Minna Kautsky, Auswahl aus ihrem Werk [Reprint 2021 ed.]
 9783112578544, 9783112578537

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M I N N A KAUTSKY AUSWAHL AUS IHREM WERK

TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN DEUTSCHLAND

Herausgegeben von PROFESSOR DR. BRUNO KAISER DR. M A N F R E D HÀCKEL . DR. URSULA

Herwegh-Ausgabe der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

B A N D IV

MÜNCHOW

M I N N A KAUTSKY AUSWAHL AUS IHREM WERK

Herausgegeben

von

CACILIA FRIEDRICH

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1965

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3-4 Copyright I?6J by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer:

2 0 1 • 100/170/6J

Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Werkdruck Gräfenhainichen 2346 Bestellnummer: 2119/IV • E S 7 E • Preis: M D N 19,50

INHALT

VII i

Einleitung Stefan vom Grillenhof Die Assentierung

15

Die Alten und die Neuen Die Salzarbeiter

39

Victoria Die Spinnfabrik Proletarier und Handwerker Streikszene

58

Helene Im Lazarett Beim Versand des „Sozialdemokrat" Unter russischen Revolutionären Der rote Postmeister und Schloß Wyden

106

Im Vaterhause Der Wahltag

123

Ein Maifesttag

155

Anmerkungen zur Einleitung

157

Anmerkungen zu den Texten

163

Bibliographie der Werke Minna Kautskys

165

Briefe von, an und über Minna Kautsky

167

Schriften und Hinweise über Minna Kautsky

EINLEITUNG

Das Werk Minna Kautskys ist nicht nur ein Bestandteil der deutschen, sondern auch der österreichischen Literatur 1 . Die Mutter Karl Kautskys verbrachte den größten Teil ihres Lebens in Wien, und ihre Romane, Erzählungen und Dramen spiegeln überwiegend österreichische Verhältnisse wider. Es wäre andererseits jedoch verfehlt, sie lediglich als österreichische Schriftstellerin anzusehen. Zwischen der deutschen und der österreichischen Arbeiterbewegung bestanden im 19. Jahrhundert enge Beziehungen; Minna Kautsky war nicht nur mit der Arbeiterbewegung ihrer Heimat, sie war auch mit der deutschen Arbeiterbewegung verbunden, einmal durch die politische Tätigkeit ihres ältesten Sohnes, zum anderen durch ihre persönlichen Beziehungen zu August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Franz Mehring und Rosa Luxemburg. Sie schrieb nicht allein für die österreichischen Arbeiter, sie hat alle ihre Werke auch in Deutschland — meist sogar eher als in Österreich — erscheinen lassen, und das zeigt, welchen Wert sie auf die deutschen Leser legte. Minna Kautsky — am 11. Juni 1837 in Graz geboren — entstammte einer kleinbürgerlichen Familie. Ihr Vater, Anton Jaich, war als Dekorationsmaler am Grazer Landestheater beschäftigt, und durch diesen Beruf wurde auch die häusliche Atmosphäre in der Familie bestimmt. Minna lernte früh das Theater kennen und zeigte bald eigene schauspielerische Fähigkeiten. In Prag — wohin die Familie übergesiedelt war — begann sie 1851 ihre Laufbahn am Niklastheater, das als Übungsbühne einen guten Ruf hatte. Hier lernte Minna auch den Theatermaler Johann Kautsky kennen, mit dem sie sich im Januar 1854 verheiratete. Minna war sechzehn, Johann sechsundzwanzig Jahre alt, beide waren „blutjung und blutarm, aber voll Vertrauen" VII

in ihre „Talente", wie Minna Kautsky 1909 in einer autobiographischen Skizze schrieb2. Eine Familie, die allein auf dieses Vertrauen gebaut war, konnte freilich nur schwer bestehen. Johann Kautsky hatte lange keine feste Anstellung; seine Frau mußte als Schauspielerin zum Lebensunterhalt beitragen. Das wurde dadurch erschwert, daß sie bald Mutter von vier Kindern war 3 . Trotzdem trat sie mit Erfolg auf, in Olmütz, in Sondershausen, am Hoftheater von Mecklenburg-Strelitz und schließlich an der tschechischen Nationalbühne in Prag. Dabei lernte sie die Freuden und mehr noch die Leiden des Schauspielers kennen, die Not desTheaterproletariats. Diese Erfahrungen fanden später Eingang in manche ihrer Dichtungen. So hat sie in den Romanen „Herrschen oder Dienen" und „Im Vaterhause" und auch in einem Aufsatz „Das deutsche Theater der Neuzeit" harte Kritik an den Theaterverhältnissen ihrer Zeit geübt. Durch ein Lungenleiden wurde Minna Kautsky gezwungen, die Bühne zu verlassen, noch ehe sich ihr nicht imbedeutendes Talent hatte voll ausbilden können. Glücklicherweise erhielt Johann Kautsky als Dekorationsmaler am Wiener Burgtheater, an dem damals Heinrich Laube Direktor war, eine Anstellung. 1863 übersiedelte die Familie nach Wien, wo Minna Kautsky dann bis 1904 lebte. Ihre Familie kam, wie Karl Kautsky in seinen Erinnerungen schrieb, zu einem „soliden, bürgerlichen Wohlstand" 4 . 1871 hatte Johann Kautsky mit seinen Söhnen Fritz und Hans eine Hoftheatermaler-Firma gegründet, die bald internationales Ansehen erlangte. Die Kautskys erhielten Aufträge zum Anfertigen von Dekorationen nicht nur von deutschen und österreichischen Theatern, sondern auch aus New York, London und Petersburg5. Von 1904 an wohnte Minna Kautsky in Berlin. Im Hause ihres Sohnes Karl verbrachte sie ihre letzten Lebensjahre, geistig noch rüstig und gelegentlich auch noch schriftstellerisch tätig6. Gestorben ist sie am 20. Dezember 1912. Die Anfänge von Minna Kautskys schriftstellerischem Werk fallen in die Zeit um 1870. Ihre erste literarische Arbeit erschien in einer Brünner klerikalen Lokalzeitung, den „Stimmen aus Mähren". Ihr Schaffen wurde aber erst VIII

bedeutungsvoll, nachdem sie in der Periode des Aufschwungs der österreichischen Arbeiterbewegung während der siebziger Jahre mit den Ideen des Sozialismus bekannt geworden war und dann auch den Weg zur organisierten Arbeiterklasse fand. Beides geschah offensichtlich unter dem Einfluß ihres Sohnes Karl, der sich Anfang 1875 dem radikalen Flügel der österreichischen Sozialdemokratie anschloß. Die Mutter war Karls „Vertraute, mit ihr besprach" er die „sozialistischen Ideen". Durch ihn „wurde sie mit ihnen bekannt und immer mehr für sie gewonnen, ja begeistert" 7 . In ihrer autobiographischen Skizze schrieb sie selbst: „Eine herrliche Zeit begann, alles erschien in einem helleren Licht, neue Energien erwachten, das Leben gewann an Schönheit und Bedeutung . . . Ich fing zu schreiben an, ich hatte etwas zu sagen" 8 . Die Entwicklung Minna Kautskys als Schriftstellerin vollzog sich also gleichzeitig mit ihrer politischen Entwicklung. Sie wurde dadurch erschwert, daß es damals weder in Deutschland noch in Österreich eine ausgebildete epische Literatur der Arbeiterklasse gab. Minna Kautskys Leistung für die deutsche und für die österreichische Literatur bestand gerade darin, nach August Otto-Walster und neben Robert Schweichel zum Entstehen einer epischen sozialistischen Dichtung beigetragen zu haben.Dabei mußte sich notwendigerweise als Hemmnis auswirken, daß weder die deutsche noch die österreichische Sozialdemokratie bewußt eine marxistische Kulturpolitik betrieben, obwohl deren Grundsätze von Marx und Engels bereits ausgebildet worden waren. Allerdings haben alle die Führer des Proletariats, mit denen Minna Kautsky bekannt wurde und vielfach befreundet war — Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Victor Adler, Franz Mehring, Rosa Luxemburg und andere —, ihr literarisches Wirken unterstützt und gefördert. Von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts an war Minna Kautsky in der österreichischen und deutschen Arbeiterbewegung eine der populärsten Schriftstellerinnen. Sie hat eine solche Wirkung ohne Zweifel bewußt angestrebt: Sie wollte in ihren Werken Partei für das Proletariat ergreifen und ihren Lesern sozialistische Vorstellungen vermitteln. An Franz Brümmer, der sie für IX

sein literarisches Lexikon um ihre Biographie gebeten hatte, schrieb sie 1883, daß ihre Werke Ausdruck ihrer Weltanschauung sein sollten. „Wer diese nicht theilt, mag sie immerhin ignorieren, aber er darf sie nicht von meiner Persönlichkeit trennen, denn ich stehe mit meinem ganzen Ich für dieselbe ein" 9 . Die Wirkung der Romane und Erzählungen Minna Kautskys ist auf ihre Stoffe und ihre Tendenz zurückzuführen. Sie trugen dazu bei, der deutschen und der österreichischen Literatur neue poetische Bereiche zu erschließen: das Leben und den Kampf der Arbeiterklasse — Bereiche also, die von den bürgerlichen Dichtern nicht beachtet wurden und auch nur dann wirklichkeitsgetreu, realistisch hätten dargestellt werden können, wenn sie sich wie Minna Kautsky auf den Standpunkt des revolutionären Proletariats gestellt, ihren Werken eine sozialistische Tendenz gegeben hätten. Auch Minna Kautsky ist das nicht sofort und nicht in allen ihren Werken gelungen, am wenigsten in ihren Dramen, von denen sich nur eins — „Madame Roland" (1878) — gedruckt erhalten hat. In ihren ersten Werken, besonders in dem Roman „Herrschen oder Dienen" (1881), und in einer Reihe späterer Erzählungen („Später", 1891; „Das Kloster in den Lagunen", 1899, u. a.), beschränkte sie sich auf eine kritische Schilderung des kleinbürgerlichen und bürgerlichen Lebens. In ihnen suchte sie, nach einer Formulierung von Engels, durch die Schilderung der wirklichen Verhältnisse den Optimismus der bürgerlichen Welt zu erschüttern, Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden zu wecken. Einen ersten Höhepunkt erreichte ihr Schaffen mit dem Roman „Stefan vom Grillenhof" (1879), der von der Familie Marx und auch von Engels sehr geschätzt wurde 10 . Seine weltanschauliche Aussage ist im wesentlichen noch durch die Lehren Charles Darwins bestimmt worden. Immerhin hat Minna Kautskys Bekanntschaft mit der Arbeiterbewegung doch schon dazu geführt, daß der Kritik an der Moral der herrschenden Klasse Österreichs die Darstellung des Verhaltens von Gestalten aus den unteren Volksschichten entgegengestellt ist. Bedeutungsvoll ist ferner, daß durch das Einbeziehen des Krieges X

von 1866 in die Romanhandlung eine wichtige nationale Thematik aufgegriffen wurde. Das Schicksal der Gestalten aus den unteren Schichten konnte dadurch mit dem Geschick ihres Volkes verknüpft werden. Minna Kautskys künstlerische Schilderung umfaßt die Stellung der herrschenden und der unterdrückten Klassen zum Krieg. Zugleich haben die Kriegsereignisse selbst eine eindrucksvolle Wiedergabe gefunden. Minna Kautsky wird hierin auch nicht durch Bertha von Suttner übertroffen, die im 4. Buch ihres berühmten Werkes „Die Waffen nieder!" (1889) den Krieg von 1866 beschreibt. Minna Kautsky hat die Darstellung des Krieges in eine spannende Romanhandlung eingebaut, Bertha von Suttner berichtet nur über ihn, wobei sie lediglich Auswirkungen des Krieges auf Menschen aus den höheren Gesellschafttschichten erfaßt hat. Sie schreibt selbst am Ende ihres Buches, daß sie, die „reiche, hochgestellte" Frau, wenig von den Leiden wußte, die der Krieg für das Volk mit sich brachte 11 . Minna Kautsky dagegen schildert eindrucksvoll, welches Leid der Krieg den einfachen Menschen bringt. Es ist ihr gelungen, die Auswirkungen des Krieges auf das menschliche Subjekt darzustellen; sie hat damit „eine wichtige Komponente der ästhetischen Aufgabe der Kunst" erfüllt 12 . Ende der achtziger Jahre, unter dem Eindruck der Formierung der österreichischen Sozialdemokratie zu einer marxistischen Partei und des heroischen Kampfes der deutschen Arbeiterbewegung gegen das Sozialistengesetz, konnte Minna Kautsky den Schritt zur Dichtung sozialistischen Charakters vollziehen. Jetzt versuchte sie, in ihren Romanen und Erzählungen — vor allem in „Die Alten und die Neuen", „Victoria", „Helene" und „Ein Maifesttag" — die kritische Schilderung des Lebens der herrschenden Klassen und des Kleinbürgertums mit der Darstellung des Lebens und des Klassenkampfes des Proletariats zu verbinden. Besonders an der künstlerischen Behandlung der Frauenfrage erwies sie sich — innerhalb der ihr historisch gesetzten Grenzen — als eine Schriftstellerin der Arbeiterklasse. Zum ersten Mal hat Minna Kautsky in dem Roman „Die Alten und die Neuen" die Arbeiterbewegung in die HandXI

lung einbezogen. Ein Exemplar dieses Buches sandte sie an Friedrich Engels mit einer persönlichen Widmung: „Friedrich Engels in herzlicher Zuneigung und Verehrung — Minna Kautsky. Möge meine Arbeit Sie in irgend einer Weise ansprechen und erfreuen, sie würde mir dann selbst verdeutlicht erscheinen"13. Engels hat dann in seiner Antwort an dem Roman die Schilderung der Salzbergarbeiter und der Wiener Gesellschaft sowie die Typisierung einiger Gestalten gelobt, dagegen die unzureichende Motivierung, die Idealisierung der Hauptgestalten Elsa und Arnold und die unkünstlerische Art der Parteinahme kritisiert. Seinen Bemerkungen wäre hinzuzufügen, daß die Bilder aus dem Leben der Salzarbeiter im wesentlichen die Funktion eines Kontrastes zur Schilderung der Wiener Gesellschaft haben. Die Kritik an der Bourgeoisie und der Aristokratie ist — und das gilt für das gesamte Werk Minna Kautskys — künstlerisch nicht überzeugend ausgedrückt. Bürgerliche Dichter wie Theodor Fontane oder Marie von EbnerEschenbach, mit der Minna Kautsky persönlich bekannt war, haben eine weit differenziertere und deswegen auch kritischere Darstellung des Adels und des Bürgertums erreicht. Minna Kautsky konzentrierte sich einseitig darauf, die moralische Verkommenheit der herrschenden Klassen zu zeigen. In fast allen ihren Werken taucht die oberflächlich typisierte Figur eines reichen Lebemannes auf. Die Gestalten, mit denen sie die Darstellung der sich gegenüberstehenden Klassen und Schichten kompositorisch verknüpfen wollte, brachte sie in private Beziehungen, und zwar immer wieder mit dem einfachen Mittel der Verführungsgeschichte, das von den Unterhaltungsschriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts bereits ausgiebig benutzt worden war. Mit welchen Empfindungen Minna Kautsky die Kritik von Engels aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Fest steht aber, daß sie aus ihr zu lernen suchte. In ihrem Antwortbrief an Engels vom 10. 5. 1886 ging sie allerdings nur oberflächlich auf seine kritischen Bemerkungen ein: „Erst heute will ich Ihnen danken für Ihren herrlichen Brief . . . , in dem Sie einen so herzlichen warmen Ton anschlagen, dann wieder so liebevoll meine Arbeiten XII

zergliedern und einer eingehenden Kritik werth halten." Ihr Brief „war das liebste, inhaltsreichste, und da er von einem solchen Manne herrührte, auch das schmeichelhafteste, der mir Zeit meines Lebens zugekommen war . . ." « Schon vor der Übersendung ihres Romans „Die Alten und die Neuen" hatte Minna Kautsky während eines Besuches in London im Sommer 1885 ausgiebig mit Engels über Literatur und besonders über ihr eigenes Schaffen gesprochen. Engels hatte ihr empfohlen, Balzac zu lesen, und Minna Kautsky hat diesen Rat befolgt. A m 21. 8.1885 schrieb Karl Kautsky an Engels, daß es seine Mutter unendlich freue, daß er sie auf Balzac hingewiesen habe, „sie ist ganz überrascht und begeistert von seiner feinen Beobachtungsgabe" 1 5 . In ihren folgenden Werken war die Schriftstellerin deutlich bemüht, die von Engels bezeichneten Schwächen der literarischen Gestaltung zu überwinden. Das ist ihr freilich nicht in jeder Hinsicht voll geglückt. So hat sie Franzel, eine der Hauptgestalten des Romans „Victoria" (1889), in ähnlicher Weise idealisiert und überhöht wie die Gestalt Elsas in „Die Alten und die Neuen". A n Franzel demonstrierte sie, wie sie das auch an Gestalten aus anderen Werken tat, ihre Auffassung, daß im Proletariat, im einfachen Menschen bedeutende Fähigkeiten ruhen und nur der Erweckung durch entsprechende Verhältnisse bedürfen. Durch diese Ansicht, der Minna Kautsky übergroße Bedeutung zumaß, wurde sie verführt, eine echte Entwicklung ihrer Gestalten zu vernachlässigen. Ihre Gestalten entwickeln sich häufig nicht, sie entfalten bei veränderten, günstigen Umweltbedingungen nur Kräfte, über die sie schon immer verfügten. Ein weiterer Grund dafür, daß Minna Kautsky die Darstellung des Proletariats nur in einigen Werken und auch in diesen ästhetisch nicht völlig bewältigt hat, ist in der Wahl der Helden zu suchen. Sie bezieht wohl bewußt das Leben der Arbeiterklasse oder die Arbeiterbewegung in die Erzählhandlung ein, stellt aber nur selten proletarische Helden in den Mittelpunkt. Vom Klassenkampf wird häufig nur berichtet, er wird nur selten unmittelbar gestaltet. Infolgedessen entspringt die Tendenz nicht aus XIII

der Situation und Handlung, es muß ausdrücklich auf sie hingewiesen werden. In dem Roman „Victoria" wünschte man sich die Handlung um den Maler Eugen Oswald mehr in den Hintergrund gedrängt zugunsten der Nebenhandlungen, die im proletarischen und kleinbürgerlichen Milieu spielen. Diese sind schon deswegen bedeutungsvoller als die Haupthandlung, weil Minna Kautsky in ihnen ihrer Einsicht in die ökonomischen Bewegungsgesetze des Kapitalismus Ausdruck gegeben hat. Sie hat hier den Prozeß des Niedergangs der kleinen Handwerker, ihre Ruinierung durch die großen Fabriken weitaus richtiger zu erfassen vermocht als Max Kretzer in seinem bekannten Roman „Meister Timpe". Vor allem hat sie gezeigt, wozu keiner der naturalistischen Schriftsteller in der Lage war, daß die Handwerker nur dann eine Perspektive haben, wenn sie sich mit dem Proletariat verbünden. Die Nebenhandlungen des Romans „Victoria" machen deutlich, daß sich Minna Kautsky mit den Grundzügen des Marxismus, der Weltanschauung des revolutionären Proletariats, vertraut gemacht hat, ohne die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus völlig zu meistern. In „Helene" (1894) stellte Minna Kautsky die Entwicklung einer Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zur Sozialdemokratin dar. Die Wahl einer solchen Heldin brachte es mit sich, daß in diesem Roman die Schilderung der Arbeiterbewegung nicht in Nebenhandlungen, sondern verknüpft mit der Haupthandlung erfolgt. Auffallend gegenüber den anderen Erzählungen und Romanen Minna Kautskys ist auch, daß bei der Charakterzeichnimg jede falsche Idealisierung vermieden und die Entwicklung der Charaktere — vor allem der Helenes selbst — ausreichend motiviert ist. Im 1. Buch des Romans, das Helenes Leben in der „höheren Gesellschaft" beschreibt, wurden allerdings wiederum die abgegriffenen, kitschigen Mittel des Kolportageromans benutzt. Das tägliche Leben der Arbeiter wird auch in „Helene" nicht behandelt, nicht einmal in dem Maße wie in „Die Alten und die Neuen" und in „Victoria". Die Heldin findet ihren Weg zur Sozialdemokratie nach den erschütternden Erlebnissen, die sie als Schwester im russisch-türkischen XIV

Krieg von 1877/1878 hatte, infolge propagandistischer Beeinflussung durch ihre Freunde und direkter Berührung mit der Arbeiterbewegung. Zum Unterschied von allen anderen Werken Minna Kautskys handelt es sich dabei nicht um die österreichische, sondern um die deutsche und die russische sozialistische Bewegung. Helene nimmt schließlich in Zürich an der politischen Arbeit der deutschen Sozialdemokratie teil, sie hilft beim Versand des illegalen Zentralorgans und bei der Betreuung der Delegierten des geheimen Parteitages auf Schloß Wyden. In diesen Teilen des Romans, im 3. Buch, tritt der berühmte „rote Postmeister", Julius Motteier, mit seiner Frau auf. Friedrich Engels wurde dadurch in einem Brief an Sorge zu einer scharfen kritischen Äußerung über den Roman veranlaßt. Sie hat offenbar ihren Grund in Engels' unbedingter Ablehnung einer jeden Art von Personenkult, ist aber von ihm wohl kaum als eine Gesamteinschätzung des Romans gedacht gewesen 16 . In kompositorischer Hinsicht zeichnet sich der Roman dadurch aus, daß alles Geschehen in Beziehung zur Entwicklung der Heldin steht. Lediglich die Darstellung des Lebens der emigrierten russischen Revolutionäre verschiedener Richtungen in Zürich gewinnt eine gewisse Eigenstellung; für die Motivierung der Entwicklung Helenes wäre sie in dieser Breite nicht erforderlich gewesen. Insgesamt gesehen hat Minna Kautsky in dem Roman „Helene" eine vollkommenere literarische Gestaltung erreicht als in ihren früheren Werken. Natürlich läJ3t sich auch dieser Roman nicht „in den Kleinodienschrein klassischer Literatur" — um ein Urteil Franz Mehrings zu zitieren — einordnen 17 , aber er berechtigt durchaus, Minna Kautsky als eine echte Volksschriftstellerin zu bezeichnen, wie das Clara Zetkin tat 1 8 . Daß es Minna Kautsky weder in „Helene" noch in einem anderen Werk gelang, das Leben der Aristokratie und der Bourgeosie realistisch zu gestalten, hängt zweifellos mit der eigenen Entwicklung zusammen. Es war der Schriftstellerin nicht gegeben, das Wesen eines ihr fremden und widerwärtigen Lebensbereiches zu erfassen und künstlerisch widerzuspiegeln. Bei jedem Versuch verfiel sie in den Gebrauch der abgenutzten Mittel der UnterhaltungsXV

literatur ihrer Zeit. Ihr eigenes soziales Milieu und das der unteren Volksschichten in Stadt und Land, mit dem sie auf vielfältige Weise verbunden war, konnte sie dagegen überzeugend darstellen. Häufig haben dabei eigene Erlebnisse als Ausgangspunkt gedient. Ihre größten Leistungen liegen dort, wo sie den — von ihr selbst beschrittenen — Weg eines Menschen schilderte, der zu der Erkenntnis kommt, daß die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geändert werden müssen, und sich der Arbeiterbewegung anschließt. Diese Entwicklung zu zeigen, ist ihr nicht nur bei kleinbürgerlichen Frauengestalten, sondern auch bei proletarischen Menschen gelungen. Die Handlung des Romans „Im Vaterhause" (1904) ist fast ausschließlich durch autobiographische Momente bestimmt. Die zum Abdruck im folgenden Textteil ausgewählten Abschnitte bilden keinen so unmittelbaren Bestandteil der Handlung wie die Stellen aus „Stefan vom Grillenhof", „Die Alten und die Neuen", „Victoria" und „Helene". Man spürt deutlich die agitatorische Absicht, aus der heraus die Schriftstellerin eine ihrer Heldinnen nach schweren persönlichen Enttäuschungen zufällig in eine Wahlversammlung geraten läßt. Luises Schicksal erfährt dadurch eine Wandlung, die vorher kaum motiviert wurde. Vom fehlenden Zusammenhang mit der Haupthandlung abgesehen, vermitteln die Kapitel, in denen die Wiener Gemeindewahl dargestellt ist, ein eindrucksvolles Bild vom Kampf der österreichischen Arbeiterklasse. In „Die Alten und die Neuen", „Victoria" und auch in einigen bisher nicht erwähnten Erzählungen wie „Die Brillanten des Kardinals", „Der Pariser Garten" und „Poldl der Zimmermann" wird dieser in seinen Anfängen oder es wird das Erwachen des Klassenbewußtseins gezeigt. In dem Roman „Im Vaterhause" erscheint das organisierte Proletariat, das seinen Kampf unter der Leitung einer marxistischen Partei führt. Es ist erfüllt von dem Bewußtsein seiner historischen Mission, mit deren Erfüllung allein das Glück der gesamten Nation zu erreichen ist. Die Erzählung „Ein Maifesttag" schließt sich insofern an die Wahlkapitel aus dem Roman „Im Vaterhaus" an, als hier wieder ein Höhepunkt im Ringen der österXVI

reichischen Arbeiterbewegung den Hintergrund der Handlung bildet. Von den reportagehaften Stellen abgesehen, ist die Erzählung das einzige Werk, mit dem Minrta Kautsky noch einmal das literarische Niveau des Romans „Helene" erreichte. Zugleich handelt es sich um das einzige Werk Minna Kautskys, das stofflich und thematisch völlig im Leben des kämpfenden Proletariats wurzelt und dabei ein individuelles Schicksal — die unglückliche Liebe der Heldin — nicht isoliert, sondern in seiner Wechselbeziehung mit dem Geschick der gesamten Klasse wiedergibt. „Ein Maifesttag" reiht sich der großen Zahl von Liedern, Gedichten, Festspielen und Theaterstücken an, die von sozialdemokratischen Schriftstellern zur Feier des 1. Mai geschrieben wurden. Diese Werke haben, obwohl der Gründungskongreß der II. Internationale 1889 in Paris den 1. Mai als proletarischen Kampftag proklamiert hatte, durchaus nicht alle einen revolutionären Charakter. Viele von ihnen sind Ausdruck der opportunistischen Ideen, die von der Jahrhundertwende an mehr und mehr Einfluß in der deutschen und auch in der österreichischen Arbeiterbewegung gewannen. Minna Kautskys Mai-Erzählung hat dagegen eine revolutionäre Tendenz. Selbstverständlich demonstrieren in ihr die Wiener Arbeiter unter den Losungen, die damals ihre Partei herausgab. Sie demonstrieren für den Achtstundentag und das allgemeine Wahlrecht. Sie wissen aber, daß beide Forderungen nicht die letzten Ziele der Arbeiterklasse ausdrücken. „Sie waren Revolutionäre alle miteinander . . .", heißt es von ihnen 19 . Diese Aussage läßt erkennen, daß Minna Kautsky auch im Alter beim schriftstellerischen Schaffen noch das gleiche Ziel verfolgte wie mit ihren Werken aus den achtziger Jahren. Sie wollte zur politischen Erziehung ihrer Leser beitragen. Mit der Erzählung „Ein Maifesttag" ist ihr das in noch höherem Grade gelungen als mit den meisten ihrer früheren Werke. Die Erzählung wurde 1906 geschrieben und Anfang 1907 im „Illustrierten Neue-Welt-Kalender" veröffentlicht, zu einer Zeit also, da die opportunistischen Kräfte bereits großen Einfluß gewonnen hatten. Sie versuchten sowohl 2

Minna Kautsky

XVII

in Deutschland als auch in Österreich, die Sozialdemokratie aus einer revolutionären Partei in eine Reformpartei zu verwandeln, die ihre Ziele mit dem Stimmzettel erreichen sollte. Die russische Revolution von 1905 — über deren Charakter und Verlauf Minna Kautsky sicherlich viel von Rosa Luxemburg, zu der sie fast ein mütterliches Verhältnis hatte, gehört hat — wurde von ihnen als ein Ereignis bezeichnet, das lediglich für Rußland beispielhafte Bedeutung hätte. In Österreich bekamen die opportunistischen Kräfte noch dadurch Aufschwung, daß die Regierung Ende 1906 endlich das allgemeine Wahlrecht hatte gewähren müssen 20. Dieses Ereignis war höchstwahrscheinlich der äußere Anlaß dafür, daß Minna Kautsky aus der Erinnerung heraus eine Episode aus dem Kampf um das Wahlrecht gestaltete. Zugleich spiegelt die Erzählung aber auch den Eindruck wider, den die russische Revolution auf die linken Kräfte in der deutschen und der österreichischen Arbeiterbewegung machte. Am Schluß der Erzählung wird klar zum Ausdruck gebracht, daß der Sieg des Proletariats nur durch die Anwendung revolutionärer Gewalt zu erreichen ist. — Minna Kautsky war in den Jahren, als der Roman „Im Vaterhause" und die Erzählung „Ein Maifesttag" erschienen, immer noch eine außerordentlich populäre Schriftstellerin, allerdings nur bei proletarischen Lesern. Bürgerliche und kleinbürgerliche Leser haben kaum zu ihren Werken gegriffen, und auch bürgerliche Schriftsteller sind durch sie kaum beeinflußt worden. Minna Kautsky ging es in dieser Hinsicht nicht anders als allen anderen sozialistischen Schriftstellern ihrer Zeit. Im Grunde genommen gibt es kein größeres Lob für sie als das, was Marie Kunert zu ihrem 70. Geburtstag formulierte: „ E s dürfte kaum eine sozialdemokratische Familie geben, welcher der Name Minna Kautskys nicht wohl vertraut wäre. Man kennt sie allerorten, wo sozialistische Tageszeitungen, wo die ,Neue Zeit' und die ,Neue Welt' gelesen werden" 21 . Tatsächlich ist die Zahl der Nachdrucke ihrer Werke in der Arbeiterpresse kaum übersehbar. Ihre Romane und Erzählungen gehörten außerdem in jeder Arbeiterbibliothek zum unentbehrlichen Bestand; sie wurden immer wieder verlangt. XVIII

Erst gegen Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts verlor das Werk Minna Kautskys zunehmend an Bedeutung und Wirkung. Das zeigt sich an dem mißlungenen Versuch der Nürnberger Fränkischen Verlagsanstalt, kurz nach ihrem Tode eine Gesamtausgabe ihrer Werke zu veranstalten22. Minna Kautsky war eine der wenigen aus dem Kleinbürgertum stammenden Schriftstellerinnen, die bereits in der Periode der Sammlung der proletarischen Kräfte, in der Zeit der Vorbereitimg der großen Klassenschlachten des 20. Jahrhunderts, entschlossen an die Seite der revolutionären Arbeiterklasse traten. Sie war „eine echte Kämpferin" schrieb Franz Mehring nach ihrem Tode. „ . . . ihre Werke werden dauern . . . in dem großen Schatzhaus, das die menschlichen Zeugnisse des Befreiungskampfes birgt, den mitzukämpfen ihre Freude und ihr Stolz war" 23 .

2*

STEFAN VOM GRILLENHOF

Stefan vom Grillenhof ist der Sohn eines österreichischen Bauern. Er ist zusammen mit Franz Brummer von seinem Großvater Dietrich, einem Teilnehmer an der Revolution von 18481184g, in freiheitlichem Geist erzogen worden. Als junger Mann findet er Anschluß an einen Naturforscher, der ein Anhänger der Lehren Darwins ist und — von der österreichischen Regierung aus seinem akademischen Lehramt vertrieben — in ländlicher Abgeschlossenheit Studien über die Entwicklung der Tierwelt treibt. Professor Wüst erkennt Stefans Begabung und fördert ihn. Stefan will sich auf ein Studium vorbereiten, wird aber zur Armee ausgehoben und kehrt aus dem Kriege gegen Preußen im Jahre 1866 als Krüppel zurück. Sein Freund Brummer ist an den Strapazen des Feldzuges gestorben. Stefan geht nach Wien und bereitet sich mit zäher Energie auf das Maturitätsexamen vor. Die reaktionär gesinnten Lehrer lassen ihn jedoch die Prüfung nicht bestehen; Stefan bricht gesundheitlich zusammen und muß in sein Heimatdorf zurückkehren. Hier erwartet ihn eine neue Enttäuschung. Das Mädchen, mit dem er sich vor Beginn seines Militärdienstes heimlich verlobt hat, verläßt ihn. Sie stammt aus einer adligen Familie und kann nicht darüber hinwegkommen, daß Stefan sich nicht aus seinem niederen Stande emporarbeiten konnte und daß er ein Krüppel ist. Eine Jugendfreundin pflegt Stefan gesund; er heiratet sie und arbeitet mit Sepp Birkner in der genossenschaftlichen Gärtnerei, deren Gründerin und Leiterin sie ist.

X

Die Assentierung Seit dem frühesten Morgen war in dem Städtchen alles in Bewegung, alt und jung war auf den Beinen . . . Sämtliche Wirtshäuser, und das kleine Seekirchen hatte deren eine stattliche Anzahl, waren seit dem frühesten Morgen überfüllt, und es kamen noch jeden Augenblick neue Gäste an. Die Rekruten aus den reicheren Gemeinden brachten ihre Musik mit und sie waren überdies von ihren Familien begleitet. Es gab da junge und alte Mütter, stattliche Väter und weißhaarige Greise, hübsche und häßliche Mädchen in jeder Größe und in jedem Alter, alle in ihrem besten Staate, die Burschen überdies mit Blumen und Bändern geschmückt, wie Opferlämmer. Viele von ihnen waren blaß und unruhig, andere befanden sich schon in einem stark benebelten Zustande: sie hatten sich Courage angetrunken, und sie johlten und sangen und schrieen, — auch das hilft über die Angst hinweg! . . . Die Burschen, ihre Väter und Mütter tranken, weil sie erhitzt und aufgeregt waren, das war natürlich; aber auch die Nichtväter wollten nich hinter ihnen zurückbleiben. Bald kam's zu Streitigkeiten und dann zu kleinen, unschuldigen Prügeleien, und so waren bald alle in die rechte Stimmung versetzt. Eine solche ist unumgänglich notwendig bei einer Rekrutierung. Und nun kann's losgehen! Hin zum Assentlokale und unter's Maß gestellt, und dann den Eid abgenommen, und dann ist's geschehen, man ist Soldat geworden und weiß gar nicht, wie. Das Assentierungslokal war im Herrenhause, welches zunächst der Kirche lag. In diesem Hause befand sich die erste und größte Schankwirtschaft des Städtchens, von den Gebildeten auch Restauration genannt. Hier pflegten die „Herren" von Seekirchen, separiert von dem übrigen Troß, ihre Schoppen zu trinken und im Winter in dem dortigen Saale ihre Kränzchen abzuhalten; deshalb der Name. Die Kommission hatte nun von diesem Saale und den daranstoßenden Zimmern Besitz ergriffen. Die Rekrutierung hatte seit einer Stunde begonnen, es ging nach der Nummer. Die Sache wickelte sich rasch genug ab und die Burschen durften sich nicht Zeit lassen. Vor dem Hause 2

staute sich die Menge. Den meisten hatten ihre Anverwandten bis hierher, ja bis an die Stiege und bis an die Tür selbst das Geleite gegeben. Dann wurde schnell ein kurzer Abschied genommen. Die Mütter machten das Zeichen des Kreuzes über ihre Söhne, gleichsam um sie vor dem Übel zu bewahren, die Mädchen begnügten sich mit einem warmen Händedruck; die Burschen verschwanden im Hausflur, und nun kam eine bange Stunde für die, die auf der Straße des Resultates harrten. Kam einer in der nächsten halben Stunde herunter, dann war's gut, dann war er entweder auf ein Jahr zurückgestellt oder er war vollständig untauglich erklärt. Im letzteren Falle äußerte sich über einen solchen Krüppel das höchste Entzücken. Er wurde von den Seimgen mit lautem Jubel in Empfang genommen, umarmt und geküßt, und die Mütter dankten dem heben Herrgott, daß er ihnen einen derartig bemakelten Buben geschenkt hatte, den die da oben nicht brauchen konnten; und die übrigen beglückwünschten ihn ebenfalls, und er wurde sodann im Triumph in's Wirtshaus geschleppt, und das Trank- und Dankopfer begann. Kam der Bub' aber nicht sobald herunter, dann konnte man annehmen, daß er tauglich befunden worden, und dann gab's Ach und Weh und Händeringen, und seine Angehörigen gingen dann zwar auch in's Wirtshaus, aber aus Gram. Der Auserlesene aber, der „freudige Kriegsheld", wurde, nachdem das „tauglich" über ihn gesprochen worden war, aus dem Saal, wo die Kommission ihres Amtes waltete, sogleich in das anstoßende Zimmer zu seinen Schicksalsgenossen gebracht. Dieses wurde von Gendarmen strenge bewacht, damit nicht ein eingestellter Bursch, nachdem er die letzte Hoffnung, durchzukommen, verloren — und diese Hoffnung haben merkwürdigerweise viele —, in seiner Desperation desertiere. Unter keiner Bedingung, unter keinem wie immer lautenden Vorwand darf der Rekrut dieses Zimmer verlassen, er wird nicht eher aus der Gefangenschaft befreit, bis er den Fahneneid geschworen, bis er endgültig Soldat geworden ist und nach militärischen Gesetzen bestraft werden kann. Es waren schon viele Vaterlandsverteidiger gewonnen, und in dem versperrten Zimmer herrschte eine entsetzliche Temperatur. Die Burschen drängten sich gegen die 3

Fenster und sahen hinab in den Hof, und unten standen die Väter und Brüder, die bis da hereingekommen waren, und sie riefen sich gegenseitig zu, und die unten versprachen, denen oben Bier hinaufzusenden. Durch die Tür ging's freilich nicht, aber durch's Fenster! Die Assentierten ließen Bindfaden, den sie bei sich trugen, hinunter, der wurde um die zinnernen Humpen gebunden, und hierauf wurde der Aufzug langsam und vorsichtig bewerkstelligt. Dieser Verkehr schien beide Teile ungemein zu erheitern; die Gendarmen, die im Hofe standen und die Ordnung zu erhalten hatten, waren selbst viel zu durstig, um dieser Freigiebigkeit der Väter, die ihnen in erster Linie zugute kam, Schranken zu setzen, und es fiel ihnen gar nicht ein, dieselbe außer der Ordnung zu finden. Auf def Straße wurde indes der Menschenknäuel, der vor dem Herrenhause Posto gefaßt, immer dichter; man war jetzt bei den hohen Nummern, und sämtliche Stellungspflichtige kamen allmählich herangezogen . . . Ein winzig kleiner, aber netter Kerl, allgemein der kleine Andresl genannt, war den übrigen ein gut Teil voraus, als könne er's nicht erwarten, unter das Maß zu kommen, das er sicherlich nicht erreichte. Er war kreuzfidel, jauchzte und schwang seinen Hut, als er durch die Menge schritt; die Burschen, die hinter ihm kamen, taten dasselbe, obwohl sie nicht dieselben Chancen hatten, aber der Jubel war herkömmlich, der Jubel ist einmal Sitte unter den Rekruten. Nun kam auch Stefan, Arm in Arm mit einem Burschen, der in der Höhe ihn ein gut Stück noch überragte, es war der lange Sepp, ein wahrer Riese, Er war seines Zeichens Holzschläger und weit und breit bekannt als der schneidigste Kerl und der keckste Raufer. Er hatte den Stoß, die Schwanzfeder des Auerhahns, welche friedliebende Gebirgsbewohner rückwärts am Hute zu tragen pflegen, stets vorne aufgesteckt, ein Zeichen, das als eine Herausforderung angesehen wird, etwa als ein: Wer Lust hat, mit mir anzubinden, der wage sich nur heran! Aber es wagte sich nicht leicht einer an ihn. Mit Stefan hatte er in früherer Zeit manchen Strauß durchgekämpft, wobei dieser nicht immer den Kürzeren zog, weshalb denn a.uch 4

der lange Sepp ihm eine gewisse Achtung nicht versagen konnte. Sie gingen heute eng verschlungen, so eng, daß es fast aussah, als stützte sich Sepp etwas zu sehr auf den andern, und doch hatte er fast nichts getrunken. Auch Stefan hatte nicht trinken mögen aus Widerwillen, nachdem er gesehen hatte, in welchen Zustand sich die anderen dadurch gebracht hatten; bei dem langen Sepp war ein anderes Motiv ausschlaggebend gewesen, er hatte all' sein Geld schon den Abend und die Nacht vorher durch die Kehle gejagt, und die Wirte wollten ihm nichts mehr pumpen. Die beiden waren ohne Begleitungerschienen. Der lange Sepp hatte keine Verwandten und die des Stefan kümmerten sich nicht um ihn. Aber die kräftigen, hübschen Burschen wurden von allen begrüßt und erweckten allgemeines Interesse. „Na, Sepp, das ist was für dich," sagte einer, „jetzt kannst deiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, jetzt kannst raufen nach Herzenslust!" „Die G'schicht' paßt mir nicht," antwortete der Sepp, stehenbleibend und die Nasenflügel seiner ungeheuren Nase in die Höhe ziehend. „Sich tüchtig raufen mit Händ' und Füß', gegenseitig auf einander herumtrommeln, daß die Funken davonfliegen, den andern ein paar Löcher schlagen und selber a paar kriegen, das laß ich mir g'fallen! Das hat was für sich, und ich nehm's mit ein' jeden auf, und mit ein paar von euch, das wißt's ihr, eh! Aber so in Reih und Glied auf Kommando schießen, das ist ein' andre Sach'. Was nutzt mir da meine Kraft und meine G'schicklichkeit, was nutzt mir da meine Courage? Meiner Seel', ich glaub', ich kann d'erschossen sein, eh ich nur das Nasenspitzel von so ein Preußen zu G'sicht kriegt hab'; nein, nein, das ist nicht mein Gusto." „Er hat recht!" — „Recht hat er!" bestätigten alle im Kreise herum. Einen andern hätten sie verhöhnt und der Feigheit beschuldigt, aber der persönliche Mut des Sepp war über jeden Zweifel erhaben, er hatte hinlängliche Proben davon abgelegt. „Die neuen Gewehr' auch, die die Preußen haben sollen!" fügte ein anderer hinzu, der hie und da in eine Zeitung guckte. „Dagegen soll kein Aufkommen sein, die schießen in einem fort, die braucht man gar nicht zu laden," 5

„Und was ist's denn mit dir, Stefan?" fragte ein dritter mit einer gewissen bäuerlichen Bonhomie, die nicht frei von Bosheit war. „Du wollt'st ja gar ein Professor werden, ein G'studierter, wie man so hören tut, und mußt jetzt auch den Schießprügel tragen, du Tropf, was hast jetzt von der Lernerei und von der sakrischen Plag'! — Den nehmen's doch sicher," wandte er sich an die Umstehenden, als er sah, daß er auf seine wohlwollenden Bemerkungen keine Antwort erhielt und Stefan vorwärts schritt. — Weitere Zurufe kamen ihnen von allen Seiten entgegen. Die Burschen hatten das Tor erreicht. Sepp stimmte mit den übrigen ein Liedel an, aber es wollte ihm nicht recht aus der Kehle heraus. Stefan machte nicht einmal den Versuch dazu. Er befand sich in großer und erklärlicher Aufregung, ihm bangte vor der Entscheidung. Alle seine Pläne, alles, was er für die Zukunft erträumt und erhofft hatte, es konnte vernichtet werden. Wenn er sieben Jahre Soldat sein mußte, hatte er nicht nur die beste Zeit, er hatte auch alle Befähigimg zu wissenschaftlichen Studien für immer verloren. Es konnte aber auch noch schlimmer kommen. Er konnte als Krüppel zurückkehren, als einer jener Elenden, Bejammernswerten, die mit einundzwanzig Jahren einem lebenslänglichen Siechtum überantwortet sind. Nur das nicht, nur das nicht! Der Tod wäre tausendmal besser! Stefan dachte und überlegte, während die übrigen gedankenlos, im Taumel oder in stumpfer Resignation das harte Los über sich ergehen ließen . . . Die Burschen schritten durch den Flur und stiegen die Treppe hinauf. Ein Gendarm wies sie nach dem Vorzimmer. Da saßen auf Bänken die Kameraden, welche die Nummern vor ihnen hatten und noch nicht gerufen worden waren. Alle waren bereits bis auf das Hemd entkleidet. Ein diensttuender Korporal wies die Ankommenden an, sich ebenfalls ihrer Kleidungsstücke zu entledigen. Die Tür, die nach dem Saale führte, ward jeden Augenblick geöffnet; ein Soldat steckte den Kopf heraus und rief eine Nummer und einen Namen. Hierauf zog der Betreffende das Hemd aus und ging in den Saal. Der kleine Andresl, den auch im Vorzimmer seine gute Laune nicht verlassen hatte, kam zuerst an die Reihe. Er schlüpfte hinein, kam aber schon in der nächsten Minute 6

wieder heraus. Ein allgemeines Gelächter entstand. Der kleine Andresl zeigte sich aber höchst erbost, er war springgiftig darüber, daß er nicht genommen worden war, und er beklagte sich über die empörende Ungerechtigkeit: einen braven Burschen, weil er um einige lumpige Zoll zu kurz geraten sei, aus der Liste der Vaterlandsverteidiger für immer zu streichen. Und grade er hatte einen so kriegerischen Sinn. Jetzt rief der Soldat: „Nummer fünfundfünfzig, Josef Birkner." Der lange Sepp erhob sich. Der arme Bursche war blaß und es schüttelte ihn ein wenig; der Korporal legte ihm seine Kleider über den Arm und stieß ihn in den Saal, in welchem die Kommission versammelt war. Um einen länglichen Tisch herum saßen die Herren. Ein Stabsoffizier obenan, rechts von ihm der Herr Bezirkshauptmann und der Herr Bezirkskommissär, links der Herr Bürgermeister und die Vorstände der Dörfer, aus denen assentiert wurde; weiter unten der Diurnist mit seiner wichtigsten Amtsmiene, und drei Korporale, die ihrerseits ohne aufzusehen weiterschrieben. Überdies waren sechs Gendarmen aufgestellt. Diese nahmen die als tauglich Bezeichneten in Empfang und spedierten sie in das Zimmer nebenan, vor dem sie Wache hielten. Die wichtigsten Personen bei diesem Akte, die Ärzte, gingen ab und zu. Der Regimentsarzt, ein noch junger Mann, hatte ein freundliches, wohlwollendes Aussehen, der Herr Bezirksarzt war ein altes, dünnes Männchen, das sich nicht ganz behaglich zu fühlen schien. Der lange Sepp wurde bei seinem Eintritt mit einem Murmeln der Befriedigung aufgenommen. Er fühlte, daß ihm schwarz vor den Augen wurde, aber der Soldat erwischte ihn und stellte ihn sogleich unter das Maß. „Zweiundsiebzig Zoll Höhe, Brustweite achtunddreißig," berichtete dieser. Diese Abnormität machte die Herren lachen. Ein solcher Ausbruch der Fröhlichkeit brachte den Sepp wieder zu sich selbst und er lachte mit. Die Ärzte winkten ihn zu sich; er richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und schritt an sie heran. „Ein Riese!" — „Ein Goliath!" riefen die beiden in unwillkürlichem Erstaunen. Der Sepp warf sich noch mehr in die Brust. „Ja, ein Kerl bin ich," sagte er mit Selbstgefühl, „aber das ist grad' mein Unglück." 7

„Wieso, Bursche?" „'Ich rag* über alle hervor, drum werd' ich die Zielscheibe sein von den Kanonenkugeln, in mich schlagen's alle." „Warum nicht gar," lachte der Regimentsarzt. „Na, genieren werden sie sich," entgegnete der Sepp, der all' seine urwüchsige Keckheit wieder zurückerlangt hatte. „Halt's Maul, atme tief!" hieß es jetzt. „Aber dazu muß ich mein Maul wieder aufmachen, wenn's erlauben." „Huste!" „Ich hab' noch mein Lebtag nicht gehustet." „Huste, sag' ich." „Mein'twegen, ichhust' auf alles, wenn's wollen," und er brachte ein gewisses Grunzen hervor, das dem Röhren eines Elefanten nicht unähnlich war. „Der Blasbalg ist in Ordnung," konstatierte der Arzt. „Fehlt dir sonst etwas?" „O ja, mir fehlt schon was." „Magendrücken etwa, weil du zu viel gefressen und gesoffen hast? Kommißbrot wird dich kurieren." „Für das, was mir fehlen tut, ist Kommißbrot grade Gift, mir fehlt — no, mir fehlt die Lust, Soldat zu werden." „Kommen Sie zu Ende mit dem Kerl, oder ich werd' ihm Mores beibringen!" rief der Stabsoffizier dem Doktor zu. „Fehlerfrei tauglich!" rief dieser, und Sepp nahm seine Kleider, welche er bei seinem Eintritt auf einen Sessel gelegt, und die Gendarmen nahmen ihn hierauf in Empfang. „Hab' mir's wohl denkt," murmelte der lange Sepp, als er nun auch in das gewisse Zimmer spazierte. „Tauglich als Kanonenfutter, juchhe!" Jetzt wurde Nummer 56, Stefan Grillhofer, aufgerufen. Der Stabsoffizier warf bei Nennung dieses Namens dem Regimentsarzte einen bedeutungsvollen Blick zu. Dieser nickte verständnisinnig. „Das ist der Demokrat," fügte der Stabsoffizier, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, noch hinzu. Der Bürgermeister, Herr Säuerling, erhob bei diesem Worte etwas schüchtern seine Augen und seine Stimme. „Ja, ja, ganz recht, ein Demokrat. Leider haben wir in unserer guten Stadt ebenfalls eine dergleichen bedenk8

liehe Pflanze aufzuweisen, einen gewissen Franz Brunner, in derselben Altersklasse, kommt ebenfalls zur Stellung. Er und besagter Grillhofer sind Freunde in einem sehr bedenklichen Grade, und der Herr Pfarrer teilte mir mit, daß er die begründetste Vermutung habe, daß diese beiden Kumpane, mit Respekt zu melden, die Verfasser gewisser geschriebener Blätter sind, die unter dem gemeinen Volk verbreitet und sogar gelesen werden, und welche sehr ungehörige Dinge enthalten sollen." „Wird ebenfalls in die Möntur gesteckt," sagte der Oberstleutnant mit großer Entschiedenheit. „Es wäre freilich ein Grund vorhanden, um bei besagtem Franz Brunner Nachsicht walten zu lassen." „Nachsicht gegen einen Demokraten, Herr Bürgermeister? Niemals! Und ich will nicht hoffen—" Der Bürgermeister verbeugte sich erschreckt und demutsvoll. „Ganz Ihrer Meinung, Herr Oberstleutnant." Stefan Grillhofer war indes eingetreten und unter das Maß gestellt worden. „Siebzigeinhalb Höhe, sechsund dreißig Brustweite," referierte der Soldat. Stefan trat vom Maße hinweg und stellte sich, ehe noch die Aufforderung an ihn ergangen war, vor den Arzt. Aller Augen wendeten sich ihm zu. Die Schönheit dieses jugendlichen Körpers schien selbst auf diese Leute Eindruck zu rnachen. „Ein prächtiger Kerl," murmelte der Oberstleutnant. „Sehen Sie doch die herrlichen Formen," flüsterte der Regimentsarzt seinem Kollegen zu. „In der Antike findet man sie, in meiner Praxis habe ich ein so vollendetes Ebenmaß noch niemals gefunden." Stefan stand unbeweglich. Er sah dem Arzte fest in das Gesicht; ein leises, kaum merkliches Zucken der Haut ließ erkennen, daß die Nerven des jungen Mannes in heftiger Spannung waren. „Sie sind gesund?" begann der Arzt. Es war eigentümlich, es war dies der erste Rekrut, den er mit Sie anredete. Wenn man ihn deshalb befragt hätte, würde er wohl schwerlich einen Grund dafür haben angeben können. „Ich bin nicht krank," erwiderte Stefan mit vibrierender Stimme, „aber ich habe einen Zustand, der mir oft unerträglich wird." 9

„Das ist?" „Ich leide an so heftigem Herzklopfen, daß —" „Das kennen wir," unterbrach der Oberstleutnent, „Burschen wie du haben immer Herzklopfen, natürlich, alles Weibsvolk ist hinter ihnen her, wie toll, — hast wohl mehr als einen Schatz, he? Kann mir's wohl denken." Stefan errötete stark, wie im tiefsten Unwillen. „Professor Wüst, der mich untersuchte, ist der Meinung, daß ich einen langen Marsch nicht ertragen könnte." „Wir brauchen hier nicht die Meinung deines Professors!" schrie der Oberstleutnant erzürnt. Der Regimentsarzt hatte, als Stefan des Professors erwähnte, mit dem Kopfe genickt. Er erinnerte sich wohl, was er diesem versprochen hatte, und er interessierte sich selbst für den jungen Mann, den Wüst als ein so begabtes Individuum ihm gepriesen hatte; er hatte es wohl für möglich gehalten, ihn untauglich zu finden, aber er hatte indes, gerade in bezug auf ihn, andere, höhere Weisungen erhalten, und er mußte sich ihnen fügen. Er legt das Ohr an das Herz des Jünglings. Es pochte sehr stark, ja übermäßig stark. Er wurde wankend, er wollte es versuchen, ein kleiner Fehler schien ihm allerdings vorhanden. „Er hat sehr starkes Herzklopfen, die eine Klappe schließt schlecht," sagte er. „Stefan Grillhofer hat einen Herzfehler," sekundierte allsogleich der Herr Bezirksarzt, der auch seine Gründe hatte, den Burschen befreit zu sehen, „ich habe ihn selbst in dieser Krankheit behandelt, er erscheint mir untauglich." „Der Bursche ist tauglich," donnerte der Oberstleutnant, „das sieht jeder Laie, er muß tauglich sein!" „Tauglich," kam es von den Lippen des Arztes. Stefan zuckte zusammen. Er warf einen Blick auf den, der sein Urteil gesprochen, dann wandte er sich um, warf das Hemd über und betrat, von dem Gendarmen geleitet, das Zimmer, wo die übrigen harrten. Unter den zunächst Aufgerufenen befand sich Franz Brunner. Die heitere Zuversicht, die er vor acht Tagen aussprach, daß man ihn, da er der einzige Sohn einer alten Mutter war, nicht assentieren werde, war seitdem geschwunden. Er hatte sich die Papiere, welche er der

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Stellungskommission vorzulegen hatte und die ihn vom Militärdienst befreien sollten, zu verschaffen gesucht. Er erhielt von der Gemeinde aus die gewünschte Bestätigung, daß er der einzige Sohn seiner Mutter sei, aber zugleich machte man ihn darauf aufmerksam, daß im Gesetze nur von einer verwitweten Mutter die Rede sei, und daß die seine niemals verheiratet gewesen, demgemäß auch nicht verwitwet sein könne. Dieser Ausspruch traf ihn unvorbereitet und darum um so schmerzlicher. „Aber ich erhalte sie, ich ernähre sie," rief er angstvoll; „sie bedarf meiner ebenso gut, als ob sie verwitwet wäre, ja, weit mehr noch, denn sie hat niemand außer mir, und niemand wird für sie sorgen, niemand wird sich ihrer annehmen, wenn ich fort bin oder erschossen." Man zuckte die Achseln. Weiber, die uneheliche Kinder haben, können vom Staate nicht die gleiche Berücksichtigimg erfahren, wie ehrbare Mütter, entgegnete man ihm. Übrigens hinge eine Ausnahme in diesem Falle ganz von der Einsicht und dem Belieben der Stellungskommission ab. Man riet ihm, er solle sich ein Armutszeugnis vom Pfarrer verschaffen, den Beweis der Erwerbsunfähigkeit seiner Alten, vielleicht werde die Stellungskommission dann ein Auge zudrücken. Franz ging sogleich zum Pfarrer und brachte ihm in ausführlicher Weise seine Bitte vor. Der geistliche Mann betrachtete ihn lange, ohne ihm zu antworten. Er haßte den Burschen, den Schüler Dietrichs, des alten Freigeistes; er hatte diesen Brunner überdies im Verdacht, der Herausgeber jener verruchten Schriften zu sein, die den Unglauben, die moderne Aufklärung auch unter dem Landvolke zu verbreiten suchten. Er wollte sich an dem Burschen rächen und er konnte es jetzt. „So, so," sagte er mit einem kalten und grausamen Lächeln, „als ein braver Soldat dem Staate und deinem Herrn und Kaiser dienen, das möchtest du nicht, aber gegen alles Heilige einen heimlichen, versteckten Krieg führen, das widerstrebt dir nicht, dazu hast du den Mut. Ich kenne dich, und so milde auch sonst mein Herz ist, ein so gottloser Mensch wie du hat von mir keine Schonung zu erwarten." In dem jungen Herzen des also Empfangenen kämpfte der Zorn mit dem Vorsatze, für seine Mutter alles zu dulden, 11

und er gewann es über sich, mit ziemlich sanften Worten zu antworten: „Hochwürden, ich will keine Schonung, nur Gerechtigkeit. Es handelt sich auch nicht um mich, sondern um meine alte Mutter. Geben Sie mir das Armutszeugnis, bestätigen Sie mir ihre Erwerbsunfähigkeit." „Da müßte ich eine Lüge unterschreiben!" fuhr der Herr Pfarrer auf. „Die Lene ist nicht erwerbsunfähig, sie hat einen Erwerb und zwar einen sehr guten. Er hat ihr soviel eingetragen, daß sie damit noch ihren faulen Burschen erhalten konnte. Du brauchstest nicht zu verdienen, sie hat dich, wie anständiger und reicher Leute Kind, bis fcu deinem fünfzehnten Jahre in die Schule geschickt und hat dir noch Privatstunden geben lassen. Wenn aber das gemeine Volk seine Nase in Dinge steckt, die nicht für dasselbe sind, so trägt das dann seine Früchte." Franz sagte ihm, daß die Zeit, in der seine Mutter verdienen konnte, vorüber sei, daß sie an Rheumatismus leide und während des Winters oft wochenlang im Bette zubringen müsse. Da fing der Pfarrer aber an, vom himmlischen Strafgericht zu reden, und dem Sohne die Zuchtlosikgeit der Mutter und die Schande des Vaters vorzuhalten, und obwohl Franz demütig und sanft war, so vermochte er doch seiner Empörung nicht länger zu gebieten, und er fand die rechten Worte, um dieses Benehmen zu bezeichnen, worauf ihm der grimmige Mann Gottes die Tür wies. Franz ging seiner Wege, wohl überzeugt, daß er bei diesem Menschen, und hätte er auch all' den Schimpf geduldig hinuntergeschluckt, doch niemals Milde und Erbarmen gefunden hätte. Der arme Bursche kam voll Zorn und Bitterkeit nach Hause, er wollte sich Luft machen, er wollte sich aussprechen, als ihm aber die Mutter entgegen kam mit den frohen Augen und dem zärtlichen Blick, da schwieg er. Er hatte nicht den Mut, ihr den Sachverhalt zu entdecken und ihre Hoffnungen zu vernichten. Warum sollte er sie auch vorzeitig betrüben? Und dann, wer weiß, sein Schicksal war noch nicht endgültig entschieden: die Kommission mußte ein Einsehen haben, sie konnte einem alten Weibe nicht den einzigen Ernährer rauben und überdies, konnte er nicht seiner körperlichen Konstitution wegen losgesprochen werden? Er war zart und schwäch12

lieh gebaut. Erst heute, beim Abschied, versuchte er sie auf die Möglichkeit vorzubereiten, daß er als Soldat zurückkommen könne; da fing aber die Alte dermaßen zu weinen an, daJ3 er sie mit der Unwahrscheinlichkeit dieser Annahme sogleich zu trösten suchte. Jetzt war er aufgerufen, und er betrat zitternd, in leicht begreiflicher Aufregung den Saal. Der Soldat stellte ihn unter das Maß und richtete ihn. „Siebenundsechzig Höhe, dreißig Brustweite," hieß es. „Etwas schmalbrüstig," sagte der Arzt, nachdem er ihn untersucht hatte. — Franz atmete auf. „Aber deshalb nicht untauglich!" rief der Oberstleutnant mit großer Bestimmtheit dazwischen. „Untersuchen Sie strenger!" Und dabei warf er dem Regimentsarzt einen Bück zu, der diesem wahrscheinlich den Grad der Strenge anzeigen sollte. Franz beeilte sich jetzt die k. k. Kommission darauf aufmerksam zu machen, daß er Anspruch auf gänzliche Befreiung vom Militärdienste habe, da er der einzige Sohn einer erwerbsunfähigen Mutter sei. Er bat die Herren, in die ihnen vorgelegten Papiere Einsicht zu nehmen, der Herr Bürgermeister könne überdies den Sachverhalt bestätigen. Die Herren sprachen einiges untereinander, dann bemerkte der Herr Bezirkshauptmann in barschem Tone: „Er ist ein vorlauter Bursche, der sich alles nur halb besieht, er müßte sonst wissen, daß der Paragraph des Gesetzes über die Befreiung eines assentpflichtigen Sohnes dahin lautet (er begann mit schnarrendem Ton den Paragraphen herzusagen) : ,Es hat jedoch nur jener einzige Sohn, Enkel oder Bruder auf die Befreiung Anspruch, welcher ein ehelicher und leiblicher ist,' — Er ist aber kein solcher." „Ich bin der leibliche Sohn meiner Mutter." „Ruhe hier!" „Meine Herren, haben Sie Erbarmen mit einer alten, kränklichen Frau; sie ist dem Elend preisgegeben, wenn Sie mich ihr nehmen, sie muß zugrunde gehen." „Der Mensch übertreibt offenbar; geben Sie Ihre Meinung darüber ab, Herr Bürgermeister." „Magdalena Brunner ist nicht existenzlos," bestätigte 3 Minna Kautsky

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dieser mit großer Würde, „sie ist ihresZeichens Wäscherin." „Genug, untersuchen Sie den Burschen, Doktor." Es geschah, und hierauf wurde das „Tauglich" über ihn ausgesprochen. „Wird abgeführt!" befahl der Oberstleutnant. Franz stand da wie vernichtet, er atmete mühsam und schwer. Als ihn der Soldat am Arme faßte, fuhr er auf. „Muß ich das über mich ergehen lassen?" fragte er mit einem irren Umhersehen. „Kann man einen Sohn zwingen, seine Mutter zu verlassen, die auf der weiten Welt nichts hat als ihn?" Der Bezirkshauptmann erhob sich in amtlicher Gravität. „Gegen die Erkenntnis der k. k. Stellungskommission steht Ihm die Berufung an das k. k. Landesverteidigungsministerium jederzeit offen; aber es wird Ihm nichts nützen, das sage ich Ihm, und solange die Entscheidung nicht gefällt ist, bleibt er Soldat. Und nun, vorwärts marsch!" Franz Brunner wankte nach dem Zimmer, den Tod im Herzen. — Die Assentierung nahm ihren Fortgang.

DIE ALTEN UND DIE NEUEN

Im Mittelpunkt des Romans „Die Alten und die Neuen" steht das Schicksal eines jungen Mädchens, dessen Vater als Sozialphilosoph tätig war. Nach seinem Tode übersiedelt Elsa Marr zu ihren Verwandten und lernt in Wien das Leben der Aristokratie und Bourgeoisie, der,, Alten", kennen. Atheistisch erzogen, ist sie den Bekehrungsversuchen eines katholischen Geistlichen ausgesetzt. Sie flüchtet sich aber zu den „Neuen", die durch Arnold Lefebre, den ehemaligen Assistenten ihres Vaters, Valentin Hof er und dessen Bruder, einen jungen Bergmann, verkörpert sind. Man setzt ihr nach und entdeckt dabei, daß Arnold und Georg politische Propaganda unter den Bergleuten treiben. Die Polizei durchsucht die Häuser der Bergleute. Ehe sie aber Arnold und Georg verhaften kann, verschüttet ein durch Raubbau entstandener Bergrutsch die Wohnstätten der Salzarbeiter. Arnold und Valentin kommen bei den Rettungsarbeiten ums Leben; Elsa wandert nach Amerika aus; Georg geht nach Deutschland, um dort an der revolutionären Bewegung teilzunehmen. Die Salzarbeiter I Die heimkehrenden Salzarbeiter waren hagere mittelgroße Gestalten von zumeist hübscher regelmäßiger Gesichtsbildung und durchaus blasser Farbe, die bei Leuten, welche im Tage zwölf Stunden unter der Erde zubringen, wohl natürlich war. Sie trugen nicht die schmucke Bergmannstracht; der schwarze tuchene Rock, den sie sich selbst zu beschaffen gehabt hätten, war für sie ein unerschwingliches Klei3*

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dungsstück geworden, und so hatten sie denn alle die gewohnte Gebirgstracht: die kurze Hose aus Bocksleder, grünwollene Gamaschen und mit schweren Nägeln beschlagene Gebirgsschuhe. Die Weste war offen, das rote Halstuch lose um den Hals gelegt. Den lichtgrauen Janker trugen sie über eine Schulter geworfen und am Rücken hing ihnen der lederne Rucksack, in dem sie die Lebensmittel für die ganze Woche hinaufgeschleppt. Auf denselben hatten sie ihren Wettermantel geschnallt, eine Art Poncho, ein alt-keltisches Kleidungsstück, von einfachster aber malerischer Form. Sie gingen in einem festen gleichmäßigen Schritt, knieweich, das ist: im Kniegelenk sich wiegend, wodurch die Erschütterung des Körpers während des Abstiegs verringert wird. Gleichsam als einen Gruß aus den Bergen, den sie den Ihren mitbrachten, hatten sie auf den grünen Hut einen Strauß von Alpenrosen oder Edelweiß gesteckt, aber sonst war nichts fröhliches an ihnen zu bemerken. Nicht laut und lärmend kamen sie daher, sie lachten, sie plauderten nicht miteinander, etwas Ernstes, Gedrücktes sprach sich in ihren Mienen aus, etwas Ermüdetes, selbst Apathisches. Unter eine überstrenge Disziplin hatten sie die Woche über sich zu beugen gehabt, nun ersehnten sie wohl den Augenblick, der sie einer verhältnismäßigen Freiheit und ihrer Familie wiedergeben sollte, aber der Anblick der Ihrigen brachte ihnen auch das Elend vor Augen, in dem sie lebten, und um die hungernden Mägen zu füttern, reichte der karge Wochenlohn nicht aus, und sie mußten nun streben und ringen, um für diese zwei Tage einen Nebenverdienst zu erhalten, der sich leider nicht allen bot. In der Talsohle angekommen, trennten sie sich ohne Handschlag und Gruß. Der eine ging hierhin, der andere dorthin. Dem ersten Trupp folgte bald ein zweiter, unter diesem befand sich Georg. Er ging leicht und elastisch, wie man eben mit zweiundzwanzig Jahren geht; der Stecken, den er gleich den andern trug, diente ihm kaum als Stütze. 16

Er überstieg die Holzbarriere, die den Weg säumte, und über das Gestein setzend, gelangte er auf dem kürzesten Weg herunter. Die Mutter ging ihm entgegen. Als sie über die Schwelle des Hauses trat, hatte er soeben den Rucksack mit dem Mantel auf die Bank vor dem Hause geworfen und sich darauf gesetzt. Er nahm den Hut ab und wischte mit dem Ärmel über die feuchte Stirne. Als er sie erblickte, reichte er ihr stumm die Hand. Sie sah ihn an und wußte in dem Augenblick, daß ihm etwas Unangenehmes passiert sein müsse. In mütterlicher Sorge vergaß sie alles andere und setzte sich neben ihn. Auch Arnold war herausgekommen, er verweilte in dem Flur. Er wollte einen Augenblick unbemerkt den jungen Salzarbeiter beobachten, der von vornherein sein neugieriges Interesse erregt hatte. Er saß stark vorgeneigt auf der niedern Bank, den Ellbogen hatte er aufs Knie und den Kopf auf die Hand gelegt, er sprach zur Mutter in kurzen Sätzen, in abgerissenen Worten wie es schien. Arnold fand ihn hübsch und wohlgebildet, er war größer als Valentin und robuster. Der Kopf zeigte den keltischen Typus, der sich von den Urvätern her in diesen Bergen erhalten hat, wo man noch echt französische Physiognomien findet. Das dichte dunkelbraune Haar, welches sich sanft gelockt in einzelne Partien teilte, hing ihm etwas wirr über die blasse, überaus weiße Stime. Die untere Partie des Gesichts erschien kaum etwas gebräunt und zeigte jenen dunklen Anflug, der einen kräftigeren Bart versprach, als er hierzulande gewöhnlich ist. Aber bei aller Jugendlichkeit lag in diesem Gesichte ein ernster finsterer Zug, und wenn er die schmalen Lippen fest zusammenpreßte, wie es eben jetzt geschah, wo er zu sprechen aufgehört, wurde der Ausdruck zur Herbheit. „Aus is!" rief jetzt die Mutter, und sie schlug wie im Jammer die Hände zusammen, „abgezogen haben sie dir drei Schicht, aber so sag doch, was hast denn getan, was hast denn ang'stellt, um so eine harte Straf' zu verdienen?" 17

Er zuckte die Achseln und schwieg. Als sie aber hierauf in lautere Klagen und Vorwürfe ausbrach, streckte er, wie zur Abwehr, ihr die Hand entgegen. „Laß es gut sein, was du mir sagst, hab' ich mir alles schon selber vorgeworfen, und da dir damit ein Unrecht geschieht, will ich's auch nimmer tun, ich versprech dir's, Mutter." Man mochte es ihm glauben, er sagte es so entschieden. In diesem Augenblick trat Arnold aus der Tür. „Jesus, auf den Herrn hab' ich ganz vergessen," rief sie, und ihren Sohn in die Seite stoßend: „da schau nur und rühr dich ein wenig, der Herr ist mit demValentin kommen, er will dich kennen lernen, und ich hab' dich auch g'lobt übern grünen Klee, hab' natürlich nichts G'scheiteres g'wußt, und jetzt stehst mir da mit der Schand." Georg hatte sich erhoben. Auf seine Stirne trat ein dunkles Rot, mit einem verlegenen Blick sah er auf den Fremden und unbeholfen und linkisch griff er nach der Hand, die dieser ihm entgegenstreckte. Er wußte kein Wort zu sagen, aber Arnold verstand es, sich herzlich und vertraulich zu geben, als der Genosse des Älteren, der bei dem Jüngeren die gleiche kameradschaftliche Gesinnung voraussetzt. Georg sah einigermaßen überrascht zu ihm auf. Arnold konnte bemerken, daß dieser Salzarbeiter merkwürdige Augen hatte. Groß und licht, waren sie von dichten schwarzen Brauen und Wimpern umsäumt, und trotz des scheuen knabenhaften Ausdrucks, sprach aus ihnen eine hohe Intelligenz, jener Funke, der geistiges Leben verrät. — Valentin begrüßte den Bruder in seiner lustigen Weise mit einem Witzwort, und rief auch den Arbeitern, die vorüber kamen, ein fröhliches Wort entgegen. Es waren die Nachzügler, die nicht mehr so flink vorwärts konnten, oder es sonst nicht eben eilig hatten. Dem alten Michel, einem silberhaarigen Männchen, reichte er die Hand und lud ihn ein, auf der Bank neben der Mutter ein wenig auszuruhen. Der nahm den Vorschlag gerne an. Die Milz steche ihn so, meinte der Alte mit einem sanften 18

ergebenen Lächeln, und es sei just, als wüchs der Berg mit dem Alter. Siebenunddreißig Jahr gehe er jetzt da hinauf und nun hätt' er mit einem Male sein G'frett. Er schüttelte den Kopf wie einer, der eine Tatsache sich nicht erklären kann. Ein Arbeiter klein und schwächlich, mit einem struppigen roten Schnurrbart und ein paar Augen, die aus buschigen Brauen hervorstachen und keineswegs den gutmütigen, Eindruck seiner Genossen hatten, kam dicht vorüber, und nachdem er die vor dem Hause Sitzenden schon passiert, wendete er sich mit einem Ruck nach ihnen um, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. „He Alte, hast es schon g'hört, was ihm wieder passiert ist, dem deinigen? Hätt'st ihn halt sollen länger in d'Schul gehen lassen, Reserl, weil er die Bücher schier nicht g'raten kann." „Du mein Herrgott, ich weiß ja noch immer nicht, wegen was sie ihm die drei Schicht abgezogen haben, er redt ja nichts," klagte die Mutter. „No wegenden Büchern," grinste er, „jetzt weißt es." „Wegen was für Büchern, Feistinger?" „Die sich der Bub auf den Salzberg mitnimmt, obwohl er weiß, daß das Lesen ein für allemal verboten ist." „Sie sind halt so streng auf alles Druckte," wendete sich der alte Michel begütigend zur Mutter Theres, und ihr den Sachverhalt gleichsam auseinandersetzend: „Weißt, unser G'strenger ist schon vor einiger Zeit ganz wild hinaufkommen und hat den Obersteiger ang'schnauzt: Es wird schon wieder g'lesen in den Arbeitshäusern, trotz dem Verbot, hat er g'sagt, ich will aber keine Politiker und Freigeister." „Ja, und auch Licht ist wieder hie und da angezündet worden, obwohl das von jeher untersagt war," bemerkte Feistinger anklagend. „Nun ja, ja, manchmal hat sich einer ein Kerzenstummel mitbracht und hat sich's angezünd't, wenn er sich niedergelegt hat, es hat niemanden geniert, aber Angeber gibts halt genug unter uns." „Und den Lumpenkerln soll's nicht am schlechtesten gehen," warf Valentin keck dazwischen, dabei Feistinger fixierend. 19

Michel wandte ängstlich den Kopf und bedeutete ihm zu schweigen, dann wieder zur Hofer: „Weißt Reserl, und da haben's schon neulich so ein Zeitungsblatt g'funden, es war eigentlich ganz was Unschuldiges," er zwinkerte schelmisch mit den freundlichen Augen, „es war nur ein klerikales Blattei, der .Pilger' nennt sichs, aber es ist halt doch konfisziert worden, schon aus Prinzip, weil halt einmal durchaus nichts, aber gar nichts gelesen werden soll." , ,Und was unsereinem nicht erlaubt ist und nie erlaubt war, das glaubt der da, so ein unreifer Ding da, tun zu dürfen?" rief der Feistinger erbost, „aber es ist ihm schon bedeutet worden, noch einmal so etwas und er ist entlassen." Die alte Hofer brach in Tränen aus. „Aber was denkst denn, du Unglticksbua, willst dich zugrunderichten und mich? Und so ein Glück hat er g'habt, und so gut hätten's die Herren mit ihmg'meint, und jetzt verdirbt er sich alles wegen seiner dalketen Leserei." Sie zog die Schürze vor ihre weinenden Augen:,, Aus is 1" Georg saß stumm, finster blickte er vor sich hin. Er wagte keine Entgegnung, kein Wort der Entschuldigung, er beugte den Kopf gegen die Brust, wie ein Schuldiger unter der Wucht der Anklage. Mehrere Arbeiter waren herzugetreten; darunter auch der Holzhauer Franzel, ein stämmiger Bursche mit einem großen blonden Schnurrbart, kurzen Hüften und unverhältnismäßig langen Beinen. Er war einer der waghalsigsten Burschen, der an Abhängen, wo kein anderer mehr sich hinuntertraute, das Holz fällte; er trug, von der Arbeit kommend, die Axt auf der Schulter, was sein rabiates Aussehen nicht verminderte. „Na, das war auch das letzte, wegen was ich zu einer Straf' kam'," rief er mit einem rauhen Lachen, „Gott sei Dank, beim Bücherlesen hat mich noch keiner ertappt; wenn ich mir einmal was aus der Zeitung zusamm buchstabiert hab' so i's nachher richtig nicht wahr g'west und ich hab' mir die Müh' ganz umsonst g'macht. Na, sei g'scheit Schorschel, überlaß die Leserei den Faulenzern, die sonst nix Vernünftiges zutun haben und nicht arbeiten wollen; wir brauchen was anderes, wir brauchen was z'essen, nicht was z'lesen." 20

„Das ist richtig," riefen die Umstehenden, diesen Ausspruch bestätigend. „Ich sag's auch, dadurch wird uns nichts aufbessert. Im Gegenteil, es schad's uns nur, denn es bringt die Herren gegen uns auf," versicherte Feistinger. „Ich les' auch nichts," meinte ein anderer, „ich denke mir, was soll ich mich denn alleweil sekieren lassen." „Freilich, und ob wir jetzt um so ein Büchel mehr oder minder wissen, das ist schon alles eins." Ein kurzes grelles Auflachen voll unsäglicher Bitterkeit ertönte und ließ alle sich nach demjenigen umwenden, der es ausgestoßen hatte. „Der Frieder," murmelten die Leute. Ein hagerer hochgewachsener Mann mit bleichen Zügen hatte sich unter sie gedrängt, wie eingekeilt stand er unter der sich verdichtenden Gruppe, die sich zu lösen begann und, sich von ihm zurückziehend, ihn frei ließ. Die Brust dieses Mannes war eingefallen, die Wangen hohl, aber er mußte einmal schön und kräftig gewesen sein, und aus den tiefen Augen blitzte noch ein Funke, nicht des Widerstandes, damit war's vorbei, aber eines nach innen fressenden Ingrimms. „Recht habt Ihr!" rief er mit seiner klanglosen Stimme, die in ihrer Tonlosigkeit leicht überschnappte, „Ihr braucht nichts zu wissen, gar nichts, viel wissen macht Kopfweh und andere wissen für Euch, und sie wenden ihre Wissenschaft zu Eurem Besten an, sie lassen sich angelegen sein für Euch zu sorgen — väterlich zu sorgen, hahaha!" wieder lachte er jenes kurze heisere Lachen. Die Hofer hatte die Schürze von den Augen gerissen, bei dem Ton und Anblick dieses Mannes war ihr die Galle gestiegen und ihre Tränen versiegten, derb faßte sie Georg an der Schulter. , ,Da siehst einen," rief sie erbost, „der sich sein Lebtag auf die Hinterbeine g'stellt hat, der sich einbild't hat, wenn er nur recht viel Drucktes in seinen Hirnschädel hineinstopft, dann wird er damit was einrennen, ja, ang'rennt ist er damit. Schau dir ihn nur an, den Frieder, schau dir ihn an, so schaut deine eigene Zukunft aus, wenn du dich nicht besserst bei Zeiten." 21

„Oder wenn ich nicht bei Zeiten davon geh," stieß Georg dumpf wie aus gequälter Brust hervor. Die Augen der Mutter vergrößerten sich und wie im Entsetzen schlug sie die Hände zusammen. „Was sagst?! fortgehen willst, unsern Ort verlassen, mich verlassen?! —" Die Empörung erstickte sie fast. „Geh nur, mach's wie der Valentin, Ihr braucht freilich die Alte nicht mehr, obwohl du noch gar nicht weißt, du dummer Bub, wie das ist, wenn sie nimmer für dich Strücken und flicken wird, möchst doch immer gern nett und sauber sein, gelt? Na, kannst halt dann schauen, wer dir was machen wird und wie; mich, das kann ich dir sagen, bringst nicht von hier hinaus, ich geh' nicht aus den Bergen, ich bin kein Lokomotiv, das durch die Welt saust. — Wo mich mein Herrgott hat geboren werden lassen, da will ich auch sterben, und mein Gebein' sollen nicht in einer fremden Erde ruhen." Der alte Michel klopfte der hocherregten Frau beruhigend auf die Schulter und nickte mit einem milden Lächeln ihr zu. „Ich mein dasselbe, Theres, ich könnt auch nicht fort, und 's ist ja auch nur so eine Red vom Georg, wer weiß, ob er's selber aushalten tät. Wir kriegen alle das Heimweh, und das ist just wie eine Krankheit." „Wir können nicht fort," bestätigten mit Nachdruck die andern; „nur die wenigsten von uns können eine andere Luft ertragen, wir erfahren's an unseren Soldaten." „Wir können nicht fort," murmelte der Frieder in seinem vergrämten Ton, „es ist zwar nur ein Aberglaube, aber er hängt uns allen an." „Und draußen in den Städten, da kommt unsereiner schon gar nicht auf, schon wegen der Kongrenz," meinte ein kleiner einfältig blickender Arbeiter, „ich hab's erfahren; und ich sag halt das, wenn einer sich brav aufführt und sich nix zu schulden kommen läßt, so hat er doch quasi sein Sicheres." „Quasi sein sicheres Elend," ergänzte Valentin lachend. Eine laute und allgemeine Zustimmung folgte dieser Auslassung. Jetzt handelte sich's nicht mehr um Meinungen, jetzt stand man auf dem Boden der Realität und jeder wußte von 22

diesem Elend, jeder trug es mit sich wie ein an seinem Dasein haftendes angeborenes Übel. Und es käme immer schlimmer, sagten die einen, und es wäre nie so fühlbar gewesen, die anderen. Der alte Michel nickte mit dem schönen weißbehaarten Kopf und lächelte nachdenklich. Früher wären halt doch viele Vergünstigungen gewesen, und jeder hätte für sich und die Seinigen das Korn bekommen, meinte er. „Und wie lang ist's denn her, so haben wir noch unsern Bezug an Schmalz gehabt," versetzte ein anderer. „Und Holz." „Und den Lohn obendrein." „Freilich, nur einen geringen, ein paar Kreuzer täglich." „Richtig, ja, ja," stammelte Michel gutmütig, „aber damals war auch alles so viel billiger, jetzt sind die Preis' nicht zu erschwingen, was in der Umgebung wächst und gedeiht, wird alles nach Solenbad gebracht, und wir müssens von dort beziehen, und mit der Naturalleistung ist's ganz aus." „Aus is!" riefen alle im vielstimmigen Chor, und selbst Feistinger, den heimliche Belohnungen zum Aufseher über die Kameraden gemacht, meinte grollend:,,Jetzt fassen wir nichts mehr als das Salz, aber wir haben nichts mehr zu salzen." „Das Mußsalz haben sie's einst genannt, das den Arbeitern zugekommen ist, jetzt nennen sie's das Gnadensalz," versezte der Frieder schneidend. „Das Gnadensalz — das Gnadensalz — es ist wahr!" Das Wort ging von Mund zu Mund, in der Wiederholung zu immer energischerem Ausdruck gelangend. Es war, als käme ihnen damit der Kontrast von einst undj etzt zum deutlichen Bewußtsein. Georg, die Arme über der Brust gekreuzt, hatte wie abwesend vor sich hingestarrt. Jetzt hob er plötzlich den Kopf und in heiß aufsprudelnder Unmittelbarkeit, seiner inneren Bewegung gehorchend, rief er: „Sie haben kein Recht es so zu nennen, und wir sollten es nicht dulden!" Alle sahen betroffen zu ihm hinüber. „Was willst denn damit sagen," bemerkte seine Mutter noch mehr erbost, „was misch'st du dich wieder in Sachen, die du nicht verstehst." 23

Georg schien die Mahnung zu überhören und fuhr fort: „Das Salz, das hier gewonnen wird, das unsere Arbeit dem Berge abringt, bringt einen jährlichen Reingewinn von siebzehn Millionen, und das uns spärlich zugemessene Salz, das wir erhalten, um unser Brot zu würzen, sollte ein Gnadensalz sein?" Alle umdrängten ihn. „Siebzehn Millionen an Reingewinn, es ist nicht möglich, siebzehn Millionen, wer hat das gesagt?" „Niemand, ich hab's gelesen". „Aha, da haben wir's," rief Feistinger triumphierend, „Ihr habt es alle gehört, er hat's gelesen!" „Er hat's gelesen!" riefen alle, in Verwunderung, daß solche Dinge, die sie selbst betreffen, wo zu lesen seien. „In der Zeitung hat er's gelesen," bemerkte Feistinger hämisch, „und was da drinnen steht, braucht man nicht zu glauben, denn es ist alles nur erstunken und erlogen." „Und wenn's auch zehnmal wahr wär, was geht's uns an," rief die Witwe Hofer in ihrem entschiedensten Ton, „und ob's Mußsalz oder Gnadensalz heißt, wir kriegen einmal zwölf Pfund per Kopf im Jahr, und d'ran wird nichts geändert." „Wir können da wenigstens nichts machen und nichts ändern," sprachen die andern. „Und wenn wo ein Unrecht ist, sitzt unser Herrgott zu Gericht, nicht wir," belehrte sie, „und er wird schon wissen, warum er alles grad so eingerichtet hat und nicht anders." Michel blickte sie mit einem heiter resignierten Lächeln an, dann streckte er ihr die Hände entgegen und schüttelte sie fest. „Ja Alte, du hast's g'sagt, das ist unser bester Trost und unser einziger. Wenn wir dem Himmel vertrauen, wird sich sicher alles zum Besten wenden." Er hatte sich erhoben und auf seinen Stecken gestützt, schritt er langsam den etwas aufsteigenden Weg in den Ort hinein. Auch die übrigen Männer schritten in Gruppen gesondert den nachbarlichen Hütten entgegen. Der Holzhauer Franzel hatte mit offenem Munde zugehört, er sah nachdenklich aus, was ihm nur selten passierte. 24

„Meiner Seel," sagte er dann, wie zu sich selbst redend, „'s ist unser einziger und letzter Trost." Er wendete sich und bemerkte Arnold neben sich, der ein stummer aber aufmerksamer Beobachter dieser Szene gewesen. „Wissens's junger Herr," sagte der Holzhauer mit einer rauhen jäh hervorbrechenden Lustigkeit sich an diesen wendend, „wir armen Leut, wir glauben noch an den Himmel. Bei dem Hundeleben, das wir führen, können wir den Himmel nicht entbehren, wissens, und die Holl erst recht nicht. Mein Gott, wir müssen doch die Aussicht haben, daß uns da drüben wenigstens die Belohnung aufg'spart bleibt, und 's bleibt uns ein Labsal zu denken, daß die Reichen und Müßiggänger, die in einer Nacht mehr verprassen, als wir Armen in einem Jahr zusammenarbeiten können, dafür alle miteinander in der Hölle braten müssen. Hahaha! wissens junger Herr, es steht schon in der heiligen Schrift, daß ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher in den Himmel, und es könnt unsereinen nur stutzig machen, daß diese Leut' so gar unbesorgt um ihr Himmelreich sind." Der humorvolle Zug verschwand aus seinem Gesicht und machte einem jäh hervorbrechenden Zorn Platz. „Himmel-Herrgott, wenn wir d'rauf kommen täten, daß das nicht wahr ist, daß unser Herrgott unschuldig an unserm Elend ist, und sich überhaupt nicht darein mischt, meiner Seel, wenn wir d'rauf kommen täten, daß wir andere dafür verantwortlich machen müssen — dann —" er schwang die Axt wie beim Holzfällen und warf sie dann wieder über die Schulter — „dann möcht ich bei der Abrechnung schon dabei sein." Ohne Gruß schritt er fürbaß. II Es ist fast Mittg. Die sonndurchwebte Luft ist klar und mild, sie zittert ein wenig. Ein würziger Harzduft dringt aus den Wäldern ringsum, und ein leiser Wind führt ihn weiter und mengt ihm das zarte Aroma bei, das aus den niederen, am Boden wuchernden Kräutern emporsteigt. In dem einsamen Äther hoch oben kreist ein Adler mit 25

langsam majestätischem Flügelschlag. Er scheint in der Luft gleichsam zu stehen, sich im Äther zu baden. Im Dunstkreis der Erde aber tummeln sich unter den gleichen belebenden Einflüssen Myriaden der kleinsten Lebewesen und bringen ihr Lustgefühl zum sinnlichen Ausdruck. Sie alle freuen sich des frischerglühenden Tages, und die Sonne ist ihnen allen Labsal und Freude. Und höher steigt sie und die Temperatur nimmt zu. Aber die Bergleute, diese menschlichen Maulwürfe, genießen nicht ihre Wohltaten. Ausgeschlossen sind sie von Licht und Wärme; die fürchterliche Nacht umgibt sie und sie arbeiten Winter und Sommer in der gleichen feucht-frostigen Temperatur von nur vier Grad Wärme. Und sie arbeiten zumeist allein. Jedem ist seine Stelle angewiesen in einem Gange, der entweder durch frühere Auslaugungen zu einer Kammer sich erweitert hat oder so enge ist, daß ein Mann nur eben aufrecht darin zu stehen vermag. Oft vermag er nur in gebückter Stellung die Bohrlöcher einzuschlagen für die Sprengungen, die alsbald die Felsenmassen, die für die Ewigkeit gefügt schienen, in wilder Kraft auseinander reißen und zum Stürzen bringen. Das Steinsalz wird hinausgeschafft, und in die also gewonnenen Räume wird das Wasser eingeleitet, das gierige Element, das am Boden, an den Wänden, an der Decke weiterfrißt, mit Salz sich sättigt, bis es den nötigen Prozentsatz der Sole in sich aufgenommen hat und in Röhren nach den Sudhäusern abgelassen wird. Georg arbeitet heute in einer solchen Kammer. Sie reicht hoch hinauf und ihre Decke entzieht sich seinem Blicke. Die Grubenlampe, die mit einem eisernen Haken in den Felsen eingestoßen ist, erhellt im engen Umkreis nur eine Wand. Dort glitzert es feucht, und rötliche und weißlich graue Salze schimmern da entgegen, von dunklen symmetrisch laufenden Adern durchzogen, mit Ton gemischt, an manchen Stellen wieder ganz rein kristallisiert, gleich Edelsteinen blitzend. Die kleine Öllampe raucht und qualmt darüber hin; ihr Docht ist frei, durch nichts geschützt, und ihre Füllung reicht für eine sechsstündige Schicht gerade aus. 26

Georg steht aufrecht, das als Spitzkeil wirkende Eisen in der linken, das Fäustel in der rechten Hand; er setzt das Eisen an die Wand, und indem nun jeder Schlag dasselbe treffen muß, höhlt er ein zylindrisches Loch in den Felsen. Das flackernde trübe Licht erleuchtet sein blasses Gesicht und zeigt auf dem dunklen Gekräusel seines kurzen Bartes im grauen Schimmer winzige Salzkristalle. Er arbeitet im Geding, und unaufhaltsam setzt er die monotone Arbeit fort. Seifte intelligenten Augen sind nur auf den einen dunklen Punkt gerichtet, den er zu treffen hat. Er räuspert sich von Zeit zu Zeit; die Lunge muß des abscheulichen Brodems, den sie einatmet, sich entledigen. Das Geräusch seiner Lunge klingt in dieser tiefen Stille und Abgeschlossenheit, die keinen Ton hinausläßt, dem Ohr hart und metallisch, gleich den Schlägen seiner Haue. Sonst alles lautlos um ihn herum; doch nein, ein Tropfen fällt, silbern tönt er, und wieder einer, und wieder — es tropft und rieselt von den feuchten Wänden. Es ist das einzige Zeichen des Lebens außer ihm, das einzige Zeugnis von den ewig wirkenden Kräften in der Natur, das ihm hier zum Bewußtsein kommt. Armseliges Leben! Die Bohrlöcher sind gemacht, mit Pulver gefüllt, und die Bohrnadel ist eingeführt. Den übrigen freien Raum um dieselbe verstopft und verrammelt er mit trocknem Lehm, dem sogenannten Schießkuchen. Jetzt wird die Bohrnadel wieder herausgezogen und an dessen Stelle ein Schilfröhrchen mit dem Schwefelfaden eingeführt. Da die Arbeiter im Geding von ihrem kargen Ertrag die Sprengstoffe, Licht und Lunte selbst zu beschaffen haben, so nehmen sie, um zu sparen, die Lunte möglichst kurz. Und nun —er entzündet die eine und die andere und stürzt mit seiner Lampe hinweg. Wehe ihm, wenn er auf dem nassen schlüpfrigen Salzboden ausgleitet, wenn er fällt, wenn sonst ein Hindernis, und sei es auch nur das einiger Sekunden, seine Flucht hindert, er ist verloren. Er wirft sich auf einen Haufen ausgelaugten Gesteins, das in der Kammer hügelartig den Boden bedeckt — die Detonation erfolgt und mit entsetzlichem Krachen bricht ein Stück der Wand zusammen. 27

Wie jeder Muskel seines Körpers bebt, wie ihm das Herz pocht! Und nun erfüllt den Raum stinkender Pulverdampf und mischt sich mit der matten Grubenluft und dem Qualm der rauchigen Lampe an seiner Seite, die dem Manne das bißchen Sauerstoff in der Luft streitig macht. Er verharrt einen Augenblick in seiner Lage, in tiefen schweren Atemzügen, die Hand gegen die pochenden Schläfen gedrückt. Und wenn ihn nun die entsetzliche Kraft erfaßt und ihn zermalmt hätte, unter den stürzenden Felsen begraben? Was wäre daran gelegen!? was bedeutet denn ein so armselig elendes Leben?! um so elender, weil ihm bereits die Erkenntnis aufgegangen für all das Erhabene, das eine Menschenbrust erfüllen kann, für all das Glück, dessen sie fähig ist. Und er sollte immer ausgeschlossen bleiben, und sein heißes Sehnen würde niemals gestillt werden? niemals jener Durst nach Bildung, nach Wissen, nach Wahrheit?! Es ist wieder ruhig geworden um ihn herum; nur einzelnes Gestein und Blättchen Salz bröckeln noch herunter. Und wieder hört er die Tropfen fallen, tack — tack — tack! Ihn durchschauerts. Ein Ekel überkommt ihn vor sich selbst. Ein Tier dünkt er sich, das in der Höhle haust und sie durchwühlt um seines Fraßes willen. Und nicht einmal gesättigt! nicht einmal das niederste Bedürfnis befriedigt, nicht einmal dies! Und jetzt taucht — ein furchtbarer Kontrast — in der Phantasie des Arbeiters ein Bild auf, das ihm all die Poesie des Lebens verwirklicht, ihm die Bildung des Geistes vereint zeigt mit der edelsten Herzensbildung: Elsa. Schon als Knabe hat er sie geliebt, unter den beschämendsten Martern, und er hätte sich eher die Zunge ausreißen lassen, ehe er eingestanden, wieviel sie ihm gegolten. Jetzt steht er ihr als Mann gegenüber, und wieder wäre Schweigen sein Teil? ein Insichverschließen alles dessen, was ihm die Brust bewegt? Nein! Er fühlt, daß es inzwischen anders geworden ist, sie haben ein gegenseitiges Anrecht aufeinander, und zwischen ihnen gibt es ein Gemeinsames, ein Etwas, das mächtiger ist als Blutsverwandtschaft und dauernder als Liebe. Es ist das gleiche Ziel, der gleiche Endzweck, es ist das, was 28

Mensöhen einer Zeit verbindet, sie unter gleichen Ideen und Voraussetzungen zum Handeln drängt. Auch er wird handeln, und er wird dem heißen intellektuellen Drange folgen, der ihn, einem Gesetze gleich, erfaßt hat, von dem er sich nicht mehr losringen kann und nicht mehr losringen will. Und er wird die Kraft finden, seine elende Lage zu ertragen, seitdem er weiß, daß es sein heiligstes, sein moralischstes Recht ist, sie zu verbessern, und so wird auch er an dem großen Werke der Zukunft mitarbeiten, und was ihm selbst wohl unerreichbar bleibt, für andere wenigstens erringen helfen. Er erhebt sich. Er streicht das wirre Haar aus seinem Antlitz, seine Augen sehen wieder klar und fest und ruhig. Er stößt die Lampe ein und ergreift sein Werkzeug, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. Horch, drei Schläge; dumpf und leise tönen sie. Sie kommen aus einem andern Gang, aber sie sind deutlich hörbar. Sein Wandnachbar fragt bei ihm an, und verlangt von ihm ein Zeichen, das Kunde gibt, daß er die Sprengung ohne Schaden ausgeführt. Georg schlägt als Antwort mit dem Fäustel dreimal an den Felsen. Nach kurzer Zeit wiederholt der andere das Klopfen. Sechs Schläge sinds. Ah, es ist Mittag, und in der Tat, seine Lampe droht zu erlöschen. Er reißt sie aus dem Gestein und wirft Haue und Eisen von sich und ohne einen Blick auf die vollbrachte Arbeit wendet er sich ab. Er verläßt die Kammer und durcheilt mehrere Gänge. Sie sind enge und verengen sich immer mehr. Der Berg wächst, wie es in der Bergmannssprache heißt. Schon sind die mächtigen Balken der Streckenzimmerung zum Teil geborsten, zersplittert, und sie beugen sich immer mehr und mehr unter den stetig anschwellenden Gesteinsmassen. Jetzt gelangt er in den Stollen, in dem die Geleise für die „Hunde" gelegt sind. Sie sind mit Steinsalz beladen und Arbeiter treiben sie vor sich her. Aus allen Stollen treffen nun die Bergleute zusammen, für alle ist nach der sechsstündigen Schicht die Zeit des Ausfahrens gekommen. Von Nacht zum Licht. 4

Minna Kautsky

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Sie schreiten vorwärts ohne ein Wort zu verlieren... Die Arbeiter waren ausgefahren. Sie begaben sich in die Arbeitshäuser und sammelten sich in dem großen Mittelraum tun die daselbst aufgestellten Sparherde. Sie haben ihr Mittagessen selbst zu kochen und treffen nun in hastiger Eile alle Vorbereitungen dafür. Der Hunger treibt sie. In den zwei Herden von übergroßer Dimension ist das Feuer bald angemacht und Holzscheite werden fleißig nachgeschoben, um es zu erhalten. Indes öffnet jeder mit seinem Schlüssel das ihm zugewiesene Schränkchen in der Mauer, in dem er sein Kochgeschirr und seinen Eßvorrat für die ganze Woche zu verwahren hat. Bald entsteht ein Gedränge um die Auslaufbrunnen; die einen füllen ihre Näpfe, die anderen wollen trinken, mancher Lässige hat wohl auch sein Geschirr vom Abend her zu reinigen. Man sieht diese Männer hin und her laufen, alle sind in stummer, geschäftiger Bewegimg. Da diese Küche zugleich der Eßraum ist, so sind die Tische in Reihen hier aufgestellt und zu beiden Seiten mit Bänken versehen. Diejenigen, die nur eine Wassersuppe zu kochen und das Wasser dafür schon zugesetzt haben, genießen nun den Vorteil, sich einer vorläufigen Ruhe hingeben zu können. Sie versuchen dies auch, da aber alle diese Bänke, wahrscheinlich um ihre Rücken nicht zu verwöhnen, ohne Rückenlehnen und äußerst schmal sind, schmal wie alles hier oben, so ist es keine so leichte Sache, eine Stellung ausfindig zumachen, die dem ermüdeten Körper ein Ausruhen ermöglicht. Sie legen endlich beide Arme über den Tisch und den Kopf darauf. Die Mehrzahl ist eben dabei ihre Nocken zu machen, das tägliche Essen der Salzarbeiter. Stehend halten sie ihre hölzernen Schalen vor sich und rühren Mehl und Wasser zu einem Teige wacker durcheinander; das Fett ist aufgestellt und sobald es heiß geworden, legen sie die Nocken hinein. Es ist ein sonderbarer Anblick, all diese Männer, in wollenen Hemden, in schmutzgefleckten Beinkleidern und Holzschuhen vor den rotglühenden Herden und den prasselnden Pfannen zu sehen, den Oberkörper stark vorgebeugt, 3o

mit Stäbchen die im Fett schwimmenden Nocken wendend, gierig den Augenblick ersehnend, wo sie herausgebacken sein werden. Bald konnten sie das fertige Gericht auf den Tisch stellen, und da die, die nur ihre Wassersuppe zu verrühren hatten, ebenfalls damit zu Ende gekommen waren, so konnten nun all diese hungernden Mägen, gleichzeitig und so gut es eben ging, befriedigt werden... Die Arbeiter hatten ihr Mahl beendet und ihre Töpfe gewaschen. Sie nahmen die Pfeifen und traten aus dem Hause; sie warfen sich auf den sonnenbeschienenen Boden, dem Moose und duftige Alpenkräuter entsproßten. Ah, die Sonne, die Wärme, das tat ihnen so wohl, so wohl! Wie selten konnten sie sich ihrer erfreuen und nur auf Augenblicke. Einige hatten sich alsbald der Länge nach hingestreckt und schlössen in Ermüdung die Augen. Andere saßen da, ihre Pfeifen rauchend, und nur hie und da ein Wort wechselnd, ein Scherzwort tauschend . . . Georg hatte, gleich seinen Kameraden, an dem sonnigen Abhang sich auf das niedere duftende Gras hingestreckt, das zwischen den Steinen emporwuchs. Er hatte seine Pfeife angezündet und auf einen Arm gestützt, blickte er vor sich hin, über die sanft rauschenden Wälder hinweg, nach jenem grünen glitzernden Endchen des Sees. Die Mittagsglut lagerte über ihnen, aber sie wirkte nicht sengend hier oben. Nur ruhiger schien alles Weben und Leben, und stärkerflimmertedie Luft. Da hebt Georg den Kopf, er lauscht — war das der Wald? Nein, er vernimmt es jetzt deutlicher, es ist der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes, das den Serpentinenweg heraufkommt... Georg sprang mit einem Male in die Höhe. Roß und Reiter waren sichtbar geworden, sie hatten den Waldweg hinter sich und sprengten nun die Anhöhe hinan. Eine Dame saß im Sattel, er hatte sie sofort erkannt, es war Elsa . . . Aber wie sie daher jagte! Vorgebeugt saß sie im Sattel und der Wind wehte den Schleier ihres Hutes hoch über ihren Kopf empor. Jetzt hatte sie die Stelle erreicht, wo der Weg ungemein steil und über Geröll aufwärts führt, das Pferd bleibt stehen, es weigert sich offenbar, da hinauf zu gehen. Was will sie nur? Hat sie nicht den Fuß aus dem Steigbügel gezogen?! Welche Verwegenheit! sie springt 4*

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vom Pferd und wirft ihm die Zügel über den Hals. Und sie besinnt sich keinen Augenblick, sie hastet empor, fast im Laufe springt sie die steile Anhöhe hinan. Ihr Kleid hat sie heraufgenommen, um ihre Füße nicht zu hindern, ihr Gesicht ist erhitzt und glühend, und ihr goldiges Haar verwirrt; es hat sich unter dem Hut gelöst und wogt und wallt über ihre Schultern herab. Er hat die Pfeife den Kameraden zugeworfen und stürzt ihr entgegen. Auch sie hat ihn erblickt und winkt ihm zu. „Georg!" ruft sie, dann steht sie still, ihre Kräfte scheinen sie zu verlassen, sie ringt nach Atem. Schon ist er an ihrer Seite und unwillkürlich erfaßt er ihre Hand. Sie zitterte in der seinigen, er fühlte die heftigen Schläge ihres Pulses. „Fräulein! was treibt Sie zu so wahnsinniger Eile, Sie sind außer sich —weshalb? . . . " Sie wollte antworten, aber die Stimme versagte ihr und so im Innersten bewegt und in ihrem physischen Unvermögen sich zu äußern, stürzten ihr die Tränen in die Augen und ein krampfhaftes Schluchzen hob ihre Brust. Er sah sie an, angstvoll, bestürzt. „Es ist etwas geschehen!" rief er. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie alle Besorgnis verneinen, sie versuchte zu lächeln, und in dem einzigen Bemühen, ihn zu beruhigen, legte sie ihre zarte weiße Hand auf die derbe schwielige des Bergarbeiters. „Es ist nichts — gewiß nichts — nichts, das Sie erschrecken müßte — es ist nur die Empörung, der Zorn — der mich erfaßt — die mich heraufgetrieben — zu Ihnen, Georg." „Zu mir!" Ihr Auge blitzte flammend auf. „Ja, widerrechtlich ist man bei Ihnen eingedrungen, widerrechtlich hat man Sie beraubt — es ist abscheulich!" In seinem Kopfe brauste es auf, aber in sein Herz senkte sich ein Gefühl süßer Trunkenheit. Er fühlte es in dem Augenblick so tief, daß sie ein Hohes, ein Geistiges verband. Ihm war ein Unrecht geschehen und sie empfand es bitterer, als hätte man es ihr selbst getan, und es erregte ihren Zorn und Schmerz und brachte ihr Tränen in die Augen. Wie machten sie sie ihm teuer, diese Tränen! „Sprechen Sie nicht, jetzt noch nicht," bat er, als er ihre 32

Lippen sich abermals bewegen sah, „ruhen Sie sich aus, erholen Sie sich zuvor:" Er führte sie an der Hand nach der Stelle, wo die Arbeiter sich gelagert hatten. Erschöpft ließ sie sich nieder. Die Gruppe der Lagernden kam in Bewegung. Einige rückten zurück, andere standen auf, um sich zu entfernen. Sie machte eine Gebärde, um sie zurückzuhalten. „Bleiben Sie, ich bitte Sie, hören Sie, was ich zu sagen habe, es betrifft auch Sie — es ist ein Eingriff geschehen in Ihr aller Recht." All diese treuderben Gesichter wandten sich mit einem neugierig fragenden Ausdruck ihr entgegen. „Was ist's denn, was ist gescheh'n?!" „Man durchsucht eure Häuser!" stieß sie hervor. „Wer tut das? Und wieso? Warum?" tönte es im Chor rundum. „Ein Kommissär, begleitet von einem Gendarmen, sie dringen in die Wohnungen, sie durchstöbern alles." „Polizeiliche Hausdurchsuchungen also auch bei uns," sagte Georg bitter, aber in einem männlich gefaßten Ton. In den Mienen seiner Kameraden aber spiegelte sich Erstaunen und Bestürzung. Ein Gemurmel ging durch die Reihen. Die Mehrzahl unter ihnen schien das Geschehnis gar nicht erfassen zu können. „Bei Georg Hofer haben sie angefangen," fuhr Elsa fort, „hierauf sind sie zum Frieder gekommen. Ich war mit Evi in der Küche, als sie eintraten. Das arme Mädchen war aufs tiefste erschreckt, und ihr Vater, der alte kranke Mann zitterte am ganzen Leibe; er suchte sich gleichwohl den Eindringenden entgegenzustellen." „Hatten sie eine gerichtliche Vollmacht?" fragte Georg. „Ich fragte sie darum; der Kommissär wies mir ein Papier vor und fügte hinzu, daß hier im Orte Druckschriften in ungesetzlicher Weise verbreitet worden seien, darunter" — Elsas Augen trafen in einem tieferen Blick auf Georg — „eine Broschüre, die verboten ist. Man war gekommen, um sie zu konfiszieren." Die Bewegung unter den Arbeitern hatte zugenommen, andere waren herbeigeeilt und rasch informiert worden. 33

Auf alle wirkte das Wort „konfisziert" sensationell; laut und in erregter Weise ging es von Mund zu Mund. „Konfisziert, das heißt weggenommen! — sie haben uns die Broschüre wegg'nommen! Warum haben sie das getan? warum?" „Habt ihrs denn nicht g'hört: weil sie verboten ist," rief der kleine Feistinger dazwischen, der seit Jahren als Spion verdächtig war, und dessen roter Schnurrbart jetzt noch struppiger in die Höhe stand, als zu der Zeit, wo wir ihm zuerst begegnet waren. „Wir haben die Broschüre durch den Buchhandel bezogen, wie hundert andere auch," rief Georg ihm entgegen, „und wir haben sie zu einer Zeit bezogen, wo sie noch nicht verboten war; wir waren vollberechtigt in den Besitz derselben gelangt und es war kein Grund vorhanden, uns darin zu stören." „Oh, man hat sich nicht damit begnügt," fuhr Elsa fort, die nun freier atmen konnte und ihrer Herzensempörung kräftiger Ausdruck verlieh. „Man hat bei dem Frieder alles durchwühlt, alles Lesbare in Beschlag genommen, und ich konnte aus ihren Worten schließen, daß man vorhabe im Orte überall ein Gleiches zu tun. Ich eilte fort, ich konnte es nicht länger ruhig mit ansehen; ich kam in das Gasthaus, wo mein Pferd eingestellt war, dort stand ein Karren, den sie mitgebracht hatten, ich sah Bücher und Schriften, die soeben darauf verladen wurden, ich erkannte Ihre Bücher, Georg, diejenigen, die mein Vater Ihnen hinterlassen hatte." Georg biß die Zähne zusammen: „Es war mein Teuerstes." „Und sie gehen von Haus zu Haus?" fragten die anderen sich herandrängend, mit immer höher erregten Gesichtern. „Von Haus zu Haus," bestätigte Elsa. „Und sie nehmen auch uns die Bücher?" „Sie haben sie euch schon genommen!" Wie ein dumpfes Brausen, ein unterdrücktes Grollen durchlief es die Reihen. Jedem war der Mißmut aufgestiegen und der Grimm, den eine Handlung der Ungerechtigkeit erzeugt. Und jedem schien es jetzt, und wenn er auch nur einige alte abgegriffene Büchlein sein eigen nannte, als wäre ihm damit sein Kostbarstes entrissen worden; jener kleine Schatz' 34

den er Vinter tausend Entbehrungen nur erwerben konnte, den in seiner Lage nur ein fast heroischer Wille, ein unabweislicher Drang nach Wissen zustande gebracht. Jeder erinnerte sich in dem Augenblick, wie er sich den Bissen vom Munde abgedarbt, wie er Kreuzer um Kreuzer zusammengelegt, wie er ein dringendes Bedürfen von Weib und Kind oft zurückgewiesen, um sich eine Zeitschrift oder ein Buch zu kaufen. Unddies so sauer Erworbene, es sollteihnen genommen worden sein? Das Friedlichste der Gewalt anheim gefallen?! Und das Grollen wurde lauter, es steigerte sich, es loderte empor zu drohender Zornesäußerung. „Es war unser sauer erworbenes Eigentum!" „Meiner Treu, es war nicht gestohlen!" „Und das sollte man uns nehmen dürfen?" „Es ist ein Gewaltakt!" „Müssen wir uns das gefallen lassen?" Aller Blicke wandten sich Georg zu, wie einem geistigen Oberhaupte, von dem man das Wort des Rechts und der Entscheidung erwartet. Er stand da, blasser noch als gewöhnlich, und er antwortete nicht sogleich, er suchte den eigenen überwallenden Zorn hinabzukämpfen. Da wandte sich Feistinger höhnisch ihm zu. „Na, was bist denn so stad, du kannst ja sonst reden, so red jetzt auch! Du hast ihnen ja alleweil die Bücher anempfohlen, du hast sie ihnen ja kolportiert und du hast's dahin gebracht, du, daß jetzt alle lesen." Georg hob den Kopf, sein Gesicht nahm einen harten energischen Ausdruck an. „Warum hätte man uns denn lesen gelehrt, als um zu lesen? Ja, wir lesen, lesen alle, und weil wir lesen und seitdem wir lesen, sind wir imstande die Wahrung unserer Interessen selbst in die Hand zu nehmen, und so wird auch unsere Sache durch uns selbst zur Entscheidung gebracht werden!" „Hört ihr den Aufwiegler?" rief Feistinger giftig, „na, die Herren wissens alle, daß er euer Capo ist, und daß er es ist, der die Broschüre eingeschmuggelt und kolportiert hat. Wenn die Polizei bei ihm zuerst die Hausdurchsuchung g'halten hat, so hat sie sicher g'wußt warum." 35

„Wenn sie's g'wußt hat, so hat sie's nur durch einen Spion erfahren," schrieen einige der Männer ihm entgegen, „und wir wissens ebensogut, daß wir durch einen Spion denunziert worden sind." „Ja, ja, wir sind denunziert worden!" schrien nun alle wild durcheinander. Die Empörung brach mit einem Male in helle Flammen aus; der innerliche wütende Zorn hatte einen Gegenstand gefunden, an dem er sich auslassen, einen greifbaren Gegenstand, über den man sich sofort hermachen konnte. „Der Feistinger ist's, er ist die Kanaille, er ist der Angeber, faßt ihn!" Im Nu sah sich der kleine Mann umringt und er stand vor erhobenen Fäusten, die sich ihm dräuend entgegenballten. Aber ebenso rasch hatte sich Georg an seine Seite gestellt. „Was wollt ihr mit ihm? Er ist ein Schuft, aber für das was euch geschehen, was sich in euren Häusern soeben vollzieht, dürft ihr ihn nicht verantwortlich machen, und keinen Einzelnen überhaupt. Ein System kämpft gegen uns und wir gegen ein System." „Wir müssens also dulden? und dem Lumpen sollt' nur der Kamm anschwellen, daß ihm seine Schufterei so gut gelungen ist? Nichts da, der Kerl muß gehauen werden, und das tüchtig!" Schon hatten sie ihn an den Armen gepackt und sofort ward er in nicht eben sanfter Weise in den dichten Menschenknäuel hineingerissen. „Pfui, schämt euch!" rief Georg, der sich ihm nachzudrängen versuchte, „Alle gegen Einen, die Starken gegen diesen Schwächling!" Aber die Erbitterung war im Wachsen. „Ei was!" schrie man ihm entgegen, „wir sollen uns immer schämen, nicht wahr? warum schämt man sich denn nicht uns gegenüber?!" „Wir g'hören auch zu den Schwachen, meinst nicht? Und doch sind wir unser Lebtag von den Starken bedrückt worden." „So ist's!" riefen alle. „Und ich mein's halt wieder anders," rief ein hochgewachsener Arbeiter dazwischen, „ich sag, was uns jetzt trifft, das dürft nimmer g'schehen, wenn wir uns nicht selbst zu den Schwachen zählen täten und zu den Hilflosen." 36

„Hilflos!" lachte ein junger Bursche, der ein kühngeschnittenes Gesicht hatte, laut auf, „das wollen wir einmal sehen, kommt's mit mir 'nunter, wir nehmen uns z'ruck was unser ist, und meiner Seel, wer uns dran hindern wird, dem geht's schlecht!" „Ruhe!" schrie Georg mit einer Donnerstimme in den tollen Haufen hinein. „Seid ihr wahnsinnig, wollt ihr euch gegen ein Gesetz empören?" „Wir wollen unsere Bücher wieder haben!" „Wir werden die Zurückgabe auf gesetzlichem Wege erreichen!" „Haha! das ist ein langer Weg." „Und ein z'widrer Weg." „Und was einmal g'nommen ist, das kennen wir, das kriegt man nimmer!" „Und doch können wir nur auf diesem Wege vorwärts kommen — hört mich!" Georgs Stimme gewann jenen Ausdruck geistiger Kraft, der auf andere bestimmend wirkt: „Ich fordere euch auf, keine Unbesonnenheit zu begehen, sie könnte euch teuer zu stehen kommen. Und nun gebt den Feistinger frei, und laßt uns in Ruhe zu einer Beratung zusammentreten." Es war verhältnismäßig stiller geworden. In diesem Augenblick trat der Verwalter unter die Leute . . . „Es ist zwei Uhr," rief er, „an eure Arbeit, Leute, sofort! Kein Lärm mehr, keine Widerrede." Und als die Ruhe doch nicht sofort eintrat, ja Rufe und Gegenrufe sich vernehmen ließen, und das Begehren laut wurde, daß einige von ihnen nach Amsee entsendet werden mögen, schrie er den Steigern zu: „Die Tafel zur Hand und die Uhr, wer in zwei Minuten nicht in den Schlafsälen sich zum Gebet versammelt hat, wer beim Aufruf fehlt, ist entlassen." Eine plötzliche unheimliche Stille folgte diesen Worten. Sie wußten es alle, was eine Widersetzlichkeit zu bedeuten habe. In all den Gemütern tobte noch der Zorn, die Herzen dieser Männer klopften wild, ihre Muskeln bebten, und doch suchte jeder seinem Blute zu gebieten, den lodernden Grimm zu bändigen. 37

Keiner durfte in dem Augenblick an sich denken, er mußte an Weib und Kind sich erinnern und der greisen Eltern. Er durfte sie nicht verlassen, um seine Kräfte anderwärts zu verdingen, er war durch die eiserne Notwendigkeit gefesselt an diesen Boden. Sie gingen alle — alle. Es gibt auch einen Heroismus des Gehorsams.

VICTORIA

Die Haupthandlung des Romans „Victoria" stellt den Lebensweg eines jungen Malers dar. Eugen Oswald stammt aus ärmlichen Verhältnissen, kann aber die Aufmerksamkeit eines Wiener Finanziers auf sich lenken, der ihn auf jede Weise fördert und sogar mit seiner Tochter verlobt. Während eines Studienaufenthaltes in Kaltenbach wird Oswald mit Franzel bekannt, einer Arbeiterin aus der Spinnfabrik „Victoria". Unter ihrem Einfluß sagt er sich von seinem Protektor und damit von der Auffassung los, daß der Künstler sich des Verdienstes wegen dem Geschmack der herrschenden Kreise unterordnen müsse. Oswald geht mit Franzel nach Schottland, um dort frei und ungebunden seiner Kunst leben zu können. In den Nebenhandlungen werden die Folgen der kapitalistischen Industrialisierung in Kaltenbach gezeigt: der Übergang von extensiver zu intensiver Ausbeutung in der Spinnfabrik und der Verfall des Handwerks. Die Arbeiter der Spinnfabrik legen nach der Einführung neuer Maschinen spontan die Arbeit nieder. Sie erleiden aber eine Niederlage, weil ihnen jede Verbindung zu den gewerkschaftlich organisierten österreichischen Arbeitern fehlt. Franzel, die Kallenbach nach ihrer Bekanntschaft mit Oswald verlassen hatte, wird unabsichtlich in ihren Streik verwickelt. Das Schicksal des Handwerks wird am Beispiel der Familie Brandhofer gezeigt. Brandhofers Sattlerei ist der Konkurrenz der Lederfabriken nicht mehr gewachsen. Der Meister hofft auf günstigere Verhältnisse, obwohl ihm der organisierte Metallarbeiter Hüber den Niedergang des Handwerks als Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung im Kapitalismus erklärt. Erst nachdem er seine Werkstatt schließen mußte, erkennt Brandhofer, daß Hüber recht hatte, und schließt sich der Arbeiterbewegung an. 39

Die Spinnfabrik Die Glocke des alten Kirchturms begann das Mittagsgeläute. In der Baumwollfabrik Victoria von Konrad Riehl herrschte noch immer eine rege, mannigfaltige Tätigkeit. Die Schwungräder der Dampfmaschine arbeiteten unverdrossen und setzten durch zahlreiche Transmissionen die verschiedenen Maschinen in Bewegung, welche der komplizierte Prozeß der Garngewinriung bedingt. Die Kratzmaschinen funktionierten kreischend in doppelter Bewegung. Hierbei waren ausschließlich Männer beschäftigt. Bei den Doubliermaschinen und Streckern, wo die, zu einem konsistenten Bande vereinigten Fasern, in Bänder geteilt und durch fortschreitende Dehnung die nötige Feinheit erhalten, standen nur Mädchen in Verwendung. In einem großen Saale waren die Spinnmaschinen aufgestellt. Hier wirbelten die Spindeln in dem rasenden Tempo von 8000 Touren in der Minute um ihre eigene Achse, und die Streckwerke gingen vor- und rückwärts, die Spulen abwickelnd, bis das feinste Garn gewonnen war. Hier arbeiteten Männer und Knaben, die letzteren als Andreher. Welch eine Summe von Arbeit, welche Bewegung, durch geheimnisvolle Kräfte vollführt! Und wie das pfeift und surrt und quiekt und poltert! Aber all dieser ohrzerreißender Lärm wird noch übertönt durch den Opener*, dem die Arbeiter selbst den Spitznamen „der Wollteufel" gegeben haben. Es ist die Vorbereitungsmaschine, welche mit dem Rohmaterial zu manipulieren hat, und die noch konsistente Masse durch eine große eiserne Walze, welche in 3000 Umdrehungen in der Minute dagegen stößt, buchstäblich in Fetzen reißt. Was nicht Faser ist, wird ausgeschieden; die schwereren Körperchen fallen zu Boden, die Staubteile aber wirbeln heraus und erfüllen den Raum. Der Wollteufel vollbringt seine Arbeit unter einem entsetzlichen Getöse. Es ist ein ununterbrochenes metal* Öffner (Anmerkung von Minna Kautsky)

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lisches Ineinanderdröhnen von unheimlicher Kraft und Stärke, es ist eine ewige Melodie, die die Nerven ertötet. Aber die Maschine hat keine Nerven, sie arbeitet weiter, arbeitet unaufhörlich, Tag und Nacht, in steter Gleichmäßigkeit und Akkuratesse, und fordert nichts, als die aufmerksamste Aufsicht und Bedienung. Der einundzwanzig] ährige Andreas hatte den Dienst bei dem „Opener". Er entnahm dem mit Eisenreifen umgürteten Ballen die ungereinigte graue schmutzige Baumwolle und stopfte den Wollteufel damit voll, der diese zerreißt und vom Schmutz und allen fremdartigen Bestandteilen reinigt. Der graugelbe Schmutz, der durch den enormen Luftdruck dem Opener entwirbelt, liegt auf seinen Kleidern, die nichts mehr von ihrer ursprünglichen Farbe zeigen, er überdeckt sein feuchtes Gesicht und rinnt zum Teil wieder mit dem Schweiß herunter. Eine noch dichtere Schicht dieser Unreinlichkeiten bedeckt seine Haare und den dünnen rötlichen Flaum, der seinem Kinn entsproßte. Wie nahe er herzutrat und sich vorbeugte, so daß man vermeinte, er müsse mitgerissen und zermalmt werden! Aber er hantierte ruhig und sicher und selbst das Getöse hatte seine Wirkung auf ihn verloren, er war taub geworden. Das unaufhörliche Dröhnen hatte seine Ohrennerven ertötet. Wie er sie haßte, diese Maschine, den Wollteufel, der ihm alle Lebensfreude geraubt hatte, der ihn in einen Zustand versetzte, der ihn wehrlos dem Gespött preisgibt, und ihn als einen Unzurechnungsfähigen erscheinen läßt. Und er, in dessen Brust es jünglingshaft sich regte, nach Freude und Freiheit verlangend, er mußte sein Knecht sein, er mußte es füttern, das gefräßige Ungeheuer, den langen Tag hindurch, es schmieren und säubern und jede Sorgfalt ihm weihen. Und wenn er auch den Höllenlärm nicht hörte, so empfand er ihn doch in jedem Nerv. Der Boden bebte und zitterte unaufhörlich unter der Erschütterung und diese teilte sich seinem Körper mit und dem ganzen Raum, und setzte sich weiter und weiter fort. — Dem Saal, in dem der Opener stand, war ein Halbstock aufgesetzt, der nur einen dünnen Bretterboden hatte. Da oben befanden sich die Hasplerinnen. 41

Die Haspelmaschinen waren nicht schwer und die Hasplerinnen, meist ganz junge Mädchen, waren noch leichter, der Boden trug sie. So konnte eine ganz vorschriftswidrige Anordnung seit Jahren bestehen, ohne daß dies zu einer Klage Veranlassung gegeben. Dieser dünne, sich schwingende Boden, war in immerwährender Vibration, und den Mädchen, die darauf standen, zitterten tatsächlich die Beine. Die kleine Franzel hatte hier ihren Platz, und ihr zarter Körper litt bedenklich unter den Erschütterungen und dem Getöse, das so deutlich von unten heraufdrang. Während ihrer langen Arbeitszeit ist sie auf einen Platz gebannt, es ist ihr verboten, ihn zu wechseln, oder sich auch nur niederzusetzen. Und sie reguliert die Bewegungen des Rades und setzt die Spindeln auf, eine nach der andern, mit den gewandten Fingern rasch die Fäden andrehend. Es ist die Arbeit eines Automaten, immer dieselben Handgriffe, dieselbe Bewegung, welche dieselben Muskeln in Anspruch nimmt. Sie vollzieht ihre Arbeit mit hocherhobenen Armen, die keinen Stützpunkt haben, in stark vorgebeugter Haltung. Ihre Augen haben ja dies wirbelnde Spiel zu verfolgen, sie darf es nicht eine Sekunde außer acht lassen, nicht nach oben, nicht nach unten hin, und sie hat außerdem genau die Fäden zu zählen, die in ein Gebinde kommen. Die Mädchen alle, die da in einer Reihe nebeneinander stehen, sind auf das Leichteste bekleidet. Sie tragen einen dünnen Rock, der kaum bis an die Knöchel reicht und die nackten Füße darunter sehen läßt, darüber eine große Schürze, die nach unten hin fest zurückgebunden ist. Der Oberkörper ist nur mit einem Hemde bekleidet, das die eine oder die andere sogar ein wenig über die Schultern herabfallen läßt. Es ist so heiß und der Zutritt von frischer Luft so ziemlich ausgeschlossen, da kein einziges dieser großen Fenster zum öffnen eingerichtet war. Die Wolle ist eben gar empfindlich gegen den leisesten Luftzug, ihre feinen Härchen sträuben sich dann wie im Widerwillen empor und fangen zu flattern an, und die Fäden reißen, reißen unaufhörlich. Die Wolle liebt Dunst und Wärme, und die Arbeiter haben sich schließlich an diese Temperaturen gewöhnt, die die eines Treib42

hauses sind und sie in immerwahrender Transpiration erhalten. Die dunstige, beklemmende Schwüle, die fette Luft, die mit dem Geruch von Schweiß und ranzigem ö l erfüllt ist, wurde in dieser Sommermittagsstunde schier unerträglich. Aber immer noch wirbeln die Spindeln, drehen sich die Räder der Maschinen, immer noch surrt und dröhnt es in den Ohren, und immer noch starren all diese blassen Gesichter stumpfsinnig auf die rasende Arbeit, jede dieser blitzartigen Bewegungen verfolgend. Aber in dem Maße, als der Prozeß vorwärts schreitet und die Produzenten ermattet und erschöpft sind und ihre Lungen schwerer atmen, in dem Maße, als diese Menschen immer häßlicher erscheinen unter dem Schmutz, der sich auf ihnen ablagert, geht das Produkt gereinigt hervor und präsentiert sich in blendender Weiße und Schönheit. Endlich läutete auch hier die Mittagsglocke, und im nächsten Augenblicke standen wie durch einen Zauberschlag alle Maschinen still und die Arbeiter waren hinweggestürzt.

Proletarier und Handwerker In dem ebenerdigen Häuschen, das Paul Huber derzeit allein bewohnte, da eine zweite Partei sich noch nicht gefunden, brannte Licht. Paul saß vor einem kleinen Tische und las, hie und da mit Bleistift in einem Heftchen Notizen machend. Das Fenster seiner Stube stand offen, und der Wind warf den einen nicht eingehängten Flügel desselben heftig zu, um ihn dann mit einem mißtönenden Knarren langsam wieder zu öffnen. Paul beachtete es nicht. Er hatte das Buch von sich geschoben, und den Kopf in die Hand stützend, saß er nun in tiefen Gedanken. Eigenes und fremdes Leid bedrückte ihn. Und je mehr er einsah, daß er für sich selbst nichts mehr zu hoffen habe, um so höher brannte in seinem Herzen die Überzeugung auf, daß er noch hohe und heilige Pflichten zu erfüllen habe für andere. Erst in der letzten Zeit hatte er sich rückhaltslos jener 43

Bewegung der unteren Klassen angeschlossen, die offen ihre Forderungen aufstellen und durchzusetzen bemüht sind und die Einführung eines gerechten Zustandes der Gesellschaft dringend als eine Notwendigkeit bezeichnen und so lange begehren und wieder begehren werden, bis sie erfüllt sein wird. Sein Kind war tot, aber sollte er müßig zusehen, wie auch die Kinder anderer durch das Elend verkümmern, in Not und Tod getrieben, ein vorzeitiges Endefinden?— Ein störendes Etwas, das seine Nerven berührte, ließ ihn aufsehen. Ein dunkler Schatten war an seinem Fenster vorübergeglitten. Er erhob sich, um nachzusehen. Eine Gestalt lehnte an der Mauer, dem Fenster zunächst; sie ließ ihn näher kommen, ohne sich zu rühren. Jetzt erkannte er sie in ihrer Silhouette. „Sie sind's, Fräulein Mili?" sagte er betroffen, und dann, sich bemühend, seiner Stimme den ruhigsten Klang zu geben: „Was wünschen Sie?" Sie antwortete nicht sofort, sie tat einen Seufzer und sagte dann so leise, daß er sie nur mit Mühe verstehen konnte: „Ich gehe fort — morgen — mit meinem Bruder — mir Arbeit suchen — und da —" „Wollten Sie mir noch einmal die Hand geben. — Ich danke Ihnen". Er streckte sie ihr entgegen. Sie nahm sie . . . ließ sie los und sprang empor, als wollte sie entfliehen, aber das krampfhafte Schluchzen, das sich ihrer Brust entrang und das sie nicht zu unterdrücken vermochte, schien ihre Bewegung zu lähmen. Er hatte sich auf das Fensterbrett geschwungen und zog sie näher . . . Die Tränen des jungen Weibes fielen dem Manne aufs Herz . . . Mit einem Ruck hatte er sie zu sich emporgezogen und sie saßen nun nebeneinander am Fensterbrett, er innerhalb, sie außerhalb des Zimmers. , Aber er wollte keiner unnötigen Weichheit sich hingeben, er mußte kühl bleiben und besonnen für sie beide . . . In der Stille der Nacht hörte man deutlich Schritte, die sich dem Hause näherten. „Der Vater!" flüsterte Mili zusammenschreckend. Im nächsten Augenblick stand sie in Paul's Zimmer, und in 44

ebenso rascher Weise, nur ihrem Instinkte gehorchend, löschte sie das Licht. Und lautlos standen sie beide, sich an den Händen haltend, die Blicke gegen das Fenster gerichtet. Eine dunkle Gestalt trat jetzt vor die Öffnung. „Mili!" rief der alte Brandhofer in seiner rauhen zornigen Weise, „mit mir spielst nicht Verstecken, das bild' dir nicht ein, oder ich werd' dir übel mitspielen." Ehe man sich's versah, war der alte vierschrötige Mann zum Fenster hereingesprungen. „Licht machen!" schrie er dem Huber entgegen, der ihm entgegentrat, „Licht, Licht! Ich weiß zwar, was ich zu sehen krieg, aber ich will's doch mit eigenen Augen sehen, weil ich's am End' sonst nicht glauben könnt'!" Schon hatte er selbst ein Streichholz hervorgezogen lind mit einem Strich an seinem Beinkleide entzündet. Paul war bereits mit der Lampe beschäftigt. Seine Hand, die den Docht anzündete, war ruhig. Alsbald war die kleine Stube hinlänglich erhellt und Vater Brandhofer konnte sich darin umsehen. Seine Tochter hatte sich soweit als möglich von ihm zurückgezogen und lehnte an einer wackeligen Kommode. Paul blieb am Tische stehen, und die Arme verschränkend blickte er den Eindringling fest und gleichsam herausfordernd an. Dies war nicht geeignet, den zornigen Mann zu besänftigen. Er wandte sich zuerst seiner Tochter zu. „So treibst du's also? Läufst dem Manne des Nachts auf die Stube! Schämst du dich nicht, du — pfui!" Er spuckte auf die Seite. „Vater!" rief das Mädchen, halb unwillig, halb bittend, „lassen Sie sich doch sagen." Der Alte fuhr mit der Faust gegen sie los, aber Paul trat dazwischen. „Ihr Zorn ist ganz ungerechtfertigt, Herr Brandhofer, und Ihre Voraussetzungen sind grundlos. Ich muß Sie daher bitten, sich zu mäßigen und mich anzuhören." Er erzählte in kurzen Worten, wie alles gekommen, aber Brandhofer war dadurch keineswegs gebändigt und bald sie, bald ihn apostrophierend, schrie er: „Also an's Fenster bist du gekommen; so, nur an's 5

Minna Kautsky

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Fenster? Ei, aber mir ist das schon zu viel, wissen Sie? Und du willst dir auf deinen Stolz was einbilden und gehst zu einem Arbeiter fensterin? Aber ich hab' mir's ja immer gedacht, zu was wären denn auch die Wasserwerke immer in Bewegung gewesen, wenn dir der Mensch so gleichgültig gewesen wäre. Aber ich duld' keine Liebschaft mit Ihnen, hören Sie? und auf das Mädel machen Sie sich keine Hoffnung, mit der hab' ich andere Pläne." Paul verharrte in seiner ruhigen Stellung und verzog nur den Mund zu einem bittern Lächeln. „Das würde mich wenig kümmern. Die Zustimmung des Familienoberhauptes spielt nur bei Geldheiraten, wo es sich um die Mitgift handelt, eine Rolle, unter Besitzlosen ist sie nicht von Belang." Der Alte glotzte ihn an, als hätte er nicht recht gehört. „Wie meinen Sie das? Bei Ihnen hätt' also der Vater nichts drein zu reden; ah, das wäre neu, aber das gibt's nicht. Ich hab' das Recht, mein Kind vor einem Unglück zu bewahren, und das wär' das größte, was sie treffen könnt'." Die bräunliche Wange des jungen Arbeiters erblaßte sichtlich. „Ich will Sie nur beruhigen, Herr Brandhofer," sagte er nicht ohne eine gewisse Hoheit; „ich denke nicht daran, Ihr Kind unglücklich zu machen. Ich habe ihr gegenüber niemals den Bewerber gespielt, und sie hat mich auch niemals dazu ermutigt. Sie können sich daher ihre Winke und zarten Andeutungen ersparen." „Wer's glaubt," brummte der Brandhofer in den Bart. Aber im Ton und Wesen des jungen Mannes war etwas, das ihm unwillkürlich imponierte. Der Huber war freilich nur ein Arbeiter, aber doch eigentlich ein anständiger Kerl, und als solcher mußte er begreifen, daß ein Bürgermädchen nicht für ihn passe. Aber sie war die Tolle, die ihm nachlief, und ihretwegen war er keineswegs beruhigt. „Soll mich freuen, wenn Sie ein Einsehen haben, Huber," sagte er mit einer gewissen Gutmütigkeit, „aber dann setzen Sie ihr nur gleich selber den Kopf ordentlich zurecht. Die Weibsbilder müssen immer von uns Männern zurVernunft gebracht werden, das ist eine alte Geschichte; und wenn die Mili auch sonst sehr gescheit ist, und das 46

hat sie von mir, so kommt über jedes Frauenzimmer doch einmal der Raptus, das ist wie eine Kinderkrankheit, und da heißt's zurückhalten, denn die Reue kommt hinterher, aber zu spät, und daher sagen Sie ihr nur ganz offen und ungeniert, daß — daß —" „Daß sie für mich viel zu gut wäre," ergänzte Paul mit einem kurzen Lachen, das gleichwohl die ganze Aufregung seines Innern verriet. „Nicht wahr, das meinen Sie doch, das ich ihr sagen soll?" Und in einem schneidenden Ton, der humoristisch klingen sollte, „nun, Sie verlangen gerade nicht wenig von mir, dem Arbeiter, dem Proletarier. Aber das ist die beliebte Weise, die man überall uns gegenüber in Anwendung bringt. Man verweist uns auf die niedrigste gesellschaftliche Stufe und stellt zugleich an unsere Mäßigkeit, an unsere Klugkeit und Ehrenhaftigkeit die höchsten Ansprüche. Man erlaubt uns, Helden zu sein, wo es sich um Entsagung handelt. Also Fräulein Mili, ganz ungeniert und ohne Umstände, ich warne Sie vor mir. Lassen Sie sich's ja nicht einfallen, einen Kerl zu lieben, wie ich bin, der in seiner Miserabilität es weder zu hoffen wagte, noch auch nur wünschen möchte, daß Sie seine Frau würden," „Da hörst du's," rief Brandhofer, der nur den Schluß aufzufassen vermochte. Mili hatte ihre Augen nicht von Paul abgewandt-, der so hoch aufgerichtet dastand, in seiner schönen jugendkräftigen Gestalt, und dessen ausdrucksvolles geistig belebtes Gesicht, mit den dunkelblitzenden Augen, in einem schreienden Mißverhältnis zu seinen Worten stand. „Sie tun mir weh, Huberl" sagte das Mädchen in einem tief vorwurfsvollen Ton, „und sie wollen mir absichtlich weh tun, denn so denken Sie nicht, so fühlen Sie nicht." „Ei, Fräulein Mili, wer fragt denn danach, was wir denken und was wir fühlen? Bei uns armen Teufeln handelt sich's nur darum, was wir dürfen." „So ist's; ganz recht hat er," sekundierte der Sattler. Paul fuhr in gesteigerten Leidenschaft fort:,,Wir dürfen uns eine Dirne beigesellen, das ist erlaubt; wir dürfen auch ein Mädchen heiraten, das durch die Entbehrungen, die es von Jugend an erduldet, bereits verkommen und geistig und 5»

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körperlich siech ist, niemand hat etwas dagegen einzuwenden, aber auf ein gesundes wohlerzogenes Wesen, das noch frisch und frei in die Welt sieht, auf ein solches dürfen wir keinen Anspruch erheben." „Auch nicht, wenn dieses Mädchen Sie liebt?" fragte Mili mit bebender Stimme. „Nein, Mili, denn wir gehören zu jenen Enterbten, die kaum auf irgendein Gut mehr Anspruch haben, denen nur die Arbeit geblieben ist, als die einzige Pflicht, als das einzige Recht. Und wollen Sie wissen, was Sie mir einbringt? Haha! Sie haben sich ja schon einmal bei uns umgesehen, Sie wissen ja, was ich besitze, wollen Sie vielleicht diesen Besitz mit mir teilen? Haha, teilen! Warum lachen Sie nicht, Mili, es ist doch sehr lächerlich — oder schaudern Sie bei dem bloßen Gedanken nur an eine solche Existenz?" „Es wäre auch schauderhaft!" rief der Vater dazwischen, „so ein Arbeiter, es ist traurig genug, aber der hat ja heutzutage gar keine Existenz mehr." „Und darum, Emilie, wenn Sie mir auch wirklich gut wären, und wenn ich mit allen Fasern meines Herzens Sie liebte, so würde ich doch über diese Liebe triumphieren, denn sie bedeutet nicht nur Ihr Unglück, sie wäre Ihre Verdammung." „Das freut mich, das ist schön von Ihnen," rief der Sattler in lebhafter Zustimmung. „Und jetzt könnten Sie ihr auch sagen, daß sie nicht länger eigensinnig sein und eine gute Partie, die sich bietet, von sich weisen soll." „Eine gute Partie? ah!" Eine dunkle Röte stieg in Paul's eben noch so blassen Gesicht. . „Der Birnstengel hat um sie angehalten. Es ist eine große Ehre für sie, denn ich kann ihr nichts mitgeben, und sie ist 24 Jahr alt; sie soll sich nur nicht zieren, die Gans, und Gott danken, daß sie so einen Mann kriegt, der sie versorgt und glücklich macht." Obwohl in der dritten Person sprechend, richtete der Sattler diese Worte direkt an seine Tochter. „Glücklich mit diesem Birnstengel!" rief diese, und sie schüttelte den Kopf, wie von dem Gedanken empört. „Versorgt!" höhnte Paul, „bei dem!" 48

„Was gibt's da zu lachen? Ein Bürgersmann ist immer eine Garantie." „Bei einem Kleinbürger ist ihr auch nichts verbürgt, als Sorge und Elend," erwiderte Paul kurz. „Oho, es gibt Wohlhabende genug unter uns!" „Das Handwerk schafft keine Wohlhabenheit mehr, das brauche ich doch Ihnen nicht zu sagen; oder hätten Sie Ihre Lage so wenig erfaßt? Sie sind heute ruiniert, Birnstengel wird es morgen sein." „Was wissen Sie davon?" „Genug. Ich weiß, daß die Verhältnisse unter den Kleingewerbetreibenden genau so ungewiß und prekär sind, als die der Fabrikarbeiter und daß Mili's Zukunft an der Seite dieses Mannes mir durchaus nicht gesichert erscheint. Das Kleingewerbe erliegt der Großindustrie, der kleine Mann dem Kapitalisten." „Das wird sich wieder bessern, das muß sich bessern." „Wie wäre das möglich? Das muß sich stetig verschlimmern." „Wir werden die Regierung zu Hilfe rufen." „Unter ihrem Schutze hat sich das ganze jetzige System entwickelt." „Der Dampf ist an allem Schuld. Die verfluchten Erfindungen." „Die Entwicklung geht ihren Gang, Ihr mögt dafür Augen haben oder nicht, Euch dagegen sperren oder sträuben, das nützt Euch nichts." Sein Ton erhob sich zu leidenschaftlicher Überzeugung, seine Augen sprühten: „Auch Ihr zählt heute schon zu den Besitzlosen, zu den Proletariern!" „Herr, mit wem glauben Sie zu reden, mein Sohn ist Professor." „Auch der gehört zu den Proletariern, der erst recht." „Das ist eine Frechheit!" „Was wollen Sie denn mit dem Professor ohne Professur? Das ist ein Titel ohne Mittel, eine Anmaßung, ein Schwindel. Aber wenn dem auch nicht so wäre. Auch unter den Kopfarbeitern existiert ein Überangebot von Kräften, wie bei uns Arbeitern, und die Überarbeit der einzelnen. Alles ist unreguliert, alles der wildesten Konkurrenz anheimgegeben. Und auch dort tragen diejenigen, welche 49

Kapital oder Protektion haben, den Sieg davon. Die gewinnen die einträglichsten Stellen und Ämter, indes die Übrigen darben. Und sie sind vielleicht noch schlimmer daran als wir, denn sie müssen eine gewisse Wohlanständigkeit zur Schau tragen, um j eden Preis. Da entblödet sich keiner, den Vater für sich arbeiten zu lassen, oder der Mutter den letzten Sparpfennig aus der Tasche zu nehmen, um seinen Rang aufrecht zu erhalten, um heuchlerisch sich über uns zu stellen. Aber die Masse der Kleinbürger und Kopfarbeiter kämpft heute schon einen verzweifelten Kampf, und er wird immer aussichtsloser werden, bis Ihr ganz zu uns herabgestoßen seid, und Euch klar geworden sein wird, daß Ihr Euch mit uns verbinden müßt, um eine neue Ordnung, einen gerechteren und vernünftigeren Zustand herbeizuführen." Der Sattler hatte zugehört wie von einem geheimen Schreck gebannt. Und wenn auch, wie es ihm schien, Wahrheit in dem lag, was der Mann sprach, so war sie ihm so widerwärtig, daß er nicht um die Welt ihr zugestimmt hätte. „Roterl Sozialdemokrat!" rief er ihm zu, „mit dir habe ich nichts zu tun! Ich bin ein friedlicher Bürger, du bist ein Revolutionär! Du gehörst zu denen, die man einsperrt, die man niederschießt. Und was habt Ihr davon? Nichts, nichts und wieder nichts, höchstens die Vermehrung Eures Elend und die Reue, daß Ihr Euch umsonst geopfert habt." „Wir tun, was wir müssen," sagte Paul in düsterer Hoheit, „wir kämpfen um unsere Menschheit. Wir fühlen unsere Erniedrigung, und in dieser Erkenntnis liegt unser Recht, ihr ein Ende zu machen. Dieser Kampf ist der einer ganzen Klasse, und er wird ein langwieriger und wechseln^ der sein, wir wissen das; aber wir denken nicht an das Heute, wir denken an die Zukunft, wir wollen unseren Kindern ein menschenwürdiges Dasein erkämpfen und müßten sie dazu auch über unseren Leibern emporsteigen."

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Streikszene Aus der Feime schrillte ein Pfiff . . . Im Ort . . . war bei Herannahen des Zuges alles in Bewegung gekommen. Die Arbeiter hatten infieberhafterSpannungdes Momentes geharrt, wo die schlimme Drohung sich erfüllen sollte, und als in der Ferne eine weiße mächtige Rauchwolke, die die feuchte Luft nicht emporsteigen ließ, sichtbar wurde, und die Dampfpfeife in ihre Ohren gellte, strömten sie, mit Weibern und Kindern nach dem Bahnhofe, um zu sehen, ob das Gerücht wahr, und die Böhmen wirklich gekommen seien. Neugierige, die nirgend fehlen, waren ebenso rasch bei der Hand und die Zahl der sich Herandrängenden wuchs mit jeder Sekunde. Die Bahnaufseher und einige Fabrikbeamte suchten die Leute zurückzuweisen, begegneten aber nur Trotz und Hohn. , .Müßt ihn halt absperren, Euren Bahnhof,''riefman ihnen mit grimmigem Lachen zu; da aber derselbe nicht einmal eingeplankt war und die Landstraße und Felder längs des Geleises sich hinzogen, war dieser gute Rat nur als eine Herausforderung zu betrachten. Der Zug fuhr ein und hielt. „Ei — ne Minute!" riefen die Schaffner. Auf einen Wink des Stationsvorstandes waren die zwei letzten Waggons abgekoppelt worden und der Train fuhr weiter, diese auf dem Geleise zurücklassend. Erregtes Gemurre wurde unter den Zuwartenden laut, die nun näher gegen die Schienen herandrängten, die Waggons von einer Seite förmlich belagernd. Und immer lauter wurde das Stimmengewirr und immer drohender, und als die fremden Ankömmlinge die Fenster herabließen und sich an denselben zeigten, brach es tobend gegen sie los. Die Beamten waren in die Waggons gestiegen, die einen Mittelgang hatten, und trieben die Leute zum Aussteigen an, diese aber zögerten angesichts der feindlichen Haltung der Menge. 5i

Diese Zaghaftigkeit erregte Gelächter, man begann sich zu fohlen. „Schaut's, die böhmischen Hund' trauen sich nicht aus dem Stall." „Woher sollen's denn Courage nehmen, die Erdäpfelfresser!" „Sie denken sich's wohl, daß der Buschen, den wir ihnen zum Gruß vor die Nase halten, a bissei a scharf's Aroma haben wird." „Aber wir lassen's d'ran riechen, bis's umfallen." Und wieder erscholl lautes zustimmendes Lachen. Der Mathias steckte seine Hemdärmel auf. „Es wird a sakrische Arbeit sein, bei die Dickschädeln." „Aber denen Protschpaks muß es gehörig auf's Fell geschrieben werden, was das heißt, den Einheimischen die Arbeit wegnehmen." „Hundling' sind's," schrie ein knochiger Alter von besonders rabiatem Aussehen, „elende Hundling', die nach dem Bissen schnappen, der uns zu schlecht ist, aber sie sollen d'ran ersticken, die Böhm." „Die Böhm, die Böhm!" das Wort erregte leidenschaftlichen Grimm. Die Weiber, die Kinder riefen gleich einem Schimpfe es nach, während die Fäuste sich empor reckten, und eine Flut von Flüchen hinterher fuhr. Einer der Fabrikbeamten, die vorhin die Waggons betraten, öffnete die Tür und trat heraus. „Entfernt Euch, ich befehle es Euch! Laßt die Leute ruhig aussteigen, oder Ihr werdet es bereuen." Mißtönendes Pfeifen, Lachen, Schreien war die Antwort. Der Beamte zog sich zurück. Und abermals erscholl ein Höllengelächter. Die Menge schien ihre Macht zu fühlen und sie berauschte sie. „Dem Ersten, der sich da'raus krabbelt, geht's schlecht!" „Dem wollen wir einen Denkzettel anheften!" „Der muß hin werden!" Da wurde die Tür aufgerissen und ein junges Mädchen erschien am Trittbrett. Goldig leuchtete ihr Haar durch den grauen einfallenden Nebel. Sie überblickte einen Moment die hundertköpfige Menge, die sich da fest ineinandergekeilt und sprang dann mit einem Satze herab und mitten unter sie, mit den großen erregten Augen die 52

Menge beiragend! „Macht Platz, was soll das heißen?" Das wüste Geschrei verstummte für einen Augenblick während die Zunächststehenden vor dieser unerwarteten Erscheinimg zurückwichen. „Wer ist die? - " „Das ist keine Böhminl" „Die Franzel ist's!" rief eine ihrer ehemaligen Kameradinnen, die sie scharf ins Auge gefaßt und erkannt hatte. Der Name ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, und nun waren es die Weiber, die zuerst auf sie losstürzten. „Was willst denn du?" „Willst du uns auch die Arbeit streitig machen?" „Willst du uns Konkurrenz machen?" „Will, will! Habe ich, haben wir einen Willen?" rief die Franzel in dem Ton heißer Erregung. „Die Verwaltung hat mich mit den Arbeitern hierher geschickt und wir sind gegangen." „Weil's böhmisch kann, haben sie's geschickt." „Sie ist der Dolmetsch, sie hilft denen." „Sie ist falsch, sie ist eine Verräterin." Die Mädchen schwangen die Fäuste gegen sie. Eine griff nach ihren Haaren. Aber schon hatte sich ein großer schlanker Bursche mittels kräftiger Stöße zu ihr durchgedrängt. „Franzel!" Es klang wie ein Jubelruf. „Du bist's, bist wieder da; sei gedankt und gesegnet!" . . . Als die Weiber aber nur um so gereizter gegen sie losfuhren, stellte er schützend sich vor sie hin. „Keiner soll sie anrühren, die Franzel gehört zu uns, die hat ein Recht, hier zu sein!" „Weil sie dir recht ist?" kreischten die Weiber, „Aber die ist gar vielen recht, und d'rum soll's zu denen gehen, und nicht uns das Brot wegessen." „Denkt von mir, was Ihr wollt," rief die Franzel mit edlem Unwillen und mit jener Kühnheit, die nichts mehr fürchtet, „aber hört mich!" Und sich den Männern zuwendend, erhob sie flehend die Hände: „Behandelt nicht die als Feinde, die Eure Brüder sind, die arm und elend sind, wie Ihr, und ihren hungernden Kindern Brot geben müssen, wie Ihr. Aber glaubt mir, nicht um Euch zu drük53

ken, sind wir gekommen, wir hatten ja keine Ahnung, wie es hier steht, wir wußten nichts von dem Streik, sonst —" Widersprechendes Murren und gehässige Worte wider die Böhmen wurden laut, aber die Franzel ließ sich nicht beirren und aufglühend, in beschwörender Innigkeit bat sie: „Laßt Euch nicht aufhetzen von denen, die ein Interesse haben mögen, Euch zu trennen, um Euch um so sicherer zu knechten. Die Tschechen sind ebenso brave Leute wie Ihr, und sie werden sich nicht gegen Euch gebrauchen lassen, glaubt mir, sie werden sich den Streikenden anschließen und dieselben Arbeitsbedingungen stellen wie Ihr!" „Das ist a Red', — Bravo — ja wenn es so stünd'! —" riefen einige. . „Aber erbittert die Leute nicht länger durch Eure Haltung und laßt mich mit ihnen reden, laßt mich ihnen die Sache auseinandersetzen, undihnen alles klarmachen." „Wenn du das triffst, Franzel, uns soll's recht sein." „Ihr werdet sehen l" In dem Augenblick trat ein Fabrikbeamter auf sie zu, und ihre Hand fassend, als wollte er sie zermalmen, rief er: „Keinen Schritt und kein Wort weiter, du gehst mit mir." Als aber der lange Andreas hinter ihr auftauchte, mit den haßsprühenden Augen eines Dämons, ließ er sie wieder los. Im nächsten Augenblick hatten einige Arbeiter die Franzel in ihre Mitte genommen und sie eilten dem Punkte zu, wo die Situation bereits einen bedrohlichen Charakter angenommen hatte. Der Moment, wo die allgemeine Aufmerksamkeit sich dem Mädchen zugewendet, war rasch benutzt worden. Die bömischen Arbeiter hatten die Waggons von der rückwärtigen Seite aus verlassen, wo die Wagen selbst ihnen Deckung boten. Man konnte nun Weiber und Kinder, ihre Bündel schleppend, vom Bahnpersonale eskortiert, nach dem Stationsgebäudeflüchtensehen, niemand stellte sich ihnen entgegen. Als aber die fremden Männer in Reih und Glied mit Stöcken bewaffnet hervortraten^ stachelte ihre drohende und entschlossene Haltung den Grimm auf's neue und nur um so höher. 54

Rollende Augen und bebende Lippen, Flüche und Drohungen und geschwungene Fäuste hüben und drüben! Wird man auf die Franzel noch hören? Sie ruft den Böhmen zu, fremde Laute, die hier niemand versteht, aber ihr warmer Herzton muß wieder zum Herzen dringen. Und nun sind auch der Pecher, und Paul Huber, und Arbeiter anderer Industrien herbeigeeilt und ermahnen die Heimischen zur Ruhe, zur Besonnenheit. Da fliegt ein Stein aus den Reihen der Tschechen auf die Deutschen hinüber und trifft den Mann am Kopf, der der Franzel zunächst stand, er taumelte und schreit. — Ein Geheul der Wut beantwortet dieses Attentat eines Feiglings; niemand weiß, wer den Stein geschleudert, aber eine frevle Hand muß es gewesen sein, und wohl lag hier die Absicht zugrunde, eine Verständigung hintan zu halten. Im Nu war ein wüstes Handgemenge entstanden. Jeder hatte nach einem Stock, einem Stein, einer Latte gegriffen, nach jedem Gegenstand, der in seinem Bereich lag, um drein zu schlagen. Vergebens suchten Huber und andere die Rasenden zurückzuhalten, die Kämpfenden zu trennen; der Augenblick, die Geister zu leiten, das Unheil zu bannen war vorüber, man hörte nicht mehr auf sie, man stieß sie roh hinweg. „Nieder mit den feigen Meuchlern, nieder mit den böhmischen Hunden, nieder mit den Arbeitsräubern! Sie sind dreimal unsere Feinde!" Die Rauferei gestaltete sich allmählich zu einer hin- und herwogenden Schlacht, in der mit abwechselndem Glück gekämpft wurde. Das dumpfe Murren der Wut, das Stampfen der Füße, das Aufeinanderschlagen der Stöcke, wild herausgestoßene Flüche, ein Aufschrei, ein Stöhnen, tönen chaotisch durcheinander; es ist eine Entfesselung der niedersten Instinkte, es ist der brutale Kampf um's Dasein. Und darüber ein grauer, lichtloser Himmel, der die Dämmerung schneller hereinbrechen ließ. Ein durchdringend feuchter Nebel begann sich herabzusenken, der 55

den Boden naß und schlüpfrig machte und die Fernen in weiße Schleier hüllte. Da ertönt der laute kreischende Ruf der Weiber: „Die Gendarmen, die Gendarmen!" Ein ganzer Trupp, mit aufgepflanztem Bajonett, kam den Bahnkörper entlang marschiert. „Flüchtet Euch!" rief es hier. „Wehrt Euch!" schrie man dort. Einige stoben auseinander, andere traten zusammen. Die Böhmen, in dem guten Glauben, daß man ihnen zu Hilfe komme, schlugen um so grimmiger drein. Der Tumult, die Verwirrung, die Angst, die Wut, hatten den höchsten Grad erreicht, und die hereinbrechende Dunkelheit vermehrte das Grausige der Lage und ihre vielfältigen Schrecken. Dem Andreas war die Franzel in dem Gedränge von der Seite gerissen worden; er suchte sie, Sehnsucht und Verzweiflung im Herzen. Da schreit er auf. Da steht sie, unweit von ihm, inmitten einer Gruppe, die eine plötzliche Wendung macht, um, einen Punkt in's Auge fassend, sich vor demselben zurückzuziehen. Auch er folgt der Richtung, und er sieht den Beamten, der sich schon vorher an der Franzel vergriffen, in Begleitung zweier Gendarmen direkt auf sie losschreiten. Es durchzuckt ihn: man will sie arretieren! Er faßt sich an den Kopf, in dem wilde tatendurstige Gedanken formlos durcheinanderjagen, während sein Herz sich aufbäumt in jenem heißen alles übertäubenden Gefühl, das für sein Liebstes zittert, sein Liebstes zu verteidigen oder zu rächen hat. Er stürzt ihr entgegen, für ihn gibt es kein Hemmnis mehr. — Die Gendarmerie war in geschlossener Reihe herangerückt. Die Aufforderung, auseinander zu gehen, war in dem Geheul, das Wut und Schrecken nun anstimmen, gar nicht gehört worden. Unwillkürlich hat sich der Knäuel verdichtet; es schließt sich Mensch an Mensch, Körper an Körper, und die blanke Waffe ist es, die in diese lebende Masse hineinfährt. 56

Sie untersucht nicht, sie fragt nicht nach Freund und Feind, nach Böhmen oder Deutschen, das Elend hat ihnen einen gemeinsamen Stempel aufgedrückt, sie einer gemeinsamen Schuld überführt: Sie sind Proletarier alle miteinander! — Einige Minuten später ist der Platz gesäubert, Ruhe und Ordnung ist wieder hergestellt.

HELENE

Der Roman gestaltet die Entwicklung eines jungen Mädchens aus kleinbürgerlicher Familie zur Sozialistin. Er baut sich aus drei Büchern auf, die jeweils eine Lebensstation der Heldin schildern. Im 1. Buch wird die Jugend und die Ehe Helenes dargestellt. Sie ist die Tochter eines untergeordneten bayrischen Staatsbeamten. Ihr Vater, Joachim Röder, hat sich der Sozialdemokratie angeschlossen. Seine Familie weiß aber davon nichts; nur der Wohnungsnachbar Konrad Ebner, ein junger Lithograph, und dessen Mutter kennen die politische Tätigkeit Röders. Ebner ist ebenfalls Sozialdemokrat; er liebt Helene, wagt es aber nicht zu gestehen — auch dann nicht, als ein hoher und reicher Staatsbeamter, Erich Hartmann, um Helene wirbt und sie heiratet. Helene muß erfahren, daß das Leben der herrschenden Kreise ohne wirklichen, menschlichen Inhalt ist. Als Hartmann sie betrügt und sogar dazu ausnützen will, schneller Karriere zu machen, sagt sie sich von ihm los. Das 2. Buch wird mit einer knappen Beschreibung des russisch-türkischen Krieges von 1877/1878 — vor allem der Kämpfe um die Festung Plewna — eingeleitet. Die zaristische Militärverwaltung kann der Menge von Verwundeten und Kranken nicht Herr werden. Sie muß zulassen, daß sich zivile Helfer des Roten Kreuzes an deren Pflege beteiligen. Aus allen Teilen Europas eilen Freiwillige auf den Kriegsschauplatz, darunter nicht wenige russische Revolutionäre. Helene ist unter ihnen als Hilfsschwester tätig. Sie reiß zu einer selbstbewußten, tapferen Frau heran, die bereit ist, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen. Im 3. Buch kehrt Helene nach dem Ende des Krieges in ihre Heimatstadt München zurück. Sie versucht vergebens, sich ihren Unterhalt als Übersetzerin und durch publizistische 58

Arbeiten zu verdienen, und folgt dann einer Einladung ihrer russischen Freundinnen nach Zürich. Hier nimmt sie am leben der emigrierten russischen Revolutionäre teil. Sie bekommt auch Kontakt mit deutschen Emigranten und beginnt, sich an der Arbeit der deutschen Sozialdemokratie zu beteiligen. Der „rote Postmeister", Julius Motteier, wird auf Helene aufmerksam und beauftragt sie, bei der Betreuung der Delegierten des illegalen Parteitages der Sozialdemokratie auf Schloß Wyden zu helfen. In Zürich und in Wyden trifft Helene wieder mit Konrad Ebner zusammen. Beide verbinden sich fürs Leben und beschließen, nach Deutschland zu gehen und dort am Kampf der Arbeiterklasse gegen das Sozialistengesetz teilzunehmen. Im Lazarett Schon waren in Bulgarien mehr als zwanzig blutige Schlachten geschlagen worden. Der Krieg in diesem halbzivilisierten Lande gestaltete sich immer eigenartiger, unähnlich allen, die man bisher geführt, und die Kämpfe um Plewna waren so heiß und mörderisch, wie in keinem anderen europäischen Kriege vorher. Plewna, die freundliche, friedliche Stadt, in die sich Osman Pascha mit seiner Armee von Helden geworfen hatte, war zu einem gewaltigen Bollwerk geworden, das uneinnehmbar schien. Unter den Augen der angreifenden Russen selbst waren diese Verschanzungen entstanden, gegen welche die russischen und bulgarischen Jünglinge erbarmungslos getrieben wurden, um von dem Feuer der türkischen Batterien zu Tausenden dahingestreckt zu werden. Die Schluchten von Grivitza waren mit Leichen gefüllt, die grünen Hügel mit Blut getränkt: „Achthundert in zehn Minuten", lautete ein Telegramm, das die Welt durchflog, um ihr die Wirkungen der neuen, verbesserten Waffen, der Peabody-, Martini- und Snider-Gewehre, mit denen die Türken zumeist bewaffnet waren, zu verkünden. Darauf hatten sich die Russen nicht vorgesehen. Die Regierung hatte den Feldzug gegen die Türken in über59

mutigem Selbstbewußtsein den Trappen als einen Spaziergang bezeichnet, der ihnen nur Siege und Beute bescheren würde; das goldene Horn sollte ihr Ziel sein, und nun belagerten sie Plewna seit fünf Monaten, ohne seinen Widerstand gebrochen zu haben. Rußland war genötigt, immer neue Verstärkungen heranzuziehen, da es aber keine strategisch angelegten Bahnen besaß und die Verkehrsverhältnisse Bulgariens die elementarsten waren, langten sie stets verspätet an. So konnten sie nur nach und nach in die Aktion treten. Sie vermochten keinen entscheidenden Streich zu führen und mußten sich begnügen, die Gegner zu ermüden. Aber Rußland hat viele Kinder, und es schien nicht, als ob es die Absicht hätte, dieselben zu schonen. Auf dem Kriegsschauplatz wuchs indes die Verwirrung von Tag zu Tag, und steigerte sich zu völliger Ratlosigkeit. Die Konzentration einer großen Armee in einem armen, entblößten Lande, die ungeheure, sich immer steigernde Anzahl der Kranken und Verwundeten brachten eine Summe von Elend mit sich, das schier nicht mehr ertragen werden konnte. Es fehlte an allem und die Lage der Soldaten war eine trostlose geworden, der der unbeholfene und unverläßliche Apparat der russischen Militärverwaltung ohnmächtig gegenüberstand. Aber schon hatte sich die Privathilfe organisiert. . . Sie besaß reichliche Mittel; die Intelligenz stellte sich ihr zur Verfügung, und sie arbeitete flink, in selbstloser, aufopfernder Weise. Man ließ sie gewähren. Die Armeeverwaltung wußte nur zu gut, daß man nur durch die Mithilfe des roten Kreuzes im Stande war, einem Zustande der Verzweiflung vorzubeugen, der Gefahren in sich schloß, die alles in Frage stellen konnten. Aber sie fühlte dunkel, daß damit eine neue Macht geschaffen war, die, ohne es zu wollen, in einen Gegensatz zu der Militärverwaltung selbst trat. — Der Fall von Plewna schien nahe bevorzustehen. Es war gelungen, Osman Pascha die Zufuhr abzuschneiden, und seine Verbindung mit dem Balkan war unterbrochen. 60

Hunger und Krankheiten wüteten in der Stadt und Osman Pascha vermochte sich nicht länger zu halten. Der Telegraf vermittelte diese Nachricht der ganzen russisch-rumänischen Armee. Osman Pascha versuchte indes noch einen letzten, verzweifelten Ausfall. Montag, den 10. Dezember 1877, um sieben Uhr früh, war er in aller Stille aufgebrochen. Er hatte mit seinen Truppen die alte Brücke bei Wid übersetzt und griff die nördlich-russische Position an, die am hohen linken Talrande, in der Richtung von Gornji Natropolje aufgestellt war. Der geniale Feldherr hatte den Punkt gut gewählt. Es war der schwächste derZernierungsarmee.Die Möglichkeit, hier durchzubrechen und den sie verfolgenden Russen zu entkommen, war da, aber ein Deserteur hatte den Plan an General Skobeleff verraten, der noch Zeit fand, seine Maßnahmen zu treffen. Der Aufeinanderprall war furchtbar. Die Türken fochten wie Rasende, aber sie begegneten dem tapfersten Widerstand, und als die herbeieilenden Rumänen den Türken in die Flanke fielen, war ihr Schicksal entschieden. Osman Pascha selbst war verwundet und gefangen genommen. Die Türken streckten die Waffen und ergaben sich auf Gnade und Ungnade. Armes Plewna, die Vernichtung in jeder Gestalt hatte hier ihre Orgien gefeiert, und man atmete den Pesthauch der Verwesung. Aber der Zar konnte als Sieger in Plewna einziehen, und er geruhte, in der von Hunger verseuchten Stadt seinen Lunch zu nehmen. Von hier aus ließ er den heldenhaften Entschluß verkünden : „Der Krieg ist noch nicht zu Ende." Den nächsten Tag war er nach Petersburg abgereist. Man begann die Opfer von Plewna zusammenzulesen, sie waren enorm. Woher all die Hände nehmen, um die einen zu begraben und die anderen zu verbinden? Es war unmöglich, dies zu bewältigen. Die Toten verfaulten unbegraben und die Verwundeten wurden unsortiert und unverbunden, wie Kälber, auf die 6

Minna Kautsky

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mit Büffel bespannten Wagen geworfen, um fortgebracht zu werden, fort, nur fort. Plewna war ein einziges, großes Leichenfeld geworden, das seine mephitischen Dämpfe gen Himmel sandte. Bulgareni, ein Dorf, etwa fünfundzwanzig Kilometer von Plewna entfernt, an der Straße nach Sistowa, war durch seine Lage bestimmt, der Hauptsortierungs-, Verbandsund Etappenplatz zu werden. Es befand sich daselbst ein temporäres Kriegshospital, das zumeist die von den Türken verlassenen Häuschen für seine Zwecke in Anspruch nahm. Erst nachdem die ersten Schlachten vor Plewna geschlagen und die Kriegsfurie voll und ganz entfesselt war, hatte man es der Gesellschaft vom roten Kreuze gestattet, hier zwei Baracken mit je hundertfünfzig Betten zu errichten, die nun mit den größten Geldopfern hergestellt worden waren. In dieser Nacht war an die Hospital-Verwaltung die Weisung gelangt, daß die großen Transporte von Verwundeten sich vom Schlachtfelde aus in Bewegung gesetzt hätten. Die Ärzte und Schwestern, sowie das gesamte Sanitätspersonal hatten sich erst spät und ermüdet zur Ruhe begeben und schon standen sie einer neuen, schier nicht zu bewältigenden Aufgabe gegenüber. Es war ein kleines einstöckiges Haus, aus Fachwerk roh gefügt, das die Gesellschaft vom roten Kreuze gemietet und für die Schwestern eingerichtet hatte. Eine hölzerne Treppe führte aufwärts nach einer gedeckten Galerie, die als eine Art Vorzimmer in Verwendung stand; dahinter lag ein großer, mit vier Fenstern versehener Raum, der den Schwestern als Wohn- und Schlafgemach diente. Die primitivsten und luxuriösesten Gegenstände konnte man da beisammen finden, das Ärmlichste, das hier heimisch war, zugleich mit dem Vornehmsten, das die Gönner des roten Kreuzes gespendet hatten. Der schmutzige, nicht gedielte Fußboden war mit einem dicken orientalischen Teppich bedeckt und ein solcher hing von der niederen Decke herab, das Gemach in zwei Hälften teilend. Farbenprächtige Polster aus Eselstaschen waren längs der Wände zu Sitzen gehäuft, zwischen rußigen Kesseln und kotigem Schuhwerk, seidenen 62

Tüchern und zerissenen Lappen, kostbaren Necessaires und tönernen Waschbecken, die die engsten Verbindungen eingegangen waren. Auf einer umgestürzten, ungehobelten Kiste, welche als Tisch diente, befand sich ein herrlicher Samowar, der unter dem Lichte der Hängelampe silbern erglänzte. Der große Raum war mäßig erhellt; es war vier Uhr morgens und das Thermometer in der Stube zeigte nur wenige Wärmegrade. Hinter dem Teppich, auf dünnen Matratzen gelagert, schliefen die Schwestern, während die geistliche Oberin, Schwester Maria vom Orden der Kreuzerhöhung, einen kleinen, durch einen Plaid noch besonders abgeteilten Raum für sich hatte. Die Tür vom Vorzimmer her ging knarrend auf. Eine Aufwärterin kam fröstelnd und seufzend herein und rieb sich die Hände. „Ach Gott, diese Kälte, und hier ist das Feuer ausgeganti

gen. Sie begann in den kleinen eisernen Ofen frisches Holz einzulegen, das nicht brennen wollte. Sie schimpfte und warf so lange getrockneten Kuhmist darauf, bis endlich eine Flamme emporzüngelte, dann ging sie hinaus. Die herrschende Stille wurde jetzt durch ein heftiges Schneuzen unterbrochen. Es war das Alarmzeichen, das Schwester Wjerotschka ertönen ließ, die der Gemeinschaft der barmherzigen Witwen angehörte. Sofia Alexandrowna Dodukoff, die in diesem Hospital als Ärztin in Verwendung stand, war rasch emporgefahren. Sie setzte sich aufrecht, und sich mit der Hand über die Stirne fahrend, begann sie sich zu ermuntern. Wjerotschka ließ fort und fort ihre Signale erschallen und auch die übrigen Schwestern erhoben sich. Nur Schwester Helene, die ihrer Freundin zunächst lag, rührte sich nicht. Sie schlief fest, in übergroßer Ermattung, die sich in dem jungen Gesichte, das blaß und schmal geworden war, deutlich aussprach. Sofia schenkte ihr einen mitleidigen Blick, dann faßte sie sie an der Schulter, und ihr das wirre Haar 6»

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aus der Stirne streichend, rief sie: „Steh' auf, Helene, wir müssen uns fertig machen, steh' auf." „Die Deutsche kann wieder nicht zu sich kommen", brummte die barmherzige Witwe, die eine orthodoxe Russin war und eben, nach Osten gewendet, ein kurzes Gebet vollendet hatte. ,, Schütten Sie ihr nur recht viel kaltes Wasser ins Gesicht'', fügte sie hinzu, indem sie sich nach russischer Art bekreuzigte. Sofia begnügte sich, sie stärker zu rütteln. „Hörst du, der Transport wird gleich da sein, es ist Zeit, .auf, auf!" Helene seufzte tief, streckte sich, seufzte wieder und wollte sich auf die andere Seite legen, aber Sofia hörte nicht auf sie zu rütteln. „Laß — ja — ich komme schon", hauchte Helene, dann mit einer gewaltsamen Anstrengung über sich selbst, erhob sie sich und langte nach ihren Kleidern. Taumelnd tat sie einige Schritte, stolperte über die Matratze, fiel darauf und blieb liegen. Sie war sofort wieder eingeschlafen. „Ein wahrer Mehlsack", entschied Schwester Wjerotschka, die ihre Kutte bereits umgeworfen hatte und nun mit ihren plumpen Füßen über die Schlafende hinwegstieg. „Sie hat gar keinen Ehrgeiz." „Sie ist todmüde", entschuldigte Sofia, „sie konnte gestern abend kein Glied mehr rühren." „Oh, wir auch nicht, wir alle nicht." „Gewiß, aber der Dienst ist für sie noch neu und der Jammer greift ihr ans Herz." „Von Christus kommt uns die Kraft und er verleiht sie denen, die zu ihm beten", bemerkte Schwester Wjerotschka in ihrer verdrossenen Art, indem sie sich abermals bekreuzte. Sofia antwortete nicht, sie stand bereits vor dem Waschtisch und begann ihre Toilette. Auch in den Tagen der anstrengendsten Arbeit fand sie die Zeit, sich sorgfältig zu reinigen. Sie bürstete ihre Hände und Nägel und kämmte aufmerksam das blonde, seidenweiche Haar, das sie jetzt kurz verschnitten trug. Sie zog ihr Kleid aus dunkler Wolle an, das stramm um ihren vollen Körper sich schmiegte, und am Arme, allen erkenntlich, die weiße Binde mit dem roten Kreuze zeigte. Als ein weiteres Ab64

zeichen trug sie ein goldenes Kreuz an einem blauen Bande am Halse. Sie sah in dieser ernsten Tracht schön und vornehm aus. Jetzt trat die Oberin, Schwester Maria, aus ihrem Zelte hervor. Alle begrüßten sie. Inihrer Tracht unterschiedsie sichin nichts von den anderen, aber sie imponierte durch ihre ruhige Würde. Sie war nicht jung und nicht hübsch, ihr Haar war früh ergraut und ihre Haut gelb und runzlig geworden, aber aus ihren grauen Augen sprachen hohe Klugheit und Welterfahrung, und der strenge Mund war meist durch ein liebenswürdiges Lächeln verschönt. Sie war von einigen Schwestern gefürchtet, von vielen geliebt, von allen geehrt. Sie wendete sich Helene zu und kniete an ihrer Seite nieder. Sanft streichelte sie das blasse Gesicht, dann sagte sie ruhig, aber entschieden: „Stehen Sie auf, Schwester Helene." Und Helene riß die müden Augen gewaltsam auf und erhob sich von ihrem Lager. Es fröstelte sie; als sie aber das eiskalte Wassef über Gesicht und Nacken goß, fühlte sie sich merklich erfrischt. Sofia Alexandrowna war zum Fenster getreten und sah nach dem Thermometer. „Es hat zwölf Grad Kälte und die schlechten Wege — die armen Verwundeten!" rief sie bekümmert. „Gott stehe ihnen bei", bemerkte die Oberin, „wir werden doch nur ein Viertel davon behalten können — sie müssen weiter nach Sistowa." , .Dort soll bereits eine furchtbare Anhäufung von Kranken und Verwundeten sein." „Dann müssen sie über die Donau." „Oh, Schwester Maria, wie viele werden da unterwegs zu Grunde gehen!" rief Helene, sich der Oberin nähernd — „diese Transporte sind mörderisch!" Die Oberin nickte: „Leider. Wir haben keine Eisenbahnen, um die Verwundeten zu befördern, wir befinden uns in einem wilden, unzivilisierten Lande." „In dem man mit den Waffen der Zivilisation kämpft, es ist entsetzlich!" 65

Die Oberin schüttelte lächelnd den Kopf, als könne sie diese Erregtheit nicht billigen. „Wir werden heute noch viel zu tun bekommen, Schwester Helene, es ist unsere Pflicht, kaltes Blut zu bewahren." Sofia trat auf sie zu und schloß die Freundin in ihre Arme. „Mut, Helene, stähle deine Nerven, wir müssen das Schlimmste ertragen lernen." Und sie drückte sie an sich und sah ihr mit einem so festen Blick in die Augen, als wolle sie in ihr die Heldin erwecken. Es polterte über die hölzerne Treppe, zwei Schwestern traten herein. Sie schüttelten sich. „Ah, die Kälte draußen, und hier ist es auch nicht warm, warum heizt Ihr nicht besser, wir erfrieren!" Sie warfen sich, wie sie waren, in ihren Kutten und ohne die schweren Stiefel auszuziehen, auf die Matratzen und blieben da liegen. Zwanzig Stunden waren sie ununterbrochen auf ihrem Posten geblieben und hatten die schwerste Arbeit geleistet... Da wurde Peitschengeknall und laute Rufe vernehmlich. Männer mit Fackeln, deren flackerndes Licht an der Zimmerdecke ersichtlich ward, rannten die Straße auf und nieder. „Sie kommen!" hieß es. Die Oberin trat an das Fenster und öffnete, um hinaus zu sehen . . . Auf der Landstraße sah man eine ganze Kolonne von Wagen herankommen. Zumeist Telegas, das landesübliche Fuhrwerk, das man, da die Sanitätswagen nicht im Entferntesten ausreichten, von den Einwohnern entlehnte. Aber auch die Telegas wurden zu wenig und man mußte zu schwerem Fuhrwerk seine Zuflucht nehmen. Die Wagen hatten die fünfundzwanzig Werst rasch zurückgelegt. Sie polterten über die gefrorenen, ausgefahrenen Geleise dahin, unter dem Geschrei und Gestöhne der Verwundeten, die pêle mêle, wie man sie vom Schlachtfelde aufgelesen hatte, darin zusammengeworfen lagen. Jeder Stoß brachte ihnen die entsetzlichsten Qualen, und sich gegenseitig bedrängend, war einer von dem Blute des anderen besudelt. 66

Die Wagen fuhren an die Zelte des Kriegs hospitals heran und an die Sortierungsbaracken der Ambulanz des roten Kreuzes, eine doppelreihige Queue bildend. Der Platz vor der Baracke war mit Fackeln erleuchtet, und als die Schwestern ankamen, fanden sie die Ärzte und Feldscherer und das gesamte Unterpersonal um die zuerst Angelangten versammelt. Die Diener hoben die Verwundeten von den Wagen, um sie auf die bereitgestellten Bahren zu legen und zur Sortierung zu bringen. Einige waren bereits gestorben, andere hauchten unter den sie aufnehmenden Händen den letzten Seufzer aus. Man warf sie beiseite, ohne sie genauer zu untersuchen. Wahrhaftig, man hatte genug und übergenug mit denen zu tun, die man noch retten konnte. Es fehlte an Bahren und Trägem. Die Sortierungsbaracke war überfüllt und man legte die Verwundeten einstweilen herum auf den kalten, gefrorenen Boden. Schon hieß es, daß die Mehrzahl wieder eingeladen werden müsse, um nach Sistowa weiterzufahren. Da erhob sich lautes Geschrei, Weinen und Flehen. Sie könnten nicht weiter, sie könnten nicht! Da möge man sie lieber umbringen, als ihre Leiden verlängern. Und alle wimmerten und flehten um Wasser, weil sie verschmachteten. Die Labemittel waren zur Stelle, und die Schwestern eilten von einem zum anderen, um sie mit Tee und Wein zu erquicken. Und sie begaben sich in die Wagen, zu den Erschöpften, oft gräßlich Verstümmelten, die einen entsetzlichen Geruch verbreiteten, um ihre verdurstenden, fieberheißen Lippen zu netzen . . . Die Sonne war rot aufgegangen und verschwand wieder in einem immer dichter werdenden Nebel. Die Unordnung und Verwirrung in Bulgareni aber hatten mit der Nacht keineswegs ihr Ende gefunden. Sie schienen ihren Höhepunkt zu erreichen, als am Morgen Tausende von Maroden und Leichtverwundeten, die sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatten, zu Gruppen gesellt, nacheinander hier eintrafen. 67

Die Mehrzahl befand sich in einem desolaten Zustande; die Schuhe waren zerrissen, die Monturen hingen in Fetzen von ihnen herab, Gesicht und Hände waren blutig und von Pulver geschwärzt, und sie schrieen vor Hunger und Kälte und verlangten zu essen. Das Kriegshospital verteilte sein letztes Brot unter sie und schickte sie weiter nach Sistowa, da es in Bulgareni für sie kein Obdach mehr gab und in der Küche des Kriegshospitals auch kein Essen. Aber die Kranken und Erschöpften fielen um und blieben auf der Straße liegen; mochten sie doch erfrieren, dann waren ihre Leiden zu Ende! Diejenigen dagegen, die noch am Leben hingen, gingen aus, ihren Hunger zu stillen. Und sie schlichen sich bettelnd in die Hütten des Dorfes, und kamen in die Küche des roten Kreuzes, deren Vorräte noch nicht gänzlich erschöpft waren. Alle Ordnung und Disziplin war aufgelöst und es war unmöglich, die Leute zusammenzuhalten. Die Aufsichtsorgane vermochten dem Dringendsten nicht zu genügen, und die fertiggestellten Transporte warteten vergebens auf ihre Abfertigung. Als gegen neun Uhr ein neuerlicher Transport von Verwundeten anlangte, verloren alle den Kopf, und die Lage war eine trostlose und verzweifelte geworden. Von Sortierung und Hilfeleistung konnte jetzt keine Rede mehr sein. Ohne Erbarmen mußte man selbst die Schwerverwundeten weiterschicken. Die Schwestern, ihre Oberin an der Spitze, hatten ihr Möglichstes getan, um den immer steigenden Forderungen gerecht zu werden. Die Abgelösten traten abermals in Aktion und auch Tania war, nachdem sie zwei Stunden geschlafen hatte, wieder herabgekommen. Helene hatte ihren Dienst unermüdlich versehen. Inmitten des sie umgebenden Jammers hatte sie Ruhe und Festigkeit erlangt. Sie war über sich selbst hinausgehoben und jede Weichlichkeit war geschwunden, in jener großen Hingebung an andere. Das war nicht mehr die sensible Dame, deren Nerven so empfindlich waren, daß sie gewisse Gerüche und Parfüms nicht vertragen konnte, und zusammenschreckte, wenn 68

ein Gegenstand zu Boden fiel, oder ein Mädchen mit den Tellern klapperte. Alle ihre Sinne waren tapfer geworden, wie ihre Hände. Und sie trat zu denen, die in Schmerzen sich wanden, deren blutige, zerrissene Gliedmaßen durch die zerfetzte Kleidung hervorragten, und sie hüllte die vor Kälte Zitternden in die Mäntel, die sie den Toten abgenommen, und scheute nicht vor dem Anblick der Verstümmelten zurück, die, mit zerschmetterten Kiefern, nicht reden konnten, und nur mit den Augen um Labung flehten. Und sie versuchte es, sie ihnen einzuflößen, trotz des schaumigen Blutes, das sie ihr entgegenspieen, und trotz ihres verpesteten Odems. Und mit ihrem schönen, blassen und sanften Gesichte erschien sie denen, über die sie sich neigte, wie ein Engel des Himmels, und war doch so ein erbärmlich schwaches Geschöpf, das nur mühsam von einem zum anderen wankte. Da, hinter der Scheune leerten die Diener den Unrat aus, die Bütten mit Blut und Wasser, die abgenommenen Glieder und Abfälle menschlichen Fleisches, und auch die Toten warfen sie einstweilen dahin. Helene glaubte ein Wimmern von dort zu vernehmen, sie wendetesichgegendie Scheune, aberplötzlich, vom Schwindel erfaßt, lehnte sie sich an die Wand und blieb unbeweglich mit herabhängenden Armen stehen. Das Wimmern ertönte noch kläglicher. Sie machte eine Anstrengung, sich loszulösen, glitt die Wand herab und blieb zusammengekauert am Boden sitzen. Da fing sie zu weinen an und weinte und weinte über ihre Ohnmacht, weil sie nicht mehr konnte — nicht konnte. Tania trat zu ihr und versuchte ihre Willenskraft zu beleben. „Mut", sagte sie, „Mut", aber sie fiel neben ihr hin und weinte wie sie. Auch sie war am Ende ihrer Kraft, es ging nicht mehr.

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Beim Versand des „Sozialdemokrat" „Lenotschka", rief jetzt jemand hinter ihr drein. Helene wandte sich um. Ein großes schlankes Mädchen lief fast atemlos den Berg herauf mit den langen Armen gestikulierend und ihr zuwinkend. Als sie sie erreicht hatte, hustete sie und lachte und versuchte dabei zu sprechen, bis ein Krampf sie erfaßte und sie zwang, endlich den Mund zu heilten. „Aber Rina, wie kannst du nur so verrückt den Berg herauflaufen", tadelte Helene. „Jeder läuft, wie er kann", entgegnete sie munter, dann russisch: „Gehst du nach Hause?" „Gewiß, ich habe zu tun." „Ach, laß doch, komm jetzt mit mir." „Wohin?" „Es ist heute Freitag, wo der „Sozialdemokrat" verschickt wird, das Personal reicht gewöhnlich nicht aus, und da kommen die Freunde zusammen und helfen ihnen die Adressen schreiben, willst du nicht auch?" „Sehr gerne", sagte Helene, „ich bin schon einmal dabei gewesen."; Rina steckte kameradschaftlich ihren Arm in den ihren und nun bogen sie nach der Wolfbachstraße ab und gingen im Schnellschritt vorwärts. „Was hast du da?" fragte Rina Iwanowna, die Tüte mit dem Finger bezeichnend. Helene hielt sie ihr geöffnet hin: „Gefällig?" Rina tat einen kühnen Griff und begann sofort zu essen. •• • Sie waren vor dem Hause am oberen Wolfbach angelangt . . . und begaben sich sofort, eine Treppe hoch, in die Wohnung des Redakteurs. Dieser selbst war nicht anwesend, aber um den Speisetisch herum saßen eine Anzahl von Volontären, Herren und Damen, die voll Eifer sich anschickten, die Kuverts, in denen der „Sozialdemokrat" verschickt werden sollte, mit ihren interessanten Handschriften zu versehen. Die Ankömmlinge wurden freudig begrüßt, und eine reizende Blondine, die hier die Honneurs machte, hatte 70

ihnen sofort einen Platz und alles Nötige zugewiesen. Diese noch junge Frau war die Gattin des Administrators des „Sozialdemokrat". Von der ängstlichen Ordnungsliebe und Pedanterie, lag ihrem Wesen nichts ferner als der Gedanke des Umsturzes. Ihre Toilette war immer sorgfältig und sie sah so appetitlich und nett aus, wie aus dem Schächtelchen gezogen. Sie bewohnte mit ihrem Manne zwei Stübchen des Erdgeschosses, darin glänzte es von Sauberkeit und alles war symmetrisch geordnet; da durfte kein Stühlchen oder Näpfchen auch nur um eine Linie anders gerückt werden, als sich's gehörte. Sie pflegte in diesem Heiligtum mit Handschuhen umherzugehen, weil sie immer säuberte, putzte und wischte. Ihr Leben war indes nicht immer so glatt und poliert gewesen, sie hatte Hartes erduldet. Ihr Mann, den sie sehr liebte, hatte als politisch Kompromittierter eine lange Gefängnishaft durchzumachen; sein blühendes Geschäft ging zugrunde, und als er herauskam, wurde er ausgewiesen. Sie hatte den Gefangenen getröstet, nun folgte sie ihm In die Verbannung. Glücklicherweise durfte sie all' ihre Sächelchen mitnehmen; das milderte ihre Schrecken. Bald fand sie, daß Zürich kein allzu übler Ort sei, denn es war daselbst alles nett und rein. Die Bestrebungen der Partei erhitzten ihr nicht das Blut, aber die revolutionären Schlagworte waren ihr wohl geiäufig und sie benutzte sie in naiver Unbekümmertheit, ohne auch nur mit den schönen, langen Wimpern zu zucken. Unter den Revolutionären machte sie scharfe, persönliche Unterschiede. Sie sympathisierte nur mit den „Besseren", die was auf sich hielten. Diese bemutterte sie und hielt auch ihre Wäsche in Ordnung. Vor denjenigen, die nicht soviel Rücksicht hatten, ihre Stiefel zu putzen, ehe sie bei ihr eintraten, warnte sie ihren Mann auf das Dringlichste, leider ohne Erfolg. Sie wurde gewöhnlich „die Tante" genannt, obwohl sie's nicht gerne hörte; aber ihr Mann hatte in Zürich den Namen gewechselt, und da die alten Genossen, die ihn besuchten, nicht seinen neuen, und die jüngeren nicht seinen alten kannten, so hieß er kurzweg „der Onkel", oder „der rote Postmeister." 71

Er trat soeben herein. Er wollte sich überzeugen, ob genügende Hilfskräfte vorhanden seien und die Adressen geschrieben würden. Er war ein zartgebauter, magerer Mann, wenig über die Dreißig, mit schwarzem Haar und gelblicher Haut, die etwas Pergamentartiges hatte. Er besaß kaum Mittelgröße, die scharfblickenden Augen und ein starker Schnurrbart, der in einer langen Spitze kühn nach aufwärts gedreht war, gaben indes seinem hageren Gesichte einen martialischen Zug. Seine lange Gefängnishaft hatte seine Gesundheit angegriffen, aber seinen Witz hatte sie ihm gelassen, wie seine Schrullen. In Parteisachen von strenger Disziplin, zeigte er sich oft starrköpfig im persönlichen Verkehr, und wenn da nicht geschah, was er wollte, nahm er eine leidende Miene an und sprach von Unterdrückimg. Ging ihm alles nach Wunsch, dann war er der Jovialsten einer, der sich auf seine Schneidigkeit etwas zugute tat. Man lachte über seine Ausfälle, die niemand wehe taten, denn er war eine edle, grundgütige Natur. Was diesen roten Postmeister aber vor allem auszeichnete, das war sein Mut und ein schier unerschöpflicher Reichtum an Phantasie, der ihn immer neue, bisher nie angewendete Schliche und Wege erfinden ließ, um das in Deutschland verbotene Parteiorgan daselbst einzuschwärzen. Mitunter nahm seine Phantasie einen gar kühnen Flug. So plante er einen unterirdischen Tunnel unter der Grenze — begnügte sich aber einstweilen mit einfacheren Mitteln, seinen „Sozialdemokrat" hinüber zu befördern. Diese Sendungen waren offenkundig. Die deutsche Polizei wußte ganz genau, daß allwöchentlich einige Ballen „Sozialdemokrat" über die Grenze gebracht wurden, und doch gelang es ihr nur ausnahmsweise, sie abzufassen und zu konfiszieren. Sobald er eine Sendimg abgelassen hatte, verfiel der rote Postmeister, der eine Art Feldpostdienst organisiert hatte, in eine gallige, nervöse Unruhe, aber sobald er die Meldung erhielt, daß das Manöver gelungen sei, fühlte er sich wieder leicht und elastisch und seine Brust hob sich höher, in dem unsäglichen Triumph, seinen Aufpassern wieder ein Schnippchen geschlagen zu haben. 72

Seine Frau aber schlug die schönen Augen gen Himmel, und sagte in ihrer phlegmatischen Art: „Gott sei Dank, daß sie draußen sind, jetzt wird er doch wieder essen!" Der rote Postmeister, die Hände in die Taschen gesteckt, ging in der Stube auf und nieder, wobei er seinen biegsamen Oberkörper zur Seite neigte, wie ein Segel im Winde. „In einer halben Stunde muß ich die Adressen haben — alle — alle!" rief er mit seiner etwas hohen und scharfen Stimme. „Dann arbeiten Sie hübsch mit, und gehen Sie nicht wie ein Sklavenhalter zwischen uns herum", sagte Rina. „Glauben Sie, daß ich nichts anderes zu tun habe? — und die Vorbereitungen — die Verpackungen— wer macht denn die? Meine Damen, es gibt eine Hochwohlweise zu überlisten und wenn wir auch den Bismarck'schen Schnapphähnen über sind — es bleibt immer eine verdammte Arbeit." „Dann kommen Besuche — man gibt Audienzen", spöttelte ein junger Berliner und eifriger Parteigenosse, der vorübergehend in Zürich weilte. „Genosse Ebner hat Ihnen wohl viel zu erzählen — wie? hat Direktiven mitgebracht, eh?" „Konrad Ebner ist hier?" fragte Helene und sah von der Arbeit auf. Der Postmeister war zornig in die Höhe gefahren. „Ein Klatschnest, dieses Zürich, ein unausstehliches Klatschnest! Wenn da einer nur in unsere Bude hineinguckt — ehe er sich niedergesetzt hat, weiß es die ganze Stadt". „Was kümmert Sie Genosse Ebner? Oder belieben Sie, im Solde des Herrn von Madai zu stehen?" Der junge Mann, dessen Verläßlichkeit außer Zweifel stand, lachte. „Wenn Sie mich so anzurempeln belieben, dann sollte ich wohl beleidigt tun und mich drücken? — fällt mir aber nicht ein — ich freue mich zu sehr, daß Ebner da ist. — Ich sage Ihnen, meine Damen, das ist .einer', und wenn er auch nicht an unsere Päpste heranreicht, St. Augustus und St. Wilhelmus, so hat er doch auch den Teufel im Leibe. 73

Hat soeben eine Agitationsreise durch ganz Deutschland gemacht, trotz der Sozialistenhatz — besitzt einen Einfluß auf die Arbeiter — ungeheuer! Versteht es, ihren gesunkenen Mut wieder zu heben — das tut jetzt vor allem not — und dabei läßt er sich nicht erwischen — das ist die Hauptsache. — Aber wir müssen trachten, ihn wieder nach Berlin zu kriegen — wir werden ihn in den Reichstag wählen, die richtige Schnute hat er, reden kann er —" „Nicht so wie Sie", unterbrach der rote Postmeister, bissig lächeld, „Sie müßten wir eigentlich drin haben — da käme kein anderer zum Wort." „Passen Sie 'mal auf, das kommt noch — Aber jetzt erzählen Sie doch schnell, lieber Onkel, weshalb Ebner hierher kam." „Er wird einen Vortrag halten —" „Im Café Keßler, das weiß ich schon." „Das wissen Sie auch schon! — Dann lassen Sie mich ungeschoren." „Aber weiter —" „Da gibt's kein weiter, die Geschieht' ist aus. Empfehle mich allerseits." Und sich flott auf die Seite legend, segelte er aus der Stube hinaus... „Ich bin fertig", sagte Helene, schob ihr letztes Kuvert von sich und langte nach ihrem Hute: „Ich muß fort." Sie hatte sich wiederholt danach gesehnt, Konrad wiederzusehen und sich mit ihm auszusprechen. Es deuchte ihr, als sei sie ihm in vielem näher gekommen, als hätte sie ihm viel zu sagen und mehr noch von ihm zu hören, und nun hatte der Gedanke, ihm jetzt, ihm hier zu begegnen, etwas Verwirrendes für sie, das fast dem Schrecken glich.

Unter russischen Revolutionären Ein heißer Nachmittag! Die glühenden Sonnenstrahlen schienen von der breiten Universitätsstraße, in der die Baulichkeiten noch vereinzelt standen und mit Wiesen und Weingärten wechselten, gar nicht Abschied nehmen zu wollen. 74

In einem der letzten Häuschen, das sonderbarerweise der „Palmhof" genannt wurde, finden wir Helene mit ihren Freundinnen. Helene und Sofia hatten gemeinschaftlich ein nettes Mansardenstübchen inne, während Tania, der das Steigen schwer fiel, ein großes Zimmer der Bel-Etage bewohnte, das gleichzeitig als Empfangssalon diente. Es war fünf Uhr, und endlich kam auch der „Palmhof", in dessen Vorgärtchen nur einige Nelken und Levkojen ein kümmerliches Dasein fristeten, in den Schatten. Aber die kleinen roten Blumen richteten ihre Köpfchen nicht wieder auf, sie waren welk und versengt und unter dem wannen Wind, der sie leise bewegte, strömten sie einen matten Duft aus. Die Fenster von Tanias Stube standen weit geöffnet. Tania selbst lag nahe dabei auf einem kleinen, schmalen Sofa, den Kopf durch ein weißes Kissen gestützt, das sie ihrem Bette entnommen hatte. Sie hatte die Füße weit heraufgezogen und es fröstelte sie, trotz der Hitze. Ihre Gesichtszüge hatten sich wenig verändert, aber ihr Körper war noch zarter geworden und in ihrer schlaffen Haltung sprach sich ein völliger Verbrauch von Kraft aus. Die arme Tania war krank. Das tragische Geschick ihres Vaterlandes und ihr eigener Kummer unterminierten diese zarte Organisation und erhielten sie in einem beständigen Fieber. Sie hatte in einem Zeitungsblatt gelesen und warf es nun schaudernd zu Boden. Es enthielt die aus allen Teilen Rußlands eintreffenden Nachrichten über die immer trostloser werdende, schier unerträgliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung. Aus den Städten aber kamen kurze, trockene Meldungen von neuen Aufständen und Studenten-Revolten, von der Entdeckung geheimer Druckereien und Verschwörungen und den darauf folgenden Willkürakten der Regierung. Die Deportation nach Sibirien und alle die Qualen, die sie begleiteten, hatten die Revolutionäre nicht einzuschüchtern vermocht, nun ging der Zarismus in einem Anfall rasender Furcht noch weiter und ihnen direkt ans Leben. Eben hatte Tania den Bericht über die Strangulierung des 75

neunzehnjährigen Rohorski gelesen, den man gehängt, weil er einem zweiten die Proklamation des Exekutivkomitees eingehändigt hatte. Sie warf die Hand über die Augen und ein Seufzer, einem Schluchzen gleich, erschütterte die kranke Brust. „Wann endlich — wann — wann!" rief sie und warf sich hin und her in fiebernder Unruhe. „Die Blüte unserer Jugend, die besten, die edelsten fallen diesem Moloch zum Opfer — wann wird es anders — und kommen wir überhaupt in dieser Weise zum Ziele?!" Und sie grub sich, die dunklen Haare zerwühlend, tiefer in ihr Kissen. Neue Bilder erstanden ihr; weicher wurden ihre Züge unter dem Ausdrucke eines sehnsüchtigen Verlangens. Sie gedachte des Gatten. — Er lebte noch; sie hatte endlich Nachricht von ihm erhalten. Er befand sich noch immer in den feuchten Kasematten der Peter-Pauls-Festung und wartete noch immer, wie Michael Karzow und seine Genossen, wie Natalie auch, auf die Wiederaufnahme des Prozesses. Vier Jahre hindurch schmachtete er nun schon in einer Lage, die zum Wahnsinn führt, als ein Lebendiger in einer Totengruft, dem Urteilsspruch entgegen. Wenn sie daran dachte, und sie mußte ja immer wieder daran denken, dann bohrte sich's auch in ihr Gehirn wie Wahnsinn, und diese nutzlose, ungeheuerliche Grausamkeit, die man über einen armen Menschen verhängte, für dessen Schuld noch keine Beweise erbracht waren, und der in diesem Augenblick vielleicht, seinen Martern erliegend, mit dem Tode kämpfte, ließ sie oft aufschreien vor Wut und Schmerz. Dann resignierte sie sich wieder, der Mensch gewöhnt sich ja an alles; ja, sie konnten scherzen und lachen wie ehedem, aber ihre Brust war wund, und die dunklen Stunden, in denen sie in Haß und Sehnsucht heimliche Projekte nährte, kamen immer häufiger. Wenn sie sterben sollte, ohne ihren Gatten wiederzusehen, nutzlos dahinginge, ohne etwas für die Sache getan zu haben? 76

Es dünkte ihr schrecklich, aber nein, so schnell ging's nicht! Sie hatte ein, vielleicht zwei Jahre noch zu leben, eine lange Zeit, und bis dahin — Sie erhob sich aus ihrer liegenden Stellung, und preßte ihre kleinen Hände über die pochenden Schläfen, als könnte sie damit ihre Unruhe und ihre Gedanken meistern. Dann lächelte sie, und abgespannt, mit einer gewissen weichlichen Trägheit, ließ sie sich wieder in ihr Kissen zurücksinken. Nach einer Weile öffnete sich die Türe und Sofia Alexandrowna trat leise herein. Wie eine Leuchte ging es von diesem hellen und vornehmen Gesichte aus. Sie schritt gerade auf Tania zu und fuhr ihr mit der Hand leicht und liebkosend über die Stirne. „Es ist wunderbar draußen — du solltest ein wenig ins Freie." Tania schüttelte den Kopf. „Ich bin zu träge und es ist gut hier; dann werden auch bald die Freunde kommen." „Ich wundere mich, daß sie noch nicht hier sind." Sofia trat zum Fenster und sah hinaus. Von diesem hochgelegenen Punkt der Vorstadt Oberstraß streifte der Blick ungehindert über die sanft aufsteigenden Matten und das junge Gehölz des Zürichberges. „Ein herrlicher Nachmittag, kein Wölkchen am Himmel!" Das klang so heiter, als wäre auch in ihrer Seele alles hell und wolkenlos. Sie blickte eine Zeitlang aufmerksam gegen die Universitätsstraße, als erwarte sie, jemand von dort herauf kommen zu sehen, zuckte dann ein wenig mit den Achseln, als begriffe sie nicht, weshalb er so lange zögere und wendete sich wieder der Stube zu. Es sah wieder einmal recht unordentlich darin aus. Tania bemerkte so etwas nicht, sie hatte wenig Sinn für das Äußerliche, und vernachlässigte es vollends, seitdem sie sich leidend fühlte. Die Lampe mit dem ölkännchen, die Schuhbürste und Tanias runder Hut — ein Teller mit Zwetschenmus, das sie ¿.Süßes" nannte, eine gebrauchte Serviette, Stuart Mill 7

Minna Kautsky

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und Spencer in abgegriffenen Bänden lagen und standen auf dem Sofatisch neben- und aufeinander. Und darunter Tanias Stiefel, die sie beim Nachhausekommen von den Füßen gestreift und hingeworfen hatte, um ihre Pantoffeln anzuziehen. Sofia beseitigte das meiste, stellte den Teller mit dem Mus auf das Fensterbrett und ließ nur die Bücher zurück. Tania sah ihr zu, mit zerstreuten Augen, dann fragte sie plötzlich: „Ist Lazar nach Genf gefahren? Krapotkin erwartete ihn ja." Sofia errötete wie ein junges Mädchen. „Nein; er sollte es allerdings, ich weiß nicht, was ihn zurückhält." „Du weißt es nicht?" Tania lächelte ein wenig, es sah recht schelmisch aus. Sofia aber fuhr fort: „Er hat einen Freund aus Deutschland hier, mit dem er gestern beisammen war." „Meinst du Konrad Ebner?" „ J a , erhält viel von ihm", sagte Sofia und sah sich um, als von außen das Gepolter rascher Schritte, die die hölzerne Treppe herauf kamen, vornehmbar wurde. Tania setzte sich auf. Mit der Hand strich sie die dicken zerwühlten Haare zurück und knöpfte die Bänder ihres weiten Jäckchens zu, die sie vorhin geöffnet hatte: Sie hatte Toilette gemacht. Gleich darauf klopfte es an die Tür. „Entrez", riefen die beiden Damen gleichzeitig. Zwei junge Männer traten herein; es waren Landsleute, Emigrierte, der eine Schriftsteller, Paul Fedorowitsch Ostrowski, der andere Mediziner, Gregor Iwanowitsch Newolin. Sie wohnten zusammen und waren trotz ihrer äußerlichen und innerlichen Verschiedenheit die besten Freunde. Sie stritten und debattierten unaufhörlich miteinander, erzürnten sich und versöhnten sich wieder. Beide waren klein, aber Ostrowski ebenso zart und fein gebaut, als der andere plump und schwerfällig; ebenso aufgeweckt und sarkastisch als Newolin derb und natura78

listisch im Ausdruck war, der mit seinem unschönen, mürrisch drein sehenden Gesicht geradezu komisch wirkte. Auch in ihren revolutionären Anschauungen gingen sie auseinander, Newolin gehörte den Narodniky an. Es war die ältere, volkstümliche Richtung, die sich von allen Einflüssen und Theorien des Westens befreien und spezifisch russisch sein wollte; die Narodniky setzten ihre Hoffnung auf die Organisierung und Revolutionierung der Bauernschaft und ihre Losung war: Alles für das Volk und durch das Volk. So verdammten sie jede politische Tätigkeit, der das ungebildete Volk nicht gewachsen war und suchten die Bewegung den urwüchsigen Begriffen und kommunistischen Instinkten, die in der Bauernschaft ruhten, anzupassen. Die Obschtschina, d. h. das Gemeineigentum an Grund und Boden, diese schöne altehrwürdige Einrichtung sollte ihrer Meinung nach der Eckstein des künftigen Gebäudes werden. Ostrowski hatte sich der Partei der Narodnaja Wolja angeschlossen. Während des Kampfes hatte sie sich gebildet aus einer todesmutigen, begeisterten Schar, der die Jugend und die Intelligenz Rußlands angehörte. Sie waren von rein ethischen Überzeugungen getragen, sie kämpften für die Aufklärung, für die Gerechtigkeit; auch sie wollten alles für das Volk, aber nicht durch das Volk zu Stande bringen, sie glaubten nicht an die Mission der Bauernschaft, aber sie glaubten an ihre eigene. Bewußt traten sie in einen politischen Kampf mit der Regierung. Sie wollten den Absolutismus stürzen, eine provisorische Regierung einsetzen und auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes eine Konstitution herbeiführen. Aber in einem despotischen Staate konnte ihre Tätigkeit nur eine geheime sein und dem Terror der Regierung gegenüber wurden sie, um sich zu behaupten, zu derselben Kampfesweise gezwungen, welche diese Heldenjünglinge in furchtbarer Weise zu dezimieren begann. „Bonjour, mesdames", sagte Ostrowski. Er sah sehr heiter aus und schwenkte seinen Hut, sich verneigend. 7'

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Newolin war von einer zur anderen gegangen, drückte jeder schweigend aber sehr stark die Hand, ohne sie anzusehen, und blieb dann vor einem Stuhle stehen. „Geht es Ihnen noch immer nicht besser, Tania Michailowna?" fragte Ostrowski, ihr die Hand reichend. „Ich möchte Ihnen eine Segelpartie vorschlagen, das würde Sie restaurieren — wir haben herrlichen Segelwind — ich führe Sie hinaus — ich bekomme den Kutter geborgt; — Sie wollen nicht? Das ist schade." „Ein anderes Mal, lieber Freund, bleiben Sie nur hier", sagte Tania. „Lazar und Rina kommen und Georg Andrejewitsch, vielleicht auch Atschin und Pisanoff. Setzen Sie sich doch, auch Sie, Newolin." Newolin murmelte etwas und ließ sich auf der äußersten Kante des Sessfels nieder. Den Spazierstock und seinen weichen stark zerknüllten Hut zwischen den Beinen haltend, saß er da, mit vorgeneigtem Kopf und gebogenem Rücken, als wollte er in der nächsten Minute wieder davonlaufen. Ostrowski hatte Tania gegenüber Platz genommen. Er sprach rasch und lebendig und in dem schmalen Gesicht, das von rabenschwarzen Haaren und einem großen Vollbart umrahmt war, funkelten die kleinen Augen gleich glühenden Kohlen. Er erzählte ihr von der Tätigkeit des Exekutivkomitees und fingerte dabei nervös in den Taschen seines zerfransten Röckleins herum, offenbar nach einem Gegenstand suchend, den er nicht finden konnte. Er gelangte dabei in das Unterfutter seines Rockes und jetzt blitzten seine Augen verheißend auf. Mit einem Ruck hatte er ein Papier hervorgezogen und überreichte es ihr Es war ein vom Exekutivkomitee verfaßtes Schriftstück, betitelt „Die Vorbereitungsarbeit der Partei." „Lesen Sie das, Sie werden sehen, wir betreten ganz neue Wege." Tania nahm es entgegen, las die Aufschrift und sah ihm ernst in die Augen: „Was Sie hier lächelnd mir bieten, wird in Rußland mit dem Tode bestraft." Um seinen Mund zuckte es hohnvoll, während er seine Augen zu einem Spalt zusammenkniff, hinter dem es blinzelte und blitzte. 80

„Was tut das? Rohorski wurde gehängt, weil er ein Exemplar davon verschenkt hatte, seitdem sind Tausende davon verbreitet und in allen Händen. Je schrankenloser der Despotismus wütet, um so rascher werden wir ihn besiegen — wir werden reinen Tisch machen." „Ihr seid Idealisten", brummte Newolin. „Wir? Wir kennen unsere Kräfte — die Intelligenz ist auf unserer Seite — die Idealisten seid Ihr, die Ihr auf die Bauernschaft zählt." Newolin fuhr auf, setzte sich aber sofort wieder. Er klemmte den Stock zwischen die Beine, so daß seine plumpen Kniee schief gegeneinander standen, und murmelte einige Worte in sich hinein. „Wollen Sie nicht gefälligst Hut und Stock beiseite legen, Gregor Iwanowitsch?" fragte Sofia, die ihn lächelnd betrachtete. „Danke", sagte er kurz, ohne seine Stellung zu verändern. „Haben Sie's noch nicht bemerkt, daß er sich stets nur provisorisch niederläßt?" höhnte Ostrowski, „er wartet auf eine Volkserhebimg." „Sie wird auch kommen." „Abervielleicht dochnichtsoschnell, daß Sie sich'snicht bequemer machen könnten", versetzte Sofia lächelnd. Wieder brummte Newolin etwas und rutschte nach rückwärts bis an die Lehne. Aber nun konnten die kurzen Beinchen nicht mehr den Boden erreichen; er ließ sie baumeln und sah mit einem trotzigen, höchst unzufriedenen Ausdruck gerade vor sich hin. Es wirkte unwiderstehlich komisch und Tania lachte und versicherte, er sehe jetzt aus, wie ein Schuljunge, der nachsitzen müsse. Und nun folgte ein Witz dem anderen, die Newolin mit stoischen Gleichmut entgegen nahm. Als aber Ostrowski einen gar zu scharfen Ausfall tat, setzte er, wie der Präsident in der Kammer, seinen Hut auf und wollte fort. Aber sofort fiel ihm sein Freund reuevoll um den Hals, bat ihn, doch nicht gleich böse zu sein, und zog ihn wieder auf seinen Platz zurück. Und jetzt lachte Newolin laut und hölzern und gegen Ostrowski gewendet, versicherte er nicht ohne Laune: 81

„Ich kenne dich ja, Paul Fedorowitsch, du bist ein gefürchteter Terrorist, aber du kannst keinem Menschen weh tun." Und nun lachten alle. Sie waren in eine liebenswürdig heitere Stimmung gekommen, und die Unterhaltung nahm einen ganz harmlosen Charakter an. Sofia stellte den Samowar auf. Als sie einige Vorbereitungen treffend auf und nieder ging, blieb sie plötzlich stehen und lauschte. Ein Schimmer der Freude flog über ihr Antlitz, dann sprang sie gegen die Tür. Sie ging auf. Dodukoff stand auf der Schwelle. Sie begrüßten sich und ihre Augen ruhten einen Augenblick ineinander, wie ihre Hände. Aber so glückselig sie auch aussah, so mußte doch etwas in ihrem Blick einen Vorwurf enthalten haben, denn er neigte sich zärtlich ihr zu und flüsterte leise: „Ich konnte nicht früher kommen." „Ist etwas vorgefallen?" fragte sie in jener reizenden Vertraulichkeit, die an Vertrauen gewöhnt ist. „Krapotkin hatte mir geschrieben, daß er diesen Nachmittag kommen werde, ich erwartete ihn bis sechs vergebens. Da ging ich denn und habe die Weisimg hinterlassen, wo ich zu finden sei." Sie nickte ihm zu und nach einem Druck lösten sich ihre Hände. Wie ein Raub genossen sie ein Glück, gegen das ihr Gewissen sich sträubte. Lazar trat zu den Anwesenden und reichte Tania die Hemd. Auf sein Befragen, wie es ihr ginge, versicherte sie: „Ausgezeichnet!" Sie fühlte sich angeregt, und sah in der Tat merklich erfrischt aus. Sie fragte ihn, weshalb er seinen Freund aus Deutschland nicht mitgebracht habe. „Die haben Konferenzen," erwiderte Lazar. „In der Redaktion des .Sozialdemokrat' wird etwas gebraut." „Ja ja, dort geht etwas vor", versetzte Ostrowski mit schlauem Blinzeln. „Bei denen soll etwas vorgehen?" stieß Newolin verächtlich hervor, „diese deutschen Sozialisten sind Reaktionäre." 82

„Sie organisieren die Arbeiterschaft, und das ist wohl von Bedeutung", entgegnete Lazar mit Nachdruck. „Das ist gut für die Deutschen", brummte Newolin. „Wir können es ihnen leider nicht nachmachen", versetzte Ostrowski. „Wir brauchen ihnen überhaupt nichts nachzumachen", erklärte Newolin mit Entschiedenheit, „ was dem Westen taugt, taugt nicht für uns, wir müssen uns an die Bauern halten." „Du immer mit deinen Bauern", rief Ostrowski, und nun begann der Streit zwischen den beiden aufs neue. Lazar schritt dem Fenster zu und Sofia trat zu ihm. Beide lehnten sich hinaus und flüsterten leise miteinander. Sie ließ ihre Blicke über die waldumsäumten Hügel des Zürichberges schweifen, während er die seinen nicht von ihr loszulösen vermochte. Unter den Luftreflexen des klaren Himmels schimmerten ihre Augen im tiefsten Blau; jedes Äderchen zeichnete sich in dem lichten Gesichte, und der feine Ton ihrer Haut erschien transparent unter dem wärmeren Rot, das Hals und Nacken ihr färbte. Und er empfand ihre Schönheit wie eine Seligkeit und einen Schmerz zugleich, nach dem er immer sehnsüchtiger verlangte. Da ertönte ein Durcheinander verschiedener Stimmen vom Vorhause her; darunter ein lauter Alt und der alles dominierende Diskant eines Kindes. Dann wurde die Tür aufgerissen und Rina Iwanowna, einen hübschen Knaben auf dem Arm, hopste mit ihm herein. Helene folgte und hinter ihr drein zwei junge Männer, beide gedrungen und breitschultrig, mit offenen und intelligenten Gesichtern. Der Größere und Schlankere war der Student der Medizin Pisanoff, dessen Frau unlängst entbunden hatte. Er brachte sein Söhnchen mit, den fast dreijährigen Kola. Er hätte auch seinen Neugeborenen mit sich genommen, wenn ihn nicht seine Frau selbst davon abgehalten hätte. Er hatte den großen überaus schäbigen Filzhut schon draußen abgenommen und das weiche lange Haar fiel in Locken auf einen sehr schmutzigen Hemdkragen 83

herab, der durch keine Krawatte zusammengehalten war, ein Mangel, der indes nicht allzusehr auffiel, da der hübsche herabwallende Vollbart ihn gnädig verdeckte. Und nonchalant wie seine Kleidung, war auch seine Haltung, die trotzdem, oder vielleicht eben deshalb einer gewissen Anmut nicht entbehrte. Und dieser Mann, der mit den kleinlichsten und quälendsten Sorgen täglich und stündlich zu kämpfen hatte, gewann den Anschein der größten Sorglosigkeit dadurch, daß er seine bittere Armut nicht zu verbergen suchte. Das „qu'en dira t'on" der guten Gesellschaft spielte bei ihm keine Rolle. Weshalb auch? Die Genossen kannten seine Lage, sie wußten, daß er selbst die härtesten Entbehrungen ertrug, um all seinen Pflichten als Mann und Vater zu genügen, der ganzen übrigen Welt aber stand er ohnedies revolutionär gegenüber, was kümmerte sie ihn. Er war Mitarbeiter und Anhänger des „Tschomii Peredjel", eines Organs, das zur „Narodnaja Wolja" in einem scharfen Gegensatz stand und eine neue Taktik befürwortete. Aus den Narodniky hervorgegangen, strebten auch die Anhänger des „Tschornii Peredjel" die Bildung einer Volkpartei an, aber nicht auf politischer, sondern ökonomischer Grundlage, wobei sie sich dem wissenschaftlichen Sozialismus, obwohl sie ihn noch nicht völlig begriffen hatten, zu nähern suchten. Sein Gefährte, der sich bescheiden hinter ihm hielt, war Georg Andrejewitsch Bilinsky. Erst vierundzwanzigjährig, hatte er doch ein ganzes Leben des Kampfes hinter sich. Er war in Petersburg drei Jahre hindurch unaufhörlich für die Propaganda tätig gewesen. Er hatte sich an die Arbeiter gewendet und versuchte es, sie über ihre Lage und die Bedingungen ihrer Fortentwicklung aufzuklären, und traf unter ihnen auf Opfermut und Verständnis. Aber je bedeutsamer seine Erfolge waren, um so hitziger gestaltete sich die Verfolgung. Er lebte das schreckliche Leben eines Ungesetzlichen, stets die Polizei auf den Fersen. Er konnte es selbst nicht begreifen, daß er noch immer frei war. 84

Tag und Nacht trug er den geladenen Revolver bei sich, um in dem Moment seiner Festnahme den Angreifer niederzuschießen oder sich selbst, und begrüßte jeden neuen Tag, mit Verwunderung, als ein unerwartetes Geschenk. — Aber morgen, sagte er sich, morgen haben sie mich sicher. Schließlich gewöhnte er sich an dieses Leben und ertrug es mit Heiterkeit; er wußte gar nicht, wie sehr es ihn innerlich angriff. Seine Freunde bemerkten die furchtbare Überreizung seiner Nerven, die selbst die Nahrungsaufnahme beeinträchtigte — er konnte fast nichts mehr essen — und boten ihm die Mittel zur Flucht. Er wollte nicht emigrieren — dann ging er doch. „Nicht für lange", sagte er ihnen, „ich muß nur wieder zu mir kommen, muß wieder einmal anfangen, als Mensch zu leben, sonst, ich fühl's, müßte ich zum Verbrecher werden." Wer ihn jetzt sah mit den guten, klaren, braunen Augen, dem sanften gescheiten Ausdruck und dem etwas schüchternen Wesen, ein Denker, voll Talent, eifrig mit historischen und nationalökonomischen Studien beschäftigt, der hätte in ihm niemals den verfehmten Agitator vermutet. ErvertratunterdenhierVersammeltengleichsam eine vierte Richtung, die dem Marxismus am verwandtesten war... Tania hatte sich zuerst eine Zigarette angezündet und nun ahmten die übrigen ihrem Beispiele nach. Sie hatte die kleinen Füße wieder heraufgezogen und lehnte sich in das Kissen zurück, in der lässigen Stellung des dolce far niente. Ihr Haar erschien auf dem weißen Polster rabenschwarz und bauschte sich hoch in dichten Partien um dieses kleine Gesichtchen, dessen leidender Zug in diesem Augenblick der Ruhe einen mehr schmachtenden Ausdruck erhielt. In zwei Fingern hielt sie gar zierlich ihre Zigarette, die sie von Zeit zu Zeit an den Mund führte, um einen Zug zu tun, und dann in Absätzen den Rauch langsam vor sich hin zu blasen. Da ward an die Türe geklopft, zwei kurze und harte Schläge ertönten. „Das ist Atschin", sagten alle. „Entrez." 85

Ein schlanker, mittelgroßer Mann trat herein, es war Atschin. Er begrüßte alle mit einem „Guten Tag" und warf dann seine Mütze beiseite. Ostrowski bot ihm seinen Stuhl an, er aber schwang sich auf die Kommode und blieb vorgebeugt sitzen, mit hohler Brust und aufgezogenen Schultern. Er war ein Kleinrusse, ein körperlich schwächlicher und unschöner Mensch, aber wer dies Kosakengesicht mit den tiefliegenden Augen, von gewaltigen Brauen beschattet, einmal gesehen hatte, konnte es nicht so leicht wieder vergessen. Er war noch jung, aber die niedere Stirne zeigte Falten und sein zerwühltes Haar, wie sein kurzgeschnittener Vollbart waren von Silberfäden durchzogen. Die grausame Behandlung in dem Gefängnis von Kiew hatte ihre Schuldigkeit getan; er erkrankte daselbst und kam in das Hospital. Von dort war es ihm gelungen, zu entfliehen. Er hatte sich nach Genf gewendet, wo er viel mit dem ebenfalls aus dem Gefängnis entflohenen Fürsten Krapotkin verkehrte. Seit einigen Monaten erst lebte er in Zürich, wo er als Chemiker in dem Laboratorium des Polytechnikums arbeitete. Unter den Genossen hieß es, er hätte ein neues Sprengmittel erfunden, genaues wußte man indes nicht, denn er war ein schweigsamer und zurückhaltender Mann. An theoretischen Diskussionen beteiligte er sich nie, er belächelte sie. Aber trotzdem schenkte er ihnen sein Ohr und im gegebenen Moment fuhr er mit einem schneidigen Ausspruch dazwischen, der eine Verurteilung enthielt oder ein Vorwärtsdrängen zur Tat. Er war eine ganz aktiv angelegte Natur, wie Tania, und die beiden verstanden sich wohl. Beide brustkrank, wußten sie, daß ihre Zeit gemessen war, und doch mußten sie sich resignieren und warten. Als Tania hustete und ihr Sacktuch gegen den Mund führte, blickte er mit finsteren Augen zu ihr hinüber. „Warum rauchst du?" fragte er, „hast du mein Mittel genommen, das ich dir gegeben habe?" „Nein", sagte sie kurz, dann fast höhnisch, „meinst du, daß du mit deinem Mittelchen mir helfen könntest?" 86

Er zuckte die Achseln: „Wollen und Können ist zweierlei, wir können nicht viel, und tun nicht einmal das, was wir können." Dankend nahm er das Glas Tee aus der Hand Helenens und stellte es zwischen seine Beine auf die Kommode. Die Konversation hatte sich bisher leichtflüssig in heiteren Bahnen bewegt, jetzt nahm sie eine andere und ernstere Wendung. Ostrowski sprach von dem Grad der Unzufriedenheit, die bereits alle Reihen erfüllte, die sich noch immer steigere, da alles Hoffen und Harren auf die allerdringlichsten Reformen vergeblich sei. Er berichtete voll Schadenfreude, daß jetzt selbst die liberalen Zeitungen die Einberufung einer Landesversammlung verlangten. Natürlich taten sie es, wie immer, in einem schüchternen, servilen Ton und ebenso natürlich verharrte die Regierung auf ihrem Standpunkt und antwortete ihnen, daß Rußland noch nicht reif für Reformen sei. „Nicht reif ! hört Ihr's." Ostrowski verzog seinen Mund ironisch nach einer Seite hin. „Die Intelligenz Rußlands soll nicht reif sein zur Mitwirkung an den Staatsgeschäften, aber Rußlands durchfaulte und korrumpierte Beamtenschaft, die ist reif, die besitzt das Verständnis für die Bedürfnisse des Volkes, die ist würdig des Vertrauens der Regierung!" Er begann sich die Hände zu reiben, während seine Augen noch kleiner wurden, aber um so intensiver aus den tiefen Höhlen hervorfunkelten. „Nur fort so, nur zu! Die Regierung sorgt dafür, daß die Empörung immer noch wächst und zu einer unüberwindlichen Macht wird." „Ich sehe, Ihr wollt darauf warten, bis sie sich selber ihr Grab gegraben hat", krächzte der kleine Newolin. „Wir brauchen gar nicht zu warten", nahm Lazar das Wort, seine Stimme klang sonor und ruhig, „die Ereignisse selbst treiben uns vorwärts, Schritt für Schritt; und wie die Dinge heute stehen, müssen sie eine Konstitution geben." „Konstitution!" Newolin wiederholte das Wort im Ton unsäglichster Verachtung und spuckte dabei aus, „wenn sie eine Konstitution geben, dann wird sie auch darnach sein, dafür danke ich." 87

Pisanoff, der gierig seinen Tee getrunken hatte, nickte bestimmend: „Ein Schemen würde es sein, ein Nichts, auch ich sage, nur terroristisch läßt sich etwas erreichen." „So ist's", schrie Newolin, „der Schuß der Sassulitisch ist der Beweis dafür." „Die Sassulitsch — die Sassulitsch!" ertönte es von allen Seiten. Der Name übte eine elektrisierende Wirkung. Tania richtete sich auf, warf ihre Zigarette beiseite und sie und alle, Atschin ausgenommen, sprachen nun erregt durcheinander. Jeder und jede wußte etwas über diesen Schuß zu berichten, der diejenige, die ihn abgefeuert, zu so allgemeiner und unbestrittener Berühmtheit gebracht hatte. „Durch sie wurde der ganzen Welt erst offenbar, wie Rußland seine politischen Gefangenen behandelt", sagte Lazar. „Es läßt sie auspeitschen!" schrie Newolin. „Einen Gefangenen seiner politischen Meinung wegen auspeitschen lassen, das ist doch zu abscheulich 1" rief Rina in ihrer lauten Weise. Tania aber preßte konvulsivisch ihre kleinen Hände zusammen und stöhnte kaum hörbar: „Das dürfen sie — das —!" „Dieser Schuß ist ein großer, ein unvergleichlich agitatorischer Effekt gewesen", versicherte Ostrowski. „Das ist ja, was ich sage", rief Newolin heftig gestikulierend. „Dieser Schuß hat das ganze schlafmützige Rußland aufgeweckt." „Es war die Tat einer Heldin," bestätigte Sofia. „Und doch besitzt Wera Sassulitsch nichts in ihrem Wesen, das den landläufigen Vorstellungen einer Heldin entsprechen würde", sagte jetzt Georg Andrejewitsch, der bisher bescheiden geschwiegen hatte, mit sanfter melodischer Stimme. Helene, die ihm zunächst stand, wendete sich nach ihm um. Das schöne Gesicht des Jünglings war etwas nach aufwärts gewendet und die klaren, sonst so ruhigen Denkeraugen erstrahlten im Glänze innerer Begeisterung. 88

„Sie kennen sie?" fragte ihn Helene, von dieser allgemeinen Erregung mit erregt, in warmer Anteilnahme. „Gewiß, Wera steht seit ihrem sechzehnten Jahre in der Bewegung; ich bin mit ihr in Petersburg oft und oft-zusammengekommen." „Und wie sieht sie aus, wie ist sie in ihrem Wesen?" „Anders als je eine Heldin vorher gewesen ist — unschön, ja impoetisch; ihr Äußeres verrät nichts von ihrer heroischen Sinnesart, es erscheint ganz gewöhnlich." „Und sie liebte den Mann, den sie gerächt hatte?" fragte Helene weiter. Georg Andrejewitsch schüttelte sein Haupt. „O nein, auch darin ist sie den Heldinnen ungleich. Sie kannte Bogoljubow nicht einmal persönlich; er war ihr ein Gesinnungsgenosse, ein Mitkämpfer. Aber da sie selbst eine glühende Sozialistin ist, wußte sie am besten, daß das, was die Menschen zu diesem Kampfe treibt, edel und gut ist, und als sie erfuhr, daß der Stadthauptmann Trepow über den politischen Sträfling Bogoljubow die entehrendste Strafe verhängt hatte und ihn auspeitschen ließ — er hat hundert Stockstreiche empfangen — da erfaßte sie eine Empörung, die an Verzweiflung grenzte. Sie aß nichts, sie schlief nicht mehr, immer und überall hatte sie das grinsende Bild vor sich: die Bestialität im Gewände und mit dem Schwert der Gerechtigkeit Da ging sie zu Trepow, und —" „Und schoß die Bestie nieder!" ergänzte Atschin. Klar und scharf, wie eine Klinge, fiel das Wort in die warmblütige Darstellung des Jünglings; es machte Helene erschaudern und mochte auch auf die übrigen eine starke Wirkung üben, denn eine allgemeine Stille trat ein. Dann aber wendete sich Helene, die einzige in diesem Kreise, der diese Ereignisse nicht in allen Einzelheiten bekannt waren, an Georg Andrejewitsch und fragte leise in tiefer Ergriffenheit: „Sie war zu Trepow auf die Stube gekommen, was war denn unmittelbar nach dem Attentat mit ihr geschehen?" „Sie hatte sich ruhig gefangen nehmen lassen. ,Ihr könnt jetzt mit mir machen, was Ihr wollt', hatte sie gesagt. Sie war der Meinung, daß man sie hängen würde; aber sie 89

hatte den Stadthauptmann nur verwundet, nicht getötet, und sie kam vor ein Geschworenengericht. Ihre Tat hatte in der Bevölkerung indes eine namenlose Begeisterung erweckt; die ganze öffentliche Meinung Rußlands hatte sich für sie erklärt und als sie jetzt vor ihre Richter trat, einfach und schlicht, nachlässig in ihrem Äußeren — die Sassulitsch dachte nicht daran, vorteilhaft zu erscheinen — da fühlten alle, der war es nie und nimmer um sich zu tun. Und als sie fest und ruhig sich zu ihrer Tat bekannte, nicht, als hätte sie damit etwas Großes, Ungewöhnliches getan, sondern einfach eine Pflicht erfüllt, da erschien sie wie das lebendig gewordene Gewissen Rußlands, das sich dagegen erhebt, daß das Höchste, was eine Menschenbrust erfüllt, von einem Feigling als das Niedrigste gebrandmarkt wird. „Sie wurde freigesprochen." „ J a , freigesprochen, und trotzdem nicht freigegeben", rief Helene. Atschin lachte hohnvoll. „Weil in unserem heiligen Rußland Freisprechung keineswegs gleichbedeutend mit Freiheit ist." Und nun sprachen einen Augenblick wieder alle erregt durcheinander über den Terrorismus der Regierung, die unbekümmert um die Gerichtshöfe und ihre Urteile diejenigen beseitigt, die sie beseitigen will, indem sie sie auf administrativem Wege nach Sibirien schickt. Dies Los, das Tausende schon getroffen, war auch der Sassulitsch bestimmt gewesen, aber es war ihren Freunden geglückt, sie demselben zu entreißen. „Wir, eine Anzahl Studenten, hatten sie vor dem Justizgebäude auf der Straße erwartet", nahm Georg nun wieder das Wort, „als wir aber einen Wagen unter Bedeckung von Gendarmen herauskommen sahen, wußten wir sofort, was das zu bedeuten habe. Wir stürzten uns auf denselben und haben sie jubelnd befreit. Alle Türen öffneten sich ihr und alle Herzen. — Trotz der Raserei, die sich damals der polizeilichen Organe bemächtigt hatte, die Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um ihrer wieder habhaft zu werden, blieb sie doch durch Wochen in Petersburg verborgen, bis es ihr endlich möglich wurde, und zwar unter Mithilfe eines hohen Würdenträgers/nach Genf zu entkommen." 90

„Dort lebt sie seitdem?" fragte Helene. „Ärmlich und bescheiden", versicherte Lazar, der sie vor einigen Wochen besucht hatte. „Sie liebt es nicht, sich öffentlich zu zeigen, obwohl sie der Gegenstand einer abgöttischen Verehrung geworden ist." „Sie ist unsere Heilige", sagte Georg mit einem schönen Blick, „aber sie will nichts davon wissen, sie ist nicht für den Ruhm gemacht, er wird ihr lästig, und so weist sie alle Ehren beharrlich zurück. — Ganz erfüllt von den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit will sie nur ein Mensch unter Menschen sein." „Der Hauptzug ihres Charakters scheint der unendlicher Güte zu sein", sagte Sofia Alexandrowna. „Der Hauptzug ihres Charakters ist Originalität", sagte Pisanoff. „Ach was, das versteht sich von selbst", fiel jetzt der kleine Newolin, der bislang geschwiegen hatte, in tölpischem Ungestüm ein. „Originell sind wir alle, so lange wir uns nicht zu den Affen des Westens machen — ganz Rußland ist originell, seine Lage, seine Verhältnisse, seine Lebensbedingungen — alles, alles! Freilich, wer kümmert sich darum? Wer studiert das? Die Sassulitsch hat diesen Erfolg gehabt, weil sie nur aus sich heraus gehandelt hat, als eine echte Russin — das müssen wir auch tun. Aber da studiert alles Buckle und Stuart Mill — Herbert Spencer, Karl Marx und was weiß ich; das sind Euch gute Bekannte; die Entwicklung des Westens ist Euch allen geläufig, aber wer von Euch kennt Rußland und seine Eigenart? Da liegt der Fehler — das muß anders werden und zwar bald. — Daran liegt es ja eben, weshalb unsere Leute, die in die Dörfer gehen, so wenig Erfolg haben. Was wissen sie von den Bauern? Sie wissen nicht einmal, was sie mit ihnen reden und anfangen sollen." „Wir wissen eben, daß mit ihnen nichts anzufangen ist", entgegnete Ostrowski schlagfertig wie immer, „wir sind einer dummen, stumpfsinnigen und devoten Masse gegenüber gestanden, die das Bildnis Väterchens abküßt und vor ihm auf den Knieen rutscht, diese Menschen nehmen ihr Elend wie eine Schickung hin, aus der sie nur der Zar erretten kann, oder ein Wunder." 91

„Gut, und wenn es so ist", rief Newolin und schlug zornig mit dem Stock, den er wieder ergriffen hatte, auf den Boden, „wenn eine Volkserhebung nicht anders zu erreichen ist, dann muß das Wunder eben vollbracht werden, es muß inszeniert werden." Ein lauter Protest der Anwesenden, dem sich auch die Damen anschlössen, ließ ihn nicht weiter reden. „Nein, nein, so geht es nicht—niemals wird ein Volk durch ein Wunder befreit werden — niemals durch eine Lüge! —" „Aber wir müssen und müssen nun einmal aus dieser Lage herauskommen!" schrie der Kleine und stampfte mit Stock und Fuß auf den Boden. „Nur durch eine große Umwälzung wird dies möglich sein", sagte Lazar mit ruhiger Bestimmheit. „Beseitigt den einen und die Umwälzung ist da", rief Atschin, ohne eine Geste zu vollführen, aber in seinen grauen Augen loderte ein Feuer auf, bestimmt auch andere zu entzünden. Lazar wehrte ihn ab. „Dann haben wir eine Erregimg, keine Umwälzung, und auf den einen folgt ein zweiter. Nein, nein, die Umwälzung, die ich meine, wird nur durch eine allgemeine ökonomische Umgestaltung erfolgen. Sie macht sich ja auch bei uns schon bemerkbar, sie bringt das Arbeiterproletariat hervor, sie vermehrt es stetig. Auf diese kraftvolle, revolutionäre Klasse müssen wir uns stützen, wenn wir vorwärts kommen wollen, diese müssen wir aufzuklären und zu organisieren suchen und mit der westeuropäischen Arbeiterbewegung in Verbindung bringen." „Aha, alles im Sinne und nach dem Vorbild des Westens", höhnte Newolin, „aber dafür werdet Ihr die russischen Bauern niemals gewinnen — das sage ich Euch." „Dann werden wir sie einstweilen beiseite lassen", versetzte Georg Andrej ewitsch in seinem sanften melodischen Ton und doch sehr entschieden. „Lazar hat recht, wir müssen uns an die Arbeiter halten; bei ihnen finden wir Auffassung und Verständnis, und es wird wachsen mit dem zunehmenden Industrialismus Rußlands. Ich behaupte schon heute, wenn so viel Mittel und Energie zur Propaganda unter den Arbeitern verwendet worden wären, wie unter den Bauern, so wären wir weiter, und —" . . . 92

Tania hatte Atschin das Zeitungsblatt zugeschoben und fragte ihn, der die Agrarverhältnisse Rußlands sehr wohl kannte, ob diese Berichte über die verzweifelte Lage des Bauernstandes nicht vielleicht übertrieben seien. Atschin zuckte die Achseln und lächelte kalt: „Das Schlimmste will man sich doch nicht eingestehen." „Also die bäuerliche Gemeinde?" „Zerfällt." „Die Bauern — ?" „Verhungern." „Wie ist das möglich, bei dem fruchtbarsten Boden?" forschte Tania weiter. „Er wird nicht mehr gedüngt, dieser Boden — der Wucher hat dem Bauern das letzte Stück Vieh aus dem Stalle gepfändet — jetzt kann er sich selbst vor den Pflug spannen — die Mißernten nehmen zu — die Hungersnot ist da — die schrecklichsten Epidemien in ihrem Gefolge — das Land wird zur Wüste —" Er hielt inne, als schnürte es ihm die Brust zusammen. Dann wandte er sich um gegen Lazar und heiser, noch ohne Ton, aber in schneidiger Schärfe höhnte er: „Oh, wir wissen das alle, aber wir wollen noch warten, gelt? Das bäuerliche Rußland vertiert, verhungert, verseucht, unser gesundes kräftiges Volk wird in seiner Kindheit erdrosselt — aber wir leben im Ausland, wir treiben gelehrte Studien und vergnügen uns und sprechen von seiner Entwicklung!" Es schien, als wolle er lachen, aber es war nur ein Krampf, der seine Züge verzerrte — dann faßte er plötzlich Lazars Hand und sah ihn an mit seinen tiefen Augen — „Wenn du wirklich Gefühl hättest für die Leiden des Volkes, dann müßtest du denken wie ich—nur ein Gewaltstreich bringt Rettung!'' „Nein", antwortete Lazar in energischer Abwehr, „niemals!" Der rote Postmeister und Schloß Wyden Der rote Postmeister zeigte sich an dem Morgen nach der Versammlung noch ein gut Teil nervöser als gewöhnlich. Es ging ihm auch gar so viel im Kopf herum, es war um die Wände hinauf zu laufen. 8

Minna Kautsky

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Der Kongreß der deutschen sozialdemokratischen Partei sollte in den nächsten Tagen stattfinden. Da dieser Partei genommen war, was allen andern durch die Verfassung gewährleistet, da für sie das Versammlungsrecht aufgehoben und jede öffentliche Tätigkeit untersagt war, so mußten ihre Vertreter heimlich zusammenkommen und im Geheimen tagen. Man durfte 60—70 Delegierte erwarten, die aus allen Teilen Deutschlands entsendet, sich auf Schweizerboden zusammenfinden sollten. Der rote Postmeister hatte den Ort ausfindig zu machen, an dem sie ungestört ihre Sitzungen abhalten konnten. Aber er hatte es auch unternommen, für alle leiblichen Bedürfnisse der Kongreßmitglieder Sorge zu tragen. Bei der beständigen Überwachung, der die Mitglieder der Partei unterworfen waren, war das eine eben so schwierig wie das andere. Eine große Anzahl wohl bekannter und zumeist signalisierter Persönlichkeiten sollte tagelang, wie unter einer Tarnkappe leben und noch dazu mit Speise und Trank versehen werden. Welche Vorsicht mußte da nicht beobachtet, wie strenge das Geheimnis bewahrt bleiben, sollte nicht Verrat unterlaufen. Es war eine schwer zu bewältigende Aufgabe, aber die fruchtbare Phantasie des roten Postmeisters zeigte sich ihr gewachsen. War nicht das Schwerste schon geschehen—das Wichtigste vorbereitet? Jetzt noch eine helfende Hand — um — um — Er rannte in seinem Büro hin und her, überlegte, rechnete, kombinierte, dann sah er nach der Uhr. Er erwartete Telegramme — sie konnten schon da sein — er erwartete die Ankunft seines „Seelöwen", der ihm Bericht erstatten sollte, ob es wieder einmal gelungen war, den „Reichsanzeiger", so hatte er ironisch den „Sozialdemokrat" getauft, über die Grenze zu schmuggeln. „Es geht immer schwerer", murmelte er, „ich muß weitere Verbindungen einleiten — neue Ausfallstore schaffen." Er fingerte in der Luft herum, als schriebe er geheimnisvolle, nur ihm sichtbare Zeichen in dieselbe. 94

So, die Augen in die Höhe gerichtet, stieß er mit den Fiißen unversehens an eine Tonne Weinstein, die in der Ecke lagerte. „Verdammtes Zeug!" rief er, „muß mir immer aufs neue die Galle erregen!" Es war seine Idee gewesen, den „Sozialdemokrat" in solche Tonnen zu verpacken, diese mit Weinstein aufzufüllen und als Weinstein zu verschicken. Aber der „Sozialdemokrat" wog im Verhältnis zu schwer, und so mußte es unterbleiben. Aber fehlgeschlagene Experimente konnte sein Ehrgeiz, und das verschwendete Geld seine Sparsamkeit als Administrator nicht verwinden. Er versetzte der Tonne einen dröhnenden Fußtritt und sagte gallig: „Jetzt kannst du dir daraus kühlende Tränkchen bereiten, so viel du willst — Weinstein soll sehr gesund sein — daß man sich auch noch über seine eigenen Dummheiten so ärgern muß!" Es klopfte leise an die Tür. Sie öffnete sich gleich darauf und ein junger, stämmiger, tiefgebräunter Mann, mit breiter Brust und großem Kopfe, der durch einen braunen Vollbart noch mächtiger wurde, erschien auf der Schwelle. Der Postmeister war mit einem Sprunge an seiner Seite und blickte ihn angstvoll forschend an. Er atmete auf, als der Ankömmling aus dunklen Augen ihm treuherzig entgegen lachte. Gott seiDank, die Sendung war nicht abgefangen worden. „Ohne jeden Unfall?" fragte er, während er dem Mann die Hände schüttelte. „Trotz des starken Wogenganges kam ich über den Bodensee, aber ich mußte mit der Landung warten, bis der Mond untergegangen war, und diese war ziemlich schwierig." „Mein tapferer Seelöwe", rief der Postmeister entzückt, indem er zärtlich die muskulöse Gestalt des Mannes betrachtete, der seines Zeichens Schuster war, aber dieser friedlichen Beschäftigung entsagte, um ein gefahrvolleres Handwerk zu üben. „Seit fünf Wochen haben sie uns nichts mehr weggeschnappt." 8»

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,,Es ist einzig, dafür werde ich dich zum Admiral ernennen", und der Postmeister schlug den jungen Mann auf die Schulter, der in dem Augenblick so glücklich aussah, als wäre ihm soeben eine offizielle Auszeichnung zu Teil geworden. „Für die nächste Zeit werden wir aber doch die großen Ausfallstore vermeiden müssen und neue Listen ersinnen", sagte der Schuster. „Selbstverständlich, selbstverständlich — es krabbelt mir schon wieder so was im Kopfe herum — etwas ganz Niederträchtiges — du sollst in diesen Tagen mit Freuden meine Künste sehen", deklamierte der Postmeiter, rieb sich die Hände und lachte vergnügt in sich hinein. Da klopfte es wieder. „Schon wieder eine Störung, daß die Leute einen nicht in Ruhe lassen können!" rief der Postmeister so laut und unwirsch, daß der Draußenstehende sich über die Aufnahme, die er finden würde, kaum täuschen konnte. Aber die Tür ging auf und Helene trat herein. Der Postmeister starrte sie an, als begriffe er nicht, was sie wolle, dann schien er sich zu erinnern und nickte ihr zu. „Aha, schon gut. — Nehmen Sie Platz, wir sind gleich fertig." Der Stämmige erhielt im Flüsterton einige Befehle und entfernte sich. Jetzt erst streckte der Postmeister der jungen Frau die Hand entgegen und drückte sie kräftig. ,, Sie sind wirklich gekommen, schau, schau!'' „Sie haben mich dazu aufgefordert." „ J a , ja — ja — es war vielleicht ein Unsinn." „Wenn Sie das glauben, lieber Onkel, dann will ich wieder gehen." „Es ist eine heikle Geschichte", er seufzte und fuhr sich so energisch in die schwarzen Haare, als wenn er sie sich ausreißen wollte, dann vertrat er ihr doch den Weg, und sich gleichsam ermunternd: „Hol's der Kuckuck, ich hab' Sie einmal ins Auge gefaßt und wenn Sie wollen? —" „Wenn Sie mich zu etwas brauchen können —" Er musterte sie von oben bis unten und begann zu schmunzeln. 96

„Es wird gehen—Siesehen nicht grade verdächtigaus." „Das hoffe ich", sagte Helene ebenfalls lächelnd, „aber hat denn mein Äußeres etwas damit zu tun?" Der Postmeister ging um sie herum und examinierte sie weiter. „Natürlich — das schlichte schwarze Kleid wäre ganz gut — Sie sehen bescheiden und anständig darin aus — nur —" „Nur?" „Eines ist dabei unangenehm, und das können Sie nicht ändern —" „Was ist denn das?" „Daß Sie so hübsch sind." Helene lachte. „Lachen Sie nicht, dann werden Sie ja noch hübscher!" rief er in seinem humoristischen Ärger. „Liebster Onkel, drücken Sie darüber ein Auge zu, in allem anderen sollen Sie mit mir zufrieden sein, und nun sagen Sie, was Sie von mir erwarten." „Mein Gott, es ist etwas sehr einfaches, simples, was jede Frau auszuführen vermag." „Um so besser." „Es ist etwas, von dem niemand sprechen wird, keine Tat, es wird weder Ihren Ehrgeiz befriedigen, noch Ihrer Eitelkeit schmeicheln." „Die Sie beide als selbstverständlich bei mir voraussetzen", scherzte sie. Er sah sie etwas boshaft an. „Na, Ihr denkenden Frauen strebt doch alle höher, und kochen z. B., das ist eine Beschäftigung, die nichts Verlockendes für Euch hat." „Ei, kochen ist gut und nützlich, wir werden kochen, verlangt nur nicht, daß Küche und Herd das einzige sein soll, für das wir Verständnis besitzen sollen, das einzige, das uns was angeht. Jede Arbeit ist ehrenvoll, wenn sie gut gemacht wird, aber auch die Frau hat höhere Interessen, sie muß an allen geistigen Bestrebungen ihrer Zeit teilnehmen und Zeit und Gelegenheit haben, sich dafür zu bilden. Und das wollen wir doch, wir Sozialisten, das streben wir doch an — oder nicht?" Sie sah ihn schelmisch von der Seite an. 97

„Bravo, Frauchen! Gleich hat sie's weg—ja darauf fallen sie alle", lachte er. „Na, die Aufgabe, die ich für Sie ins Auge gefaßt habe, verlangt in der Tat eine treue Genossin — überdies Klugheit, Geistesgegenwart, Verschwiegenheit — ah, Verschwiegenheit vor allem." „Ich werde schweigen", sie hielt ihm die Hand hin. Der kleine Mann ergriff sie und führte Helene nach dem Sofa. Er setzte sich neben sie und nahm aus seiner Brusttasche einen Zettel, den er ihr vor die Augen hielt. Es war ein Verzeichnis von Lebensmitteln — Quantität und Qualität genau angegeben — weiteres von einigen Küchengeräten, namentlich Geschirr. Sie sollte das alles besorgen; dann fuhr er in diktatorischer Weise fort: „Wenn Sie das einkaufen, werden Sie ein Häubchen aufsetzen, ein Tuch umnehmen, oder so etwas, vielleicht auch eine Schürze vorbinden, damit Sie aussehen wie eine Wirtschafterin oder so etwas — diese Stirnlöckchen da machen Sie besser fort, Sie brauchen niemanden zu bezaubern." „Ich werde mir einen Scheitel machen — so vielleicht?" „Das ist gut, das macht Sie viel älter —. Wenn Sie eingekauft haben, fahren Sie mit dem ganzen Krempel nach dem Bahnhofe und lösen ein Billet nach —" der Name wollte ihm nicht über die Lippen — „nach Winterthur", sagte er dann mit einiger Anstrengung. „Nach Winterthur", wiederholte sie. Der rote Postmeister fuhr auf, als hätte man ihn gestochen. „Ich möchte Sie doch bitten, den Namen erst wieder auszusprechen, wenn Sie Ihr Billet lösen. — Sind Sie an Ort und Stelle, sehen Sie sich nach einem Wagen um. Unter der großen Anzahl von Fahrgelegenheiten, die am Bahnhofe die Passagiere erwarten, werden Sie ein kleines ländliches Wägelchen entdecken. Der Kutscher wird ein Büschel roter Nelken am Hute haben und Sie militärisch begrüßen. Sie werden ihn fragen: ,Wen erwarten Sie?' und wenn erdarauf antwortet: ,Die Schloßfrau', dann ist die Sache in Ordnung. Dann lassen Sie Ihre Siebensachen auf den Wagen schaffen, setzen sich selbst dazu und fort — ins Land hinein!" 98

Helene hatte aufmerksam zugehört. „Wohin?" fragte sie gespannt. „Direkt auf Ihr Schloß." „Ich habe also ein Schloß?" „Haben Sie vergessen, daß Sie die Schloßfrau sind? Überlassen Sie sich nur getrost Ihrem Führer und ,bald grüßt Sie die herrenlose Burg'. Es ist ein uraltes Raubritterschloß, mit dem ich Euer Gnaden hiermit feierlichst belehne. Abseits von der Heerstraße steht es, einsam auf einem Hügel, versteckt hinter Bäumen — seine Hallen sind öde und leer — unheimlich hallen die Tritte — und aus dem halbverfallenen Turm dringt zur Nachtzeit das Geschrei der Käuzchen und Fledermäuse. —" Der phantasiebegabte Schilderer hielt inne und fixierte sie scharf und ein wenig boshaft — „ich hoffe, Sie werden sich doch nicht fürchten?" Helene lächelte. „Sie stellen mich ziemlich hart auf die Probe. — Wenn ich nur wüßte, was ich in meinem uralten Schlosse vollbringen soll." „Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? Kochen sollen Sie, edle Herrin, nichts als kochen. —" Er rückte ihr näher, berührte leicht und wie beruhigend ihre Hand, während er ihr geheimnisvoll zublinzelte. „Die Sache ist einfach und kinderleicht. — Eine Schar kampflustiger Ritter werden sich auf Ihrem Schlosse zu einem Turnier zusammenfinden — und als tüchtige Schloßfrau müssen Sie für ihre Unterkunft Sorge tragen. Meine Ritter sind zwar genügsame Kerle, aber hungrig trotz alledem. Und wenn ihrer so sechzig bis siebzig zusammenkommen und mehrere Tage verbleiben, dann braucht es schon etwas, um ihren Magen zu füllen. — Auch für den Trunk muß vorgesorgt werden, damit wir nicht ausdörren, wenn die Kämpfe hitziger werden. Und für die Nacht brauchen wir eine Lagerstatt — ganz primitiv, wenn wir uns nur ausstrecken können — das genügt. Bekommen wir Stroh, dann werden wir es dankbar genießen." „Genießen?" „Sie verstehen mich schon." „Ja, ich verstehe Sie", sagte Helene lachend.

„Ihr Knappe wird Ihnen getreulich helfen. Er wird für den Rittersaal Tische und Bänke zimmern und für die Beleuchtung Sorge tragen, während Euer Gnaden in der Küche Ihre Huld über uns walten lassen. — Wollen Sie also?" „Ja, ich will", sagte Helene fest, „und ich freue mich, daß Sie mich dazu ausersehen haben, ich werde mir Ihr Vertrauen zu verdienen suchen." „Geben Sie mir die Hand, der Pakt ist geschlossen." „Sie haben nur eines vergessen, lieber Onkel." „Was wäre das?" „Sie haben mir den Namen meines Schlosses noch nicht genannt." Der rote Postmeister drehte seinen Schnurrbart zu einer noch kühneren Spitze aufwärts und lächelte höhnisch. „Oh, den entreißt mir niemand." „Ich muß ihn doch wissen." „Gar nicht nötig. Ihr Knappe und Kutscher, den ich gleichzeitig zum Kastellan ernannt habe, wird Sie dahin bringen." „Hoffentlich nicht mit verbundenen Augen?" Er hatte ein lustiges Lachen. „Bewahre, die müssen Sie im Gegenteil groß aufmachen, damit Sie sehen, daß Ihnen nicht vielleicht ein preußischer Reichsspitzel folge — und nun will ich Ihnen den Mammon ausfolgen." Er seufzte. Es kostete ihn stets große Überwindung, Geld aus der Parteikasse zu nehmen, aber er setzte sich tröstend hinzu: „Das kriejgen wir wieder — denn jeder Ritter muß zahlen. — Und nun sage ich, Gott befohlen, edle Frau, und halten Sie reinen Mund." „Aber, bester Onkel, das ist selbstverständlich, ich weiß ja gar nichts." Er kniff die Augen zusammen: „Das ist das Richtige." . . . Der große, weitläufige Perron des Bahnhofes in Winterthur, wo die verschiedensten Linien zusammentreffen, zeigte, wie immer während der Reisesaison, bei Ankunft und Abgang der Züge eine mannigfaltige, ineinanderflutende Bewegung. Viele Reisende verließen hier den Zug, um die Richtung zu wechseln, andere kamen herzu. 100

Unter denen, welche, um die rasch nacheinander eintreffenden Züge zu erwarten, den Perron auf- und abschritten, befanden sich auch Konrad und ein jüngerer Genosse, die sich indes absichtlich voneinander fernhielten. Konrad hatte seinen zugespitzten Knebelbart heute noch etwas kürzer geschnitten; er trug keine Krawatte; der Hemdkragen war weit zurückgeschlagen und der Rock bis an den Hals zugeknöpft, so daß auch kein Streifen Wäsche zum Vorschein kam . . . Der heranbrausende Zug machte diesem müßigen Zeitvertreib ein Ende und nahm die Aufmerksamkeit aller in Anspruch. Ein Hasten und Hinundherlaufen begann, ein Rufen nach den Kommissionärs, ein sich Rüsten zum Einsteigen, denn der Zug hatte nur einige Minuten Aufenthalt. Konrad hatte sich breit auf den Perron hingepflanzt, um sich jeden Aussteigenden genau anzusehen. Zwei Herren gingen an ihm vorüber und musterten ihn verstohlen. „Schwarzer Rock — keine Krawatte — keine Wäsche — das stimmt", flüsterten sie; der eine kam auf ihn zu: „Mein Herr, können Sie uns sagen, wo hier der Doktor Pförtner wohnt?" Konrad nickte. „Ja." Dann mit den Augen den jüngeren Genossen bezeichnend, der einige Schritte von ihm stand: „Wenden Sie sich an diesen, er wird Sie führen.' Konrad grüßte und ging zurück, um gleich darauf von Deinem zweiten angesprochen zu werden und hierauf von einem dritten. Das Frage- und Antwortspiel wiederholte sich noch oft an diesem Vormittage. Mit den von allen Richtungen anlangenden Zügen waren nach und nach sämtliche Delegierte eingetroffen. Sie wurden nach ihrem Namen befragt und hierauf ein Gasthaus in Winterthur ihnen bezeichnet, in dessen Saal sie sich, ohne Aufsehen zu erregen, zusammenfanden. Hier hatten sie sich zu legitimieren, und erst nachdem ihre Identität unzweifelhaft festgestellt war, erfuhren sie den Ort des Kongresses aus dem Munde des roten Postmeisters selbst. 101

Truppweise wurden sie nun von ihm auf verschiedenen Wegen nach Schloß Wyden dirigiert. Die einen fuhren mit der Bahn nach Andelfingen, die anderen nach Ossingen, die meisten zogen als fahrende Gesellen gleich von Winterthur aus zu Fuß dem alten Raubschloß entgegen, in dessen Mauern sich am Abend des 20. August sämtliche Teilnehmer des Kongresses vereinigt hatten. Die Winzer, die in einer Reihe von Häuschen in der Umgebung des Schlosses sich angesiedelt, waren von der Arbeit nach Hause gekommen und hatten sich bald darauf zur Ruhe begeben. Keiner sah nach dem alten Schlosse hinüber, das wie immer in Stille und Dunkel begraben lag. Aber plötzlich wurde es darin lebendig; die Fenster erschienen erleuchtet und die leeren Wände hallten wider von lauten kräftigen Stimmen. Die Männer, die aus allen Gauen Deutschlands, aus Osterreich und der Schweiz sich hier zusammengefunden hatten, schüttelten sich die Hände mit jenem festen, innigen Druck, mit dem sich Brüder und Kämpfer begrüßen. Sie alle sind sich der Bedeutung des Augenblicks wohl bewußt, und es ist wie ein Überspringen von Kraft und Feuer von einem zum anderen, das seine einigende und belebende Wirkung übt. Sie alle waren Angefeindete und Verfolgte. Die meisten waren ihrer bürgerlichen Existenz beraubt, getrennt von Weib und Kind, und doch hatte keiner gezögert, das Mandat anzunehmen, das seine Genossen ihm vertrauensvoll übertragen hatten. Es war ein tiefernster, feierlicher Moment, als einer der Führer der Partei, ein Mann noch jung an Jahren, ein Denker mit klarem, weitschauendem Blick, sich erhob, um die Genossen, die sich unter den schwierigsten Umständen hier versammelt hatten, in warmen, freudig bewegten Worten zu begrüßen. Ein edles Hochgefühl leuchtete aus seinen Augen, jener Mut, jenes Feuer, die nur der Kampf für unpersönliche und hohe Ziele entzündet. Mit Befriedigung und Rührung konnte er darauf hinweisen, daß die Partei trotz der Drangsalierung der 102

letzten Jahre an Haupt und Gliedern gesund geblieben war. Ungebrochen, voll innerer Lebenskraft, von den Verhältnissen selbst vorwärts getrieben, verlangte sie gebieterisch nach Weiterentwicklung. Und so konnten dann alle, die hier versammelt waren, im Namen jener großen Gemeinschaft sprechen, die zu einer Macht sich gestaltet, bestimmt, die Welt in neue Formen zu wandeln. Und diese Proletarier, diese Schwachen und Unterdrückten, die man als eine inferiore Masse geknebelt hält, als Herdentiere behandelt, sie sind in Wahrheit die aufstrebende Klasse, die den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben, sie sind die Träger neuer Ideale geworden. Die erste Sitzung dauerte bis spät in die Nacht hinein. Eine junge Magd, die von einem verliebten Abenteuer nach Hause ging, bemerkte, daß die Fenster des alten Schlosses erleuchtet waren. Entsetzt ob dieser nie geschauten Erscheinung floh sie in ihre Stube und barg sich unter der Decke. Am nächsten Morgen erzählte sie, auf die Gefahr hin, sich selbst zu verraten, was sie gesehen habe. Man lachte sie aus und wollte ihr beweisen, daß sie dumm sei und daß es nur der Mond gewesen sein könne, der sich in den Fenstern gespiegelt habe. Als sich aber in den darauffolgenden Nächten das Schauspiel mit den beleuchteten Fenstern wiederholte, kamen die unglaublichsten Gerüchte in Schwang. Der Schloßbauer wurde vernommen. Er erzählte, daß die Mitglieder eines Krankenvereins hier ihre Sitzungen hielten, aber das glaubte ihm niemand. Wie kam es, daß bei Tage keiner dieser guten Leute zu sehen war? Nein, nein, so einfach war die Geschichte nicht, in keinem Falle ging es mit rechten Dingen zu. Am Sonntagabend legten sich die Häusler nicht zu Bette. Sie rotteten sich zusammen, setzten sich an den Rand der Schlucht und starrten über diese hinweg nach dem erleuchteten Schlosse hinüber. Einige Verwegene wagten es sogar, sich demselben zu nähern, aber alsbald erging aus einem der offenstehenden Fenster die barsche Weisung an sie, sich eiligst zurückzuziehen. 103

„Das muß in Adelfingen angezeigt werden", lautete nach kurzer Beratung der allgemeine Beschluß der Häusler. In diesem Augenblick erschollen aus den Fenstern brausende Rufe — ein dröhnendes Lachen folgte — grausig wild tönte es durch die stille Nacht, wie von tausend Teufeln ausgestoßen. „Der Gemeinde-Ammann muß her, der muß glei in die Holl' da 'nein luege", riefen die Männer. Aber in der nächsten Minute waren die Lichter erloschen, das Lachen verstummte, und das alte Schloß versank wieder in Schweigen und Dunkel. Die Männer sahen einander an. „Heut' wollen wir doch lieber ins Bett gehen", entschieden sie dann schnell ernüchtert, „morgen ist auch ein Tag." Am nächsten Morgen aber hatten sie's richtig und prompt der Behörde in Andelfingen angezeigt. — Der Kongreß war bei seiner Schlußsitzung angelangt. Die Verhandlungen waren mit großer Gründlichkeit und mit einer Ausdauer geführt worden, die sonst bei Kongressen nicht üblich zu sein pflegt. Von acht Uhr morgens bis nach Mitternacht, mit nur je zweistündiger Pause, saßen die Männer beratend beisammen. Die Debatten gestalteten sich oft erregt, über die einzuschlagende Taktik waren die Ansichten geteilt, aber man einigte sich rasch und alle wichtigen Beschlüsse waren doch schließlich einstimmig oder mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität gefaßt worden. Die wichtige Aufgabe war zu einem gedeihlichen Abschluß gekommen und alle befanden sich in freudig gehobener Stimmung. Und da waren die Jüngsten — ein lustiges Kleeblatt — das nach der erschöpfenden Arbeit noch genugsam Laune und Humor in Bereitschaft hielt. Sie hatten ein Witzblatt geschaffen und illustriert, das die strengsten, ernstesten Persönlichkeiten in den drastischsten Situationen vor und während der Nachtruhe — vor und während der Morgentoilette am Brunnen wiedergab. Und all' die edlen Ritter waren da abkonterfeit, die unter einer neuen Fahne in diese alte Burg ge104

zogen waren — und all' die guten und schlechten Witze, die freiwilligen und unfreiwilligen Bonmots, die in der Hitze des Kampfes gefallen, sie waren von diesen jungen Historikern, die noch nicht auf ein „obligates Staatsbewußtsein" gedrillt waren, getreulich aufgezeichnet worden. Die Kongreßler waren bei dem letzten Punkt ihrer Tagesordnung angelangt, als die Meldung einlief, daß der Statthalter von Andelfingen mit seinem Stabe — das heißt von seinem Schreiber begleitet — Einlaß begehre. Der Beamte wurde auf die zuvorkommendste Weise empfangen und gebeten, sich niederzulassen. Aber so sehr dieser biedere Schweizer auch seine Ohren spitzte, er konnte keine staatsgefährlichen Entdeckungen machen, es müßte denn die vom roten Postmeister konstatierte Tatsache ihn unheimlich berührt haben, daß der „Sozialdemokrat" trotz des erfreulichsten Aufschwunges noch immer ein Defizit habe, da die Expedition eine so „verflucht kostspielige" sei. Da aber diese Stelle mit Heiterkeit aufgenommen wurde, hatte auch das streng aussehende Gesicht des Statthalters sich zu einem Lächeln geglättet. Wieder sank die Sonne und sendete ihre letzten Strahlen in die Fenster des alten Schlosses, als die Männer, die hier getagt, sich zum Abschied die Hände reichten. Das große Tor mit dem steinernen Wappen ward aufgetan und sie schritten heraus, hocherhobenen Hauptes und gehobenen Sinnes. Die stattliche Schar der Kämpfer, die soeben ihre Kampfesweise geregelt, wird sich nun wieder in alle Winde zerstreuen, aber sie bleiben geeinigt in dem großen Gedanken: das Proletariat müsse sich selbst befreien. Vertrauen und Zuversicht sind gewachsen, jeder von ihnen fühlt sich neu gestählt und gekräftigt und bereit, alles, was er besitzt, das ist jede Kraft seines Geistes, Gesundheit und Leben, für die Verwirklichung dieses Gedankens dahinzugehen. Arm in Arm, in dichten Reihen gingen sie über den Anger und laut und begeistert, wie ein Triumphgesang, ertönte aus ihren Kehlen das Lied der Freiheit, die Marseillaise. 105

IM VATERHAUSE

Minna Kautsky versuchte in diesem Roman, am Beispiel zweier Familien das menschliche und politische Verhalten unterschiedlicher sozialer Schichten des österreichischen Kleinbürgertums zu demonstrieren, am Verhalten der Familie des Schlossermeisters Schönbrunner und der Familie des Malers Witte. Schönbrunner ist Anhänger der antisemitischen Partei Luegers; er nimmt für sich das Recht in Anspruch, unumschränkt in seiner Familie und in seiner Werkstatt herrschen zu können. Sein Sohn Emil ordnet sich ihm unter, aber seine Tochter Leopoldine löst sich von der Familie, geht zum Theater und heiratet schließlich einen alten, aber reichen Lüstling. Sein Lehrjunge Fritz Hofer, von ihm bis zum Äußersten ausgenutzt, findet den Weg zur organisierten Arbeiterbewegung. Die Familie des Dessinzeichners Witte lebte einst in gesicherten Verhältnissen, verlor dann aber ihre Existenzgrundlage, weil Witte nicht wendig genug war, sich stets den herrschenden künstlerischen Modeströmungen anzupassen. Die Wittes halten iedoch zunächst krampfhaft den Schein der Wohlhabenheit aufrecht und beschleunigen damit ihren Ruin. Ein Zufäll führt Witte mit Leuten vom Theater und aus der Großbourgeoisie zusammen. Er erhofft von ihnen eine Verbesserung seiner Lage. Tatsächlich geht es diesen aber nur um die Möglichkeit, sich den schönen Töchtern Wittes zu nähern. Beide werden dadurch in zwielichtige Verhältnisse verwickelt, können sich aber aus ihnen befreien und finden Anschluß an die österreichische Arbeiterbewegung. Die eine heiratet Fritz Hofer, die andere — Luise — kommt durch Zufall in eine Wahlversammlung der Wiener Sozialdemokraten und wird dadurch veranlaßt, selbst am proletarischen 106

Klassenkampf teilzunehmen. Ihr Vater kann sich dazu nicht entschließen; er geht mit seiner Frau nach London, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen.

Der Wahltag Wahltag! Die neugeschaffene fünfte Kurie sollt als allgemeine Wählerklasse zum erstenmal an die Urne kommen. Die Ausdehnung des Wahlrechtes auf die breiten Massen des Volkes war ein bedeutsames Ereignis, das alle berührte; aber es waren die Parteien der Schwarzen und der Roten, die, als die zwei im Volke bestehenden gegensätzlichen Richtungen, vornehmlich auf den Plan traten. Von den anderen Parteien sprach man in diesen Tagen nicht viel. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte den Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit Ausdauer und Heroismus geführt. Nur ein Stück ihrer Forderungen war ihr bewilligt worden; aber schon das war ein Sieg und sie zweifelte nicht, daß sie auch im Wahlkampf Sieger sein und ihre Kandidaten ins Parlament bringen würde. Die gemeinsame Arbeit, die unsäglichen Opfer, die dem großen Ziele gebracht wurden, hatten sie fest zusammengeschweißt und gestählt. Wer konnte an Tatkraft es ihr gleichtun, sich mit ihr messen? Sie, die ziel- und klassenbewußte, gut organisierte Arbeiterpartei, mußte in der fünften Kurie die Oberhand haben, die konnte ihr niemand mehr streitig machen. Und wenn die Kleinbürger sich ihr in den Weg stellten, um gedankenlos der Reaktion zu dienen, um so schlimmer für sie. Sie sollten nur der Sozialdemokratie an den tausendarmigen Leib rücken: ihre Umarmung zermalmt. Der Glaube an den Sieg war allgemein unter den Kämpfern für die fünfte Kurie, eine Kraft und Begeisterung loderte in ihnen auf, eine heilige Zuversicht, die das Gefühl ihres Rechtes entzündet hatte. Es war ein ehrlicher Kampf und er sollte mit ehrlichen Mitteln geführt werden. 107

Wer mit Selbstaufopferung einer großen Sache dient, der will sie nicht beschmutzen durch Niedrigkeit und Betrug. Aber heute, wo der Tag der Entscheidung gekommen war, mußten auch der Hitze und der Leidenschaftlichkeit Zügel angelegt werden, damit sie den sicheren Sieg nicht etwa gefährdeten. Ernst und ruhig mußte die Haltung der Arbeiter sein, sie durften sich nicht provozieren lassen. Die Männer gelobten sich's zu — die hitzigsten unter ihnen, von dem Gefühl der Verantwortlichkeit erfüllt. Die Weiblein aber kümmerten sich nicht viel darum, sie mußten ihrer jungen Kampfesfreudigkeit Ausdruck geben — sie lechzten danach, den verhaßten Gegnern gegenüber, die sich feige versteckten, ihre Gesinnung zu dokumentieren, sie schwelgten in kühnen Herausforderungen aller Art. Alle roten Bänder und Schleifen wurden von ihnen hervorgesucht, rotes Papier war am Abend schon ausverkauft—war in den Proletarierbezirken bei keinem Händler mehr aufzutreiben. Die jungen Frauen und Mädel hatten einen Teil der Nacht geopfert, um daraus rote Blumen in Massen zu fabrizieren, mit denen sie jetzt am Morgen die Fenster schmückten. Rote Tücher, kleine rote Papierfähnchen vervollständigten die Dekoration. Da und dort prangte an einem Parterrefenster der Name des zu Wählenden mit großen weißen Lettern auf rotem Papier und umgekehrt. Besonders Optimistische suchten auch schon die Leuchter für eine Beleuchtung zusammen. Abends wollten sie illuminieren. Eine frohe Geschäftigkeit, eine begeisterte Stimmung leiteten den Morgen ein, der grau und neblig sich anließ. Die Mädels hantierten an den geöffneten Fenstern, sie spürten nicht die frostige Kühle des Morgens, ihre sonst blassen Fingerchen waren an den Spitzen gerötet, sie zeigten die Farbe der Blumen, ihre Wangen hatten noch ein stärkeres Rot und die Augen glänzten vor Eifer. Die Männer rüsteten zum Aufbruch. Nur wenige Finnen hatten den Wahltag freigegeben. Die Arbeiter konnten ihre Wahlpflicht nur ehe sie zur Arbeit gingen oder während der Mittagspause erfüllen, sie mußten sich danach einrichten. 108

Heute küßten die Weiber ihre Männer, ehe sie sie entließen mit besonderer Wärme; auch die, bei denen das Küssen längst nicht mehr Brauch war, fühlten einen Ansporn zur Zärtlichkeit. Manche Mütter hoben segnend die Hand, es war wie ein Abschied vor einer Schlacht und eine Schlacht sollte es werden, mit guten Ausgang für sie, das war selbstverständlich. Und das gab ein Winken und Rufen und strammes Marschieren den Wahllokalen entgegen. Fritz hatte die ganze Nacht gearbeitet. Jetzt untersuchte er sein Rad und ölte es frisch, das sollte heute gute Arbeit leisten. Er stellte sich dem Wahlkomitee zum Depeschendienst zur Verfügung . . . Seit dem frühen Morgen hatte sie nichts zu sich genommen. Sie blickte um sich, ob sie nicht einen Laden erspähe, der Eßwaren feil hielt. An einem Eckhause baumelte ein Wirtshausschild. Es war ein ebenerdiges, etwas verlottert aussehendes Lokal, dessen erleuchtete Fenster noch in das Nebengäßchen gingen. Sie waren verhängt, aber eine zwischen ihnen angebrachte Inschrift kündete vorzügliche Speisen und Getränke. Luise überlegte nur einen Augenblick, dann öffnete sie die kleine Tür und trat ein. Sie befand sich in einem großen schmucklosen Saal, der nur spärlich erleuchtet war, da vorläufignurzwei Flammen des von der Decke herabhängenden Kronleuchters brannten. An den Tischen, die ungedeckt waren, saßen Männer und Frauen, die letzteren in geringerer Anzahl und unterhielten sich in gedämpftem Tone miteinander. Alle diese Menschen hatten in der Einfachheit ihrer Kleidung und in ihren Gesichtern etwas Gemeinsames. Sie sahen erregt und so feierlich erwartungsvoll aus, als stünden sie vor einem Ereignis, das sie alle gemeinsam und in gleicher Weise beschäftigte. Als Luise eintrat, wendeten sich viele Augen ihr zu. Verschüchtert trat sie einen Schritt zurück. Hier feierte man wohl eine Hochzeit oder ein gemeinsames Fest? Sie wollte sich wieder entfernen, aber schon war ein junger Mann, der eine rote Binde um den Arm trug, auf sie zugetreten und sagte mit einer gewissen Zutraulichkeit: 9

Minna Kautsky

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„Bleiben Sie nur da, es wird nicht mehr lange dauern. Die Radier treffen einer nach dem anderen hier ein. Wir bekommen die Wahlresultate aus allen Bezirken. Jetzt findens noch Platz, später wird's voller werden. Natürlich," er nickte lächelnd und vertraulich ihr zu, „heut wird sich keiner von uns niederlegen, ehe er nicht weiß, wie's aus'gangen ist." Luise fing an, zu begreifen. Sie war unter Arbeitern, die sich hier zusammengefunden, um die Resultate der heutigen Wahlen so rasch als möglich in Erfahrung zu bringen. Man hielt sie für eine Genossin. Der Mann mit der roten Binde wies einladend auf einen Tisch, an dem auch einige Frauen saßen. Jeder der Gäste hatte ein Glas Bier vor sich. Luise sah darauf hin und ihr Verlangen, den brennenden Durst zu stillen, ward übermächtig. Sie trat grüßend näher. Ein junges Paar, Mann und Frau, von intelligentem Aussehen, zwischen denen ein zweijähriges Kindchen unter lautem Geplapper hin- und hersprang, machten ihr Platz. „Setzen S' Ihnen gleich da zu mir," sagte die Frau. Sie sah ermunternd in das blasse, erschöpfte Gesicht des Mädchens, in der sicheren Empfindung, die g'hört zu uns. Luise gehorchte, mit stummen Gruß ihr dankend. „Und du wirst jetzt auch einmal Ruh' geben und hübsch artig sein, wenn die schöne Fräul'n neben dir sitzt," sagte die Mutter zu dem Kinde, indem sie es auf den Schoß nahm. Die Kleine neigte das Köpferl und schielte mit neugierigen Augen von unten auf nach der Neuangekommenen, wegen der sie ruhig sein sollte. Ein Kellner, ein Dutzend Gläser frisch aufschäumenden Bieres in beiden Händen tragend, schwenkte einher und stellte, ohne zu fragen, eines davon vor Luise hin. „Bitte um Brot," lispelte diese. Der Kellner winkte mit den Augen einen Jungen herbei, der ihr sofort das Gewünschte brachte. „Sie können auch Würstel haben." Sie nickte zustimmend. „Mit oder ohne Kren? Oder vielleicht nur an' Einspänner?" witzelte er nach Kellnerart. 110

Luise legte zwanzig Kreuzer auf den Tisch. „Wenn das dafür reicht, — ich — ich habe nicht mehr," stammelte sie. „Ein paar Würstel ohne Kren," schrie er dem Jungen zu. Er hatte die Gläser niedergestellt: „Werden wir gleich zahlen —" Er addierte: „Sechs — zehn — rechnen wir zwei Brot — macht zweihundert — geht grad aus." Er machte eine spaßhafte Grimasse, während er die zwanzig Kreuzer in seiner Kellnertasche verschwinden ließ. Ehe er die Gläser wieder aufnahm, forschte sein Blick in der Runde, aber jeder war noch versorgt. Die Mäßigkeit drehte ihm den Magen um. „Diese verfluchten Sozi waren imstande, bei einem Glas Bier die halbe Nacht abzusitzen, gar wenn die Weiber dabei waren. Wenn's nicht die Masse machte, die kriegten gewiß kein Lokal mehr." In dem Augenblick stürmte eine größrere Anzahl Arbeiter in den Saal, einer gab dem anderen die Tür. Der Kellner eilte ihnen mit den Gläsern entgegen. Sie waren sofort vergriffen. Es waren jene Genossen, denen man den Wahltag nicht freigegeben. Sie kamen direkt von der Arbeit, heiß und müde, im Arbeitskittel, weil sie in leidenschaftlicher Kampfesgier es nicht erwarten konnten, zu hören, ob Sieg, ob Niederlage. „Wie steht's — wie — was — noch nicht entschieden?" Die Bewegung pflanzte sich fort, den Saal entlang. Viele erhoben sich, um den Angekommenen die Hände zu schütteln. Fragen, Zurufe, Gelächter ertönte. Auch der junge Mann an Luisens Tisch war aufgestanden und gesellte sich zu den sich bildenden und wieder lösenden Gruppen. Die Frauen waren näher zusammengerückt. Eine kleine blasse Person von etwa dreißig Jahren mit feinen sanften Zügen, die man „Lehrerin" titulierte, sprach eifrig über den Tisch hinüber von dem Terrorismus, den die Gemeinde den Volksschullehrern gegenüber geübt habe. 9*

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Luise aß, ohne aufzusehen, hastig, wie Hungrige essen. Die Umstehenden vermieden es diskret, sie in dem Geschäft zu stören. Nur das kleine Mädel kontrollierte aufmerksam jeden Bissen und so oft das Fräulein von den Würstchen abbiß, öffnete auch sie das Mäulchen wie eine junges Vögelein, das Atzung verlangt. Luise konnte nicht anders; sie fütterte sie mit, trotz der Abwehr der Mutter. Aber sobald das letzte Endchen Wurst verschlungen war, fing Peperl zu weinen an; sie wollte noch mehr. Zärtliches Zureden machte sie vollends ungebärdig. „Die ist schläfrig, meine liebe Johanna," bemerkte eine junge Arbeiterin, die der Mutter gegenüber saß und unter der allgemeinen Schlichtheit durch ihren Putz unangenehm auffiel. Sie war hübsch, trotz der vulgären, aufgestülpten Nase, und nach der neuesten Mode frisiert. In den Ohren glitzerten falsche Steine und eine doppelreihige Perlenkette zierte den schlanken Hals, der dadurch die Blicke auf sich zog. Johanna, der man anmerkte, daß sie guter Hoffnung war, nickte zustimmend ihr zu. Sie hatte ihr Kind auf den Schoß genommen und suchte es einzuwiegen. „Es ist ein Kreuz," seufzte sie; „aber wenn wir in die Versammlungen gehen, da muß ich die Kleine mitnehmen, was soll ich denn mit ihr machen?" „Haben Sie denn keine Nachbarin, der Sie sie anvertrauen könnten?" fragte die Lehrerin. „Ihr seid ja untereinander so hilfsbereit." „Das schon," bestätigte Johanna; „aber Sie wissen, Fräul'n Schwarz, alles hat seine Grenzen. Ich hab' sie den Tag über bei der Briefträgerin. Sie hat selbst drei Kinder; aber ihr ältestes Mädel ist schon fünf Jahre alt, das gibt so schön acht auf die anderen, da kann ich ganz ruhig sein. Aber abends, wenn ich aus der Fabrik nach Hause komm —" „Dann fängt erst Ihre Arbeit als Hausfrau undMutteran," fiel die Lehrerin ein, einen mitleidigen Blick auf die blasse Frau werfend. Johanna zuckte die Achseln. „Natürlich, und dann will ich mein Kind auch selbst haben; den ganzen Tag freu' ich mich darauf — und die Peperl freut sich auch — und auf den Vater erst — und sie ist g'wöhnlich sehr brav —

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grad heut — na ja, steck' nur dein Daumerl in'n Mund — so — das ist auch gut — und jetzt schlaf' hübsch." Johanna neigte sich zärtlich über die Kleine, die sich beruhigt hatte, und küßte sie. „Na, und wie wird's denn werden, wenn Sie ein zweites haben, werden S' dann auch in dieVersammlungen gehen ?'' forschte die Hübsche etwas höhnisch. „Dann hört's natürlich von selbst auf, aber heut — wo so viel auf dem Spiel steht, wo sich's entscheidet—" „Gott sei Dank — werd' froh sein, wenn die G'schicht einmal aus ist —!" rief die Junge, ihrem Temperament nachgebend, in hitziger Weise. „Das war mir schon z'dumm. Diese ewigen Wahlbesprechungen, diese Versammlungen und dabei die Schreibarbeit bis spät in die Nacht — der Meinige hat keine Zeit mehr zum Essen g'habt, keine Zeit mehr zum Schlafen — wenn einer so schwer arbeit' und dann noch das dazu — wozu hat man denn einen Mann —" Die vom Nachbartisch, die der lauter werdenden Sprecherin zugehört, lachten belustigt auf, und ein kleiner schwächlicher Jüngling mit einem markanten Gesicht rief: „Na ja, die Kathi will halt nit teilen, die braucht ihren Mann für sich ganz allein, die laßt ihn nit aus." Kathi schnitt ihm eine Fratze: „Gengens', Ihnen lasset i aus — wenn Sie der Meinige wären — jede Nacht müßten S' anderswo aschitieren." „Da hast es," lachten die Männer. „Der Schnabel," flüsterte eine ältere Frau ihrer Nachbarin zu. Und zur Kathi gewendet, sagte sie: „Von der Agitation hab' ich den Meinigen nie abg'redet, nit in der ersten Zeit, nit jezt, wo wir fünf Kinder haben, das hätt' ich nie übers Herz 'bracht, und heut hätt' ich auch nicht daheim bleiben mögen, grad wie die Frau da." „Jeder hat sein' eigene Manier," engegnete die Kathi immer gereizter. „I denk', wenn man amal Kinder hat, dann hört das auf — und ob wir um a Stund' früher oder a Stund' später die G'schicht erfahren — drauf kommt's nit ri

an. „Eigentlich ja," sekundierte ihr eine zweite. „Oho!" protestierten die übrigen Frauen, die der Auseinandersetzung gefolgt waren. "3

Johanna, die über ihr Kind gebeugt geblieben, blickte jetzt auf, die dunklen Augen funkelten in dem blassen Gesicht. „Sie wissen nicht, was Sie reden," begann sie schwerfällig, als ordnete sie ihre Gedanken nur mühsam zu Sätzen, aber ihre Erregimg riß sie mit fort, „'s geht nur die Männer an — so — das is ja grad, als ob wir nicht alle unter der Ausbeutung leiden müßten — Männer — Weiber — Kinder — die Ungebornen sogar—und wenn die Männer im Kampf vorausstehen — und zuerst getroffen werden — und welchen Gefahren sind sie nicht ausg'setzt! — heut haben s' Arbeit, morgen habens' keine — dann kommen die Streiks — drauf folgen die Entlassungen — oder wie, wenn s' durch die Maschin' gleich ganz zu Krüppeln werden — wer hat dann die Kinder am Hals? — Wir Weiber — wir, wir haben für sie zu sorgen — wir haben nicht nur uns zu ernähren, sondern auch die Kinder — und die Männer dazu! Und drum geht das uns grad so an wie sie — und jedes Recht, jede kleine Verbesserung haben wir mit erkämpft, mit erkauft unter tausend Entbehrungen — und wir halten es fest — wir wollen noch mehr — und wenn sich's um Sieg oder Niederlage handelt wie heut, dann wird auch uns jede Minute zu einer Ewigkeit. Da kann man nicht ruhig zu Haus sitzen und warten — da ist's einem nicht gleichgültig, ob man's um eine Stund' früher oder später erfährt—mir wenigstens nicht — mir nicht!" Sie hatte, während sie sprach, vor sich hin blickend, die Brotkrumen am Tische mit einer Hand eifrig zusammengestrichen, jetzt fegte sie sie mit einem Ruck herunter — ihre Hand zitterte. Die Lehrerin tätschelte sie beruhigend auf die Schulter. „Die Kathi hat's nicht bös' gemeint; sie ist jung, denkt nur an sich, das Solidaritätsgefühl muß ihr erst eingepaukt werden." „Was hab' ich denn überhaupt g'sagt?" entgegnete Kathi, von dieser leidenschaftlichen Zurechtweisung betroffen. „Nix anderes, als daß ich froh sein werd', wenn die G'schicht' einmal a End' hat." „Sie hat kein End', sie kann kein End' haben, denn sie fangt erst an!" erwiderte Johanna barsch und entschieden. 114

„Das ist eine Wehrhafte," wendete sich Fräulein Schwarz lächelnd an Luise, die, nachdem sie sich gesättigt, mit Staunen und wachsendem Interesse den Vorgängen gefolgt war. „Wenn in der Partei nur mehr solche wären, die die Notwendigkeit eines festen Zusammenschlusses so gut begreifen würden wie sie," und leiser, wie in heimlicher Bewunderung, flüsterte sie Luise zu: „Sie ist so tüchtig, die hat unter ihren Arbeitskolleginnen bereits eine Art Organisation zusammengebracht." „Was haben Sie für eine Arbeit?" fragte Luise, sich direkt an Johanna wendend. Diese erzählte ihr, daß sie als Falzerin in einer Buchbinderei beschäftigt sei, schon seit Jahren. Sie arbeite in Stücklohn und könne mit der Maschine täglich 4000 Bogen falzen, ja auf 5000 habe sie es schon gebracht. „Auf einen Gulden vierzig Kreuzer bin ich im Tag gekommen," fügte sie nicht ohne Stolz hinzu. „Es sind wenige, die so viel verdienen, das spürt man im Haushalt." „Sie spüren's auch an der Gesundheit," tadelte die Lehrerin, und zu Luise gewendet, sagte sie: „In dem Betrieb haben's nur junge Mädeln, weil dabei keine alt wird. Ich sag' Ihnen, Johanna, es ist die höchste Zeit, daß Sie ausspannen." „Will ich auch, in den letzten Wochen hab' ich nur mehr 2000 gefalzt und wenn jetzt das Kind kommt, dann — mein Mann will, ich soll überhaupt zu Hause bei den Kindern bleiben — ich möcht's ja auch — und jetzt sind wir aus den Schulden heraus, jetzt können wir's probieren. Solange nicht Krankheit oder sonst ein Unglück uns trifft, wird's vielleicht gehen. — Was haben denn Sie für eine Arbeit?" fragte sie Luise in freundlicher Neugier. Diese errötete stark. „Ich!?" „Das Fräulein ist wahrscheinlich Kontoristin oder Lehrerin," beeilte sich die gute Schwarz zu sagen. Luise verneinte, und voll bitterer Verve, die sich selbst anklagt, sagte sie: „Ich habe keine Arbeit — ich habe mein Lebtag nichts gearbeitet — auch nichts gelernt, womit ich mir etwas verdienen könnte — Und nun muß es doch sein, und ich suche Arbeit und ich würde alles nehmen, das "5

ehrlich ist — ich würde mich mit dem Geringsten begnügen, wenn es —" sie stockte, „nur Brot!" fügte sie leiser hinzu, während sife mit einem unsäglich flehenden Ausdruck die Arbeiterin ansah, als wäre sie die einzige, die ihr helfen könnte. Johanna verstand die Luise und sagte weiter: „Wenn Sie in die Fabrik gehen wollen, ich könnte Sie schon rekommandieren. Ledige junge Mädeln nehmen sie gern und jetzt vor Ostern ist mehr zu tun. Aber die ersten vierzehn Tage werden Sie nicht bezahlt, Sie müßten erst eine Unterweisung bekommen." „Nicht bezahlt? Dann weiß ich mir nicht zu helfen!" Es klang schier verzweifelt. Johanna sah sie mitleidig an. „Wenn ich Sie anleite, dann werden Sie's vielleicht früher erlernen. Sie sind ja gescheit, aber es werden Monate vergehen, ehe Sie's höher als auf Zweitausend bringen — das braucht Übung." Luise senkte den Kopf noch tiefer unter einem Seufzer. Da fühlte sie eine kleine weiche Hand, die die ihrige drückte, und eine sanfte Stimme flüsterte ihr ins Ohr: „Nehmen Sie's nur an, an der Johanna werden Sie eine gute Lehrmeisterin haben und mehr noch, wir werden Ihnen schön über die erste Zeit hinweghelfen." Und als Luise die Sprecherin überrascht ansah, nickte sie mit ihrem traurigen Lächeln ihr zu: „Ich kann mir schon denken, wie Ihnen zu Mute ist — mir ist's ähnlich ergangen, wir sind ja alle so wenig ausgerüstet für's Leben, und ich weiß, welche Gefahr für ein junges Mädchen eine solche Notlage in sich schließt. Nehmen Sie's nur — das ist ehrliche Arbeit, reinliche Arbeit." „Dank!" Luise drückte die Hände ihrer neuen Freundin, ihre Augen standen voll Tränen, und zu Johanna gewendet sagte sie: „Wollen Sie mich also als Lehrmädchen annehmen?" Johanna nickte ihr zu. „Wir haben keine Lehrmädchen, ,nur Anfängerinnen, die werden unterwiesen. Sobald eine tausend Stück falzen kann, wird sie bezahlt. Aber geben's nur acht, daß Sie nix ruinieren," sie drohte ihr mit dem Finger, „sonst kommen die Strafen." Sie lachte über die bestürzte Miene des Neulings und fügte gut116

mütig hinzu: „Haben's nur keine Angst, ich steh' Ihnen zur Seite." Und nun war's, als zähle Luise bereits zu den ihrigen, die Frauen an dieser Ecke zeigten sich hilfreich, zu jeder Art Unterweisung bereit und Luise sah sich mit einem Male von Mitgefühl und werktätiger Teilnahme umgeben. Sie war aus ihrer trostlosen Vereinzelung gerissen, in einen Kreis aufgenommen, in dem die gleiche Arbeit, die gleichen Verhältnisse, die gleichen Bedürfnisse zur Gleichartigkeit des Wollens und der Gesinnung geführt und sie, eben noch am Rande des Abgrundes, fühlte sich gehalten und gehoben. Schon lenkten die Vorgänge im Saal ihre Aufmerksamkeit dahin und erfüllten ihr Gemüt mit leidenschaftlicher Teilnahme. Der Saal war jetzt vollgepfropft von Menschen, die dicht aneinander gedrängt standen, in ungeduldigem Harren und wachsender Spannung. Sie rauchten und diskutierten in etwas gedämpften Tönen. Ein dumpfes Brausen erfüllte den Raum, wie von zurückstauenden Fluten, die im nächsten Moment tosend in verdoppelter Kraft heranstürmen werden. An dem Kronleuchter brannten nun sämtliche Flammen und in ihrem Lichtkreis erschienen der Rauch, die Ausdünstung so vieler Menschen zu einem weißlichen Nebel verdichtet, der in seiner Durchleuchtung über die dunklen oft derben Gesichter der Männer weiche, verschleiernde Töne breitete. Die Auszählung war in allen Bezirken vorüber. Die Radler, als die flinkesten Berichterstatter, trafen von allen Seiten jetzt ein. Sie wurden schon an der Tür mit Hurrarufen begrüßt und umringt. Jeder wollte gleich direkt die Botschaft aus ihrem Muride vernehmen. Ein Büro hatte sich gebildet. Auf der Tribüne, wo am Sonntag die Musikanten saßen, hatten Vorsitzender und Schriftführer Platz genommen. Dorthin wurden die Ankommenden gestoßen, geschoben, gezerrt, emporgehißt. Sie übergaben ihre Berichte und, während das Büro seines Amtes waltete, reichte man ihnen Bier zur Stärkung, sie gleichzeitig mit Fragen bestürmend. 117

Aber schon erhob sich der Vorsitzende und verkündete die Meldung der Zentrale, daß für die sozialdemokratischen Kandidaten in Wien achtzigtausend Stimmen abgegeben worden seien. „Achtzigtausend!" Wie von feurigen Zungen getragen, flammte das Wort auf, von einer Ecke des Saales zur anderen den Jubel entfesselnd. Zum ersten Male hatte man sie gezählt und für voll befunden. Trotz des miserablen Wahlsystems, trotz des Terrorismus, den die Herren von Wien zu üben verstanden, so viele Stimmen! Achtzigtausend! Achtzigtausend! Achtzigtausend! Es übertraf alle Erwartungen. „Das haben die in Berlin erst nach zwanzig Jahren des allgemeinen Stimmrechts gehabt," bemerkte der Vorsitzende. „Hört, hört!" rief man im Saale. Man lachte, man applaudierte, man drängte neuerdings gegen die Tür. Wieder war ein Radier abgesprungen, rot, wie ein Krebs, in Schweiß gebadet. „In Favoriten haben wir zehntausend Stimmen," brüllte er in den Saal. Ein Freudengeheul antwortete ihm. „Hoch! Vivat hoch! Favoriten, der Proletarierbezirk, hoch! Das sind unsere Leute, das sind wir!" Einer rief es dem anderen zu, in voller Glückseligkeit, Stolz und Entzücken leuchtete aus aller Augen. Männer, die sich vorher nie gesehen, drückten sich die Hände, umarmten und küßten sich. Sie alle hatten gearbeitet, einer für den anderen, und brav gearbeitet. Die Organisation hatte sich bewährt, Manneszucht war auch in ihren Reihen, sie hatten die Probe bestanden. Niemand zweifelte mehr an dem Erfolg. Eine ungeheure Zuversicht, ein liebenswürdiger, kindlicher Optimismus hatte sich aller bemächtigt. Das Errungene begeisterte sie, sie schwelgten im voraus in ihrem Triumph. Und so beharrlich waren sie in ihrem Glauben, daß, als jetzt nacheinander die Wahlresultate aus den übrigen Bezirken einliefen und man erfuhr, daß die Wieden mit der Landstraße, daß die Josefstadt verloren sei, es die von ihrem voraussichtlichen Siege Be118

rauschten nichtzu ernüchtern vermochte. Auf diese Bezirke hatte man nie gerechnet, dort wohnten die k. k. Hofräte und sonstige Philister, dort befanden sich die feudalen Palais, die ihren Bediententroß zur Wahlurne kommandierten und ihre Lieferanten dazu, das konnten sie nicht verhindern. Die Tür ward unaufhörlich geöffnet und zugeschlagen, eben war wieder ein Radler hereingekommen mit neuen Berichten. Alles drängte ihm entgegen. Erregtes Murmeln ließ sich vernehmen und jetzt die lauten Rufe: „Der kommt aus Favoriten! Wie schaut der aus! Er blutet!" „Die Anti haben ihn attackiert, ihm den Weg verlegt," berichtete ein zweiter, der ihm gefolgt war. „Er stürzte, war gleich wieder oben und vorwärts!" „Bravo! Er bringt das Resultat der Abstimmung aus Favoriten!" Darauf ein noch wilderes Umdrängen. Er brachte die Entscheidung. Wie ein Delinquent, den man erwischt und zum Richter schleppt, wird der Unglückliche, der weiß, was alle wissen wollen, nach der Tribüne gebracht. Er ist noch immer atemlos, mit Schweiß bedeckt. Blut rieselt aus einer Kopfwunde, aber schon ist er oben und allen sichtbar. Tosende Zurufe begrüßen ihn. Luise erkannte in dem Manne Fritz Hofer. Er hatte sich dem Vorsitzenden zugewendet, flüsterte ihm einige Worte zu und übergibt ihm das Resultat in Ziffern. „Was gibt's? Was ist geschehen? Wir wollen es wissen — lauter — lauter. Er soll reden — lauter!" brauste es durch den Saal. „Laßt ihn doch ausschnaufen!" rief der Vorsitzende den Ungeduldigen zu. „Gebt ihm nur einen Augenblick, er soll sich stärken." Bier wurde ihm hinaufgereicht, er wies es zurück; er verlangte Milch. Indes hatte der Vorsitzende den Zettel entfaltet und Einsicht genommen, worauf er ihn dem Schriftführer hinreichte. Sie sahen sich an, Unentschlossenheit malte sich in ihren Zügen und wieder ein Flüstern. Unten wächst der Tumult. Die nervöse Spannung, die nervöse Ungeduld haben den höchsten Grad erreicht. 119

„Was ist's? Heraus damit — ein Wort, Ja oder Nein — Ja oder Nein, wir wollen es wissen!" Fritz war bis an den Rand der Tribüne getreten. Er hat sich die Stirn abgewischt, fest und aufrecht steht er da, seine Brust arbeitet, er zwingt sich zur Ruhe. Aber jeder, der in dieses blasse, abgespannte Gesicht sah, der wußte, er hatte nichts Gutes zu verkünden. „Genossen, es ist entschieden," sagte er langsam, und nach einem tiefen Atemzug fügte er mit einer fast stoischen Ruhe hinzu: „Wir sind unterlegen!" Eine furchtbare Erregung bemächtigte sich aller Anwesenden. In einem lauten energischen Protest schleuderte man ihm das Wort „Favoriten!" entgegen. Das war ihr Bezirk, dort haben sie agitiert — Sie hatten soeben gehört, daß dort zehntausend Stimmen für sie abgegeben waren, die anderen konnten nicht mehr haben—es war nicht möglich! Sie konnten nicht in der Minorität sein! Der Vorsitzende nahm das Wort. Er machte keine lange Einleitung, kurz, in Ziffern sprach er das Urteil. Für die Sozialdemokraten waren in Wien achtundachtzigtausend Stimmen abgegeben worden, ihre Gegner hatten einhundertzehntausend Stimmen zusammengebracht. „Wir sind unterlegen in allen Bezirken, Wien gehört heute den Antisemiten." Kein Laut folgte dieser Eröffnung, Totenstille trat ein und hielt an in unheimlicher Weise. Es war als ob alle diese Herzen, die eben noch so stark und leidenschaftlich geschlagen, plötzlich stillstanden. Nur allmählich löste sich der Bann. Ein dumpfes Stöhnen, der fernen Brandung gleich, durchzittert den Raum, dann fallen einzelne Worte, heiser krächzende, halb erstickte, stammelnde Laute. Wut, Schmerz und Beschämung zerrissen ihnen das Herz, schnürten ihnen die Kehle zu. Viele dieser rauhen, bärtigen Männer weinten wie Kinder; die Wehmut überwältigte sie, ihr Kummer war größer noch als ihr Zorn. Andere bearbeiteten mit geballten Fäusten die eigene Brust in bitterer Selbstanklage. „Wir sind schuld — wir selbst — wir waren zu sicher — Fluch dieser schwächlichen Überhebung!" 120

Luise zitterte am ganzen Körper. Die Größe und Wahrhaftigkeit dieses Schmerzes ergriffen sie aufs tiefste, sie verstand ihn, sie beugte sich vor ihm . . . Allmählich wird's lauter im Saale, die Empörung bricht durch, sie hat Stimme und Worte gefunden, die Anklage ertönt, die Kritik macht sich geltend. „Pfui — schandvoll! — Der List sind wir zum Opfer gefallen — dem elenden Wahlsystem — es war gemeiner Betrug! Wir sind zu ehrlich gewesen!" „Was nützt das Jammern — es ist geschehen, wir müssen's künftighin besser machen!" rief eine kräftige Stimme dazwischen. „Recht so," antwortete ihm eine andere. „Wir lassen uns durch die Schlappe nicht ins Bockshorn jagen, wir kämpfen weiter!" Und fast gleichzeitig tönte aus der anderen Ecke des Saales in helleren Tönen zurück, wie das Echo in hohen Bergen: ,,Wir kämpfen weiter!" Die Funken hatten sich berührt. Mit elementarer Kraft bricht hervor, was als physisches Bedürfen und geistiges Erkennen in diesen Menschen lebt: ein Wille, fest und ungebeugt, den der Widerstand nur kräftigen und vertiefen kann. Alle Anwesenden, wie emporgerissen, erheben sich mit einmal und der Schlachtruf durchbraust den Saal: „Hoch die Sozialdemokratie!" Fritz, der sich gelabt und dessen Wunde verbunden war, stimmte mit ein. Er befand sich mitten im Saale und dem feurigen Impulse nachgebend, rief er mit weithin tönender Stimme in dem unvergleichlichen Elan der Jugend: „Genossen, wir sind unser viele, wir haben es heute gesehen, aber wir müssen mehr werden." „Organisation, Agitation!" erscholl es von allen Seiten ihm entgegen. „Jeder von uns sei ein Werber, jeder von uns ein Agitator, jeder ein Lehrender und ein Lernender zugleich! — Wir haben glücklicherweise nicht nur den Trieb, zu essen, wir haben auch den Trieb, zu lernen, und wir lernen aus allem und jedem, auch aus unserer Niederlage." Er sprach weiter, fest, andauernd und überzeugend, hie und da mit Humor, der seine Wirkung nicht verfehlte.

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Man hörte ihm zu, man klatschte ihm Beifall, er hatte in dem kritischen Moment einer augenblicklichen Depression gefunden, was allen not tut, um die Spannkraft zu heben, sie zu verstärken. „Man will uns vernichten, das aufstrebende Proletariat zu Paaren treiben — wo anfangen, wo enden? Man müßte allen Aufschwung, alle Kultur mitvernichten —. In uns ruhen die großen ungebrochenen Kräfte, deren die moderne Entwicklung bedarf, wir allein können ihre Bedürfnisse, die auch die unseren sind, befriedigen, wir alle vermögen ihr gerecht zu werden. Unser Ziel glauben wir alle zu kennen und viele unserer Gegner fürchten, wir könnten es erreichen —. Daß es das Ziel einer höheren Kultur, eines menschenwürdigen Daseins für alle bedeutet, wissen wenige von ihnen, weil sie es nicht wissen wollen, weil sie in Klassenvorurteilen befangen sind. Aber die Entwicklung schreitet vorwärts und wir sind die Träger derselben. Man will die Bewegung hemmen — gewaltsam hemmen, ebensogut könnte man dem Frühling befehlen, keine Knospen zu treiben — man will uns die Fahne entreißen, wir haben kräftige Fäuste, wir halten sie fest —. Unser Kampf ist eine Notwendigkeit, er kann nur von uns geführt werden und er kann und wird nicht eher enden als mit unserem Siege!" Die Genossen scharten sich dichter um den jungen Schlosser mit den muskulösen Armen und mit der breiten Brust; und wie er so dastand mit den blitzenden Augen, die wie von einem inneren Feuer erleuchtet waren, dem frischen, verheißenden Lächeln um den kräftigen Mund, erschien er wie die Verkörperung jugendlicher Kampfeslust selbst. „Und es geht ja auch vorwärts!" rief ein anderer mit dem gleichen Ausdruck von Uberzeugung. „Die proletarische Bewegung umfaßt die Welt, die ganze weite Welt, und wo in dieser Sache ein Sieg errungen wird, er kommt uns zugute, die verschiedenartigsten Ereignisse schlagen zu unserem Vorteil a u s . . . " Der Vorsitzende schloß die Versammlung und ermahnte die Anwesenden, ruhig in voller Ordnung das Lokal zu verlassen und sich auf der Straße durch nichts provozieren zulassen. Der Aufbruch war allgemein. Die Arbeiterhymne wurde angestimmt und stehend abgesungen. 122

E I N MAIFESTTAG

I Die Prater-Auen prangten in Frühlingsschönheit. Ihre weiten, welligen Wiesen mit den stillen Weihern, in denen die schönverzweigten Baumgruppen sich spiegeln, die herrlichen Alleen, die stundenweit an den Ufern der Donau sich hinziehen, alles war in das weiche Grün des Frühlings gekleidet mit ganz feinen Schattierungen in grau, den Augen ein Labsal und ein Entzücken. Es war früh am Morgen. Um diese Zeit pflegt es sonst menschenleer und lauschig still hier zu sein, nichts läßt sich da vernehmen, als die Liebesrufe der Vögel. Heute, am l. Mai des Jahres 1896, wanderten hastige Menschen durch die Alleen, ihr Werkzeug mit sich tragend. Laute Stimmen und Rufe ertönten, und um die Gasthäuser des Praters schwirrten Geräusche, welche die verschiedenartigste Tätigkeit verrieten. Hütten wurden aufgeschlagen, Bierfässer abgeladen,Tische und Stühle herbeigeschafft und gewaschen, Flaschen und Gläser in ungezählter Menge gespült und aufgereiht. Hunderttausend Menschen, und mehr vielleicht, werden hier zusammenströmen, in den dicht beieinanderliegenden Restaurationen sich niederlassen und nach Atzung schreien. Schon wurden die Portale mit Reisig geschmückt, mit bunten Fähnchen bedeckt zum Willkomm am 1. Mai. Ein Festtag ist's, ein hoher, bedeutungsvoller. Nicht die Kirche hat ihn geboten, nicht der Landesvater seine Untertanen gnädig damit beschenkt, es ist der Weltfesttag der Arbeiter aller Kulturländer, den sie sich selbst gegeben, den sie unter tausend Opfern sich alljährlich auf's neue erobern müssen. Die Arbeiter Großwiens rüsteten sich denn auch vom frühen Morgen an, voll stolzer Freude für diese Kraftäußerung. Am Vormittag zwanzig große Versammlungen,

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am frühen Nachmittag der Massenzug über den ganzen Ring nach dem Prater, beides Demonstrationen für den Achtstundentag und das Wahlrecht. Auch die Polizei rüstete; für sie war's ein Tag des Schweißes und Ärgers, den sie verwünschte. Vor einem alten Hause in Favoriten, das durchaus von Arbeitern bewohnt war, patroullierte ein Wachmann schon seit einer Stunde auf und ab. Hier war ein Nest der rotesten Sozialdemokratie und eine Überwachung vonnöten. Hier wohnten der Schlosser Krüger, der Drechsler Büttner, die Versammlungen besuchten und zu den Organisierten gehörten. Weiter der Schraubendreher Karl Baumann, ein blutjunger Kerl, womöglich noch verdächtiger als die anderen; er besuchte nicht nur Versammlungen, er sprach sogar darin. Und hatte er nicht Verkehr mit einem Frauenzimmer, das polizeilich das schlechteste Leumundszeugnis besaß? Sie lief in die Versammlungen der Männer, aber daran nicht genug, sie gründete noch extra Frauenvereine, in denen sie die Weiber rebellisch machte. Sie sollte sogar ein Amt haben und von der Partei bezahlt werden, wofür, das wußte man nicht, aber man konnte sich's denken. Ja, anrüchig waren sie alle in diesem Hause, aber man konnte ihnen nichts anhaben. Die Leute, und es waren recht arme Teufel darunter, benahmen sich anständig, zahlten ihren Zins und sogar ihren Sperrsechser, wenn sie einmal später nach Hause kamen. Selbst dann waren sie nicht betrunken, was den Wachmann Klackel noch besonders mißtrauisch gegen sie machte. Und wenn auch Baumanns zu den sogenannten gehobenen Existenzen zählten, denn sie hatten Zimmer, Küche und Kabinett, welche Karl mit seiner verwitweten Mutter und Schwester gemeinsam bewohnte, und wenn sie auch in ihrer Kleidung stets sauber, sonntags sogar fein aussahen, so wußte er doch, wie er dran war. Sprach doch die ganze Straße davon, daß Karl einen Bücherkasten und einen Sekretär besaß, bei einem Arbeiter das sicherste Zeichen revolutionärer Gesinnung; und der Mann hatte recht. Klackels gutem Herzen tat nur die Mutter leid, einfe brave Frau, die vor Autoritäten noch Respekt hatte. Seitdem sie am Markt sich einmal um Abhilfe an ihn gewendet, nickte sie ihm zu, wenn sie ihm begegnete. Auch ihr 124

Töchterlein war nicht ohne, immer sauber, licht und lachend, wie der junge Tag. Sie war Verkäuferin in einem Mehlgeschäft, trug stets helle Kleider, eine blitzblanke weiße Schürze, ein weißes Häubchen auf ihren blonden Haaren, und ihr Gesicht war zart weiß und rot, von Mehlstaub eingepudert bis in die Augenwimpern. Und fidel war sie! Wenn sie mit ihren Kolleginnen aus dem Laden ging, war das ein Schwatzen und Lachen, schier ohne Ende. Er ging ihr nach, sie gefiel ihm. Er war zwar nicht mehr jung und hatte einen Fettbauch sich angeärgert, aber er war Witwer und stand vor dem Avancement, und wenn nicht der Bruder gewesen wäre — aber ein solcher Schwager war für ihn unmöglich. So haßte er ihn doppelt. Einmal als Sozialdemokraten, wie es seine Pflicht war, und zweitens als Hindernis für sein persönliches Glück. Sein Schritt wurde dröhnender, er reckte sich höher, warf sich in die Brust und schob das Wehrgehäng, das sich über den runden Bauch hinaufgeschoben, wieder herunter. Er war die Straße herabgegangen und wollte eben kehrt machen, als ein Radier so knapp an ihm vorbeisauste, daß er ihn fast berührte. Ein Laut des Zorns entfuhr ihm. Der Radler war Karl Baumann. In anmutig sicherer Haltung saß er auf seinem Rade und war im nächsten Augenblick in der Biegung der Straße verschwunden. „Der Tag wird kommen, an dem ich Abrechnung mit dir halte," murrte er in seinen graublonden Bart. Vielleicht mochte er denken, daß er schon da sei, es war heute der 1. Mai. „Du magst dich vorsehen, schwarzroter Teufel!" Mit dieser Farbenmischung bezeichnete er sehr glücklich das Äußere wie das Innere dieses schrecklichen Menschen. In der Tat, wenn Karls Schwester, das Netterl, die reine Lichtgestalt war, so konnte man ihn einen schwarzen Gesellen nennen. Er war dunkel von Haar und Augen, mit stark brünettem Teint und einem kleinen, noch schütteren, aber rabenschwarzen Bärtchen auf der Oberlippe, unter dem die gutgestellten Zähne hervorblitzten, so oft er lachte. Aber er lachte nicht allzuhäufig. Die Zeit der mutwilligen Knabenstreiche war vorüber, und auch die spätere, wo alle Freundinnen seiner Schwester in 10 Minna Kautsky

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den hübschen Jungen verliebt waren, und es ihm Spaß machte, sie unausgesetzt zum Besten zu halten. Jetzt war sein Sinnen und Denken auf ernstere Dinge gerichtet. Er hatte sich der Organisation angeschlossen und verwendete jede freie Stunde, sein Wissen zu mehren. Ein Mädchen war's, das ihm Bücher lieh und oft selbst überbrachte : Fräulein Ida Klose. Karl hatte sie in den Versammlungen kennengelernt, die sie mit dem Vater besuchte, einem alten, bewährten Sozialdemokraten, der seine kluge Tochter in die Ideen des Sozialismus eingeweiht und sie in alle Versammlungen mitnahm, damit sie die praktische Methode kennenlerne. Sie war Näherin gewesen, hatte aber, von ihrem Vater unterstützt, die Näherei auf den Nagel gehängt, um sich der Agitation unter den weiblichen Arbeiterinnen zu widmen. Sie mochte wohl um fünf bis sechs Jahre älter als Karl sein, aber ihre guten, ehrlichen Augen, ihr ernstes, ruhiges Wesen waren ihm sofort sympathisch gewesen, und wenn sie auch in ihrem Äußeren jene Anmut, die den meisten Wienerinnen zu eigen ist, gänzlich vermissen ließ und in ihrer schlichten Kleidung, die jedes Aufputzes entbehrte, oft kommun erschien, so imponierte sie ihm bei näherer Bekanntschaft immer mehr durch ihren Charakter. Ein weibliches Wesen von so klarem Verstand und festem Willen, das von ihrer eigenen Person so wenig eingenommen, aber mit starkem Gefühl für das Wohl und Wehe der Menschheit begabt war, war ihm bisher noch nicht vorgekommen. Sie gewann auch einen immer größeren Einfluß auf ihn. Sie verstand sein Klassenbewußtsein zu heben, seinen Gesichtskreis zu erweitern und ihn auch theoretisch zu einem leidlich gebildeten Sozialdemokraten zu erziehen. Sie hatten sich lieb, das wußten sie, und doch hatten sie nie von Liebe miteinander gesprochen. Ida hatte nach und nach in der Partei festen Fuß gefaßt und war mit Arbeit überhäuft. Sie gehörte zu jenen untergeordneten Kräften, welche sich die mühseligsten Arbeiten aufbürden lassen, glücklich, auch ihrerseits etwas für die große Sache zu leisten. Sie war für jede Art Agitation zu verwenden, imBüro wie in denVersammlungen. Etwas schwerfällig

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in ihrer Ausdrucksweise, ohne die Gabe der Suggestion, war sie als Rednerin unbedeutend, aber man hatte, nachdem sie einmal notgedrungen den Vorsitz übernommen, herausgefunden, daß sie durch ihre Ruhe, ihr strenges Rechtsgefühl, sowie durch ihre genaue Kenntnis der Geschäftsordnimg sehr wohl eine Versammlung zu leiten verstände. Von da an fungierte sie in den oft stürmischen Versammlungen der Frauen als Präsidentin und waltete unerschrocken mit einer durch nichts zu erschütternden Festigkeit ihres Amtes. Nachdem sie sich einige Jahre ohne Bezahlung gemüht, hatte man eingesehen, daß man sie nicht mehr entbehren konnte. Man hatte einen Namen für ihre Stellung gesucht und gefunden und ihr ein bestimmtes Gehalt ausgesetzt. Es war nötig. Ihr Vater war gestorben und sie mußte verdienen, um leben zu können. Ihr kleines Einkommen erschien ihr ungeheuer, sie war selig. Von nun an sahen sich die jungen Leute täglich. Entweder kam Ida auf ein Stündchen zu Baumann, oder er kam zu ihr, was ihr in der ganzen Nachbarschaft üble Nachrede eintrug, ihren Gleichmut aber nicht im geringsten störte. Es wurde ihnen von anderen Leuten gesagt, daß sie sich heiraten müßten, und sie waren wohl damit einverstanden. Auch Mutter Baumann hätte es gern gesehen, daß sie ein Paar würden. Ida verdiente ja jetzt ganz hübsch, dabei war sie überaus sparsam und verwendete fast nichts für sich; Karl würde es gut bei ihr haben, dann war sie auch nicht mehr so jung, würde also auch nicht mehr zu viel Kinder bekommen, kurz sie sah nur Vorteile in dieser Verbindung, ganz abgesehen, daß Ida gegen sie die Güte und Aufmerksamkeit selbst war. Aber die Geschichte ging nicht vorwärts. Kam Ida zu ihnen, begab sie sich auf sein Zimmer. Sie flüsterten dann miteinander, aber die Mutter erlauschte — denn sie horchte ein wenig — immer nur Worte wie „Partei", „Organisation", „Wahlkampf", „Regierung", nie etwas von Liebe oder Hochzeit. Das irritierte sie. Was heißt denn das, das ist doch ein Blödsinn unter jungen Leuten! Na, dieses Frühjahr mußte es doch einmal sein, und heute war der 1. Mai. Karl war ohne Rad zurückgekommen und erstieg rasch die Treppe zu seiner Wohnung. Noch vor der Tür vernahm 10*

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er ein übermütiges Gekicher, aus welchem sich ein wohlklingender Sopran vor allen bemerkbar machte. Rasch trat er ein. Die Mutter und eine Anzahl junger Mädchen befanden sich in der Stube. Die Sonne schien in die geöffneten Fenster und durch die Gardinen, welche der Morgenwind flatternd bewegte, tanzten Lichtfunken, mit Schatten gemischt über diese Jugend in roten Blusen und hochfrisierten blonden Köpfen. Es waren nette, aufgeweckte Mädels, besonders die eine Schlanke, Fräulein Suse, mit aschblondem Haar, dunklen Augen und Brauen, war eine hübsche, jugendfrische Erscheinung. Bei Karls Eintritt verstummten sie und Suse errötete leicht, als er, der die Freundinnen seiner Schwester sonst nur mit flüchtigem Gruß bedachte, auf sie zukam und sich zu ihnen an's Fenster stellte. Er schien gut gelaunt zu sein, nun ja, — der l . Mai. „Bitte, lassen Sie sich in Ihrer Heiterkeit nicht stören," sagte er, als die Mädels vom Fenster hinweg an den Tisch traten, auf dem rotes Papier, Pappe und sonstiges Material zur Anfertigung von Maiblumen ausgebreitet lag, und sich direkt an Suse wendend: „Was war denn so amüsant, Fräulein Suse? Ich habe Ihr Lachen unter allen herausgehört." ,,Oh," sagte sie, tiefer errötend. Schwester Netterl erklärte ihm: „Wir haben über den Klackel gelacht, seit einer Stunde spaziert er vor unserem Fenstern herum." Und Fräulein Mali, die Älteste von den dreien, ein kleines, dickes Persönchen, ergänzte mit rascher Zunge: „Es war uns schon zu dumm, daß er immer herauf sah mit seinen Glotzaugen, und da hat ihm die Süsel die Zunge gezeigt." „Sooo," sagte Karl und hob strafend den Finger empor. „Ich glaube, er hats nicht bemerkt," stotterte Suse. „Das wär' schade," rief Karl und weiter in seinem scherzhaft abmahnenden Ton: „Ich warne Sie, Fräulein Suse, den Mann zu reizen, Sie müssen ja froh sein, wenn das Auge des Gesetzes über Ihnen wacht." .Das Fettauge des Gesetzes, meinen Sie," rief Suse mit 'neu hervorbrechendem Mutwillen. Alle lachten, über Karls Gesicht leuchtete fröhliche Zu128

ihr schlagfertiger Witz hatte ihm offenbar gefallen. Sie fühlte es an dem Blick, der auf ihr ruhte, obwohl sie ihn gar nicht ansah und ihre Augen auf das rote Blümchen gesenkt hatte, das sie in der Hand hielt. Suse war Blumenmacherin, im Hause Baumann eine neue Erscheinung. Ida hatte sie dort und in die Partei eingeführt. Das junge Mädchen hing ihr schwärmerisch an; wie ein Hündchen folgte sie ihr überall hin, glücklich, wenn sie von ihr einen Auftrag erhielt oder ihr etwas abnehmen konnte. Durch diese vorerst rein persönliche Zuneigung wußte sie sie für die Partei zu begeistern, und bald war Suse eine so gute Genossin, wie irgendeine. Karl, der das errötende Mädchen mit steigendem Wohlgefallen betrachtet hatte, wurde plötzlich selbst sehr verlegen. Stimmung,

„Ist Ida noch nicht da gewesen?" fragte er. „Sie ist in deiner Kammer und schreibt", sagte die Mutter. „Nun also", rief er, wie geärgert, daß man ihm das nicht längst gesagt, und eilte hinein. Ida saß vor dem Tisch am Fenster. Sie sah aus wie gewöhnlich in ihrer dunklen wollenen Bluse, welche die Taille kaum markierte, mit weißem Halskragen und Manschetten. Ihr braunes Haar war in die Stirne herein glatt gescheitelt, was ihrem runden Gesicht nicht gut stand. Aber dafür hatte sie keine Augen. Die Arbeiterzeitung vom l . Mai mit der ausgegebenen Marschroute in den Prater und den Instruktionen für die Ordner lag vor ihr. Sie machte sich Notizen. Als Karl eintrat, sah sie auf und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Morgen, Karl," sagte sie herzlich. Er drückte ihre Hand und setzte sich neben sie. Sie waren sofort in ein anregendes und doch ruhig dahinfließendes Gespräch gekommen, darin ihre Hoffnungen und Befürchtungen für den heutigen Tag Ausdruck gebend, dem sie mit gleicher Begeisterung entgegen sahen. „Die Kinder sollen heute mitgenommen werden," sagte sie. „So ist's beschlossen worden," entgegnete Karl, „sie sollen das große Fest mitfeiern, mit in dem Zuge der Tausenden gehen, ein solches Erlebnis bleibt ihnen un129

vergeßlich. Unsere Proletarierkinder, die die Not schon kennengelernt, werden fühlen, daß sie nicht mehr zu den Verlassenen zählen, um die niemand sich kümmert; sie werden sehen, daß sie einer großen Gemeinschaft mit angehören, und das wird ihre Kinderherzen mit Hoffnung erfüllen und sie begeistern, meinst du nicht auch?" Sie nickte zustimmend, aber sie sah recht nachdenklich aus. „Es ist heute das siebente Mal, daß die Arbeiterschaft in den Prater zieht. Es ist eine große politische Demonstration für das Wahlrecht, wenn sie nur auch diesmal ruhig verläuft." Er warf mit einer Bewegung jugendlichen Stolzes den Kopf zurück. „Sie wird's. Erinnerst du dich noch des 1. Mai im Jahre neunzig, wo wir zum ersten Male in den Prater zogen? Die guten Wiener Bürgersleut' waren entsetzt. Die Praterfahrt stören, so ein Verbrechen 1 Wie durften die Arbeiter sich so was herausnehmen — wie konnten sie's wagen! Und die Regierung? Damals, Ida, war das Militär nicht nur in den Kasernen konsigniert, wie heute, damals war es unten im Prater aufgestellt, zum Losschießen bereit. Ich erinnere mich, wie ich, ein neugieriger Bursche, die Bajonette und Kanonenrohre hinter den Büschen hervorblitzen sah. Wir hatten uns trotzdem nicht abschrecken lassen. Jeder von uns, und war er ein Zwanzigjähriger, wie ich, hatte das Gefühl seiner großen Verantwortung. Wir wußten, wir durften uns nicht provozieren lassen. Ich meine übrigens, die Polizei hatte auch nicht die Absicht dazu. Man fürchtet sich doch auch, solche Massen zu reizen — es waren an zwanzigtausend Arbeiter." „Heute werden es fünfzigtausend sein, mein Lieber, und wieviel Neugierige, wieviel Müßiggänger laufen da mit, die nur der Hetz wegen kommen, diese sind nicht diszipliniert, auf die ist kein Verlaß, die sind's, die ich fürchte." Er stemmte die Hand auf und sah mit fröhlichen Augen in ihr breites, gutes Gesicht, das von Sorge leicht überschattet war. „Du fürchtest dich, du? Darauf muß ich dich ansehen, so was kenne ich ja gar nicht bei dir. Beruhige dich, es sind 130

zahlreiche Ordner aufgestellt, sie werden ihr —" Eine Lachsalve aus dem anstoßenden Zimmer unterbrach ihn. „Was diese Mädel treiben," sagte er mürrisch. „Mein Gott, lustig sind sie und hundsjung alle mitsammen. Hörst du die Suse? Die kann so herzlich lachen." „Ihr Lachen hat etwas Aufdringliches, find' ich, sie will sich bemerkbar machen." „I, du Geck," rief sie lachend und schlug ihn derb auf die Schulter, „du meinst wohl, bei dir? Die Suse braucht dich nicht, die hat Anbeter genug." „So, hat sie?" „Natürlich, ein so hübsches und liebes Ding — ich sage dir, eine Seele von einem Mädel." „Du bist völlig in sie vernarrt." „Bin ich auch; wenn ich ein Mann wäre, die möcht ich haben, der Hugo hat mir gestern dasselbe gestanden." „Der Mali ihr Bruder? Der macht ja meiner Schwester den Hof." „Ich glaube, er hat beide gern und weiß nicht, für welche er sich entscheiden soll." „Ein netter Kerl." „Ein bissei konfus." „Nur konfus? Wenn sich einer in zwei Frauenzimmer gleichzeitig verliebt, dann ist er entweder ein Depp oder ein schlechter Kerl." „Na na," begütigte Ida den Erregten, „man liebt doch gleichzeitig so viele Menschen, ach, wie viele, warum nicht zwei junge Frauenzimmer." „Na, hörst du," sagte er sichtlich betroffen und fuhr dann mit der früheren Leidenschaftlichkeit fort, „Gut, aber welche man heiraten will, welche dazu die Richtige ist, das muß man doch wissen." Sie lächelte gutmütig, und mit dem ganzen Gewicht ihrer älteren Erfahrung sagte sie langsam: „Weiß man das überhaupt, welche die Richtige ist, kann man das wissen?" Er sah sie groß an und schwieg. Draußen tollten die Mädels noch ärger. „Der Deinige — nein, nein — der Deinige," wurde vernehmlich, das übrige hatten sie weggelacht. 131

„Ich möchte doch wissen," — Karl sprang gegen die Tür, im Nu war er draußen. Ein Aufschrei ertönte bei seinem Eintritt. Hastig steckten die Mädel einander was zu, das er nicht sehen sollte. Ein Gegenstand fiel zu Boden. Karl stürzte sich wie ein Geier darauf und hob ihn auf. Es war ein aus zwei Taschentüchern gedrehter, mit Papier beklebter Hampelmann. Er hatte einen aufgedrehten roten Schnurrbart und auf dem mit Watte ausgestopften Kopf eine rote Mütze, das Gesicht war mit roten Pünktchen besprenkelt, was auf Sommersprossen schließen ließ. Ein rotes Herz in riesiger Dimension war ihm auf die Brust geklebt. Karl zeigte das Ungeheuerchen vor und ließ es zappeln. Die Mädchen lachten und wollten es ihm entreißen. „Hergeben, hergeben! Das ist eine Frechheit!" „Der gehört mir!" rief Schwester Netterl ihm zu. „So, der Mann mit dem großen Herzen ist der Deinige? und der Ihrige wohl auch," wandte er sich an Suse, „ich gratuliere." „Da ist noch so ein Wurstel," rief die kleine Mali, Hugos Schwester, die ein boshaftes Naturell hatte, und hielt ein ähnliches Püppchen, das sie mit kühnem Griff Suse entrissen, die es hinter dem Rücken geborgen hatte, triumphierend empor, „und das sind Sie." „Ach, wer hat mich denn so wunderbar porträtiert?" „Nichts sagen, nichts sagen!" schrieen Suse und Netterl, als gelte es, ein Unglück zu verhüten; aber schon hatte Mali Suse mit dem Finger bezeichnet, und die also Angeklagte wurde rot und blaß, um dann kecklich zu bekennen: „Nun ja, ich hab's getan," und ihm einen spöttischen Knix machend, setzte sie hinzu: „Sie können mich ja beim Parteivorstand wegen Beleidigung eines Genossen verklagen." „Aber, Fräul'n Suse, ich bin ja entzückt," rief Karl mit gemachter Lustigkeit, „und wirklich sehr dankbar, daß Sie mich nicht mit einem so großen Herzen ausgestattet haben, wie den anderen." „Sie hat Ihnen gar keines gegeben," rief Mali, „sie sagte, dem stecken wir an diese Stelle nur eine rote Nelke an, da ist sonst nichts." Alle lachten, Ida, die Karl gefolgt war, am meisten, ob132

wohl sie die Anspielung recht gut verstanden hatte. Als sie Suse ansah, bemerkte sie Tränen in ihren Augen. „Na, was heißt denn das?" Da fiel ihr Suse um den Hals. „Verzeih, ein Scherz, — ich wollte dich nicht kränken, gewiß nicht, und — ihn auch nicht." „ Uns kränken? Närrisches Ding, womit denn?" „Sie müssen mich wirklich für einen sehr dummen Kerl halten, der keinen Spaß versteht," rief Karl, nicht ohne Empfindlichkeit im Ton, der sofort in einen heiteren umschlug. „Aber wenn Sie sich schuldig fühlen und mich versöhnen wollen, dann schenken Sie mir eine rote Nelke, ich habe noch keine." Auch sie lächelte wieder, es stand ihr reizend. „Die sollen Sie haben." Sie nahm eine vom Tisch und warf sie ihm zu. „Da, als Zeichen der Versöhnung." „So ist's recht, Kinder," sagte Ida, „Ihr müßt euch vertragen lernen, denn wenn ich mit Karl verheiratet bin, dann - " „Ja wenn," unterbrach sie mürrisch die Mutter, „aber ihr macht keine Anstalten dazu, ihr könntet es längst sein." „Wir haben bisher keine Zeit dazu gehabt, gelt Karl?" „Du stellst es dir wohl sehr zeitraubend vor, Ida?" scherzte er, und zur Mutter gewendet: „Na, Mutter, jetzt wird's schon." Er hatte versucht, die Nelke an den Rock zu stecken, sie wollte nicht halten. „Der Mensch ist ungeschickt," sagte Ida, „geh Suse, steck sie ihm fest; es ist übrigens Zeit, daß wir gehen." Sie wandte sich, um ihre Sachen zusammenzuraffen. Suse gehorchte. Aber sie war nicht viel geschickter, obwohl er ganz still hielt und keines auch nur ein Wort sprach. Sie fühlte durch den Rock hindurch den starken Schlag seines Herzens . . . er hatte eines. Die Tür ging. Genosse Krüger kam herein und wendete sich direkt an Frau Baumann, um'ihr eine Bitte vorzu. tragen. Er war im besten Mannesalter, schlank und sehnig; ein kräftiges Gesicht, mit hochgewölbter Stirn, an der die Haare schon dünn geworden, mit tiefen, düsteren Augen, die gar nicht der frohen Feier des Tages entsprachen. Als sie zusagend nickte, wollte er sich wieder entfernen, aber Ida und Karl kamen auf ihn zu, um ihm die Hand 133

zu drücken, war er doch einer der tüchtigsten und opferwilligsten Genossen, der sich der allgemeinsten Achtung erfreute. „Sie sind als Ordner bestellt, das ist gescheit," sagte Ida, „Sie sind ruhig und besonnen, das braucht's vor allem." „Na, und seine Länge," scherzte Karl, „so ein Kerl, der imponiert." „Kommt Hedwig mit?" fragte Ida. „I wo," sagte er finster," sie arbeitet heute." „Da ging's wohl nicht anders, Genosse Krüger?" „Nein, es ging nicht anders," sagte er kurz. Frau Baumann geleitete ihn zur Tür. „Sie können ganz ruhig sein, ich werd' das arme Hascherl schon übernehmen," versicherte sie tröstend, „aber um zwei Uhr geh ich auf den Ring und stell' mich dort auf." „Bis dahin ist mein Weib zurück, am Nachmittag hat sie frei." Der Nachbar war in seine Wohnung zurückgekehrt. Sie bestand aus einer Stube, die nach dem Lichthof ging. Kein Sonnenstrahl verirrte sich dahin, und selbst die Pflanzen, die man ans Fenster gestellt, sahen blaß und verkümmert aus. Den größten Teil der Stube nahmen die Ehebetten ein, ein Kinderkorb war dicht daran gestellt. Krüger trat, ehe er ging, noch einmal vor das Bettchen und betrachtete sorgenvoll das kleine Wesen, das darin lag. Unverwandt blickte er in das bleiche, abgezehrte Gesichtchen seines Kindes, das so ruhig blieb, daß man kaum wußte, ob es noch lebe, hätte nicht von Zeit zu Zeit ein nervöses Zucken die schlaffen Züge verzerrt. Der Anblick schnitt ihm ins Herz. Er ließ sich in einen Stuhl sinken und vergrub den Kopf in die Hände. Kann man nichts tun, gab's keine Hilfe mehr? Seit vierzehn Tagen lag es so dahin, nahm kaum das bißchen Nahrung, das man ihm mühsam einflößte, und wurde immer dünner und schemenhafter. Es war von Geburt an ein schwaches Kindchen gewesen, die Mutter hatte zu lange gearbeitet,. als sie es unter dem Herzen trug, und war nach seiner Geburt wieder zu früh in die Fabrik gegangen. Die ersten sechs Wochen, solange sie es säugte, ging es noch gut, aber das rasche Abstillen, die mangelhafte Pflege — vielleicht die rauhen Lüfte des März — wer weiß, was alles 134

zusammengewirkt, um der zarten Pflanze den Saft zu entziehen. Jetzt war es Frühling, die Sonne schien warm, da konnte es besser werden — aber wer trug es denn in die Sonne? Das harte Wort fiel ihm ein, das der Fabrikleiter bei dem letzten Streik den Lohnerhöhimg Heischenden zugerufen: „Laßt eure Weiber arbeiten, dann werdet Ihr leben können!" Hedwig arbeitete heute und zürnte ihm, weil er schon am Vormittag gefeiert hatte. „Du hast's notwendig!" hatte sie ihm zugerufen. „Du weißt, wie schlecht du angeschrieben bist, seit du Streikposten gestanden. Wie lange hat's gedauert, ehe sie dich wieder eingestellt haben? Du weißt, wie uns das heruntergebracht hat; aber dir ist das alles eins, du agitierst weiter, du denkst nicht an Weib und Kind, du denkst nur an die Partei, die ist dir alles, wir sind dir nichts." Und was er ihr, die sonst tapfer an seiner Seite gestanden, auch darauf erwiderte und vorgestellt hatte, die Angst, das Kind zu verlieren, machte sie ganz rabiat, und der männliche Opfermut ihres Mannes, den sie so oft bewundert, erschien ihr heute in einem anderen Lichte. Mit einem bitteren Wort war sie von ihm gegangen, und so zornig war sie gewesen, daß sie nicht einmal ihr Kind zum Abschied geküßt hatte, wer weiß ob — forschend beugte er sich wieder über dasselbe. II Die großen Versammlungen am Vormittag hatten einen glänzenden Verlauf genommen. Für die Zusammenkunft im Prater war eine genaue Marschroute ausgegeben: über den Ring beim Parlament vorbei. Die Arbeiter aus den entfernten Vorstädten rüsteten gleich nach Mittag zum Aufbruch. In langen Zügen, die an jeder Straßenecke Verstärkung erhielten, wanderten sie dem Ringe zu, um sich hier den bereits in Bewegung befindlichen Genossen anzugliedern. Mit Weib und Kind kamen sie daher, in munterer Beweglichkeit und jauchzendem Frohsinn, jeder von ihnen ein Künder der Zusammengehörigkeit des klassenbewußten Proletariats. Welch ein großer, befreiender Gedanke, der über den Erdball kreist! Seht diesen Trupp bärtiger, plumper 135

Männer, in grobe Loden gekleidet, mit ihren Frauen in weißen, hochgebauschten Hemdärmeln, den bunten Miedern und Röcken, unter denen die hohen Stiefel hervorsehen. Zu den ausgebeutetsten zählen sie, es sind die böhmischen Ziegelarbeiter aus Inzersdorf. Und jene, von gleich auffallender Art, in Beinkleidern aus glänzendem braunen Manchester, einen breitkrämpigen Kalabreser auf die dunklen Locken gedrückt, wer erkennt nicht in diesen hübschen, laut sprechenden, heftig gestikulierenden Männern die italienischen Erdarbeiter der Stadtbahn? Hier gehen Slowaken, in weiten, weißen Hosen und gestickten Hemden. Auch die Ungarn sind leicht erkennlich an den markierten Gesichtern und den hoch aufgedrehten Schnurrbärten. In dem freien Ungarn war die Maifeier polizeilich verboten worden, so waren sie hierher geeilt, für ihre Solidarität Zeugnis abzulegen. Rote Fahnen waren im Zuge nicht gestattet, aber die roten Blusen, roten Hüte, roten Schirme der Frauen, die roten Krawatten der Männer, die roten Blüten, die alle vorgesteckt trugen, die leuchtenden Augen und lachenden Mienen, sie gaben ein Gesamtbild der Freude und jenes beseligenden Glaubens des f r e u d i g e n Rechttuns. Sie waren Revolutionäre alle miteinander, und trotzig geschwungen war manche Lippe, aber sie fühlten sich als Kämpfer für höheres Menschentum, und dieser Kampf war Pflicht und Recht. Der Zug wuchs ins Ungeheure, verdichtete sich immer mehr, die Begeisterung wuchs höher und höher, und als die ersten Kolonnen dieser Fünfzigtausend den Praterstern erreicht hatten, brach sie mit elementarer Gewalt hervor in dem Rufe: „Hoch die Sozialdemokratie, hoch das allgemeine Wahlrecht!" Machtvoll schallten die Rufe weiter, wie Donner in den Bergen, und ertönten immer aufs neue. Beim Tegetthoff-Denkmal war berittene Wachtmannschaft aufgestellt, aber auch zahlreiche Ordner der Arbeiter, an ihren weißen Binden erkenntlich, welche die Massen aufforderten, sich zu teilen und durch die verschiedenen Alleen ihren Einmarsch zu halten. In der Hauptallee fuhren nicht wie sonst glänzende Karossen mit schöngeputzten Damen in doppelten Reihen, flankiert von ihren Kavalieren zu Pferde, so ihre berühmte 136

Maifahrt abhaltend. Nur wenige Equipagen kamen ihnen heute entgegen, sie verließen in scharfem Trab den Prater, um den einziehenden Proletariern Platz zu machen. Der grüne Prater in seinem Frühlingszauber, er gehörte heute den Arbeitern ganz allein. Mit Jubel zogen sie ein. Ein Teil ging durch die Feuerwerksallee, wo der Wurstelprater seine Lockungen entfaltet, und war von hier aus durch die kleine Zufahrtsstraße eingebogen, wo die zahlreichen Restaurationen ziemlich dicht beieinander lagen und durch Holzstakete voneinander getrennt waren. Hier war der „Eisvogel", der „Schwarze Bär", der „Walfisch", der „Weiße Löwe", der „Braune Hirsch" usw., wer zählt sie alle, nennt die Namen. Die Parteileitung hatte den verschiedenen Branchen je eines der Gasthäuser zugewiesen; eine vortreffliche Maßregel, welche die Ordnung verbürgte. Die von allen Seiten herbeiströmenden Genossen hatten bald die für sie bestimmten Lokale gefunden und sich daselbst niedergelassen. Es konnte auffallen, daß sie an dem größten und feinsten Restaurant vorübergingen, ohne es eines Blickes zu würdigen. Es war das berühmte Lokal der Antisemiten, in denen Dr. Lueger seine zündenden Reden hielt. Dieses hieß „Zum weißen Engel", wie es nicht anders sein konnte, um sich von vornherein von dem wilden Getier vornehm zu unterscheiden. Es war von den Christlich-Sozialen schwach besetzt, aber einige nichtorganisierte Arbeiter, die sich um den Boykott nicht kümmerten und rasch zu einem kühlen Trunk kommen wollten, stürzten zu den Tischen, die unter den Bäumen standen. In dem großen Saal zu ebener Erde wurde getanzt. Der Tanz kostete für den Tänzer fünf Kreuzer, die Tänzerin war frei. Eine Blechmusik mit großer Trommel und Zimbel schmetterte weithin vernehmbar ihren „lustigen Wienertanz", und manche unter den jugendlichen Genossinnen verwünschte den Boykott, der sie grausam der Seligkeit beraubte, sich im Tanze zu drehen. Die Metallarbeiter hatten unweit des „weißen Engels" ihr Lokal und Karl und Ida hatten gemeinsam mit einem jungen Ehepaar einen Tisch erobert, worüber sie sich königlich freuten. Sie sahen sich nach den jungen Mädchen um, mit denen sie sich hier treffen wollten. „Wenn sie 137

nicht bald kommen, kriegen sie keinen Platz mehr," meinte Karl, und richtig, schon waren die letzten Stühle gekapert, als sie die Erwarteten an der Saaltür bemerkten. Der Arbeitergesangverein hatte mit seinen Vorträgen begonnen und sie lauschten mit Andacht. Hinter ihnen stand Bruder Hugo und hüpfte von einem Bein auf das andere, um bald der Suse und bald der Netterl etwas in's Ohr zu flüstern. „Da ist ja Hugo, der Großherzige," rief Karl, indem er Ida anstieß, „schau nur, wie vertraulich er tut, er legt sich ihnen fast auf die Schulter — unverschämter Schlingel, ich begreife nicht, daß sich die Mädels das gefallen lassen." „Es wär' schon Zeit, daß er sich einmal erklärt, für welche sein Herz erglüht", lachte Ida. „Ich werde ihm helfen, das zu ergründen." Das junge Ehepaar, das sich bisher um die Tischnachbarn nicht gekümmert, sehr zufrieden, daß sie ihrerseits unbeachtet geblieben, sah einen Augenblick auf. Aus Karls Augen leuchtete heller Grimm, und sie, die erfahren in solchen Dingen waren, blinzelten sich zu. Der junge Kerl da war gewiß eifersüchtig auf eine von jenen. Dann kehrten sie zu ihren ehelichen Zärtlichkeiten zurück, küßten sich mit den Augen, da es nicht anders ging, und drückten sich unter dem Tisch die Hände. „Da kommen sie," sagte Ida, und richtig, die drei Schönen hatten sich mit ihrem Paris in Bewegung gesetzt und näherten sich ihnen. Hugo hatte Karl wohl bemerkt, aber er wollte ihm seine Damen nicht ausliefern und hielt Umschau nach einem freien Tisch. Es muß gesagt werden, daß das Porträt, das die Übermütigen von ihrem Hugo geliefert, gar zu boshaft gewesen. Er war ein kleiner, ganz netter Bursche, mit munteren Augen, der sich für die Gelegenheit so schön herausgeputzt hatte, daß er unter den Genossen unangenehm auffiel. Er aber trug das lichtgraue Röckchen, das Strohhütchen, das zierliche Stöckchen, den roten Schlips und vor allem seinen prächtigen roten Schnurrbart hochaufgewichst mit großem Behagen. Er hatte blondes Kraushaar, wie seine Schwester, und seine Sommersprossen, die nur an den Händen zu gelben Flecken entartet 138

waren, verliehen ihm, im Verein mit den runden Nasenlöchern, die immer lachten, als würden sie von den Schnurrbartspitzen gekitzelt, ein lustiges Aussehen. Geschäftig sprang er hin und her, unterhandelte mit den Kellnern, bat, erzürnte sich, versprach ein Trinkgeld — umsonst, er bekam keinen Tisch. Karl war indes aufgestanden und hatte den Mädchen bedeutet, an den seinigen zu kommen, er eilte fort, die nötigen Stühle für sie zu beschaffen. Als er mit einem zurückkehrte, fand er Suse auf seinem Platz neben Ida. Hugo hatte sich mit seiner Schwester Mali und Netterl bereits entfernt. Karl schien über diese Wendung nicht böse zu sein. Den Stuhl in der Hand erwartete er die Aufforderung, sich zwischen sie zu setzen, aber schon war der junge Ehemann an Idas Seite gerückt und bemerkte schmunzelnd: „Die jungen Leute muß man schon zusammen lassen, sonst haben sie kein Vergnügen." Die Beteiligten wurden rot, und Karl setzte sich neben Suse, ohne den Irrtum aufzuklären. Frisches Bier wurde gebracht, man stieß mit den gefälligen Tischgenossen an und bald war man mit ihnen in ein vertrauliches heiteres Gespräch verwickelt, der Feier des Tages entsprechend. Es entwickelte sich allenthalben eine Atmosphäre des Frohsinns, jede Rohheit blieb ferne, jede Sorge schien gebannt, man fühlte sich stark, einig und hoffnungsfreudig, atmete mit Wonne die milde Luft und ließ sich das frische Bier wohlschmecken. Als nun die Sänger das Lied der Arbeit anstimmten, wurde die Endstrophe von allen auf dem weiten Platz begeistert mitgesungen. Knaben mit weißen Schürzen und Mützen verkauften Brot unter den Gästen, und eine Anzahl Salamimänner, die schweren Taschen über die Schultern geworfen, liefen zwischen den Tischen hin und her, sich und ihre Ware preisend: „Salamucci, duri duri, eccomi!" Der Absatz war reißend, von allen Seiten verlangte man Wurst und Käse. „Heda, Salamucci, wir wollen auch was haben," rief Karl. „Subito, subito, gleich, gleich!" vertröstete der Schwarzgelockte, und wollte vorüber, aber Karl hatte ihn schon beim Zipfel. 139

„Nix da subito, her mit der Salami." Der Mann wollte sich wehren, als aber Ida anfing, dem Triestiner italienisch zuzureden, ließ er sich erweichen. Er brachte seine Ware auf den Tisch, legte Papier auf und nahm Waage und Messer. „Quanto Signora?" ,,0 viel, viel!" rief Karl, „wir haben Hunger, nicht wahr?" wandte er sich an seine Nachbarin. Suse bejahte mit einem schelmischen Lächeln: „Käs' und Salami im Prater, das ist das Höchste!" Sie sah reizend jung aus, wie sie verlangend das Mäulchen spitzte, der Salamucci nickte ihr zärtlich zu, und während er die Salami abwog, bemerkte er mit vertraulichem Blinzeln zu Ida: „Una coppia amabile," und mit einem Katzenbuckel, sie gleichsam beglückwünschend: II gdnero, he, he, anche im bei ragazzo... „Kummi schu, Kummi schu," rief erden Ungeduldigen an den anderen Tischen zu und sprang hinweg. Niemand hatte verstanden, was der Mann mit der einschmeichelndsten Stimme, grausames der armen Ida gesagt hatte. Ihr raubte es fast den Atem. Mein Gott, dachte sie, ich bin doch noch jung, erst zweiunddreißig, und man hält mich für . . . seine Schwiegermutter ! Man gibt ihm die Suse — ein schönes Paar, hat er gesagt. Sie warf einen raschen Blick auf die beiden, sie hatte sie noch niemals darauf angesehen. Sie scherzten miteinander, er betrachtete Suses Hände, die Käse und Salami auf dem Papier appetitlich zurechtlegten, dann hob er den Kopf und ihre Augen trafen zusammen. Ida war betroffen von dem gleichen Ausdruck des Glücks in den beiden Gesichtern. „Die passen freilich gut zueinander," seufzte sie. Man bot ihr zuerst an. Auch das junge Ehepaar, das jetzt schon näher als nahe beisammen saß, forderte sie auf, zuzugreifen. „Sie sprechen italienisch, wie kommt das?" fragte sie der junge Ehemann. „Sie hat es gelernt, um mit den italienischen Genossen korrespondieren zu können," erklärte Karl. „Man sagt, sie spreche es gut, ah, sie kann alles, was sie will." 140

Es klang freudig-stolz aus seinem Munde. Ida schenkte ihm einen dankbaren Blick. „Und er hat mich doch lieb und hält zu mir," dachte sie, und sie nahm von dem Dargebotenen und aß gleich den anderen. Es schmeckte so gut. Die Sänger hatten ein neues Lied begonnen. Das verliebte Ehepaar erhob sich unter dem Vorwande, es aus der Nähe zu hören — sie kamen nicht wieder. Mali erschien mit erhitztem Gesicht und wichtiger Miene. Sie wendete sich direkt an Suse: „Wir haben schon einen Tisch, wir unterhalten uns köstlich. Du wirst dich auch unterhalten — ich komme dich holen." „Ich danke, ich bleibe hier," sagte Suse. „Was fällt dir ein — mein Bruder will." „Dein Bruder - " „Ja, mein Bruder — ich glaube, du weißt, wer das ist," bemerkte die Kleine höhnisch, während ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. „Er läßt dir sagen, du sollst kommen oder du wirst es bereuen." „Bereuen!" „Genosse Hugo hat wohl große Rechte auf Sie, Fräulein Suse, daß seine Schwester so reden darf," sagte Karl und es lag Strenge in dem Blick, mit dem er sie ansah. Suse schüttelte den Kopf. „Er hat keine Rechte und wird sie nie haben." „Soo — hat keine — wird sie nie haben —" höhnte Mali, „undbist doch mit ihm gegangen." „Ich bin mit Netterl gegangen." „Hahaha, sehr gut — mit Netterl. Wer war denn da der Elefant, du oder sie? Na, ich werd's ihm ausrichten." „Tun Sie das, Fräulein Mali, und möglichst rasch, wenn ich bitten darf, und haben Sie die Güte, meiner Schwester zu sagen, sie soll sofort hierher kommen." „Wird sie nicht tun, sie tanzt wie eine Rasende." „Wo seid ihr denn?" fragte Ida. „Wo getanzt wird, beim »Weißen Engel'". „Schämt ihr euch nicht!" rief Ida empört, „Der Engel ist boykottiert." „Geht das uns junge Mädel was an? Warum habt ihr nicht auch eine Tanzmusik arrangiert, wir wollen tanzen." „Ich werde meine Schwester selbst holen," rief Karl. 11

Minna Kautsky

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„Es wird das Gescheiteste sein — ich habe die Ehre." Mali machte einen höhnischen Knix und lief davon. „Kecker Besen!" sagte Ida, über das drollige Mädel lachend. Als Karl fort wollte, hielt sie ihn am Arme fest: „Bleib, laß mich gehen, es ist besser, du bist aufgeregt, Netterl ist eigensinnig, wenn es zu einem Streit käme — dort bei den Antis — da ist ohnedies so viel Zündstoff vorhanden." „Und du glaubst, sie wird mit dir gehen?" „Verlaß dich drauf, man kann auch den Weibern Disziplin beibringen, aber es geht nur im Guten." Sie ging. Noch einmal wandte sie sich um, nach den beiden die am Tische zurückgeblieben waren, und wieder durchzuckte sie ein Gedanke, den sie energisch zurückwies. Sie ging weiter. Das Bum-bum der großen Trommel, das deutlich herübertönte, wies ihr den Weg nach dem „Weißen Engel".

III Hugo saß vor seinem Bier und drehte mit Eifer an seinem roten Schnurrbart. Er fühlte sich von Partei wegen nicht wohl bei dem „Weißen Engel" und seine munteren Äuglein blickten recht trist. Die verdammten Mädels mit ihrer Tanzwut hatten ihn da hineingelockt, und schließlich würde es ihm selbst gefallen, die eine und die andere um den Leib zu fassen, und sich mit ihnen zu drehen. Das Netterl aber fand so viele Tänzer, sie flog von einem Arm in den anderen, nur nicht in den seinen, das schmerzte ihn. Aber würde seine schlaue Taktik, eine gegen die andere auszuspielen, sich auch diesmal bewähren? Sobald er mit Suse im Tanzsaal erschien, war auch das Netterl da, sie gönnte ihn doch keiner anderen. Er war daher sehr enttäuscht, als er seine Schwester allein daherkommen sah. Schon an ihrem Gang merkte er, daß sie wütend war. „Ui, das geht schief," dachte er, und wäre am liebsten ausgekniffen, aber schon stand sie vor ihm und ließ sich aufächzend in einen Stuhl fallen. 142

„Ein Glas Bier," rief sie dem vorbeieilenden Kellner zu. Hugo sah sie an, mit schüchternem Frageblick: „Nun?" „Die Gans!" stieß sie zwischen den Zahnen hervor. „Sie kommt also nicht?" „Fällt ihr nicht ein, sie sitzt beim Karl und ißt Salami. — Hören Sie denn nicht, a Bier will i haben", schrie sie den Kellner an. „Sie wird schon kommen, wenn sie mit der Salami fertig ist," lächelte Hugo. „Du bist ein Esel." „Weshalb denn?" fragte er gutmütig. „Weil du glaubst, alle Mädels laufen dir nach, die Suse läßt dir sagen, sie pfeift auf dich." „Das ist nicht wahr." „War'st selber 'gangen, dann hätt'st es hören können; überhaupt, wenn du glaubst, daß ich dir noch einmal das Bummerl bei deinen Liebschaften mach', dann irrst du dich — ich hab's satt." Sie hatte heftig in gedämpftem Tone gesprochen, sie konnte nicht weiter, die Zunge klebte ihr am Gaumen, und ihrem Temperament nachgebend fing sie mit den leeren Gläsern zu klopfen an und laut über die schlechte Bedienung zu schimpfen. „So was gibt's nur beim,Engel', haben eh' nix zu tun, die Lackeln, aber wenn einer was haben will, kann er sich's selber holen." Der Kellner brachte das Bier, verbat sich aber den rüden Ton. „Na, vor Ihnen werd' ich mir einen Maulkorb anhängen lassen, Sie Grobian." — Die Wirtin trat nun herzu: „Wenn's den Herrschaften nicht recht ist, müssens' halt weiter gehen," bemerkte sie und auf die roten Abzeichen deutend: „Sie gehören ja sowieso nicht herein." Hugo, der bisher durch Zupfen am Ärmel Maü zur Raison bringen wollte, fand es nun angezeigt, gegen diese Art des Hinauswurfs zu protestieren. Das Wort wurde wiederholt und zündete. Bald war der Tisch von zwei Parteien belagert, die einen, die sich gegen die Wirtin erklärten, die anderen, die protzig ihr Hausrecht üben wollten. Der Streit wurde, durch Mali angefacht, heftiger und lauter. Neugierige drängten herzu: „Was ist denn los? Was gibt's denn?" Eine Genossin sei bedroht, hieß es, und ehe die 11»

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herbeieilenden Ordner intervenieren konnten, war der Garten von Genossen und Genossinnen und ihren antisemitischen Gegnern übervoll. Was man befürchtete und durch strikte Verordnungen hintanhalten wollte, einen Zusammenstoß dieser feindlichen Elemente, war geschehen. Indes, man focht nur mit Worten, unter dem ohrenzerreißenden Getöse der Blechmusik. Man verlangte, daß sie aufhöre, aber lauter und gellender schmetterten die Trompeten, raste die große Trommel. Ein Schreien, Pfeifen und Heulen brach los, um diese Musik zu übertönen. Es gab einen Höllenspektakel. Diejenigen, die a Hetz' lieben, konnten dabei ihre Rechnung finden. Wachtieute erschienen und wurden mit Pfiffen empfangen. In diesem Moment wachsender Erregung wurde ein Stein gegen die Fenster des Tanzsaales geschleudert, eine der großen Scheiben fiel klirrend in Trümmer. Wer dieses Bubenstück verübte, erfuhr man nie. Die Masse der Kinder, die von der Musik angelockt, vor den Fenstern standen und vergnügt dem Tanze zusahen, kreischten auf und flüchteten hinweg. Die Tänzer strömten aus dem Saale. Die Musik schwieg, aber das Gedränge nahm zu. Die amtierenden Ordner sahen sich einer unorganisierten, undisziplinierten Schar gegenüber. Sie verbrauchten die Kraft ihrer Lungen in Aufforderungen und Bitten, in Ruhe das Lokal zu verlassen. Das war auch leichter gesagt als getan. Der einzige Ausgang aus dem Garten war viel zu eng und von außen von den hinzuströmenden Massen förmlich blockiert. Indes hatte die Wache Sukkurs erhalten. Berittene Schutzmannschaft jagte im Galopp heran, die Pferde übersetzten den Zaun, ihn zum Teil demolierend; sie ritt in den Knäuel von Menschen hinein, die schreiend auseinanderstoben. Die Empörung war allgemein. Man warf mit Bierkrügen auf diese Hüter der Ordnimg und einer derselben traf einen Kommissar auf die Nase; er blutete. Und nun geschah, was schon so oft geschehen und sich mit Regelmäßigkeit, wie nach einer Schablone, stets wiederholt: Bewaffnete brauchten Gewalt gegen Unbewaffnete. Ohne Überlegung und System griffen sie sie bald von vorne, bald von rückwärts an, und statt zu beruhigen, trieben sie die Massen zur Raserei. Die Bewegung hatte sich be144

reits auf die anstoßenden Lokale verpflanzt, die Angst der Aufsichtsorgane war einigermaßen begreiflich. Militär ward requiriert und eine Kompagnie Bosniaken zog in den Prater ein. — Indes saßen Karl und Suse ruhig und doch so bewegt nebeneinander. Sie blickten nach den Bäumen, die von der tiefstehenden Sonne glühend beleuchtet waren. Ein Widerschein dieser Glut lag auf ihren jungen Gesichtern. Hie und da fiel ein Wort, leise, beklemmt. Suse fand es sonderbar schwül gegen Abend. Karl beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen, so aufmerksam, als könne er sein Lebenslos von ihren Zügen lesen. Sie senkte langsam die Augen vor diesem Blick, während eine Blutwelle ihr Hals und Nacken noch dunkler färbte. Da überströmte ihn ein Gefühl von Glück, so wonnevoll, wie er es noch nie vorher empfunden. Er hatte in diesem Augenblick das deutliche Bewußtsein, daß er liebe, zum erstenmal in seinem Leben, und wieder geliebt werde. Aufjauchzend hätte er das liebe Ding in seine Arme schließen und küssen mögen; aber schon traf das trunkene Herz die Mahnung, sich zu bezwingen. „Wenn du es tätest, du wärst ein Schuft," sagte er sich, „sie hat dein Wort, du mußt Suse vergessen!" Trotz dieses löblichen Vorsatzes wendete er seine Augen nicht ab von dem lieblichen Antlitz. Natur und Zufall hatte zusammengeführt, was zusammengehörte, und sie mußten sich trennen. Sie waren den Vorgängen um sich herum völlig entrückt gewesen und hatten die steigende Unruhe nicht bemerkt, Leute liefen an ihnen vorüber und jetzt rief ein Genosse ihm zu: „Beim Engel gibts Krawall — sie haben die Fenster eing'schlagen — die Wache ist eingeschritten — es soll dort schauerlich zugehen!" Karl sprang auf, er dachte an Ida und Netterl. , ,Es waren Genossen dort?" „Eine Dummheit, sie hatten dort nichts zu tun, jetzt freilich läuft alles hin." Auch ersetzte sich in Bewegung, blieb jedoch wie gebannt stehen, als der Ruf ertönte: „Soldaten kommen!" Bosniaken rückten heran, mit aufgepflanztem Bajonett. Sie hatten Ordre, die dem „Weißen Engel" zunächst liegenden Lokale zu räumen. 145

Ein Kommissar ging voran und erließ die Aufforderung, sich zu entfernen. Die Arbeiter waren verblüfft. Sie konnten den Vorgang nicht fassen, nicht begreifen. Wie, — sie saßen hier ruhig und vergnügt beim Bier, mit Weibern und Kindern, und man rückte ihnen mit blanken Bajonetten an den Leib? Pfuirufe ertönten, die Mehrzahl blieb sitzen. Solange sie sich ruhig verhielten, konnte man doch nicht ernstlich daran denken, sie zu vertreiben. „Abzug! Abzug!" schrie man den Infanteristen zu, als diese sich näherten. Außerhalb des Lokals erhob sich ein gewaltiges Hailoh. Die Führer, welche beim „Bären" ihr Quartier aufgeschlagen, waren von den Ereignissen ebenfalls überrascht worden und sie erkannten die Gefahr in ihrem vollen Umfange. Diese ungeheuren Massen, diese Tausende, in ihrer Freude aufgestört, brutal bedroht, wohin konnte das führen? Es war kaum auszudenken! Man sah einige der einflußreichsten und beliebtesten Führer in einer Droschke über die Wiese fahren. Sie standen aufrecht im Wagen und haranguierten die Menge mit Wort und Gebärde, sich nicht provozieren zu lassen, die Lokale zu verlassen und sich in den Auen zu zerstreuen. Aber bald kam der Wagen in ein so dichtes Gedränge, daß er nicht weiter konnte; sie mußten aussteigen. Auch Karl hatte den Ernst der Lage begriffen. Er nahm Suses Hand: „Haben Sie Angst?" fragte er sie. „Nein," sagte sie fest. „Dann wollen wir tun, was wir können, um den Leuten klar zu machen, daß sie fort müssen." Und von Tisch zu Tisch eilend, wiederholte er die Aufforderung des Kommissars. Suse sekundierte ihm tapfer: „Geht doch, geht!" flehte sie, „es ist ja kein Spaß." „Ach was, ich bleib!" — „Wir werden uns die Maifeier nicht verderben lassen von diesen Bosnikeln," und einer, der schon etwas geladen war, lallte ihr zu: „ F werd' doch wenigstens mein Bier austrinken dürfen, no, wär nit übel." Da sprang Karl auf einen Tisch und mit weithin vernehmbarer Stimme bat er in eindringlichen Worten, sich zu 146

fügen und danach zu trachten, hinauszukommen. Er wurde von den Bosniaken verjagt, die ihn nicht verstanden. Indes waren die Ordner nicht müßig gewesen. Sie hatten an mehreren Stellen den Zaun niedergerissen, um eine rasche Entfernung des Publikums zu ermöglichen. Sie hatten sich heiser geschrieen, ihre Kräfte waren erschöpft; aber sie waren schier unermüdlich. Im Sturm kamen jetzt die Massen daher, vor den Bajonetten flüchtend, und setzten über die Bresche. Karl und Suse — er hatte schützend seinen Arm um sie geschlagen — gehörten zu den letzten, die das Lokal verließen. Man befand sich in der kleinen Zufahrtstraße, welche von Gebüschen umsäumt und von einer tosenden Menge erfüllt war. Auch die Besonnensten waren aufs äußerste gereizt, als eine Eskadron Kavallerie heransprengte und in der Straße, fünf Pferde in einer Reihe, die ihre ganze Breite beanspruchten, Aufstellung nahm. Waren sie deshalb mit Bajonetten aus dem Lokal vertrieben worden, um hier unter die Hufe der Pferde zu kommen? Die Reiter saßen indes aufrecht und regungslos in den Sätteln, wie aus Stein gehauen. Arbeiter versuchten, an die Zäune gepreßt, sich an den Pferdeleibern vorbei zu schieben, andere, mit Weibern und Kindern, drängten nach der entgegengesetzten Richtung. Aber hinter den Gebüschen hatten Wachtieute, die auf der Straße keinen Platz gefunden, Posto gefaßt und, zwischen den Zweigen hindurch, hieben sie mit den Säbeln auf die Vorüberdrängenden ein, so ihrerseits für ein rasches Fortkommen Sorge tragend. Da brach ein Wutgeheul los. Jeder dachte nur mehr daran, die Elenden zu züchtigen, die aus dem Hinterhalt auf wehrlos Flüchtende mit der Waffe einhieben. Mit Stöcken gingen die Männer auf sie los, mit Schirmen die Frauen, hageldicht prasselten die Schläge auf ihre Hände, auf ihre Helme nieder, sie würden der Übermacht weichen müssen. Da ertönte der laute Befehl des Leutnants. Gleich darauf hörte man das in seiner Präzision zu einem Ton vereinte Spannen der Gewehrhähne. Alle hörten es, es machte das Blut erstarren. Dann löste sich die momentane Beklemmung in einem Schrei: sie werden schießen! Es war ein kritischer Moment. 147

Aber schon hatten Ordner sich gewaltsam Bahn gebrochen und, der eigenen Gefahr nicht achtend, sprangen sie gegen die Wachtieute hin und verlangten und beschworen sie, die Säbel einzustecken, aber diese, blind vor Erregung, hieben selbst auf die Ordner ein. Auch Karl, der ein weißes Tuch tun den Arm gewickelt, rückte näher, mit vorgehaltenen Händen seinen Kopf schützend, Suse war zurückgedrängt worden. Als sie in dem Karl gegenüberstehenden Wachtmann Klakel erkannte, erschrak sie. Der gibt keinen Pardon und, sich verzweifelnd nach Hilfe umsehend, bemerkte sie einen Kommissar, der die Exzedenten anschrie, von ihnen kaltes Blut und ruhigen Abzug heischend. Mit einem Sprung war sie bei ihm, faßte ihn am Arm und ihn herumreißend, zeigte sie mit dem Finger auf Karl : „Man wird ihn töten, helfen Sie doch!" Seine Augen folgten der Richtung und mit Wort und Gebärde gebot er ein kräftiges „Halt!" „Das ist Dr. Adler, zurück!" Er hatte in einem der Intervenierenden den hervorragenden Führer erkannt. Es war die höchste Zeit. Dr. Adler war von dem nach ihm gezückten Säbel gerettet, Karl von einem Hieb getroffen. „Helfen Sie mir doch, Herr Doktor, die Leute zur Ruhe bringen," wandte sich der Kommissar an den von den Arbeitern geliebten Führer, „es ist nichts mit ihnen anzufangen, sie sind rein verrückt." Dr. Adler wollte sich für einen ruhigen Abzug verbürgen. „Vor allem aber lassen sie ihre Leute ihre Säbel versorgen," bat er. Es geschah. Die Gefahr eines weiteren Zusammenstoßes war abgewendet. Suse war wieder an Karls Seite. „Sie sind verwundet, sie bluten," rief sie, auf seinen Arm deutend, von dem Blut herabrieselte. Er blickte in ihr verstörtes Gesicht. „Es ist nichts," sagte er ruhig, „aber ich will mich verbinden lassen." „Die Ambulanz der Rettungsgesellschaft ist ganz in der Nähe," sagte ein Genosse, „ich führe Sie." Suse blieb an seiner Seite, tapfer die Püffe der Vorbeidrängenden von ihm abwehrend oder für ihn empfangend. Sie waren in der Ambulanz. Eine Anzahl Verwundeter, darunter auch Wachtieute, waren bereits hier eingetroffen. 148

Karl wurde sogleich vorgenommen, der Ärmel aufgetrennt, die Wunde untersucht. „Ist's gefährlich," fragte Suse leise den Arzt; dieser sah sie an und lächelte. „Kaum zwei Zentimeter tief, nur im Fleisch, acht Tage Ruhe, dann haben Sie ihn wieder." Und als sie sich entfernen wollte, „Bleiben Sie, Sie können mir assistieren. Es fehlt an Personal." Der Verband war angelegt, er warf ihr die Binde zu. „Da können Sie weiter wickeln, ich sehe mir's dann noch an," und er trat zu dem nächsten Verwundeten. Karl saß auf einem Stuhl, sie auf einem Schemel zu seinen Füßen. Über seinen Arm gebeugt, wickelte sie emsig und ihre Haltung war voll Hingabe, die Lippen stumm. „Da ist er ja!" rief eine Stimme, freudig bewegt von der Tür her. Es war Ida. Sie hatte von Karls Verwundung gehört und ihn hier aufgesucht. Als sie das junge Mädchen bemerkte, stutzte sie. Suse hatte aufgeblickt. Die Binde entfiel ihren Händen und entrollte sich am Fußboden. Ida hob sie auf und hielt sie ihr hin. Suse zögerte, sie zu nehmen. „Willst du nicht selbst?" fragte sie zagend in unbeschreiblicher Verwirrung. Ida entgegnete fast hart: „Was du angefangen hast, mußt du zu Ende führen." Suse arbeitete weiter, aber ihre Hände zitterten. Karl erzählte Ida, wie alles gekommen, und wußte sie über seine Verwundimg zu beruhigen. „Und wo bist du gewesen, wo ist meine Schwester?" fragte er. „Sie hat mir geholfen, die Kinder fortzubringen." Ida hatte das Netterl glücklich gefunden und stand im Tanzsaal an ihrer Seite, als die Steine geflogen kamen, die die Fenster zertrümmerten. Sie hatte vorausgesehen, was kommen würde, und dachte sofort an die Kinder. Es war ihr gelungen, sie zu sammeln und, noch ehe die Kavallerie in den Garten sprengte, durch ein Hinterhöfchen zu entfernen. „Jetzt sind sie auf der Wiese und Netterl ist bei ihnen." „Verzeihen Sie mein Eindringen," sagte sie zu dem Arzt, der wieder herankam, und zu den beiden gewendet: „Ich erwarte euch draußen." 149

Die Wiesen lagen vor ihr im Abendsonnenschein. Hier war es ruhig und still, der Lärm der erregten Menge drang nicht bis hierher. Aus einiger Ferne erscholl das fröhliche Lachen der Kinder, die auf der Wiese sich jagten, im Grase sich wälzten. Ida ging langsam mit gesenktem Haupte dahin. Sie konnte nicht länger zweifeln, sie wußte genau, wie es um diese beiden stand, die beide ihrem Herzen so nahe waren. Ihr sonst so gleichmäßiger Puls ging wie im Fieber, sie befand sich in großer seelischer Erregung. Mußte sie entsagen? Freiwillig einem Glück entsagen, an das sie so fest geglaubt, daß ihr nicht einmal der Gedanke gekommen war, es könnte ihr jemals entrissen werden. Aber gibt es für sie ein Glück ohne das seine ? Und würde er glücklich sein an ihrer Seite, nachdem — Er liebt das Mädel und er wird geliebt! Was willst du da noch? Eine Bank stand hier unter den Bäumen, sie sank darauf, überwältigt von den verschiedenartigsten Gefühlen und preßte ihre Hände gegen das zuckende Antlitz. Gedämpft drangen die Töne eines Kinderreigens an ihr Ohr, die Kinder tanzten und sangen dazu. Allmählich schwand die Spannung aus ihren Zügen. Sie horchte auf diese einfachen Weisen, die hellen Stimmchen, und erlösende Tränen fielen aus ihren Augen. Jetzt raschelte es im Grase, es waren die Erwarteten. Ida wußte sich ihnen bemerkbar zu machen, und sie kamen sofort auf sie zu. Sie sahen beide sehr blaß und ernst aus — bemitleidenswert. Mit der Hand lud sie Suse ein, sich neben sie zu setzen, Karl blieb vor ihr stehen. Mit einem offenen Blick sah er in ihre Augen; er wollte sprechen und war doch keines Wortes mächtig. Da verzog sie ihren breiten Mund zu einem gutmütigen Lächeln, und leise mit dem Kopfe nickend, während sie ihn unverwandt ansah, sagte sie: „Du hast mir vieles zu sagen, denke ich, warum zögerst du? — zweifelst du an deiner alten Kameradin?" „Ich an dir zweifeln, Ida?" Es klang sehr gepreßt. „Und du weißt auch, daß ich mir keinen Pflanz vormachen laß' und den Dingen lieber ins Auge seh'." „Ja, du bist mutig, du siehst klar." „Meinst du? Nun ich glaube, auch dir ist manches klarer geworden, und du weißt, was du willst und was du sollst." 150

Verhaltene Leidenschaft lag in dem Ton, in dem er entgegnete: „Was ich soll, ist das so einfach? — was ich will? — Ida, ich fühle mich schwach und unwissend und — gebunden." „Du bist frei, Karl," sagte sie ruhig, und als Suse eine Bewegung machte, wendete sie sich ihr zu: „Nun, Süsel, bist du mit dieser Erklärung zufrieden ? " . . . Sie hatte über sich selbst gesiegt. Und war sie auch eine Verlassene, sie wird nicht einsam sein, nicht ohne Ziel und Zweck in der Welt stehen. Ihr tapferes Herz verlangt nach weiteren Kämpfen und weiteren Siegen, großen und allgemeinen IV Der Rückmarsch aus dem Prater hatte sich später als er geplant war, aber in aller Ruhe vollzogen. Es war Nacht geworden, als Krüger nach seiner Behausung zurückkehrte. Man sah ihm an, daß er einen schweren Dienst gehabt. Die höchsten Anforderungen an Besonnenheit, Pflichttreue und Opfermut waren heute an die Ordner gestellt worden. Er war erschöpft, mit Staub bedeckt, seine Augen waren entzündet, seine Lippen verdorrt, die Kleidung war in Unordnung, und seine Füße brannten ihm in den Stiefeln. „Dummheit, Dummheit!" stieß er hervor. Dann schlössen sich wieder die kräftigen Lippen. Die Geschehnisse des Tages standen in aller Lebendigkeit vor seinen Augen. Blut war geflossen für ein Nichts — wahrlich, es lag nicht an den privilegierten Ordnungsmachern, daß nicht unter friedlichen Menschen ein Blutbad angerichtet wurde. Es schüttelte ihn wie im Fieber. Er spürte es in allen Knochen, was es gekostet hatte, die empörte Menge zu bändigen. Ohne uns hätten sie's nicht fertig gekriegt — nun, auch sie hatten einen Denkzettel davongetragen. Konnte man sich darüber freuen, waren sie nicht auch Söhne des Volkes? Unzufriedenheit und Beschämung, daß ihr Maifesttag, der Tag der Arbeiter, nicht so würdig verlaufen war, wie er sollte, bohrten sich wie Stachel in seine Seele. Wozu das alles? Darf es sich wiederholen? Nur, wenn wir wollen, soll unser Blut fließen, nur dann, wenn es für uns Pflicht 151

und Notwendigkeit geworden ist, es zu vergießen. Aber haben wir das in unserer Gewalt? Sind das nicht Vorzeichen und Phasen des großen Kampfes, der allerorten entbrannt ist? Er befand sich vor seiner Tür und zögerte, sie zu öffnen. Was erwartete ihn? Einen Augenblick lehnte er sich an die Türfüllung, gleichsam seine Kräfte sammelnd, dann trat er ein. Nichts rührte sich, kein Laut durchwehte den dunklen Raum. Nur dort, dem Fenster zunächst, glimmte ein winziges Licht. Ein Schimmer fiel auf das Kinderbettchen, das man dahin geschoben. Ein schwerer Seufzer, einem Stöhnen gleich, entrang sich der Brust dieses kräftigen Mannes. Er sah nicht näher — wozu? Er wußte, was dort in dem kleinen Bettchen lag—starr und unbeweglich. Langsam bewegte er sich den nebeneinander stehenden Betten zu, da war sein Weib. In ihren Kleidern hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und vom Weinen ermattet, war sie eingeschlafen. Er beugte sich über sie. Der Gram hatte in erschütternder Weise seine Zeichen in das junge Gesicht gegraben. Sollte er sie wecken, damit sie sich vollends entkleide? „Nein, laß sie schlafen. Schlafen ist Vergessen. Es ist das beste, was wir noch haben," sagte er in Gedanken, ohne zu denken. Da riß es ihn empor... Nein, nicht schlafen, wir haben schon zu lange geschlafen, wachen müssen wir, erwachen zur vollen Erkenntnis dessen, was ist, was sein soll und was sein kann, unausgesetzt wachen, damit wir wissen, wann wir den Sprung zu wagen haben, der Freiheit entgegen. Und wenn ihr uns heute noch versagt, was wir Arbeiter zum Leben brauchen, und wenn ihr uns alles raubt, an das wir unser Herz gehängt haben, eins würdet ihr uns nicht rauben, und es wächst und wächst mit dem Elend: die K a m p f e s f r e u d e .

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NACHWORT

Die Werke Minna Kautskys haben sich nur in wenigen Exemplaren erhalten. Sie wurden ihrer politischen Tendenz wegen kaum in öffentliche Bibliotheken eingestellt; die privaten Sammlungen und die Arbeiterbüchereien, in denen sie enthalten waren, sind in der Zeit des Faschismus zu einem großem Teil vernichtet worden. Die vorliegende Anthologie will lediglich einen ersten Einblick in das schriftstellerische Schaffen Minna Kautskys geben. Dazu wurden Abschnitte aus ihren Romanen gewählt, die besonders deutlich machen, daß sie einen wesentlichen Beitrag zur sozialistischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts geleistet hat. Die — bis auf unwesentliche Abschnitte vollständig abgedruckte — Erzählung „Ein Maifesttag" zeigt, daß sie auch nach dem Eindringen des Revisionismus in die Arbeiterbewegung an den Idealen der heroischen Periode der Sozialdemokratie festhielt. Die ausgewählten Texte sind buchstabentreu nachgedruckt; einige offensichtliche Druckfehler (vor allem fehlende oder überflüssige Anführungsstriche bei direkter Rede) wurden verbessert. Kürzungen wurden durch Punkte (...) gekennzeichnet, im Text vorhandene Punkte durch Bindestriche (—) ersetzt. Die Anmerkungen verzeichnen die Druckvorlagen und geben kurze Hinweise zur Entstehung und Bedeutung der Texte. Wort- und Sacherklärungen wurden nur dann vorgenommen, wenn weder der „Duden" noch das „Fremdwörterbuch" oder das achtbändige Lexikon des Verlages Bibliographisches Institut, Leipzig, die in Frage kommenden Worte oder Begriffe erklären. Bei meiner Forschungsarbeit über das Leben und das Werk Minna Kautskys wurde ich von vielen Seiten unter153

stützt. Besonderen Dank schulde ich den Mitarbeitern der Bibliothek und des Archivs des Instituts für MarxismusLeninismus beim ZK der SED in Berlin und des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam sowie Frau Dr. Gerda Kautsky in Wien. Für Auskünfte über die Druckgeschichte der Erzählung „Ein Maifesttag" danke ich Herrn Ernst K. Herlitzka, Schriftführer des Wiener „Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung." Dr. Cäcilia Friedrich Nachbemerkung der Herausgeber Das Herausgeberkollegium der „Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland" sah sich veranlaßt, hinsichtlich der Orthographie beim Abdruck der Texte nach den alten Drucken doch eine gewisse Vereinheitlichimg und Modernisierungen vorzunehmen. Der Lautstand bleibt unverändert und bestimmte für das Zeitkolorit charakteristische Schreibweisen werden ebenfalls nach wie vor getreu übernommen. Dagegen erwies es sich als zweckmäßig, den Gebrauch des th oder der Endung auf -ieren und weitere Formen, bei denen es bereits zur Zeit der Entstehung der Texte zu unterschiedlicher Anwendung kam, im Interesse des Lesers und der Textvorlage zu modernisieren. Bruno Kaiser

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ANMERKUNGEN ZUR EINLEITUNG

1 In den von bürgerlichen Autoren herausgegebenen Handbüchern und Lexika der österreichischen Literatur wird Minna Kautsky bezeichnenderweise kaum erwähnt. Die Geschichte der österreichischen sozialistischen Literatur ist bisher kaum erforscht, so daß eine fundierte Einordnung in deren Entwicklung bisher kaum möglich ist. 2 Minna Kautsky: (Autobiographische Skizze). In: In freien Stunden, 13. Jahrgang, 2. Halbjahresband, Berlin 1909. 3 Karl (geb. 1854), Minna (geb. 1856), Fritz (geb. 1857), Hans (geb. 1864). — Minna heiratete einen reichen bürgerlichen Finanzier, Franz Roth, lebte aber in unglücklicher Ehe (was seine literarische Darstellung in Minna Kautskys Roman „Helene", 1. Buch, fand); Fritz und Hans wurden Theatermaler, erreichten allerdings nicht die Bedeutung ihres Vaters. 4 Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, 'S-Gravenhage i960, S. 103. 5 Zur Bedeutung von Johann Kautsky vgl. Thieme/Bekker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, 20. Band, Leipzig 1927; Friedrich v. Boetticher: Malerwerke des neunzehnten Jahrhunderts, 1. Band, 2. Hälfte, Leipzig 1948, S. 696. 6 Minna Kautsky hat noch 1910 ein einaktiges Theaterstück geschrieben, das allerdings nur zur Aufführung in der Familie Kautsky bestimmt war (vgl. Eva und Franz Mehring an Minna Kautsky, 10. 6. 1910, Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam). 7 Karl Kautsky: Erinnerungen, und Erörterungen, a. a. O., S. 300. 8 Vgl. Anmerkung (2). 9 Minna Kautsky an Franz Brümmer, 7. 11. 1883 ( = Lebenslauf von 1883), Westdeutsche Bibliothek, Marburg. 155

10 Das positive Urteil der Familie Marx über den „Stefan vom Grillenhof" ist allerdings nur aus einem Brief des etwas fragwürdigen, zu Übertreibungen neigenden opportunistischen Politikers Louis Viereck bekannt (Louis Viereck an Minna Kautsky, 25. 1. 1881. In: Friedrich Engel's Briefwechsel mit Karl Kautsky, Wien 1955» S. 30f.). 1 1 Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!, Berlin-Wien o- J- (1917). S. 3*212 Hans Koch: Marxismus und Ästhetik, Berlin 1961, S. 231. 13 Karl Kautsky an Friedrich Engels, 21. 8. 1885. In: Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, a. a. O., S. 182. 14 Karl Kautsky an Engels, 21. 8. 1885. In: Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, a. a. O., S. 182. Minna Kautsky an Engels, 10. 5. 1886, Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED, Berlin (Fotokopie). 15 Karl Kautsky an Engels, 21. 8. 1885. In: Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, a. a. O., S. 182. 16 Eine andere Beurteilung des Briefes von Engels und des Romans „Helene" findet sich bei Helga Herting: Der Aufschwung der Arbeiterbewegung um 1890 und ihr Einfluß auf die Literatur, Diss. Berlin 1961. 17 Franz Mehring: Minna Kautsky. In: Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel (Gesammelte Schriften, Band 11), Berlin 1961, S. 451. 18 Klara Zetkin: Minna Kautsky. In: Die Gleichheit, 23. Jahrgang, Nr. 8, 1913, S. 1 2 1 . 19 Minna Kautsky: Ein Maifesttag. In: Illustrierter Neuer Welt-Kalender, Hamburg 1907, S. 36. 20 Vgl. Fritz Klein: Deutschland von 1897/98 bis 1917 (Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge), Berlin 1961, S. 147. 21 Marie Kunert: Minna Kautsky. In: Die Neue Welt, 32. Jahrgang, Nr. 23, 1907, S. 179. 22 Die Briefe der Fränkischen Verlagsanstalt, Nürnberg, befinden sich im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam. 23 Franz Mehring: Minna Kautsky, vgl. Anmerkung (17).

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ANMERKUNGEN ZU DEN TEXTEN

Stefan vom Grillenhof Abdruck nach: M. K a u t s k y , Stefan vom Grillenhof, Erster Theil (Neue-Welt-Novellen I), Leipzig (Druck und Verlag von W . Fink) 1881, S. 217—231 ( = Die Assentierung). Zur nationalen Bedeutung des Krieges von 1866 vgl. Ernst Engelberg, Deutschland von 1849 bis 1871 (Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge), Berlin 1951, S. 1830. Die Alten und die Neuen Abdruck nach: M. K a u t s k y , Die Alten und die ¡Neuen, Erster Band, Leipzig (Carl Reißner) 1885, S. 20—30 ( = Die Salzarbeiter I), Zweiter Band, S. 35—54 ( = Die Salzarbeit e r II). Minna K a u t s k y h a t zur Darstellung der Lage der Salzarbeiter und ihres beginnenden Klassenkampfes eingehende Vorstudien getrieben (vgl. dazu ihren Aufsatz „ S t a a t s arbeiter und Heimindustrie im Salzkammergut", in: Die Neue Zeit, I I I . Jahrgang, Stuttgart 1885). 1878 kam sie zum ersten Mal persönlich nach Hallstadt; sie suchte Konrad Deubler auf, einen im Salzkammergut bekannten Vorkämpfer der fortschrittlichen Bewegung, und lernte in Josef Viertbauer einen Funktionär der organisierten Arbeiterschaft Hallstadts kennen. Mit Deubler und Viertbauer stand Minna K a u t s k y noch jahrelang in Brief verkehr. 1889 veröffentlichte Minna K a u t s k y im „österreichischen Arbeiter-Kalender" mit der Erzählung „ D i e B r a n d s t a t t " eine Fortsetzung des Romans. Victoria Abdruck nach: Minna K a u t s k y , Victoria, Zürich (VerlagsMagazin J. Schabelitz) 1889, S. 26—29 ( = Die Spinnfabrik), S. 70—78 ( = Proletarier und Handwerker), S. 110—116 ( = Streikszene). 12

Minna Kautsky

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Die Spinnfabrik: „Aber denen Protschpaks muß es gehörig auf's Fell geschrieben werden . . . " : = Prochäzka; typischer tschechischer Familienname, wie etwa im Deutschen Schulze, Meyer, Müller u. ä. Hier repräsentativ für „die Tschechen".

Helene Abdruck nach: Minna Kautsky, Helene, Stuttgart (Verlag von J. H. W . Dietz) 1894, S. 194—209 ( = Im Lazarett), S. 257—265 ( = Beim Versand des „Sozialdemokrat"), S. 271—293 ( = Unter russischen Revolutionären), S. 312— 319 und 340—346 ( = Der rote Postmeister und Schloß Wyden). Über diesen Roman haben sich Minna Kautsky selbst, Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht brieflich geäußert. An Moritz Necker schrieb Minna Kautsky am 19. Oktober 1894: „ I c h versuche darin die Schilderung der modernen sozialen Verhältnisse, die, nachdem sie die patriarchalische Familie aufgelöst haben, auch für die Frau eine Umwälzung herbeiführen, ohne die eine Weiterentwicklung im ethischen und physischen Sinne nicht denkbar wäre. Ich wollte in .Helene' keine Emanzipierte zeichnen, sondern ein einfaches, schlichtes Wesen aus kleinbürgerlicher Familie, in der die alten Traditionen noch am lebendigsten sind. Aber die Verhältnisse sind stärker als sie und der Umwandlungsprozeß geht unhaltsam vorwärts. Die im III. Buch geschilderten Parteiverhältnisse in Zürich, während das Sozialistengesetz in Deutschland wütete — 1880 — sind nach der Natur gezeichnet. Ich bringe da zumeist Selbstgeschautes-Miterlebtes . . . " (Handschriftenabteilung der Stadtbibliothek Wien). Auch in den Briefen Minna Kautskys an Auguste Fickert wird der Roman erwähnt, vgl. dazu die in der Einleitung, zitierten Briefe vom 27. 9. 1893, 1. 12. 1893, 26. 2. 1896 (Handschriftenabteilung der Stadtbibliothek Wien). In diesen Briefen lehnte sie „als Sozialdemokratin" (26. 2. 1896) die Politik des Allgemeinen österreichischen Frauenvereins ab und erklärte dabei: „ I c h erwarte z. B. nichts von einer Petition an den Reichsrat, das Frauenstimmrecht betreffend und habe mich gegen diese seperatistischen Aktionen der Frauenrechtlerinnen ziemlich scharf in meinem letzten Roman ( = „Helene", C. F . ) gewendet, der in einigen Wochen erscheinen wird" (1. 12. 1893).

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Friedrich Engels schrieb am 21. 3. 1894 Sorge: „Hast Du im Vorwärts den Roman Helene von der alten Mutter Kautsky gelesen? Sie bringt eine Masse lebender Parteigenossen auf die Bühne, u. a. Motteier und seine Frau, er ist ein schlechter Abklatsch des Gregor Samarin(Spion Meding) sehen Reklameromans. Ich bin begierig ob das so ruhig hingeht, ich wundere mich einigermaßen, daß der Vorwärts das genommen, Mutter Natalie Liebknecht censiert da das Feuilleton" (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Mikrofilm). — Die Bezeichnung des Romans „Helene" als eines „Romans von halbem Boulevard-Typus" stammt also nicht von Engels, sondern von M. Lifschitz (vgl. Marx/Engels, Über Kunst und Literatur, Berlin 1949, S. 487). — Gregor Samarow, dessen eigentlicher Name Oskar Meding war, ließ in einer ganzen Reihe seiner sensationell aufgemachten, apologetischen Romane Zeitgenossen auftreten, von Kaiser und Königen bis zu bekannten Arbeiterführern. Die Schilderung der Tätigkeit W. Liebknechts, Bebels, J . Ph. Beckers in „Gold und Blut" (1879) ist jedoch ebenso wie die der internationalen Arbeiterbewegung in „Sühne und Segen" (1880) gegen das Proletariat und seine Vorkämpfer gerichtet. Wilhelm Liebknecht schrieb am 1. 3. 1894 an Julius Motteier: „Wie gefällt Dir die, Helene' und der, Tante'? Ihr habt da Eure künstlerischen Konterfeis — natürlich sehr .frei' nach der Natur, aber doch gut" (Internationales In-; stitut für Sozialgeschichte, Amsterdam). Der Krieg in diesem halbzivilisierten Lande . . .: In Minna Kautskys Behandlung des Krieges klingt der Eindruck nach, den sie von Wereschtschagins Gemälden empfangen hatte (vgl. dazu ihren Aufsatz „Wassili Wereschagin", in: Die Neue Zeit, IV. Jahrgang, Stuttgart 1886). Ihre genauen Kenntnisse über den Verlauf der militärischen Operationen (vgl. F. K. Fortunatow, Der Krieg 1877/1878 und die Befreiung Bulgariens, Berlin 1953) entstammen jedoch nicht den Erinnerungen des russischen Malers (Skizzen und Erinnerungen, Leipzig 1885), sondern zeitgenössischen Berichten. Bei der Einschätzung des Krieges vertrat sie die Ansichten der deutschen Sozialdemokratie, deren Sympathien auf türkischer Seite lagen (vgl. Wilhelm Liebknecht, Zur orientalischen Frage, Leipzig 1878; Friedrich Hertneck, Die deutsche Sozialdemokratie und die orientalische Frage im Zeitalter Bismarcks, Diss. Leipzig 1927). — Das Wirken der freiwilligen russischen Ärztinnen und Schwestern hat 12»

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damals großen Eindruck gemacht (vgl. Clara Zetkin, Die russischen Studentinnen, in: Die Neue Zeit, 6. Jahrgang, Stuttgart 1888). Unter russischen Revolutionären: Die Darstellung der verschiedenen Strömungen unter den russischen Revolutionären stimmt im wesentlichen mit der Einschätzung überein, die in der „Geschichte der K P d S U " (Berlin i960, S. 19 ff.) gegeben wird. Die entsprechenden Kenntnisse wird Minna Kautsky vor allem durch ihren Sohn Karl und dessen damaligen Freund Eduard Bernstein übermittelt bekommen haben. So kannten beide die serbische Sozialistin Sophia Bardina, die wahrscheinlich als Vorbild für die Gestalt der Sophie des Romans gedient hat. „Das 'qu'en dira t'on' . . . " : das Gerede der Leute. Der rote Postmeister, der „Sozialdemokrat", Schloß Wyden: vgl. Ernst Engelberg, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878—1890, Berlin 1959 (mit weiteren literaturhinweisen). , ,Du sollst in diesen Tagen mit Freuden meine Kunst sehen, deklamierte der Postmeister": leicht verändertes Zitat aus Goethes „Faust", Vers 1672/3. „Und da waren die Jüngsten . . . Sie hatten ein Witzblatt geschaffen": Die satirische Zeitung des Parteitages wurde von Max Kegel, Georg Vollmar u. a. geschrieben und von Max Grillenberger und Karl Kautsky illustriert. Den Stoff lieferten nicht nur die Redeblüten der Delegierten, sondern auph — was von Minna Kautsky unerwähnt bleibt — die Angriffe Johann Mösts auf die Partei. Erhalten hat sich die Zeitung offenbar nicht; sie wird von Eduard Bernstein in seinem Buch „Sozialdemokratische Lehrjahre" (Berlin 1928, S. 1 1 1 f.) erwähnt, wobei ein bemerkenswertes Gedicht Kegels zitiert wird (wiederabgedruckt in: Im Klassenkampf. Herausgegeben von Wolfgang Friedrich, Halle 1962, S. 92). „das Lied der Freiheit, die Marseillaise": Damit ist Jakob Audorfs auf die Melodie der „Marseillaise" gedichtetes „Lied der deutschen Arbeiter" gemeint. Von den Anhängern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, den Eisenachern, wurde sein Refrain („Der kühnen Bahn nur folgen wir,/ Die uns geführt Lassalle!") meist durch den Refrain von Hermann Greulichs „Arbeiter-Marseillaise"ersetzt (vgl. Im Klassenkampf, a. a. O., S. 30f., 47f., 184; Inge Lammel, Das deutsche Arbeiterlied, Leipzig-Jena-Berlin 1962, S. 15 ff.; Inge Lammel, Zur Rolle und Bedeutung des Arbeiterliedes. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen

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Arbeiterbewegung 3/1962, S. 73off.), nach 1875 wurde er aber wieder allgemein gesungen. Im Vaterhause

Abdruck nach: Minna Kautskys gesammelte Romane und Erzählungen, Band 2: Im Vaterhause, Die Leute von St. Bonifaz, Nürnberg (Fränkische Verlagsanstalt & Buchdruckerei G. m. b. H.) 1914, S. 244—246 und 259—273 ( = Der Wahltag). Minna Kautsky hat den Roman in einem Brief an Marie von Ebner-Eschenbach als „eine Art flüchten vor dem Alter in die weit zurückliegende Jugendzeit" bezeichnet (3. 11. 1904, Handschriftensammlung der Wiener Stadtbibliothek). Die Romanhandlung setzt im Mai 1892 ein und spielt vor allem in der Hungelbrunngasse 36 in Wien, wo Minna Kautsky lange Jahre gewohnt hatte. Der Wahltag: Es handelt sich um die Wahl im Jahre 1897, an der die österreichische Sozialdemokratie erstmalig offiziell teilnehmen konnte; zu ihrer Bedeutung vgl. folgende Aufsätze in der „Neuen Zeit", Stuttgart: Bebel, Die Maifeier und ihre Bedeutung (1893/I); Ellenbogen, Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht (1894/I); Leuthner, Die österreichische Wahlreform (1896/II); Pohl, Die Wiener Gemeindewahlen (1900/II). Zur Politik der antisemitischen Partei und ihres Führers Dr. Lueger vgl. Austerlitz, Karl Lueger, in: Die Neue Zeit, 19. Jahrgang, II. Band, Stuttgart 1901. „,Mit oder ohne Kren? ' " : Kren = (Merrettich-)Senf (italien.). „Die Arbeiterhymne wurde angestimmt": das „Lied der Arbeit", Text von 1 . 1 . Zapf, Melodie von Josef Scheu, 1868 entstanden, am 30. 10. 1868 in Wien erstmals gesungen. Das Lied hatte für die österreichischen Arbeiter die gleiche Bedeutung wie Audorfs „Lied der deutschen Arbeiter" (Arbeiter-Marseillaise, 1864) und später Kegels „Sozialistenmarsch" (1891) für die deutschen Arbeiter (vgl. Victor Adler, Das Lied der Arbeit, in: Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, XI. Heft, Wien 1929). Ein Maifesttag

Abdruck nach (nur um einige unwesentliche Absätze gekürzt): Minna Kautsky, Ein Maifesttag. In: Illustrierter Neue-Welt-Kalender, Hamburg 1907, S. 32—42.

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Die Herausgeberin hat in ihrer Dissertation über Minna Kautsky (Halle 1963, S. 235f.) die Vermutung geäußert, daß die Erzählung schon Ende der neunziger Jahre geschrieben und auch veröffentlicht wurde. Das hat sich nicht bestätigt; ein früherer Druck als der von 1907 konnte nicht festgestellt werden, auch nicht in der (in der DDR nicht, vorhandenen) Wiener „Arbeiterzeitung" oder in anderen Publikationen der österreichischen Sozialdemokratie wie Maifestschriften oder Arbeiterkalendern. „.Erinnerst Du Dich noch des 1. Mai im Jahre neunzig . . . ' " : Über den Eindruck dieser Maidemonstration auf das Bürgertum berichtet Stefan Zweig in seinen Erinnerungen „Die Welt von gestern" (Stockholm 1944), S. 66. „,Hoch die Sozialdemokratie, hoch das allgemeine Wahlrecht!'": Über die Bedeutung der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für die österreichische Arbeiterbewegung vgl. August Bebel, Der erste Mai und der Militarismus, in: Die Neue Zeit, Stuttgart 1893, II. Band, sowie die in den Anmerkungen zu „ I m Vaterhause" genannten Arbeiten von Ellenbogen und Leuthner. „,Salamucci, duri, duri, eccimil'": „Prima harte SalamiI Hier bin ich!" — „,Quanto Signora?'": „Wieviel, gnädige F r a u ? " — „,Una coppia amabile . . . II g6nero, he, he, anche un bei ragazzo . . . Kummi schu, Kummi schu'": „Ein liebenswürdiges Paar . . . Der Schwiegersohn, he he, auch ein schöner Bursche . . . " (ital.). Das „Kummi schu" soll offenbar „Ich komme schon" (Österreichs bedeuten.

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BIBLIOGRAPHIE DER WERKE MINNA KAUTSKYS

Die Bibliographie verzeichnet die Erstdrucke und die ersten selbständigen Drucke, nicht die — teilweise zahlreichen — Wiederabdrucke in Zeitungen, Kalendern usw. der Werke Minna Kautskys. Eine ausführlichere Bibliographie ist enthalten in: Cacilia Friedrich, Minna Kautsky, Diss. Halle 1963, S. 1 - 7 (Anhang). 1. Moderne Frauen Stimmen aus Mähren, Brünn, Nr. 21, 8. 12. — Nr. 28, 17. 12. 1870 (unter: Eckert). — Getrennt: Moderne Mütter und Töchter. Originalskizze, Neue Welt, Leipzig, 2. Jahrgang, 1877; Moderne Gattinnen. Skizze, a. a. O., 3. Jahrgang, 1878 2. Ein Proletarierkind. Novelle Neue Welt, Leipzig, 1. Jahrgang, 1876. — Dramatisierung als „Die Eder-Mitzi", s. Nr. 30 3. Eine gute Partie. Novelle Neue Welt, Leipzig, 2. Jahrgang, 1877 4. Weihnachten. Erzählung Neue Welt, Leipzig, 3. Jahrgang, 1878 5. Madame Roland. Historisches Drama Wien 1878 6. Stefan vom Grillenhof. Roman Neue Welt, Leipzig, 4. Jahrgang, 1879; selbständig Leipzig 1881 7. Herrschen oder Dienen. Roman Neue Welt, Leipzig, 6. Jahrgang, 1881 (getrennt als „Die Schwestern" und „Herrschen oder Dienen"), selbständig unter „Herrschen oder Dienen" Leipzig 1882 8. In der Wildnis. Lustspiel 1882, von fremder Hand geschriebenes Regieheft, Wien, Stadtbibliothek 9. (anonym) Von der elektrischen Ausstellung Die Neue Zeit, Stuttgart, I. Jahrgang, 1883 163

10. Maxtin Greif: Gedichte Die Neue Zeit, Stuttgart, I. Jahrgang, 1883 1 1 . (Lebenslauf von 1883) Brümmer-Nachlaß, Westdeutsche Bibliothek, Marburg 12. (Wilhelm Wiener) Der Vogelschutz Die Neue Zeit, Stuttgart, II. Jahrgang, 1884 13. (Wilhelm Wiener) Über Spiritismus Die Neue Zeit, Stuttgart, I I . Jahrgang, 1884 14. Das deutsche Teater der Neuzeit Die Neue Zeit, Stuttgart, II. Jahrgang, 1884 15. (Wilhelm Wiener) Staatsarbeiter und Heimindustrie im Salzkammergut Die Neue Zeit, Stuttgart, III. Jahrgang, 1885 16. Die Alten und die Neuen. Roman Neue Welt, Leipzig, 9. Jahrgang, 1884, selbtsändig Leipzig 1885 17. Konrad Deubler Die Neue Zeit, Stuttgart, IV. Jahrgang, 1886 18. (Wilhelm Wiener) Wassili Wereschagin Die Neue Zeit, Stuttgart, IV. Jahrgang, 1886 19. Friedrich Hebbel Die Neue Zeit, Stuttgart, V. Jahrgang, 1887 20. Das Gemeindekind Die Neue Zeit, VI. Jahrgang, 1888 21. Else Belse. Erzählung Illustrierter Neue-Welt-Kalender, Hamburg 1888 22. Die Brandstatt. Novellette österreichischer Arbeiterkalender, Brünn 1889 23. „Schnee" von Alexander Kielland Die Neue Zeit, Stuttgart, V I I . Jahrgang, 1889 24. Die Einschichtige im Dorfe. Erzählung Berliner Volkszeitung, Nr. 150, 24. 7. — Nr. 158, 2. 8. 1889 25. Victoria. Roman Illustriertes Unterhaltungsblatt, Hamburg, 1887 (durch Verbot der Zeitung Abdruck abgebrochen), selbstständig Zürich 1889 26. Später. Soziale Studie Die Neue Zeit, Stuttgart, I X . Jahrgang, 1891 27. Der Pariser Garten. Novelle Die Neue Zeit, Stuttgart, I X . Jahrgang, 1891 28. Sie schützt sich selbst. Lustspiel 1892, Handschrift, Stadtbibliothek Wien 29. Helene. Roman Stuttgart 1894

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30. Die Eder-Mitzi. Schauspiel 1895, Handschrift, Niederösterreichisches Landesarchiv, Wien (Dramatisierung von „Ein Proletarierkind", s. Nr. 2) 31. Die Doktor-Bäuerin. Drama 1895 (?), nicht erhalten 32. Poldl, der Zimmermann. Erzählung österreichischer Arbeiterkalender, Wien 1897 33. Die Brillanten des Kardinals. Erzählung Die Neue Zeit, Stuttgart, 15. Jahrgang, 2. Band, 1897 34. Das Kloster in den Lagunen. Erzählung österreichischer Arbeiterkalender, Wien 1899 35. Im Vaterhause. Roman Neue Welt, Hamburg, 29. Jahrgang, 1904. — Wiederholt in: Nr. 41 36. Die Leute von St. Bonifaz. Roman Neue Welt, Hamburg, 30. Jahrgang, 1905, wiederholt in: Nr. 41 37. (Danksagung anläßlich des 70. Geburtstages) Vorwärts, Berlin, Nr. 139, 18. 6. 1907, 1. Beilage 38. Ein Maifesttag. Erzählung Illustrierter Neue-Welt-Kalender, Hamburg 1907 39. (Autobiographische Skizze) In freien Stunden, 13. Jahrgang, 2. Halbjahresband, Berlin 1909 40. Der Pariser Garten und anderes Berlin 1913 (enthält: Nr. 34, 32, 27) 41. Gesammelte Romane und Erzählungen Band 1: Nr. 7, Band 2: Nr. 35, Nr. 36, Nürnberg 1914 (geplant waren 2 Serien zu je 4 Bänden) 42. Albrecht Dürer. Drama Jahr des Entstehens nicht feststellbar, nicht erhalten Nachtrag: Die kleine Friedel. Erzählung Die Arbeiterin, Stuttgart, Nr. 14, 4. 4.1891 ff.

Briefe von, an und über Minna Kautsky a) gedruckt: Victor Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer, Eduard Bernstein, Adolf Braun, Heinrich Dietz u. a. Ges. und erl. von F. Adler, Wien 1954

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Briefe und Auszüge aus Briefen von J. Ph. Becker, J. Dietzgen, F. Engels, K. Marx u. a. an F. A. Sorge, Stuttgart 1906 Konrad Deubler: Tagebücher, Biographie und Briefwechsel. Her. von A. Dodel-Port, 2 Bände, Leipzig 1886 Friedrich Engels Briefwechsel mit Karl Kautsky. Zweite, durch die Briefe Karl Kautskys vervollständigte Ausgabe von „Aus der Frühzeit des Marxismus" (Prag 1935). Her. von Benedikt Kautsky, Wien 1955 Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, 's-Gravenhage i960 Rosa Luxemburg ¡Briefe an Karl u. Luise Kautsky, Berlin 1932 Rosa Luxemburg: Briefe an Freunde, Hamburg 1950 Karl Marx/Friedrich Engels: Briefe an A. Bebel. W. Liebknecht, K. Kautsky u. a., Teil I, Moskau-Leningrad 1933 b) ungedruckt: Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam: Friedrich Engels an F. A. Sorge, 21. 3. 1894 (Mikrofilm)— Briefe von August Bebel, Julie Bebel, Frieda Bebel an Minna Kautsky (Bebel-Nachlaß) — Briefe von Franz und Eva Mehring an Minna und Karl Kautsky, Briefe der Fränkischen Verlagsanstalt in Nürnberg an Karl Kautsky (Kautsky-Nachlaß) — Briefe von Wilhelm Liebknecht an Minna Kautky und Julius Motteier, Briefe von Karl Kautsky an Wilhelm Liebknecht (Liebknecht-Nachlaß) Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED, Berlin: Briefe von Minna Kautsky an Friedrich Engels, 10. 5. 1886 und 31.7. 1888 (Fotokopien) — Briefe von Minna Kautsky an Bruno und Alice Geiser — Briefe von Elise Schweichel an Natalie und Wilhelm Liebknecht — Briefe von Julie Bebel an August Bebel — Briefe von Karl Kautsky an Karl Marx (Fotökopien) — Briefe von Natalie Liebknecht an Friedrich Engels (Fotokopien) Wiener Stadtbibliothek, Handschriftensammlung: Briefe von Minna Kautsky an Auguste Fickert, Moritz Necker, Paula Frankl, Ludwig August Frankl, Minna Hoegel, Marie Eugenie della Grazie, Marie von Ebner-Eschenbach, Julie Wertheimer Westdeutsche Bibliothek, Marburg: Briefe von Minna Kautsky an Franz Brümmer (BrümmerNachlaß)

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Schriften und Hinweise über Minna Kautsky Die Zusammenstellung enthält nur eine Auswahl; vollständige Bibliographie in: Cäcilia Friedrich, Minna Kautsky, Diss. Halle 1963, S. 10—15 (Anhang). Die Briefe von F. Engels an Ed. Bernstein. Mit Briefen von Karl Kautsky. Her. von Ed. Bernstein, Berlin 1925 Friedrich Engels: Briefe an Bebel, Berlin 1958 Friedrich Engels, Paul et Laura Lafargue: Correspondence, 3 Bände, Paris 1956—1959 Cäcilia Friedrich: Minna Kautsky. Beitrag zur Entstehungsgeschichte der sozialistischen deutschen Literatur, Diss. Halle 1963 Cäcilia Friedrich: Minna Kautskys Entwicklung zur Schriftstellerin der Arbeiterklasse. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle, Ges.-sprachwiss. Reihe, XII/2, Dezember 1963 Helga Herting: Der Aufschwung der Arbeiterbewegung um 1890 und ihr Einfluß auf die Literatur, Diss. Berlin 1961 (Helga Herting:) Minna Kautsky. In: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, Halle 1963 Hans Hirschstein: Die französische Revolution im deutschen Drama und Epos nach 1815, Stuttgart 1912 Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an K. Kautsky, Hannover 1954 Luise Kautsky: Rosa Luxemburg, Berlin 1929 Luise Kautsky: Begegnungen. In: Das Jahr 1929, Wien 1929 Hans Koch: Die deutschen Linken und die Literatur. In: Weimarer Beiträge 1959 — I Marie Kunert: Minna Kautsky. In: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 12/1907 Marie Kunert: Minna Kautsky. In: Neue Welt, Hamburg, Nr. 23/1907 Marie Kunert: Unsere Toten. Minna Kautsky. In ¡Illustrierter Neue-Welt-Kalender, Hamburg 1914 Franz Mehring: Soziale Romane. In: Berliner Volkszeitung, Nr. 274, 15. 12. 1889 Franz Mehring: Minna Kautsky (1907). In: Mehring, Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel (Gesammelte Schriften, Band 11), Berlin 1961 Franz Mehring: Minna Kautsky (1912). In: ebenda Sophie Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder, Bd. I, Berlin 1898

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Adelheid Popp: Minna Kautsky. In: Der Kampf, Wien, Nr. 5/1913 Julie Zadek: Die Alten und die Neuen von Minna Kautsky. In: Die Neue Zeit, II. Jahrgang, Stuttgart 1884 Julie Zadek: Viktoria. In: a. a. O., VII. Jahrgang, Stuttgart 1889 Julie Zadek: Die neuste deutsche Belletristik. In: a. a. O., II. Jahrgang, Stuttgart 1884 Klara Zetkin: Minna Kautsky. In: Die Gleichheit, Nr. 8/ 1913