Jesu in verschiedenen Formen umliefen; der Vergleich ermöglicht es uns bisweilen, die älteste Form und den ursprünglichen Sinn eines Spruches festzustellen. Wenn das außerbiblische Material unsere geschichtliche Kenntnis von Jesus auch nur selten unmittelbar bereichert, so gewährt es uns doch einen Einblick in die Geschichte der Überlieferung. Deren wesentlichste Zeugen freilich sind und bleiben, auch angesichts aller neuen Funde, die drei ältesten Evangelien des N e u e n Testaments, nach Matthäus, M a r k u s u n d Lukas genannt. Was sie enthalten, ist im wesentlichen Tradition gleicher Art, d. h. es sind Geschichten aus Jesu Leben, Gleichnisse, die er erzählt hat, Sprüche und Spruchgruppen, in denen er sein Evangelium predigte, und am Schluß die Passions- u n d Ostergeschichte. U n d häufig ist nicht nur die allgemeine A r t dieselbe, sondern es ist auch der Text der einzelnen Stücke in den verschiedenen Evangelien eng v e r w a n d t , so daß sich die Unterschiede als Abwandlungen desselben T y p s verstehen lassen. Dies zu veranschaulichen, kann m a n die Texte jener drei Evangelien in drei Spalten nebeneinander setzen; man er*) Siehe Nachtrag S. 123 f.
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hält dann eine Zusammenschau oder Synopse, und dementsprechend redet man von diesen Evangelien als den synoptischen und von ihren Verfassern als den Synoptikern. Die Verwandtschaft zwischen ihnen erklärt sich also zunächst daraus, daß sie alle drei die gleiche in den Gemeinden — schriftlich oder mündlich — aufbewahrte Tradition vom Leben und Sterben Jesu sammeln, ordnen und in die Form einer zusammenhängenden Darstellung bringen wollten. Sie taten das in verschiedener Weise, aber ohne die Absicht, etwas Neues, Eigenes zu schaffen; sie waren also mehr Redaktoren als Autoren. Aber wenn die drei synoptischen Evangelien einander nicht nur in der Art der Uberlieferung, sondern weithin auch im Text nahezu gleichen und gelegentlich auch dieselbe Anordnung haben, so erklärt sich das nicht nur aus der Gemeinsamkeit der Traditionsgrundlage. Die Evangelien sind, so scheint es, noch näher miteinander verwandt. Diese Verwandtschaft zu erklären, hat sich seit einem Jahrhundert und länger die Evangelien-Kritik, namentlich in Deutschland und Großbritannien, bemüht. Das Ergebnis dieser Arbeit war die sogenannte Zwei-QuellenTheorie, die in ihren Grundzügen heute weithin angenommen ist. Die Kritik hat durch Vergleichung der Texte in allen Einzelheiten (namentlich bei Matth, und Mk.) und der Anordnung der Stücke (namentlich bei Luk. und Mk.) erwiesen, daß das Markus-Evangelium die Quelle der beiden anderen Evangelien gewesen sein muß. U n d die Kritik hat auch ein zweites wahrscheinlich gemacht: Matthäus und Lukas haben noch eine andere gemeinsame Quelle benutzt; denn sie stimmen auch in vielen Abschnitten, die bei Markus gar nicht vorkommen, fast wörtlich überein. Diese Quelle kann man nur ungefähr aus den Texten rekonstruieren. Was sich dabei als ihr Inhalt ergibt, sind zum größten Teil Worte Jesu. Wieviel die Quelle sonst umfaßte, in welchem Teil der Kirche sie gelesen und wem sie zugeschrieben wurde, das wissen wir nicht. Wir nennen sie — aber erst seit Anfang dieses Jahrhunderts — Q ( = Quelle), um ihr eine möglichst harmlose Bezeichnung zu geben.
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Die Quellen
D a s Markus-Evangelium und die Quelle Q sind die wichtigsten Formungen des Uberlieferungsstoffes, die den beiden größeren Evangelien, Matthäus und Lukas, zugrunde liegen. Dabei bot ihnen Markus anscheinend mehr Geschichten, Q mehr Sprüche und Sammlungen von Sprüchen, sogenannte „ R e d e n " , dar. W i r wissen nicht, woher die Stoffe stammen, die Matthäus und Lukas sonst noch enthalten, z. B . einige Sprüche der Bergpredigt und der Rede gegen die Pharisäer bei Matthäus, manche der großen Gleichnisse bei Lukas. D i e Überlieferung, die in den christlichen Gemeinden gepflegt wurde, w a r sicher umfassender als das, was die synoptischen Evangelien von ihr enthalten; und vieles Überlieferungsgut lebt gewiß nur, mehr oder minder entstellt, in den apokryphen Zeugnissen oder, selbständig verarbeitet, im Evangelium des Johannes weiter. Das, was wir von der alten Überlieferung am sichersten besitzen, ist jedenfalls bei den Synoptikern zu finden. Sie sind v o r Johannes geschrieben, der sie offenbar kennt. Matthäus und Lukas nehmen bereits auf die Zerstörung Jerusalems Bezug (Matth. 22, 7 ; L u k . 21, 2 0 ) Johannes, der nach Ausweis jenes neugefundenen Papyrusblattes aus dem ersten Teil des zweiten Jahrhunderts um diese Zeit bereits in Ägypten gelesen wurde, ist um 100 anzusetzen. Also fällt die Entstehung der Evangelien etw,i in die letzten dreißig J a h r e des ersten Jahrhunderts; die Tradition, die den Evangelien zugrunde liegt, entstammt demnach der Zeit vorher. Wenn wir also nach den Quellen für unser geschichtliches Wissen von Jesus fragen, so müssen wir versuchen, auf diese Traditionen zurückzugreifen. I h r Wesen und ihren W e r t gilt es zu bestimmen. D i e Evangelien sind V e r mittlèr dieser Tradition. Ihre Eigenart, die Person ihrer Verfasser, die Frage, inwieweit sie die N a m e n Matthäus, Markus, Lukas mit Recht tragen, alles dies steht für die geschichtliche Betrachtung des Wirkens Jesu nicht im V o r dergrund.
Die Quellen
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3. Wir wenden uns darum jetzt der in den Evangelien gesammelten Tradition von Jesus zu. Was sie darstellt und unter welchen Bedingungen sie entstand, müssen wir uns zunächst von ihr selbst sagen lassen. Was wir auf diesem Wege erschließen, können wir dann mit dem vergleichen, was wir sonst, vor allem aus den Paulusbriefen, über das Urchristentum wissen. Auf den ersten Blick sieht man, daß die Überlieferung sowohl Geschichten von Jesus als auch Worte Jesu enthielt. Manche Geschichten sind freilich nur gerahmte Worte. Eine Frau preist Jesu Mutter selig und erhält von ihm zur Antwort: „nein, sondern selig sind, die Gottes Wort hören und halten" (Luk. 11, 27. 28). Johannes der Täufer läßt aus dem Gefängnis an Jesus die Frage richten, ob er der Verheißene sei, und Jesus verweist in seiner Antwort darauf, daß die Zeichen des Reiches Gottes in seiner Nähe geschehen, aber er schließt mit der Warnung: „wohl dem, der nicht irre wird an mir!" (Matth. 11, 2—6; Luk. 7, 18—23). In diesen Fällen sind die Antworten nicht ohne die Frage zu verstehen, die Sprüche nicht ohne den Rahmen. Aber viele Worte sind ohne geschichtlichen Rahmen überliefert, verständlich in sich selbst, dem geschichtlichen Zusammenhang entnommen; auf solche Weise treffen sie den Hörer oder Leser viel unmittelbarer als im Rahmen einer Erzählung. Daß ein Bedürfnis nach derartiger Uberlieferung vorhanden war und auch später noch erfüllt wurde, zeigen die beiden Papyrusblätter mit Sprüchen Jesu, die 1897 und 1904 aus den Funden im ägyptischen Oxyrhynchus veröffentlicht wurden (die Handschrift deutet auf das 3. Jahrhundert): hier sind Sprüche ganz verschiedenen Inhalts nacheinander angeführt, jeder aber bezeichnenderweise eingeleitet mit den Worten: „Jesus spricht" (nicht: sprach!). In der Quelle Q, bei Lukas und erst recht bei Matthäus sind diese Sprüche häufig so verbunden, daß ganze „Reden" entstehen, wie die Bergpredigt; das sind natürlich nicht ursprüngliche Reden, die ein Thema entwickeln und durchführen, sondern es sind Zu2
D i b e l i us,
Jesus
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Die Quellen
sammenstellungen von Sprüchen und Spruchgruppen, nach Themen geordnet und also zum praktischen Gebrauch der Christengemeinden bestimmt. Sie sollen f ü r Fragen ihres Lebens Antwort und Weisung aus dem Mund ihres Meisters haben. Das war das entscheidende Motiv f ü r die Sammlung der Worte Jesu ohne geschichtlichen Rahmen. Wir erhalten aus diesen Sammlungen einen sehr lebendigen Eindruck von der Art, wie Jesus geredet hat. Er hat nicht, wie etwa die griechischen Philosophen, im Zwiegespräch mit Schülern oder Gegnern Gedanken entwickelt, oder in kleinen Abhandlungen „gelehrt". Er hat vielmehr wie die großen Propheten des Alten Testaments in Gottes Namen Botschaft verkündet. Er hat in Heilrufen —das sind z.B. die „Seligpreisungen" — und Mahnrufen die Hörer gewarnt und beschworen. Er hat aber auch wie ein Weisheitslehrer in kurzen Sprüchen, oft in Bildworten, Gottes Forderung und des Menschen Stellung zu Gott zum Ausdruck gebracht. Diese kurzen Sprüche, Rufe, Warnungen und Gebote sind meist so plastisch und einprägsam formuliert, daß es nicht erstaunlich ist, wenn sie im Ohr der Hörer hafteten, im Kreis der Anhänger von Mund zu Mund weitergegeben wurden, so daß sie schließlich ohne wesentliche Entstellung niedergeschrieben werden konnten. D a Jesus aramäisch sprach, die Überlieferung aber, die in den Evangelien auf uns gekommen ist, ausschließlich in griechischer Sprache geformt ist, mußten die Worte Jesu übersetzt werden. In den ersten Gemeinden an der Sprachgrenze im Norden Syriens, z. B. in Antiochia, gab es sehr viele zweisprachige Menschen. So wird sich die Übertragung sehr einfach so vollzogen haben, daß diese, was sie in der einen Sprache gehört hatten, in der anderen weitersagten. Es ist also nicht an eine einheitliche Ubersetzungsarbeit zu denken, wie sie unseren modernen Bibelübersetzungen zugrunde liegt, sondern an eine vielfältige Übertragung. Es sind auch tatsächlich dieselben Sprüche in ganz verschiedenartigem Gewand auf uns gekommen. Wir sehen aber gerade an solcher Doppelüberlieferung, daß sie zwar in der Form abgewandelt, aber doch in der Sache nicht wesentlich ent-
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stellt wurden. W i r können auch sonst wahrnehmen, daß die Weitergabe mit große Treue geschah, dank dem unbelasteten Gedächtnis der unverbildeten Anhänger Jesu und dank ihrer Verehrung für das W o r t des Meisters. Schon Paulus, und erst recht die Kirche nach ihm, hat andere Ausdrucksformen und eine neue Begriffswelt: wenn in der T r a dition der W o r t e Jesu davon nichts oder doch nur wenig zu spüren ist, so bietet das Gewähr für eine relative U r sprünglichkeit der Uberlieferung. W o h l mögen sich gelegentlich andere ähnliche Worte, vor allem aus der Spruchweisheit des Judentums, zu den echten Worten Jesu hinzugefunden haben; aber sie veränderten nichts am wesentlichen Inhalt. V o n unechten Worten wird man nur dort reden können, wo deutlich spätere Verhältnisse, Zustände oder Fragen der bereits bestehenden Kirche vorausgesetzt werden. In größeren Zusammenhängen hat Jesus geredet, wenn er in parallelen Wiederholungen die gleiche Mahnung auf verschiedene Gebiete a n w a n d t e , z . B . auf Almosen,Beten und Fasten (Matth. 6, 2—6. 16—18) oder auf Mord, Ehebruch und Eid (Matth. 5, 21—37, doch ist der Abschnitt vom Evangelisten mit Einzelsprüchen aufgefüllt). Aber der parallele Bau dieser „Spruchgruppen" bietet, wie jeder am deutschen T e x t nachprüfen kann, dem Gedächtnis eine solche Hilfe, daß auch hier eine relativ treue Bewahrung des Textes im Gedächtnis gut möglich erscheint. U n d schließlich sind hier noch die längsten zusammenhängenden Redestücke zu nennen, die uns als W o r t e Jesu überliefert sind: die größeren Gleichniserzählungen; also nicht jene Gleichnisse, in denen mit wenigen Sätzen ein — meist alltäglicher — Vorgang zur Erhellung eines Gedankens aus dem Evangelium beschrieben wird, sondern die ausführlichen Geschichten, in denen ein — zumeist außerordentlicher, schon an sich fesselnder — Vorgang dargestellt wird, um einen Satz der Botschaft beispielhaft zu belegen oder vom anderen Gebiet her zu belichten. Es sind die bekanntesten „Gleichnisse", um die es sich hier handelt: Verlorener Sohn, Arbeiter im Weinberg, B a r m 2*
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herziger Samariter, Unbarmherziger Knecht, Ungerechter Haushalter, Reicher Mann und armer Lazarus, Anvertraute Gelder, Festmahl. Die meisten dieser Geschichten zeichnen sich durch volkstümliche Motivierung wie durch ebenso volkstümliche Stilisierung des Berichts aus (die drei Wanderer im „Barmherzigen Samariter", die Wiederholungen in den „Arbeitern im Weinberg" usw.). Faßlichkeit und Einprägsamkeit eignen dieser Erzählung in so hohem Grade, daß die Möglichkeit guter Erhaltung nicht zu bezweifeln ist. Wohl aber zeigt ein Vergleich der doppelt erhaltenen Gleichnisse (Festmahl, Anvertraute Gelder), was auch eine Kritik der Einleitungen und Ausleitungen einzelner Gleichnisse lehrt: man hat in den Gemeinden diese Gleichnisse oft überdeutet, d. h. mehr aus ihnen herausgeholt, als sie eigentlich besagen wollten. H a t t e Jesus selbst in dem ungerechten Haushalter einen verbrecherischen, aber entschlossenen Menschen gezeigt, der sich nach dem Zusammenbruch seiner alten Existenz eine neue (mit betrügerischen Mitteln) aufbaut, so wollte man nun, wie der Anhang Luk. 16,9—13 zeigt, auch noch eine Belehrung über die rechte Verwendung von Geld und Gut herauslesen. Das Gleichnis von den Gästen beim Festmahl, die der Einladung nicht folgen, genügte nicht; es wurde so umgestaltet, daß man das Schicksal des Judenvolkes darin erkennen konnte (vgl. Matth. 22, 2—10 mit dem einfacheren Text Luk. 14, 16—24). Im allgemeinen aber sind diese Deutungen und Anpassungen an spätere Verhältnisse wohl erkennbar, weil sie zu Gang und Sinn der Gleichniserzählung gewöhnlich in Spannung stehen. Dieser Sinn erschließt sich am einfachsten, wenn man alle rahmenden und deutenden Bemerkungen beiseite läßt und sich an den Wortlaut der Erzählung hält. Daran, daß der Text die Meinung Jesu meist so deutlich erkennen läßt, sieht man, daß er selbst von jenen Ausgestaltungen und Deutungen nur wenig betroffen ist. Wir haben bisher die Uberlieferung der Worte Jesu betrachtet, um aus der Art dieser Tradition zu erschließen, in welchem Umfang diese ursprünglich ohne biographischen Zusammenhang überlieferten Texte geschichtlich zuverlässig
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sind und als Quelle für ein historisches Bild Jesu dienen können. Kleine Veränderungen, wie sie schon die Ubertragung aus dem Aramäischen ins Griechische mit sich brachte, müssen dabei vorausgesetzt, können aber im einzelnen nicht festgestellt werden. Eine Diskussion darüber, ob ein einzelner Spruch „echt" sei, ist oft müßig, weil die Gründe für oder wider nicht schlagend sind. Im allgemeinen wird der Historiker gut tun, auf die Masse der Überlieferung zu sehen und nicht zuviel auf ein einzelnes Wort zu bauen, falls es von der übrigen Tradition abweicht. Wichtigere Veränderungen der überlieferten Worte Jesu durch die Gemeinden sind festzustellen, wenn das Wort sich mit Jesu Würde und Schicksal befaßt. Denn die Gemeinden konnten Ahnungen seiner Würde und Andeutungen seines Schicksals nicht weitergeben ohne auszudrücken, was sie jetzt, nach der Entscheidung, über Jesu Würde wußten und von Jesu Schicksal dank dem Osterglauben verstanden hatten. Das gilt von Worten wie den Leidensverkündungen (Mk. 8,31; 9,31; 10,32 und Parallelen), die ohne Zusammenhang, sozusagen nur als Belehrungen ohne besonderen geschichtlichen Anlaß, im Text stehen; es gilt aber auch von Worten, die sich in Geschichten finden, etwa von der berühmten Antwort Jesu auf das Messiasbekenntnis des Petrus, die so nur im Matth. Ev. (16, 17—19) zu lesen ist. Es gilt endlich auch von den Reden Jesu im JohannesEvangelium. Da die Evangelien nicht Biographien sind, sondern Bücher, die den christlichen Glauben bezeugen und belegen wollen, konnten die Evangelisten jene Worte, falls sie ihnen als Ahnung und Andeutung überliefert waren, gar nicht aufnehmen, ohne die Erfüllung der Ahnung und ohne den vollen Glauben statt der Andeutung auszusprechen. Die Frage ist nur, ob und wie viele solcher Worte ihnen schon überliefert waren. Und diese Frage ist auf literarischem Wege zumeist nicht lösbar. Hinter ihr steht aber die andere Frage, inwieweit Jesus selbst schon bei seinen Lebzeiten seine Botschaft zur Botschaft von sich und seiner Würde ausgestaltet hat. Und diese Frage ist an ihrem Ort zu behandeln (s. Kap. 7).
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Wir wenden uns nun den erzählenden Abschnitten der synoptischen Evangelien zu. Auch sie sind nicht von den Evangelisten geschaffen, sondern aus der bereits — mündlich und eventuell auch schriftlich — existierenden Überlieferung aufgenommen. Jeder Leser auch des deutschen Textes kann merken, daß z. B. die in Mark. 1—12 enthaltenen „Geschichten" völlig selbständige, in sich abgeschlossene Einheiten sind, die miteinander ihre Plätze tauschen könnten, ohne daß an dem Bilde des Wirkens Jesu etwas geändert würde. Einzig die Leidens- und Ostergeschichte bildet eine Ausnahme. Vorgänge aus der Zeit des Wirkens Jesu aber sind uns nur aus jenen isolierten Geschichten bekannt. Verzichten müssen wir also von vornherein auf Chronologie wie auf die Feststellung einer Entwicklung Jesu, seiner Erfolge, des Gegensatzes zu seinen Feinden — eine „Biographie" Jesu in diesem Sinn läßt sich nicht schreiben. Wir kennen nur Einzelheiten, nicht Zusammenhänge. Aber diese Einzelheiten sind zum Teil mit großer Lebendigkeit erzählt. Wer auf diese Dinge achtet, bemerkt bald einen auffälligen Unterschied in dem Stil der Erzählung. Es gibt Geschichten, die nur das Notwendige, dies aber sehr deutlich sagen. Ein gutes Beispiel bietet die Segnung der Kinder, Mark. 10, 13—16, eine Erzählung, die von der Szenerie, den Personen, die die Kinder bringen, den Beweggründen der scheltenden Jünger schweigt, aber Jesu Wort und Jesu Tat einprägsam wiedergibt. Auch die umfangreichere Geschichte vom Gelähmten, Mark. 2, 1—12, gehört hierher: ihr geht es einzig um den Zusammenhang von Glauben, Vergebung und Heilung. Aber hier wird mit Worten nicht gespart: der seltsame Weg über das Dach bezeugt den Glauben derer, die den Kranken bringen; die Pharisäer bestreiten das Recht Jesu, Vergebung zu verkünden, und die Heilung bestätigt dieses Recht. Aber nichts wird gesagt von dem Kranken und seinen Empfindungen, nichts von der Art der Krankheit und der Art der Heilung. Neben diesem Typus steht ein zweiter, im allgemeinen durch Ausführlichkeit charakterisiert, vor allem aber durdi
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das, was er so ausführlich beschreibt: Krankheitsbild, Heilung und Konstatierung des Erfolges stehen hier im Vordergrund. Ein gutes Beispiel bildet die große Erzählung von dem Dämon „Legion", Mark 5, 1—20. Es wird genau beschrieben, wie sich unter seinem Einfluß der Kranke verhält, wie Jesus ihn bannt und wie der Dämon seine Macht und Vielfältigkeit beim Ausfahren aus dem Kranken dadurch zeigt, daß er eine ganze Herde Schweine „besessen" macht und in den See treibt. Sehr lehrreich ist es, beide Erzählungsarten am gleichen Thema zu beobachten. Im Markus-Evangelium wird zweimal eine Blindenheilung berichtet. Das eine Mal, in Jericho, Mark. 10, 46—52, sind es der Glaube des Blinden und der Ruf Jesu, die beschrieben werden; der Vorgang der Heilung wird mit einem Satz abgetan. Das andere Mal, in Betnsaida, Mark. 8, 22—26, gehört alles Augenmerk der Kur, die Jesus an dem Kranken vornimmt, und der allmählich sich einstellenden Genesung; von „religiösen" Beziehungen, etwa vom Glauben des Kranken und der Macht Jesu, ist kein Wort gesagt. Diese Erzählungsart ist also ausgesprochen weltlich. Und wir wissen genug von volkstümlichen Erzählungen, z. B. Heilungsberichten, außerhalb des Christentums, um feststellen zu können, daß dieser Stil dem dort üblichen entspricht. Die andere Erzählungsart dagegen, als deren Beispiele hier die Segnung der Kinder, die Heilungen des Gelähmten und des Blinden in Jericho genannt wurden, ist eigenständig und erklärt sich aus christlichen Voraussetzungen. Diese Art, von Jesus zu erzählen, will offenbar die Macht seines Wortes und die Kraft seiner Tat in den Vordergrund stellen. Diese Erzählungen wollen ganz unmittelbar Evangelium predigen. Man kann sich gut vorstellen, daß sie ursprünglich geformt worden sind, um die Predigt der Christen, die missionarische oder die Gemeinde-Predigt, zu bereichern, zu erläutern, zu belegen. Sie sind kurz und geschlossen genug, um in eine Verkündung des christlichen Glaubens als Beispiele eingelegt zu werden. Ich nenne sie darum Paradigmen. Es ist fast erstaunlich, in wie gerin-
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gern M a ß e sie die sonst üblichen Mittel volkstümlicher E r zählung verwenden u n d wie wenig sie die Fragen unserer Wißbegier zu b e a n t w o r t e n vermögen. Sie müssen ihre wesentliche F o r m u n g w o h l z u einer Zeit erhalten haben, da die Gemeinden mit der hellenistischen Welt noch k a u m in Berührung gekommen w a r e n , also in den ersten 20—25 J a h r e n nach Jesu T o d . Auf die gleiche Zeit k o m m e n wir, wenn w i r überlegen, d a ß Paulus selbst bereits solche Stücke der Gemeindetradition als Ü b e r l i e f e r u n g erhalten h a t und daß eines dieser Stücke, das v o m A b e n d m a h l , I. K o r . 11, 23, ganz den T y p u s der E r z ä h l u n g zeigt, den wir aus den synoptischen Evangelien kennen. A n Paulus aber m ü ß t e n diese T r a d i t i o n e n gelangt sein, als er Christ (um 34 n. Chr.) oder als er Missionar w u r d e (einige Zeit später). Wir haben also in diesen P a r a d i g m e n sehr alte Überlieferung v o r uns. D a b e i ist es f ü r unsere Frage nicht sehr v o n Bedeutung, ob diese Geschichten ursprünglich aramäisch erzählt und dann übersetzt w u r d e n oder ob zweisprachige Menschen, nachdem sie v o n den Ereignissen auf aramäisch gehört h a t ten, diese Berichte in griechischer Sprache neu f o r m t e n . In jedem Fall entstanden die griechischen E r z ä h l u n g e n zu einer Zeit, als noch viele Augenzeugen des Wirkens Jesu lebten. Sie, zumal die persönlichen Schüler Jesu, w ä r e n imstande gewesen, eine völlig entstellende Schilderung zu korrigieren. W i r haben also mit der Feststellung des hohen Alters dieser P a r a d i g m e n auch eine G e w ä h r erlangt f ü r deren relative Geschichtlichkeit. Allerdings ist diese Geschichtlichkeit nur relativ zu nennen, weil diese E r z ä h l u n gen ja von allem A n f a n g an stilisiert sind, um mit ihrem Bericht das Evangelium selbst zu verkünden. Sie können und wollen nicht geschichtlich treue Beschreibungen in dem Sinn sein, in dem ein modernes P r o t o k o l l zuverlässig in den Einzelheiten ist. Sie wollen in dem Vorgang das H a n deln des Gottessohnes zeigen und mögen diese Absicht, ohne daß es dem Erzähler immer b e w u ß t w a r , durch Auslassungen des Unwesentlichen, U b e r b e t o n u n g des H a u p t sächlichen, Vergrößerung des W u n d e r h a f t e n erreicht haben.
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Und überhaupt muß man sich erinnern, daß volkstümliche Erzählung immer mit solchen Mitteln arbeitet und niemals dem Protokoll entspricht. Eines gehört zum andern: wären diese Geschichten exakte Darstellungen im Sinn der heutigen Geschichtschreibung, so könnten sie frühestens aus dem zweiten christlichen Jahrhundert stammen, in dem das Christentum zur Sache der Gebildeten wird. So wie sie sind, mit ihren Vorzügen und Mängeln, weisen sie auf eine frühe Entstehungszeit. Etwas anders steht es mit jenen ausgeführteren Erzählungen, als deren Beispiel hier die Austreibung des Dämons „Legion" und die Blindenheilung zu Bethsaida genannt wurde. Sie sind offenbar nicht den Zwecken der Predigt dienstbar; in ihnen ist Erzählung, bisweilen recht farbenreiche Erzählung, Selbstzweck. So ist es kein Wunder, daß nichtchristliche Einflüsse zu spüren sind: entweder hat man ältere Geschichten beim Weitererzählen mit novellistischen Zutaten versehen — dann wäre die Hauptsache doch geschichtlich — oder man hat nichtchristliche Stoffe mit der Person Jesu verbunden — dann könnte von Geschichtlichkeit nicht die Rede sein. Die historische Zuverlässigkeit dieser Geschichten, die ich ihrer Erzählungsart nach Novellen nenne, ist also von Fall zu Fall zu prüfen, und nicht immer ist dabei Sicherheit des Urteils zu erreichen. Neben diesen Paradigmen und Novellen steht als zusammenhängender Bericht in den synoptischen Evangelien einzig die Leidensgeschichte (Mark. 14, 1—16, 8 und Parallelen). Hier bringt es die Sache selbst mit sich, daß der Erzähler eine fortlaufende Darstellung anstreben muß — und das um so eher, als die Leidensgeschichte in dem Ganzen der evangelischen Überlieferung eine besondere Stellung inne hat. Das ist am deutlichsten aus den Reden der Apostelgeschichte erkennbar: wenn die dort geschilderten Prediger, Petrus wie Paulus, von Jesu Leben reden, so erwähnen sie sein Leiden und seine Auferstehung regelmäßig, seine Tätigkeit als Heilender und Lehrender nur in eingeschränkter Weise. Ein anderes Zeugnis für die Besonderheit der Leidensgeschichte liefert der vierte Evangelist.
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Er, der sonst immer seine eigenen Wege geht, weiß v o n dem Leiden Jesu im großen und ganzen nicht anders zu erzählen als die anderen Evangelien. N a c h alledem m u ß man annehmen, d a ß es bereits in der ältesten Zeit einen festen T y p u s der Leidensgeschichte gab, den m a n erweitern, v o n dem m a n sich aber nicht lösen konnte, weil er v o n A n f a n g an überliefert w a r . Dieser allgemeine A u f r i ß — v o n den Einzelheiten abgesehen — darf also als zuverlässig gelten; m a n h a t bereits in den ältesten Zeiten in den Gemeinden übereinstimmend erzählt, wie es zu Jesu T o d k a m . D a s geschah zu einer Zeit, als zahlreiche Augenzeugen dieser Ereignisse am Leben w a r e n — darauf deutet mittelbar auch Paulus, I. K o r . 15, 6 —; ja, es ist sogar wahrscheinlich, d a ß die älteste Leidensgeschichte an zwei oder drei Stellen auf solche Augenzeugen ausdrücklich Bezug n i m m t : M k . 14, 51; 15, 21; u n d vielleicht auch 15, 40 (s. K a p . 9). W i r überschauen jetzt, auf welche Quellen sich geschichtliche K u n d e v o n Jesus gründen k a n n . Es sind im wesentlichen christliche Quellen, vornehmlich die Evangelien des M a r k u s , M a t t h ä u s und Lukas. Es h a n d e l t sich aber nicht in erster Linie um das, was deren Verfasser w u ß t e n und gestalteten, sondern um den älteren Überlieferungs-Stoff, den sie in ihre Bücher a u f n a h m e n . Dieser Stoff, der bereits v o r der Abfassung der Evangelien teils mündlich, teils schriftlich in den Gemeinden in U m l a u f w a r , bestand aus Geschichten, Sprüchen und anderen Redestücken (einschließlich der Gleichnisse) und der Leidensgeschichte. D a die Evangelisten diese Stoffe nur r a h m t e n und v e r b a n d e n , läßt sich die T r a d i t i o n ohne Schwierigkeit aus dem T e x t der Evangelien erheben (Darbietung dieses Stoffes in deutscher Übersetzung bei M. Dibelius, Die Botschaft v o n Jesus Christus, 1935). D a s Ursprüngliche ist also immer die Einzelgeschichte, der einzelne Spruch — nicht der verbindende Text, die Überleitungen oder zusammenfassenden Bemerkungen. In dieser T r a d i t i o n die älteste Schicht zu unterscheiden, ist d a r u m nicht schwer, weil wir die Entwicklung überschauen, die von der älteren Schicht zu einer jüngeren
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führt: die Umbildung der Geschichten durch weltlichen Stil und weltliche Motive; die Anpassung der Worte Jesu an die „Verhältnisse", die Überdeutung der Gleichnisse. Was davon noch frei ist, darf als alt gelten. Diese alte Schicht der Tradition dürfen wir geschichtlich für relativ zuverlässig halten, denn 1. sie ist entstanden in der Zeit zwischen 30 und 70 n. Chr., also, wenn nicht durch Augenzeugen, so doch nicht ohne Zusammenhang mit ihnen; 2. Sie ist relativ frei von außerchristlichen Einwirkungen; die Sprüche klingen weder gnostisch noch gesetzlich, die Erzählungen zeigen noch nicht die „weltliche" Technik, die Gleichnisse lassen ihren ursprünglichen Sinn trotz späterer „Überdeutung" erkennen; 3. Kürze und Prägnanz dieser Überlieferungsstücke verleihen ihnen Einprägsamkeit in hohem Maße; 4. die ältesten Überlieferungsstücke sind ihrer Formung nach geeignet, in die Predigt aufgenommen zu werden; ja diese Beziehung zur Predigt hat die Form oft wohl erst bedingt. Der Glaube ist es, der hier redet, nicht die Forschung; und gerade das ist es, was wir bei Gemeinden, die auf das Weltende warten, voraussetzen müssen. Das bedeutet freilich im einzelnen eine gewisse Einschränkung der Geschichtlichkeit, aber, auf das Ganze gesehen, auch ihre Verbürgung.
5. Volk, Land, Herkunft Das Volk, in dem Jesus wirkte, war nicht mehr das Israel des Alten Testaments und noch nicht das Judentum des Talmud. Von dem alten Israel war es unterschieden durch das Fehlen staatlicher Selbständigkeit. Das kleine, aber kräftige israelitische Volk, das aus den einwandernden Hebräer-Stämmen und den kanaanitischen Ureinwohnern entstanden war, hat eine starke oder schwache politische Existenz nur bis 586 (oder 597) v. Chr. geführt, bis zur Eroberung Jerusalems und der Wegführung eines Teiles
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der B e v ö l k e r u n g nach B a b y l o n . Es folgte das E x i l und dann die R e o r g a n i s a t i o n der jüdischen G e m e i n d e unter f r e m d e r Herrschaft. I m zweiten J a h r h u n d e r t begründeten die M a k k a b ä e r , im Anschluß an die E m p ö r u n g gegen den syrischen K ö n i g Antiochus I V . E p i p h a n e s u n d seine H e l lenisierungspolitik, noch einmal eine r e l a t i v selbständige Königsherrschaft, aber T h r o n s t r e i t i g k e i t e n und das E i n greifen der R ö m e r — P o m p e j u s eroberte 6 3 J e r u s a l e m — beendeten die E x i s t e n z des J u d e n t u m s als S t a a t . D i e H e r r schaft der l a n d f r e m d e n F a m i l i e des H e r o d e s w a r v o n R o m s G n a d e n ; das gilt schon v o n dem sogenannten „groß e n " H e r o d e s , der in den K ä m p f e n zwischen A n t o n i u s und O k t a v i a n sehr geschickt z u m Sieger, dem künftigen K a i s e r Augustus, hinüberwechselte; das gilt erst recht von seinen S ö h n e n , unter die das Reich des H e r o d e s nach seinem T o d e geteilt w u r d e : der unjüdische N o r d o s t e n (östlich v o m See G e n e z a r e t h ) k a m an Philippus, die eigentliche N o r d p r o v i n z , G a l i l ä a , k a m samt einem S t r e i f e n des O s t j o r d a n l a n d e s an H e r o d e s A n t i p a s ; er beherrschte also das G e b i e t , in dem Jesus seine Bewegung gründete u n d e n t f a l t e t e . S a m a r i a aber und J u d ä a m i t J e r u s a l e m wurden das E r b t e i l des Archelaus und nach dessen Absetzung (6 n. C h r . ) u n m i t t e l b a r römisches G e b i e t unter einem P r o k u r a t o r . E i n e r unter diesen P r o k u r a t o r e n , P o n t i u s Pilatus (26—36 n. C h r . ) , w a r es, der den B e f e h l zur K r e u z i g u n g J e s u gab. So w a r das L a n d , in dem Jesus w i r k t e , G a l i l ä a , und erst recht J u d ä a , w o er starb, v o n einer fremden M a c h t beherrscht. W e n n Jesus der A u t o r i t ä t des S t a a t e s begegnete, waren es zumeist Fremde, die sie v e r t r a t e n ; denn auch die H i l f s t r u p p e n , die in P a l ä s t i n a standen, w a r e n nicht J u d e n . D i e Zollunterpächter aber, die dem G e n e r a l pächter möglichst viel an indirekten Steuern, z . B . an W e g e geld auf eingeführte W a r e n , einzutreiben h a t t e n , w a r e n z w a r J u d e n , aber wegen ihrer unehrlichen P r a x i s und w o h l auch wegen ihrer B i n d u n g an eine volksfremde Regierung so v e r h a ß t und verachtet, daß m a n sie nicht zur jSdischen Gemeinde rechnete und den V e r k e h r m i t ihnen mied. E i n e jüdische Behörde mit rechtlicher und kirchlicher A u t o r i t ä t
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war lediglich der „Hohe R a t " , das Synedrium in Jerusalem. Aber diese eigentümlichen auf Besatzungsmacht und den Resten einheimischer Autorität beruhenden politischen V e r hältnisse unterscheiden das jüdische V o l k zur Zeit Jesu auch von dem aus dem Lande vertriebenen Judentum nach der Zerstörung Jerusalems, das in dem großen Gesetzesauslegungswerk des Talmud vorausgesetzt wird. Das Volk in Palästina sitzt noch auf eigener Scholle und lebt in seinen Überlieferungen, muß sich aber gerade darum noch nicht so streng von der übrigen Welt abschließen, wie es das dem Boden entfremdete, in der Welt zerstreute jüdische Volk zwischen den Völkern später aus Gründen der Selbsterhaltung tat. In J u d ä a hatte sich die jüdische Bevölkerung verhältnismäßig rein erhalten, aber auch dort war der Einfluß der hellenistischen Welt zu spüren: römisches Münzwesen, ein Theater in der Stadt und ein Amphitheater in der Ebene (seit Herodes), wohl auch der von Herodes durchgeführte Tempelumbau, vermutlich mit hellenistischen Stil-Elementen, die militärische Besatzung in der Burg Antonia nördlich vom Tempelplatz, die zeitweilige Anwesenheit des Prokurators in der Stadt — alles das erinnerte an Fremdherrschaft und Einfluß der großen Welt. Auch die große Diaspora, die Existenz griechisch redender Judenschaften in den Städten der Welt draußen, konnte nicht ohne Wirkung auf die Heimat bleiben. D o r t , in P a lästina, sprach man seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr hebräisch, sondern aramäisch. Für Pilger und Rüdewanderer aus der Diaspora gab es aber hellenistische Synagogen in der Hauptstadt, die Amtssprache der Prokuratoren war griechisch, lateinisch-griechische Inschriften fehlten nicht, und die Kenntnis der griechischen Volkssprache ist auch bei vielen Juden vorauszusetzen, nicht als Zeichen besonderer Bildung, sondern als Voraussetzung für Verkehr und Beruf. U n d wenn man schon in Jerusalem nicht abgeschlossen von Weltmacht und Weltkultur lebte, so war es erst recht
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in den nördlich gelegenen Landschaften Samaria und Galiläa der Fall. In Samarien konnten zwei Städte als überwiegend heidnisch gelten, da sie durch nichtjüdische Kolonisten besiedelt worden waren, Samaria und Skythopolis. Die Bewohner der Landschaft Samarien waren der Religion nach im allgemeinen Juden, aber sie gehörten nicht wie die Galiläer zu der jüdischen Gemeinde, die den Tempel in Jerusalem als ihr einziges Heiligtum betrachtete; sie hatten ihren eigenen Tempel und nach dessen Zerstörung im 2. Jahrhundert v. Chr. ihre eigene Kultstätte uf dem Berge Garizim. Da sie nur die 5 Bücher Moses anerkannten, unterschied sich ihr Gottesdienst und ihr Brauch auch sonst von dem, was in Judäa galt; aber sie gehörten trotzdem zum Bereich der jüdischen Religion. Zur jüdischen Rasse freilich gehörten sie nicht oder doch nur in eingeschränktem Maß. Denn gleich nach der Eroberung Samarias im Jahre 722 v. Chr. hatten die Assyrer fremde Kolonisten in dieser Landschaft angesiedelt. Ein beträchtlicher Teil der israelitischen Bevölkerung war nach Assur weggeführt; die übrigen aber verbanden sich im Lauf der Jahrhunderte immer mehr mit den Kolonisten. Den Judäern war dieses Mischvolk, das den Gott Israels zwar bekannte, aber in falscher Weise verehrte, Gegenstand des Hasses und des Abscheus. Auch in Galiläa wohnte ein Mischvolk. In dem nördlichsten Landesteil haben wohl auch vor der Zerstörung Samarias die reinen Juden nicht die Oberhand gehabt. Aber die Galiläer haben nach dem Exil die gottesdienstliche Gemeinschaft mit den Judäern angestrebt. Schon darum verfallen sie nicht dem Haß der Judäer, der die Samaritaner trifft. Überdies ist ein Teil dieses galiläischen Mischvolkes in der Makkabäerzeit (durch Aristobul 104/103 v. Chr.) mit Gewalt in die jüdische Religionsgemeinschaft hineingetrieben worden: die Galiläer wurden beschnitten und auf das Gesetz verpflichtet. Fraglich ist, ob und inwieweit diese Judaisierung durch die Umsiedlung von Judäern nach Galiläa unterstützt wurde. Jedenfalls aber war die Bevölkerung Galiläas stark gemischt, keineswegs
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rein jüdisch, religiös aber dem Tempelkult in Jerusalem verpflichtet und ebenso, trotz kleiner Unterschiede, der gesetzlichen Praxis, wie sie in Judäa herrschte. Matth. 26, 73 sagen die hohepiiesterlichen Knechte zu Petrus: „Deine Sprache verrät dich." Das ist eine Deutung der Form, in der Markus den Zuruf wiedergibt: „Du bist ja auch ein Galiläer." U n d in der Tat erkennt man den Galiläer an seiner Sprache; er unterscheidet die Kehllaute nicht deutlich, verschluckt Silben und spricht manche Vokale nachlässig aus. U n d natürlich hat man sich in Galiläa, wo das jüdische Volk sozusagen an die hellenistische „Welt" angrenzt, den Einfluß des Griechischen noch größer vorzustellen als in Judäa. Es ist gut möglich, daß Jesus und seine Jünger griechisch verstanden, vielleicht sogar sprachen. Denn in diesem Lande Galiläa war Jesus zu Haus. In dem Landstrich am See Genezareth, dessen Fruchtbarkeit und milde Temperatur der Historiker Josephus in immer neuen Wendungen preist, hat er gewirkt. In der kleinen Stadt Nazareth ist er aufgewachsen. Sie wird in vorchristlicher Literatur gar nicht erwähnt, wohl aber in einem späten jüdischen Lied; ihr Dasein beruht also nicht auf christlicher Erfindung. Aber ist Jesus auch wirklich Nazarethaner? Ist er Galiläer? Die Frage nach Jesu Herkunft, die damit berührt wird, erfährt in der Gegenwart stärkere Beachtung als früher. Denn hinter ihr steht die Frage, welchem Volk und welcher Rasse Jesus angehört habe, und das Problem, ob das Christentum aus dem Geist einer bestimmten Rasse abzuleiten sei. Seit Houston Stewart Chamberlains Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) ist diese Frage nie zur Ruhe gekommen. Geschichte und Anthropologie sind an ihr interessiert und fordern Antwort von den Evangelien — also von Texten, die von der ganzen Fragestellung nichts wissen. Eine grundsätzliche Überlegung ist darum am Platze.
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Der Christ, der in dem Wort und der Erscheinung Jesu die Kundmachung Gottes wahrnimmt, weigert sich, diese Kundmachung einfach mit dem Geist einer Rasse oder eines Volkes zu erklären. D i e Stellung zum Christentum hängt also nicht von der Entscheidung über Jesu Zugehörigkeit zu Rasse oder Volk ab, sondern von der Beantwortung der Frage, ob hier wirklich — und zwar jedenfalls inmitten eines uns fremden Volkes — Gott hörbar und faßbar wird. D a r u m darf andrerseits niemand, er sei Christ oder Nichtchrist, die geschichtliche Frage nach Jesu Herkunft mit dem Hinweis auf den Wert seiner Botschaft beantworten und etwa erklären: weil Bergpredigt und Leidensgeschichte für das ganze Abendland Bedeutung erlangt haben, kann Jesus kein rassereiner J u d e gewesen sein. Vielmehr kann jene Frage nach der Abstammung Jesu nur unter sorgfältiger Prüfung geschichtlicher Beweismittel überlegt werden. Dies ist es, was sich bei solcher Prüfung ergibt. Schon in der ältesten Überlieferung wird Jesus gelegentlich als Sohn oder Nachkomme D a v i d s bezeichnet (Rom. 1, 3; Mark. 10, 47). Aber dabei ist wohl weniger an einen Nachweis der Sippe gedacht als an einen üblichen Messiastitel. Jesus selbst scheint auf eine Abstammung von D a v i d wenig Wert zu legen; er hält den Schriftgelehrten den 110. Psalm vor „ D e r H e r r hat gesagt zu meinem H e r r n " und fragt sie, offenbar um alle Genealogien des Messias zu entwerten: „ D a v i d selber heißt ihn H e r r — woher ist er denn sein Sohn?" (Mark. 12, 37). Wohl aber haben gewisse Kreise der urchristlichen Gemeinde an der Herkunft Jesu Interesse bekundet und sich um die Feststellung seines Stammbaums, d. h. um den Ahnennachweis des Zimmermanns Josef, bemüht. Es gibt im Neuen Testament zwei solcher Ahnentafeln, Matth. 1 und L u k . 3; die erste schließt die offizielle Königsliste von D a v i d bis Jechonja ein, die zweite führt die Abstammung Jesu auf eine Seitenlinie, auf D a v i d s Sohn N a t h a n , zurück. Diese Ahnentafeln stehen in der Bibel, obwohl der Glaube an die jungfräuliche Geburt Jesu die Ahnen Josefs unwichtig werden ließ. Man hat also in manchen christlichen Kreisen an der H e r -
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kunft J o s e f s (oder M a r i a s ? ) aus der Familie D a v i d s festgehalten, und die Geschichte v o n der G e b u r t J e s u L u k . 2 setzt diese H e r k u n f t v o r a u s ; die Geschichte v o n der V e r kündigung L u k . 1 will sie ursprünglich w o h l der Mutter J e s u zusprechen. Auch die Enkel des J u d a s , eines Bruders Jesu, sollen unter D o m i t i a n angegeben haben, d a ß sie aus D a v i d s Familie stammten (Euseb, Kirchengesch. I I I 20). U n d da die J u d e n die Überlieferung v o n ihren Ahnen pflegten, ist die V e r m u t u n g nicht v o n der H a n d zu weisen, daß auch die Familie J e s u solche K u n d e gehabt habe. A b e r auch, wenn Jesus wirklich aus D a v i d s Geschlecht gewesen sein und wenn M a r k . 12, 37 nichts gegen die V e r w a n d t schaft mit D a v i d besagen sollte, so ist d a m i t weder J e s u reine jüdische A b s t a m m u n g gesichert noch die H e r k u n f t aus G a l i l ä a ausgeschlossen. N a c h den Evangelien wohnt Jesus bis zu seinem A u f treten in N a z a r e t h und w i r d N a z a r e n e r oder N a z o r ä e r u n d im T a l m u d „ N o f r i " genannt. Bei den beiden letzten Bezeichnungen bleibt es fraglich, ob sie überhaupt mit N a z a r e t h zusammenhängen und nicht vielmehr die Z u gehörigkeit zu einer Sekte oder einer G r u p p e ausdrücken wollen. Immerhin ist auch „ N a z o r ä e r " v o n den E v a n g e listen auf N a z a r e t h in G a l i l ä a bezogen worden. Jesus gilt also als Galiläer. Sollte seine Familie, gleichviel, ob sie davidischen U r s p r u n g s w a r oder nicht, seit Generationen in G a l i l ä a beheimatet gewesen sein, so w ä r e ein Zweifel an ihrer rein jüdischen A r t erlaubt. Ein Z w e i f e l — nicht mehr; und vollends w ä r e keine Gewißheit darüber zu erlangen, v o n welcher H e r k u n f t dann der nichtjüdische Einschlag in ihrer S i p p e gewesen sei. D i e Möglichkeit nichtjüdischer Ahnen m u ß anerkannt werden — das ist aber auch alles, w a s gewissenhafte P r ü f u n g der Überlieferung über die H e r k u n f t J e s u ausmachen kann. D a ß Jesus sich aber selbst zur jüdischen Gemeinde gerechnet hat, d a r a n k a n n kein Zweifel bestehen. D i e Sicherheit, mit der er das A l t e Testament als Gottes O f f e n b a r u n g zitiert, und die A r t , wie er a m E n d e seines Wirkens die Entscheidung in Jerusalem sucht, beweisen es. Aber es han3
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delt sich bei ihm nicht nur um eine sozusagen „kirchliche" Zugehörigkeit. Es ist Größeres und Stärkeres, was er aus der religiösen Überlieferung seines Volkes ererbt, von aller kultischen und gesetzlichen Rahmung und Verkleidung befreit und zur Voraussetzung seiner eigenen Botschaft gemacht hat. Es ist der Glaube an die Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes und die Hoffnung auf Gottes Entscheidung. Das Volk Israel hatte erfahren, und das Alte Testament, die Bibel Jesu, hatte die Erfahrung aufbewahrt, daß Gott in der Geschichte des Volkes seinen Willen, seine Strenge wie seine Liebe kundgetan habe. Nicht Erkenntnis von Gottes Wesen war das Erbe Israels noch geheimnisvolle Schau seiner Herrlichkeit, sondern das Bewußtsein, von Gott im Gesetz vorgefordert, in der Geschichte immer wieder befragt und geprüft zu werden. Nicht ein „allliebender Vater" wird im Alten Testament gepredigt, sondern der Herr der Völker und der Zeiten, der Menschen wie Nationen richtet, sie verwerfen wie begnadigen kann und dessen Gesetz Kundmachung göttlichen Willens und Maßstab menschlichen Handelns ist. Diese sehr unphilosophische, aber sehr unmittelbare, weil den Menschen wirklidi angehende Gottesanschauung war nun freilich in der Theologie des Judentums in den Jahrhunderten zwischen Alexander dem Großen und Jesu Auftreten ungeheuer verengt worden. Aus dem Herrn der Völker war das Parteioberhaupt der Gesetzlichen, aus dem Gehorsam gegen den Lenker der Geschichte eine weitverzweigte Technik der Frömmigkeit geworden. Das Volk stand nicht mehr inmitten selbstgestalteter Geschichte und hatte darum kein Ohr mehr für den Herrn, der durch Völker und an Völkern handelt. Im Volke selbst hat nicht mehr der Priesteradel von Jerusalem das höchste Ansehen, sondern die über das ganze Land hin verbreitete Gruppe der Pharisäer, der (von aller Unreinheit?) „Gesonderten". Sie sind die eigentlichen Vertreter jener Frömmigkeitstechnik, die sich bemühen, bei jedem Schritt ihres Lebens ein Gebot zu erfüllen und keines zu verletzen. Ihre Autorität
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sind die Schriftgelehrten, die Erfinder jener Technik. Durch Auslegung und Anwendung des alttestamentlichen Gesetzes auf die kleinsten Angelegenheiten des Alltags entwickeln sie eine überreiche Tradition von Vorschriften, die in den Lehrhäusern überliefert und dabei durch Entfaltung und Anwendung immer wieder vermehrt werden. Es sind diese Vorschriften, die später, vom 2. Jahrhundert an, in Verbindung mit anderem Traditionsgut in dem ganz allmählich entstehenden Sammelwerk des Talmud schriftlich niedergelegt werden. Bei weitem nicht alles, was im Talmud steht, kann als Zeugnis für die Zeit Jesu in Anspruch genommen werden; wohl aber gibt der Talmud ein Bild von der Aufteilung und Einschachtelung des Lebens in gesetzliche Fälle und der damit verbundenen Verengung des Gesichtskreises, die im Judentum schon zur Zeit Jesu Platz gegriffen hat. Die große Welt, aber auch die politische Gemeinschaft des eigenen Volkes mit ihren Aufgaben und Sorgen entschwindet den Blicken dessen, der sich auf das Studium des Gesetzes und auf seine Anwendung im engsten Lebenskreise beschränkt. Das erste tun die Schriftgelehrten, das zweite die Pharisäer (zu denen sich viele Schriftgelehrte rechnen); sie bilden eine Art Bruderschaft innerhalb der jüdischen Gemeinde. Im Gegensatz zu ihnen stehen die Teile des Volkes, die das Gesetz weder halten können noch wollen; „Volk des Landes" werden sie im Talmud genannt. Im Gegensatz zu den Pharisäern stehen aber auch die berufsmäßigen Wahrer des Alten, die Priester, und die sie unterstützende Gruppe, vornehmlich aus den priesterlichen Familien, die Sadduzäer. Ihr Name m u ß von dem Eigennamen Zadök abgeleitet werden; vielleicht ist dabei der Priester dieses Namens aus Davids Zeit 2. Sam. 8, 17 gemeint. Sie teilen den Glauben an die Auferstehung nicht und lehnen auch die pharisäische Weiterbildung des Gesetzes ab. Zum mindesten hat die mündliche Auslegung des Alten Testaments bei den Sadduzäern keine autoritäre Geltung; sie sind konservativ im Verharren bei dem geschriebenen Bibeltext, konservativ in der Wahrung der Tempeltraditionen, auf 3*
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E r h a l t u n g geltender Macht bedacht und d a r u m zu H e r o d e s und zur Römerherrschaft in leidlich guten Beziehungen. D i e Pharisäer aber sind den schlichten Leuten näher, schon weil sie im L a n d e unter ihnen leben. D e r T e m p e l ist weit, und die täglichen O p f e r sieht der Galiläer nur, wenn er auf P i l g e r f a h r t in J e r u s a l e m weilt. N a h e aber ist ihm die S y n a g o g e seiner H e i m a t , Lehrhaus u n d Gebetsstätte, w o er an jedem S a b b a t G o t t dienen und das Gesetz hören k a n n und erfährt, w a s er in G e h o r s a m gegen G o t t zu tun und zu lassen habe. M i t der E r w ä h n u n g v o n Pharisäern, S a d d u z ä e r n und „ V o l k des L a n d e s " ist das jüdische V o l k zur Zeit Jesu noch nicht v o l l s t ä n d i g beschrieben. Mancher F u n d hat uns darüber belehrt, daß das J u d e n t u m in P a l ä s t i n a mehr Sonderrichtungen aufwies, als uns der jüdische H i s t o r i k e r dieser Zeit, J o s e p h u s , ahnen läßt"". Aber auch er erwähnt die G r u p p e der eigentlichen R ö m e r f e i n d e , der Zeloten. D a s sind jüdische „ A k t i v i s t e n " , die durch R e v o l u t i o n gegen die Fremdherrschaft vorgehen wollen und solches auch in kleineren Erhebungen v o m T o d e H e r o d e s des Großen und vollends v o m Beginn der unmittelbaren Römerherrschaft in J u d ä a an bis zu dem großen A u f s t a n d v o m J a h r e 66, dem A n f a n g des jüdischen Krieges, immer wieder versucht haben. Es scheint, daß das V o l k in G a l i l ä a revolutionären A u f r u f e n , b a l d politischer, b a l d religiöser A r t besonders zugänglich w a r : J u d a s v o n G a m a l a (östlich v o m See Genezareth) w i r d als Zelotenführer genannt, unter den J ü n gern J e s u erscheint ein S i m o n der Zelot, offenbar ein zu Jesus bekehrter früherer Anhänger der Revolutionspartei, und a m Beginn des jüdischen Krieges spielt ein galiläischer B a n d e n f ü h r e r , J o h a n n e s v o n Gis-chala, eine revolutionäre Sonderrolle. A b e r schon J a h r z e h n t e vorher, und also auch während der Lebenszeit Jesu, tauchen im ganzen L a n d e immer wieder B a n d e n f ü h r e r a u f . U n d z w a r scheinen sie es nicht nur auf die Gewinnung politischer Macht abgesehen zu haben, * S . Nachtrag S. 124 F.
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s o n d e r n auf E r f ü l l u n g v o n H o f f n u n g e n , wie sie d a s A l t e T e s t a m e n t u n d das seitdem e n t s t a n d e n e S c h r i f t t u m , v o r allem aber die V o l k s e r w a r t u n g m i t d e r P e r s o n des k o m m e n d e n „ G e s a l b t e n " , des Messias, v e r b a n d . M a n c h e dieser F ü h r e r w o l l e n das K ö n i g t u m e r n e u e r n , einer v e r h e i ß t einen w u n d e r b a r e n D u r c h z u g durch d e n J o r d a n , ein a n d e r e r v e r spricht die M a u e r n J e r u s a l e m s durch ein M i r a k e l z u s t ü r z e n ; Glücks- u n d U n h e i l s p r o p h e t e n lassen ihren R u f ert ö n e n . W e n n auch die L e h r e r des V o l k e s nicht viel v o m Messias reden u n d die M a c h t h a b e r die messianische H o f f n u n g ängstlich verschweigen, im V o l k e ist diese H o f f n u n g nicht t o t . W e r m i t V e r h e i ß u n g u n d F ü h r e r a n s p r u c h u n t e r diesem V o l k e a u f t r i t t , d e r erweckt die F r a g e , o b er der „ K o m m e n d e " selber sei o d e r m i n d e s t e n s sein V o r l ä u f e r , vielleicht der P r o p h e t Elias, dessen W i e d e r k u n f t m a n als Zeichen d e r messianischen Z e i t e r w a r t e t e . Diese E r w a r t u n gen u n d H o f f n u n g e n m ö g e n verschieden gewesen sein. D i e in d e r römischen H e r r s c h a f t des W u r z e i s Ü b e l sahen, m ö g e n m e h r a n einen D a v i d s s p r o s s e n gedacht h a b e n , der Israels Reich als K ö n i g w i e d e r z u r B l ü t e bringe. D i e den gesamten W e l t l a u f als g o t t w i d r i g b e k l a g t e n , m ö g e n geh o f f t h a b e n , d a ß G o t t v o m H i m m e l her die H e r r s c h a f t ü b e r die W e l t e r g r e i f e n u n d seine Ziele m i t seinen F r o m m e n v e r w i r k l i c h e n w e r d e . Wahrscheinlich h a b e n sich m i t dieser E r w a r t u n g auch H o f f n u n g e n a n d e r e r V ö l k e r u n d Religionen v e r b u n d e n . D e n n w e n n d e r e r w a r t e t e Erlöser auch „der Mensch" o d e r „ M e n s c h e n s o h n " (was dasselbe ist) g e n a n n t w i r d , so e r i n n e r t das a n die persische H o f f n u n g , d a ß der halbgöttliche U r m e n s c h a m E n d e der Z e i t e n a u f t r e t e n w e r d e . Bereits das Buch D a n i e l (7, 13) w e i ß v o n diesem Menschensohn, der auf den W o l k e n des H i m m e l s k o m m t , sieht in i h m freilich eine V e r k ö r p e r u n g des V o l kes; a n d e r e solche „ a p o k a l y p t i s c h e n " Bücher aber r e d e n v o n i h m als d e m Welterlöser. D i e Ü b e r n a h m e dieses Titels in die E r w a r t u n g jüdischer Kreise b e d e u t e t jedenfalls eine neue Ausrichtung, w e g v o n politischen H o f f n u n g e n Israels, auf die U n t e r w e r f u n g der g e s a m t e n W e l t u n t e r G o t t u n d seine P l ä n e . W a s aber aus d e m Lebendigbleiben aller die-
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ser Hoffnungen, einheimischer wie fremder, spricht, ist das Bewußtsein einer Spannung zwischen Gott und dem gegenwärtigen Weltzustand, die Uberzeugung, daß der Herr der Welt diesen Zustand nicht lange mehr währen lasse, das Vorgefühl einer Krise, eines Endes dieser Weltperiode. Abseits von solchen Spannungen führt der Orden der Essener sein stilles Dasein. Das ist eine Bruderschaft, die geschlossen in Siedlungen oder auch in Städten nach ihren eigenartigen Bräudien lebt. In deren Mittelpunkt steht ein heiliges Mahl aus besonderen Speisen, das von den Ordensbrüdern in heiliger Kleidung unter vollkommenem Schweigen eingenommen wird. Strenge Reinheitsriten und eine im Judentum sonst unerhörte Verehrung der Sonne geben der Essenergemeinschaft ihr Gepräge. Ihre Disziplin scheidet sie von der Welt: Ablehnung oder mindestens Einschränkung der Ehe, Verwerfung von Eid, Waffen, Handel und Luxus sind bezeichnend dafür. Die Voraussetzung gemeinsamen Essens und Wohnens und gemeinsamer weißer Kleidung ist eine Art Kommunismus, zu dem jeder mit seinem gesamten Besitz und Erwerb beiträgt. Asketische und sittliche Pflichten teilt der Essenismus mit anderen Bruderschaften; dagegen scheinen Sonnenkult, Mahlbrauch und peinliche Reinheitsvorschriften ihm eigentümlich zu sein. Hier spürt man Einflüsse unjüdischer Art; und auch die essenischen Lehren von Seele und Unsterblichkeit müssen auf jüdischem Boden als fremdartig gelten. Auf das Volksleben haben sie geringen Einfluß gehabt, und es brauchte von ihnen in unserem Zusammenhang nicht weiter die Rede zu sein, wenn nidit immer wieder Jesu Person und Bewegung mit den Essenern in Zusammenhang gebracht wäre. Die besonderen Kenntnisse der Natur, die man ihnen, vielleicht mit Recht, zuschreibt, sollten die Wunder Jesu ermöglicht haben. Die „Auferstehung" beruht nach dieser Hypothese auf der Wiederbelebung des nur scheintoten Körpers Jesu durch essenische Heilkundige, die man wegen ihrer weißen Kleidung für Engel gehalten habe. Man kann dann auch mit Recht auf die Verwandt-
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schaft gewisser strenger Vorschriften, z. B. des Eidverbotes, bei Essenern w i e bei Jesus-Jüngern hinweisen und das Schweigen des Neuen Testaments von den Essenern mit bewußter Geheimhaltung erklären. Allen solchen Versuchen widerspricht aber die Feststellung, daß nichts, was w i r von Jesus wissen, auf Essenismus weist und einiges, was die neutestamentlichen Quellen berichten, die EssenerHypothese geradezu unmöglich macht. In der Tat fehlt der Erscheinung Jesu alles, was als typisch essenisch zu gelten hätte: w i r erfahren weder von Sonnenkult, noch von heiliger Kleidung, noch von geheimem Mahl (das Abendmahl ist etwas ganz anderes). Wohl aber hören wir, d a ß Jesus das jüdische Sabbatgebot mehr als einmal verletzt habe — und die Essener gelten als besonders strenge Sabbatverehrer. W i r lesen von Jesu ablehnender Stellung zu den Reinheitsvorschriften der Juden — und die Essener übertreffen die Juden in solcher Strenge. Endlich w i r d Jesus als „Fresser und Weinsäufer" verspottet (Matth. 11, 19) — und die Essener sind strenge Asketen. Weit eher als die Essener mögen andere Gruppen des jüdischen Volkes in die Vorgeschichte der Bewegung Jesu gehören; solche etwa, die auf den vom Himmel kommenden „Menschen" warteten, oder Galiläer messianischen Glaubens oder pietistische Fromme irgendwelcher Art. U m dies zu beurteilen, müßte man vor allem wissen, ob der vom Talmud gebrauchte Beiname Jesu „der N o f r i " und dann wohl auch der biblische N a m e „Nazoräer" wirklich mit Nazareth zusammenhängen oder auf eine andere geographische oder Sekten-Bezeichnung weisen. Ganz sicher aber stand der Kreis, der sich um Jesus bildete, mit einer der Gruppen in Verbindung, die als heiliges Zeichen, das sie von anderen unterschied, ein Tauchbad, also eine „Taufe", betrachteten. Für jene Gruppe und ihren Führer w a r dies Zeichen ein Merkmal der Bereitung auf die kommende Weltverwandlung, die ihr Führer ankündigte. Es w a r Johannes der Täufer, der mit dieser Predigt auftrat — und mit ihm beginnt die Geschichte Jesu.
40 4. Die Volksbewegung Die älteste Uberlieferung der christlichen Gemeinde, wie sie S. 15 ff. gekennzeichnet wurde, beginnt mit dem Auftreten Johannes des Täufers. Von Ereignissen aus Jesu Jugendzeit wird nur eines berichtet, und dies nur in einem Evangelium; es ist die bekannte Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Luk. 2, 41—51). Sie gehörte also keinesfalls zu dem allen Gemeinden vertrauten Überlieferungsstoff. Und von der Geburt Jesu wissen zwei Evangelien, Markus und Johannes, nichts, und die beiden anderen sehr Verschiedenes zu erzählen. Audi diese Geschichten sind also nicht dem zuzuzählen, was die ersten Prediger der Botschaft berichteten. Sie begannen mit der Taufbewegung des Johannes. Dies ist der „Anfang des Evangeliums" (Mark. 1, 1). Nach einigen Bibelstellen (Matth. 11, 12; Apg. 1, 22; 10, 37) hat man nicht nur den Täufer als den Vorläufer Jesu, sondern auch seine Bewegung als die Grenze zwischen alter und neuer Zeit betrachtet. So ist es verständlich, daß Lukas (3, 1) die Darstellung des Werkes Jesu mit einer chronologischen Angabe über das Auftreten des Täufers eröffnet. Diese Stelle bildet einen wichtigen Anhaltspunkt für die Chronologie Jesu. Man muß dabei keine unbedingte Sicherheit erwarten. Wie viele Zeitpunkte der alten Geschichte sind auch die Daten des Lebens Jesu nicht mit unbedingter Genauigkeit zu berechnen. Zudem muß man bedenken, daß es sich bei diesem Leben um kein „offizielles" Geschehen handelt, daß es keine Inschriften, keine Chroniken, wahrscheinlich auch keine römischen Prozeßakten gab, die vom Leben Jesu datierten Bericht erhalten hätten. Endlich ist zu betonen, daß wir weder von der Taufbewegung noch von der Wirksamkeit Jesu die Dauer errechnen können. Die älteste Überlieferung besteht ja nicht in fortlaufender Darstellung; Einzelgeschichte und Einzelsprüdie bilden ihren Inhalt (siehe S. 26), und die können keinen Aufschluß über den Zeitraum geben, innerhalb dessen das Berichtete vor sich ging. Wenn man oft von
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2—3 Jahren der Wirksamkeit Jesu spricht, so beruht diese Rechnung auf der Erwähnung von 3 Passafesten im Evangelium des Johannes (2, 13; 6, 4; 11, 55). AHein es ist sehr fraglich, ob der Evangelist damit eine Chronologie andeuten wollte. Er ordnet nach anderen Gesichtspunkten; er stellt die Tempelreinigung an den Anfang statt an das Ende der Wirksamkeit Jesu und könnte in seiner Art zu schreiben wohl auch dasselbe Passa mehrmals erwähnen. Die anderen Evangelien berichten nur die Passafeier, bei oder vor der Jesus starb. Aber auch damit haben sie nicht eine einjährige Wirksamkeit behauptet; es könnte wohl noch ein Passafest, es könnten auch mehrere in diese Zeitspanne fallen; die alten Geschichten würden sie nur erwähnen, wenn irgendeine Tat Jesu mit der Festfeier verbunden wäre. Wenn man alles dies in Betracht zieht, muß es als erstaunlich gelten, daß wir doch so viel von der Chronologie Jesu wissen und vor allem den Zeitraum verhältnismäßig eng begrenzen können, innerhalb dessen alles vor sich ging, was die Evangelien von Jesu Wirken erzählen. Das Leben Jesu steht in sicheren geschichtlichen Zusammenhängen. Es spielt sich nicht in grauer Vorzeit ab wie die Taten mythischer Helden. Es verschwebt auch nicht in ungewissen Zeiten, wie es bei Siegfried, König Artus, Dr. Faust und anderen Gestalten der Sagenbücher der Fall ist. Es gibt in der Tat eine Reihe von Zeugnissen, die uns gestatten, das Wirken Jesu in einen relativ eng begrenzten Zeitraum einzuordnen: 1. Nach allen alten Quellen ward Jesus auf Befehl des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet, nach Luk. 3, 1 ist auch schon der Täufer unter Pontius Pilatus aufgetreten. Des Pilatus Tätigkeit hat nach Josephus zehn Jahre gedauert, die man nach seinen Angaben auf 26—36 oder 27—37 ansetzen muß. 2. Nach Luk. 3, 1 trat Johannes der Täufer im f ü n f zehnten Jahr des Tiberius auf. Man darf dem Evangelisten Lukas, der immer auf die Verbindung mit der Welt-
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geschickte bedacht ist, zutrauen, d a ß er sich dabei an eine offizielle Zählung anschließt, also wirklich nach Kaiserjahren rechnet und die Mitregentschaft des Tiberius in der Zeit des Augustus (12—14 n . C h r . ) nicht einbezieht. M a n zählte damals die Zeit bis zum nächsten N e u j a h r , in Syrien dem 1. Oktober, als erstes J a h r ; und es ist einzig die Frage, ob vom Tode des Augustus (19. August 14) oder von einem eigentlichen Regierungsantritt des Tiberius, vielleicht erst im Oktober 14, zu datieren ist. I m ersten Fall würde das erste J a h r des Tiberius nur bis 1. Oktober 14 reichen, im zweiten bis 1. O k t o b e r 15. Das f ü n f z e h n t e J a h r wäre im ersten Fall auf 27/28 n. Chr., im zweiten auf 28/29 anzusetzen. 3. Jesus w u r d e nach allen Evangelien an einem Freitag der Passa-Zeit gekreuzigt. Nach den ältesten Evangelien wäre es der erste Festtag des Passa gewesen. Johannes aber setzt eine Überlieferung voraus (z. B. 18, 28), nach der die Passa-Mahlzeit erst nach der Kreuzigung stattfand, so daß der erste Festtag auf den folgenden Tag, den Sabbat, fiel. Für diese D a t i e r u n g spricht vieles (Siehe S. 106 f.). Wer sie annimmt, hat nach einem J a h r zu suchen, in dem Sabbat und erster Passatag zusammenfallen. Das w a r , nach astronomischer Berechnung, in jenen Jahren zweimal der Fall, am 7. April 30 und am 3. April 33 (die Monatstage nach dem julianischen Kalender). Aber auch abgesehen von der Frage, ob die Angabe bei Johannes die richtige Chronologie wiedergibt, wird diese Berechnung noch von einer Unsicherheit belastet. D a s jüdische Passa begann am 15. des Monats N i s a n ; der M o natsanfang aber wurde in jenen Zeiten noch nach laienhafter und keineswegs astronomischer Beobachtung des neuen Mondlichts festgesetzt. Außerdem konnte aus landwirtschaftlichen Gründen vor dem Nisan-Monat ein Schaltmonat eingeschoben werden. Es fragt sich also, ob die E r rechnung des 15. N i s a n nach dem astronomisch richtigen Neulidit auch mit dem wirklich gefeierten 15. N i s a n zusammentrifft.
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4. Eine Inschrift erlaubt uns, ein Datum aus dem Leben des Paulus ziemlich genau zu bestimmen. Nach einem in Delphi inschriftlich verewigten Brief des Kaisers Claudius an die Bewohner von Delphi war Gallio, der Bruder des Philosophen Seneca, im Jahre 51/52 oder 52/53 Prokonsul von Achaja. Sein Amtsantritt im Sommer 51 oder im Frühjahr 52 gab nach Apg. 18, 12 den Juden in Korinth die erwünschte Gelegenheit, gegen Paulus anzugehen, der nach Apg. 18, 11 bereits 18 Monate dort wirkte. Also war Paulus Anfang oder Ende 50 nach Korinth gekommen, und jene Zusammenkunft der Apostel in Jerusalem, die Gal. 2 und Apg. 15 geschildert wird, hatte etwa 49 (oder 50) stattgefunden. Nach Gal. 1, 18; 2, 1 war Paulus damals schon seit 3 + 14 Jahren Christ, d. h. wohl seit 15 oder 16 Jahren, da man das Anfangsjahr gewöhnlich mitzählte. Die Bekehrung des Paulus fand also in den Jahren 33—35 statt. Es läßt sich also mit leidlicher Sicherheit sagen, daß Jesus zwischen 27 und 34, wahrscheinlich im Jahre 30 oder 33 gestorben ist. Das Auftreten des Täufers fällt in die Jahre 27—29. Ereignisse, die sich wie diese abseits von der großen Heerstraße der Weltgeschichte abgespielt haben, wird man selten auf einen so eng abgesteckten Zeitraum datieren können. Es bleibt denkwürdig, daß wir mit großer Sicherheit behaupten dürfen: innerhalb eines Zeitraums von höchstens sieben Jahren sind in dem politisch unbedeutenden Lande Palästina und unbemerkt von den politischen und geistigen Führern der Zeit Dinge geschehen, die der Welt eine neue Ausrichtung gegeben haben. Den Beginn dieser Ereignisse bildete die Taufbewegting*. In der Jordansteppe, auf dem schilf- und strauchbewachsenen Talboden, der sich zu beiden Seiten des Jordans im südlichen Teil seines Laufes erstreckt, trieb ein Einsiedler, Johannes mit Namen, sein Wesen. Er war gekleidet wie der Prophet Elia, in ein Fell, das ein Ledergürtel zusam*) Siehe N a c h t r a g S. 124 ff.
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menhielt; er nährte sich von dem, was er in der Steppe f a n d — n a d i Kleidung und N a h r u n g erschien er wie ein lebendiger Protest gegen das zivilisierte Leben des Volkes in Städten und D ö r f e r n und vollends gegen die hellenistische K u l t u r der Residenzen. Solches Einsiedlerdasein, dem sich dann auch Schüler z u r selben Lebensweise verbanden, w a r nichts Einzigartiges. N e u aber und seltsam w a r die Predigt dieses Mannes und seine T a u f p r a x i s . Er verkündete seinen Jüngern und den vielen, die ihn zu hören an den J o r d a n gezogen kamen, die Erfüllung der Zeiten sei nahe. D e r T a g des H e r r n ziehe herauf, an dem Gericht gehalten werde über die Frommen wie über die U n f r o m m e n . D e r dies Richteramt ausübe u n d die Spreu von dem Weizen sondere, der sei der Vollender, der G r ö ßere, dem er, Johannes, nicht wert sei, den Schuhriemen zu lösen. Für die Menschen aber, die diesem T a g des Zornes entgegen leben, weiß Johannes nur diese R e t t u n g : tut Buße und laßt euch taufen! Buße — das bedeutet in seinem Munde keine kultische Leistung und keine asketische Disziplin, sondern den heiligen Schrecken, der den Unheiligen in der N ä h e des heiligen Gottes überfällt, und die H i n w e n d u n g des ganzen Lebens auf Gott. Die T a u f e aber ist nicht das kultische Bad, das dem Heiden auferlegt wird, der sich zum J u d e n t u m bekehrt, und dem Juden, der sich an Heidnischem verunreinigt. Sie ist etwas Neues und Unerhörtes — sonst hieße Johannes nicht „der T ä u f e r " ; sie ist etwas an seine Person gebundenes — sonst ließe man sich nicht „von ihm t a u f e n " . Was sie bezweckt, ist leicht zu sagen: wer sich t a u f e n läßt, hofft, „dem kommenden Z o r n zu entgehen". Aber die T a u f e ist keine Zauberhandlung, denn sie verspricht R e t t u n g nur dem ernstlich Büßenden; andrerseits ist sie auch keine bloße symbolische H a n d l u n g im heutigen Sinn; vielmehr ist sie ein „Zeichen" in jener antiken Bedeutung des Wortes, die eine geheimnisvolle Verbindung des jetzt geschehenden Symbolakts u n d des künftigen Ereignisses verbürgt, auf das der Symbolakt weist.
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Viel schwerer ist die Frage nach der H e r k u n f t dieses Tauchbades zu beantworten. Jüdisch w a r es nicht, davon w a r schon die Rede. Im O s t j o r d a n l a n d scheint es mehr als eine einzige Taufbrüderschaft gegeben zu haben; u n d die heute noch in Bagdad u n d am E u p h r a t lebende Sekte der Mandäer, die sich selbst Johannes-Nazoräer genannt haben, kann wohl ein versprengter Rest solcher T ä u f e r sein. Von so gearteter Umgebung mag Johannes den Brauch des Tauchbades übernommen haben, freilich um ihm einen neuen, auf die kommende Weltwandlung bezüglichen Sinn zu geben. Ein bloßer Reinigungsakt soll es nicht sein; der jüdische Historiker Josephus, der es in dieser Weise versteht*, ist damit im Unrecht wie mit seiner Verharmlosung des Täufers u n d der Taufbewegung überhaupt. Es wird ja auch im Neuen Testament noch merkwürdig wenig von einer reinigenden W i r k u n g der T a u f e gesprochen, auffällig oft dagegen von ihrer Beziehung auf Sterben und Wiedergeborenwerden (Mark. 10, 38; L u k . 12, 50; J o h . 3 , 5; Rom. 6, 4; Kol. 2, 12; Tit. 3, 5; I . P e t r . 3 , 21). In solchen Gedanken mag der alte Sinn des Tauchbades liegen, der Johannes dem T ä u f e r ein Recht gab, es in Verbindung mit seiner Predigt vom kommenden Gericht anzuwenden: ein freiwilliges und darum vorbeugendes V o r wegnehmen der großen Katastrophe, die G o t t demnächst über die Welt h e r a u f z u f ü h r e n beschlossen hatte. Wenn die Evangelisten aber von einer „Bußtaufe zur Vergebung der Sünden" reden, so haben sie mehr christlich als täuferisch empfunden. Unter den vielen, die aus den Städten und D ö r f e r n Palästinas ins J o r d a n t a l zogen, um sich t a u f e n zu lassen, w a r auch Jesus aus N a z a r e t h in Galiläa. Dieser Anschluß Jesu an die Taufbewegung ist eine verbürgte Tatsache; kein Christ hat sie erdichtet. Jesus bekundete damit, was er später durch das Lob des Täufers als des Größten unter allen v o m Weibe Geborenen bezeugte: d a ß im Bußruf und T a u f b e f e h l des Johannes G o t t zum Volke gesprochen habe. ' J ü d i s c h e Altertümer 18. 5, 2 § 116ff.
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O b er selber im Augenblick der Taufe seine Mission empfangen oder empfunden hat, wie es die christliche Erzählung von der Himmelsstimme andeutet, das wissen wir nicht. Alles, was die Evangelien vom inneren Leben Jesu sagen, entstammt christlichem Deuten und Verstehen der Ereignisse, nidit Selbstbekenntnissen des Meisters (denn solche Zeugnisse würden in direkter Rede überliefert sein, wenn sie je existiert hätten). Wir wissen mit Sicherheit nur dies: die Taufbewegung hat Jesus als das Zeichen betrachtet, daß Gottes Reich in der Tat heraufziehe. Ein zweites Zeichen, ein Befehl zu eigenem Auftreten, scheint f ü r ihn die Gefangennahme des Täufers gewesen zu sein; von diesem Ereignis an datiert schon Markus die Predigt des Evangeliums in Galiläa, Jesu eigene Bewegung. Der Täufer geriet in die Gewalt des Tetrarchen Herodes Antipas, der nicht nur Galiläa, sondern auch das östliche Jordanufer beherrschte. Markus erzählt, daß Johannes des Fürsten zweite Ehe kritisiert habe. Josephus läßt durchblicken, daß noch andere Motive mitspielen; trotz seiner Verharmlosung der Taufbewegung muß der jüdische Historiker zugeben, daß Herodes Antipas den Täufer f ü r politisch gefährlich gehalten habe. In der Tat bedeutet eine Predigt, die das Kommen des Messias morgen oder übermorgen erwarten läßt, für den heute regierenden Herrscher eine Gefahr — und so ist es kein Wunder, daß der Täufer schließlich in einer Festung des Ostjordanlandes hingerichtet worden ist. Aber schon vorher hatte Jesus den entscheidenden Schritt zu eigener Wirksamkeit getan. Er war in die galiläische Heimat zurückgekehrt, vielleicht in Begleitung von Jüngern; nach den Andeutungen des vierten Evangeliums sind einige unter den Schülern Jesu früher im unmittelbaren Gefolge des Johannes gewesen. Die Sammlung eines engeren Jüngerkreises gehört zum Werke Jesu wie zur Täuferbewegung; gemeinsam ist Jesus wie Johannes auch der Grundton der Predigt: die Zeit ist erfüllt, tut Buße, denn das Gottesreidi ist nahe!
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Deutlich aber ist auch, was den galiläischen Prediger von dem Jordantäufer unterscheidet. Schon die Stätte ihres Wirkens ist bezeichnend: als weltferner Asket haust J o hannes in der Steppe, als Richter, Schlichter, Ratgeber und Arzt tritt Jesus in Städten und Dörfern an die Menschen unmittelbar heran. Aus dem Jordantal kommt ein Schrei, der das Land zur Buße erweckt; die Botschaft Jesu ist leiser, aber eindringlicher, denn sie sagt jedem, was gerade er jetzt zu tun hat. Und vor allem: Johannes weiß als einzige Folgerung aus dem Bußruf nur den Hinweis auf die Taufe zu geben; der Getaufte ist des kommenden Reiches gewärtig. Jesus aber weiß in Wort und Tat bereits Kräfte aus Gottes Reich zu vermitteln; der von ihm Belehrte oder-Geheilte ist des Reidies inne geworden. Denn das ist der Inhalt der neuen Bewegung, die Jesus auf dem Boden der Heimat entfesselt: die Leute zu wecken mit der Verkündigung des Reiches, sie aber zugleidi in richtendem Zorn, in ratendem Wort, in heilender Tat die Nähe dieses Reiches, diese furchtbare und segensvolle Nähe, spüren zu lassen. So wandert er von Ort zu Ort, umgeben von seinem Jüngerkreis. Aber in den Orten, die er berührt, läßt er einen weiteren Kreis von Anhängern zurück: Menschen, die in ihrer Familie und bei ihrer Arbeit verbleiben, aber doch bereit sind, von der Sache Jesu zu zeugen, den Meister und die Seinen zu beherbergen, seinen Weisungen und Warnungen zu folgen. Das Gebot der Armut, das Losungswort der „Nachfolge" auf der Wanderung, gilt nur dem engeren Kreis der Jünger; es nennt die Voraussetzung ihres Daseins, es redet nicht von selbstwertiger sittlicher Pflicht. Dieser Jüngerkreis bildet die Kerngemeinde des künftigen Gottesvolks; die Zwölfzahl der Jünger, die sie dem alten ZwölfStämme-Volk gleichsetzt, deutet es an. Diese Zahl ist Symbol, in Wirklichkeit gibt es der Wandergenossen mehr. Die Jüngernamen in den Evangelien überschreiten die Grenze der Zwölfzahl, einige Frauen und vielleicht noch andere (Apg. 1, 21) kommen hinzu. Nur von wenigen wissen wir, wie Jesus sie gewann. Die ersten von ihm be-
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rufenen, die Brüder S i m o n (mit dem Beinamen K e p h a s oder P e t r o s — beides gleich „ F e l s " ) u n d A n d r e a s , Fischer v o m See Genezareth, werden mit der Verheißung bedacht: „ich will euch zu Menschenfischern machen" ( M a r k . 1, 17). A u d i hier schweigt die älteste Überlieferung v o n den psychologischen U m s t ä n d e n ; ob sie J e s u s schon kannten, o b er lange mit ihnen redete, w i r d nicht gesagt. E r s t eine spätere E r z ä h l u n g (Luk. 5, 1—11) läßt — vielleicht mit geschichtlichem Recht — das Wort v o n den Menschenfischern bei einem w u n d e r b a r reichen Fischzug gesprochen werden. D a s J o h a n n e s e v a n g e l i u m erzählt v o n einem J ü n g e r N a thanael, den J e s u s durch hellsichtiges Wissen um ein E r eignis seines Lebens überzeugte — J o h . 1, 48 ist nur in A n deutung d a v o n die R e d e . Einem andern aber, der mitziehen, aber erst noch seinen V a t e r begraben wollte, ruft er z u : „ F o l g e mir nach u n d laß die T o t e n ihre T o t e n selber b e g r a b e n " — nicht als ob J e s u Botschaft die E r f ü l l u n g der Pietätspflicht verböte, sondern weil die Entscheidung f ü r das Reich Gottes jenes „erst noch" nicht zuläßt (Matth. 8, 2 2 ) . V o n den Pflichten des weiteren A n h ä n g e r kreises z u den Forderungen an die unmittelbaren J ü n g e r führt die bekannte Geschichte v o m Reichen, der z u m ewigen Leben k o m m e n wollte. Ihn will J e s u s im gewohnten Kreise lassen: „ D u kennst j a die G e b o t e " — und erst als er behauptet, sie erfüllt z u haben, w i r d er durch die Forderung erschreckt, seine H a b e zu G e l d zu machen und dies den A r m e n z u geben. D a s ist keine allen gültige R e g e l , sondern die F o r d e r u n g Gottes an diesen Menschen und zu dieser Stunde — eine Forderung, die seine K r ä f t e übersteigt ( M a r k . 10, 1 7 - 2 2 ) . F ü r die meisten des engeren G e f o l g e s J e s u w a r der Schritt v o m Berufsdasein z u m Wanderdasein nicht mit so großen O p f e r n verbunden. D e n n w a s sie a u f g a b e n , w a r ein armes und enges Fischer-, Bauern-, H a n d w e r k e r - oder ZöllnerLeben. W a s sie eintauschten, w a r ein ebenfalls armes, aber freies Wanderleben. Seine A r m u t w a r nicht asketische Leistung, sondern V o r a u s s e t z u n g der T e i l n a h m e an dieser v o n J e s u s entfesselten Bewegung. Ihre Elemente w a r e n Predigt
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im Freien, in Häusern, in Synagogen, Heilungen, Wanderung — dann Wiederaufnahme derselben Tätigkeit an anderm Ort, und so fort durch Galiläa und angrenzende Länder. Im allgemeinen richtet Jesus sein Augenmerk auf Leute jüdischen Glaubens, Glieder der Synagogengemeinde — daß sie freilich rassereine J u d e n waren, kann in Galiläa, wie gezeigt (S. 30), nicht behauptet werden. Wenn Jesus die Grenzen Galiläas überschritt, hatte er Heiden vor sich; sie begegneten ihm auch sonst. Gelegentlich suchen einzelne Heiden bei ihm H i l f e , wie der Centurio in K a p e r n a u m und die phönizische F r a u im Gebiete von Tyrus. Er erfüllt ihre Bitten, betont aber jedesmal ausdrücklich, daß seine Mission nur auf Israel gerichtet sei. D a s neue Gottesvolk soll aus dem alten gesammelt und auf das kommende Reich bereitet werden. Erst Jesu T o d macht den Weg frei für die „Vielen", und erst der erhöhte Herr gewinnt die Welt — so hat, wenn nicht Jesus selber, so doch die U r christenheit sein Werk betrachtet (Mark. 10, 45; 14, 24; J o h . 12, 23 f.). M a n wußte also, daß Jesus selbst, abgesehen von Ausnahmefällen, innerhalb der Grenzen des jüdischen Volkstums geblieben war. D i e Jünger haben helfend, vielleicht auch mitarbeitend Anteil am Werk. Es sind Sprüche überliefert, die sie zur Predigt ausziehen heißen; und wenn diese auch, zumal bei Matthäus (10, 5 ff.), zu einer Instruktion für die urchristlichen Missionare ausgeformt zu sein scheinen, so ist damit noch nicht die Entstehung aller dieser Worte in der späteren Zeit bewiesen; offenbar haben die Jünger auch seitab von Jesu Wanderwegen die N ä h e des Reiches Gottes verkündet. Heilungen werden von den Jüngern zwar verlangt, aber nicht vollbracht (Mark. 9, 18): die neuen Segenskräfte des kommenden Reiches sind an des Meisters Person gebunden. Eine Bewegung eschatologischer und messianischer Art in G a l i l ä a , ausgezeichnet vor anderen durch besondere Gaben ihres Führers wie durch die Unbedingtheit der von ihr ge4
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weckten Willensantriebe u n d H o f f n u n g e n — dies, aber nicht mehr, scheint die W i r k u n g Jesu in Galiläa zu sein. Uber die Randgebiete hinaus mag sie gelegentlich in die Fremde übergreifen; eine planmäßig angelegte und grundsätzlich betriebene Mission unter den Heiden k o m m t nicht zustande, denn Jesus geht nicht auf Gewinnung der Fremden aus. Des Volkes Gunst mag sich zu ihm und v o n ihm wenden; weder w i r d aus dem Z u d r a n g der Massen eine w i r k liche G e f a h r f ü r die jüdischen und römischen Herrschaftsträger, noch wandelt sich die Abkehr der Enttäuschten zu drohendem Widerstand gegen den Meister. D a s Schicksal des Täufers könnte auch ihm bereitet sein — aber eine politische Mißdeutung scheint bei der Botschaft des Täufers eher möglich zu sein als bei dem Evangelium Jesu. D e n n der T ä u f e r wirkte in der N ä h e des politischen und geistlichen Zentrums des Landes, Jesus im abgelegenen N o r d e n . Wer Jesus politische Motive zuschieben will, findet in dem galiläischen Wirken Jesu keine Anhaltspunkte. Eine politische Bewegung hätte gegen Machthaber k ä m p f e n müssen und würde von Herodes verfolgt worden sein. Sie hätte aber vor allem die wichtigste und modernste S t a d t Galiläas ergreifen müssen, Tiberias am See Genezareth, das mit seinem N a m e n den R u h m des Kaisers, mit seinem H o f leben den R u h m des Tetrarchen bezeugt. Aber Jesus scheint Tiberias gemieden zu haben. Mittelpunkt seiner W a n d e r wege ist Kapernaum, und weder die Wahl dieses Ortes noch der Aufenthalt in anderen Gegenden können im Sinn einer politischen Tendenz gedeutet werden. Die einzige Reise Jesu, deren Ziel berichtet w i r d und deren Absicht erschlossen werden kann, ist die nach Jerusalem am Ende seiner Wirksamkeit. D e r galiläische P r o phet und Heilige, bekannt bei seinen engeren Landsleuten, entschließt sich, die H a u p t s t a d t des Landes aufzusuchen, die Stadt, deren C h a r a k t e r durch Priesteradel, Pharisäertum und römische Besatzung bestimmt wird. H i e r ist der Sitz des Kultus, hier spielen die Pharisäer eine besondere Rolle, von hier, so hofft man, w i r d das Gottesreich seinen A n f a n g nehmen. Wir brauchen uns nicht in psychologische
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Vermutungen einzulassen; die Bedeutung dieser Reise ist ohnehin ersichtlich. In Jerusalem stellt sich die neue Bewegung den Gewalten des Landes; in Jerusalem muß es zur Entscheidung der Sache kommen; in Jerusalem werden die Hoffnungen auf das Reich Gottes verwirklicht werden. Ob Jesus öfter in Jerusalem gewesen ist, wissen wir nicht. Das Johannes-Evangelium schildert mehrere Aufenthalte in der Landeshauptstadt, aber es hat die Schauplätze mehr nach ihrer symbolischen Bedeutung als nach chronologischer Ordnung gewählt. Das Wort Jesu an Jerusalem „wie oft wollte ich deine Kinder versammeln (Luk. 13, 34) kann ein Zitat sein, kann sich aber auch auf den entscheidenden Aufenthalt in Jerusalem am Ende des Lebens Jesu beziehen. Jedenfalls hat Jesus vordem in der Hauptstadt noch nicht die Entscheidung gesucht und gefordert, hat noch nicht die alten Hoffnungen und Ansprüche dort geltend gemacht, wie er es jetzt tut mit dem Eintritt in die Stadt und mit dem Auftreten im Tempel. Er will nicht nur dort gehört, er will von den Menschen dort angenommen oder verworfen werden, er will die Hauptstadt vor die Botschaft vom Reiche Gottes stellen. Dies alles läßt sich schließen aus der Tatsache, daß Jesus mit seinem Gefolge nach Jerusalem zog. Es ist das einzige uns erkennbare Zeichen einer Entwicklung in der Geschichte Jesu. Die Bewegung, die Jesus in Galiläa entfesselt hat, wird durch diese Verlegung des Schauplatzes in das geistige Zentrum des Landes überführt. Damit stellt sie sich, so scheint es, der Entscheidung. In Wirklichkeit aber steht, weltgeschichtlich angesehen, nicht der Kreis Jesu vor der Entscheidung, sondern das Judentum selbst. Gründe und Bedingungen dieses Ausgangs können erst verdeutlicht werden, nachdem von dem Inhalt der hier geschilderten Bewegung die Rede war. Was wir von außen her wahrnahmen, erklärt noch nicht den Ausgang des Wirkens Jesu; es erklärt aber vor allem nicht die Tatsache, daß dieser Ausgang kein Ende war, sondern ein Anfang, daß die Bewegung Jesu weiterlebte in der Kirche Christi. 4*
52 5. Das Reich Gottes „Heil euch Armen, denn euer ist das Gottesreich!" »Laß kommen dein Reich!" „Aber trachtet nach seinem Reich, dann werdet ihr das andere obendrein bekommen!" „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn eures Vaters Ratschluß ist es, euch zu geben das Reich!" Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht das Reich Gottes. Wer das Evangelium verstehen will, muß wissen, was es um dies Reich ist. Einige Psalmen beginnen mit dem Ruf „Jahwe ward König" (93.97.99); andere schildern seine Thronbesteigung (47. 96). Dabei ist, in kultischer Feier oder in prophetischer Schau, die Zukunft vorweg genommen, jene Zeit, da der Gott Israels die Zügel der Herrschaft endgültig ergreifen und sein heiliges Recht auf Erden durchführen wird. Denn noch herrscht Unfriede und Ungerechtigkeit; noch vollzieht sich der Weltlauf nicht nach Gottes Gesetz; noch seufzt der Fromme unter Elend und Verlassenheit. Wenn aber Gott die Herrschaft ergreift, dann werden Umwälzungen in Natur und Geschichte es künden, seine Feinde werden es mit Schrecken spüren, seine Frommen werden es bejubeln, daß endlich gekommen ist Gottes Herrschaft. Dieses Regiment Gottes in der Endzeit ist gemeint, wenn der Jude von Gottes Reich spricht. Nicht ist die Rede von einem Gebiet in der Welt, das abgegrenzt wäre für Gott; die Stätte seiner Herrschaft ist der ganze Kosmos. Auch ist nicht gemeint ein verborgenes Herrschen Gottes in der Menschenseele; vielmehr wird Gott hervortreten „aus seiner Wohnung" in Macht und herrschen in offenbarer Herrlichkeit. Man betet darum, daß sein Reich „erscheine". Wohl aber kann das Wort „Gottesreich" zum Kennwort für die Sache Gottes werden, zu der sich der Fromme schon jetzt bekennt, weil er weiß, daß sie in Zukunft glanzvoll verwirklicht werden wird. Schon Abraham, so heißt es, hatte Gottes Reich erwählt; und der Heide, der Proselyt wird, d. h. zum Judentum übertritt,
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nimmt Gottes Reich auf sich. U n d als das J u d e n t u m später eine Bekenntnisformel hatte, die man täglich aufsagte — mit „ H ö r e Israel" aus 5. Mose 6, 4 beginnend —, da nannte man dieses Rezitieren der Formel „das Joch des Himmelreichs auf sich nehmen". Denn auch „Himmelreich" bedeutet nichts anderes als „Gottesreich". Seit alters w o h n t im J u d e n t u m die Scheu, den Gottesnamen auszusprechen. M a n redet vom Königtum des H e r r n statt v o m Königtum Jahwes, sagt aber „ H i m m e l " statt „ H e r r " — das spätere J u d e n t u m vollends hat sich gewöhnt, ganz b l a ß v o m „ O r t " oder vom „ N a m e n " zu reden, wenn von Gott gesprochen werden soll. So erklärt es sich, d a ß man „Königtum des Himmels" sagte, wo man Königtum Gottes, Gottesreidi meinte. Diejenigen christlichen Gemeinden, in denen jüdischer Sprachgebrauch fortlebte, haben diese Ausdrucksweise erhalten, und so ist sie ins Matthäus-Evangelium gekommen. Aber Matthäus selbst sagt an einigen Stellen (12, 28 und 21, 31) Reich Gottes, weil es um der Entsprechung willen notwendig ist — und so dürfen wir annehmen, daß Jesus selber im allgemeinen v o m Reich Gottes geredet hat. Wer damals „Reich Gottes" sagt, weiß, d a ß diese Welt nicht Gottes Welt ist. Aus dem Einblick in einen Weltlauf, der den Gottlosen erhöhte und den Frommen erniedrigte, Unschuldige strafte und Sünder zu Ehren kommen ließ, w a r ja die Sehnsucht nach Gottes Königtum geboren w o r den. Es sollte, so w a r es verkündet, eine Zeit kommen, in der dieser böse Lauf der Welt in sein Gegenteil verkehrt würde, da Recht wieder als Recht und Sünde als Sünde gelten würde. Dieser wunderbare Wandel konnte von Menschen nicht dem H i m m e l abgerungen noch in eigener Anstrengung bewirkt werden; Menschen konnten nichts anderes tun als dieser Wendung aller Dinge gewärtig sein. Wenn sie aber eintreten wird, dann kann es alle Welt spüren. Wenn das kommende Gottesreich erscheinen wird, hat alles Fragen ein Ende. Erfragen und erforschen kann man nur, w a n n es kommt und ob es etwa schon nahe ist. Bis es wirklich erscheint, wird das Reich Gottes immer als
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ein kommendes betrachtet. So sieht es Johannes der Täufer, so sieht es auch Jesus. Denn eine Erkenntnis muß allem Erklären der einzelnen Worte Jesu vom Reich vorangestellt werden: Jesus hat den Ausdruck „Reich Gottes" niemals ausdrücklich umgedeutet. Er hat niemals in solcher Weise geredet: „ihr habt gehört, daß den Alten gesagt ist: das Reich Gottes w i r d kommen; ich aber sage euch: das Reich Gottes ist schon da". Er hat vom Kommen des Reiches gesprochen, um das man bitten soll. Gott ist es, der es sendet. Jesus hat weder gesagt, d a ß es langsam wachse, noch d a ß er es schaffen wolle. Freilich gibt es einige Gleichnisse, die vom Wachstum des Reiches Gottes zu reden scheinen. Aber wenn man sich an die S. 19 f. ausgeführten Gesichtspunkte hält, dann versteht man, was diese Lehrerzählungen sagen wollen. Es ist z. B. M a r k . 4, 26 davon die Rede, daß es mit dem Reich Gottes sei wie mit einem Bauer, der Samen ausgesät habe, dann aber nichts mehr dazu tun könne; vielmehr bringe die Erde von selbst H a l m und Ähre und Frucht hervor. Erst wenn die Frucht ausgereift sei, dann sei es wieder Zeit f ü r den Bauer einzugreifen, denn nun sei die Ernte da. H i e r ist es vor allem die Einleitung, die man nicht mißverstehen darf. Wie m a n aus jüdischen Gleichnissen schließen muß, bezeichnet diese Einleitung nicht einen logischen Vergleich, sondern dient als Überschrift: So steht es mit dem Reich Gottes. Das Bild aber, das diese kleine Lehrerzählung zeichnet, ist in seiner Tendenz völlig eindeutig. Es besagt, d a ß man nichts tun könne, daß die Ernte von selbst komme. Es besagt aber nicht, daß die Ernte schon da sei. U n d auch dies besagt es nicht, daß das Reich Gottes sei wie ein Samenkorn, das sidi zur Frucht entwickle. Denn was verglichen wird, ist nicht die Frucht, sondern die Ernte. Das Gleichnis m a h n t zum W a r t e n , nicht zum Säen. U n d auch das vielberufene Gleichnis vom Sämann (Mark. 4,3—9) entwickelt nicht eine Theorie über das Reich. Es schildert den teilweisen Mißerfolg, von dem jede Sämannsarbeit begleitet sei; etliches fällt auf den Weg,
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etliches auf den Fels, etliches unter die Dornen. Von dem Vielen, das auf gutes Land fällt, ist nur anhangsweise die Rede, d. h. das Gleichnis will trösten über den Mißerfolg, der im natürlichen Lauf der Dinge liege und der ständige Begleiter des Erfolges bei der Sämannsarbeit sei. Davon, daß man das Reich aussäen könne, ist nicht die Rede, kein Hörer Jesu konnte auf diesen fast frevelhaften Gedanken kommen. Worauf sich das Bild bezieht, konnte nicht zweifelhaft sein: es ist die Predigt Jesu (und seiner Jünger) vom Reiche Gottes. Sie ist nicht als vergeblich zu beklagen, weil manches mißglückt; Mißerfolg ist der Begleiter jedes Erfolges. Auch die Bilder von Senfkorn und Sauerteig (Mark. 4, 30—32; Matth. 13, 33) wollen nichts anderes als trösten und ermuntern. Sie stellen nur dar, wie Großes aus Kleinem wird, beim Senfkorn durch Wachstum, beim Sauerteig durch menschliche Arbeit. Aber dergleichen ist möglich, und der kleine Anfang sagt nichts über den Enderfolg. Natürlich ist das nicht als allgemeine Wahrheit gesagt, sondern mit Beziehung auf Gottes Reich; darum steht am Anfang die Frage: „wie sollen wir das Reich Gottes abbilden?" Aber auch in diesem Fall hat keiner der Hörer Jesu verstanden, daß das Reich wachsen werde, von N a t u r oder durch menschliche Arbeit, Was am Anfang klein ist und am Ende groß sein wird, ist die Predigt vom Reich Gottes, ist die Sadie Jesu. Diese Predigt ist aber nicht die Lehre eines Propheten, der verkündet, daß einmal, am Ende der Zeiten, das Reich Gottes erscheinen werde. Was die Hörer erregt und die Jünger begeistert, ist der besondere, der „aktuelle" Gesichtspunkt, unter dem die Predigt vom Reiche steht: es ist die Botsdiaft, daß jetzt die Erfüllung der Zeiten anbricht, daß das Reich vor der Tür steht, daß sein Kommen nicht aufzuhalten ist. U n d nun erinnern wir uns, daß diese Gewißheit den Täufer mit Jesus verbindet. Audi seine Predigt verkündet dieses „Jetzt", den unmittelbar bevorstehenden Hereinbruch des Reiches Gottes. Bis dahin freilich lebt das Reich nur in der Predigt und in der Bewegung
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des von dieser Predigt ergriffenen Volkes. U n d im Kreise Jesu wird diese Nähe gespürt an seinen Worten, seinen Entscheidungen, seinen Taten. Das Reich ist noch nicht erschienen, aber seine Zeichen sind sichtbar. Noch ist die alte Welt vorhanden mit ihrer Feindschaft gegen Gott und sein Königtum; noch werden die Künder des Reiches befehdet; noch wird ihre Botschaft verleugnet oder verachtet von den Mächten, die diese Welt regieren — und dabei denkt der antike Mensch nicht nur und nicht in erster Linie an Pilatus und Herodes, sondern an überirdische „Mächte", von denen auch der Apostel Paulus mehr als einmal geschrieben hat (I. Kor. 2, 8; 15, 24; Kol. 2, 15). In solchem Zusammenhang wird auch das Wort Jesu wohl verständlich, das man oft als ein dunkles Wort bezeichnet hat: „Von den Tagen des Täufers bis auf diese Zeit geschieht dem Reiche Gottes Gewalt, und Gewaltherrscher suchen es an sich zu reißen" (Matth. 11, 12). Aber eben nur „bis auf diese Zeit" — denn „eures Vaters Ratschluß ist es, euch das Reich zu geben" (Luk. 12, 32). Man kann Jesu Sendung nicht verstehen, wenn man nicht diese beiden Pole im Auge behält, zwischen denen alles liegt, was er gesagt und getan hat. Den einen Pol bildet die Überzeugung, daß Gottes Reich künftig ist und völlig dieser Welt,entgegengesetzt. Den andern Pol bildet das Bewußtsein, daß dieses Reich bereits im Kommen ist und sich schon in Bewegung gesetzt hat; sein Hereinbrechen ist nicht mehr aufzuhalten. Die Volksbewegung, die Jesus entfesselt hat, schreitet von der Zeit der Unerfülltheit in die der Erfülltheit; aber sie existiert in der Zeit zwischen diesen Zeiten. Dieses Dasein zwischen „noch nicht haben" und „Laben" muß man verstehen, wenn man die geschichtliche Stellung des Evangeliums verstehen will. Von hier aus allein kann man eine Antwort gewinnen auf viel verhandelte Fragen wie die, was Jesus im geschichtlichen Sinne gewollt hat und ob er überhaupt etwas „gewollt" hat, oder auch wie die andere, was er selbst über seine Person gedacht hat.
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Aber freilich steigt auch gerade aus dieser Erkenntnis von der Existenz zwischen den Zeiten eine große, die ganze Sendung Jesu umgreifende und angreifende Frage auf. Das Gottesreich ist nicht gekommen, wir leben noch heute „zwischen den Zeiten" und stehen immer wieder vor dem „noch nicht". Hier kann man nicht nur von Horizonterweiterung reden in dem Sinn, daß sich die immer noch ausstehende Erfüllung nur um Jahrhunderte oder Jahrtausende verschoben habe. Es scheint doch, als liege der ganzen Sendung Jesu eine ungeheure Täuschung zugrunde, die Täuschung, als ob etwas unmittelbar bevorstehe, was dann tatsächlich nicht eingetreten ist. Es wird von dieser sehr entscheidenden Frage noch die Rede sein (Kap. 10). Fürs erste müssen wir sie unbeantwortet lassen; wir können dieser übergeschichtlichen Frage erst nähertreten, nachdem wir die geschichtliche Lage betrachtet und gelernt haben, was es um die Existenz zwischen den Zeiten war, damals und in Palästina. Denn erst die volle Kenntnis des geschichtlichen Bildes erlaubt uns, von seiner Gültigkeit oder Nichtgültigkeit im Lauf der Jahrhunderte und in unserer eigenen Zeit zu reden. Erst wenn wir sehen, was Jesus seiner Zeit an Drohung, Verheißung und Forderung gebracht hat, sind wir berechtigt zu fragen, ob diese Drohung, Verheißung und Forderung auch an uns gerichtet sein kann. Die Drohung steht dabei voran. Denn das Kommen Gottes bedeutet Gericht, Umsturz der Weltordnung und Ende dieser Weltzeit. Die Nähe des heiligen Gottes bedeutet für den unheiligen Menschen immer Gefahr. Jesus redet nicht vom Reiche Gottes, als wäre es ein Idyll. Er nimmt Gott wirklich ernst als den Kommenden und Richtenden. Was wird geschehen, wenn er plötzlich in diese Welt hineintritt? Zwei Männer werden schaffen auf dem Feld: einer wird angenommen, der andere verstoßen. Zwei Frauen werden mahlen auf der Mühle: eine wird angenommen, die andere verstoßen. (Matth. 24, 40. 41.)
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U n d wie in den Tagen Noahs werden die Menschen nichts merken, werden essen und trinken, freien und sich freien lassen — und w i e damals die Sintflut k a m und sie alle verdarb, so w i r d auch jetzt das Gericht über sie kommen. Die Plötzlichkeit der Katastrophe hat Jesus in immer neuen Bildern geschildert: wie der Blitz w i r d sie erscheinen, der aufleuchtet vom Osten bis zum Westen — oder wie der Dieb, der zu einer Stunde, die niemand kennt, sich ins H a u s schleicht — oder wie der Herr, der nachts heimkehrt, ohne daß die Knechte es wissen; Heil den Knechten, die er wachend findet — oder w i e der Bräutigam, der plötzlich die wartenden Mädchen überrascht; wehe den Ungerüsteten, die kein ö l haben auf ihren Lampen! Viele Juden glaubten gerüstet zu sein. Sie hatten ihre Bücher, angeblich wunderhaften Ursprungs, die „Enthüllungen" (Apokalypsen); in denen stand geschrieben, wie es kommen werde. A u d i da fehlen die Bilder nicht, die die N ä h e des Endes andeuten: „nahe ist der Krug dem Brunnen und das Schiff dem H a f e n , und die K a r a w a n e der Stadt und das Leben dem T o d " (syrische Apokalypse des Barudi 85). Aber nun w i r d ausgerechnet, was alles vorher noch geschehen solle: d a ß e t w a vier Reiche vergehen müßten oder zwölf Plagen über die Menschen kommen, U n geheuer aus dem Meer aufsteigen würden. Sonne und Mond werden sich verfinstern, Sterne vom Himmel fallen, Empörungen unter den Völkern, Unruhen bei den Fürsten, Kriege in den Ländern werden die Menschen erschrecken — das sind die Zeichen, nach denen fromme Wißbegier den Termin des Endes berechnet. Auch die christliche Gemeinde hat den Wunsch nach einem solchen Kalender der Ereignisse gespürt. So hat ein Christ es unternommen, jene warnenden und verheißenden Worte Jesu von der kommenden Katastrophe auszustatten mit derartigen „apokalyptischen" Motiven, damit auch die Christen auf den Weltlauf merken und die „Zeichen" des Endes erkennen könnten. U n d diese kurze christliche „Apokalypse", die in den Gemeinden viel gelesen wurde, hat dann Aufnahme gefunden in der Überlieferung von
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Jesus, da sie ja bekannte Worte des Meisters enthielt. So ist sie in unsere Evangelien gelangt als eine „Rede" Jesu vom Ende, und da ist sie noch heute zu lesen, im 13. Kapitel des Markus-Evangeliums und den entsprechenden Texten bei Matthäus und Lukas. D a ß dies keine wirklich von Jesus gehaltene Rede ist, merkt man im Markus-Text besonders deutlich dort, wo ein geheimnisvoller Ausdruck aus dem Buche Daniel übernommen ist: „wenn ihr aber sehet den Greuel der Verwüstung da stehen, wo er nicht stehen darf, dann sollen die Bewohner Judäas auf die Berge fliehen" (Mark. 13, 14). Dieses Wort, das das Schlimmste ahnen läßt — ein Sdiändliches, das Verwüstung bewirkt, soll stehen an heiliger Stätte — ist bei Markus mit dem Zusatz versehen: „der Leser möge es verstehen". Es handelt sidi also gar nicht um Hörer Jesu, sondern um Leser, die das alte Unheilssymbol, ihrer christlichen Erfahrung entsprechend, anwenden sollen auf ein Ereignis ihrer Zeit, das ihnen dann zum geweissagten Zeichen des Endes wird. Zur Zeit des Lukas glaubte man es richtig „verstanden" zu haben. Denn Lukas ersetzte das andeutende Wort durch eine Anspielung auf seine Erfüllung: „wenn ihr aber seht, daß Jerusalem von Heeren eingeschlossen ist, dann erkennt, daß seine .Verwüstung' nahe ist" (Luk. 21, 20). Man kann begreifen, daß die Christen, zumal die in Palästina, die aufgeregten Zeiten vor und während der jüdischen Revolution in solcher Weise zu verstehen und zu bestehen sich bemühten. Aber als auch sie in „Zeichen" zu rechnen begannen, haben sie nicht im Sinne Jesu gehandelt. Zu deutlich hat er sich gegen solche apokalyptischen Künste gewendet. Wenn die Menschen so wären, wie Gott sie haben will, so würden sie „die Zeit" zu deuten wissen, so wie man an den Wolken den kommenden Regen erkennt und an den Blättern des Feigenbaums den nahenden Sommer. Es ist kein Zweifel, woran sie es merken könnten, daß die Zeit reif geworden ist: der Mann, der vor ihnen steht und ihnen mit Wort und Tat das Reich Gottes bezeugt, die Jüngerschar, die er sammelt, die Volksbewe-
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gung, die durch das L a n d geht, das alles k ö n n t e ihnen die Augen öffnen. So wie Jonas ein Zeichen w u r d e f ü r die Bewohner von Ninive, so ist Jesus selbst das Zeichen des Gottesreichs. Die Christen haben auch aus diesem Spruch wieder ein wirkliches Zeichen herauslesen wollen und haben später das Hervorgehen des Propheten Jonas aus dem Leibe des Walfischs mit dem Hervorgehen Jesu aus dem Grabe verglichen (Matth. 12, 40), aber die F o r m des Jonasspruches bei Lukas (11, 29. 30) und die Abweisung jeder Zeichenforschung bei Markus (8, 12) lassen keinen Zweifel an Jesu Meinung: Jonas brachte den Leuten von N i n i v e keines jener geweissagten apokalyptischen Zeichen, sondern er selbst, sein Ruf zur Buße w a r das einzige Signal, das ihnen gegeben wurde. Wer das nicht versteht, der kann sich nicht beklagen; Gott wird ihm nicht noch ein besonderes Wunder zukommen lassen, damit er sich besinne. J a , eigentlich hätten die Zeitgenossen es bereits an dem düsteren „Prediger in der Wüste", an Johannes dem T ä u fer merken müssen, d a ß hier „der Weg des H e r r n " bereitet würde. Sie hätten auch aus Gesetz u n d Propheten lernen können, was Gott f ü r Absichten mit dem Weltlauf habe. In solchem Sinn h a t Jesus die, wie wir wissen, bereits vor ihm in Umlauf befindliche Geschichte v o m reichen M a n n und armen Lazarus neu erzählt: der Reiche, der in der Hölle um das künftige Los seiner Brüder besorgt ist, darf ihnen keinen Wink, kein besonderes Zeichen zukommen lassen, denn „sie haben Moses und die P r o p h e t e n " (Luk. 16, 29). Wer aber wirklich spürt, was über die Welt hereinbricht, der ist sich auch klar, daß er unterwegs ist zum Gericht, u n d er wird handeln wie ein kluger Bauer, der auf diesem Wege seinen Widersacher vor Gericht trifft und schnell, während sie beide in die Stadt wandern, mit ihm einig wird — denn wenn sie erst beim Richter ankommen, dann ist es zu spät. Auch diesen Spruch haben die Christen weiter ausgedeutet in ihrem Bestreben, möglichst viele Weisungen Jesu f ü r einzelne Gelegenheiten ihres Lebens aufweisen zu können: sie haben ihn verstanden als eine M a h nung Jesu zum gütlichen Vergleich im Rechtsstreit (Matth.
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5, 25). Aber die Einleitung Luk. 12, 57 zeigt, daß es sich um ein Gleichnis handelt: „warum gewinnt ihr nicht die rechte Einsicht aus eurem Leben", d. n. warum handelt ihr auf dem Weg zu Gottes Gericht nicht so, wie ihr es auf dem Weg zum Richter klugerweise tut? 'Erkenntnis der Zeit — nicht Ausrechnung der Zeiten, das ist es, was Jesus von seinen Hörern verlangt hat. Und man muß sich daran erinnern, wieviele in seinem Volk sich an solche geistlichen Rechenkünste hielten! Dann versteht man erst, in welchem Sinn er sagte (Luk. 17, 20): „das Reich Gottes kommt nicht mit Beobachtung (Observationskunst)", d. h. es sind nicht Zeichen zu beobachten, die es ankündigen. Der zweite Satz erklärt den ersten mit dem parallelen Gedanken: „auch wird man (vom Reich) nicht sagen: ,siehe hier!' oder ,dort'." Aber nun fügt Jesus den sehr oft zitierten, oft mißverstandenen Satz hinzu: „denn siehe das Reidi Gottes ist unter euch"; man kann auch übersetzen: „in euch". Das Wort ist in der Form der zweiten Übersetzung oft gedeutet worden als Grundsatz reiner Innerlichkeit: Jesus wolle alle Hoffnung auf ein Kommen des Reiches vom Himmel auf die Erde verwerfen und sagen, daß das sogenannte Reich Gottes in Wirklichkeit nur „inwendig in euch", in den Seelen der gläubigen Menschen zu finden sei. Aber wieviel Worte Jesu müßten außer Kraft gesetzt werden, wenn dies gelten sollte! Diese Beziehung auf die reine Innerlichkeit wird auch durch die ersten Sätze widerlegt. Denn ohne Zweifel ist dasselbe und nichts anderes „unter euch" (oder „in euch"), was die Menschen gern „beobachten" möchten und wovon sie in ihrer Aufgeregtheit sagen möchten: „es ist hier" oder „es ist da"; gemeint ist also nicht das Reich selbst, gemeint sind die Zeichen des Reiches. Sie sind nicht zu „beobachten" etwa am gestirnten Himmel, sie sind nicht mit sensationsgieriger Erregung „hier" oder „da" festzustellen. Die Zeichen des Reiches sind „unter euch": es ist Jesus, seine Botschaft, seine Taten. Die Ubersetzung „in euch" verbietet sich nach alledem aus sachlichen Gründen, denn Jesu Botschaft ist noch nicht in den Herzen der Zeitgenossen leben-
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dig, wohl aber steht er vor ihnen als das einzige, aber entscheidende „Zeichen": Nicht spüren Gottes Reich, die es errechnen noch spüren es, die sagen: es ist hier oder da. Denn siehe, Gottes Reich ist zu spüren in eurer Mitte! 6. Die Zeichen des Reiches Wer am gestirnten Himmel oder in den großen Ereignissen der Zeit nach Zeichen suchte, die auf das Ende der Welt und den Anfang des Reiches Gottes wiesen, der konnte an Jesus vorbeigehen; was man im jüdischen Volk als Zeichen des Kommenden erwartete, ward durch Jesus nicht vollbracht. Kein Zeichen! so klingt es aus seinem Munde — oder (was dasselbe bedeutet): kein anderes Zeichen als das des Jona! Aber das Wort vom Reiche Gottes, das „unter euch" ist, gibt zu verstehen, daß es Jesus einzig auf ein Zeichen des Reiches ankommt: auf seine Person, seine Predigt, seine Bewegung. Es ist nicht so wichtig, wie einer ihn nennt, wenn er nur dies Zeichen versteht und im Wirken Jesu das kommende Reich Gottes spürt. Daß Jesus so betrachtet werden will, zeigt die vor andern bedeutsame Überlieferung von der Sendung der Täuferschüler an ihn. Johannes der Täufer hat im Gefängnis von Jesus vernommen; der Zusammenhang des Häftlings mit der Außenwelt ist, so scheint es, nicht völlig unterbrochen, sondern wird durch Besuche seiner Schüler aufrechterhalten. Aber Johannes kann keine Gewißheit gewinnen, ob dieser galiläische Prophet nun wirklich der verheißene Gesalbte des Herrn ist, der Messias; ob er der ist, von dessen Kommen er, der Täufer, selber einst gekündet hat. Ist er wirklich der Größere, dem Johannes sich nicht wert fühlt den Schuhriemen zu lösen? Ist er der Richter, der die Spreu vom Weizen sondert und in das unauslöschliche Feuer wirft (Matth. 3,12)? Johannes hat keine eigene Erfahrung von der Bedeutung Jesu. Wenn das Johannesevangelium ihn der Erscheinung des Geistes bei der Taufe Jesu ansichtig werden läßt
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(1, 32), so ist das eine Wendung des christlichen Berichtes über diese Erscheinung vom Täufling auf den Täufer; auf solche Weise macht das Johannesevangelium, aber erst dieses, den Täufer zum Christen. Wenn das Matthäusevangelium den Täufer die Taufe zuerst verweigern läßt, weil er sich unwürdig fühlt (3, 14), so ist das eine spätere christlidie Lösung des Problems, das für die Gemeinden in der Taufe und der scheinbaren Unterordnung Jesu unter den Täufer lag. Lukas und Markus wissen noch nichts von diesem Gespräch. Dem Bilde des messianischen Weltenrichters, wie es dem Johannes vor Augen stand, entsprach das Auftreten Jesu in keiner Weise. Es ist verständlich, daß der Täufer nicht weiß, was er von Jesus denken soll. So wendet er sich durch seine Jünger an Jesus: „Bist du es selbst, der kommen soll, oder müssen wir einen andern erwarten?" Jesus hat ihm nicht mit „ja" geantwortet und nicht mit „nein", sondern er hat auf das verwiesen, was sich in seiner Umgebung vollzieht. Und er hat es getan mit Worten, die dem Hörer das Bild des kommenden Reiches Gottes heraufbeschworen und die vielleicht, wenn wir nach dem poetischen Stil schließen dürfen, einem messianischen Liede angehören: Blinde sehen und Lahme gehen Aussätzige genesen und Taube hören Tote werden auferweckt Und Arme empfangen die Botschaft des Heils. Über sich selber aber hat Jesus nur dies hinzugefügt: „Heil dem, der nicht irre wird an mir!" (Matth. 11, 2—6). Es ist nicht die Voraussetzung dieser Antwort Jesu an den Täufer, daß sich alle jene Wundertaten nun in Gegenwart der Boten wirklich vollzogen haben. Aber einiges der Art hat sich ereignet; und die es erlebten, sollten es verstehen als Erscheinen der Kräfte des Reiches „in eurer Mitte", als Kundmachung Gottes, die das Kommende ankündigt. Wer in solcher Weise dessen inne wird, was in Jesu Nähe geschieht, der glaubt! Er wird nicht beirrt dadurch, daß Jesus selbst nicht die Züge des überlieferten Messiasbildes zeigt:
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wie immer man ihn nennen mag, das Reich ist im Kommen, das ist gewiß! In dieselbe Richtung weist ein anderes Wort Jesu, das Ereignissen ähnlicher Art gilt, jenen Heilungen nämlich, welche man damals als Bannung von Dämonen ansah, die in dem kranken Menschen Wohnung genommen haben. Dieses Wort soll bei einem Streitgespräch gefallen sein. Man verdächtigte den Teufelsbanner des Teufelsbündnisses: er treibe die Dämonen mit dem ErzdämonenBeelzebul, ihrem Oberen, aus (erst die alten Übersetzungen haben aus diesem Worte, das „ H e r r des Mists" oder „Herr der Wohnung" heißt, Beelzebub, „Herr der Fliegen" (siehe II. Könige 1, 2) gemacht; Beelzebul muß ein Dämonenname, vielleicht ein bewußt entstellter Dämonenname sein). Jesus hält seinen Verleumdern vor, daß auch Juden „Dämonen austreiben": „mit wessen Kraft vertreiben sie denn eure Leute?". U n d er fügt hinzu: „doch wenn es Gottes Finger ist, mit dem ich die Geister vertreibe, dann hat sich Gottes Reich schon kundgetan bei euch". Auch in diesem Spruch, dessen Wortlaut die Übersetzung erlaubt „Gottes Reich ist bis zu euch gelangt", soll nicht gesagt sein, daß Gottes Reich schon da sei — d a f ü r wären diese Bannungen allein wahrlich kein Beweis! —, sondern daß sich in der Fülle solcher wunderbaren Ereignisse sein Nahen ankündigt. Auch die Bannungen der Dämonen sind Zeichen des kommenden Reiches (Matth. 12, 24—29). Aus Jesu eigenen Worten spricht also hier wie dort das Bewußtsein, daß er wunderbare Taten dieser Art vollbringe und daß diese Taten das Nahen des Reiches Gottes ankündigen. Gott beginnt bereits den Fluch dieses Daseins, der in Krankheiten und anderen dunklen Verhängnissen erscheint, in Segen zu wandeln. Das Volk hat es in der Tat gespürt, daß hier anderes und mehr geschah als im Kreise des Täufers. Man hatte es behalten, daß dieser keine Zeichen getan habe (Joh. 10, 41); um so wesentlicher erschien, was Jesus vor aller Augen bewirkte. Die außerordentlichen Taten, die man von Jesus erzählt, sind also nicht etwas, was später seinem Lebensbilde beigesellt ist; sie haben von
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Anfang an einen wesentlichen Teil der Überlieferung von ihm gebildet. Jesus ist nicht nur als Prediger des Reiches und Richter der Menschen durch das Land gezogen, sondern auch als ihr Wohltäter, der mit seiner „charismatischen" (d. h. ihm von Gott verliehenen) besonderen Gabe der Heilung an manchen Menschen die Nähe des Gottesreichs praktisch erwiesen hat. Diese Taten sind es, die der allgemeine Sprachgebraudi „Wunder" nennt. Und bevor wir fragen, wie sich die Uberlieferung, daß Jesus solche Zeidien tat, verhält zu der anderen, schon im vorigen Kapitel geschilderten Tatsache, daß er selber ein göttliches Zeichen sein will, müssen wir diesen Wundern und den landläufigen Urteilen über sie einige Überlegungen widmen. Wenn man von Jesu Wundern redet, meint man gewöhnlich Taten, die über das normale menschliche Vermögen hinausgehen und nach unserer, allerdings immer noch lückenhaften Kenntnis den Naturgesetzen zu widersprechen scheinen. Das Neue Testament will freilich, wenn es „Zeidien" oder „Machttaten" berichtet, nicht jenes Negative, vom Widerspruch gegen die Naturgesetze, sagen, sondern etwas sehr Positives: daß in diesen Taten Gott selber handelt, daß sie Beweise sind von der Verbundenheit Jesu mit Gott und vom Nahen seines Reiches. Es gibt Menschen, denen Jesus so viel und das durch die Naturwissenschaft verbreitete Weltbild so wenig bedeutet, daß sie hier kein Problem sehen, daß sie die Frage, was nun wirklich geschehen sei, nicht stellen, keiner Erklärung bedürfen, sondern das in den Evangelien Gelesene kritiklos als Geschehenes hinnehmen. Ihnen braucht man dann auch wirklich nichts weiter zu erklären, weder wie es geschah, noch wie es zu diesen Berichten kam. Wohl aber muß man auch ihnen sagen, daß unser aller, auch der unkritischen Menschen Stellung zum Wunder eine andere ist als die der Zeitgenossen Jesu (und noch als die der Menschen des Mittelalters). Wir haben uns gewöhnt und fühlen uns verpflichtet, soweit wir wirklich den Gottesglauben ernst nehmen, Gottes Handeln auch im nor5
D i bei i us,
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malen erklärbaren Geschehen, ja gerade darin, zu erkennen. Die Hörer Jesu, von denen wohl keiner durch die kritische Philosophie der Griechen ernstlich berührt w a r , meinten Gottes Wirken gerade im Unerklärbaren sehen zu müssen. Wenn nun heute in unserer Welt und vor unseren Augen etwas Unerklärliches geschähe, wenn einer einen tot Daliegenden plötzlich gesund sich erheben ließe oder wenn ein Mensch sich ohne Benutzung technischer Hilfsmittel in die Luft erhöbe, so würden die Beherzten den Vorgang selbst zu untersuchen trachten, die Zaghaften sich von ihm zurückziehen, U n w i l l i g e die Polizei, Beeiferte die Presse bemühen — aber keiner würde anbetend in die Knie sinken! Das aber ist es gerade, was den Hörern Jesu angesichts des Wunderbaren nahe liegt. Wunderbar ist ihnen das im Augenblick Unerklärbare. Mit Naturgesetzen rechnen sie nicht, Erklärungsversuche kümmern sie nicht; denn es ist ja das Übernatürliche, das sie im Unerklärten spüren. Anbeten oder verdammen, Gott oder den Teufel am Werke glauben — es gibt kaum eine andere Möglichkeit für sie. Wir aber wollen das Außergewöhnliche erst erklärt haben, bevor w i r unser Urteil abgeben. Dagegen führen uns die allbekannten Geschehnisse in der N a t u r , Geburt und Tod eines Menschen, die Erneuerung der Vegetation im Frühling, der einheitliche R h y t h m u s einer Massenversammlung oder die Erhabenheit eines Kunstwerkes oft genug zu A n betung oder D a n k , und aus solcher Erschütterung oder Begeisterung erhebt sich, bestätigt oder erneut, der Glaube an den Gott, der da wirkt, aber im Offenbaren, nicht im Dunklen. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind" — das gilt wohl für die unkritischen Menschen vergangener und auch heutiger Zeiten, aber jedenfalls nicht für den Glauben, der Gottes Anruf im alltäglichen Geschehen zu vernehmen trachtet. Eben darum tragen w i r — das entspricht unserer geistigen Lage — wissenschaftliche Uberlegungen an die „Wunder" Jesu heran. Die Überlieferung, daß Jesus außerordentliche Taten getan habe, ist so gut verbürgt wie ein solches Geschehen durch volkstümliche Berichte überhaupt verbürgt werden
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kann. Aber neben dieses positive Urteil muß sogleich ein kritisches treten: keiner dieser Berichte müht sich um eine klärende Darstellung, keiner fragt nach der medizinischen Diagnose einer Krankheit oder den Faktoren der Heilung. Diese Erzählungen wollen nicht erklären, sondern verklären, erhöhen: sie wollen Gottes Walten sichtbar machen und nicht die menschlichen Zustände. Es ist schon gezeigt (S. 22 f.), daß sich in den Evangelien zwei Erzählungsarten unterscheiden lassen, die in verschiedener Weise diese Absicht ausführen: die eine schlicht, aber originell (die „Paradigmen"), die andere in reicherer Fülle, aber mit Motiven, die auch außerhalb des Judentums und des Christentums in solchen Erzählungen angewandt werden (die „Novellen"). Keiner dieser Berichte erzählt ohne irgendeine Absicht; nur werden wir uns bei unserem Versuch, das wirklich Geschehene zu erkennen, zunächst an denjenigen Typus halten müssen, der von den anderen Literaturen am wenigsten beeinflußt erscheint, eben an die Paradigmen. Diese Erzählungsart zeigt nun aufs deutlichste, daß es verfehlt wäre, die ganze Berichterstattung als ungeschichtlich abzutun. Denn wir sehen gerade in diesen kurzen und literarisch anspruchslosen Geschichten, daß Jesu Heilungstätigkeit im Dienst seiner gesamten Predigt vom Reich Gottes steht. Mit der Heilung verbindet sich oft eine Verkündigung: den Gelähmten heilt er, um Recht und Echtheit der von ihm ausgesprochenen Sündenvergebung zu erweisen; den Mann mit der verkrüppelten Hand, um die jüdische Sabbatstrenge in ihrer Unbarmherzigkeit zu enthüllen. Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum ist erzählt, um das Zutrauen des heidnischen Hauptmanns zu Jesu übernatürlicher Befehlsgewalt darzustellen; die Heilung des „Besessenen" in der Synagoge zu Kapernaum rechtfertigt durch die Tat, was Jesus vorher in dieser Synagoge verkündet hat. Was bei dem „Besessenen" gewiß, ist bei den andern Krankheiten wahrscheinlich: es handelt sich um seelisch bedingte Leiden, die durch einen Eingriff in das Seelenleben des Patienten geheilt werden. Und dieser 5*
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Eingriff erfolgt häufig in einem Befehlswort, das eine seelische Reaktion zur Folge hat: „stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim!". Solche heilenden Befehle sind audi der modernen Medizin bekannt; man hat bei Kriegslähmungen, Folgen von Verschüttung oder Ähnlichem, davon Gebrauch gemacht und pflegt dann von „ Ü b e r wältigungstherapie" zu reden. D a ß Affekte wie Furcht oder Zorn heilend wirken, hat auch das Altertum erlebt. Eine Inschrift aus dem Asklepios-Heiligtum in Epidauros erzählt von einem Lahmen namens N i k a n o r , daß ihm ein K n a b e die unentbehrliche Krücke stahl, er aber aufsprang und den Dieb verfolgte: so ward er gesund. Bei den Heilungen Jesu wird man an ganz andere und ganz besondere seelische Bedingungen denken müssen. D i e alten Berichte erzählen nicht von einem Wundertäter, der möglichst viele Heilungen verrichtet, sondern von dem Künder und Bürgen des kommenden Gottesreichs: Gott will der Welt nahe kommen, und man spürt seine N ä h e daran, daß er durch Jesus redet, durch ihn handelt, durch ihn heilt. D i e novellistisch ausgestalteten Berichte freilich stellen Jesus bisweilen wie einen der antiken Wundertäter dar. Sie erzählen von der Krankheit, wie lange sie dauerte, von den Heilmitteln — H a n d a u f l e g u n g , Formel oder auch Speichel —, die er verwendete, endlich von den Beweisen des Erfolges: das erweckte Mädchen bekommt zu essen, der ausgetriebene D ä m o n „ L e g i o n " nimmt eine ganze Schweineherde in Besitz, der Aussätzige läßt sich v o m Priester als geheilt anerkennen. Diese Erzählungen lassen nicht wie jene andern die N ä h e des Gottesreiches erleben, sondern die N ä h e eines großen Wundertäters. So berichten sie auch nicht nur Heilungen, sondern auch andere wunderhafte Taten Jesu, die sogenannten Naturwunder. Manches, was wir in diesen novellistischen Erzählungen als unterscheidendes Merkmal gegenüber jenen knapperen Geschichten, den „Paradigmen", feststellen, mag einfach durch den anderen Stil bedingt sein: ein V o r g a n g w a r d in der Art der populären Wundererzählung berichtet, und dabei k a m es zu einer Steigerung des Wunderhaften. Wir
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können in solchem Fall den ursprünglichen Hergang nur noch vermuten. Aber daß eine geschichtliche Begebenheit dieser Art, Heilung oder Rettung aus Seenot, stattgefunden hat, ist in solchen Fällen nicht zu bestreiten. In anderen Fällen liegt der Nachdruck der Erzählung auf einem Vorgang, der für die christliche Gemeinde symbolische Bedeutung hatte. Sie sah dann in der Wundergeschichte Jesus dargestellt in einer Funktion, die ihm als dem Herrn und Gottessohn zukam. Der da handelte, war der Erhöhte, nicht der in Galiläa wandelnde Meister. Sie schaute ihn in seiner Epiphanie (d. h. in seiner göttlichen Würde), schon eine Stufe über alles geschichtliche Leben erhöht. Der geschichtliche Anlaß war vielleicht vorhanden, aber wir können .ihn nicht mehr rekonstruieren, weil der Erzähler selber den entscheidenden Nachdruck auf etwas anderes legt. Eine Epiphanie dieser Art erzählt z. B. die Geschichte von der Verklärung (Mark. 9, 2—9), bei der Jesus von einem Berg hinweg zu den Himmlischen entrückt wird, zwischen Moses und Elias. Hier tut Jesus selbst nichts Wunderbares, sondern das Wunder vollzieht sich an ihm vom Himmel her, und eine himmlische Stimme proklamiert ihn als den Gottessohn. Aber eine Epiphanie ist ursprünglich wohl auch das Wandeln auf dem See gewesen, denn Jesus erscheint den Jüngern auf dem Wasser eigentlich nicht, um mit ihnen ans Land zu fahren, sondern — wie es bei Markus (6, 48) noch deutlich zu lesen ist — „er wollte an ihnen vorübergehen". Erst ihre Furcht bewegt ihn, das Boot zu besteigen. Die Gemeinde soll also in dieser Geschichte den Herrn der Wellen anschauen, vielleicht ist damit zugleich der Herr über Leben und Tod gemeint. Nicht gemeint ist jedenfalls das Schreiten auf den Wogen als besondere Leistung eines Heiligen oder Frommen. In diesem Sinn hat die buddhistische Uberlieferung von einem gläubigen Laienbruder erzählt, der in Gedanken an Buddha einen Fluß kreuzt. Erst als er in der Mitte des Flusses durch den Anblick der Wellen vom Denken an Buddha abgelenkt wird, beginnen seine Füße einzusinken, aber durch erneute Konzentration seiner Gedan-
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ken auf Buddha wird er der Unsicherheit H e r r und gelangt glücklich ans Ufer. Das ist eine Parallele zu dem sinkenden Petrus (Matth. 14, 28—31), dem der Unglaube schadet wie dem Inder die Ablenkung der Gedanken; aber von der Erscheinung Jesu auf den Wellen ist die indische Erzählung wesentlich unterschieden. Auch die Geschichte von der Speisung der Fünftausend oder der Viertausend (Mark. 6, 34—44; 8, 1—9) ist in der Gemeinde als eine „Epiphanie" verstanden, ja vielleicht von vornherein als solche erzählt worden. Man sieht in dem die Speise segnenden und austeilenden Meister den Herrn des Liebesmahles (oder auch des letzten Abendmahles), der unsichtbar der Gemeinde gegenwärtig ist, wie er es sichtbar jener großen Menge war. Schließlich sind auch die drei Totenerweckungen, die in den Evangelien erzählt werden und von der Tochter des Jairus, von dem Jüngling zu Nain und von Lazarus die wunderbare Rückkehr ins Leben berichten"', bestimmt, den Herrn über Leben u n d T o d zu zeigen, der, nach Joh. 11,25, „die Auferstehung und das Leben" ist. Der Bezwinger des Todes ist Jesus aber nach urchristlichem Glauben erst durch seine eigene Auferstehung geworden. So schildern auch diese Wundergeschichten eigentlich schon den erhöhten Herrn der Gemeinde. Freilich mag man bei diesen letzten Beispielen, den Speisungs- und den Auferweckungs-Erzählungen, fragen, ob nicht in die Darstellung des Wunders fremde, außerchristliche Züge eingewoben sind. Das ist in der Tat eine Möglichkeit, mit der man rechnen muß, und deren Erkenntnis uns vollends die Feststellung verwehrt, ob ein geschichtlicher Anlaß dieser Erzählungen im Leben Jesu vorhanden war. Es ist wahrscheinlich, daß die Christen mitunter nicht nur fremde Motive, sondern auch ganz fremde Erzählungen sich angeeignet und auf ihren Heiland übertragen haben. Es sind aber im Grunde nur drei Geschichten, deren Ganzes einen solchen Ursprung nahelegt. Die * M a r l . 5, 21—43; L u k . 7, 11—17; Joh. 11, 1—44.
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eine erzählt von dem Dämon Legion, der aus dem Kranken ausfahrend eine ganze Schweineherde ins Wasser treibt (Mark. 5, 1—20). Alle Bedenken über die Schädigung des Eigentümers würden schwinden, wenn wir annehmen dürften, daß dies alles ursprünglich nicht von Jesus, sondern von einem jüdischen Wundermann berichtet war, der diese Austreibung im Heidenland vornahm und dort weder an den Menschen noch an den unreinen Tieren mitfühlend beteiligt war. Ebenso zeigt die Geschichte von der Hochzeit zu Kana, so gewiß sie im Johannes-Evangelium als Offenbarung der Herrlichkeit Jesu (2, 11) verstanden wird, in ihrem eigentlichen Verlauf weltliche Züge, die jeder Bibelleser bemerken kann. Man denke z. B. an die große Menge des in Wein verwandelten Wassers und an die reizvolle Art, wie das geschehene Wunder indirekt berichtet wird: in dem volkstümlich derben Tadel des Tafelaufsehers an den Bräutigam. Hier wie bei der nicht erzählten, sondern nur verheißenen Auffindung einer Münze im Maul eines gefangenen Fisches (Matth. 17, 27) darf man an außerchristliche Parallelen erinnern, die mindestens zeigen, daß der Stoff der Erzählung auch anderswo bekannt war. Das Ergebnis dieser Überschau über die großen novellenartigen Wundergeschichten ist also dieses, daß sie sich einer einheitlichen Beurteilung entziehen. Es mag sich um weitergebildete alte Uberlieferungen, um christliche Darstellungen des erhöhten Herrn, um fremde Motive oder Stoffe, die auf Jesus übertragen sind, handeln: was an geschichtlicher Wirklichkeit hinter diesen Erzählungen liegt, ist uns kaum zugänglich. Aber aus den einfacheren Heilungsgeschichten wissen wir, daß man Jesus jene großen Wunder zutraute, weil er wirklich Außerordentliches und seinen Zeitgenossen Unerklärbares getan hatte. Er zog als Verkünder, als Richter und Ratgeber, aber auch als Heilender und Helfender durch das Land; von dieser geschichtlichen Wirklichkeit ist nichts abzustreichen. Aber freilich sind die Heilungen auch nicht zu isolieren. Jesus ist nicht als Wunderarzt aufgetreten, dessen Mission es ist, möglichst viele kranke Menschen gesund zu machen.
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Wer ihn zum Patron einer religiösen Heilpraxis, etwa des Scientismus, macht, hat ihn verkannt. Wenn er derartiges gewollt hätte, würde er mehr geheilt haben, er würde seine Heilungstätigkeit planmäßig über das Land erstreckt, er würde auch mehr davon geredet haben. Das Leiden, auch das körperliche Leiden, gehört zur Signatur dieser Welt; erst Gottes Reich wird wieder die vollendete Schöpfung zeigen, die von keiner Qual mehr angerührt wird. Jesu Heilungen bedeuten nicht eine eigenmächtige Vorwegnahme dieses Reiches, von dem niemand weiß, wann es Gott senden wird. Sondern sie bedeuten Verkündigung und Verheißung dieses Reiches; sie beweisen, daß es unterwegs ist, daß Gott durch seinen Gesandten hie und da bereits die Herrlichkeit dieses Reiches aufleuchten läßt. Hie und da — das gilt nun aber auch von all dem, was er der Welt als Warnung und Weisung zuteil werden läßt. Auch seine Worte geben nicht eine grundsätzliche Belehrung über die Reform dieser Welt. Und wenn ein Abschnitt der Bergpredigt den Eindruck macht, als revidiere Jesus planmäßig die Anwendung der 10 Gebote, so zeigen gerade diese Sprüche, wie viele Fragen ungelöst, ja unberührt bleiben. Jesus hat nicht alle Händel dieser Welt schlichten oder alle sozialen Ungerechtigkeiten abschaffen wollen. Er ist ihnen nur entgegengetreten, wo er auf sie stieß; er hat auch da die Kräfte des kommenden Reiches aufleuchten lassen, aber dieses Reich nicht vorweggenommen. Auch wer ihn zum Weltreformer macht, hat ihn verkannt. Aber freilich, er hat gehandelt, er hat in den Bereich der Krankheit wie in den der Ungerechtigkeit eingegriffen und hat den Lauf dieser Welt bekämpft. Er hat von dem kommenden Reiche Gottes nicht nur geredet, sondern er hat seine Verheißungen wie seine Forderungen den Menschen nahegebracht — durch sein Tun, durch sein Richten, Mahnen, Heilen. Aber er hat es beispielhaft getan, bei Gelegenheit, nicht planmäßig, nicht in umfassender Organisation. Die Umwandlung der Welt ist Gottes Sache; was Jesus tut, ist dies, daß er die Menschen diesen Gott, seinen Wil-
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len, sein Gericht und seine Gnade spüren läßt bei jeder Begegnung. Die Kräfte des Reiches sind schon gegenwärtig, aber nicht als Macht, die die Welt verwandelt, sondern als Kraft, die von dem einen ausstrahlt, dem einzigen, der sie kennt und vermittelt. Was er in Form der Heilung oder des Zuspruchs, der Kritik und der Verheißung die Menschen sehen läßt, das ist nicht das Reich, sondern es sind die Zeichen dieses Reiches. Insofern gewiß, aber nur insofern „ist das Reich Gottes in eurer Mitte". Und der dies alles bringt, in letzter Stunde, der nicht nur ankündigt, sondern durch sein Tun vermittelt, er ist selber das Zeichen der letzten Stunde, das einzige Zeichen des Gottesreiches, das den Menschen zuteil wird. Man kann also Jesu Botschaft und Jesu Taten nicht trennen von seiner Person. Und es ist zu fragen, wofür er sich selber angesehen wissen wollte. 7. Der Menschensohn Welche Bedeutung hat Jesus sich selber zugemessen? Hat er sich für den Messias gehalten, den Gesalbten Gottes, auf den die Hoffnung seines Volkes wies, für den, der das glanzvolle Königtum Davids erneuern und dem von den Römern beherrschten Volk Israel die Freiheit wiedergeben würde? Glaubte er von Gott erlesen zu sein, auf den Wolken des Himmels der Welt zu erscheinen „wie eines Menschen Sohn", als der in apokalyptischen Büchern verheißene Erlöser der Welt? In der gelehrten wie in der volkstümlichen Literatur der letzten hundert Jahre ist diese Frage immer wieder erwogen worden — und mit ganz verschiedenem Ergebnis. Es erscheint seltsam, daß nach so langen Bemühungen keine klare Antwort zu finden sein sollte. Es erscheint noch seltsamer, daß die Evangelien nicht eindeutige Angaben darüber enthalten sollten, die jeden Zweifel zum Schweigen brächten. Unsere erste Aufgabe ist es zu verstehen, warum Zweifel möglich, Vorsicht geboten, kritische Überlegung be-
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rechtigt ist. Unsere Evangelien sind — wir sahen es von Anfang an — Bücher, die den Glauben an Jesus als den Christus, den Messias, befestigen wollen. So steht es am Ende des Johannes-Evangeliums (20, 31): „Diese Zeichen aber sind aufgeschrieben, damit ihr zum Glauben kommt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr von solchem Glauben Leben habt in seinem Namen." Was hier ausdrücklich als Unterschrift unter ein Evangelium gesetzt ist, steht ungeschrieben unter allen: Jesus ist der Christus. Aber was verstanden die Evangelisten, was die werdende Kirche unter „Christus", dem „Messias", oder — wie die deutsche Übersetzung f ü r beide Titel lautet — dem „Gesalbten" Gottes? Hier liegt die erste Schwierigkeit. Die Evangelisten schauen zurück. Sie wissen Jesus nicht nur getötet, sondern auferstanden und zu Gott erhöht, „von dannen er wiederkommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten". Sie reden aus österlichem Glauben, und f ü r diesen Glauben hat das Wort Messias, d. h. Christus, eine neue Bedeutung: es bezeichnet die Würde, die Jesus und keinem andern zukommt; das Wort hat seinen Gehalt von der Geschichte empfangen. Vor Ostern aber, zu Lebzeiten Jesu, war das Wort nicht von den Ereignissen, sondern von der Erwartung bestimmt; jeder konnte das hineinlegen, was er erhoffte. Manchem schien das Leben und Wirken Jesu eher geartet, Zweifel an seiner Messianität zu erwecken als Glauben. Wenn es anders gewesen wäre, hätte Johannes der Täufer nicht seine Boten zu Jesus gesandt. Die Evangelisten aber reden überall dort, wo sie die Messiasfrage berühren, bereits von dem Messias im christlichen Sinn, so daß jeder Zweifel an Jesu Messianität ausgeschlossen ist. An allen Stellen, die in Betracht kommen, sind also Worte und Taten, die zum Messias in Beziehung stehen, schon christlich gedeutet, so daß Leiden und Auferstehen bereits dazu gehören. Die Evangelien schildern, was die Gemeinde von Jesus glaubt, nicht was er selbst und was andere zu seinen Lebzeiten über ihn dachten. Darum sind alle diese Stellen, streng genommen,
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nicht Quellen für die vorösterliche, sondern für die nachösterliche, die christliche Zeit. Schon unser ältester Evangelist, schon Markus muß so verstanden werden. Das Bild, das er zeichnet, ist dieses: trotz seiner Worte und Taten wird Jesus vom Volk nicht als Messias erkannt. Daß er es ist, wissen nur die Überirdischen und die Unterirdischen, nicht die Menschen. Darum reden nur die Menschen, die von Dämonen „besessen" sind, d. h. die Dämonen selber, Jesus als den Messias an; aber Jesus verbietet ihnen, diese Erkenntnis weiterzutragen; er will seine Messianität als Geheimnis bewahrt wissen (vgl. z. B. Mark. 3, 11. 12). Ebenso untersagt Jesus die Bekanntmachung seiner großen Wundertaten, der Erweckung des Mädchens, der Heilungen des Taubstummen und des Blinden von Bethsaida. U n d als Petrus auf Jesu Frage das große Wort spricht: „Du bist der Messias", da antwortet Jesus wieder mit dem Verbot, diese Erkenntnis weiterzutragen (8, 29. 30). Einmal schauen ihn die vertrautesten Jünger f ü r einen Augenblick in einem verklärten, himmlischen Sein, aber alsbald wird ihnen verboten, jemandem davon zu erzählen, „bis daß der Menschensohn auferstanden", d. h. in jenen verklärten himmlischen Zustand für immer zurückgekehrt ist (9, 9). So verbinden sich im Markus-Evangelium himmlische Schau und menschliche Unwissenheit: Jesus war der Messias und konnte das auch während seines Erdenlebens nicht verleugnen; aber er wollte seine Würde im Geheimen bewahren, denn — das ist offenbar der leitende Gedanke bei Markus — nur so ist es zu erklären, daß diese Menschen, seine Zeit- und Volksgenossen, ihn schließlich den Römern zur Hinrichtung auslieferten. Ein ganz anderes Bild entwirft Matthäus, zum mindesten von jener Szene, in der Petrus den Messias erkennt und bekennt. Die Antwort Jesu ist eine Seligpreisung des Jüngers, dem Gott diese Erkenntnis geschenkt hat. Dann fährt Jesus fort: „Und ich sage dir: du bist Petrus (der Fels), und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten des Hades sollen nichts wider sie vermögen.
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Ich will dir verleihen des Himmelreichs Schlüssel: w a s du bindest auf Erden, sei gebunden im H i m m e l ; was du freisprichst auf Erden, soll frei sein im H i m m e l " ( M a t t h . 16, 18. 19). U n d dann erst folgt das Schweigegebot wie bei Markus. Es ist eine A r t Kirchengründung — u n d m a n darf w o h l fragen, o b Jesus in diesem Augenblick schon eine Kirche voraussah. V o r allem aber m u ß m a n fragen, w a r u m M a r kus diese W o r t e nicht a u f g e n o m m e n hat, wenn sie zu seiner Zeit schon in diesem Z u s a m m e n h a n g überliefert waren. Sie w a r e n es o f f e n b a r nicht, mindestens nicht in V e r b i n d u n g mit dieser Begebenheit, denn auch Lukas k e n n t sie nicht. Sie reden v o n der G r ü n d u n g der Kirche u n d v o n dem Recht, innerhalb der Kirche zu binden und zu lösen, d. h. schuldig zu sprechen oder freizusprechen. Sie geben in prophetischer Verheißung einen Z u s t a n d wieder, den die Evangelisten aus E r f a h r u n g k e n n e n : die Kirche ist f ü r die D a u e r begründet und besitzt das Recht, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Es ist ein großartiges Bild, das M a t t h ä u s wiedergibt. Aber es ist ein christliches, ein nachösterliches Bild! Aus der Erkenntnis, daß alle Stellen, die v o n Jesu Messiastum reden, christlich überlagert sind, stammt die Frafre, ob Jesus sich denn als Messias g e w u ß t habe. Die Frage ist berechtigt. Selbst der klassischste T e x t , v o m Messiasbekenntnis des Petrus, gibt keine eindeutige A n t w o r t auf jene Frage, denn w i r e r f a h r e n nicht, wie, nach der ältesten Überlieferung, Jesus das Bekenntnis des Jüngers aufgen o m m e n habe. W o h l aber k o m m e n wir vielleicht dem P r o b l e m näher, w e n n w i r uns Traditionen v o r Augen f ü h ren, die mit dem A u f e n t h a l t Jesu in Jerusalem in Verb i n d u n g stehen. Zunächst ist die Reise Jesu z u m Passafest nach Jerusalem an sich bedeutungsgeladen. D e n n Jesus zieht nicht als ein Festpilger wie die anderen in die H a u p t s t a d t . E r sucht dort, w i r sahen es schon (S. 51), nichts Geringeres als die Entscheidung. D e r A u f r u f , sich zum Reich Gottes zu bereiten, w i r d aus der P r o v i n z in die H a u p t s t a d t getragen
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— das bedeutet eine bewußte Herausforderung der führenden Kreise der jüdischen Religion, die sich für die berufenen Sachwalter Gottes halten, der Schriftgelehrten und der Mitglieder des Synedriums, des „hohen Rates". Johannes hat ihre Gedanken zum Ausdruck gebracht, wenn er sie 7, 52 zu Nikodemus sagen läßt: „lies nach und erkenne, daß kein Prophet aus Galiläa kommt". Nun kommt der Prophet aus Galiläa, und die Menge, vor allem wohl die galiläischen Festpilger, aber auch gewisse Kreise aus der Hauptstadt, bereiten ihm einen triumphalen Empfang. Freilich ist auch hier die Uberlieferung von christlichen Interessen getragen. Jesus zieht in Jerusalem ein, reitend auf einem Esel. Das bedeutet eine Erfüllung der Weissagung des Propheten Sacharja von dem König, der „sanftmütig und reitend auf einem Esel" zur „Tochter Zion" kommen werde. Nach den drei ältesten Evangelien wäre Jesus durch wunderbares Wissen zu diesem Reittier gelangt; nach dem Johannes-Evangelium wäre es den Jüngern erst später, „als Jesus verherrlicht war", zum Bewußtsein gekommen, daß sie mit diesem Einzug unwissend die Prophezeiung erfüllt hätten. So ist auch hier der Bericht vom Wunder aus gestaltet; die Erfüllung des weissagenden Wortes ist die Hauptsache, nicht der geschichtliche Zusammenhang, d. h. die Begeisterung der Volksmenge und die daraus entstehende Erwartung, vielleicht politischer Art. Aber deswegen braucht der Einzug Jesu in Jerusalem noch nicht ungeschichtlich zu sein (Mark. 11, 1—10). Dieser Einzug bedeutet allerdings einen Erfolg von messianischer Bedeutung. Und zu ihm gesellt sich nach der Erzählung der Synoptiker am selben Tag oder bald darauf die Ausweisung der Händler aus dem Vorhof des Tempels, die sogenannte Tempelreinigung. Dies ist nun wirklich ein Auftreten Jesu im Mittelpunkt des jüdischen Kultus, die stärkste Herausforderung an alle, die sonst dort zu gebieten hatten. Aber freilich, es ist nicht unbedingt eine messianische Tat, eine von denen, die man von dem Gesalbten Gottes erwartet. Audi ein Prophet könnte im Namen Gottes das Herrenrecht im Tempel stellvertretend
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ausüben. V o n Stellvertretung lesen wir aber in der G e schichte nichts. So bleibt schließlich doch der Eindruck, daß Jesus hier als H e r r , als Sohn, als Messias gehandelt hat. M a n hat auch alles Recht zu fragen, wie einem unbekannten Galiläer ein solches Vorgehen möglich war. Warum griff die Behörde nicht ein, die jüdische oder die römische? W a r e n etwa so viel Anhänger mit ihm in den Tempel eingedrungen, daß sie den Tempel, wenn auch nur einen T a g , besetzt hielten? D a v o n wissen wir nichts, und darum liegt es nahe, in dem Vorgang nur den Ausdruck einer moralischen Autorität zu sehen. Diese war zweifellos vorhanden, sonst hätten die Juden Jesus nicht gewähren lassen. M a n denkt an Jesus den Knaben, wie er nach der Erzählung L u k . 2, 4 6 f., zwölfjährig im Tempel fragend und antwortend, die Lehrer seines Volkes in Erstaunen setzt und nicht minder seine Eltern: „wußtet ihr denn nicht, daß ich sein muß im Hause meines Vaters?" Auf ähnliche Weise mag er nun als M a n n Herrenrecht im heiligen Hause beansprucht haben. D a m i t sind wir aber der Annahme einer messianischen Geltung seiner Person bereits sehr nahe gekommen. Eine Entscheidung der Messiasfrage wird man am ehesten einem Bericht über Jesu Kreuzigung entnehmen dürfen. W i r wissen nichts Sicheres über die Führung seines Prozesses, denn den Evangelisten stand kein Gewährsmann zu Gebote, der Augenzeuge bei den Verhandlungen gewesen wäre. Deshalb ist das Bekenntnis Jesu v o r dem H o h e priester nicht mit Sicherheit in diese Zeugnisreihe einzufügen, denn die Zeugen der Szene waren der Zahl nach beschränkt und der Art nach den Christen nicht erreichbar. Wohl aber fand die Kreuzigung Jesu, wie damals alle H i n richtungen, in vollster Öffentlichkeit statt, und jedermann wußte, welches Verbrechen mit solch einer Hinrichtung gesühnt werden sollte; ein Herold rief die Schuld des Delinquenten aus oder eine T a f e l zeigte sie an. Augenzeugen der Kreuzigung aber haben die ältesten Gemeinden gekannt ( M a r k . 15, 2 1 ) , und darum können wir der Nachricht vertrauen, daß Jesu Schuld plakatiert worden sei
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(Mark. 15, 26). Alle vier Evangelisten wissen, auf diesem Anschlag sei Jesus als Judenkönig bezeichnet worden. So also hat man dem römischen Prokurator den Titel Messias verständlich gemacht. Jesus ist gekreuzigt worden, weil man ihn des Anspruchs auf den Thron, der angestrebten Messianität, beschuldigte. Dann muß in seinem Reden und Handeln etwas gewesen sein, was dieser Anklage ein gewisses Recht gab. Er muß, wenn auch in anderem Sinn als der Römer dachte und der Jude den Römer glauben machte, den Anspruch erhoben haben, der Gesalbte Gottes zu sein. Das aber ist ohnehin wahrscheinlich. Es war eine Zeit der politischen Spannungen und der revolutionären Erregungen. Es traten immer wieder Leute auf mit Versprechungen messianischer Art. Wer wie Jesus das baldige Kommen des Reiches Gottes verkündete, wer Kräfte dieses Reiches schon in der Gegenwart offenbarte, wer seine Schar nach Jerusalem an die Stätte der Entscheidung führte, der mußte der Frage begegnen, ob er selbst der Verheißene sein würde. Dabei geht es nur um die Zukunft; Reich wie Messianität kommen von Gott. Man kann nicht und auch Jesus kann nicht Messias sein kraft eigenen Rechts; man kann nur und auch Jesus kann nur vertrauen, glauben, wissen, daß Gott ihn zum Messias erwählt habe und zum Messias in seinem Reiche einsetzen werde. Im Rahmen dieser Weltzeit wird der Messias nur designiert, nicht inthronisiert. Als von Gott für die Zukunft erwählter Messias hat sich Jesus gewußt, zumal als er in Jerusalem einzog und im Tempel als Herr auftrat. Und nun verstärkt sich dem rückblickenden Betrachter auch die Beweiskraft der anderen Zeugnisse, nicht der einzelnen Ereignisse, aber ihres Nebenund Nacheinanders. Es erscheint nun nicht mehr unglaublich, daß ein Jünger, von Jesus selbst befragt, den Glauben an dessen künftige Messiaswürde ausspricht. Alles, was Jesus getan und gesagt hat, erhält sein besonderes Gewicht, wenn es nicht nur Ankündigung dessen ist, was ein anderer tun wird, sondern vorweggenommene Verwirklichung der Ereignisse, zu denen der Redende selber berufen ist. Wenn
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zwei Jünger Jesus gebeten haben sollen um die Ehrenplätze in seinem Reich, an seiner Seite, so haben sie in der Gewißheit geredet, daß er der König des kommenden Reiches sein werde (Mark. 10, 37). Wenn eine Frau dem zu Tisch liegenden Meister das Haupt salbt, so ehrt sie ihn, wie man einen König ehrt; sie sieht in ihm den König des Gottesreiches (Mark. 14, 3—7). Die jubelnde Menge beim Einzug und die keinen Widerstand wagenden Gegner bei der Tempelreinigung, sie sehen oder ahnen zum mindesten in Jesu Person den einstigen Messias. Es ist nun freilich damit noch nicht entschieden, mit welchem Titel man den kommenden König geehrt hat. Offenbar hat das Wort Messias nicht die Verbreitung und Bedeutung gehabt, die wir unwillkürlich voraussetzen. In der synoptischen Überlieferung ist das Wort Menschensohn sehr viel häufiger; es steht — von Kindheits- und Leidensgeschichte abgesehen — in den drei ältesten Evangelien mehr als dreimal so oft wie der Titel Messias. Das erklärt sich aus den besonderen Gedanken und Erwartungen, die sich mit dem Wort „Menschensohn" für die Christen verbanden. Apokalyptische Bücher wie das Buch Henoch bezeichneten mit diesem Namen den vom Himmel kommenden, äußerlich einem Menschen gleichenden Welterlöser (s. S. 37). Ursprünglich mag an diesem Namen die alte persische Lehre beteiligt sein, nach der der zuerst erschaffene „Urmensch" am Ende der Zeiten wieder erscheinen werde. Es hat auch Vorstellungen gegeben, nach denen dieser Urmensch nicht wie ein Mensch gelebt habe und gestorben sei, sondern als halbgöttliches Wesen in himmlischer Verborgenheit bei Gott existiert habe, um erst am Ende aller Zeiten der Welt offenbart zu werden. Der Apostel Paulus spricht von diesen Lehren, wenn er den irdischen „Adam" von dem „geistlichen" Adam (d. h. „Mensch"!) unterscheidet und hinzufügt: „es ist nun nicht so, daß zuerst das geistliche erscheint, sondern es kommt das irdische und erst danach das geistliche" ( I . K o r . 15, 46). Dabei ist natürlich vorausgesetzt, daß der Menschensohn
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der kommende Messias oder, wie das Buch Henoch sagt, der „Auserwählte", nämlich Gottes, ist. D e r Gedanke von der Verborgenheit des Menschensohnes hat aber den ersten Christengemeinden den Schlüssel gegeben, der ihnen das irdische Leben Jesu erschloß. Denn schließlich gehörte auch dieses Erdenleben und sein schmachvolles Ende, gehörte alles Widersinnige und Erniedrigende der historischen Existenz Jesu noch zu dieser Verborgenheit. U n d : „mußte der Messias dies nicht leiden, um in seine Herrlichkeit einzugehen" (Luk. 24, 26)? J a , „der Himmel muß ihn aufnehmen bis zu der Zeit, da alle Dinge wieder jung werden" (Apg. 3, 21). Also bietet der Glaube an den Menschensohn die Gewähr, daß das Erlösungswerk noch nidit völlig durchgeführt sei und daß Jesus wiederkommen werde in Herrlichkeit, als offenbarer Mensdiensohn, zur abschließenden Messiastat. So hilft der Menschensohnglaube den ersten Gemeinden, das schwere Rätsel des Kreuzes zu überwinden. Sie schauen den kommenden Messias im Bilde des Menschensohns — das ist das christliche Verständnis der Menschensohn-Lehre. Es ist aber doch zu fragen, ob nicht Jesus selbst sich bereits in ähnlichen Gedanken bewegt hat. E r konnte vom kommenden Menschensohn sprechen, ohne auf sich selbst zu verweisen (z. B . Luk. 17, 2 4 ; M a r k . 8, 38). In Jesu aramäischer Sprache war das Wort Menschensohn, Menschenkind dabei von „Mensch" nicht unterschieden: er redete geheimnisvoll, doch deutlich genug für jeden, der diese Erwartungen teilte, vom T a g oder vom Kommen „des Menschen". Es gibt aber unter den überlieferten W o r ten Jesu auch solche, in denen vom Menschensohn das Paradoxeste ausgesagt wird: daß er dahingeht und daß er in der Sünder H ä n d e ausgeliefert wird. Gewiß geben diese Worte oft schon die christliche Deutung der Geschichte Jesu wieder, und der Evangelist ist an solchen Stellen mehr Erklärer als Erzähler. Aber mindestens ein W o r t bezieht sich auf die Gegenwart des geschichtlichen Men6
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sehen Jesus; er antwortet einem, der als Jünger mit ihm ziehen will: Gruben haben die Füchse und Nester die Vögel des Himmels, aber der Menschensohn weiß nicht, wo er sein Haupt betten soll (Matth. 8, 20). So könnte Jesus gesprochen haben, den Gegensatz anzudeuten zwischen der Verborgenheit seines armen Erdendaseins und der Herrlichkeit des „Menschen" vom Himmel, den Gegensatz und zugleich die Verbundenheit, denn das dürftige Leben gehört zur Verborgenheit des Menschensohns und weist auf die Zukunft. Die Bevorzugung des Wortes „Menschensohn" in der christlichen Überlieferung verrät in jedem Fall, daß die Christen von keiner politischen Tätigkeit ihres Meisters wußten. Davidssohn und Messias würden ein politisches Verständnis zulassen, Menschensohn heißt der Gesandte Gottes an die Welt, nicht der Erbe des davidischen Thrones und der Befreier von der Römerherrschaft. Wer behaupten will, daß Jesus einen Angriff auf die römische Behörde geplant habe, der muß der gesamten Überlieferung widersprechen: nicht nur den Worten vom Schlag auf die eine Backe oder vom Dienen, sondern auch den Verheißungen vom Reiche Gottes, das Gott gerade den Demütigen, von der Welt Geschiedenen und in der Welt Vereinsamten schenken will. Wollte Jesus politisch vorgehen, so mußte er auch seine Anhänger anders auswählen, mußte mehr auf Massengewinnung und öffentlichen Erfolg bedacht sein, mußte in den Hauptstädten des Landes auftreten (siehe S. 50) und mußte in Wort und Tat Aktionswillen und Kampfeslust seiner Jünger wider das Bestehende richten. Getan hat er von dem allen das Gegenteil. Und falls er sich den Messiastitel gefallen ließ, das Wort Menschensohn aber — mit und ohne Beziehung auf sich — selber gebrauchte, so ist das eine Bestätigung seiner unpolitischen Haltung. Das Schwert aber, von dem er gesagt hat, daß er es bringe (Matth. 10, 34), geht, wie die Fortsetzung zeigt, durch die Familien und nicht durch die Nationen.
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E s gibt zwei Darstellungen innerhalb der synoptischen Überlieferung, die den Leser tief hineinschauen lassen in die Stellung J e s u zur H o f f n u n g seines Volkes und. die auch erklären, w a r u m Jesus nicht ohne weiteres zu aller messianischen Verherrlichung j a gesagt, aber doch die H o f f n u n g seines Volkes nicht v e r w o r f e n hat. D i e erste dieser D a r stellungen ist die Szene, da Jesus dem T ä u f e r A n t w o r t gibt (siehe S. 63). J o h a n n e s f r a g t : bist du der Messias? und Jesus antwortet — dem Sinn nach —: das Reich Gottes k o m m t , u n d H e i l dem, der an mir keinen Anstoß nimmt. Die F r a g e der persönlichen Geltung steht zurück, das Reich ist es, auf das sich der G l a u b e richten soll. D i e zweite Szene ist geschichtlich nicht ebenso gesichert, denn sie k a n n k a u m auf verläßlicher Zeugen K u n d e beruhen, aber sie erhebt den Anspruch auf Wahrheit der inneren Situation. Sie enthält d a s V e r h ö r v o r dem Hohepriester. E r f r a g t : „bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobt e n ? " , und Jesus antwortet mit k l a r e m J a : „ich bin es, und ihr sollt sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der M a j e s t ä t und k o m m e n mit den Wolken des H i m m e l s " . D i e H o f f n u n g der N a t i o n wird, wenn auch in fragendem T o n , noch einmal in letzter Stunde an Jesus herangetragen. E r aber spricht nicht v o m D a v i d s - , sondern v o m Gottesthron. D a h i n und auf die g l a n z v o l l e A n k u n f t des Menschensohnes sollen die Blicke der Richter gelenkt werden; denn die E r lösung der Welt ist mehr als alles messianische H a n d e l n ( M a r k . 14, 61 f.). U b e r h a u p t lassen sich die Ereignisse der Leidensgeschichte, läßt sich v o r allem das A b e n d m a h l weit besser verstehen, wenn Jesus einen v o n ihm gebildeten, der Messiaserwartung hingegebenen Kreis auf Erden hinterlassen wollte, Zeugnis und Bürgschaft einer persönlichen B i n d u n g an ihn. U n d auch gewisse Worte, in denen Jesus v o n sich und seinem Vorhaben redet, lassen ahnen, daß er selbst Führer und Bringer des Gottesreichs sein will: so der D o p pelspruch v o m Feuer, das er anzünden, und v o n der T a u f e , die er erleiden soll ( L u k . 12, 49 f.). 6»
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Man könnte noch weiter gehen. Man könnte vermuten, daß für Jesus eines nicht ohne das andere sei, die Messiaswürde nicht ohne den Leidensgedanken. Man könnte annehmen, daß Jesus, je wahrscheinlicher ihm Leiden und Tod geworden sei, um so sicherer die Einsetzung zum Messias erwartet habe. Aber alle solche Vermutungen gehen über das hinaus, was die Berichte der Evangelien sagen oder ahnen lassen. Sie wollen keine Darstellung des Seelenlebens Jesu geben, sie wollen nicht von inneren Wandlungen oder Entwicklungen berichten. Ziel ihrer Erzählung ist es vielmehr, die Würde Jesu auch schon im Erdenleben erkennen zu lassen. Darum darf man der Überlieferung nur die Antwort auf die messianische Frage entnehmen, die von der gesamten Überlieferung ohne Umdeutung und Eindeutung abgelesen werden kann. Wir versuchen in einer Rückschau auf die hin und her gehenden Erwägungen dieses Kapitels das Gesamtbild festzuhalten. Deutlich, über allen Zweifel hinaus deutlich ist vor allem dies, daß Jesus während seines Wirkens die Messiasfrage nidit in den Vordergrund gestellt hat. Die Benennung seiner Person mit einem der Würdetitel (Messias, Menschensohn, Davidsohn usw.) ist keine Bedingung des Heils. Man soll an seinen Taten Gottes Wirken schauen, man soll an seinem Auftreten Gottes Kommen mit seinem Reiche spüren — das verlangt Jesus, nicht aber das Messiasbekenntnis. Deutlich ist aber auch, daß Jesus das Gottesreich nicht nur ankündigen will. Daß er so in Vollmacht reden kann, wie er redet, daß er Kräfte des Reiches Gottes spüren lassen kann in seinen Heilungen, noch bevor dies Reich erschienen ist, das ist in sich selbst ein Beweis dafür, daß Gottes Reich sich naht. Jesus selbst ist in seiner Person, in seinem Reden und Handeln, das entscheidende Zeichen des Reiches. Darum verlangt er, daß die Menschen die Zeit erkennen, darum kann er, in allen Verheißungen und Forderungen, mit mehr als menschlichem Anspruch vor die Menschen treten, kann in Jerusalem als Friedenskönig einreiten und im Tempel als Herr verfügen.
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Das Wort Messias ist vieler Deutungen fähig, und nicht jede würde Jesu Meinung treffen. Vielleicht aus diesem Grund hat Jesus mehr vom Menschensohn als vom Messias gesprochen. Das Wort Mensdiensohn schließt den Gedanken ein, daß der Mensch vom Himmel, der am Ende der Welt erscheinen wird, erst eine Zeitlang verborgen sein soll. Eine solche Verborgenheit ist — trotz aller Zeichen, die er tut — Jesu irdisches Leben und Leiden. Daß Jesus in diesem Sinn seine Würde als Menschensohn oder Messias bejaht hat, zeigt endlich auch noch seine Hinrichtung als Thronprätendent. Sie ist der Beweis dafür, daß Jesus in seinem Leben den Anspruch, einmal Herrscher zu werden, Messias oder Erlöser, tatsächlich erhoben hat. So müssen denn auch seine Worte, Sprüche, Spruchgruppen, Gleichnisse nicht angesehen werden als gelegentliche Äußerungen eines Rabbis. Sie sollen verstanden werden als Kundmachung eines hohen Auftrags, als Befehle Gottes, vermittelt durch Menschenmund. Erst dann erhalten diese Worte ihre eigentliche tiefe Beziehung. 8. Der Mensch vor Gott Drohung, Verheißung, Forderung — in diesem Rahmen hielt sich die Predigt Jesu vom Reich Gottes. Daß Gott demnächst eintreten werde in die Welt, mußte einer gleichgültigen, in ihr Triebleben verstrickten oder einer eifervollen, in Vorurteilen befangenen Menschheit als eine Drohung erscheinen. Sie sah sich plötzlich herausgefordert von einem, der als Zeuge der Welt Gottes und als lebendiges Zeichen des Kommenden durch diese Welt ging. Die Wandlung der Dinge, die er ankündigte, erschien selbst als etwas Drohendes; harte Zeiten würden vorangehen; es gelte nicht zu verleugnen, sich nicht vor denen zu fürchten, die den Leib töten: „laßt eure Lenden gegürtet sein und eure Fackeln leuchten!" Allen denen aber, die am Sinn des Weltlaufs zweifelten oder verzweifelten, denen es eine Frage ihres Lebens geworden war, warum diese von Gott geschaffene Welt so
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wenig Gottes Absichten diene, brachte Jesus die Botschaft vom Reich als eine Verheißung. Es werde eine Zeit kommen und sie sei schon ganz nahe, da Gott selber in der Person seines Gesalbten die Herrschaft dieser Welt ergreifen werde. Dann werde die Sinnwidrigkeit des Weltlaufs in Sinn gewandelt werden, die Ungerechtigkeit, daß Macht vor Recht gehe im Völkerleben wie im Dasein des Volkes, werde schwinden; dann werde sich zeigen, wer der Herr der Welt sei: in Gottes Reich. Darum kleidet Jesus die Verheißung in einen Zuruf an die Enterbten und Gedrückten dieser Welt: Heil Heil Heil Heil
euch Armen — euer ist das Gottesreich! euch Hungernden — satt sollt ihr werden! euch Weinenden — ihr sollt lachen! euch, wenn sie euch schmähen und Böses von euch reden! Freuet euch und jubelt! Euer harrt im Himmel großer Lohn! (Luk. 6, 20. 21 und Matth. 5, 3. 6. 11. 12). Darum sieht er auch eine völlige Verkehrung des Anspruchs auf das Reich voraus. Von der Ferne, aus Ost und West, werden sie kommen und Eintritt erhalten. Die aber, die sich „Söhne des Reiches" nennen, werden hinausgeworfen werden ins ewige Dunkel — „Jammer ist da und Schauder und Qual" (Matth. 8,11. 12). Es ist kein Wunder, daß die Menschen, so zwischen Drohung und Verheißung gestellt, zu wissen begehren, wie sie der Drohung entweichen und der Verheißung teilhaftig werden können. Sie wollen Gottes Forderung von dem Künder und Zeugen des Reiches hören. In der Tat hat Jesus im Namen Gottes Weisungen gegeben, in großen grundsätzlichen wie in kleinen Einzelfragen. Aber Jesus ist kein Gesetzgeber. Wäre er's, so würde er mit der Fülle seiner Weisungen das ganze weite Gebiet des Lebens umfaßt haben. So aber gehen seine Mahnungen mitnichten auf alle die Fragen ein, die das Dasein stellt, und viele Lebensprobleme werden nicht berücksichtigt (vgl. S. 72). Nur beispielsweise greift er eine solche Frage auf oder läßt
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sie an sich heranbringen: die Sitten seines Volkes, auch die frommen Sitten wie Fasten und Beten, geben Anlaß dazu. Die Evangelien haben uns eine verhältnismäßig große Anzahl solcher Weisungen — mit und ohne Veranlassung — erhalten. Daraus erklärt sich das immer wieder in neuen Formen auftretende Mißverständnis, als sei das Evangelium eine Summe von Geboten, als bedeute Jüngerschaft die Ausführung einer Anzahl von Vorschriften. Es ist wohl das größte Mißverständnis, das die Überlieferung von Jesus belastet, und in dieser Überlieferung vor allem wieder die planmäßigste Gestaltung der Lehre Jesu in den Evangelien, die Bergpredigt, Matth. 5—7. Diese Bergpredigt ist eine Sammlung von Worten Jesu, kurzen Sprüchen und zusammenhängenden Spruchgruppen, deren Entstehung man sich an der kürzeren Parallele bei Lukas (6,20 ff.) erklären kann. Es gab offenbar schon in der Quelle der beiden Evangelien, Lukas und Matthäus, eine kurze Darstellung der Lehre Jesu, die etwa aus den Stücken bestand, die beide Evangelisten an derselben Stelle wiedergeben. Sie hätte dann mit den Seligpreisungen angehoben und mit den Gleichnissen vom Hausbau geschlossen, hätte in ihrer Mitte den Verzicht auf Vergeltung und die Feindesliebe gefordert und dann noch die Sprüche vom Richten, vom Baum und den Früchten und vom „Herr, Herr"Sagen folgen lassen. Bereits diese erste kleine Sammlung in der uns verlorenen Quelle wollte wohl nicht bloß ein eindrückliches Beispiel der Lehre Jesu geben, sondern zugleich ein Bild des Christseins inmitten der Welt. Um wieviel mehr wollen das Lukas und erst recht Matthäus! Bei Matthäus ist nicht nur in Auswahl und Anordnung, sondern auch im Wortlaut der Sprüche das Bemühen zu erkennen, Forderungen an das christliche Leben aufzustellen. Aus dem Zuruf Jesu an die Enterbten und Gedemütigten unter seinen Hörern „Heil euch Armen" ist die Aussage (in der 3. statt in der 2. Person) geworden „Heil denen, die arm sind im Geist" — eine eingeschränkte Aussage, als habe Jesus der Armut an sich das Heil zugesprochen. Der Zusatz will die Seligpreisung auf die Gruppe der vom
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Weltlauf innerlich Gedrückten einschränken und trifft damit den ursprünglichen Sinn des Zurufs bei Lukas. N u n treten zu diesen Seligpreisungen der Enterbten und Gedrückten bei Matthäus noch andere Worte Jesu, die in derselben Weise die Sanftmütigen verherrlichen, die Barmherzigen, die Aufrichtigen (Luther übersetzt „die reines Herzens sind") und die Friedenstifter. So wird aus dem Zuruf an die Armen und Hungernden eine christliche Tugendtafel. Und in ähnlicher Weise scheinen alle Worte der Bergpredigt zusammengefügt zu sein zu einer Art Katechismus des christlichen Lebens in der Welt. Das aber ist bereits das Ergebnis einer Wandlung. Die Christengemeinden, gestellt vor die Ansprüche und Sorgen des täglichen Lebens, begehrten Antwort auf die Frage: wie sollen wir leben als Christen inmitten der Welt? Die Hörer Jesu aber hatten gefragt: wie sollen wir sein, wenn die neue Welt hereinbricht? Es ist also nicht richtig, diese Sprüche der Bergpredigt von anderen, warnenden und verheißenden, jedenfalls aber auf das Gottesreich weisenden Worten Jesu zu trennen und als „ruhende Elemente" der Predigt Jesu zu bezeichnen, d. h. als Gebote, die nicht die kommende Weltverwandlung voraussetzen, sondern das Leben der Christen in der unverwandelten Welt regeln wollen. Ursprünglich bezogen sich auch diese „ruhenden" Worte auf das Kommen des Reiches. Wie könnte es anders sein in einer Predigt, die die Menschen bereiten will für das Reich! Wie wäre anderes zu erwarten von einem Verkünder, der als sichtbares Zeichen der kommenden Gottesherrschaft vor seinen Hörern steht! All seine Gebote und Befehle sind nicht zweckvolle Maßnahmen einer Weltreform, sondern Botschaft vom Gottesreich; bei allen, den verständlichsten wie den befremdlichsten, ist, ausgesprochen oder nidit, als Begründung das Kommen des Reiches vorauszusetzen. Es wird geboten, nicht damit das Reich komme, sondern weil es kommt. Es gilt die Menschen mit Gottes Befehl zu fassen und zu bereiten, bis es kommt. Indem Jesus Gottes Willen im Gebot verkündet angesichts des Gottesreichs, erscheint
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er selber — und ist wohl auch manchem seiner Hörer erschienen — nicht nur als Künder, sondern als Vollstrecker. Er spricht „wie einer, der Recht und Macht besitzt" (Matth. 7, 29) und sie sich nicht erst durch sein Amt oder durch seine Schrifttheologie bestätigen muß. Auch von der Betrachtung seiner Forderung her erwächst ein Verständnis für seine Würde (s. Kap. 7). Jesu Worte sind wie seine Taten Zeichen des kommenden Reiches. Er gibt kein neues Gesetz, das alle Lebensbeziehungen umfaßt. Gerade die Tatsache, daß die Uberlieferung seiner Worte von vielen Lebensproblemen schweigt, bestätigt uns jene Zeichenhaftigkeit. Er redet zu seinem Volk und bleibt dabei im Rahmen der überlieferten Religion; wenn das Volk Moses und die Propheten wirklich hörte, würde es wohl bereitet sein auf das Reich. Aber gerade die Ordnungen der alten, jüdischen Religion werden ihm immer wieder zum Anlaß, Zeichen des Neuen, der neuen Haltung des Menschen vor dem kommenden Gott, zu offenbaren. Er sieht die Frommen seines Volkes fasten: sie schleichen herum mit Leichenbittermienen, um jedermann zu zeigen, wie fromm sie sind (denn das Fasten ist fromme, aber freiwillig übernommene Leistung). Sind das Menschen, bereitet für das Reich? Nein, sagt Jesus: sie sollten sich salben und waschen, wie wenn sie zum Mahle gingen — das wäre ein Fasten vor Gott (Matth. 6, 16—18)! Das ist in jener orientalischen Weise geredet, die nicht beschreiben, sondern durch Übertreibung den Willen aufrufen will. Nicht Verstellung predigt Jesus, sondern Zurückhaltung; nicht n'sue Heuchelei an Stelle der alten, sondern Ehrlichkeit vor Gott, die auf alle Geltung vor den Menschen verzichtet; denn Rühmen des Menschen wäre Unwahrheit gegenüber Gott, dem allein Ruhm gebührt. Aber Jesus, der in solcher Weise einem rechten Fasten das Wort redet, wird auch einmal gefragt, warum seine eigenen Jünger nicht fasten. Da hat er geantwortet: „dürfen denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist?" Wenn der Evangelist (Mark. 2, 20) ihn dann auf die Zukunft verweisen läßt, da der Bräutigam
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ihnen entrissen sein würde und sie ein Recht hätten zu fasten, so ist dies eine Rechtfertigung des Fastens in der Kirche — und also wohl erst zu einer Zeit entstanden, da die Christen das Fasten selbst übten. Aber in jedem Fall ist die Verschiedenheit bezeichnend: Anweisung zum rechten Fasten in der Bergpredigt, Dispens vom Fasten hier (und, wenn man will: Einführung des Fastens in Zukunft). Dieses Nebeneinander zeigt nicht Unsicherheit der Entscheidung, sondern Dynamik des Urteils über die fromme Tradition: es gilt nicht das Fasten allgemein abzuschaffen oder es allgemein verbindlich durchzuführen; es gilt, fastend oder nicht fastend, in der rechten Weise bereit zu sein f ü r Gottes Reich. D a r u m wird der Zöllner in der Gleichniserzählung (Luk. 18, 10—14) als vorbildlich hingestellt gegenüber dem Pharisäer: dieser wagt es im Heiligtum, vor Gottes Angesicht, rühmend zu reden von seinem frommen Tun. Er lügt nicht, er ist „fromm" (nach dem menschlichen Gebrauch des Wortes), aber er macht daraus einen Anspruch. Der Zöllner aber ist in Wahrheit ein „Sünder" (nach dem menschlichen Gebrauch des Wortes), aber er weiß von dem heiligen Gott und demütigt sich vor ihm. Die ständige Gefahr, unter der alles fromme Wesen in der Welt immer wieder steht, Selbstzweck zu werden und damit Heidentum, ist in dieser kleinen erdichteten, aber lebenswahren Geschichte aus dem Tempelvorhof klassisch abgebildet. Und auch hier gibt, unausgesprochen, aber unüberhörbar, die Mahnung an des Reiches Kommen das leitende Motiv: wie soll einer, der sich einbildet Gott genug zu tun, bestehen, wenn der heilige Gott selber vor ihn hintritt? Das ist in der Tat die erste und vornehmste Forderung der Botschaft Jesu: bereit zu sein für Gottes Reich. Jesus lebt selbst in dieser Bereitschaft. Aber nicht als ein Aktivist, der Tag und Nacht nichts anderes bedenkt als die Zerstörung des Alten und die Schaffung des Neuen. Sondern Jesus erwartet alles vom Vater: Tag und Stunde der großen Wandlung (Mark. 13, 32), Anteil und Ehre im Reiche selbst (Mark. 10,40) — ja vielleicht ist die Zurückhaltung
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J e s u in der Messiasfrage ( K a p . 7) im tiefsten G r u n d e eingegeben v o n jener bereiten H a l t u n g , die nichts nehmen, sondern alles e m p f a n g e n will. Mindestens ist g e w i ß , daß auch das G e b o t , durch Leiden und T o d zu gehen, v o n Jesus im eigentlichen Sinn „ e m p f a n g e n " wurde. W e n n es anders wäre, hätte Jesus sich im Dienst der Sache G o t t e s gewehrt oder w ä r e zu N u t z e n dieser Sache geflohen, oder er h ä t t e sich m i t M ä r t y r e r - L e i d e n s c h a f t in den T o d gestürzt. Dies letzte aber würde in der Szene der G e f a n g e n nahme z u m Ausdruck k o m m e n . W i r hören nichts v o n alledem; was die E v a n g e l i e n beschreiben, ist weder ein demonstratives noch ein empörtes, sondern ein gehorsames Gehen ins D u n k e l . A b e r der Blick Jesu ist, schon v o m ersten A u f t r e t e n an, dem Reich Gottes zugewendet, allein dem Reich und keinem innerweltlichen Ziel oder I d e a l . D a r u m versinken alle W e r t e , Schätze, Ziele aus dem Reich der P o l i t i k , der K u l t u r , der menschlichen Gemeinschaft. A b e r wieder muß m a n den I r r t u m a b w e h r e n : sie versinken nicht, weil sie als wertlos befunden werden oder weil asketischer E i f e r auf sie verzichtet. Sie verschwinden einfach in dem G l a n z , der v o n dem Reich G o t t e s ausgeht. S o sehr ist Jesus diesem einen zugewendet und nur für dies eine bereit. Es ist ein dreister menschlicher E i n g r i f f in diese Bereitschaft, den M u t t e r und B r ü d e r verüben, als sie Jesus heimholen wollen ( M a r k . 3, 3 1 ) . Menschen denken, „er sei von S i n n e n " ( M a r k . 3 , 2 1 ) ; jene nur dem unsichtbaren K o m m e n d e n zugewandte H a l t u n g ist in der T a t etwas, das die menschliche N o r m überschreitet. Jesus k e n n t und sieht und weiß nur, was er w a r n e n d der geschäftigen M a r t h a zuruft: „du sorgst und mühst dich um vieles; not aber tut nur eines" ( L u k . 1 0 , 4 1 ) . D e n n die gleiche Bereitschaft verlangt er nun v o n den Seinen. Nicht Schwärmerei und nicht Innerlichkeit will er, sondern G e h o r s a m . D e n n es ist die g r o ß e S t u n d e G o t t e s : sie sollen die Zeichen der Zeit achten ( L u k . 1 2 , 5 6 ) u n d dem R u f Gottes gehorchen. A b e r es ist ein r a d i k a l e r G e h o r s a m , der nichts kennt als dies eine. E r stellt ihn dar im B i l d e des Schatzgräbers, der den Acker mit dem Schatz e r w i r b t , und
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des Kaufmanns, der der köstlichen Perle nachjagt: beide geben alles, was sie haben, um dies eine (Matth. 13,44—46). Ja, er scheut sich nicht, einen Verbrecher, vielleicht einen damals bekannten Verbrecher, als Beispiel zu nehmen, denn die Kinder des Lichts können auch von den Kindern des Dunkels lernen: jener ungerechte Haushalter, der seines Amtes entsetzt wird, denkt nicht daran, Ausflüchte zu brauchen, um seine Stelle zu behalten; er denkt nur daran, mit einem letzten Betrug, solange er die Macht dazu hat, sich sein künftiges Leben zu sichern (Luk. 16, 1—8). Wer im radikalen Gehorsam die ganze Welt nur im Blick auf dies eine beurteilt — Gott und sein Kommen in die Welt —, dem wird all das wesenlos, was ihn von Gott trennen kann. U n d es macht dabei keinen Unterschied, ob es unter Menschen seine Berechtigung hat oder nicht. Ob Pflichten oder Laster — was den Menschen abhält, sich auf das Reich zu bereiten, das hat kein Recht mehr in dieser Weltenstunde. Unter diesen hemmenden Mächten stehen voran der Besitz und die Krankheit. Beider Erscheinungsart in jener Zeit verlangt eine besondere Betrachtung. Auch wir kennen die betörende Macht des Reichtums und wissen, wie die Sorge um ihn Selbstzweck werden kann beim Millionär wie beim kleinen Sparer. Aber ebensosehr und mit mehr Reichweite innerhalb der Menschen scheint uns doch die Bettelarmut, das Sorgen um die nackte Existenz von Tag zu Tag, eine unheimliche Belastung des Lebens zu sein, die den Gedanken an eine außerweltliche Bestimmtheit des Lebens überhaupt ausschließt. Das ist anders unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit und des Landes Jesu. Gastfreundschaft und allerlei Möglichkeiten der Unterkunft lassen die Wohnungsfrage gar nicht so groß werden (sie fehlt denn auch in den Worten Jesu vom Sorgen); der Bedarf an Kleidung ist gering, und Nahrung findet man im äußersten Notfall auf den Feldern (Mark. 2, 23). Die Freiheit eines armen Wanderlebens vollends, wie es Jesus mit den Seinen führt, ganz im Dienste der einen Sache (s. S. 48), mag den Menschen eher in die N ä h e Gottes als von ihm wegführen. Der Besit-
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zende dagegen, der immer dessen, was er hat, warten und auf seine Vermehrung sinnen muß, verfällt am ehesten der Gefahr, ein sich selbst genügendes Leben zu führen. Das geht so lange, bis Gott eingreift, mit dem Kommen seines Reiches oder, in der Gleichniserzählung Jesu, Luk. 12, 20, mit plötzlichem Tod. „Was soll dann werden aus allem, was du gesammelt hast?" Jesu Warnung vor dem Sorgen richtet sich an alle, denen die Sorge um den Besitz, seine Erringung oder seine Mehrung, den Blick verstellt für Gottes Anspruch an ihr Leben. Begründet wird die Warnung mit dem Ernst der letzten Stunde: „Aber trachtet nach seinem Reich, dann werdet ihr das andre obendrein bekommen" (Luk. 12, 31). Aber dieser Hinweis auf den Ernst der Stunde bringt nur zum radikalen Ausdruck, was Gott immer und allenthalben an Entscheidung vom Menschen fordert. Es ist die Entscheidung zwischen Gott und der Welt, der sich der Reiche entzieht (s. S. 52). Jesus hat nicht wider den Besitz gepredigt, sondern sein Wanderleben in gewisser Weise auf die Hilfe der Besitzenden unter seinen Anhängern aufgebaut. Aber er hat es zu oft erlebt, daß der Besitz sich zwischen Mensch und Gott stellt; diesen Reichen gilt sein Ruf: „wehe euch, ihr habt euern Trost dahin" (Luk. 6, 24), gilt sein hartes, in seiner Bildersprache durch nichts zu ermäßigendes Wort: „leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in Gottes Reich" (Mark. 10, 25). Aber diese Erkenntnis hat ihn nicht abgehalten, um jenen einen Reichen zu werben; sie wird ihn auch vom nächsten Reichen nicht zurückhalten, „denn bei Gott sind alle Dinge möglich" (Mark. 10, 27). Jesus will weder den Reichtum „abschaffen" noch das Leid. Wohl aber will er zeigen, daß Gottes Ruf an jeden ergeht, an den, der hinter seinem Besitz verschanzt ist, wie an den, der unter menschlichen Vorurteilen wie begraben liegt. Dies gilt vor allem von dem chronisch Kranken. Jüdische Theologie will alle Schicksale des Lebens, Glück wie Leid, aus Gottes Vergeltung erklären. So ist es ihr gewiß, daß der Kranke sich gegen Gott vergangen haben
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müsse, sonst wäre er eben nicht krank. Darum begrüßt Jesus den scheinbar hoffnungslos Gelähmten mit dem Zuruf: „deine Sünden sind dir vergeben" (Mark. 2, 5). Denn Gottes Handeln mit den Menschen läßt sich nicht in die Mathematik einer reinen Vergeltungslehre einspannen. Und wie in dieser einen Geschichte die Heilung als Bestätigung der Sündenvergebung erscheint, so soll im Grunde jede von Jesus vollzogene Heilung verkünden, daß die Krankheit keine Verbannung weg von Gott ist. So wird jede Heilung zum Zeichen des kommenden Reiches, zur Andeutung des wahren Willens Gottes. Aber die volle Verwirklichung dieses Willens findet erst im Gottesreich statt; jene Zeichen bleiben vereinzelt, und Krankheit bleibt bestehen in dieser Weltzeit. Jesus hat sie nicht abgeschafft, sondern nur an gelegentlichen Krankheitsfällen Gottes wahren Willen sichtbar gemacht. Das Evangelium predigt die Bereitschaft für Gottes Reidi; aber daraus ergibt sich nicht nur die Beseitigung von Hindernissen, daraus ergibt sich auch die Forderung des Verzichts. Aus dem Wort an den Reichen ist sie herauszuhören; allgemeiner und radikaler formuliert lautet sie: Führt dich die Hand in Versuchung, so haue sie ab! Besser, du kommst verstümmelt ins ewige Leben, Als daß du mit beiden Händen zur Hölle fährst (Mark. 9, 43). Jeder sieht, daß hier nicht Verstümmelung, sondern Verzicht gemeint ist und daß das Abhauen von Hand — und Fuß und Auge — nur ein Bild ist des entschlossenen Verzichts auf alles, was jene Bereitschaft für Gott mindert. Dann sollte man aber auch den Bildcharakter in jenem Wort von den Eunuchen (Matth. 19, 12) erkennen, das unterscheidet zwischen Verschnittenen, die „so" von ihrer Mutter Leib gekommen sind, und solchen, die sich von Menschen verstümmeln ließen, und endlich solchen Verschnittenen, die es taten für Gottes Reich. Wenn das Bild wirklich als Bild verstanden wird, so redet der Spruch nicht von der Kastration, sondern vom Verzicht. Nur ist der Verzicht jener Ersten gar kein Verzicht, der der Zwei-
95 ten hat nichts mit Gott zu tun, und nur bei den Dritten ist es ein echtes Opfer, das den Menschen bereitet für das Reich. Es ist ein O p f e r , das verlangt wird; nur durch die enge Pforte kommt man zum Leben, und wer den Pflug nimmt und sieht sich um, ist nicht zu brauchen. D a s Evangelium predigt nicht Askese als Selbstzweck; wäre es so, dann würde die zweite Gruppe in dem EunuchenSpruch anerkannt werden. D a n n würde der Verzicht aber auch beschränkt sein auf den Kreis der Begierden und Sünden, auf das, was Annehmlichkeiten gewährt und Triebe befriedigt. Jesus verlangt noch mehr: er verlangt unter Umständen auch den Verzicht auf Pflichten. Hier sieht man am deutlichsten den Unterschied von der Gesetzesreligion: das ganze jüdische System von Geboten und Verboten mit absoluter Geltung wird fragwürdig, da Gott selbst mit absoluter Majestät, absoluter Gerechtigkeit und Heiligkeit in die Welt hineintritt. Auch das Sabbatgebot muß durchbrochen werden, wenn Gott dazu drängt und nicht menschlicher Leichtsinn. Die Familie darf niemanden mehr halten, und der tote Vater wird vom Sohne nicht begraben (Matth. 8, 22). Freilich: wo kultische Pflicht und Kindespflicht miteinander streiten, geht natürlich die Kindespflicht vor (Mark. 7, 10—13). Aber jede innerweltliche Pflicht wird relativiert durch die N ä h e des Gottesreichs. U n d erst recht eine Pflicht wie die, der fremden Besatzungsmacht Kopfsteuer zu zahlen, wird gar nicht als Pflicht im sittlichen Sinn gewertet, sondern lediglich als Folgerung aus dem politischen Schicksal. D e r Sinn des vielberufenen, immer wieder mißverstandenen Wortes Jesu: „so gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist" usw. wird verkannt, wenn man den Spruch als grundsätzliche Äußerung zum Problem „Staat und Kirche" faßt. Die Münze zeigt des Kaisers Bild; also gebt sie ihm! Aber ihr frommen Frager solltet an höhere Pflichten denken: „Gebt Gott, was ihm gehört!" (Mark. 12, 1 3 - 1 7 ) . Nicht das Tun ist das Entscheidende, denn das mag in verschiedenen Fällen verschieden sein, sondern der Mensch, der es tut. Er steht immer vor Gott, vor dem kommenden
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Gott! Die Botschaft vom Reich macht ihn nicht besser, aber sie ergreift sein ganzes Wesen und wandelt ihn. U n d was er dann sagt oder tut, das wird im Blick auf das Reich gesagt oder getan werden. „An der Frucht erkennt man den Baum", an der Haltung vor Gott den Menschen. Darum wendet sich Jesus mehr als einmal an die „Zöllner und Sünder", weil die um ihren eigenen Mangel vor Gott wissen und keinen Anspruch erheben. Die Sünde wird wahrlich nicht geleugnet oder gering geachtet; aber ein Hindernis zwischen Mensch und Gott darf sie nicht bilden. Gott muß ernster genommen werden als dies alles. Dieses neue Sein vor Gott — das nicht ein Zustand ist, sondern ein immer bereites Hören und Gehorchen — hat Jesus in einer Anzahl von Geboten wieder und wieder abgewandelt. Weil diese Gebote den reinen Willen Gottes ohne jedes Kompromiß zum Ausdruck bringen, erscheinen sie in dieser alten Welt oft undurchführbar. Aber diese Erkenntnis befreit den Menschen nicht von der Pflicht, auf Gott zu hören. Es ist auch nicht so, daß diese Gebote nur eine „Interims-Ethik" ausdrücken wollen, nur f ü r die Zeit unmittelbar vor dem Ende dieser Welt Geltung hätten. Volle Durchführung erfahren sie nicht vor dem Ende, sondern in der Zeit nachher, in der neuen Welt des Reidies Gottes. In solchem Sinn hat Jesus z. B. den Eid verboten (Matth. 5, 34). Denn Gottes absoluter Wille untersagt dem Menschen, Gott zum Gewährsmann seiner Aussagen oder Absichten zu machen. Inwiefern in der alten Welt Staat oder Gericht unter der Notwendigkeit stehen, solche Sicherungen wie den Eid anzuwenden, das wird nicht gefragt. Vielleicht hätte Jesus selbst sich solcher Notwendigkeit gebeugt (Matth. 26, 63. 64); in dieser unverwandelten Welt kommt eben der reine Wille Gottes noch nicht zur Vollendung. Wie mit dem Eid steht es mit der Ehescheidung: was Gott verbunden, soll der Mensch nicht trennen (Mark. 10, 9)! D a ß es in der alten Welt Ehen gibt, die keine Ehen in diesem Sinn sind, davon ist nicht die Rede, wenn nur von Gottes Willen gesprochen wird und von Gottes Reich. Die
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Konsequenzen, die Menschen aus der Tatsache solcher Ehen ziehen, würde Jesus so beurteilen wie er alle jene eidesartigen Sicherungen beurteilt (Matth. 5, 37): sie erweisen nur, daß dies alles noch „der Bosheit (der alten Welt) angehört". Bei Matthäus freilich werden solche Konsequenzen bereits berücksichtigt; denn bei ihm, aber nur bei ihm, ist dem absoluten Scheidungsverbot die Ausnahme eingefügt „es sei denn im Fall der Unzucht" (Matth. 5, 32; 19, 9). Aber diese Form des Spruches zeigt auch schon, d a ß man Jesu Wort zur gesetzlichen Regelung des täglichen Lebens benutzt und aus der Verkündigung des kommenden Reiches einen Katediismus f ü r das Dasein in der alten Welt macht. Für Jesus selbst bieten die Gebote, die „den Alten gesagt sind" im Alten Testament (und in der jüdischen Auslegung des Gesetzes), den Rahmen, in den er die absolute Forderung Gottes hineinstellt. Das Alte Testament könnte dem Menschen den Willen Gottes andeuten. D a aber die Menschen auf den Buchstaben schauen, statt auf Gott wirklich zu hören, muß ihnen der Wille Gottes in seiner erschreckenden, oft über menschliches Vermögen in dieser Welt hinausgehenden Absolutheit verkündet werden. Das ist am deutlichsten beim Verbot des Tötens. Nicht der Totschläger allein vergeht sich dagegen, sondern schon der Zürnende und erst recht der Beleidiger (Matth. 5, 21. 22). So könnte jedes alte Gebot neugefaßt und mitunter audi korrigiert werden. Immer wieder würde sich zeigen, daß die radikale Neufassung über menschliches Vermögen in den Verhältnissen dieser Welt hinausgeht. Immer wieder aber würde auch betont werden müssen, d a ß diese radikale Forderung vom Menschen nicht eingeschränkt werden darf. Gerade ihr Radikalismus ist geeignet, die wirkliche Situation des Menschen aufzudecken und ihn f ü r den Bußruf des Evangeliums empfänglich zu machen. Die tiefe Wahrheit von diesem „überführenden" Sinn des Gesetzes hat Paulus im Kampf um die Gesetzesfreiheit mehr als einmal ausgesprochen (Rom. 3, 20; 5, 20; 7, 9; Gal. 3, 24). Jesus hat auch davon nur in einzelnen „Zeichen" geredet, 7 Di be ] ¡us, Jesus
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die auf die Wirklichkeit des reinen Gotteswillens und den Abstand des Menschen von der gesetzlichen Forderung hinweisen. In einzelnen Zeichen nur hat er auch das neue Dasein des Menschen vor Gott umschrieben, nicht beschrieben. Denn es läßt sich nicht beschreiben, da der Mensch in immer neue Lebenslagen gestellt wird, die immer neue Entscheidungen verlangen. Nur in Stichworten kann es darum angedeutet werden; so redet Jesus von Glauben, Gebet und Liebe. Glaube ist das Wort, das die Anerkennung dieser Botschaft vom Reich bedeutet und die Hinwendung zu diesem Gesandten Gottes und zu diesem Heil. Wer die Zeichen des Reiches versteht und den Ruf Gottes vernimmt, der erlebt auch die jetzt schon wirkenden Kräfte des Reiches: nur der Glaube erfährt Heilungen (Matth. 8, 10), nur dem Glaubenden wird Sündenvergebung zuteil (Mark. 2, 5). Aber es gehört eben auch zum Wesen des Glaubens, daß er mit Sünde und Not zu Gott kommt und sich beides, Vergebung wie Hilfe, schenken läßt, ohne nach Verdienst und NichtVerdienst zu fragen, ohne zu vergleichen und zu rechnen. Jesus und seine Jünger lebten in täglicher Berührung mit einem System der Frömmigkeit, das auf rationaler Berechnung des Verhältnisses von Mensch und Gott aufgebaut war und sich dadurch über Gott erhob. Darum wird Jesus nicht müde, seinen Zeit- und Volksgenossen vorzuhalten, daß sie Gott die Austeilung seiner Gnade und seines Zorns nicht vorschreiben dürfen. Wenn wir nur auf Gerechtigkeit angewiesen wären, wir hätten kein besseres Los verdient als die vom Siloah-Turm Erschlagenen, als die von Pilatus gemordeten Galiläer (Luk. 13, 1—5). Und wenn es uns gelänge, alles Gebotene zu erfüllen, wir blieben vor Gott doch „lumpige Knechte", „die nichts taten als ihre Pflicht" (Luk. 17, 7—10). Zuletzt stehen die Menschen vor Gott doch nicht anders als die Tagelöhner in all ihrer (damaligen) Rechtlosigkeit, die nicht vergleichen dürfen und nicht schelten, wenn andere einen besseren Arbeitsvertrag und also mehr Lohn erhalten (Matth. 20,
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1—15). U n d wenn G o t t sich gerade des scheinbar Verlorenen erbarmt wie ein Vater über sein Sorgenkind, so darf der, der sich minder verloren dünkt, nicht mit ihm rechten (Luk. 15,11—32). D a r u m bleibt die rechte H a l t u n g vor Gott und angesichts des kommenden Reiches die des Kindes, das noch die Kunst des Nehmens und Beschenktwerdens versteht. D e n n was Jesus meint, wenn er den Kindergleichen das Reich zuspricht (Mark. 10, 14 f.), ist nicht die Kindesunschuld — die kann man sich nicht geben —, sondern diejenige Einfalt, die sich ungeteilt hingibt und fraglos sich schenken läßt. Gemeint ist die H a l tung, die wir vor G o t t dank dem Glauben einnehmen müßten und die uns immer zwiefältigen Menschen fehlt, weil wir uns ständig bedenken und verstrickt sind in den Doppelsinn dieser Welt. Wer die Botschaft v o m Heil gläubig annimmt, kindhaft annimmt, der steht zu Gott anders als die Menschen in den Religionen der antiken Welt; er wagt es, unbefangener zu sein, denn er bedarf nicht der Mittel noch der Mittelsm ä n n e r ; er ist unmittelbar zu Gott. Das w i r d und m u ß sich zeigen in seinem Beten. Das Gebet wird in den f r a g lichen Worten Jesu nicht wie in der Bergpredigt M a t t h . 6 , 5 als eine f r o m m e Ü b u n g neben anderen genannt. Es ist vielmehr der gewiesene Ausdruck f ü r die Beziehung des Menschen zu Gott. Es ist nicht nötig f ü r Gott, die Bitten des Menschen aufgezählt zu hören; es ist nicht nötig f ü r den Frommen, seine Gebete abzuleisten. Wohl aber ist es nötig f ü r den Menschen, der an die Botschaft v o m Reiche Gottes glaubt, sich mit all seinen Anliegen an G o t t zu wenden. Es ist wohl nicht zufällig, daß Jesus dieses Recht des Gebetes an einer Reihe sehr menschlicher Bilder klar macht. Er zeigt die W i r k u n g des Bittens an durchschnittlichen, ja auch an schlechten Menschen; und, so w i r d gef r a g t — G o t t sollte nicht noch viel eher und noch viel mehr hören, wenn er gebeten wird? Je krasser der Gegensatz zwischen G o t t und den menschlichen Beispielen, desto überzeugender der Beweis. D a ist der Vater, der dem hungrigen Sohn keinen Stein bieten wird, wenn er um
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Brot bittet (Matth. 7, 9); da ist der Mann aus dem Volk, der dem klopfenden Nachbarn auftut, nicht aus Freundschaft, sondern um seiner Zudringlichkeit H e r r zu werden (Luk. 11, 5—8). D a ist — schlimmstes Beispiel von allen — der böse Richter, der sogar der machtlosen verfolgten Witwe zu ihrem Recht verhilft, damit sie ihm nicht länger lästig wird (Luk. 18, 2—7). Das eigentliche klassische Zeugnis des Betens aber ist das Vaterunser; nicht ein Normalgebet, wenn auch oft d a f ü r gehalten, sondern Urkunde des neuen Verhaltens zu Gott. Es ist weder ekstatisches Gestammel noch kultische Litanei noch überhebliche Demonstration. Es gehört weniger in eine Geschichte des Gebets als in eine Geschichte des Glaubens. Es erfüllt nicht so sehr die Forderung: so sollst du beten! als die andere: so sollst du sein! Wir lesen das Vaterunser im Neuen Testament in zwei Formen; Lukas bietet (11, 2—4 in den ältesten H a n d schriften) einen kürzeren Text als den üblichen, in dem die sogenannte 3. und 7. Bitte ganz fehlen, die Anrede nur von dem Wort „Vater" gebildet wird. Wenn diese Lukas-Form die älteste sein solke, dann ist die sogenannte 1. Bitte wohl zur Anrede zu ziehen: „Vater — heilig sei dein N a m e " . Und dann besteht das Gebet aus drei Bitten: um das Reich, um das tägliche Brot und um Vergebung der Sünden und Bewahrung vor künftigen („vergib uns unsere Schuld, wie wir sie unsern Schuldnern vergeben, und führe uns nicht in Versuchung"). Dies Gebet schließt in der Tat alles zusammen, was das Evangelium verkündet: das Kommen des Reiches und die Abwehr von Sorge und Sünde, der beiden großen Hemmungen eines gläubigen Daseins inmitten dieser Weltzeit. Wer wirklich so beten kann, hat die H i n wendung auf Gott und sein Reich vollzogen, die wir Glauben nennen, und damit auch die Hinwendung zu dem, der mitten in der Welt das lebendige Zeichen des Reiches Gottes ist. Wer so beten kann, bemüht sich um den radikalen Gehorsam gegenüber dem absoluten Willen Gottes; aber er weiß auch um die Bedingtheit dieser Welt, die immer wieder die Erfüllung dieses Willens hindert, und
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sucht täglich, stündlich mit diesen Hindernissen fertig zu werden. Es wird in diesem Gebet weder der Glaube an Jesus als den Erfüller ausdrücklich bekannt noch der Gehorsam des neuen Menschen versprochen; man kann sagen und hat gesagt, daß jede einzelne dieser Bitten auch von einem Juden nachgesprochen werden könnte. Und doch bezeichnen erst jener Glaube und dieser Gehorsam die H a l tung vor Gott, in der allein das Vaterunser im Sinn seines Schöpfers wirklich gebetet werden kann. Das dritte Kennwort dieser Haltung (neben Glauben und Gebet) ist Liebe. Das Wort ist nur im Zusammenhang der Botschaft vom kommenden Reich zu verstehen, also nur von Gottes Tun aus, nicht von menschlichen Urteilen oder Empfindungen her. Es handelt sich nicht um Philanthropie, die auch in dem verkommensten Menschen den göttlichen Seelenfunken sucht, auch nicht um eine alles umspannende Ausweitung des Mitleids, also daß man an keiner seufzenden Kreatur vorbeigehen kann, ohne wenigstens mit dem Versuch der Hilfe das eigene weiche Herz beschwichtigt zu haben. Der Ursprung der Liebe, die Jesus fordert, ist Gottes Liebe, offenbart in Jesu Botschaft und Jesu Leben, sofern beide Zeichen sind des göttlichen Reiches; Gottes Liebe, zugewendet den Unwürdigen, denn alle sind unwürdig, die Guten und die Bösen. Gleichnis dieser Liebe ist die Sonne, die über allen scheint; Zeichen dieser Liebe sind Vergebung und Heilung, die dem kindhaft H i n gewendeten, d. h. dem Glaubenden, zuteil werden; Zeuge dieser Liebe aber muß werden, wer sie empfängt. Es geht nicht an, d a ß der Knecht, dem so viel erlassen ist, noch seinen Mitknecht bedrängt wegen geringer Schuld (Matth. 18, 23—35). Es geht nicht an, daß der Mensch, der Gottes Liebe erfahren hat, nun seinerseits Schranken aufrichtet und seine Liebe nur dem Volks- oder Standesgenossen oder irgendeinem angeblich „Nächsten" zuwendet und sie dem andern versagt. Jeder kann mein Nächster werden, wenn Gott ihn mir schickt — das ist der Sinn des klassischen Beispiels von fragloser Liebestätigkeit, das der „barmherzige Samariter" gibt (Luk. 10, 30-37).
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Diese Fraglosigkeit der Liebe, die über alle (in der Welt noch so berechtigten) menschlichen Grenzen hinausgeht, hat Jesus gefordert in dem Gebot der Feindesliebe (Matth. 5, 44). Wir haben uns gewöhnt, dabei an Krieg und Völkerfeindschaft zu denken. U n d gewiß hat Jesus diesen Gedanken nicht ausgeschlossen. Aber der Nationalkrieg selbständiger Völker gegeneinander liegt nicht in seinem Erfahrungskreis; auch pflegt der verzehrendste H a ß nicht zwischen feindlichen Fronten zu herrschen, sondern zwischen einander nahen, aufeinander angewiesenen Menschen, zwischen Nachbarn, Konkurrenten, Untergebenen und Vorgesetzten. Diesen H a ß , auch den menschlich „berechtigten", will das Gebot der Feindesliebe überwinden. Es fordert nicht eine Sonderleistung, als solle der Jesusjünger gerade und nur die Feinde lieben, sondern es zeigt nach Art solcher zugespitzten Formulierungen den Grenzfall an, vor dem die Liebe des Menschen eigentlich — und menschlich berechtigter Weise — haltmacht: man liebt doch nicht seine Feinde! Wer von Gottes Liebe zu den Sündern, seinen „Feinden", angerührt ist, der kennt solche Grenzen nicht mehr. In ähnlicher Weise zugespitzt ist das Gebot, dem Gegner nicht mit Widerstand, sondern mit Entgegenkommen zu antworten: „Wenn dich einer schlägt auf die rechte Wange, biet ihm auch die a n d r e ! " (Matth. 5, 38—42). Auch diese Möglichkeit und die anderen, die in dem Spruch sonst noch angeführt werden, stellen Grenzfälle dar. Sie sind freilich nicht symbolisch gemeint, nur als radikaler Ausdruck einer milden Gesinnung; sie sind aber auch nicht gesetzlich gemeint, als sollte gerade dies und nur immer wieder dies geboten sein. Auch von diesen Forderungen gilt es: sie sollen wörtlich erfüllt werden, wo die Erfüllung nicht als Aberwitz, nicht als asketische Leistung, sondern als Zeichen des Gottesreichs zu wirken vermag. Gottes absoluter Wille läßt sich nicht in ein Gesetz für diese Welt fassen. Er läßt sich nur in Zeichen darstellen. Darum lautet die Forderung Jesu im tiefsten Grunde nicht: so mußt du handeln, sondern: so mußt du sein! Was er schaffen will, sind nicht asketische oder ethische Leistungen,
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s o n d e r n Menschen, die in T a t u n d W o r t zeugen v o n G o t tes Reich!
9. Die Feinde Jesu Botschaft hielt sich im R a h m e n des J u d e n t u m s . U n d doch erwuchs i h m aus diesem J u d e n t u m die Feindschaft, die ihm den T o d brachte. D a s J u d e n t u m w i e d e r u m e n t schied mit diesem Todesurteil über sich selbst. D e n n nicht d e r Feldzug der R ö m e r machte es auf die D a u e r heimatlos, s o n d e r n die Feindschaft der C h r i s t e n . So schicksalhaft w i r k t e sich der Gegensatz zwischen Jesus u n d d e n Juden aus. W o r i n b e s t a n d er? D i e M i t t e der Botschaft Jesu, die V e r k ü n d u n g des R e i ches Gottes, ließ sich m i t jüdischer H o f f n u n g w o h l v e r einen. D e r R a d i k a l i s m u s dieser V e r k ü n d i g u n g freilich, das ausschließliche „Eins ist n o t " , e n t w e r t e t e den A n s p r u c h aller a n d e r n Pflichten, auch der kultischen, auch der gesetzlichen, auch der jüdisch-nationalen. U n d Jesus brachte diese E n t w e r t u n g in seinem Leben z u m A u s d r u c k : den S a b b a t brach er, w e n n er sich v o n G o t t z u m H a n d e l n a u f g e r u f e n w u ß t e ; v o m F a s t e n b r a u c h dispensierte er m i n d e stens seine J ü n g e r ; u n d die b r e n n e n d e n a t i o n a l e Frage, o b m a n der f r e m d e n Besatzungsmacht (in J u d ä a u n d S a m a r i a ) wirklich K o p f s t e u e r z u z a h l e n habe, b e j a h t e er, a b e r als weltliches Anliegen, u n d wies die F r a g e r auf die wesentliche Pflicht: „gebt G o t t , w a s i h m g e h ö r t " . So w ü r d e er noch zahllose a n d e r e F r a g e n abgewiesen h a b e n , die den L e h r e r n des Volkes als die wichtigsten galten. U n d gerade weil sie dem V o l k diese L a s t e n a u f l e g e n u n d v o m W e s e n t lichen schweigen, weil sie „ M ü c k e n seihen u n d K a m e l e v e r schlucken", greift er sie a n : „ W e h e über euch P h a r i s ä e r ! G o t t e s Reich verschließt ihr den Menschen! I h r k o m m t selbst nicht hinein u n d h i n d e r t noch, die hinein b e g e h r e n ! " (Matth. 23,13). E i n e P r e d i g t , die so allein auf das K o m m e n d e d r ä n g t , m u ß in schärfsten Gegensatz t r e t e n z u einem System, das auf G e b e n u n d N e h m e n zwischen Mensch u n d G o t t in der
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G e g e n w a r t aufgebaut ist. W o h l „glauben" auch die strengsten Vertreter jüdischer Frömmigkeit, eben die Pharisäer, an den k o m m e n d e n Messias u n d sein Reich, aber sie begehren nicht nach ihm, denn sie finden Genüge an der Gegenwart. Sie glauben mit G o t t im reinen zu sein, wie es der Pharisäer im Gleichnis ausspricht (Luk. 18, 11). Die E n t w e r t u n g jener Pflichten durch das „Eins ist n o t " m u ß ihnen als U n t e r g r a b u n g und Vernichtung des ganzen Systems der Frömmigkeit erscheinen. Schon hier gibt es keine Verständigung. Ein anderes k o m m t hinzu. W e r im J u d e n t u m auf den Messias hofft, denkt dabei an erneuten G l a n z des Volkes; nicht umsonst ruft m a n Jesus bei seinem Einzug z u : „Geg r ü ß t sei das kommende Reich unseres Vaters D a v i d ! " (Mark. 11, 10). Jesus weiß anderes vom Schicksal dieses Volkes. Es gleicht dem Knecht, d e m viel Geld a n v e r t r a u t w a r d , aber der nichts damit anfing, sondern es v e r g r u b (Matth. 25, 25). Die J u d e n sind wie die Festgäste, die zum M a h l geladen werden, aber anderes f ü r wichtiger halten und sich entschuldigen (Luk. 14, 18 f.). Im Blick auf dies Volk spricht er v o n K i n d e r n , die am M a r k t sitzen, aber vor lauter Z a n k nicht zum Spiel k o m m e n ( M a t t h . 11, 16), und erzählt v o n den bösen Weingärtnern, die die Boten ihres H e r r n verunglimpfen u n d den Sohn u n d Erben schließlich töten (Mark. 12, 1—9). U n d je mehr Jesus solches voraussieht, desto größer w i r d die K l u f t zwischen ihm und seinem Volk. Aber der entscheidende G r u n d z u r Feindschaft ist damit noch nicht getroffen. Die strenge jüdische Frömmigkeit der Zeit Jesu beruht auf der Auslegung der Bibel. Alles m u ß aus der Schrift abgeleitet, alles m u ß aus der Schrift bewiesen werden. Jesus h a t gelegentlich Schriftgelehrte mit einer Schriftstelle widerlegt (Mark. 12, 26), aber er h a t seine Botschaft nicht aus der Bibel abgeleitet. D a s Gesetz k ö n n t e mit seinen Vorschriften den Menschen zum A n l a ß werden, den absoluten Gotteswillen zu erkennen. Aber die Menschen haben sich um diese Möglichkeit betrogen durch ihren Ausbau der Vorschriften zum gesetzlichen System.
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So muß Jesus nun verkünden, was im Reiche Gottes zu gelten hat, den reinen Willen Gottes. Darum stellt er in der Bergpredigt sein „ich aber sage euch" neben das, was „den Alten gesagt ist"; aber er tut es als der, der Gottes Willen weiß, ohne Ableitung und ohne Begründung. Er redet als einer, der Recht und Macht besitzt, und nicht wie ihre Schriftgelehrten (Matth. 7, 29) — das aber muß in den Augen der Juden als Ketzerei erscheinen. Denn die Stimme der Propheten ist verklungen, und niemand hat das Recht, den Willen Gottes von sich aus zu verkünden. So muß die Autorität, die Jesus übt — ganz gleich, mit welchem Titel man sie bezeichnet —, als Lästerung erscheinen. Jesus ist der Erzketzer — was braudien sie weiteres Zeugnis! Wie eine Bestätigung erschienen den jüdischen Machthabern die Ereignisse der letzten Lebenstage Jesu. Der galiläische Ketzer ist mit seiner Schar zum kultisch-nationalen Gedenktag des Auszugs aus Ägypten, zum Passa, nadi Jerusalem gekommen. Es ist das Fest, an dem alle Hoffnungen neubelebt werden, an dem auch eine Menge von Pilgern, auch galiläischen Pilgern, herzuströmt. In der Stadt und in Zeltlagern außerhalb der Stadt kann man sie finden. Der Einzug Jesu in die heilige Stadt wird zum Triumph, vor allem durch die Anteilnahme der Pilger. Zurufe messianischen Inhalts lassen sich hören. In Jerusalem aber, im heiligen Tempelbezirk, tritt Jesus als der auf, der „Recht und Macht besitzt". Im äußeren Vorhof sitzen Verkäufer, die Tauben zum Opfer feilhalten; auch stehen dort die Tische der Wechsler, die fremde Geldsorten und Münzen des römischen Münzfußes umwechseln in althebräisches oder phönizisches Geld, wie es allein im Tempel gebraucht wird. Sie alle verweist Jesus mit strengem Wort aus dem heiligen Bezirk. Er zieht sich damit nicht nur die Feindschaft der Vertriebenen zu; er stellt damit zugleich die Frage nach seiner Autorität und ihrer Berechtigung; sein Anhang wirkt erregend und bedrohlich. Was Jesus selbst erwartet hat, wissen wir nicht. Aber wie schon sein Zug nach Jerusalem (s. S. 50 f.), so bedeutet auch dies Auftreten, daß er Entscheidung seiner Sache sucht
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und Entscheidung v o n den Menschen verlangt. D i e Gegner versuchen, ihn als Feind entweder des Tempels oder der römischen Fremdherrschaft zu entlarven, um so oder so eine W a f f e gegen ihn in die H a n d zu bekommen. D i e Festtage rücken näher. Jesus m u ß beseitigt werden. Es scheint, d a ß der Plan des Synedriums, der jüdischen Behörde, darauf ausging, Jesus vor dem Fest aus dem Wege zu schaffen — das ist M a r k . 14, 2 angedeutet. Es scheint aber auch, d a ß die A u s f ü h r u n g dieses Planes wirklich k n a p p v o r dem Fest gelungen ist. N a c h M a r k . 14, 2 fürchtet m a n sich im Synedrium, mit Jesu V e r h a f t u n g bis z u m Fest zu warten. Aber dies ist kein Augenzeugenbericht, sondern eine k u r z e Nachricht, die entstanden ist, indem m a n v o m Geschehenen auf das Geplante Rückschlüsse zog. W e r den Gegnern Jesu die W o r t e in den M u n d legte: „nicht (erst) am Fest", der w u ß t e , daß Jesus vor dem Passa gekreuzigt w a r u n d erschloß daraus den P l a n der jüdischen Behörde. U n d der so schrieb, w a r nicht der Evangelist M a r k u s , sondern ein anderer, der Verfasser einer älteren Leidensgeschichte. D a s läßt sich behaupten, denn M a r k u s selber ist anderer Meinung über die Chronologie des Todes Jesu. Alle Evangelisten lassen Jesus an einem Freitag sterben. Aber nach den Synoptikern ist dieser Freitag — d. h. die 24 Stunden v o n D o n n e r s t a g abend bis einschl. Freitag nachmittag — bereits der erste Passatag. Es ist freilich unwahrscheinlich genug, d a ß der P r o k u r a t o r Pilatus an diesem hohen Festtag Hinrichtungen h ä t t e vornehmen lassen. A u d i gibt das Johannesevangelium (18, 28; aber auch 19, 14 u n d 13, 1) deutlich, aber ohne weitere Betonung, zu erkennen, daß der erste Passatag in jenem J a h r mit dem Sabbat zusammengefallen ist. D a s ist nicht johanneische K o r r e k t u r anderer Vorstellungen, denn d a n n w ü r d e der Nachricht mehr Betonung gegeben sein; sondern es ist Traditionsgut, das dem vierten Evangelisten Zugekommen w a r wie vieles andere auch, gerade in der Leidensgeschichte. Auf die gleiche D a t i e r u n g weist übrigens auch jener schon e r w ä h n t e Beschluß des Synedriums M a r k . 14, 2, den m a n nicht am A n f a n g der Leidensgeschichte lesen w ü r d e , w e n n
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er nicht zur Ausführung gekommen wäre. U n d endlich läßt sich die Umdatierung des letzten Mahles und des Todes von Markus an begreifen. Sie kommt bei Markus nur in dem kurzen Stück 14, 12—16 zum Ausdruck (nicht einmal in dem Mahlbericht selbst), hat also nur den Zweck, das letzte Mahl Jesu zu einem Passamahl zu machen und so die Verbindung zwischen alttestamentlichem Brauch und christlichem Sakrament herzustellen. Aus all diesen Gründen ist der Datierung der Vorzug zu geben, die den ersten Passatag auf den Sabbat ansetzt, Jesus also am Tage vor dem Passa sterben läßt (siehe S. 42). Die Führer des Volkes wollten Jesus vor dem Fest durch einen Handstreich in der Stille beseitigen. Jesus nächtigte außerhalb der Stadt, in Bethanien (Mark. 11, 11). Des Abends war er am ö l b e r g ; dort draußen müssen auch Festpilger ihr Lager gehabt haben. Es war vielleicht nicht schwer, ihn dort ohne Aufsehen im Dunkel der Nacht zu fangen; wohl aber war es schwer, ihn zu finden. Man bedurfte eines Führers, der mit den Gewohnheiten Jesu vertraut war, und fand ihn in der Person des Judas. In jenen Tagen, da Jesus in Jerusalem weilte, muß Judas für diesen schändlichen Dienst gewonnen worden sein. Uber die Gründe dieses Verrats, durch den des Judas Name als schimpfliches Symbol auf die Nachwelt kam, wissen wir nichts. Denn auch die Leidensgeschichte will nicht Entschlüsse begründen und Seelenzustände beschreiben; sie will den Glauben an Jesus durch ihre Darstellung befestigen und dartun, daß es „nach der Schrift" so kommen mußte. Gottes Willen im Leiden Jesu aufzuzeigen, ist ihr ursprünglicher Sinn; ihr Motto ist gewissermaßen das W o r t : „des Menschen Sohn geht dahin, wie von ihm geschrieben steht" (Mark. 14, 21). Dieser Gedanke, daß das Leiden Jesu sich nach der Schrift vollzogen habe, ist bereits für die ältesten Gemeinden entscheidend gewesen und hat sie getrieben, schon bevor es eine Geschichte des Leidens Jesu gab, alttestamentliche Kapitel als weissagende D a r stellungen der Passion zu lesen: Ps. 22, Ps. 31, Ps. 69, Jes. 53. So bildeten sich am Alten Testament die Vorstel-
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lungen der Christen über das Leiden ihres Herrn. Sie verbanden sich mit dem, was man aus diesen erst ahnungsbangen, dann qualvollen Stunden selbst wußte oder zu wissen glaubte. Daß Jesu Kleider unter dem Kreuz verlost worden seien, las man aus Ps. 22, 19 heraus; es entsprach aber auch einem bei Hinrichtungen üblichen Brauch, und so ist seine Ausführung auch in diesem Fall so gut wie sicher. Von der Verspottung des Frommen durch die Gottlosen, die „die Köpfe schütteln", war Ps. 22, 8 die Rede. Man nahm das Motiv in die Leidensgeschichte auf, schon Mark. 15,29 werden die Worte vom Köpfeschütteln zitiert; aber die psychologische Wahrscheinlichkeit dieses Verhaltens ist so groß, daß niemand diesen Zug als bloße Eintragung beurteilen wird. Das Bibelwort Jes. 53, 12 „er ward unter die Übeltäter geredinet" hilft den Gemeinden die Schmach tragen, daß ihr H e r r zwischen Schächern sterben mußte; aber ist es nicht durchaus wahrscheinlich, daß Pilatus bei seinem kurzen Besuch in Jerusalem dort mehrere Angelegenheiten, die seiner Entscheidung harrten, erledigte, darunter auch den ihm zustehenden Vollzug einiger Todesurteile? Aus dem Alten Testament mag man auch sehr früh herausgelesen haben, daß Jesus erschüttert gewesen sei und geklagt habe und daß er in dieser Lage Trost gesucht und gefunden habe im Gebet (Ps. 31, 23; 39, 13). Diese Uberzeugung hat den Anlaß zu den Worten des Hebräerbriefs gegeben, die von starkem Geschrei und Tränen reden (Hebr. 5, 7), andrerseits aber, in Verbindung mit der überlieferten Mahnung „Wachet und betet", auch zu der Gethsemane-Szene in den synoptischen Evangelien. Wir dürfen das Verständnis dieser Szene nur nicht mit unseren eignen Gedanken belasten! Hier spricht nicht ein neutraler Beobachter, der in seiner Objektivität zugibt, daß auch Jesus einmal schwach geworden sei. Hier spricht vielmehr ein Christ, der in der Klage des Herrn eine Bestätigung sieht des göttlichen Willens, wie er im Alten Testament geoffenbart ist. Nicht trotzdem er klagt, sondern indem
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er klagt, ist Jesus der Vollstrecker dieses Willens. Ähnliches gilt von dem (bei Markus und Matthäus) letzten Wort Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du midi verlassen!" Audi dies ist nicht der Ausruf eines Verzweifelten, sondern es ist der Anfang des 22. Psalms, und wer den betet, der ist nicht in der Auflehnung gegen Gott begriffen, sondern lebt und stirbt im Frieden mit Gott. Entweder hat Jesus wirklich so gebetet: dann sprach aus ihm nicht Verzweiflung, sondern Glaube. Oder man hat ihm diese Worte in den Mund gelegt: dann geschah das nicht, um seinen Zusammenbruch zu schildern — wer unter den Christen hätte solche Schilderung gewagt! —, sondern es geschah, um seine Einheit mit Gottes Willen anzudeuten. Die Leidensgeschichte ist der einzige größere Abschnitt in den Evangelien, der Begebenheiten im geschlossenen Zusammenhang erzählt (siehe S. 25). Man wollte in diesem einzigen Fall den Ablauf der Ereignisse darstellen, weil die Erzähler dadurch zum Verständnis des Geschehens aus Gottes Willen führen konnten. U n d man konnte in diesem Fall den Gang der Dinge erzählen, weil man über genügenden Stoff verfügte. Bis nach Gethsemane hin war Jesus in Begleitung seiner ganzen Schar gewesen. Die Szene in Gethsemane freilich konnte keiner schildern; denn auch die Vertrautesten waren vom Schlaf überwältigt (Mark. 14, 37. 40). Aber für die Verhaftung Jesu waren die Jünger alle Zeugen, und die älteste Darstellung, die wir besitzen, scheint sich außerdem noch auf einen Jüngling außerhalb des Jüngerkreises zu berufen; er war, vielleicht aus dem Zeltlager der Pilger aufgescheucht, dem Zuge gefolgt, nur mit einem Mantel bekleidet. Die Häscher griffen ihn beim Mantel; er ließ ihn in ihren H ä n d e n und entfloh nackt. Diese unrühmliche Begebenheit wäre nicht erzählt (Mark. 14, 51 f.), wenn der junge Mann nicht dem ältesten Erzähler bekannt gewesen wäre. Das Gleiche gilt vom Zug nach Golgatha. Hier berichtet Markus wie die anderen Synoptiker von einem sonst unbekannten Kyrenäer Simon, der dem Zug begegnet und gezwungen wird, dem Verurteilten das Kreuz abzunehmen. Damit ist wahr-
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scheinlich der Querbalken gemeint, an den der Delinquent dann gebunden wird, um so an dem feststehenden Pfahl hochgezogen zu werden. Aber Markus nennt auch die — f ü r die Begebenheit gleichgültigen — Söhne des Simon, Alexander und Rufus (15, 21): also hat er oder ein noch älterer Erzähler sie gekannt. Endlich werden Mark. 15, 40 Frauen erwähnt, die mit Jesus aus Galiläa heraufgezogen sind und Zeugen der Kreuzigung werden; auch hier deutet der Erzähler vielleicht an, wie die christlichen Kreise zu Nachrichten über den Tod ihres Meisters gelangt sind. So dürfen wir, alle Bedingtheit unserer Kenntnis zugestehend, es doch wagen, den Ablauf des Geschehens zu verfolgen. Jesus hatte an seinem letzten Abend die Seinen zu einem Mahl versammelt. N u r feierliche Mahlzeiten werden am Beginn der Nacht eingenommen; die gewöhnliche Stunde der Hauptmahlzeit liegt früher. Ist unsere Chronologie richtig (siehe S. 106), so war dies kein Passamahl; vielleicht war es als Festeingang, als „Kiddusch" (Weihe) gedacht*, und jedenfalls wurde es ein Abschiedsmahl. Denn Jesus nahm während der Mahlzeit eines der flachen runden Brote, brach es, wie man gewöhnlich mit ihnen tat, und verteilte die Stücke des einen Brotes unter die Jünger. Ebenso ließ er nach der Mahlzeit, als die Becher mit Wein auf dem Tisch standen, einen dieser Becher unter den Seinen kreisen, und jeder Jünger trank daraus. Jeder antike Mensch und jeder primitive Mensch würde den Sinn solches Tuns auch ohne begleitende Worte verstehen: die Jünger sollen sich als Genossenschaft fühlen, wie sie es schon waren, als sie mit dem Meister wanderten, aßen und tranken. Denn das gemeinsame Essen verbindet die Genossen des Mahles miteinander. Aber an diesem Abend verteilte Jesus nur und hielt selbst nicht mit. Und wenn er über dem Brot sprach: „dies ist mein Leib", so war das nicht nur Bestätigung der alten Gemeinschaft, sondern Stiftung einer neuen; denn dieses „das ist" kann dem Semiten auch bedeuten: das soll von nun an sein (siehe Joh. 19, 26!). H a n d lung und Wort besagen also, daß die Jünger als Genossen* S. Nachtrag S 130
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schaft Jesu geeint bleiben sollen, ob er persönlich u n t e r ihnen weilt oder nicht. D a s W o r t , das Jesus über dem Wein sprach, ist nicht einhellig überliefert. M a n m u ß d a m i t rechnen, d a ß sich die Gemeinde, rückblickend auf den T o d des H e r r n , die H a n d l u n g verdeutlichte. Die älteste F o r m des Wortes, bei Paulus I. K o r . 11, 25 überliefert, lautet: „dieser Kelch ist die neue O r d n u n g (begründet) in meinem Blut (d. h. in meinem T o d ) " . U n d nach M a r k . 14, 25 f ü g t e Jesus noch ein W o r t h i n z u : „Wahrlich, ich sage euch: ich werde nicht mehr trinken den T r a n k der Rebe bis an den k o m m e n d e n Tag, da ich ihn neu trinke in Gottes Reich". Auch dieses W o r t weist in die gleiche Richtung wie die a n d e r e n : T r e n n u n g v o m Meister ist's, die diesem Kreis bevorsteht, aber sie sollen vereint bleiben ohne ihn bis zu dem T a g , da sich die Tischgemeinschaft im Gottesreich erneuert. Das ist seine Stiftung. Auch w e n n Jesus nicht v o n seinem T o d gesprochen h a t , so h a t er doch die Gemeinschaft selbständig gemacht. D a s A b e n d m a h l bedeutet die G r ü n d u n g der Kirche. N a c h dem M a h l geht Jesus mit den J ü n g e r n aus der Stadt hinaus, über den Kidronbach, auf den ö l b e r g z u m G a r t e n Gethsemane. Es w a r wohl sein üblicher abendlicher A u f e n t h a l t ; vielleicht t r a f e n ihn andere A n h ä n g e r hier, wie jener Jüngling. In jedem Fall k o n n t e n die Häscher an diesem O r t seiner h a b h a f t werden, w e n n ein K u n d i g e r sie f ü h r t e . U n d es geschah wirklich, d a ß ein Jünger sich d a z u herbeiließ, den nächtlichen Handstreich zu ermöglichen, indem er den O r t und den M a n n k u n d machte! Es w a r J u d a s Ischariot, der sich vom Mahle weggestohlen h a t t e . Er ging allein auf Jesus zu u n d grüßte ihn, wie die Schüler den Meister grüßten, mit der A n r e d e „ R a b b i " u n d einem K u ß . N u n w u ß t e n die Bewaffneten, die den O r t umstellt h a t t e n , wen u n d wen allein sie zu greifen hatten. Sie t r a t e n aus dem D u n k e l u n d n a h m e n Jesus fest. D e r W i d e r s t a n d eines Anhängers w a r bald gebrochen. D i e J ü n g e r flohen. D a s V e r h ö r , das die Behörde mit Jesus anstellte, ist, so scheint es, v o n keinem Augenzeugen d e r christlichen G e meinde berichtet w o r d e n . N a c h den Evangelien h a t m a n
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den Verhafteten erst dem Synedrium unter Vorsitz des Hohepriesters vorgestellt und dort seinen T o d beschlossen. D a die Juden zwar eigene Gerichtsbarkeit hatten, der Vollzug der Todesstrafe ihnen aber nicht zustand, mußte Jesus dann dem römischen Prokurator vorgeführt werden, der zum Fest in Jerusalem weilte. Der aber brauchte kein Prozeßverfahren zu eröffnen, sondern hatte nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob die Strafe zu vollstrecken sei. U n d er entschied f ü r Vollzug! Von nun an wissen wir wieder, was viele gesehen und manche, wie Simon aus Kyrene und die Frauen, berichtet haben. Es ist also verbürgt, d a ß Jesus nicht nach jüdischer Weise gesteinigt, sondern nach römischer gekreuzigt worden ist. Dies berichten alle unsere Quellen. Einige wissen noch mehr: Johannes erzählt von einem Verhör vor dem AltHohepriester Hannas und von ausführlicher Befragung Jesu durch Pilatus, Lukas von einem ergebnislos verlaufenden Verhör durch Herodes, den Landesherrn Jesu, Matthäus von einer Fürsprache der Gattin des Pilatus f ü r den Verurteilten. Alle vier Evangelien aber berichten übereinstimmend einen Zug: Pilatus habe die Absicht gehabt, Jesus zum Fest frei zu geben, also seinen Fall unter eine Art Passa-Amnestie zu stellen. Das Volk aber habe dies abgelehnt und die Amnestie f ü r einen anderen Häftling namens Barabbas erbeten, der mit anderen gefangen lag, weil sie bei einem Aufstand Totschlag begangen hatten. D a ß dieser Aufstand mit der Sache Jesu in Verbindung gestanden hätte, ist nicht nur unbeweisbar, sondern offenbar gegen die Meinung des Textes: dem König des Gottesreiches soll gerade ein Gegenspieler aus der tiefsten Weltverstrickung gegenübergestellt werden. Wenn wir auch von einer solchen Amnestie als Brauch nichts wissen, so liegt kein Grund vor, die Szene zu bezweifeln; die Annahme einer Erfindung würde den allerersten Berichterstattern einen Gestaltungswillen und eine poetische Kraft zutrauen, wie sie sonst nicht zu bemerken sind. Wohl aber hat man den von den Evangelien geschilderten Gang der Dinge aus einem anderen Grund bezweifelt:
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die Juden hätten damals dodi das Recht der Hinrichtung gehabt. Der Umstand, daß Jesus gekreuzigt und nicht gesteinigt wurde, beweise also, daß er von dem Synedrium alsbald den Römern in die Hände gespielt sei. Wie es nun auch mit dem jüdischen Exekutionsrecht in jener Zeit stehen mag, das Verfahren war in jedem Fall ein Schnellverhör, weder der jüdischen Satzung noch dem römischen Redit entsprechend. Die Christen glaubten zu wissen, daß ein Wort Jesu wider den Tempel dabei eine Rolle gespielt habe, und der Ausgang bewies, daß Jesus dem Pilatus mit der politischen Beschuldigung, er sei ein Thronprätendent, zugeleitet wurde (s. S. 79). Von den Jüngern ist nur Petrus in der Nähe gewesen, aber ohne von diem Verhör etwas wahrzunehmen. Er hatte sich in den Hof des Palastes eingeschlichen, wo das Synedrium versammelt war — nach Joh. 18, 15 war er durch einen jerusalemischen Anhänger Jesu eingeführt worden. Dort aber kamen Mägde und Knechte seiner Zugehörigkeit zu Jesus auf die Spur; er half sich, indem er jeden Zusammenhang mit dem Verhafteten brüsk ableugnete. Daß Petrus in dieser Nacht — noch vor der Stunde, die man Hahnenschrei nannte — seinem Herrn untreu geworden sei, war der ältesten Gemeinde bekannt; wahrscheinlich hat der Apostel später selbst, als Verkünder der Auferstehung, in der ihm gewordenen Vision die göttliche Verzeihung für seine Untreue erblickt und eines mit dem anderen erzählt. Pilatus bewohnte den Palast des Herodes im Westen der Stadt. Als die Hinrichtung im Schnellverfahren durch den Prokurator genehmigt war, haben Soldaten Jesus und zwei andere zum gleichen Los bestimmte Verbrecher aus dem nördlichen Stadttor zur Hinrichtungsstätte geführt; der kleine Hügel, auf dem schon die Pfähle eingerammt waren, hieß seiner Form wegen Golgatha, Schädel. Der Zug ging also nicht den Weg, den man heute als Passionsstraße zeigt, denn dabei ist die Burg Antonia am Tempelplatz als Ausgangspunkt vorausgesetzt. Die Kreuzigung war wie üblich durch eine Geißelung eingeleitet worden; kein Wunder, daß Jesus bei dem Zug zur Richtstätte so geschwächt war, S D i be 1 i ti s, Jesus
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d a ß ihm Simon v o n K y r e n e das H o l z abnehmen m u ß t e . D a ß Jesu K ö r p e r bereits schweren Schaden erlitten hatte, zeigt sich auch bei seinem schnellen Sterben. Die Zeit v o n neun U h r vormittag« bis drei U h r nachmittags ist v e r h ä l t nismäßig k u r z ; denn die H i n r i c h t u n g a m K r e u z ist eine qualvolle Strafe, die lange Todespein einschließt u n d schließlich mit dem Erstickungstod zu enden pflegt. Verletzungen aller A r t mögen die Q u a l a b k ü r z e n ; v o n N ä g e l n und ihren Malen ist aber erst bei Johannes die R e d e ; die Möglichkeit rascher V e r b l u t u n g scheint k a u m bestanden zu haben. Es ist, nach Ciceros W o r t , die schlimmste u n d fürchterlichste Todesstrafe. Diesen T o d in Schimpf u n d Schande sollte b a l d eine gewaltige Schar v o n Bekennern Jesu in A n b e t u n g feiern. Aber als er sich vollzog, w a r es nicht die geringste u n t e r seinen Q u a l e n , d a ß kein F r e u n d dem Gekreuzigten z u r Seite w a r . Z u m mindesten w a r keiner in der N ä h e , der die E r i n n e r u n g an Jesu letzte Stunden seiner Gemeinde als Zeuge vermittelt hat. Es h ä t t e nahe gelegen, diese Lücke im Wissen der Christen durch erhebende u n d r ü h r e n d e Züge auszufüllen u n d so dem M ä r t y r e r eine M ä r t y r e r legende zu schaffen. Dies ist auch später geschehen u n d ist am deutlichsten bei Lukas w a h r z u n e h m e n . Bitte f ü r die Feinde, Bekehrung des einen Mitgekreuzigten u n d (bei Johannes) Sorge f ü r die M u t t e r — das sind die W o r t e , die den Sterbenden charakterisieren; man darf v o n ihnen mindestens das sagen, d a ß sie seiner Botschaft w ü r d i g sind u n d ihm in diesem Sinn w a h r h a f t i g nicht zu Unrecht in den M u n d gelegt werden. Aber die älteste E r z ä h l u n g , bei M a r k u s erhalten, weiß v o n alledem nichts. Sie begnügte sich damit, in wenigen Versen das Bild des Gekreuzigten nach den Leidenszeugnissen des Alten Testaments, nach Ps. 22 und 69, nach Jes. 53 darzustellen. Sie trifft damit, wie schon an dem M o t i v der Kleiderverteilung gezeigt wurde, auch in vielen Fällen das geschichtlich Richtige, mindestens das Wahrscheinliche. Aber nicht d a r u m ist es ihr in erster Linie zu tun, sondern um die Gewißheit, d a ß dies alles nach der Schrift, d. h. nach Gottes Willen ge-
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schah, und daß die Feinde Jesu, ohne es zu wissen, bekundeten, daß hier Gottes ewiger Heilsratschluß vollzogen werde. So werden sowohl die Einreihung unter die Verbrecher wie die Erquickung (oder die versuchte Betäubung, Mark. 15, 23) durch einen Trank, die Verteilung der Kleider ebenso wie der Spott der Vorübergehenden als Zeugnisse von Gottes Willen verstanden. So muß der Römer selbst das Evangelium predigen, indem er durch die Inschrift über dem Querholz verkünden läßt, daß Jesus, „der König der Juden", der Messias war. Und das letzte Wort Jesu ist der Gebetsruf, mit dem der klassische Leidenspsalm beginnt (und nicht etwa ein Verzweiflungsschrei): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" Er bekundet, daß Jesus stirbt nach Gottes Willen. Die Schmach dieses Sterbens ist Gottes Wille: das soll die älteste Leidensgeschichte sagen. Kein Wunder hilft, und der Zuruf an den Wundertäter Jesus, nun solle er sich selber retten, verhallt als leerer Spott. Was an begleitenden Wunderzeichen bei Markus erzählt wird, soll dem Leser die Weltbedeutung dieses Sterbens eindrücklich machen, hat aber auf den Lauf der Ereignisse keinen Einfluß (erst bei Lukas erschrickt das Volk darüber): Dunkelheit bedeckt die Erde, ein Unglückszeichen geschieht am Tempelvorhang, ja selbst die heidnische Welt in Gestalt des römischen Centurio begrüßt den Geschiedenen als Gottessohn. Dies alles kann dem Sterbenden kein Trost mehr sein. In Niedrigkeit und Verlassenheit geht sein Leben zu Ende. 10. Glaube und Unglaube Hier endet die Geschichte Jesu, von der die Wissenschaft redet, jene öffentliche Wirksamkeit, die Gegenstand dieser Darstellung ist. Aber der Glaube fährt fort zu erzählen: „Sie nahmen ihn ab vom Kreuz und legten ihn in ein Grab. Gott aber erweckte ihn von den Toten. Und mehrere Tage hindurch erschien er denen, die mit ihm von Galiläa heraufgezogen waren nach Jerusalem" (Apg. 13, 29—31). 8*
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„Der Himmel muß ihn aufnehmen bis zu der Zfeit, da alle Dinge wieder jung werden" (Apg. 3, 21). Die Überzeugung, daß Jesus nicht im Tode geblieben sei, daß er jetzt bei Gott weile und daß er als MessiasMenschensohn wiederkommen werde — ist älter als die christlichen Ostergeschichten. Denn offenbar ist die älteste Gemeinde in Jerusalem auf diese Uberzeugung gegründet worden. Ohne sie wäre dieses Zusammenkommen der ortsfremden Jünger in der Hauptstadt, wäre vor allem der Entschluß zu „christlicher" Predigt in der heiligen Stadt des Judentums schlechthin unverständlich. Was zu erwarten gewesen wäre, sagt deutlich Tacitus (siehe S. 11), wenn er von einer „augenblicklichen Schwächung" der Bewegung Jesu nach dem Tode des Meisters redet. Aber gerade von solcher Schwächung weiß das Neue Testament nichts. Die verschiedenen Ostergeschichten der Evangelien gehören nicht zu dem alten Bestände der Überlieferung. Denn sie lauten in jedem unserer Evangelien anders; und das ist um so auffallender, als in der Leidensgeschichte alle vier Evangelien im großen und ganzen übereinstimmen (siehe S. 26). Es steht also mit den Ostergeschichten ähnlich wie mit den Geburts- und Kindheitsgeschichten (siehe S. 40). Nur e i n e Erzählung macht eine Ausnahme: die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes durch Frauen (oder bei Johannes durch eine Frau) wird von allen Evangelien in annähernder Ubereinstimmung wiedergegeben. Aber diese Grabesgeschichte scheint nicht älter zu sein als das Markusevangelium. Denn Mark. 16, 8 heißt es, daß die Frauen in Angst und Schrecken vom Grabe flohen, „und sie erzählten niemandem etwas, denn sie hatten Furcht". Da das Markusevangelium in den alten Handschriften mit diesem Satz schließt, sollen die Worte offenbar andeuten, daß bisher der Vorgang am Grabe niemandem bekannt war. Wenn also die Uberzeugung von Jesu Auferweckung nicht erst durch die Ostergeschichten bewirkt wurde, wie ist sie dann entstanden? Es ist nicht zu übersehen, daß gewisse Vorbedingungen gegeben waren. Man könnte etwa
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hinweisen auf den pharisäischen Glauben an die kommende Auferstehung der Toten zur Zeit der großen Weltwende. Jesus selbst, so konnte man erwarten, mußte damit den Anfang machen. Man könnte, und vielleicht mit noch größerem Redit, erinnern an den Menschensohn-Glauben. Wenn der Menschensohn kommen sollte auf den Wolken des Himmels, mußte der Menschensohn Jesus aus seiner irdischen Verborgenheit in den Himmel entrückt werden, um dann von da herabzukommen in Herrlichkeit. Diese Gedankenreihe legt nicht, wie die pharisäische, den Nachdruck auf das Verlassen des Grabes, sondern auf das Gehen zum Vater. In der Tat ist damit eine besondere Linie des neutestamentlichen Osterglaubens bezeichnet, im Unterschied von dem Glauben an eine Auferstehung zu einer Art verklärtem Erdendasein (vgl. Luk. 24, 36—43). Jener Gedanke an eine Entrückung wird hervorgehoben, wenn das Johannesevangelium von der Erhöhung Jesu spricht und dabei doppelsinnig Kreuzigung und Himmelfahrt zusammenschließt; oder wenn es vom Hingehen zum Vater redet; oder wenn der Hebräerbrief betont, daß Jesus als der wahre Hohepriester nach der Kreuzigung in das himmlische Heiligtum eingegangen sei. U n d der Auferstandene selbst verkündet bei Lukas (24, 26) diesen Gedanken (freilich ohne Verwendung des Titels Menschensohn): „Mußte der Messias nicht alles dies leiden, um einzugehen in seine Herrlichkeit?" So scheint in dem Glauben an das Kommen Jesu mit den Wolken des Himmels die Auferweckung als Voraussetzung bereits gegeben zu sein — und dieser Glaube lag schon von jeher im Titel Menschensohn. Endlich ist an das Abendmahl zu erinnern. Wenn in ihm eine Gemeinschaft der Jünger mit dem von ihnen getrennten Meister gestiftet wurde, wenn Jesus dabei die H o f f nung aussprach, im Reiche Gottes wieder den Trank der Rebe zu trinken —, dann konnte daraus die Gewißheit erwachsen, daß er nicht im Tode geblieben sei. Aber die neutestamentlichen Berichte zeigen auch, daß mindestens im Augenblick der Entscheidung, da Jesus gefangen und hingerichtet wurde, die Jünger keine Gewiß-
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heit dieser Art hegten. Sie flohen (Mark. 14, 50) und gaben Jesu Sache verloren (Luk. 24, 19—21). Es muß also etwas eingetreten sein, was binnen kurzem nicht nur einen völligen Umschlag ihrer Stimmung hervorrief, sondern sie auch zu neuer Aktivität und zur Gründung der Gemeinde befähigte. Dieses „Etwas" ist der historische Kern des Osterglaubens. Wie es sich vollzogen hat, ist uns nirgends berichtet. Nur Anspielungen und Andeutungen erlauben uns, überhaupt etwas zu sagen. Offenbar haben zuerst Petrus, dann die anderen Jünger, dann auch weitere Anhänger Jesu, auch sein bisher ungläubiger Bruder Jakobus in Visionen den von ihnen geschiedenen Meister lebend und in himmlischer Glorie geschaut. Unser ältester Zeuge, der Apostel Paulus, hat bereits, als er Christ oder als er Missionar wurde (also zwischen 33 und 45), die Uberlieferung erhalten, daß Christus „erweckt ward am dritten Tage nach der Schrift und erschien dem Kephas, danach den Zwölf" (I. Kor. 15, 4. 5). Diese Erscheinung vor Kephas oder Simon Petrus wird auch erwähnt, nicht berichtet, als die zwei Wanderer von Emmaus nach Haus zurückkehren und hören, „daß der Herr wirklich auferstanden und dem Simon erschienen ist" (Luk. 24, 34). Die Joh. 21 erzählte Geschichte von der Erscheinung des Auferstandenen am See Genezareth ist offenbar eine Weiterbildung der alten Überlieferung, die Kephas und die Zwölf als die ersten Osterzeugen bezeichnete; und auch das apokryphe Petrus-Evangelium scheint eine entsprechende Geschichte enthalten zu haben; denn das in Ägypten gefundene Fragment dieses Evangeliums schließt mit dem Gang der Jünger an den See nach ihrer Heimkehr von Jerusalem. Und endlich kann man vermuten, daß die Ankündigungen Mark. 14, 28; 16, 7 mit dem Versprechen, daß Jesus den Jüngern nach Galiläa vorausgehe, auf nichts anderes zielen als auf diese Erscheinungen. Paulus hat I. Kor. 15, 6—8 jener ältesten Osterüberlieferung noch die Erwähnung anderer Erscheinungen angefügt: 5Q0 Brüder, Jakobus, alle Apostel und schließlich er, Paulus, selbst hätten in solcher Weise den Herrn gesehen. Die
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Nennung seines eigenen Bekehrungs-Erlebnisses zeigt, daß Paulus nicht an eine Rückkehr Jesu in ein verklärtes Erdendasein denkt, sondern an ein Sichtbarwerden des in den Himmel erhobenen Herrn. Er weiß offenbar noch nichts davon, daß Jesu Grab leer aufgefunden worden sei. Die Geschichte von den Frauen am Ostermorgen freilich setzt eine wirkliche Auferstehung des begrabenen Leibes voraus. Offenbar sagte diese Überlieferung den Christen mehr als jene Erscheinungsgeschichten, weil die Auferstehung ein Zeichen der letzten Zeit sein sollte; so hat diese Geschichte vom leeren Grab in alle vier Evangelien Aufnahme gefunden. Worauf diese Tradition aber beruhte, wissen wfr nicht; auch nicht, ob die Schilderung von Jesu Begräbnis Mark. 15, 42—47 bereits auf die Geschichte vom leeren Grab abzielt oder selbständige Überlieferung ist. Von Erscheinungen Jesu aber wird auch sonst erzählt: bald ist der Schauplatz ein Haus in Jerusalem (Luk. 24, 36) oder ein Dorf in seiner Nähe (Luk. 24, 13), bald ein Berg in Galiläa (Matth. 28, 16); bald sind es Glieder des Zwölferkreises, die es erleben, bald andere. Es gibt offenbar keine einheitliche maßgebende Uberlieferung, sondern vielfältige Traditionen; aber je vielfältiger sie sind, desto weniger lassen sich jene Erfahrungen alle auf eine Legende reduzieren. Diese Erlebnisse verschiedener Anhänger Jesu an mehreren Orten haben offenbar die älteste Gemeinde in Jerusalem zusammengeführt. Sie halfen die Gewißheit begründen, daß Jesu Leben nicht mit einer Niederlage geendet habe. Sie eröffneten der Gemeinde aber auch die Aussicht, daß die Geschichte ihres Meisters noch nicht zu Ende sei, sondern daß er wiederkommen werde, sein Werk zu vollenden und die Herrschaft Gottes auf Erden zu verwirklichen. Angesichts dieser Hoffnung aber und ihrer im Lauf der Jahrhunderte immer wieder hinausgeschobenen Erfüllung erhebt sich nun zuletzt die entscheidende Frage, ob Jesus wirklich „recht gehabt" habe, ob sein Werk nicht auf einem weltgeschichtlichen Irrtum beruhe. Auch diese Frage ist nicht durch Feststellung der Wissenschaft zu beantworten,
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sondern durch Entscheidung des Glaubens. Aber geschichtliche Besinnung kann die Grenzen abstecken, innerhalb deren eine A n t w o r t möglich ist. Es ist in dieser Darstellung immer wieder betont worden, daß die Verkündigung des kommenden Reiches Gottes die Mitte des Werkes Jesu darstellt. Seine T a t e n nicht nur, auch seine Worte, ja sein ganzes A u f t r e t e n in der Geschichte sind Zeichen des Reiches Gottes. Das Reich ist das Ziel seiner Prophezeiung, die Bereitschaft f ü r das Reith der Inhalt seiner Forderung; seine Verkündung des unbedingten Gotteswillens h a t das K o m m e n des Reiches zur Voraussetzung; die Art, wie er die Menschen vor die Wirklichkeit Gottes stellt, ist begründet in der Aussicht, daß diese himmlische Wirklichkeit demnächst irdische Wirklichkeit werden solle. Wenn das K o m m e n des Reiches nichts anderes bedeutet als kosmische Revolution mit Sonnenfinsternis und Sternenfall am Himmel, Krieg, Abfall und Umsturz auf Erden, schließlich das Kommen des Menschensohnes auf den Wolken und das Endgericht, dann ist die Predigt v o m baldigen Kommen des Reiches ein ungeheurer I r r t u m gewesen. Aber diese „apokalyptischen" Erwartungen sind ja lediglich die Voraussetzungen, die mit der E r w a r t u n g des Reiches verbunden sind, f ü r jene Zeit unlöslich verbunden. Innerhalb des Wirkens Jesu aber treten sie überhaupt nicht hervor. H i e r gibt die Verkündigung des Reiches vielmehr die Möglichkeit, von der Absolutheit Gottes Zeugnis abzulegen: von der Absolutheit seiner Forderung ohne jede Rücksicht auf ihre Erfüllbarkeit innerhalb der menschlichen Verhältnisse; von der Absolutheit seiner Verheißung ohne jede Frage nach ihrer Möglichkeit. Die Wirklichkeit Gottes in all ihrem radikalen Ernst erscheint innerhalb der Zeitlichkeit nur in der Form des Zeichens, und ihr wahrhaftes Zeichen ist die Erscheinung Jesu. Auch hier ist I r r t u m möglich — und hier wird nun die echte Entscheidung des Glaubens oder des Unglaubens gefordert. N u r handelt es sich bei dieser Entscheidung nicht mehr darum, ob man jene apokalyptischen H o f f n u n g e n f ü r
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zutreffend hält, sondern darum, ob man in der Radikalität des Evangeliums und in der Person seines Verkünders das echte Zeichen der Wirklichkeit Gottes erkennt. Wer dies bejaht, der sieht zugleich, daß diese Wirklichkeit in Zeit und Raum noch nicht vorhanden ist; der weiß aber auch, daß sie existiert, und glaubt, daß sie — gleichviel unter welchen Erscheinungen — einmal kommen muß —, sonst wäre Gott nicht Herr der Welt und der Geschichte. Wer aber in der Überlieferung von Jesus dem Christus, wie sie das Neue Testament enthält, das echte Zeichen Gottes erblickt, der weiß zugleich, daß diese Wirklichkeit bereits angehoben hat — eben in dem Geschehen, dessen Niederschlag das Neue Testament ist. Aber es ist ein menschliches Geschehen gewesen, und so gewiß diese Wirklichkeit existiert, so gewiß ist sie noch nicht da. Zwischen dem Ereignis ihres Kommens und dem Ereignis jenes geschichtlichen Anhebens in „Zeichen" liegt das Leben der nachchristlichen Menschheit. Das ist der Sinn der Eschatologie für den Glauben; die Gläubigen stehen in der Welt als „die nichts haben und die doch alles haben". Mehr zu wissen, ist auch dem Glauben verwehrt; er begnügt sich mit dem geschichtlichen Zeichen der Offenbarung in Jesus dem Christus. Es ist ein geschichtliches Zeichen, also ein Stück Menschheitsgeschichte, kein Ausnahmefall im Weltgeschehen. Darin liegt sowohl die Möglichkeit des Unglaubens als auch die Möglichkeit wissenschaftlicher, d. h. kritischer Erforschung dieser Geschichte. Der Unglaube besteht nicht in der Bezweifelung einer oder mehrerer der im Neuen Testament berichteten Dinge. Denn auch wenn sie nicht so geschehen sind, wie es dort dargestellt ist, kann doch das Geschehen und auch der — lückenhafte oder mit Zeitvorstellungen belastete — Bericht Zeichen Gottes sein. Der Unglaube besteht vielmehr in der Weigerung, jenes Geschehen und diesen Bericht als echtes Zeichen der Wirklichkeit Gottes anzuerkennen und daraufhin das Leben zu wagen. Man kann dabei die Evangelien für schöne, gute, interessante und lesenswerte Bücher halten; man kann ihnen und dem
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Mann, von dem sie berichten, alle menschlichen Ehrentitel geben. Alle diese Wertungen berühren die Entscheidungsfrage nicht, ob hier Gott sein Zeichen gibt. Gott kann auch in einem armseligen und uninteressanten Stück Geschichte sich kundgeben; wenn es Gottes Kundmachung ist, gibt ihr dies einen Wert über alle bedeutungsvollen und interessanten Begebenheiten der Geschichte hinaus. Und in jedem Fall — auch für den Glauben — bleibt es Menschheitsgeschichte und bleiben die Berichte Menschen werk: also lückenhaft, irrtumsbelastet, und schon infolge der menschlichen Sprache nicht in allem letztlich durchschaubar. Als menschliche Berichte von menschlichem Geschehen sind sie der Forschung zugänglich. Die Forschung löst keine Entscheidungsfragen, die nur vom Glauben zu beantworten sind. Aber da der Glaube in einem Stück Geschichte Zeugnis und Bürgschaft Gottes sieht, hat er das Bedürfnis, dieses Stück Geschichte möglichst deutlich vor sich zu sehen. Und da dieses Stück Geschichte durch den Glauben zu einem geschichtlichen Faktor von unerhörter Fernwirkung geworden ist, gehört ihm die Anteilnahme aller, die Geschichte und Geschick der Menschheit überdenken. Denn auch das künftige Geschick der Menschen wird zum guten Teil dadurch bedingt sein, wie der Kampf zwischen Glaube und Unglaube — beide Worte in dem soeben bezeichneten christlichen Sinn genommen — sich gestaltet, wann und in welcher Weise er sich entscheidet. An der Geschichte Jesu entschied sich einst das Schicksal des Judentums. Die neutestamentliche Lebenswelt, Folge und Wirkung jener Geschichte, ward ein Faktor bei der Gestaltung des Abendlandes. Reformation, angelsächsische Erweekung, Pietismus und viele andere Bewegungen waren ein Appell von der existierenden Kirche an die Kräfte jener ersten Geschichte des Christentums. Immer wieder ging von der Geschichte Jesu der Aufruf zur Entscheidung aus. Wer den beständigen Kampf um das Christentum ernst nimmt, weiß, ob Freund oder Feind, davon zu sagen, daß dieser Aufruf nicht verstummt ist.
123 Nachträge Von Werner Georg Kümmel 1. Eine neue Evangelienquelle? (zu S. 13 f.). Zu den bisher bekannten Bruchstücken apokrypher Evangelien ist neuerdings eine umfangreiche Sammlung von Jesusworten gekommen, das „Thomasevangelium", das in koptischer Sprache in einer Papyrushandschrift in Nag Hamädi in Ägypten 1945/46 gefunden wurde und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt (vollständige deutsche Übersetzung von ]. Leipoldt in: J . Leipoldt und H.-M. Schenke, Koptisch-gnostische Schriften aus den Papyrus-Codices von Nag-Hamädi, Theologische Forschung 10, 1960 und von E. Haenchen in: K. Aland, Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 1964, S. 517 ff.). Das „Evangelium" (sämtliche Sprüche der oben S. 18 genannten Papyrusblätter finden sich auch in dem neuen Text!) ist eine Sammlung von etwa 114 unverbunden nebeneinander gestellten Jesusworten, von denen ein Teil zweifellos häretische Gedanken ausdrückt, die mit der ältesten Jesustradition nichts zu tun haben. Aber ebenso sicher ist, daß manche der hier überlieferten Sprüche an Worte Jesu in den drei ersten Evangelien erinnern, so daß die Ansicht vertreten werden konnte, es seien in dieser Quelle auch echte Jesusworte erhalten, die die kanonische Evangelienüberlieferung nicht bewahrt hat. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, daß höchstens ganz vereinzelt einige der hier aufgezeichneten Jesusworte auf eine alte, den kanonischen Evangelien parallele Überlieferung zurückgehen und darum eine ältere Überlieferungsstufe eines kanonischen Jesuswortes voraussetzen könnten, und in die älteste Überlieferung zurückgehende bisher unbekannte Jesusworte sind nicht sicher nachgewiesen. Im ganzen hilft diese neue Quelle auch nur, die Geschichte der Überlieferung klarer zu sehen und die Kräfte besser zu erkennen, die bei der Umbildung der einzelnen Worte am Werke waren. Die einzigen sicher alten Quellen der Überlieferung der Jesusworte sind daher nach wie vor die drei ersten Evangelien.
124 2. Johannes Qumran
Nachträge
der Taufer, Jesus und die Gemeinschaft (zu S. 36 ff., 43 f., 110).
von
Wichtiger für die geschichtliche Betrachtung Jesu als der Fund der koptischen Sammlung von Jesussprüchen sind die Funde, die seit 1947 (oder schon 1945) am Nordende des Toten Meeres gemacht worden sind und als die „Handschriften vom Toten Meer", die „Qumran-Funde" oder dergl. bekanntgeworden sind. Die Tagespresse aller Länder hat sich dieses Stoffes angenommen, zahlreiche Aufsätze in allgemeinverständlichen Zeitschriften, Taschenbüchern und populären Schriften aus der Hand von Fachleuten und Dilettanten sind erschienen, und die wissenschaftliche Literatur zu diesen Entdeckungen hat einen solchen Umfang angenommen, daß nur noch Spezialisten sie überblicken können. Die Ursache für dieses Interesse ist freilich nicht in erster Linie der zweifellos sensationelle Sachverhalt, daß hier eine große Anzahl von Handschriften und Handschriftenfragmenten gefunden worden ist, die alttestamentliche Bücher, schon bekannte jüdische Apokryphen und völlig unbekannte sektiererische Texte aus dem Besitz einer vorchristlichen jüdischen Gruppe wiedergeben, Ongi«