Auswahl aus seinem Werk [Reprint 2021 ed.] 9783112545249, 9783112545232


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German Pages 210 [211] Year 1983

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Auswahl aus seinem Werk [Reprint 2021 ed.]
 9783112545249, 9783112545232

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JOSEF SCHILLER AUSWAHL AUS SEINEM WERK

TEXTAUSGABEN ZUR F R Ü H E N SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN

DEUTSCHLAND

Begründet von BRUNO K A I S E R und weitergeführt von URSULA MÜNCHOW Herausgegeben

vom

Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R

BAND X X I I I

JOSEF SCHILLER AUSWAHL AUS SEINEM WERK

Herausgegeben von

NORBERT ROTHE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1982

Erschienen im Akademie-Verlag D D R - 1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: J u t t a Kolesnyk © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/172/82 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5790 Bestellnummer: 7 5 3 9 1 3 4 ( 2 1 1 9 / X X I I I ) • L S V 7105 Printed in G D R DDR 16,- M

INHALT

VII

EINLEITUNG

1

TEXTE

3

Gedichte

3 5 7 9 10 12 16 18 20 23 28 30 32 33 34 37 37 40 42 44 46 46 47 48 50 50 56 101

In der Fabrik Das Sklavenjoch Die Schranke der Freiheit Sehnsucht nach der Heimat Der Konfessionslose Die Buße Der Weichensteller Frühlingsgedanken Die Christnacht Der W e g zum besseren Leben Die vierte Klasse Der Weihnachtsabend A n mein liebes W e i b ! Inquisitenlied A n meine persönlichen Feinde! Sinnspruch Phantasie-Gewebe Jetzt ist alles gerettet Ein Geldprotz Ein Stimmungslied am Abend Kleine Verse Korruption Die Sozialdemokratie von Nordamerika Die gute K u h Prosa Ein verlorenes Leben Blätter und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen Bilder aus der Gefangenschaft V

i6i

ANHANG

163

Dokumente

163 164

167 170 173 173 173 176

[Schlußwort auf dem ersten österreichischen Textilarbeitertag in Brünn (Brno) 1890] [Diskussionsrede auf dem zweiten Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Wien, 28.—30. J u n i 1891] Brief an einen Freund Bericht aus Germania über Josef Schillers Tod Anmerkungen Abkürzung Anmerkungen zur Einleitung Anmerkungen zu den Texten und Dokumenten

EINLEITUNG

Es ist an der Zeit, die „Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland" durch einen Band zu vervollständigen, der dem Schaffen des nordböhmischen Autors Josef Schiller gewidmet ist. Wo von August Otto-Walster, Robert Schweichel, Jakob Audorf, Max Kegel und anderen Pionieren der frühen sozialistischen deutschen Literatur die Rede ist, muß unbedingt auch über Josef Schiller gesprochen werden. Denn er war einer dieser Pioniere und zugleich eine hervorragende und charakteristische Persönlichkeit der sozialistischen Literatur in ihren Anfängen. Daß er als Nordböhme österreichischer Staatsbürger war, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Er wirkte als politischer Kämpfer und als proletarischer Dichter zwar zunächst innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung, doch standen sein Wirken und Schaffen in engem Zusammenhang mit der deutschen Bewegung. War die Arbeiterbewegung schon von Beginn an grundsätzlich internationalistisch orientiert, so arbeiteten die revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands und Österreichs besonders eng zusammen. Sehr intensive Beziehungen gab es vor allem zwischen Sachsen und Nordböhmen. Proletarier aus Nordböhmen suchten Arbeit in Deutschland, in erster Linie im benachbarten hochindustrialisierten Sachsen, und brachten bei ihrer Rückkehr Ideen und Erfahrungen der fortgeschrittenen deutschen Arbeiterbewegung mit. Andererseits bereisten deutsche sozialistische Agitatoren Nordböhmen, um die dortige Bewegung zu unterstützen, und brachten Kunde von der entwickelten nordböhmischen Arbeiterbewegung mit nach Deutschland. Auf diese Weise wurden Proletarierlieder und -gedichte in beiden Richtungen über die Grenze getragen. Früh schon wurde dieser Vorgang durch Presse- und Buchveröffentlichungen stimuliert. Deutsche und österreichische, insbesondere deutsche und nordIX

böhmische frühsozialistische Dichtung befruchteten sich gegenseitig. Folgerichtig widmete die Anthologie „Deutsche ArbeiterDichtung", die 1893 bei Dietz in Stuttgart erschien, einen ihrer fünf Bände dem Schaffen des Wieners Andreas Scheu, und die Sammlung „Stimmen der Freiheit", die 1899 von Konrad Beißwanger in Nürnberg herausgegeben wurde, brachte über fünfzig Gedichte nordböhmischer Autoren. Einer dieser Autoren und fraglos der bedeutendste unter ihnen war Josef Schiller. Josef Schiller, genannt Schiller Seff, wurde am 29. Juni 1846 in Reichenberg (Liberec) geboren. Sein Vater, ein armer Weber, starb, als der Junge neun Jahre alt war. Die Mutter hatte nunmehr allein für sieben Kinder zu sorgen. Bald geriet die Familie in bitteres Elend, der neunjährige Josef mußte in der Fabrik des bekannten, bei den Arbeitern berüchtigten Unternehmers Johann Liebieg arbeiten. Erst mit zwölf Jahren begann er lesen und schreiben zu lernen. Bezeichnend für seine Kindheit ist eine Episode, die Schiller Seff in den „Erlebnissen aus meiner Kindheit" erzählt hat: Ein kleiner Hund war von seinem Besitzer irrtümlich für blind gehalten und ausgesetzt worden. Der tierliebende Proletarierjunge hatte ihn aufgenommen und gesund gepflegt. Angesichts der sozialen Situation der Familie jedoch empfanden Mutter und Nachbarn einen Hund als eine ganz unangemessene Belastung. Das Tier wurde bei günstiger Gelegenheit — sehr zum Leidwesen der Kinder — verkauft. — Als Josef Schiller achtzehn Jahre alt war, starb auch seine Mutter, die Geschwister mußten sich trennen. Etwa um diese Zeit begann Schiller Seff zu dichten; über diese ersten dichterischen Versuche wissen wir nichts. Als sich in den folgenden Jahren, nach dem preußisch-österreichischen Krieg, die österreichische Arbeiterbewegung zu formieren begann, wurde Josef Schiller sehr schnell einer ihrer Aktivisten. Fortan stellte er seine dichterische Begabung ganz in den Dienst dieser Bewegung. Der Aufschwung der österreichischen Arbeiterbewegung Ende der sechziger Jahre wurde vor allem durch die Entwicklung einer modernen kapitalistischen Industrie nach dem preußischösterreichischen Krieg ermöglicht.1 Es kam zu einer starken Vermehrung des Proletariats durch freigewordene Arbeitskräfte aus dem Bereich der kleinen, zumeist noch handwerklichen Warenproduktion, die bedeutend zurückging, und zur Konzentra-

X

tion von Arbeitern in industriellen Zentren. Damit wurden entscheidende Voraussetzungen für die Belebung des proletarischen Klassenkampfes geschaffen. Hinzu kamen Erleichterungen durch Reformmaßnahmen der „Bürgerregierung" der liberalen Bourgeoisie, wie etwa durch das neue Vereinsgesetz. Die vorübergehende Konjunktur tat ein übriges: Die Arbeiter wurden überall gebraucht, dadurch konnten sie einige Forderungen durchsetzen und ihre Lage generell verbessern. Selbsthilfe- und Bildungsvereine wurden ins Leben gerufen. 1869 überflutete eine Welle von Streiks und Volksversammlungen das Land. Zum wohl eindrucksvollsten Beweis der gewachsenen Kraft des österreichischen Proletariats wurde die denkwürdige Demonstration Wiener Arbeiter am 13. Dezember 1869 vor dem Abgeordnetenhaus.2 Stark war die Arbeiterbewegung naturgemäß in den industriellen Zentren. Zu ihnen gehörte das nordböhmische Industriegebiet um Reichenberg, wo der junge Schiller Seff lebte. 3 Die nordböhmischen Arbeiter haben sich, bis hinein in die Zeit des Weltkriegs und der Entstehung der Kommunistischen Partei, durch ihre Aktivität und Widerstandsfähigkeit gegenüber den schädlichen Einflüssen des Opportunismus und Reformismus ausgezeichnet. Was um 1870 das Reichenberger Gebiet für die österreichische Arbeiterbewegung bedeutete, hat Andreas Scheu, der bekannte Wiener Arbeiterführer, in seiner Schrift „Umsturzkeime" deutlich werden lassen, wo es heißt: „Den klaren, hochaufleuchtenden Geist, den tiefen, sittlichen Ernst, so wie ich ihn mir wünschte und vorstellte, sollte ich aber erst in Reichenberg am schönsten finden, als ich die Parteiorganisation dort anfangs 1870 zum erstenmal besuchte."'* In den Jahren 1863 und 1864 waren in Reichenberg und Asch (As) die ersten Arbeitervereine gegründet worden. Standen sie auch noch unter dem Einfluß von Schulze-Delitzsch bzw. von Lassalle, so versammelten sie doch die Arbeiter und gaben ihnen die Möglichkeit, in politischen Diskussionen ihr Bewußtsein zu bilden. 1868 entstand ein sozialdemokratisches Komitee unter Führung des Arbeiters Josef Krosch. Krosch hatte in Deutschland gelebt und vermittelte nun erfolgreich deutsche Erfahrungen an die Arbeiter von Reichenberg und Umgebung. Josef Schiller war bald einer seiner besten Schüler und Mitarbeiter. Auf einer Versammlung des 1869 gebildeten, ebenfalls von Krosch geführten „Allgemeinen Arbeitervereins" trug Schiller sein späXI

ter weit verbreitetes Gedicht „Das Sklavenjoch" vor, er erhielt dafür — wie berichtet wird 5 — reichen Beifall. Nach der ersten öffentlichen Volksversammlung in Reichenberg am 8. September 1869 fand noch eine Zusammenkunft der Versammlungsteilnehmer in dem Lokal „Feldschlößchen" statt, wo abermals Reden gehalten wurden. Hier trug Schiller sein Gedicht „Der Kampf beginnt" vor. 6 So begann sein Wirken als engagierter politischer Dichter des Proletariats. Einige Monate später bekam Schiller Gelegenheit, sein Bekenntnis zur proletarischen Solidarität zu beweisen. Im Januar 1870 kam es nämlich zu einem folgenschweren Ereignis in Reichenberg. Andreas Scheu aus Wien war verhaftet worden, nachdem er in einer verbotenen Versammlung gesprochen hatte. Die Arbeiter hatten mit Demonstrationen am 18. und 19. Januar reagiert. Als Militär gegen die Demonstranten eingesetzt wurde, löste sich ein Schuß, der den unbeteiligten Arbeiter Fischer, einen Freund Schiller Seffs, tötete. Mehrere an der Demonstration Beteiligte verurteilte man zu Haftstrafen, der „Allgemeine Arbeiterverein" wurde aufgelöst, und den schwerkranken Krosch schaffte man ins Prager Landesgericht, wo er — wahrscheinlich infolge der Behandlung — starb. E r wurde am 12. Mai 1870 in Prag unter gewaltiger Massenbeteiligung zu Grabe getragen. Die junge böhmische Arbeiterbewegung hatte eine Führerpersönlichkeit verloren. Schiller Seff gehörte zu denen, die sich bemühten, die Lücke zu schließen. Unermüdlich wirkte er als Organisator und Agitator, wobei ihm sein dichterisches Talent und seine Vortragskunst sehr halfen. Zunächst setzte er sich für die Angehörigen der im Gefolge der Ereignisse des 18. und 19. Januar Verhafteten ein. Denn unter den damaligen Bedingungen war die Verhaftung eines Arbeiters in der Regel gleichbedeutend mit akuter materieller Not, sofern nicht proletarische Solidarität half. Schiller zog im Reichenberger Gebiet umher und organisierte Veranstaltungen, auf denen er seine Gedichte vortrug. Den Erlös stellte er für die Familien der Inhaftierten zur Verfügung. Es konnte nicht lange dauern, bis Unternehmer und Behörden auf den aktiven Gegner aufmerksam wurden. Da er keineswegs bereit war, seine Aktivitäten einzuschränken, verlor er eine Arbeitsstelle nach der anderen. Er mußte von Ort zu Ort ziehen und die verschiedensten, zumeist sehr schweren und unangenehmen Arbeiten verrichten. E r war als Tuchweber, Bergarbeiter, XII

Kohlenkarrer, Bauarbeiter, Hilfszimmermann, Anstreicher, Chemiearbeiter, Kleinhändler und Hausierer tätig. Wie später die Verfolgten des Sozialistengesetzes in Deutschland verbreitete er — überall herumkommend — die Ideen des Sozialismus. Die Tätigkeit mancher lokalen Organisation wurde durch ihn wesentlich belebt. In Aussig (Usti nad Labem) zum Beispiel arbeitete er einige Zeit in einer chemischen Fabrik. Die Arbeit war hart, der Verdienst aber leidlich. Hier gab er eine Art satirischer Betriebszeitung mit dem Namen „Die Brennnessel" heraus. Ein Artikel in diesem Blatt, in dem er die zynische Brutalität gegenüber einem verunglückten Arbeiter geißelte, kostete ihn diese Arbeitsstelle. Seine Tätigkeit in der Aussiger Organisation war so aktiv und überzeugend — es heißt, er habe dort einen Arbeiterverein gegründet —, d a ß ihn die dortige Arbeiterschaft 1874 zum Parteitag nach Neudörfl delegierte. Die siebziger J a h r e brachten der österreichischen Arbeiterbewegung ernste Probleme. E s kam zu innerparteilichen Auseinandersetzungen, die ihren Ausdruck vor allem im Streit zwischen den „Richtungen" Oberwinder und Scheu fanden. Um Oberwinder gruppierten sich hauptsächlich Opportunisten und Reformisten, um Scheu im wesentlichen revolutionäre Kräfte. Doch waren die Fronten nicht so klar zu erkennen, der spätere Renegat Oberwinder vermochte sich lange Zeit durch raffinierte Demagogie zu tarnen. Selbst ein so kämpferischer Mann wie Schiller Seff lief vorübergehend Gefahr — so jedenfalls will einer der Chronisten 7 wissen —, der Oberwinderschen Heuchelei zu erliegen. Der Parteitag 1874 in Neudörfl brachte eine Klärung der Fronten und einen Sieg der „Richtung" Scheu, an dem auch Schiller Seff als einer der Vorsitzenden Anteil hatte. Eine solche Klärung war um so notwendiger, als sich die Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes nach dem Wiener Börsenkrach 1873 infolge der Krise erheblich verschlechterten. Auch Schiller Seff wurde in jenen J a h r e n in seiner politischen Tätigkeit ernstlich behindert. Nach dem Neudörfler Parteitag fand er zunächst Arbeit bei einem Genossen in Mürzzuschlag in der Steiermark, während seine Familie in Aussig zurückblieb. Sein Aufenthalt hier bedeutete eine Trennung von seinem eigentlichen Wirkungskreis. Nach einiger Zeit riefen ihn die Aussiger Sozialdemokraten zurück, sie glaubten für ihn eine Arbeit gefunden zu haben. Das erwies sich aber als I r r t u m , schließlich blieb ihm nichts übrig, als über die Grenze zu gehen und sein XIII

Glück in Dresden zu suchen. Nach anfänglichen Fehlschlägen hatte er tatsächlich Erfolg, er fand lohnende Arbeit als Anstreicher im Dresdner Zeughaus, so daß er für einige Zeit mit seiner Familie ein materiell hinlänglich gesichertes Leben führen konnte. Um 1877 muß er nach Reichenberg zurückgekehrt sein, nachdem man im Dresdner Zeughaus dazu übergegangen war, für Anstreicharbeiten Festungsgefangene zu verwenden. Wieder in Reichenberg, arbeitete er in der zentralen österreichischen Parteileitung. Denn in den Jahren 1877 bis 1880 war Reichenberg Sitz dieser zentralen Leitung, das heißt, die dortigen Vertrauensmänner fungierten als Parteiführer. Einer dieser Vertrauensmänner war Schiller. Über Art und Umstände dieser seiner Tätigkeit wissen wir wenig. Jedenfalls war er auch in dieser Zeit aktiv und sehr erfolgreich als Agitator tätig. Auf dem Parteitag 1879 in Harzdorf bei Reichenberg führte er den Vorsitz; vorübergehend wurde von ihm die Parteizeitung „Sozialpolitische Rundschau" 8 herausgegeben. Allerdings veranlaßten ihn Auseinandersetzungen mit seinen Reichenberger Genossen bald, diese Tätigkeit aufzugeben. Genaueres über den Charakter der Auseinandersetzungen wissen wir nicht. Bekannt ist, daß es bereits 1874 Streit gegeben hatte. Damals hatte die sozialdemokratische Zeitung „Arbeiterfreund" 9 eine Notiz gebracht, wonach Schiller Seff in den Schoß der „alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt" sein sollte. Zwar war es zum Widerruf gekommen, doch der „Arbeiterfreund" hatte angegeben, die Informationen von einem vertrauten Freund Schiller Seffs erhalten zu haben. 1 0 Offensichtlich hatte es sich hier um niederträchtige Verleumdung gehandelt. Die Wurzeln solcher Intrigen waren letztlich politische Meinungsverschiedenheiten. Das zeigte sich deutlicher, als sich die Auseinandersetzungen in den neunziger Jahren in verschärfter Form wiederholten. Schiller nutzte die kurze Zeitspanne, während der er sich von der politischen Arbeit zurückgezogen hatte, um einen Band seiner Gedichte herauszugeben. 11 Er t a t dies weniger um der Verbreitung der Gedichte willen, denn die Zensur zwang ihn ohnehin, bei der Auswahl auf die meisten seiner guten und politisch aggressiven Gedichte zu verzichten. Vielmehr ging es ihm darum, seine bedrängte finanzielle Situation etwas zu verbessern. Indessen gestattete es die Entwicklung des Klassenkampfes in den achtziger Jahren nicht, daß sich Schiller für längere Zeit von der aktiven Tätigkeit in der Parteiorganisation zurückXIV

zog. Die zunehmenden Sozialistenverfolgungen zwangen ihn bald zu neuem Engagement. Mit Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Versammlungsverboten, Vereinsauflösungen und Geheimbündelei-Prozessen wollte die Regierung Taafe die Arbeiterbewegung in die Knie zwingen. Systematische Verfolgungen der Redakteure behinderten die sozialistische Presse ernsthaft, ohne sie jedoch ausschalten zu können. Erste Höhepunkte des reaktionären Terrors in Böhmen waren zwei Geheimbund-Prozesse vor dem Präger Landesgericht im ersten Halbjahr 1882. Bald wurde auch der „Arbeiterfreund" zum Gegenstand behördücher Unterdrückungsmaßnahmen. Nacheinander wurden die verantwortlichen Redakteure des Blattes inhaftiert. In dieser schwierigen Situation erinnerte man sich Josef Schillers, der auch sofort bereit war, in die Bresche zu springen, obwohl ihm klar sein mußte, daß ihn bald das Schicksal seiner Vorgänger ereilen würde. Zusammen mit Josef Krejci übernahm er die Redaktion des Blattes, doch nach kurzer Zeit wurden sie beide verhaftet. Das bedeutete das Ende dieser wichtigen Arbeiterzeitung. Schiller wurde nach sechsmonatiger Untersuchungshaft zu vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, so daß er insgesamt zehn Monate hinter Kerkermauern zubringen mußte. Das sollte aber nicht sein einziger Gefängnisaufenthalt bleiben. Zwölfmal war er insgesamt in Haft, etwa drei Jahre betrug seine Gesamthaftzeit. Im Gefängnis setzte er seinen politischen Kampf fort. Unter anderem hat er einen Gefängnisstreik organisiert und eine Art Gefängniszeitung herausgegeben. Vor allem aber dichtete er. Einige seiner Gedichte bzw. Lieder erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Gefangenen, so vor allem sein „Inquisitenlied", das oft gesungen worden sein soll. Mangels Papiers und eines Schreibwerkzeugs schnitt er aus der „Prager Abendzeitung", die den Gefangenen als einzige Zeitung erlaubt war, einzelne Buchstaben aus, die er alsdann — wie er es scherzhaft formulierte — zu Gedichten „zusammenleimte". 12 1883, soeben aus der Haft entlassen, gründete Schiller, zusammen mit Anton Behr und Franz König, eine neue Zeitung mit dem Titel „Der Radikale" 13 . Er selbst war als Expedient und Feuilletonist tätig, während die verantwortliche redaktionelle Leitung bei Anton Behr lag. Der Name des Blattes wie auch sein Motto XV

„Aug' um Aug', Zahn um Zahn", beide von Schiller gewählt, weisen auf eine Verbindung zur radikalen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie hin, und in der Tat gehörte Schiller dieser Richtung an. Die Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung in den achtziger Jahren wurde durch ein neues ernstes Problem erschwert. Eine ungünstige Wirtschaftsentwicklung brachte viele Arbeiter in eine bedrängte soziale Lage. Wachsende Verelendung nährte bei vielen Arbeitern die Überzeugung, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse schnell und radikal verändert werden müßten. Über die konkreten Möglichkeiten revolutionärer Veränderungen herrschte auf Grund des Mangels an theoretischer Bildung keine Klarheit. So konnte der Anarchismus, nicht zuletzt über Johann Mösts „Freiheit", einen gewissen Einfluß auf Teile der österreichischen Sozialdemokratie gewinnen, und zwar auf die sogenannten „Radikalen", denen die „Gemäßigten" gegenüberstanden. Eine generelle Charakterisierung dieser beiden Richtungen ist sehr schwer. Auf beiden Seiten herrschte weitgehend Unklarheit über die Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten des Klassenkampfes. Die lokalen und regionalen Gruppierungen innerhalb beider Richtungen unterschieden sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Stellung zu den politischen Tagesfragen oft stark. Das ging so weit, daß zuweilen „Radikale" eines Ortes im wesentlichen die gleiche Haltung wie „Gemäßigte" eines anderen Ortes einnahmen. Deutlich unterschieden sich die beiden Richtungen in der Beurteilung der Wahlrechtsfrage; bezeichnenderweise waren die Beurteilungen beider Seiten nicht richtig, während die „Gemäßigten" die Bedeutung des Wahlrechtskampfes überschätzten, unterschätzten die „Radikalen" sie. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Richtungen bestand darin, daß sich bei den „Gemäßigten" mehr reformistische und opportunistische Kräfte, bei den „Radikalen" mehr zu revolutionärem Handeln Entschlossene sammelten. Nach allem, was uns, aus Berichten über ihn und aus seinen Schriften, über Josef Schiller bekannt ist, hat er mit dem Anarchismus nichts Wesentliches zu tun gehabt. Er hat offenbar vielmehr zu jenen bewährten und unbeirrbaren Kämpfern der Sozialdemokratie gehört, die sich aus Ablehnung der nach und nach bemerkbar werdenden Tendenz zur ideologischen Verwässerung der Arbeiterbewegung zum Radikalismus bekannten. XVI

Der „Radikale", der in Wirklichkeit so radikal gar nicht war, hatte bedeutenden Erfolg. Er erreichte am Ende des ersten Erscheinungsjahres eine Auflage von 2600, das hatte bis dahin noch keine Arbeiterzeitung in Nordböhmen geschafft. Entsprechend intensiv waren die polizeilichen Verfolgungen, manche Nummer wurde doppelt konfisziert, das heißt in erster und zweiter Fassung. Mit Haussuchungen wurden die Mitarbeiter unter Druck gesetzt. Im November 1884 wurden Behr, Schiller und König wiederum verhaftet. Schillers Verhaftung wurde mit der Veröffentlichung des allegorischen Gedichts „Die Wahrheit im Kampfe mit Lüge und Unverstand!" V i in Verbindung gebracht. Der „Radikale" indessen blieb, unter anderer Redaktion, noch etwa ein Jahr bestehen. Schiller stand eine Haftzeit von über einem Jahr bevor. Hatte Schiller im „Radikalen" erste Prosaarbeiten veröffentlicht gehabt, kleine autobiographische Erzählungen, so machte er sich nach seiner Haftentlassung 1885 daran, kleine Bändchen mit eigenen Gedichten herauszugeben. Dabei handelte es sich zum Teil um Gedichte, die schon in der Auswahl von 1880 enthalten gewesen waren; neu kamen vor allem Gedichte aus der Prager Haft, humoristische Gedichte und die „humoristische Vorlesung" „Der Mensch im Thierreiche" hinzu. 15 Daneben veranstaltete er Vortragsabende, auf denen er eigene humoristische Gedichte in Reichenberger Mundart vortrug, wobei er viel Beifall erntete. Unter dem Druck der um 1886 einsetzenden forcierten Repression machten sich in den letzten achtziger Jahren verstärkt Tendenzen zur Wiedervereinigung beider Richtungen der österreichischen Arbeiterbewegung bemerkbar. Auch von Nordböhmen, wo die Spaltung nie so tiefgreifend und folgenschwer wie etwa in Wien gewesen war, gingen Wiedervereinigungsimpulse aus, die die Bemühungen Victor Adlers unterstützten. Schiller Seff hatte daran seinen Anteil, die Stärkung der Bewegung durch Einheit und Geschlossenheit war ihm eine Herzenssache. Die auf dem Hainfelder Parteitag 1889 vollzogene Wiedervereinigung belebte die Arbeiterbewegung sichtbar. Auch für den stets rührigen Schiller Seff boten sich nun neue Möglichkeiten zu aktiver Parteiarbeit. Er wirkte als Organisator in der Textilarbeiterbewegung und nahm als nordböhmischer Delegierter am ersten österreichischen Textilarbeitertag in Brünn (Brno) teil, wo er für die deutschen Delegierten den Vorsitz führte und 2

Josef Schiller

XVII

das Schlußwort sprach. Lebhaften Anteil nahm er an den Beratungen des Wiener Kongresses der Sozialdemokratie 1891, an dem er als Reichenberger Delegierter teilnahm. Er war der „wirkliche politische Führer in Nordböhmen" in der „ersten Zeit nach H a i n f e l d " . « Besondere Bedeutung für seine dichterische Arbeit gewann die Zeitung „Freigeist" i 7 , die ab 1890 erschien. Schiller war einer ihrer Herausgeber und ihr leitender Redakteur. Im „Freigeist" erschienen 1890/91 seine beiden größeren Prosaarbeiten „Blätter und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen" 1 8 und „Bilder aus der Gefangenschaft" 1 9 . Daneben gab er eine satirische Faschingszeitschrift unter dem Titel „Die Maulschelle" 20 heraus, die ihm die Möglichkeit bot, sein satirisches Talent zu entfalten. So wurde die Zeit um 1890/91 ein Höhepunkt sowohl in seiner politischen Arbeit als auch in seinem dichterischen Schaffen. Um so bedauerlicher ist es, daß er aus dieser intensiven und produktiven Arbeit durch neuerlichen Streit mit seinen Reichenberger Genossen herausgerissen wurde. 1892 schied er aus der Redaktion des „Freigeist" aus. Die ganze Ausgabe der „Maulschelle" 1895 widmete er der Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten. Im Mai 1896 schließlich wanderte er nach den U S A aus, wo er sich in Germania in Pennsylvanien ansiedelte. Er lebte hier in äußerst dürftigen Verhältnissen. In einem naturverbundenen, einsiedlerhaften Dasein suchte er sich neu zu finden und neue Kraft zu schöpfen. Doch kurz nachdem ihm seine Frau mit dem jüngsten Kind gefolgt war, starb er hier am 16. August 1897. Es ist heute nicht mehr möglich, die Ursachen der wiederholten Auseinandersetzungen und dieses tragischen Endes eines unermüdlichen, der Sache seiner Klasse ergebenen Kämpfers genau festzustellen. Der Hinweis auf den Alkoholismus, der in seinen späten Lebensjahren eine Rolle gespielt haben soll, trifft sicher nicht den Kern des Problems. Dieses dürfte vielmehr im wesentlichen politischer Natur gewesen sein. Eine Äußerung von Emil Strauß, der als Vertreter rechtsorientierter Kreise der Sozialdemokratie Schiller Seff kritisch, wenn auch mit Respekt beurteilte, gibt einen wichtigen Fingerzeig: „Den Höhepunkt seines Lebens bildete die Zeit, da er für die Einigung der Partei eintrat, und kurze Zeit danach, als er in der Aera des Aufschwunges der Arbeiterbewegung Deutschböhmens nach dem XVIII

Hainfelder Parteitag der Redakteur des 1889 gegründeten .Freigeist' in Reichenberg und damit der anerkannte geistige Führer der deutschen Arbeiter in Böhmen wurde. Aber gerade da zeigten sich seine Schwächen. Ein Sohn der Sturm- und Drangzeit der Arbeiterbewegung, erkannte er die Welt nicht mehr, als es galt Stellung zu nehmen zu den alltäglichen Fragen der Arbeiterpolitik . . . Während seine Schüler Hannich und Kiesewetter, Preußler und Rieger die Bedürfnisse der Massenpartei, zu der die Sozialdemokratie in den nächsten Jahren zu werden begann, begriffen, konnte sich Schiller in die neuen Kämpfe nicht mehr finden. Die Bedeutung des Kampfes um das allgemeine Wahlrecht, den Wert des Parlamentes für die Arbeiterschaft hat er nicht erfassen können und spottete derer, die vom ,Reichsratsruhm' erfüllt waren . . . Mit der Welt verfallen, gab er sich dem Trünke hin und blutenden Herzens mußten seine Freunde sehen, wie der lebenskräftige Mann nach und nach der Bewegung verloren ging . . . " 2 1 Ein kühler Taktiker war Schiller sicher nicht. Strauß hat recht, wenn er ihn als einen „Sohn der Sturm- und Drangzeit der Arbeiterbewegung" bezeichnet. E s stimmt auch, daß Schiller die Bedeutung, die der Wahlrechtskampf immerhin hatte, nicht erkannt hat. Falsch aber ist es zu sagen, daß er sich in die neuen Kämpfe, also die Kämpfe der neunziger Jahre, nicht mehr gefunden hätte, und falsch ist es, von einem „Verfall mit der Wirklichkeit" zu reden. Die Welt, mit der er „verfallen" war, die Kämpfe, in die er sich nicht mehr finden konnte, waren charakterisiert durch zunehmenden Opportunismus und Reformismus. Der Weg, den seine Partei eingeschlagen hatte, endete bekanntlich in der Kapitulationspolitik zu Beginn des Weltkriegs. Daß sein gesunder proletarischer Instinkt ihn diesen Weg und diese Welt ablehnen ließ, gereicht ihm nur zur Ehre. Zu Recht suchte er nach einem anderen, besseren Weg. Das Problem freilich ist komplex und kompliziert, und angesichts unserer geringen Kenntnis der Vorgänge damals in Reichenberg müssen wir uns vor spekulativen Schlüssen hüten. Wichtig ist, daß Josef Schiller seinen Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse nie aufgegeben hat, so verzagt und irritiert er auch zeitweiliggewesen zusein scheint. Wir wissen, daß er im Begriff war, Kontakte zur amerikanischen Arbeiterbewegung herzustellen, als ihn der Tod ereilte. Und wir wissen, daß er beabsichtigte, nach einer Zeit der Erholung in seine Heimat zurückzukehren und sich aufs neue in den Kampf zu stürzen: „Ich will jetzt ein 2*

XIX

J a h r lang meinen Erbfehler (die Trunksucht - N. R.) - kurieren", so äußerte er kurz vor seinem Tode zu seinem Freund. „Wenn ich werde dies überstanden haben und ein J a h r in der Öffentlichkeit gekämpft haben werde, dann bin ich gesonnen, nach Wien zu reisen und die verschiedenen Parteien von einer neuen Idee anzufeuern." 22 Viele Chronisten der frühen Arbeiterbewegung in Österreich und speziell in Nordböhmen haben sich an Josef Schiller erinnert. Das macht es uns — ganz im Unterschied zur Lage bei vielen anderen frühen sozialistischen Autoren — leicht, ein Bild von der Persönlichkeit dieses Mannes zu entwerfen. E r war allenthalben in Böhmen nicht nur bekannt, sondern auch ausgesprochen populär, beliebt und geachtet. Seine Popularität war so groß, daß sie ihm Neid und Mißgunst einiger anderer Aktivisten der böhmischen Arbeiterbewegung einbrachte. Auch jene unter den Chronisten, die zum „gemäßigten" Flügel der Partei, also zu Schiller Seffs Kontrahenten gerechnet werden müssen, haben ihm — trotz kritischer Bemerkungen — Achtung und Respekt erwiesen, sei es nun aus ehrlicher Überzeugung angesichts der Leistung dieses Mannes oder aus berechnender Beachtung der Meinung breiter Proletariermassen. Schillers hervorstechendste Eigenschaft war sein ungewöhnliches Talent als Agitator und Redner, das sich mit seiner Begabung als Deklamator und auch als Sänger paarte. E r war einer der beliebtesten Agitatoren und Redner in Böhmen, wahrscheinlich sogar der beliebteste. Robert Preußler hat ihn so beschrieb e n : „Schiller Seff konnte zu einem der besten Redner der österreichischen Arbeiterbewegung gerechnet werden. Sein herrliches, im klingenden Baß gehaltenes Organ, das an pointierten Stellen mäßig ausholte und angenehm in die Höhe ging, seine bilderreiche Sprache und sein köstlicher Humor gewannen die Herzen im Sturm. Er nahm sich kein Blatt vor den Mund und als ich das erstemal mit ihm zusammenkam und Goethe als meinen Lieblingsdichter über Friedrich Schiller stellte, nannte er mich in aller Gemütlichkeit einen Maulaffen. (—) Es lag etwas echt Künstlerisches in diesem Menschen, das seinem Vortrag eine schöne Form gab, ohne seine packende Wirkung zu beeinträchtigen . . . " 2 3 Nach Anton Behr hatte Schiller Seff als junger Mann „eine bedeutende Ähnlichkeit mit seinem Namensvetter, dem Dichter XX

Friedrich Schiller" 24 . Er wirkte als Redner intensiv auf die Massen, weil er es verstand, „alle Saiten der Proletarierherzen erklingen zu machen" 2 5 . Seine Reden hielt er zumeist aus dem Stegreif, wobei er günstige Situationen geschickt ausnützte, so zum Beispiel auf einer Volksversammlung in Machendorf (Machnin), wo ein heftiges Gewitter während seiner Rede aufkam: „Als die flammenden Blitze um die Fenster fuhren", so berichtete Anton Behr darüber, „und gewaltige Donnerschläge das Haus erzittern ließen, benutzte Schiller dieses gewaltige Naturereignis, um vor den Versammelten ein Bild aufzurollen von der kommenden Revolution, in der das ausgebeutete und geknechtete Proletariat seine Sklavenketten abschütteln wird." 2 6 Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit kamen ihm bei seiner Agitation besonders dann zugute, wenn es galt, Attacken der Gegner abzuwehren: „In einer Versammlung im Vereinshause in Warnsdorf (Varnsdorf — N. R.) hielt er einen Vortrag über die Bienen", erzählte Karl Günzel. „Er schilderte, wie sie mit unermüdlichem Fleiße den ganzen Sommer arbeiten und den Honig sammeln, damit sie über den Winter Nahrung haben. Wenn die Drohnen zu sehr überhand nehmen, daß Gefahr besteht, die von den Arbeitsbienen zusammengetragene Nahrung könnte von den Müßiggängern aufgezehrt werden, dann treten die arbeitenden Bienen in einen kurzen Kampf mit ihren Widersachern, töten sie und werfen sie hinaus. Anders ist es mit den Drohnen in der menschlichen Gesellschaft — da wird der arbeitende Teil von den Drohnen in der schändlichsten Weise bekämpft und ausgenützt. Auf eine Bemerkung des Regierungsvertreters antwortete Genosse Schiller: ,Ich kann doch nicht dafür, daß die Bienen klüger sind als die Menschen.'" 2 7 Gerade dieses Beispiel weist uns auf eine zweite, ebenso grundlegende Eigenschaft Schillers hin, ohne die seine Erfolge in der Agitation nicht denkbar gewesen wären, auf seine stetige, selbstlose Einsatzbereitschaft als proletarischer Klassenkämpfer. Was er sagte, wirkte, weil er mit seiner ganzen Persönlichkeit dahinterstand. Wo immer es galt, etwas für die Arbeiterbewegung zu tun, ihr ein Opfer zu bringen, war Schiller Seff zur Tat bereit. Bei seiner Begabung hätte er persönlichen Erfolg im Leben haben können. Zumindest hätte er eine „Karriere" als Funktionär in der Arbeiterbewegung machen können. Doch solches Streben war seiner Natur zuwider. Er wollte und mußte sich gegen alles Unrecht, gegen Lüge und Niedertracht empören und den BeXXI

drängten und Unterdrückten, den Entrechteten und Betrogenen helfen. Das machte ihn zum entschlossenen Streiter für die Sache seiner Klasse, der eher zum „Radikalismus" als zur „Mäßigung" neigte. E r war ein Mann der schnellen Tat, doch ein Hang zur Gewalttätigkeit, etwa anarchistischer Prägung, war ihm nicht eigen. E r ist vielmehr als ein umgänglicher und verträglicher, hilfsbereite rund liebenswerter Mensch, als guter Kamerad und Freund geschildert worden. Gute Laune und Heiterkeit wurden ihm nachgesagt. Andererseits war er sensibel und tiefsinnig, naturverbunden und tierliebend. Wie aus seinen Gedichten und mehr noch aus seinen autobiographischen Erzählungen zu erkennen ist, entwickelte er viel Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Menschen in seiner jeweiligen Umgebung, so verschieden diese immer veranlagt waren. Ein immer waches Interesse für alles Menschliche, in Verbindung mit echtem Sinn für schöne und wirksame Form, machte ihn zum Dichter. Es gibt auch Hinweise auf Probleme seines Charakters. Sie sind alles in allem von untergeordneter Bedeutung. Daß er sich zuweilen unverblümt, wohl auch grob äußerte, war sicher eine Frage des Temperaments und ist im allgemeinen auch wohl so verstanden worden. Wer freilich Anstoß suchte, konnte ihn hier finden. Ebenso bei seinem Alkoholismus. Josef Beranek sprach von „Leidenschaften" Schillers, ohne sie näher zu benennen, ordnete sie aber richtigerweise eindeutig den Vorzügen seines Charakters unter: „Josef Schiller war ein Mensch mit vielen guten und liebenswerten Vorzügen, gehärtet durch wirtschaftliche und soziale Drangsale. Seine Leidenschaften waren der Ausfluß dessen und zeigen, wie das soziale Milieu den Charakter schafft und bildet. Er war ein Kind seiner Zeit mit allen ihren Vorzügen und Nachteilen." 2 8 Schiller war ein emotionaler und stets tatbereiter Mensch. Zuweilen drohte seine Emotionalität in Sentimentalität auszuarten, und die betonte Tatbereitschaft ließ ihn manchmal vorschnell handeln. Denken wir an das Gedicht „Die Christnacht", in dem er sich — freilich durch tiefe und echte Empfindung — im Mitleiden verliert, oder an seine verständliche Reaktion beim Unglücksfall in der Aussiger chemischen Fabrik, die ihn seine Arbeitsstelle und damit die Möglichkeit systematischer Aufbauarbeit in der lokalen sozialdemokratischen Organisation kostete. Doch die Arbeiterbewegung jener Zeit in Böhmen, die noch nicht XXII

auf ein geschultes Bewußtsein ihrer Kader aufgebaut werden konnte, dürfte gerade solche Menschen gebraucht haben, die die Massen auch emotional anzusprechen und zu begeistern vermochten. P a s hat gewiß viel zu seiner Popularität beigetragen und ihm Wirkung ermöglicht. Andererseits hatten seine Reichenberger Genossen wohl auch nicht ganz unrecht, wenn sie — wie angenommen werden muß — das Bedenkliche seiner Haltung, den Mangel an kluger Berechnung und bewußter Nüchternheit, mit kritischen Augen betrachteten. Ob dieser Mann, mit diesen Eigenschaften und dieser Haltung, den Anforderungen des Klassenkampfes der folgenden Jahrzehnte hätte gerecht werden können, bleibe dahingestellt. Zu seiner Zeit jedenfalls hat er begeisternd und mitreißend gewirkt und sicher einen guten Anteil an den Erfolgen der nordböhmischen Arbeiterbewegung gehabt. Er war — wie Robert Preußler es formuliert hat — ein „Erwecker" der nordböhmischen Arbeiter 29 . Anton Behr nannte ihn „einen der tüchtigsten Männer, welche die nordböhmische Arbeiterbewegung aufzuweisen hat" 30 . Sein Wahlspruch sei gewesen: „Die Feigen werden feiger und die Mutigen werden mutiger", und er habe zu den Mutigen gehört. 31 Die persönliche Tragik seines Todes im Exil, ohne Versöhnung mit seinen Genossen, darf nicht übersehen, aber auch nicht überbewertet werden. Was er als politischer Kämpfer und Dichter geleistet hat, bleibt davon unberührt. Noch Jahrzehnte später war das große Beispiel des Kämpfers und Sängers des Proletariats Schiller Seff unter den klassenbewußten Arbeitern seiner Heimat in Erinnerung. 32 Schiller Seffs Werke zu analysieren und zu bewerten ist schwierig, weil wir die ungedruckten Gedichte nicht kennen. Und das waren nicht nur die meisten, sondern sehr wahrscheinlich auch die interessanteren. Nach Angaben von Heinrich Barthel 33 , dem Schwiegersohn Schiller Seffs, hat dieser eine sehr große Zahl Gedichte, wahrscheinlich über tausend, verfaßt. Er hat aber bewußt nichts getan, um sie zu sammeln und zu bewahren, denn er war der Meinung, das Gute würde sich von selbst erhalten, das übrige aber sei gar nicht wert, erhalten zu werden. Sicher hatte der von materieller Bedrängnis geplagte und vielbeschäftigte Mann auch kaum Zeit, sich mit einer solchen Tätigkeit zu befassen. Die wenigen schmalen, von ihm selbst herausgegebenen GedichtXXIII

bände hatten mehr den Zweck, materielle Notsituationen zu überbrücken. Deshalb durften sie nicht durch Aufnahme solcher Texte gefährdet werden, die die Feindschaft des Verfassers dem herrschenden Regime gegenüber allzu deutlich zum Ausdruck brachten. Das aber waren gerade jene Texte, mit denen er vor die Arbeiter trat, mit denen er sie aufrüttelte und anfeuerte und die deshalb für sein Schaffen besonders charakteristisch sind. Sie dürften den in diesen Band aufgenommenen Texten „Das Sklavenjoch", „In der Fabrik" und „Ein Stimmungslied am Abend" geähnelt haben. Die überlieferten Texte stammen fast ausschließlich aus den genannten kleinen Bändchen, die der Autor selbst herausgegeben hat, und aus Zeitungen und Zeitschriften. Dies Material, so fragmentarisch es immer sein mag, hat dennoch großen Wert. Viele dieser Texte gehören zum Besten, was die frühe sozialistische Literatur hervorgebracht hat. Wer die Lebensumstände ihres Verfassers und die Gründe für das Fehlen so vieler wichtiger Texte kennt, kann sich wohl auch anhand des vorliegenden Materials eine gewisse Vorstellung vom Gesamtschaffen Schiller Seffs machen. Inhalt der meisten Texte ist die höchst kritische, auf grundlegende Veränderung zielende Auseinandersetzung mit der als unzulänglich, ja unerträglich empfundenen gesellschaftlichen Umwelt. Wie er sich eine andere, bessere Welt vorstellte, darüber hat er sich nie ausführlich geäußert. Die Befreiung von der reaktionären Zwangsherrschaft erschien ihm als die eigentlich aktuelle Aufgabe, nach deren Bewältigung sich alles andere finden würde. Jedenfalls baute er auf „Menschenliebe" (vgl. das Gedicht „Die Schranke der Freiheit") und die Kraft des „Geistes" (vgl. das Gedicht „Der Geist der Geschichte") als Mittel zur Veränderung der Welt. Die Harmonie der Natur war ihm Vorbild für eine künftige Menschengemeinschaft (vgl. das Gedicht „Frühlingsgedanken"). Doch war er sich auch der Notwendigkeit harten Kampfes bewußt und zu eigener Aktivität und eigenem Engagement bereit. Negativen Erfahrungen stellte er ein kraftvolles und entschlossenes „Trotz alledem!" entgegen: Drum sollen auch die Menschen nie verzagen, Wenn scheinbar eine gute Tat mißlingt; Wir wissen ja aus längst vergangnen Tagen, Daß stets die Tugend mit dem Laster ringt. Und wie man auch die Wahrheit stets geschlagen, XXIV

Die Menschheit dennoch mutig vorwärtsdringt; Und dieses Wissen, daß wir vorwärtsstreben: Das ist der Weg zu einem beßren Leben. 34 Die „Waffen des Geistes" (vgl. das Gedicht „Der Weg zum besseren Leben") wollte er benutzen, er war aber auch zum Hassen und zum Kampf bereit: Ihr Freunde, glaubt es auf mein Wort, Man wird es noch erleben, Es werden sich von Ort zu Ort Die Armen einst erheben. Es kann uns auch nicht viel geschehn, Drum reichet euch die Hände, Und wenn wir auch zugrunde gehn, Dann hat die Not ein Ende. Und geht es los, dann drauf und dran, Mit unserm ganzen Hasse, Ein jeder kämpfe wie ein Mann Fürs Recht der vierten Klasse. 35 Keineswegs gehörte er zu jenen, die auf entschiedenen Klassenkampf verzichten wollten. Unverblümt war sein Aufruf zu revolutionärem Handeln am Schluß seines allegorischen Gedichts „Die Wahrheit im Kampfe mit Lüge und Unverstand!", wo die „Wahrheit", „das Schwert in der Rechten", zum Publikum gewandt, ausruft: Doch, soll Gerechtigkeit auf Erden walten, Dann muß die Jugend zu der Wahrheit halten. (—) Drum mutig vorwärts! Die die Wahrheit lieben. Beweist die Wahrheitsliebe durch die Tat. Vertreibt den Unverstand mit scharfen Hieben, Seid treue Wächter meiner jungen Saat. Beschützt die Wissenschaft vor großen Dieben. Befreit die Schule und befreit den Staat. Befreit die Arbeit von den faulen Drohnen, Und Bildung, Wohlstand wird stets bei euch wohnen! 3 6 Daß die reaktionäre Klassenjustiz dies Gedicht zum Anlaß für seine Verhaftung nahm, ist nicht verwunderlich. Schiller Seff beklagte die Not der Weber („Des Webers Klagelied") und das Elend der Waisenkinder („Die Christnacht"), verspottete die „Geldprotze" („Ein Geldprotz") und Philister aller Arten (etwa „Phantasie-Gewebe"), ja selbst seine Gefängniswärter („Inquisitenlied"), vermittelte sachlich, aber anschaulich KampfXXV

erfahrungen („Blätter und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen") und feierte die proletarische Solidarität („Der Weihnachtsabend"). Ausgehend von den eigenen bitteren, immer wieder erneuerten Klassenkampf erfahrungen, litt er mit den Unterdrückten und Bedrängten, empörte er sich mit ihnen und wurde zum „Erwecker" und zeitweilig auch zum Führer der um ihre Befreiung Ringenden. Die Sphäre der Arbeit, im weitesten Sinne, vor allem der Auseinandersetzung mit den Unternehmern und des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit und Ausbeutung, spielt in Schiller Seffs Werk eine bemerkenswerte Rolle. Hier wird spürbar, daß der Autor sein Leben lang wirklich Arbeiter und Arbeiterfunktionär war. Nicht zufällig ist das Gedicht „Das Sklavenjoch", das ganz a m Anfang seines Wirkens als politischer Dichter stand, der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Ausbeutung gewidmet. Leider läßt sich diese thematische Linie in seinem lyrischen Schaffen — auf Grund des Fehlens so vieler wichtiger Gedichte — nicht bis zum Ende verfolgen. Aber auch in den kleinen Erzählungen und vor allem in den „Blättern und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen" stehen Erfahrungen aus der Arbeitssphäre im Mittelpunkt. Selbst in der autobiographischen Gefängniserzählung „Bilder aus der Gefangenschaft" spielen sie in der wichtigen Streikepisode eine große Rolle. Ein vielseitiges Interesse f ü r alle Seiten des Lebens verhinderte ein Abgleiten in Einseitigkeit der Thematik und Sichtweise. Natur, Religion, die Frage nach dem Sinn von Leben und Tod und das Problem der Freiheit beschäftigten ihn gründlich, freilich nie f ü r sich, sondern immer im Zusammenhang mit dem Zentrum seines Strebens, dem Ringen um revolutionäre Veränderung der Welt. Elend, Bedrückung und die Furcht vor der Gewalt und der Gewalttätigkeit der Mächtigen — allen voran des „großen Vaters" J o h a n n Liebieg und seiner Antreiber — wurden zum sozialen Grunderlebnis des Proletarier- und Waisenkindes. Daraus entstand das Gefühl, „hilflos arm" zu sein („In der Fabrik"). Empörung und Kampf gegen Mutwillen und Bosheit der Mächtigen wurden zum dauernden Anliegen des politischen Kämpfers und des Dichters. So wendete er sich gegen die Sklaverei des kapitalistischen Arbeitsprozesses („In der Fabrik", „Das Sklavenjoch") und ebenso gegen die „sogenannten Christen", die ihn, den zum „Schaffen", „Ringen" und „Wagen" Neigenden, zum „Dulden", XXVI

„Leiden" und „Tragen" zwingen wollten („Der Konfessionslose"), gegen die unpolitischen Gewalttäter in der H a f t a n s t a l t („Bilder aus der Gefangenschaft") und schließlich gegen jene, die er — wieweit zu Recht auch immer — als Verräter der Arbeitersache betrachtete, insbesondere gegen das „neue P f a f f e n t u m " („Phantasie-Gewebe") und gegen die opportunistischen Vertreter des ausschließlich parlamentarisch-legalen Kampfes. „Liebe", „Harmonie" und „Geborgenheit" suchte er, da er sie im sozialen Leben zunächst nicht finden konnte, in der Natur. Diese Naturverbundenheit prägte sein frühes lyrisches Schaffen ganz wesentlich mit. In die N a t u r flüchtete er am Schluß seines Lebens zurück, als die zeitweilige Fehlentwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung ihm die im Kampf gewonnene „Harmonie" mit seinen Klassenbrüdern zu zerstören drohte. Allerdings h a t t e diese Flucht den Zweck, neue K r a f t aus der N a t u r zu schöpfen. Seine Vorstellung von proletarischer „Freiheit" war — wie be i anderen frühsozialistischen Autoren — theoretisch unbestimmt, aber nie realitätsfremd gewesen. Schon früh h a t t e er bemerkenswerte Gedanken über die „Schranken" der Freiheit entwickelt. „Freiheit" verband sich f ü r ihn mit „Entwicklung", mit schöpferischer Tat und Erkenntnisstreben („Die Schranke der Freiheit", „Frühlingsgedanken", „Der Weg zum besseren Leben"). Die Schärfe seiner satirischen Abrechnung mit den Kräften der Reaktion und die Unerbittlichkeit gegenüber seinen „Kritikern" resultierten nicht aus Uneinsichtigkeit oder Unbeeinflußbarkeit, sondern wesentlich aus der E r f a h r u n g der Ohnmacht, wie er sie gegenüber den Reichenberger Funktionären in den neunziger J a h r e n ebenso verspürte wie gegenüber den Polizisten und Gefängnisaufsehern anläßlich seiner Prager H a f t . Aus dem Gefühl der Ohnmacht entwickelten sich zwangsläufig Bitterkeit und unbändiger Zorn. Diese Bitterkeit und dieser Zorn tendierten um so mehr zum Haß, als Schiller Seff, bei aller Entschiedenheit und Tatbereitschaft, zu tiefem und echtem Mitleid, zuweilen fast zur Sentimentalität, und zur „großen", pathetischen Geste neigte. Sein Empfinden gehörte einer schon besseren Welt an. Deshalb entsprach es den Wünschen und Hoffnungen der unterdrückten Proletariermassen, war es geeignet, deren Sehns üchte zu wecken und zu nähren und teilweise in kämpferische H a l t u n g verwandeln zu helfen. Doch war es auch nicht frei vom Rauschh a f t e n ; was hier fehlte, war der Einfluß theoretisch geschulter XXVII

Partner. Zu unkonkret blieb die Vision revolutionärer Vorgänge in dem Gedicht „Ein Stimmungslied am Abend". In seiner Naivität merkwürdig wirkt das Gedicht „Die gute Kuh", das nicht zuletzt auch einen trotzigen, zutiefst ernsten Versuch der Selbstbehauptung seines Schöpfers darstellt. Es ist im Grunde ein Zeugnis tiefer Krise, des Menschen und des Dichters. Praktisch gleichzeitig entstand aber das Gedicht „Die Sozialdemokratie von Nordamerika", in dem die amerikanischen Arbeiter, auf der Basis österreichischer Erfahrungen Schiller Seffs, vor den „Koloradokäfern", den Leuten des „Wenn" und „Aber", gewarnt wurden und in dem ihnen Mut und Selbstvertrauen in ihrem Kampf gewünscht wurde. So begehrte er mutig auf gegen die persönliche Niederlage, die er nicht anerkannte oder doch nur als eine zeitweilige begriff, und rief — sich und andere — zur Tat, wie es seinem Charakter und seiner ganzen Lebenserfahrung entsprach. Diese Krisenüberwindung wurde möglich durch den unaufhaltsamen Fortschritt seiner Klasse im Weltmaßstab, wie er ihm durch die amerikanische Arbeiterbewegung offenbar wieder bewußt geworden war. Was auffällt, ist die Vielfalt der formalen Möglichkeiten, die Schiller Seff zur Verfügung standen. Er hat sich in allen drei Gattungen erfolgreich betätigt: War es zunächst die Lyrik, die ihn bekannt machte und ihm Wirkung ermöglichte, so sind für den heutigen Leser die autobiographischen Erzählungen von besonderem Interesse. Die allegorischen Dichtungen „Selbstbefreiung" 37 , „Die Wahrheit im Kampfe mit Lüge und Unverstand!" und „Der Mensch im Thierreiche" sind Übergangsformen zwischen Lyrik und Dramatik, wie sie damals in der Arbeiterbewegung zu agitatorischen Zwecken nicht selten verwendet wurden. Ähnliche Begabungen hat es in der frühen sozialistischen Literatur verschiedentlich gegeben: Max Kegel, August Otto-Walster und Ernst Preczang. Bedenkt man aber auch die rezitatorische Begabung und das Rednertalent, das wesentlich auf der Fähigkeit basierte, in halbliterarischer Weise bildhafte Elemente zu verwenden, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß Schiller Seff eine der künstlerisch am reichsten begabten Persönlichkeiten der frühen Arbeiterbewegung war. Hohe Sensibilität und vitale Aktivität mobilisierten Schiller Seff immer wieder, Unrecht, Unsinn oder Verirrungen zu entlarven und zu bekämpfen. Schillers Tragik bestand zu einem wesentlichen Teil darin, daß die meisten seiner Reichenberger XXVIII

Mitstreiter den Wert einer solchen Begabung nicht verstanden, vielmehr nur die Unbequemlichkeit eines solchen Mannes sahen und abzuwehren versuchten. Bemerkenswert ist es, wie Schiller die verschiedensten Formen der Lyrik — scheinbar spielerisch — meistert, vom anspruchslosen liedhaften Gedicht mit „kleinem" politischen Hintergrund über den satirischen Vers und das große satirisch-allegorische Gedicht bis hin zur Gedankenlyrik und zu der beachtlichen, wenn auch Friedrich Schiller nachempfundenen Ballade „Der Weichensteller". Ist auch die Form hie und da etwas wenig geschliffen, schleichen sich auch zuweilen sprachliche Schwächen, wohl als Folge der unzulänglichen Schulbildung, ein, so überzeugt doch jedes Gedicht durch die Einheit von Anliegen, Inhalt und angemessener Form. Anlehnungen an klassische Form-Vorbilder sind selten, wo sie sich dennoch finden, wirken sie nicht belastend, weil das Eigene stets dominiert, das Übernommene schöpferisch verarbeitet wird. Das Anliegen des Autors erweist sich immer wieder als so stark, daß eine Anpassung an die übernommene Form oder gar eine Unterordnung unter sie unmöglich erscheint. Die kleinen Erzählungen sind sicher keine Meisterleistungen. Sie dienten operativen Zwecken und mögen dabei ihre Aufgabe erfüllt haben. Zu bedauern ist es, daß Schiller nicht Gelegenheit hatte, seine Autobiographie „Blätter und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen" fortzusetzen. Was hätte dieser Mann, der so prägnant zu erzählen wußte, gerade über den letzten Abschnitt seines Lebens berichten können! Die beiden autobiographischen Schriften gehören fraglos in die Reihe der bedeutenden Autobiographien früher sozialistischer Autoren. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß hier ein klassenbewußter Proletarier aus den Erfahrungen eines wechselreichen und von bewußt geführten und erlebten Kämpfen geprägten Lebens berichtet. Schiller Seff, der einen immer wachen Sinn für Form und Wirkung hatte, verband in diesen autobiographischen Schriften, vor allem in den „Bildern aus der Gefangenschaft", erfolgreich tatsächliche Begebenheiten mit Erdichtetem, um sie etwas „gefälliger erscheinen zu lassen", wie er es selbst formuliert hat. 38 Die allegorischen Dichtungen erscheinen uns heute weniger interessant, damals hatten sie eine echte Funktion zur Auflockerung und Belebung von Part ei Veranstaltungen. Paul Reimann hat Schiller Seffs Satire sehr gerühmt 39 , in diesem Punkte können wir Reimann nicht ganz folgen. Schiller hatte XXIX

echten Sinn für Humor und Satire, und die Berichte seiner Mitstreiter weisen auf die Wirkung hin, die er mit Humor und Satire zu erzielen vermochte. Doch bei Kenntnis des Reichtums und der Vielfalt der politischen Satire im „Wahren Jacob" und im „Süddeutschen Postillon" erscheint Schiller Seffs Leistung auf diesem Felde doch eher begrenzt. Bedeutung gewinnt diese Seite seines Talents nicht in einzelnen satirischen Texten, jedenfalls nicht in den uns überlieferten, sondern als ein Element unter mehreren in den autobiographischen Erzählungen. Meisterhaft vermag er es, Erinnerungen an Komisches und Tragisches kompositorisch zu verbinden, man denke nur an die Auseinandersetzung mit dem Papiersäckelproduzenten in der Prager Haftanstalt. Die gleiche Verbindung von Ernst und Heiterkeit zeichnet Schillers Reden aus; wir können nur bedauern, daß uns nicht mehr Zeugnisse von Schillers Redetalent überliefert sind. Angesichts der Tatsache, daß viel wichtiges Material nicht bekannt ist, muß man mit Aussagen über die Entwicklung des Autors sehr vorsichtig sein. Soviel kann man aber sagen: Schon in den siebziger Jahren hatte sich Schiller Seffs Talent voll entfaltet, eine Reihe seiner besten überlieferten Gedichte stammt aus dieser Zeit. In den achtziger Jahren wurde das politische Engagement in seinen Dichtungen unmittelbarer und deutlicher sichtbar. Die ersten neunziger Jahre wurden zu einem Höhepunkt in seiner Entwicklung, ermöglicht durch günstige äußere Bedingungen. Die folgenden schweren Zerwürfnisse mit seinen Reichenberger Genossen zerstörten sein Talent nicht, untergruben aber seine schöpferischen Kräfte. Die Gedichte aus dieser Zeit sind Zeugnisse schweren, zuweilen fast verzweifelten Ringens. Vor allem aber zeugen sie von unerschütterlicher Treue zum lebenslangen Anliegen, zum Kampf für die Befreiung der Proletarier und aller Unterdrückten von den Fesseln der Reaktion. In dieser Treue aber lag die Möglichkeit zur Überwindung der persönlichen Krise. Im Jahre 1928 erschien in Reichenberg eine Ausgabe „Gesammelte Werke" von Schiller Seff, herausgegeben von der LiteraturKommission der K P C . Die Hauptarbeit für diese Ausgabe hatte Paul Reimann geleistet, der die Texte gesammelt und den Band mit einer informativen Studie über „Schiller Seff und die Geschichte der nordböhmischen Arbeiterbewegung" versehen hatte. Mit dieser Arbeit hat sich Paul Reimann ein bedeutendes Verdienst um das Werk Josef Schillers erworben. Unser Projekt profitierte davon. XXX

TEXTE

GEDICHTE

In der Fabrik Wo bin ich und was soll ich hier auf Erden? So hab' ich in der Jugendzeit gefragt. Was soll aus mir und meinem Leben werden? So habe ich als Jüngling oft geklagt. Ist denn Bedrückung, Hunger und Beschwerden Der Lohn — für das, was ich bis jetzt gewagt? So frug ich oft in meinen Frühlingstagen, Doch niemand kam, um Antwort mir zu sagen. Wer hätte denn auch damals kommen sollen ? Ich war ein Knabe, als der Vater starb; Ein Waisenkind will nur, was andere wollen. Man wollte, daß ich zeitig Brot erwarb. Der Lehrer in der Schule mochte grollen, Daß meine Wißbegierde früh verdarb, Der Hunger sprach mit seinen kalten Blicken: Komm Knabe, komm nach Brot in die Fabriken! Der Hunger war von nun an mein Berater, Bald fand ich Brot, mich nahm ein Fabrikant, Man hat ihn oft den guten großen Vater, Ja, den Ernährer — Tausender genannt. Und dieser große Vater — nun, was tat er? Er gab mir Arbeit, Brot, jedoch ich fand, Daß der, den sie den großen Vater hießen, Im Kinderquälen sich recht groß bewiesen. Ich werde nie den ersten Tag vergessen, Den ich in jener Spinnfabrik erlebt, Nachdem der große Vater mich gemessen Mit einem Blick, vor dem ich oft erbebt; Mit einem Blick, als wollte er mich essen, 3

Josef Schiller

3

Sind ihm die wenigen Worte rasch entschwebt: „Du bist noch schwach, doch gibt es ja Maschinen, Die können Kinder, so wie du, bedienen." Dann kam ein Mann, der hieß mich mitzugehen, Ich ging mit ihm in einen großen Saal, Da sah ich hunderte Maschinen stehen. Der Weg hindurch erschien mir viel zu schmal, Dann könnt' ich weder hören, weder sehen — Ich war betäubt, und beides war mir Qual —, Ich sah zu viel und hörte stets dazwischen Ein fürchterliches Sausen, Stampfen, Zischen. Mein Führer ging zu einer Spinnmaschine, Bei der ein Mädchen von zwölf Jahren stand, Dann schrie er mir ins Ohr mit strenger Miene: „Hier sollst du schaffen — will der Fabrikant, Gehorche! — Schweige! — Sei wie eine Biene, Sonst!" schrie der Mann und hob dabei die Hand, Damit ich ihn nur recht verstehen sollte. Ich dachte gleich, daß er mich schlagen wollte. Dann ging er fort, und jenes junge Mädchen, Das sprach zu mir: „Komm her und gib wohl acht!" Sie lehrte mich, wie man zerrißne Fädchen Und auch verworrene in Ordnung macht, Wie man das Ganze, bis zum kleinsten Rädchen, Mit Mühe und mit Vorsicht überwacht. Und es gelang ihr, denn in wen'gen Stunden War meine Furcht beinahe schon verschwunden. Ich wagte es auch bald, mich umzuschauen, Wohl noch beklommen, aber ohne Scheu. — Da plötzlich faßte mich ein banges Grauen, Mein Ohr durchzitterte ein Schmerzensschrei, Ich sah mich um, da trugen einige Frauen Ein bleiches Mädchen rasch an mir vorbei; Auch sah ich Blut an ihrer Seite fließen. Der rechte Arm war fürchterlich zerrissen. Ich blickte stumm und schmerzlich vor mich nieder, Das bleiche Mädchen, der zerrißne Arm — 4

Was ich auch tat, ich sah es immer wieder, Das Mädchen war wie ich, so hilflos arm. Ein leichtes Beben ging durch meine Glieder, Es war wie Wut — mir wurde plötzlich warm, Da ringsumher die rasenden Maschinen Als schwarze Ungeheuer mir erschienen. Der wilde Lärm, das Stampfen, Krachen, Krächzen Drang furchterregend schrecklich an mein Ohr, Wie wilde Tiere, die nach Beute lechzen, So kam mir jede Dampfmaschine vor. Dann hört' ich leise seufzen, stöhnen, ächzen, Und wütend hob ich meinen Arm empor, H ä t t ' ich's vermocht, in meinem Knabenfeuer Zertrümmert h ä t t ' ich diese Ungeheuer.

Das

Sklavenjoch

Sklavenjoch, ei, wie das klingt, Wie das Wort mein Herz durchdringt. Skiavenjoch bei diesen Zeiten, Ei, was soll das Wort bedeuten? Ich vermag das Wort zu fassen, Mögt ihr spotten oder hassen; Kann es auch die Welt nicht glauben, Niemand soll das Wort mir rauben. Sklavenjoch, ruft ihr verwundert, Jetzt, im neunzehnten Jahrhundert? Jetzt ist doch der Ärmste frei! Und doch herrscht noch Sklaverei. Wo ein Dampf türm sich erhebt, Wo ein Haus von Kraft durchbebt, Wo die rauchgeschwärzten Mauern Immer seufzen, immer trauern; Wo viel tausende Maschinen Sich durch Dampfeskraft bewegen,

Wo mit kummervollen Mienen Sich viel tausend Menschen regen, Dorthin, wenn es euch gelüstet, Die ihr euch mit Freiheit brüstet, In Fabriken müßt ihr gehn, Und ihr werdet Sklaven sehn. Wo viel tausend Menschen sind, Wo ein jedes schwache Kind Arbeit findet, in Fabriken, Dorthin müßt ihr einmal blicken. Kinder, die die Welt kaum kennen, Läßt man so nach „freiem Willen" Ruhig ins Verderben rennen. Heißt das Elternpflicht erfüllen? Sagt mir, welcher Vater wollte, Daß sein Kind verderben sollte, Welche Mutter weint nicht mit, Wenn ihr Kind sie leiden sieht. Ist der Arbeitsmann auch arm, Schlägt's im Herzen ihm doch warm; Liebt der Arme ja nicht minder Wie ein Reicher seine Kinder. Und bei all den Müh'n und Plagen Wird das Kind noch oft geschlagen. Wie? Ja, Schläge gibt es noch! Ist das noch kein Sklavenjoch? Und was blüht darauf für Glück, Geht ein Kind in die Fabrik? Können Mädchen mit Vertrauen Einem Mann ins Auge schauen, Die seit Jahren in Fabriken Sich ihr Brot verdienen müssen, Und als Weib sich glücklich wissen? Nein, nicht eine von den allen! Denn die eine Tugend fehlt, Wo die Roheit Wache hält. Wissen das die Eltern nicht? Denn es ist ja Elternpflicht, Ihre Kinder zu entfernen, 6

Wo sie Unzucht, Roheit lernen. Und bei all dem Müh'n und Streben Kann ein Vater nicht mehr leben; Wenn die Seinen sich vermehren, Kann er sie nicht mehr ernähren. Und es muß das Kind verderben; Muß sich selbst sein Brot erwerben. Und wenn ihm das Herze bricht, Retten kann's der Vater nicht. Duldet nur, ihr lieben Brüder, Einmal scheint die Sonne wieder. Und vielleicht glänzt auch einmal Uns ein heitrer Freiheitsstrahl.

Die Schranke

der

Freiheit

So wie ein Strom der dunklen Kluft enteilet Und Segen spendet über Flur und Feld, So wie der Sturm die dunklen Wolken teilet, So braust das Wort der Freiheit durch die Welt. Das Wörtchen „frei" beseelt die schöne Erde, Denn alles Große faßt dies kleine Wort, Und nur den Menschen kostet es Beschwerde, Sie haschen nach dem Worte fort und fort. Sie kämpfen um das Wort, und wenn sie's haben, Dann ist es nicht so schön, wie sie gedacht, Dann sind es nicht die schönen goldnen Gaben, Wovon sie träumten in vergangner Nacht. Die Freiheit ist das Höchste hier auf Erden, Das Beste, was der Mensch sein eigen nennt, Doch kann die Menschheit dann nur glücklich werden, Wenn sie die Grenze wahrer Freiheit kennt. Frei sei der Geist, und frei sei der Gedanke, Doch jeder, der Gedankenfreiheit liebt, 7

Der muß auch wissen, daß es eine Schranke Für seinen Willen und sein Handeln gibt. Doch viele, die hier kämpfen, dulden, ringen, Sie müssen hilflos oft zugrunde gehn, Weil sie die Schranke tollkühn überspringen. Weil sie das Wörtchen „frei" nicht recht verstehn. Die Menschen wollen frei und gleich sich nennen, Die zueinanderhalten felsenfest, Und doch will oft der „Herr" den „Knecht" nicht kennen, Von dem er lebt und den er leben läßt. Und weil die Menschen in dem Irrtum leben, Daß einer mehr als wie der andre sei, Und da sie stets in diesem Glauben schweben, So werden auch die Menschen nicht recht frei. Wir müssen alle um die Freiheit ringen Und müssen uns von Stolz und Neid befrein, Dann wird der Kampf, dann wird der Sieg gelingen, Dann wird die goldne Freiheit unser sein. Drum kämpfet von der Wiege bis zum Grabe Stets auf der Bahn der Freiheit, werdet frei, Und führt euch auch der Weg zum Bettelstabe, So wanket nicht und bleibt der Sache treu. Lernt, frei von Stolz, für wahre Freiheit streiten, Durch Menschenhebe bringt der Menschheit Licht, Und wollt ihr nie die Grenze überschreiten, So haltet fest an Ehre, Recht und Pflicht. Doch wollt ihr euch ein andres Ziel erstreben Und seid ihr für die wahre Freiheit blind, Wollt ihr nicht menschlich unter Menschen leben, So geht dorthin, wo keine Menschen sind. Denn jene Bande, die uns Menschen binden, Solang es Menschen gibt, bestehen sie, Ihr werdet sie auf allen Wegen finden, Kämpft gegen sie, die Bande schwinden nie. 8

Stürzt alles nieder, tretet es mit Füßen, Glaubt, was ihr wollt, stürzt jede Obrigkeit, Ihr werdet dennoch nicht das Glück genießen, Daß ihr ganz frei und ungebunden seid. Und schlügt ihr auch die halbe Welt in Trümmer, Ja, wenn ihr selbst das Edelste verletzt. Der Freiheit Schranke stürzt ihr nie und nimmer. Denn diese Schranke heißt Naturgesetz.

Sehnsucht nach der

Heimat

Ist man in der Ferne, so einsam und allein, Da denkt man oft und gerne: Wie mag's zu Hause sein? So denk' auch ich im stillen, im dunklen, grünen Wald, Und heiße Tränen quillen im Auge mit Gewalt. Mein Wanderstab ist Zeuge, er ist mein bester Freund, Ich klage nicht, ich schweige, obgleich mein Auge weint. Mit diesem Wanderstabe, wie ich einst seufzend stand An meiner Eltern Grabe, im lieben Heimatland; Allein mit meinem Hoffen, allein mit meinem Leid, So stand die Welt mir offen, die Welt so kalt und weit. Im Wald, am Bachesrande, blick' ich den Wellen nach, Gedenk' im Heimatlande des kleinen Baiersbach. Ich denk' an all die Wälder, die in der Heimat sind, An all die schönen Felder, wo ich gespielt als Kind. Wo ich noch ohne Sorgen die Schmetterlinge fing Und in den Wald, geborgen, nach Beeren suchen ging. Auch hab' ich eine Stelle im Walde hier erblickt, Wie die „Andreasquelle", die mich so oft erquickt. Auch Paulsdorfs „Wiesenhöhe" hat mich schon oft geneckt, Wenn ich ein Gasthaus sehe, von Bäumen rings verdeckt. Dann sah ich mit Vergnügen von einem Berg einmal Ein nettes Dörfchen liegen, so wie Johannesthal. Da blickt' ich froh und heiter vom Berg ins Tal hinaus, Doch sieht man noch viel weiter vom Jeschkenberg zu Haus. Man kann vom Jeschkenberge viel andre Berge sehn, Doch müssen sie wie Zwerge vor ihrem König stehn. Von seinem hohen Throne blickt er ins Land hinab 9

Und legt die weiße Krone im Mai bescheiden ab. Dann geht's, mit grünen Zweigen geschmückt, durch Busch und Wald, Den Jeschken zu besteigen, da freut sich jung und alt. Oft ging die Sonne unter, da war ich noch nicht satt, Ich blickte froh hinunter nach meiner Vaterstadt. Von Bergen rings umschlungen, kein Städtchen kommt ihr gleich, Ihr Name ist gelungen, sie ist an Bergen reich. Doch still, die Lerchen schwingen beim Sonnenuntergang Zum Himmel sich und singen den Abendhochgesang, Als wollten sie mir sagen: Sei fröhlich, so wie wir. Du mußt das Bündel tragen, denn keiner trägt es dir. Drum fröhlich fortgegangen, den Wanderstab zur Hand, Das Bündel umgehangen und fort von Land zu Land! Und darf ich nicht mehr wandern, dann kommt der letzte Reim, Ich mach' es wie die andern, sie gehn ja alle heim. —

Der

Konfessionslose

Ich bin ein Greu'l dem Haufen der Sophisten, Weil ich entfernt mich hab' von ihrer Bahn; Auch hassen mich die sogenannten Christen — Ich bete nicht wie sie die Götzen an. Ich kann es nicht! Und wenn die Menschen wüßten, Daß uns ein Stein doch nicht erhören kann, Sie würden nicht vor flimmernden Altären, Anstatt der Gottheit, kalte Steine ehren! „Du bist verflucht! Dich treffe Schmach und Schande!" Das sind die Worte, die mein Bruder spricht, Weil ich mich frei gemacht von einem Bande, Das mich gehemmt! Ich fand die Gottheit nicht Dort, wo im goldgestickten Meßgewände Ein Priester predigt von Gebot und Pflicht; Denn was er lehrt, heißt: Dulden, leiden, tragen! Mein Inn'res lehrt mich: Schaffen, ringen, wagen! Was haßt ihr mich? Glaubt ihr, ich kann nicht beten, Weil ihr mich nie in euren Tempeln seht? — 10

Ich kann die dunklen Hallen nicht betreten, Wo buntgeputzt zur Schau die Menge steht; Wo ihr so oft in euren Lebensnöten Von einem Bilde euer Heil erfleht: Die Gottheit, hört ihr alle, die mich hassen, Läßt sich in keine Bilderrahmen fassen! — Wie glücklich bin ich, daß die Nebel schwinden, Daß ich sie fand, des Lebens rechte Spur: Ich weiß den Geist der Gottheit stets zu finden, Bewund're ich das Schaffen der Natur, Und will ich liebend mich mit ihm verbinden, So such' ich ihn in meinem Innern nur; Dort find' ich ihn und hab' ihn stets gefunden Und nie geahntes Heil und Trost empfunden. Ihr aber ringt verzweiflungsvoll die Hände, Wenn Krankheit, Hunger, Elend euch bedroht; Ihr glaubt, daß euch ein Gott dies Leiden sende Durch seinen Willen, durch sein Machtgebot, Ihr wißt es nicht, daß die vier feuchten Wände Und eure Nahrung schuld sind an der Not; Ihr wißt es nicht, und in dem blinden Glauben Laßt ihr euch so das beßre Leben rauben! Ihr kennt sie nicht, die feindlichen Gewalten, Die schuld an allen euren Leiden sind; Denn eure Kräfte mögt ihr nie entfalten, In eurem Glauben seid ihr wie ein Kind: Ihr wißt euch stets an etwas anzuhalten, Für alles andre seid ihr taub und blind; Drum seid ihr jeder Täuschung hingegeben Und findet nie den rechten Weg zum Leben! — Blickt doch einmal in eures Herzens Tiefen, Wenn euer Lebensschifflein in Gefahr — Versucht es doch, die eigne Kraft zu prüfen, Ihr findet manches, was euch möglich war, Wenn all die Bilder, die im Herzen schliefen, Vor eurem Geiste stehen hell und klar, Ihr findet manches, was euch schon gelungen, Wenn ihr mit Mut und Manneskraft gerungen.

Ihr sollt die eignen Kräfte nie beschränken, Sonst stempelt ihr euch selbst zum niedren Knecht; Nicht blinder Glaube soll die Kräfte lenken, Prüft immer selbst, was falsch ist oder echt. Ihr mögt nur menschlich fühlen, menschlich denken, Dann wißt ihr ja, was gut ist oder schlecht: Und dieses Denken nenn' ich — beten, Brüder, Drum betet so — kniet nicht vor Götzen nieder! Kommt doch mit mir in meine Andachtshalle, O Brüder, kommt aufs freie Feld hinaus! Ob Jud', ob Christ, willkommen seid ihr alle In diesem freien, großen Gotteshaus. Hört, wie es rauscht von frohem Jubelschalle, Seht, wie es grünt — die Bäume schlagen aus. O Brüder, kommt, laßt uns den Wald betreten, Dort sehen wir, wie alle Wesen beten! Seht, wie die Pflanzen liebend sich vereinen, Wie eins das andre bildet und erhebt, Wie die Natur im Großen wie im Kleinen In freier Ordnung nach Veredlung strebt. Und nirgends, nirgends wird euch Zwang erscheinen, Die Liebe ist's, die alles rings belebt. Erkennt euch selber; soll es Frühling werden, Laßt frei den Geist — der Himmel ist auf Erden.

Die

Buße

Zur Beichte ging mit frommem Blick Der junge Bauer Dominik, Jedoch der Pater Quardian Im Beichtstuhl war ein strenger Mann, Und wer zu ihm zur Beichte kam Und wen der ins Examen nahm, Dem stellte er gar viele Fragen. Wollte er nicht alles sagen, Hatte er selbst nichts verbrochen. Er wurde nicht gleich freigesprochen. 12

Zu Dominik sprach er: „Mein Kind, Ich weiß, daß alle sündhaft sind, Doch du, du hast schon viel getrieben, Weil dich fast alle Mädchen lieben; Drum sag mir deine Sünden an, Du unglückseliger junger Mann!" Da sprach der Bauernsohn verschämt: „Wenn Ihr mir's nur nicht übelnehmt, So will ich Euch ja nichts verhehlen, Von Eurer Köchin was erzählen: Ich ging erst abends spät zu ihr Und klopft' an ihre Küchentür. Da kam sie freudevoll heraus; Wir gingen in das Gartenhaus Und saßen dort die halbe Nacht. Auf jener Bank, die Ihr gemacht — Ihr wißt schon —, bei dem Apfelbaum, Wir saßen dort als wie im Traum. Doch endlich kam die Trennungsstunde Und auch ein Kuß von ihrem Munde. Denn, wie es ja gewöhnlich ist, Beim Abschied wird ja stets geküßt. Doch Eure Köchin, die war dumm, Sie fiel beim Küssen langsam um, Dann hielt sie mich noch so lange, Herrgott, mir wurde schon ganz bange. Ich wußte gar nicht, was sie wollte Und was ich mit ihr machen sollte . . . " Da schrie der Pater ganz erregt: „Meine Köchin hat sich hingelegt. Und du hast dort in jener Nacht Dein Bubenstück an ihr vollbracht? So höre nun, was ich dir sage: Du darfst mir jetzt durch hundert Tage Kein Fleisch und auch kein Bier genießen Und auch kein einzig Mädchen küssen, Und ist vorüber diese Zeit Und hast du alles tief bereut 13

Durch strenges Fasten und durch Beten, Dann kannst du wieder vor mich treten." Der Bauernsohn ging traurig fort Und dachte oft an dieses Wort: „Ich darf kein Fleisch, kein Bier genießen Und auch kein einzig Mädchen küssen." — Und qualvoll schlich die Zeit dahin. Da stand er einst mit trübem Sinn, Ganz einsam in dem Klostergarten Und wollt' auf einen Nachbarn warten. Da kam zu ihm die Priorin Und sprach mit liebevollem Sinn: „Ihr seid ein lustiger Geselle, Kommt, geht mit mir in meine Zelle, Dort ist es sauber, fein und nett, Ich hab' ein allerliebstes Bett, Kommt, ich verriegele die Tür Und Ihr bleibt diese Nacht bei mir." „Ich darf kein Fleisch, kein Bier genießen Und auch kein einz'ges Mädchen küssen!" Da sprach die Nonne: „Kommt nur rein. Ich hab' kein Bier — ich geb' Euch Wein! Und Ihr dürft keine Mädchen küssen, Ei nun, Ihr müßt doch selber wissen, Daß ich kein Mädchen bin, mein Bester, Ich bin ja eine heiige Schwester!" Und das begriff der Bursche schon, Denn unser junger Bauernsohn War auch von Fleisch und Bein. E r dachte sich: Ein Gläschen Wein Und eine hübsche Nonne küssen, Das könntest du halt doch genießen. Kurzum, er machte, was sie wollte; Und sie, sie machte, was sie sollte. Sie schlichen sich zur Zelle beide Und leerten dort den Kelch der Freude Bis auf den letzten Tropfen aus. — Des Morgens ließ sie ihn hinaus. 14

Nun dachte Dominik mit Zagen: Was wird der gute Pater sagen? Die hundert Tage war'n vorbei, Und Dominik ging wortgetreu Zum zweiten Mal mit frommem Sinn Zur Beichte zum Herrn Pater hin. Und als der Pater ihn gefragt: „Hast du gelebt, wie ich gesagt?", Sprach Dominik: „Ihr müßt verzeihn, Ich trank kein Bier, ich trank nur Wein Und hab' mit wahrer Götterwonne Bei einer feinen Klosternonne Fast eine ganze lange Nacht In Lust und Liebe zugebracht." Der Pater fiel beinah vom Stuhl : „Du bist verdammt zum Höllenpfuhl! Wie kannst du so die Kirche lästern, Die Nonnen sind ja Christi Schwestern, Die Nonnen sind Gottes Töchterlein, Du mußt ein Kind des Teufels sein." Da rief der Bauernbursch voll Lust: „Ach, h ä t t ' ich das nur gleich gewußt! Wenn Nonnen Christi Schwestern sind, Dann bin ich ja ein frommes Kind! Was hung're ich mich da so mager! — Dann ist ja Christus gar mein Schwager! Und sind sie Gottes Töchterlein, Dann wird mir Gott schon selbst verzeihn. Dann brauch' ich Euch nicht mehr, Herr Pater, Da ist ja Gott mein Schwiegervater!"

Der Weichensteller Phantasie bei der Fahrt von Mürzzuschlag nach Wien Schwer atmend, wie müde vom eilenden Lauf, So steiget den Semmering keuchend hinauf Das eiserne Dampfroß, das schleppet und ziehet Die Kette der Wagen; bald eilt es und fliehet Durch herrliche Wiesen und prächtige Felder, Durch saftige, grüne und schattige Wälder, Bald wieder an zackigen Felsen vorüber; Bald über die Brücken der Flüsse hinüber, Bald schließen die Berge und Felsen es ein — Da sucht es sich Wege durch Schluchten und Spalten, Und ist es umringt von den Riesengestalten, Dann rennt es laut pfeifend und donnernd hinein. Im eilenden Wagen, da sitzen recht breit Die Ritter und blauen Barone der Zeit, Da sitzen die alle Zeit lachenden Wiener, Da plaudern die Herren und flüstern die Diener. Da necken die Buben die schelmischen Mädchen: Der fahrende Zug ist ein lustiges Städtchen; Die Menschen im eilenden Wagen erblicken Die prächtigsten Bilder, die langsam entrücken, Die Wiesen und Wälder, Lichtwellen und Schatten, Sie wechseln harmonisch auf grünenden Matten. — Da schwindet die Landschaft, dem Tage folgt Nacht, Es schwindet der Sonne belebender Schimmer, Doch scherzend, als wär' es im eigenen Zimmer, Begrüßen die Menschen den schaurigen Schacht. Das Dampfroß eilt vorwärts; sein eiserner Bauch Schwitzt siedendes Wasser, und Funken und Rauch Entströmen nun keuchend dem feurigen Rachen. Es glühen die Augen dem höllischen Drachen — So braust es hindurch mit dem Städtchen belastet, Dann schwindet die Nacht, und es ruhet und rastet. Die Menschen betrachten nun staunend, verwundert Die herrliche Landschaft; dann, was das Jahrhundert Vollbrachte durch Mut und durch eisernen Willen, 16

Die Wunder der Arbeit, die hier sich enthüllen, Die rüstig entfaltet der menschliche Geist, Betrachten die Männer mit strahlenden Blicken, Indes sich die Mädchen mit Edelweiß schmücken, Indes man das Dampfroß zur Weiterfahrt speist. Das Auge des Fremden bewundert den Berg, Bewundert den Bahnbau, dies kunstvolle Werk, Der menschlichen Arbeit allmächtiges Werde. Hoch an den Gebirgen, den Brüsten der Erde, Da schlängeln sich aufwärts die eisernen Wege: Bald gleichen sie einem gefährlichen Stege, Sie ziehen sich hin an des Abgrunds Rande, Bald hat sie, wie innige, freundliche Bande Um Felsen und Berge, in doppeltem Bogen Der mächtige Geist des Jahrhunderts gezogen, Als wären die Berge ein blühender Strauß. Der Fremde genießet in festem Vertrauen Entzückenden Schrecken und wonniges Grauen, Und lächelnd besteigt er das fahrende Haus. Ein Pfiff, dann ein Ruck, und das Rennen beginnt. Doch hinter dem Berge, da wandelt ein Kind Inmitten der Schienen, mit lockigen Haaren — Da kommt aus dem Berge das Dampfroß gefahren. Zum Fenster heraus aus dem fahrenden Städtchen Schau'n lustige Männer und Frauen und Mädchen, Sie singen und plaudern und lachen und scherzen. Da plötzlich erblickt mit erstarrendem Herzen Der Wächter der Weiche sein Kind im Geleise. — „Ich werde dich retten!" so spricht er ganz leise, „Ich rette dich durch einen Druck meiner Hand!" So ruft er und greift mit der Hand nach der Weiche. — „Ich darf nicht!" schreit gellend der Vater, der bleiche, Und schon ist das Dampfroß vorübergerannt. Ein angstvoller Schrei eines Kindes — und rot Vom Blute gefärbt sind die Schienen, und tot In den Armen des Vaters, des Wächters der Weiche, Liegt blutend das Kind als verstümmelte Leiche. „Ich konnte dich retten!" so klagt er mit Beben;

„Ach hätt' ich's getan, und du wärst noch am Leben! Ein Druck meiner Hand, und es rannte vorüber, Ein Druck meiner Hand, und es rannte hinüber Aufs zweite Geleise! Jetzt lag' es begraben — Das Untier! Ich hätte ein Kind, einen Knaben!" — So drang es aus seiner gemarterten Brust. Da brauset heran auf den eisernen Wegen Ein Eilzug den steirischen Alpen entgegen. „Das", murmelt er finster, „das hab' ich gewußt!" Er konnte es retten; ein Druck seiner Hand — Zwei Dampfrosse wären zusammengerannt, Zwei eilende, fahrende, lustige Städtchen Mit all diesen Männern und Frauen und Mädchen, Mit all ihren Liedern und harmlosen Scherzen, Mit all ihren Hoffnungen, Wünschen und Schmerzen, Mit all ihren Blumen und Edelweißsträußchen, Ein Druck jenes Mannes am Bahnwächterhäuschen — Verschwunden wär' alles dort über dem Rand; Im Abgrunde läg' es zermalmt und zertreten, Und wären es auch aller Welt Majestäten — Sie lebten nicht mehr durch den Druck seiner Hand!

Frühlingsgedanken Frischauf, liebe Brüder, der Frühling erwacht! Kommt, laßt uns den Frühling begrüßen, Seht, wie sich das Leben entwickelt mit Macht; Drum laßt uns das Leben genießen! Die schwellenden Knospen, sie drängen hervor Und sprengen die drückende Hülle; Allüberall keimt es und sprießt es empor, Allüberall waltet in Feld und in Flur Der großen, erhabenen Mutter Natur Allgütiger, mächtiger Wille. Die Mutter Natur, ach, wie meint sie es gut Mit ihrem allmächtigen Willen! 18

Und wie sie auch waltet und was sie auch tut, Es soll uns mit Ehrfurcht erfüllen. Dort, wo sie gewaltsam und ungerecht scheint. Wenn stolz ihre Kraft sie entfaltet, Da wissen wir oft nicht, wie gut sie es meint. Drum eilet, dem Frühling ins Auge zu sehn, Damit wir die Sprache der Mutter verstehn, Die alles zum Guten gestaltet. Es grünen die Bäume, und jeglicher Baum In seinem natürlichen Triebe, Er träumet bewußtlos den seligen Traum Von Freiheit, Entwicklung, von Liebe. In allen den wachsenden Blättern, so klein, Da regt sich's wie Ringen und Mühen; Denn um zu erstehen und um zu gedeihn, Bedürfen sie all der Bewegung des Lichts. Gebricht es an diesem, an allem gebricht's — Dann gibt es kein Grünen und Blühen. Schaut hin, wie der Sonne allmächtiger Strahl Erschließet gewaltige Quellen! Die rauschen als Wasser vom Berge zu Tal, Um Flüsse und Ströme zu schwellen; Und in den gewohnten alltäglichen Lauf, Da drängen und treiben die Fluten. Oft über die Uferwand steigen sie auf, Die Felder verwüstend, die Saaten, das Land — Doch wo sie gezügelt des Menschen Verstand, Verwandelt sich alles zum Guten. Wir hören das Brausen, es hebt sich die Brust. Und wenn wir die Fluten erblicken, Da möchten wir, all ihrer Kräfte bewußt, Die Menschheit entfesseln, beglücken. — Es drängt uns zu schaffen, wenn alles erblüht, Es regen sich Keime und Triebe, Ein mächtig Verlangen die Geister durchglüht. Und so, wie bewußtlos der grünende Baum, So tragen bewußt wir ins Leben den Traum Von Freiheit, Entwicklung und Liebe. 4 Josef Schiller

Drum, Brüder, o nützet die goldene Zeit, Ein Frühling ist wieder erschienen! — Schafft Freiheit und haltet die Liebe bereit, Dann werden die Saaten euch grünen. Schafft Freiheit! Dann wird die Entwicklung gedeihn Und fallen des Vorurteils Schranke; Gleich werden wir endlich und brüderlich sein, Und ferner nicht Glauben, nicht Namen und Stand Uns trennen; es tritt nur in freiem Verband Ins Leben der freie Gedanke! So wird durch der Freiheit erwärmenden Strahl Urewige Kraft uns erfreuen, Herab von den Höhen des Wissens zumal Erkenntnis und Wahrheit erneuen, Damit die Natur uns zum Heile erscheint Und ihre gewaltigen Fluten, Ins Strombett des Segens gebahnt und vereint, Glückbringend verjüngen die Saaten, das Land; Denn wo sie begegnen des Menschen Verstand, Verwandelt sich alles zum Guten.

Die Christnacht Durch ein hellerleuchtet Städtchen, Hungrig und mit trübem Sinn, Ging ein armes Bettelmädchen Seufzend durch die Straßen hin. „Heilger Abend", sprach sie leise, „Ist es heute, aber ach, Ich bin eine arme Waise, Nirgends gibt's ein schützend Dach! Denn die Menschen, wo ich schlafe, Fordern täglich Geld und Brot; 20

Sonst wird mir mit harter Strafe Und mit Schlägen stets gedroht. Heute darf ich es nicht wagen, Jenen Leuten mich zu nahn, Denn sonst würden sie mich schlagen, Wie sie es schon oft getan. Hütten strahlen und Paläste, Und es freut sich jedes Kind, Wenn das schönste aller Feste, Wenn das Weihnachtsfest beginnt. Ach, wie viele süße Freuden Bringt der gute Weihnachtsmann! Ich allein muß Hunger leiden, Niemand nimmt sich meiner an! Möchte doch die Mutter leben! — Doch mit ihr starb jeder Trost", Sprach sie unter leisem Beben, Denn sie zitterte vor Frost. Doch oft hemmte sie die Schritte, Sie blieb stehn, wie sie auch fror. Drang aus einer kleinen Hütte Kinderjubel an ihr Ohr. Und sie blickte durch die Scheiben An dem Fenster, um zu sehn, Was die Kinder tun und treiben, Wenn sie um den Christbaum stehn. Und sie dachte an die Tage, Wo die Mutter sie als Kind Treu beschützt vor jeder Plage Und bewahrt vor Frost und Wind. Wie am heiigen Abend immer Sie bei ihrer Mutter saß Und vergnügt im warmen Zimmer Weihnachtsäpfel mit ihr aß.

„Ach, wie ich mich immer freute Auf den kleinen Weihnachtsbaum! Doch, wo ist die Mutter heute?" Frug sie leise, wie im Traum. Und ihr Herz beschlich ein Bangen Und ein namenloses Weh, Über ihre bleichen Wangen Rollten Tränen in den Schnee. Ach, es war so kalt, so schaurig, Und die Straße menschenleer; Sie allein kam einsam, traurig Von dem letzten Häuschen her. Seufzend schlich sie aus dem Städtchen, Und mit gramerfülltem Sinn Ging das arme Bettelmädchen Auf den nahen Friedhof hin. Und an ihrer Mutter Grabe Sprach sie: „O verzeihe mir! Weil ich nicht gebettelt habe, Komm' ich heute noch zu dir! — Mutter, dir will ich es klagen!" Rief das Mädchen tief bewegt, „Wie die Menschen mich geschlagen, Seit man dich ins Grab gelegt. Mutter, Mutter, hab Erbarmen! Ohne Brot und ohne Geld Ist kein Platz mehr für die Armen Auf der ganzen weiten Welt! Oh, erfülle doch mein Sehnen, Nimm mich mit zu dir hinein!" Rief sie unter heißen Tränen, Und ermattet schlief sie ein. — 22

Mit des Mädchens blonden Locken Spielte sich der kalte Wind, Bis der Schnee in dichten Flocken Warm bedeckt das Bettelkind.

Der Weg zum besseren Leben Es kommen oft im Leben trübe Stunden, Wo Kraft und Mut und jeder Trost gebricht, Wo alte, längst vernarbte, tiefe Wunden Aufs neue bluten und wir wissen nicht, Wodurch uns jede Hoffnung ist entschwunden; Doch nirgends sehn wir Rettung, nirgends Licht, Da wird uns bange, wir sind lebensmüde, Da wünschen wir dem Herzen Ruh und Friede. In solchen Stunden wünschen wir zu sterben, Doch denken wir nicht ernstlich an den Tod. Wir möchten nur enteilen dem Verderben, Nur der Gefahr entfliehen, die uns droht. Wir wollen Mut und neue Kraft erwerben, Um zu beweisen jeder Erdennot, Daß mit dem Tode Mühe und Beschwerden Und alle Qualen uns verlassen werden. Doch sollen wir dem Tod ins Auge schauen, Wenn er ganz unerwartet uns erscheint — Oh, dann erfaßt uns oft ein banges Grauen, Dann ist es nicht der längst ersehnte Freund, Auf dessen Kraft wir in Verzweiflung bauen, Der uns befreien soll von jedem Feind. Dann folgen viele nur mit Widerstreben Und mit der Hoffnung auf ein beßres Leben. Doch dieser Himmel wird sich niemals finden, Da er im Reich des Aberglaubens hegt, Und dieser Jenseits-Glaube wird verschwinden, Damit der Menschheit diese Welt genügt. Mag sich Gewalt und Dummheit auch verbinden

Die Wahrheit ist's allein, die endlich siegt. Und diese wird der Menschheit einst verkünden: Es gibt kein Jenseits und kein Wiederfinden! Die Wissenschaft wird einst die Welt beglücken, Wenn sie Gemeingut aller Menschen wird. Dann wird die Menschheit auch die Bahn erblicken, Die sie zum Siege, zur Erlösung führt, Wenn alle gleichberechtigt sich erquicken — Da jeder Mensch den Drang im Herzen spürt — An jenen Früchten ohne Furcht und Bangen, Die an dem Baume der Erkenntnis prangen. Und daß die Menschen jene Frucht genießen. Die an dem Baume der Erkenntnis prangt, Ist Menschenrecht, denn das gesamte Wissen Hat seine Macht durch wen'ge nicht erlangt; Denn ganze Ströme Blutes mußten fließen — Und allen guten Menschen sei's gedankt, Die je geatmet, je gelebt auf Erden! Was sie getan für uns, soll unser werden. Was gut ist, wird sich alle Zeit erhalten, Und wenn es scheinbar auch zugrunde geht; Es will sich nur zum Besseren gestalten. Drum wechselt es die Form, doch es besteht — Die Knospe will zur Blüte sich entfalten, Das Schöne will, daß Schöneres entsteht; Doch auch die Blüte sehn wir scheinbar schwinden, Um bald das Nützliche — die Frucht — zu finden. Drum sollen auch die Menschen nie verzagen, Wenn scheinbar eine gute Tat mißlingt; Wir wissen ja aus längst vergangnen Tagen, Daß stets die Tugend mit dem Laster ringt. Und wie man auch die Wahrheit stets geschlagen, Die Menschheit dennoch mutig vorwärtsdringt; Und dieses Wissen, daß wir vorwärtsstreben: Das ist der Weg zu einem beßren Leben. Mag auch der Körper einst in Staub zerfallen, Der Nutzen, den ein Mensch der Menschheit schafft, 24

Der stirbt nicht mit, er lebt dann in uns allen Und bleibt ein Teil der allgewalt'gen Kraft, Die täglich läßt den Siegesruf erschallen. Wenn unsre Tätigkeit schon längst erschlafft, Und wenn wir längst nicht denken mehr und fühlen — Die Menschheit strebt nach immer höh'ren Zielen. Daß wir noch nach dem Tode Gutes schaffen Und mutig kämpfen gegen Niedertracht, Daß wir selbst dann noch mit des Geistes Waffen Die Menschheit rütteln, bis sie rings erwacht, Und ihre geist'ge Kraft zusammenraffen Zum Kampf für Freiheit, Rechts- und Wissensmacht — Oh, diese Überzeugung, dieses Wissen Muß jede Täuschung, jeden Gram versüßen! Die Männer, die schon lange vor uns lebten Und die mit selt'ner Geisteskraft begabt, Die nie vor Willkür und Gewalt erhebten, An deren Geiste unser Geist sich labt — Ist's nicht, als ob sie noch nach Freiheit strebten, R u f t uns nicht jeder zu: Oh, schaffet, grabt! Um euren Geist, den Edelstein, zu heben, Den die Natur zum Leben euch gegeben! ? Ist's nicht, als ob sie alle uns bewachten, Obgleich sie längst nicht mehr am Leben sind!? Die Männer, die uns Licht und Wahrheit brachten, Ihr Geist lebt fort, sie lehren uns als Kind, Wenn wir des Nachts das Sternenzelt betrachten, Daß alle Sterne Weltenkörper sind. Sie klären uns dies funkelnde Gewimmel — Und wir vergessen gern den alten Himmel. So kann der Mensch noch manches Dunkel lichten, Wenn längst der Wind mit seinem Staube spielt; Denn wer erkennt des Lebens hohe Pflichten Und sie als Mensch getreulich stets erfüllt — Da kann der Tod den Körper nur vernichten; Wer menschlich handelt, richtig denkt und fühlt,

Der gab der Menschheit seine beste Gabe, Und diese lebt! Man trägt sie nicht zu Grabe. Oh, wenn der Mensch stets treu dem Drange bliebe, Den die Natur in unsre Herzen legt — Oh, wenn er dem natürlich reinen Triebe, Der alles Gute, Edle in sich trägt, Mit Mut und Kraft und seiner ganzen Liebe Stets treu gefolgt und liebend ihn gepflegt — Er würde nie den rechten Pfad verlieren Und bald ein menschenwürdig Dasein führen! Drum sollen wir uns jederzeit bemühen, Zu folgen dieser inn'ren, höh'ren Kraft. Wir sollen nie das Unbekannte fliehen, Damit die Wißbegierde nie erschlafft, Damit wir immer inniger erglühen Für höh're Kenntnis, beßre Urteilskraft; Damit wir immer mehr und mehr erfahren, Wie man das Falsche scheidet von dem Wahren. Je mehr der Mensch das Unbekannte meidet Und sich dem innern Drange widersetzt, Je mehr er sich in Vorurteile kleidet Und so des Geistes Streben tief verletzt; Je wen'ger seine eigne Kraft entscheidet Und er nach fremdem Willen handelt, schwätzt, Je wen'ger er befolgt die beßren Triebe, Je ärmer ist der Mensch an Menschenliebe. Kann sich die Kraft des Geistes nicht entfalten, Dann wird der Mensch sich selber nie bewußt; Dann fühlt er nicht den Meister in sich walten, Der treu bewacht das Herz in seiner Brust, Der nie es läßt für Menschlichkeit erkalten Und der es warnt in seiner höchsten Lust, Daß es nicht fällt — im Taumel der Gefühle — Dem Laster und der Leidenschaft zum Spiele. Es will der Geist sich stets durch Taten üben. Er will, daß sich des Menschen Kraft vermehrt; 26

Drum soll der Mensch nicht nur das Gute lieben, Er soll auch Gutes tun, wie sich's gehört. Der Diamant, am Diamant gerieben. Erhält dadurch erst seinen rechten Wert: Des Menschen Geist will Großes stets beginnen, Um Kräfte für noch Größ'res zu gewinnen. Je mehr der Mensch sich von dem Guten wendet, Zu dem sein Geist in stiller Sehnsucht drängt, Je mehr wird er durch Lug und Trug geblendet, Und seine Tatkraft bleibt gehemmt, beschränkt. Und hat er seine Lebensbahn vollendet, Dann wird auch jene Kraft ins Grab gesenkt, Die jeder Mensch dem beßren Leben schuldet, — Er hat umsonst genossen und geduldet. Wir können ja kein schön'res Ziel erringen Als jene Kraft, die uns Natur verlieh, Der Menschheit liebend stets zum Opfer bringen. Zu streben stets nach beßrer Harmonie, Um uns empor zu dem Bewußtsein schwingen: Der Geist lebt fort, er ruht und rastet nie! Und immer reicher, größer wird die Wahrheit, Je mehr die Menschheit strebt nach inn'rer Klarheit. Doch allerwegen wehen falsche Fahnen, Auf den'n die Worte „Wahrheit", „Freiheit" stehn, Und schwer ist es, durch die verschied'nen Bahnen Des Lebens rechte, sichre Bahn zu gehn. Wir folgen dem geheimnisvollen Ahnen, Das uns bewegt, wenn wir zum Himmel sehn, Und das uns frägt, wenn rings das Laster thronet: Wo ist der Ort, wo man das Gute lohnet? Wir folgen dem geheimnisvollen Sehnen Und blicken voll Bewund'rung himmelwärts. Doch dieser reine Drang nach allem Schönen Verwandelt sich gar bald in bittren Schmerz; Denn in der Kindheit, ohne es zu wähnen, Streut man die Lüge in das zarte Herz Und wird — o Schmach! — gepflegt und angebetet, Bis die Erkenntnis, oft zu spät, sie tötet. 27

Drum Menschen, Brüder, lernet bald begreifen, Daß uns nur Wissen, Wahrheit kann befrein; Sucht doch des Glaubens Unsinn abzustreifen, Sonst bleibt die Freiheit fern — nur Halbheit, Schein, Die Früchte der Gewalt nur werden reifen. Doch soll die Freiheit wahrhaft unser sein, Soll uns der Sieg für Menschlichkeit gelingen: Dann, Brüder, laßt uns nach Erkenntnis ringen! So wie wenn Wärmestrahlen sich verbinden Stets mehr und mehr, die endlich leuchtend glühn, So sollen sich die Wärmestrahlen finden Des Geistes, die des Menschen Hirn durchziehn; Sie mögen sich vereinen, leuchten, zünden — Bis rings umher der Wahrheit Funken sprühn, Die einst empor als Freiheitsflammen lodern, Wenn unsre Herzen längst im Grabe modern.

Die vierte Klasse Die Menschheit lebt seit langer Zeit In vier verschied'nen Klassen, Da gibt es immer Zank und Streit, Weil sich die Klassen hassen. Da ist der Reiche, Herr vom Dampf, Der Adel und die Pfaffen, Sie alle sind bereit zum Kampf Mit Pulver, Geld und Waffen. Sie richten oft viel Unheil an Mit ihrem blinden Hasse, Doch alles trägt der Untertan, Die arme vierte Klasse. Mir wird vor Ärger manchmal warm, Seh' ich die kleinen Meister, Sie stehn so zwischen Reich und Arm Als recht beschränkte Geister. Sie klagen oft: Die Zeit ist schwer, Mit kläglichen Gebärden, 28

Und mancher glaubt, ein Millionär Und noch was mehr zu werden; Doch Kapital mit starker Hand Versperrt ihm jede Gasse. Und so kommt auch der Mittelstand Mit in die vierte Klasse. Die Fabrikanten loben stets Die trefflichen Maschinen; Denn mit der Dampfkraft, ei, da geht's, Da läßt sich was verdienen. Verbessert man so fort und fort Maschinen so wie heute, So braucht man, glaubt mir auf mein Wort, Zuletzt gar keine Leute. Drum nur so fort, im raschen Lauf Vermehrt die arme Masse, Dann hört die Klassenwirtschaft auf, Dann siegt die vierte Klasse. Für Geld bekommt man Recht und Rat, So ist's in jedem Staate, Und wer die meisten Ochsen hat, Der sitzt im hohen Rate. Ja, wer viel Steuergulden schafft, Auch dem wird gut gemessen, Jedoch des Arbeitsmannes Kraft, Auf die wird stets vergessen. Der Reiche, der mit Gulden prahlt, Füllt nicht die Steuerkasse, Doch wer die meisten Gulden zahlt, Das ist die vierte Klasse. In Bosnien ging der Teufel los, Da wollt' man Ruhe schaffen, Die Bosniaken, klein und groß, Die griffen zu den Waffen. Da rückten Öst'rreichs Krieger an, Um einen Kampf zu wagen. Und mancher schöne, junge Mann Ward wie ein Hund erschlagen.

Man opferte viel Geld und Gut Dem blinden Völkerhasse. Doch wer gab wohl das meiste Blut? Das gab die vierte Klasse. In Öst'rreich sucht man Brot und Bier Und Tabak zu verteuern, Man guckt in alle Töpfe schier, Um alles zu besteuern. Das arme Volk wird ausgesaugt, Muß schinden sich und plagen, Und wer nicht zum Soldaten taugt, Muß auch noch Steuern tragen. Die Staatsschuld wächst stets höher an, Und leer ist jede Kasse, Doch was der Staat nicht zahlen kann, Das zahlt die vierte Klasse. Ihr Freunde, glaubt es auf mein Wort, Man wird es noch erleben, Es werden sich von Ort zu Ort Die Armen einst erheben. Es kann uns auch nicht viel geschehn, Drum reichet euch die Hände, Und wenn wir auch zugrunde gehn, Dann hat die Not ein Ende. Und geht es los, dann drauf und dran, Mit unserm ganzen Hasse, Ein jeder kämpfe wie ein Mann Fürs Recht der vierten Klasse.

Der

Weihnachtsabend

I. Am Weihnachtsabend, in der Dämmerstunde, Da kam ein armer Weber still nach Haus. Vier Kinder riefen, wie aus einem Munde: „Der Vater kommt, wir gehn zum Wald hinaus! Wir holen ein Bäumchen, recht niedlich und klein, Das wollen wir schmücken gar zierlich und fein." 30

II. Da spricht der Vater: „Kinder, seid zufrieden. Wenn ihr gesund und nicht sehr hungrig seid Ein Christbaum ist euch diesmal nicht beschieden, Es kann nicht sein bei dieser schlechten Zeit. Ich kenn' ein recht dürres Bäumchen im Wald, Das will ich euch holen, denn heute wird's kalt." III. Die Kinder wissen nichts darauf zu sagen, Der Vater geht zum Wald; sie sind allein. Da fängt das größte Mädchen an zu klagen: „Ach, lebte doch noch unser Christkindlein — Denn wäre die Mutter, die Gute, nicht tot. Da gäb's in der Hütte nicht Elend und Not." IV. Der kleinste Knabe spricht: „Des Nachbars Fritze Bekommt ein großes, großes Reiterpferd Und einen Pelz und eine Pudelmütze, Dann eine Flinte und ein goldnes Schwert Und noch viel Sachen zum fröhlichen Spiel. Warum bringt das Christkind dem Fritze so viel?" V. „Ja, weißt du", spricht das Mädchen zu dem Knaben, „Die reichen Kinder, die bekommen mehr, Weil sie ein goldnes, reiches Christkind haben; Das kommt zu unserer Hütte gar nicht her. Das geht vorüber, das schaut nicht herein. Das kehrt bei den ganz armen Leuten nicht ein." VI. Die Kinder schweigen, denn sie hören Schritte, Zwei Arbeitsmänner treten grüßend ein Und bringen für die Kinder in der Hütte Verschied'ne schöne Sachen, groß und klein, Rotwollene Strümpfe und Kleider und Schuh', Auch Äpfel und Nüsse und Backwerk dazu. VII. Die beiden Männer müssen heimlich lachen, Denn die vier Kinder sehen still und stumm

Mit großen Augen auf die schönen Sachen Und stehn verwundert um den Tisch herum. Da spricht nun der eine: „Ihr Kinderchen, hört, Das hat euch die Eintracht der Armen beschert." VIII. Dann gehn die beiden wackren Männer wieder. Bald kommt der Vater aus dem Wald zurück. „Das ist das Werk gesinnungstreuer Brüder", Spricht er, und Freude strahlt aus seinem Blick, „O Kinder, glaubt fest an die bessere Zeit, Schon herrscht bei den Armen die Brüderlichkeit."

An mein liebes Weib! Eintausendachthundertsechzigundneun, Da führt' ich mein Käthchen ins Brautkämmerlein. Wir liebten uns beide, der Storch blieb nicht aus — Bald hatten wir Freuden und Sorgen im Haus. Wir mußten wie Bienen uns täglich bemühn, Um Brot zu verdienen, und Kinder erziehn. Die Kinder der Armen, sie leiden stets Not, Drum holt aus Erbarmen die meisten der Tod — Mein Edi, mein Friedchen, drei Mädchen dazu, Den'n sang er sein Liedchen von ewiger Ruh. — Doch besser, sie starben noch jung, noch als Kind, Als wenn sie verderben und lasterhaft sind. Drum gib unsern Knaben mit Herz und mit Hand Die nützlichen Gaben: Gefühl und Verstand. Und pflege beim Mädchen stets Geist und Gemüt, Daß sie wie du, Käthchen, emporwächst und blüht. Dann wird dich die Wahl deines Herzens nie reu'n, Eintausendachthundertsechzigundneun. Eintausendachthundertachtzigundvier, Der fünfzehnte Jahrestag steht vor der Tür — Was wir durch die Jahre erlebt und gewagt, Das hat am Altare kein Priester gesagt. Wir wurden oft müde, es fehlte an Brot, 32

Es fehlte der Friede, es zankte die Not. Doch war es auch trübe, es schwand jeder Groll, Denn stets war von Liebe dein Herz übervoll. Ein menschliches Leben war meine Idee, Dir brachte mein Streben nur Kummer und Weh, Jetzt bin ich im Kerker, welch bitteres Los! Die Liebe wird stärker, die Sehnsucht wird groß. Doch was mich betroffen, ich trag' es mit Mut. Erfüllt sich mein Hoffen, wird alles noch gut. Lieb Weibchen, sei munter, du kennst ja den Lauf „Die Sonne geht unter, sie geht wieder auf!" Bald führt mich die Freiheit und Liebe zu dir, Eintausendachthundertachtzigundvier.

Inquisitenlied Um die Zeit mir zu vertreiben, Muß ich spielen, anstatt schreiben; Denn die Not kennt kein Gebot, Und so machen wir aus Brot Domino und Dame. Meine mitgefangnen Brüder Singen abends rote Lieder. Ist ein solches Liedchen aus, Hört man immer viel Applaus: Bravo und da capo. Oft in unserm besten Sange Steht ein Lauscher auf dem Gange; Merkt man einen solchen Schuft, Heißt es: „Neni cisty Luft", Und die Vögel schweigen. So entschwinden hier die Tage; Doch nach mir ist keine Frage, Wochen werden noch vergehn, Eh' die Herrn sich unterstehn, Mich hinaufzuholen.

Zwei verwegene Diebitzen, Die mit mir gemeinsam sitzen, Leiden an Kleptomanie, Doch der pane doktrovi Kann sie nicht kurieren. Wenn ich morgens früh erwache, Strebt mein Sinn nach Mord und Rache, Und mit wahrem Heldenmut Töte ich in meiner Wut Läuse, Flöhe, Wanzen. Morgens um die achte Stunde, Macht der „Vater" seine Runde, Öffnet meine Zellentür, Und zwei Diener bringen mir Meine Morgensuppe. Täglich gibt es gut zu essen, Fleisch und Schmalz ist stets vergessen, Bosniaken sind beliebt, Aber wenn es Linsen gibt, Flucht die ganze Bande.

An meine persönlichen Feinde! Hört einmal in Süd und Norden, Teure Feinde, weit und breit! Hört! Ich bin ein Mann geworden, Denn ich trug die schweren Orden: Kerker, Undank, Haß und Neid. Weil ich alles stolz ertragen. Wollt ihr mir nun Böses tun. Eure Natternblicke sagen: Hund, wir möchten dich erschlagen, Denn du bist ein Volkstribun. Futterkörbe, Futtertröge Half ich bau'n für euren Bauch.

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Und nun bin ich euch im Wege, Und ich steh' auch im Gehege Wie ein alter Dornenstrauch. Wenn ich sage: Ihr seid Nieten, Bäumt sich euer dummer Stolz, Brüderlein! Ihr mögt euch hüten. Denn der Strauch treibt neue Blüten, Und er ist aus zähem Holz. — Eure neidgeschwoll'ne Leber Malt euch Flecken ins Gesicht. Jeder sieht es, ihr seid Streber, Ich blieb stets ein armer Weber, Eure Habsucht hab' ich nicht. Euch beleidigt — ganz natürlich — Stets mein grader, offner Sinn, Weil ich nicht so fein und zierlich, Nicht so krämerhaft manierlich, Geistig aufgeblasen bin. „Sei verflucht, du alter Säufer", Ruft ihr schon so manches Jahr. Ihr seid Mit- und Überläufer, Schund- und Plagiatverkäufer, Ich blieb stets ein Proletar. Ihr von eurem Phrasenturme Habt gelästert und geflucht Jedem niedren Menschenwurme, Der, gepeitscht vom Schicksalssturme, In der Kneipe Rettung sucht. Denn in Kneipen sitzt Gelichter, Alt und jung und Mann und Weib, Diebe, Dirnen, Denker, Dichter, Alle trinken wie die Trichter Und verehren Vater Kneipp. 5

Josef Schüler

Und ich habe oft getrunken Mit so manchem armen Wicht. J a , ich bin so tief gesunken. Doch die größten Haupthalunken Fand ich in den Kneipen nicht. Aus so mancher rauhen Kehle Drang in mich der Schrei der Not, Manche treue, gute Seele Geht zugrunde, denn Kamele Treten Perlen in den Kot. Der Parteien wüstes Tummeln Und die viele Schwärmerei Läßt so manchen Geist verbummeln. Und nur ganz bequeme Hummeln Werden fett und feig dabei. Wer fürs arme Volk gesprochen Tag und Nacht, sein Leben lang, Bis die Nerven zittern, pochen, Hämmern an den Schädelknochen, Der ist sicher matt und krank. Ich war oft so lebensmüde, Angstschweiß rann mir von der Stirn, Aber nirgends gab es Friede, Und so wie in einer Schmiede Hämmerte es im Gehirn. Euch war's ein gefundenes Fressen, Wenn mein Geist was Gutes fand, Was ich tat, habt ihr vergessen, Denn es fehlte euch zum Messen Stets der Maßstab — der Verstand. Ihr mit euren Führerrechten Rutscht ins Parlament hinein — Bettler mögen weiter fechten, Ich will rote Ruten flechten Und statt Führer Treiber sein. 36

Und so lange setzt es Hiebe, Bis ein neuer, freier Geist, Bis im niedren Volksgetriebe Brudersinn und Wahrheitsliebe Wie das Blut im Herzen kreist.

Sinnspruch Mut und Tatkraft kann nicht rosten, Vorwärts geht es ohne Ruh': Mag es Blut und Leben kosten, Wie der Erdball stets nach Osten, Drängt der Geist der Freiheit zu.

Phantasie-Gewebe Alle Tage fleißig weben Um ein Stückchen trocknes Brot, Das ist so das Jammerleben, Wie's die Armut mir gebot. Hinter meinem Webestuhle Bin ich selten sorgenschwer, Denn geschäftig wie die Spule Schwebt mein Geist stets hin und her. Denn ich denk' an die Bekannten In Europa hie und da, An die Mut- und Blutverwandten „Drüben" in Amerika. Weib und Kind hab' ich verlassen, Trieb die Pflicht mich in den Streit, Kaum zum Lieben und zum Hassen Ließ der Geist der Zeit mir Zeit.

Helle Köpfe, kluge Meister Fand ich oft auf meiner Bahn, Aber wahrhaft freie Geister Traf ich doch höchst selten an. Viele stürzten plötzlich nieder, Bot man ihnen Gut und Geld, Mancher fand in einem Mieder Seine „beßre", schön're Welt. Mancher, der fürs Recht gestritten Mit begeisterungsvollem Blick, Denkt jetzt an die Not der Hütten Nur mit Abscheu noch zurück. An der Menschheit Lebensbaume Fressen Heuchler stets mit Wut, Und ich töte oft im Traume Diese Raupen samt der Brut. Doch ich will nicht länger träumen Von der Menschheit Hochverrat, Ich will singen ohne Säumen, Jedes Lied sei eine Tat. Festen Blicks auf freiem Stande, Seh' ich deutlich Schritt für Schritt, Wie man in dem vierten Stande Einen fünften niedertritt. Ohne Klarheit, nur im Wahne Und berauscht vom Reichstagsruhm, Schwingt man stolz die alte Fahne Für ein neues Pf äffen tum. Goldne Ringe, goldne Ketten Trägt der Redner, welcher spricht: „Nur die Gleichheit kann uns retten." Doch den Goldschmuck gibt er nicht. 38

Einer brüllt mit heis'rer Stimme Von Verhungern, halb und halb; Mancher denkt in seinem Grimme: Schweig, du fettes Märzenkalb. Aber ach, es wagt es keiner, Laut zu sagen, was er denkt, Denn er wird wie unsereiner Programmäßig aufgehängt. Advokaten und Studenten In Berlin, in Wien und Rom Schwimmen, schnattern wie die Enten Auf dem sozialen Strom. Und der Proletar der Städte Tut gehorsam, was man spricht, Rüttelt an der alten Kette, Doch die neue sieht er nicht. Und so hör' ich alle Tage, Wie das Wasser braust und töst, Wie die große Magenfrage Für die „Führer" wird gelöst. Vivat, hoch! Wir können wählen! — Tönt es plötzlich in die Nacht. Hoch! Wir dürfen Stimmen zählen, Wie's der deutsche Michel macht. Und die „Führer", alte Sünder, Sind gewählt, und dann — ist Ruh'; Denn die Proletarierkinder Spielen weiter — „blinde Kuh". Laßt ihm nur die roten Nelken Und den Demokratenhut, Und ihr könnt sie weiter melken Alle Tage bis aufs Blut.

Ja, ich seh's bei meinem Stuhle, Wo ein roter Faden reißt; Denn geschäftig wie die Spule Schwirrt stets hin und her mein Geist. Geht mein Kittel auch in Fransen Bei dem Streite mit der Not, Auch um Purpurmäntel tanzen Rache, Wahnsinn, Angst und Tod. Die auf hohen Stühlen sitzen. Mögen nicht so lustig sein, In die allerhöchsten Spitzen Schlägt der Blitz am liebsten ein.

Jetzt ist alles gerettet Leset, leset Arbeitsblätter! Ruft der Herr von Kasewetter, Hebt die Hände in die Höh', Stimmt mit mir für Kneippkaffee. Euer Hilft Euer Stillt

Zanken, euer Streiten nicht mehr in unsern Zeiten. Hunger, euer Weh allein der Kneippkaffee!

Durch das Wunder, was wir taten, Wächst die Zahl der Demokraten Rascher wie der grüne Klee, Darum kauft nur Kneippkaffee! Freut euch, Brüder und Genossen, Bresche haben wir geschossen Von der Donau bis zur Spree Mit Kathreiner-Kneippkaffee. Alle Übel unsrer Tage Ruhen in der Magenfrage, 40

Drum vermisch' ich die Idee — Recht geschickt mit Kneippkaffee. Glaubt mir, jedem armen Teufel Ist geholfen ohne Zweifel, Stürzt er sich in einen See Mit 'nem Päckchen Kneippkaffee. Alle alten Straßenkehrer Und Galiziens Volksschullehrer Sagen: Gegen Frost und Schnee Hilft am besten Kneippkaffee. Auf die reichen schönen Frauen Müßt ihr armen Weiber schauen. Die sind lustig, ach herrjeh! Das macht nur der Kneippkaffee. Seht die Fleischer und die Brauer Und die großen reichen Bauer, Stark vom Wirbel bis zur Zeh', Das macht nur der Kneippkaffee. Geht zum Eisplatz hinunter, Seht die Damen frisch und munter, Jede schwebt wie eine Fee, Das macht nur der Kneippkaffee. Doch was hilft denn meine Preisung, Schon wer die Gebrauchsanweisung Liest, wird lustig wie ein Reh, Darum kauft nur Kneippkaffee. Für die Sache tu' ich alles — Und ich freu' mich höchsten Falles, Wenn ich unsren „Freigeist" seh', Schön geziert mit Kneippkaffee.

Ein Geldprotz Herr Weinstern, ein sehr reicher Mann, Der täglich fünfmal essen kann, Der sitzt in seinem Stammwirtshaus Und trinkt ein Glas ums andre aus. Er füllt ein Glas, trinkt's wieder leer. „Ach Gott, wie ist das Leben schwer!" So seufzt und stöhnt der dicke Schlauch, Zwei Zentner wiegt allein sein Bauch. Herr Weinstern fühlt sich schwach und matt, Drum greift er rasch nach einem Blatt. Nicht nach der Reichenbergerin — Die „Muhme" reizt nicht seinen Sinn. Auch nach dem „Sprachrohr" greift er nicht, Weil ihm auch dieses nicht entspricht. Er ist ein Freund von Politik, Doch er studiert mit Kennerblick Und Eifer in dem schönen Blatt, Was er jetzt in den Händen hat. Das Blatt, was er so gierig liest Und mit dem Schweinsäuglein bemißt, Ist nicht verboten, keine Spur, Es ist der Speisezettel nur. Dann ruft er: „Kellner! Lieber Hans, Vor allem andern junge Gans." Dann jede halbe Stunde was, Forellen, Austern, dies und das. — Der Kellner kennt schon seinen Mann, Er weiß, was er verkaufen kann, Und alle halbe Stunden bringt Er Essen. Weinstern ißt und trinkt. Beim Hasenbraten angelangt, Da kommt ein Mann hereingeschwankt. 42

Der klagt Herrn Weinstern seine Not Und bittet ihn ums Geld auf Brot. Der Arme spricht: „Es ist so kalt, Zur Arbeit bin ich schon zu alt. Ich muß aus Hunger betteln gehn, Drum, lieber Herr, erhört mein Flehn." Herr Weinstern wischt sich seinen Mund Und spricht: „Ihr seid ja kerngesund, Und haltet Ihr's vor Frost nicht aus, Geht in die Wärmestube 'naus. Dort spaltet Holz, ich sage Euch, Geht mir vom Halse, aber gleich, 's gibt, Gott sei Dank, noch Polizei Für solche freche Bettelei." Mit einem haßerfüllten Blick Tritt nun der arme Mann zurück, Der Kellner aber an der Tür, Der gibt ihm Geld auf Nachtquartier. Herr Weinstern leert mit Hast sein Glas Und spricht: „Das ist doch über'n Spaß, In Reichenberg geht's lustig zu, Man hat beim Essen nicht mehr Ruh'. Hans! Mit dem Nachtmahl ist nun Schluß, Ich bin ganz satt durch den Verdruß. Doch halt! Ein Täubchen fehlt mir noch. Na, das spaziert durchs Schlüsselloch." So spricht Herr Weinstern halb in Groll, Schenkt sich bedacht sein Gläschen voll, Doch als das saft'ge Täubchen kam, Da war verschwunden all sein Gram.

Ein Stimmungslied am Abend Ich wohne hoch, den „Turm" nennt man das Haus, Wo ich jetzt lebe, träume, dichte. Blick' ich zum Fenster sinnend still hinaus, Seh' ich des Lebens drollige Geschichte. Zwei Straßen kreuzen sich dicht unter mir. Da geht's geschäftig zu und immer munter, Hier seh' ich immer allerhand Getier, Drum blick' ich ganz besonders gern hinunter. Die Krämer und die Händler machen Licht, Um ihre Abendkunden anzulocken. Ein frecher Unternehmerpfiff durchbricht Den hellen Klang der Feierabendglocken. Das Arbeitsvolk erscheint im raschen Lauf, Man hat's auf ein'ge Stunden freigelassen, Und Lärm und Lachen tönt zu mir herauf. Jetzt wird's lebendig laut auf allen Gassen. Sie sehn die Lebensmittel allerlei. Doch vorwärts geht's zu ihren Lagerstätten, Sie eilen überall so rasch vorbei, So rasch, als wenn sie was gestohlen hätten. Gewiß hat jedes Hunger, doch kein Geld, Sie dürfen sich kein Stückchen Fleisch mehr gönnen, Mich wundert's, daß in dieser Krämerwelt Die armen Leute auch noch lachen können. Nun blitzt es auf, ringsum wird Licht gemacht In allen Räumen, selbst in Dachspelunken Erscheint die herrlich nie bezähmte Macht, Und wenn auch nur als kleiner Feuerfunken. Mir gegenüber wohnt ein reicher Mann, Der füllt sich eben seinen fetten Magen, Wie schön, daß ich ihn so beachten kann, Er ißt nicht rasch, jedoch mit viel Behagen.

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Zwei munt're Kinder sitzen mit am Tisch Mit vollen Wangen, ein paar böse Jungen Und eine junge Dame, schlank und frisch, „'s ist die Verzieherin", behaupten böse Zungen. Ein süßer Klang dringt schmeichelnd an mein Ohr, Wer seufzt so hungrig, wie ein Liebesfieber? Ich hebe meine Augen rasch empor Und seh' in eine Kammer gegenüber. Da steht ein Knabe oder Jüngling schon, Ein junger Mensch mit kummervoller Miene, Er sucht des Friedens nie gefund'nen Ton Auf seiner lieben, trauten Violine. Sein Auge glüht, die heiße Stirne schwitzt, Er blickt voll Hoffnung nach den schönsten Sternen, Indes ein andrer bei der Lampe sitzt. Denn das Kamel muß „griechisch" denken lernen. Das ist Studentenleben, das ist klar, Ihr mögt nun Griechisch lernen oder geigen, Ihr hemmt den Vollmond sicher um kein Haar, Der eben jetzt beginnt emporzusteigen. Da, über allen Dächern steigt er auf. Und nur der Judentempel will ihn hindern, Jedoch kein Rothschild ändert seinen Lauf, Der Mond ist gut mit allen Menschenkindern. Da kommt ein Windstoß, und in einem Nu J a g t übern Vollmond eine dunkle Wolke. Ein zweiter Stoß! Man macht die Fenster zu. Und rührig wird es bei dem Krämervolke. Jetzt hebt der Sturm den Straßenstaub empor, Und Fetzen, faule Blätter, Lumpenreste, Die wirbeln aufwärts in dem grauen Flor Und tanzen in die Zimmer der Paläste. Der Sturm zerschlägt die Fenster und die Dächer, E s saust und braust und heult rings um den Turm.

Ja, gegen Straßenstaub, da hilft kein Fächer, Ihr feinen Damen, hütet euch vor Sturm. Die Polizisten stehn in ihren Ecken, Sie hören nichts, sie sind wie blind und taub, Sie suchen sich in Winkel zu verstecken, Das macht der Sturm, das macht der Straßenstaub. Jetzt ist es still, das Wetter ist vorüber, Und friedlicher gestimmt ist mein Gemüt, Und meines Nachbars Geige gegenüber, Die singt ein munt'res, altes Freiheitslied.

Kleine Verse Ihr glaubt, ihr habt etwas erreicht Und der Gedanke schwindet, Wenn ihr den Körper bindet? Es ist umsonst, ich sage euch, Baut himmelhohe Schranken, Macht jeden Berg der Erde gleich, Es bleiben die Gedanken.

Wenn die Besten einig sind, Muß es besser werden.

Korruption Es liegt herum viel faules Aas, Da haben viele Fliegen Fraß; Läßt man das Aas nicht ruhig liegen, Da gibt's viel Summs von allen Fliegen, Weil alle schwirrend sich erheben, Die von der Fäulnis ringsum leben. 46

Die Sozialdemokratie

von

Nordamerika

Ihr Brüder, Freunde und Genossen, Den Bund, dem ihr euch habt geweiht. Dem ihr euch freudig angeschlossen, Erhalte Treu und Einigkeit. Nicht habt ihr in Utopiens Fernen Den Plan der beßren Welt gesehn; Ihr seht ihn bei den Landessternen Als hellen Punkt im Banner stehn. Das ist ein großes, männlich Wollen. Steht fest zusammen, Weib und Mann. — Die bangen „Wenn" und „Aber" sollen Ganz hinten gehn, der Mut voran. — Gebt acht nur, daß die schwarzen Schäfer Verdunkeln nicht das Morgenrot. — Ich schlag' die Koloradokäfer In meinem Garten alle tot. Man kann die Viecher zwar verbrennen Und Ol gewinnen aus dem Fett. — Doch Bauern, die die Sachen kennen, Die sagen: „'s stinkt und ist nicht nett." Der Geldsack sitzt auf hohem Rosse Und füttert seine Preßlakai'n, Und die gedruckten Giftgeschosse Umschwirren täglich eure Reih'n. Die Lüge, dieser Judas-Jünger, Weckt Widerstand und spornet an, So wird die Hetze guter Dünger Für eure Saat und euren Plan. Der Industrialismus, Brüder, Das Roß, auf dem der Geldsack sitzt, Tritt Kunst und Wissenschaft darnieder; Die Arbeit wird mit Kot bespritzt.

Es bricht sich Bahn durch Blut und Leichen. Es rast dahin wie taub und blind. Der Geldsack spornt es in die Weichen, Denn er verschont nicht Weib noch Kind. Ihr ruft nun: Halt! — ihr wackren Streiter, Damit zu aller Menschen Glück In kurzer Zeit der freche Reiter Bricht niederstürzend sein Genick. — Drum mutig vorwärts voll Vertrauen, Nehmt meinen Brudergruß zuteil, Den Männern: Hoch! Ein Hoch den Frauen Und eurem Bunde, Glück und Heil!

Die gute Kuh Mein Nachbar hat auf seiner Farm Von Hühnern einen ganzen Schwärm, Zwei Pferde, acht Stück schöne Rinder, Ein treues Weib und sieben Kinder. Bei so viel Kindern, so viel Vieh, Da gibt's viel Trubel und viel Müh', Drum hat mein Nachbar alle Tage Mit seiner Wirtschaft Sorg' und Plage. Besonders eine rote Kuh, Die stört ihn oft in seiner Ruh', Die macht ihm Trubel und viel Mühe, Sie folgt nicht, wie die andern Kühe. Sie geht ganz willig an den Pflug Und hat auch festen, sichren Zug. Doch wenn es ihr zu lange dauert, Dann bleibt sie stehn wie angemauert. Sie tut wohl ihre Rindviehpflicht, Doch liebt sie magre Weide nicht. 48

Sie gibt viel Milch und fette Butter, Doch sie verlangt auch fettes Futter. Sie bleibt nicht gern auf dürrer Höh', Sie sucht am liebsten grünen Klee; Sie achtet nicht des Nachbars Grenzen, Durchbricht und überspringt die Fenzen. Sie kommt nicht gern in großen Schweiß, Denn scheint die Sonne gar zu heiß, So legt sie sich in kühlen Schatten Im nahen Wald auf grüne Matten. Sie ist von ganz besondrer Art. Behandelt man sie nicht recht zart, Zeigt sie ganz häßliche Manieren, Sie kickt und schlägt mit allen Vieren. Das Rindvieh ist in diesem Land Als ordnungsliebend wohl bekannt. Doch diese Kuh — es ist zum Lachen —, Die läßt sich keine Vorschrift machen. Sie brüllt des Nachts auf Knall und Fall, Hat sie nicht Streu genug im Stall. Und tut man nicht nach ihrem Willen, So hört sie auch nicht auf zu brüllen. Wenn sie einmal recht durstig ist Und ringsumher kein Wasser fließt, So setzt sie sich recht breit und heiter Und trinkt die Milch aus ihrem Euter. Da flucht mein Nachbar: „Schwere Not! Ich schlag' die Kuh noch einmal tot." Doch bald verliert sich seine Galle, Es ist sein schönstes Stück im Stalle. Auch mir gefällt das gute Tier, Und ganz im stillen denk' ich mir: O armes Volk, wann wirst denn du Einmal so klug wie diese Kuh?

PROSA

Ein verlorenes

Leben

Als Knabe von zehn Jahren ging ich in eine große Fabrik, in welcher sehr viele Kinder beschäftigt wurden. Ich und vielleicht dreißig Kinder, Knaben und Mädchen, arbeiteten in einem großen Saale unter der Aufsicht eines Werkmeisters, welcher mit Recht ein Sklavenaufseher genannt werden konnte, denn kein Tag verging, wo es nicht Schläge gab. Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie dieser rohe Mensch ein Mädchen von zwölf Jahren blutig schlug, weil sie ihn nicht ehrerbietig genug gegrüßt hatte. Dieses Mädchen — wir nannten sie stets die schöne Minna — war, wie ich, ein Waisenkind, sie hatte, so wie ich, noch kleinere Geschwister zu Hause; infolgedessen war auch das Stückchen Brot sehr klein, welches sie alltäglich mit in die Fabrik brachte und womit sie sich den ganzen Tag begnügen mußte. Manche Mittagspausen saßen wir beide beisammen und klagten uns unsere Leiden. Die schöne Minna und ich, wir hatten immer recht viel Hunger. Wenn uns die anderen nicht manchmal einen Bissen von ihrem Mittagsbrote gegeben hätten, ich glaube, wir wären bei der Maschine zusammengebrochen. — Zur Herbstzeit benützten wir Knaben oft die Mittagspause, um in einen Garten zu schleichen und Obst zu holen. Die halbreifen Äpfel oder Birnen und ein Stückchen trockenes Brot, das schmeckte uns prächtig. So unter Hunger, Elend und namenloser Qual vergingen zwei Jahre. Eines Tages hatte ich und die schöne Minna einen Fehler in unserer fertigen Arbeit; wir wußten beide, daß uns der Aufseher tüchtig prügeln würde, sobald er die fehlerhafte Arbeit in die Hände bekam. Wir beschlossen daher, während der Mittagspause auf und davon zu laufen und im Leben niemals wieder in diese Fabrik zu gehen. Als die Dampfpfeife an diesem Tage nachmittags um ein Uhr zur Arbeit rief, da steckten wir in dem nahen Walde, damit 50

uns keiner von den vielen hundert Fabrikarbeitern sehen sollte, die alltäglich um diese Zeit in die Fabrik eilten. Die schöne Minna wollte mir anfangs Vorwürfe machen, weil ich ihr zugeredet, die Fabrik zu verlassen. Als ich ihr aber den Vorschlag machte, wieder in die Arbeit zu gehen, da erklärte sie fest und bestimmt, daß sie lieber verhungern wolle, als wieder in die Fabrik zu gehen. Wir gingen durch den Wald bis ins nächste Dorf, und da wir beide hungrig waren, betrat ich mutig die nächste Haustürschwelle, klopfte an und bettelte um ein Stück Brot. Ich erhielt ein großes Stück und teilte es brüderlich mit meiner Leidensgefährtin. Gegen Abend gingen wir traurig und furchtsam nach Hause. Meine Mutter weinte, als ich ihr den Streich erzählte; bald war sie aber wieder freundlich und gut gegen mich, wie immer, und in einigen Tagen brachte sie mich bei einem gebildeten Tuchmachermeister als Lehrling unter. Die schöne Minna hatte von ihrer Mutter eine Tracht Schläge erhalten, und sie war gezwungen, in eine andere Fabrik zu gehen. Während meiner Lehrzeit traf ich die schöne Minna von Zeit zu Zeit, wenn ich sonntags nachmittags durch die Stadt ging, und dann erzählte sie mir immer, wie es ihr geht. Eines Sonntags begegnete ich sie wieder auf dem Marktplatze und wunderte mich nicht wenig, daß sie so schöne neue Kleider trug. Wir hatten sie nicht umsonst die schöne Minna genannt, sie war wirklich ein auffallend schönes Mädchen geworden. Sie sagte mir, daß es ihr jetzt recht gut gehe, sie sei bei dem reichen Fabrikanten Monolas im Dienste, welcher sie recht gut behandle und so weiter. Kurz, sie war recht zufrieden mit ihrer Lage. Ich freute mich darüber. Später habe ich sie noch einige Male gesehen, aber ich wagte es nicht mehr, sie anzusprechen. Sie war sechzehn Jahre, ich erst vierzehn Jahre alt; sie war schon so groß und immer schön gekleidet, ich war noch so klein und immer schlecht gekleidet; ich schämte mich, mit dem sauberen Mädchen zu sprechen. Bald dachte ich auch an andere Dinge, und die schöne Minna trat in den Hintergrund meines Sinnens und Denkens. Alles vergeht. — Meine Lehrlings jähre waren vorüber, ich wurde Geselle; und nachdem ich das Liebste auf der Welt, meine gute Mutter, verloren hatte, ergriff ich den Wanderstab und ging in die Fremde. Allein mit meinem Hoffen, allein mit meinem Leid, So stand die Welt mir offen, die Welt so groß und weit. 6

Josei Schiller

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Drei Jahre war ich in der Welt herumgewandert, ich hatte mancherlei gesehen und erlebt und die Mühseligkeit und Plagen des Handwerksburschenlebens gründlich kennengelernt. Obgleich ich in meiner Vaterstadt so wenig zu hoffen hatte wie anderwärts, so trieb es mich doch in meine Heimat, in den Ort, wo ich meine trüben Kinderjahre verlebt hatte. Ich wollte das Grab meiner Mutter und manches liebe Plätzchen wiedersehen. Bei einem alten, halberblindeten Weber, bei meinem armen Onkel, trat ich gegen Abend ins kleine Stübchen und wurde, wie dies bei armen Verwandten üblich ist, auf das freundlichste empfangen. Durch die Bemühung eines alten Freundes erhielt ich nach einigen Tagen Arbeit, und nachdem ich ein halbes J a h r tüchtig geschunden, hatte ich eine neue „Schale", wie die Handwerksburschen sagen. Ich konnte mich wieder sehen lassen unter den Spießbürgersöhnen meiner Vaterstadt. Eines Abends schlenderte ich durch die Gassen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, und war so, in Gedanken vertieft, in einen entlegenen Winkel der Stadt gekommen, welchen ich nach meiner Rückkehr in die Heimat noch nicht betreten hatte. Ich wollte wieder umkehren, da hörte ich ein paar Worte sprechen, und wie angewachsen blieb ich stehen. Zwei Weiber standen vor einer Haustüre, und eine sprach zur andern: „Die schöne Minna ist diesen Nachmittag gestorben." Ich hörte noch manches über die schöne Minna, doch ich konnte nicht alles für den Augenblick fassen, nur soviel wurde mir klar, daß es dieselbe Minna betraf, die ich als Knabe gekannt und die ich seit sechs Jahren nicht gesehen hatte. Ich frug die beiden Weiber, wo die schöne Minna gestorben sei. „Dort unten in dem Hause, wo die Fenster geöffnet sind, in dem Zimmer liegt sie", gab mir die eine zur Antwort. Ich ging rasch in das bezeichnete Haus und t r a t leise in das Zimmer, wo die schöne Minna sein sollte. In einem Bette, mit einem Leintuche bis zur Brust zugedeckt, lag ein wunderschönes Mädchen, aber bleich und kalt, die Lippen wie im Schmerze zusammengepreßt und die Augenbrauen wie grollend niedergezogen. Ich erkannte sie auf den ersten Blick; sie war dieselbe Minna, mit der ich zehn Jahre früher in die Fabrik gegangen war. Eine alte Frau saß weinend bei der Leiche. Ihre Mutter war es nicht, denn diese hätte ich sofort erkannt. Ich frug die alte Frau, was für ein Unglück geschehen sei und 52

was dem Mädchen gefehlt habe, daß sie in der schönsten Zeit ihres Lebens habe sterben müssen. „Wer sind Sie?" frug mich die Frau. Ich nannte ihr meinen Namen. „Setzen Sie sich einige Augenblicke", sprach das alte Weib und trocknete sich mit der Schürze die Tränen aus den Augen. „Setzen Sie sich ganz nahe zu mir", sprach sie freundlich, „ich kenne Ihren Namen schon lange, denn die Minna, als sie noch lebte, hat mir von Ihnen mancherlei erzählt. Ich werde Ihnen nun auch etwas erzählen, aber unterbrechen Sie mich nicht und hören Sie mir ruhig zu. Ich werde Ihnen die wahre Ursache ihres frühzeitigen Todes bekanntgeben, und Sie werden nicht daran zweifeln, denn jedes meiner Worte ist so wahr, so wahr, als dieses Mädchen tot ist." Und nun erzählte sie mir im Flüstertone, als ob sie das Mädchen in ihrem Todesschlafe nicht stören wollte, folgende Geschichte: „Der reiche Monolas hat vor vier Jahren die Minna zu sich ins Haus genommen und sie sehr gut behandelt. Anfangs war alles recht schön und gut, aber bald fing er an, das Mädchen zu belästigen ; und es zeigte sich, daß er die kleinen Wohltaten, welche er ihr erwiesen, wieder bezahlt haben wollte, denn die Minna war jung und schön. — Das arme Täubchen hatte sich lange gegen diesen Sündenbock zu schützen gewußt, bis er sie endlich durch ein teuflisches Mittel in seine Gewalt brachte. Eines Tages gab er ihr ein Glas Wein zu trinken, und kaum hatte sie davon genippt, so taumelte sie im Zimmer herum und verlor alle Widerstandskraft. Der Schurke hatte sein elendes Spiel gewonnen. — Am anderen Tage kam das Mädchen zu ihrer Mutter und erzählte zitternd und weinend, was ihr geschehen. Die Mutter ging zum Fabrikanten Monolas und stellte ihn zur Rede. E r lachte ihr ins Gesicht und meinte, das Mädchen müsse geträumt haben oder verrückt sein. Die Minna nannte ihn einen ehrlosen Menschen, einen gewissenlosen Schuft usw. Schließlich wurden Mutter und Tochter hinausgejagt, und der Streit war beendet. Gegen den reichen Mann klagbar aufzutreten, fiel den armen Leuten nicht ein. Sie wollten die Schande nicht der Öffentlichkeit übergeben, und doch munkelten die Leute darüber und wußten allerhand zu sagen, weil die Minna so plötzlich aus dem Dienste kam. Das Mädchen war ohne Beschäftigung und konnte auch keine Stelle finden. Überall hieß es: Wenn sie etwas taugte, würde 6*

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man sie nicht fortgejagt haben. Kurz, sie fand keinen Dienst. Ihre arme Mutter wurde krank, und das Elend wurde immer gräßlicher bei den armen Leuten. Da, in der größten Not, kam eine vornehme Frau aus Leipzig und frug die Minna, ob sie Lust hätte, bei ihr in den Dienst zu treten. „Wenn Sie einverstanden sind, so nehme ich das Mädchen gleich mit", sprach die vornehme Frau zu ihrer Mutter. „Wenn es ihr nicht gefällt bei mir, so kann sie in einem anderen Hause eintreten, denn bei uns werden die böhmischen Mädchen gern in Dienst genommen." Die Minna und ihre Mutter gingen auf diesen Vorschlag ein, und am nächsten Tage reiste die vornehme Frau mit der Minna nach Leipzig. Nach einigen Tagen erhielt die verlassene kranke Mutter einen Brief und zehn Taler von ihrer Tochter mit dem Bemerken, daß es der Minna recht gut gefalle in Leipzig und die Mutter möge sich nur trösten, die Minna würde ihr bald wieder Geld senden. Die arme Mutter konnte sich gar nicht klug werden, wo die Minna das Geld hernimmt. Ich aber dachte es mir gleich: Die schöne Minna ist verkauft. Ein halbes J a h r verging, die Minna schrieb nicht. Ein J a h r war vergangen, und kein Mensch wußte, was aus der Minna geworden sei. Ihre Mutter hatte an die Polizeidirektion nach Leipzig geschrieben, aber man hatte ihr keine gute Nachricht zukommen lassen. Nur soviel hatte man erfahren, daß ihre Tochter nicht mehr in Leipzig sei. Aus Verzweiflung über diese Nachricht und, weil sie die anderen Kinder nicht mehr zu ernähren wußte, sprang die unglückliche Mutter in den großen Fabrikteich und machte auf diese Weise ihrem traurigen Dasein ein Ende. Acht Tage später kam gegen Abend ein Nachbar zu mir mit der Nachricht, daß hinter meinem Hause auf dem Felde ein Bettelmädchen liege, welches allem Anscheine nach schwer krank sei. Ich eilte hinaus aufs Feld und fand zu meinem Schrekken die schöne Minna halb verhungert mit blutenden Füßen auf meinem Grunde liegen. Sie war, wie sie mir später erzählte, von ihrer vornehmen Frau in Leipzig nach Dresden verkauft worden. Dort hatte sie wieder ein „Herr", so ein Seelenverkäufer, verkauft und bis nach Belgien geschafft. In Belgien war es ihr gelungen zu entfliehen, und da sie keine Papiere hatte, war sie Tag und Nacht gelaufen, und nur, wenn sie ihre Kraft verließ, hatte sie einige Stunden auf freiem Felde oder im Walde geruht. „Ich kann Ihnen nicht alles sagen, was das Mädchen in den

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schlechten, verrufenen Häusern, wo sie war, erduldet hat", sprach die alte Frau mit bebender Stimme, „doch hören Sie nur weiter! Ich habe die Minna zu mir ins Haus genommen und sie gepflegt wie mein eigen Kind. Sie hat es mir auch tausendfältig vergolten durch ihre Liebe und ihren unermüdlichen Fleiß. Ich habe selbst keine Kinder, aber meine eigene Tochter würde mich nicht mehr lieben und hochachten, wie es meine gute, brave Minna jederzeit getan." Die Alte fing bei diesen Worten bitterlich an zu weinen. Nachdem sie sich wieder gefaßt und ihre Tränen getrocknet, erzählte sie weiter: „Mehr als zwei Jahre vergingen, ehe sich das Mädchen so recht vor den Leuten sehen ließ, sie schämte sich vor aller Welt wegen ihres Fehltrittes. Mit einem Male wurde sie wieder heiter und lebenslustig. Ich merkte sehr bald die Veränderung ihres Wesens und frug sie, warum sie so munter sei. Sie gestand mir sofort, weshalb sie so froh gesinnt sei-. Ein Buchhalter aus dem Geschäfte des Herrn Monolas hatte ihr schon einige Briefe geschrieben und sie flehend ersucht, ihm in einer ernsten Angelegenheit eine Unterredung zu gestatten. Die Besprechung fand statt, in meiner Gegenwart; der junge Mann kam öfter zu mir ins Haus und sprach mit dem Mädchen, und bald hieß es in der Stadt: Die schöne Minna wird bald Braut sein. Er sagte auch selbst, daß es sein sehnlichster Wunsch sei, sie zu heiraten. Die Minna war ihm auch von Herzen gut, und endlich gab sie ihm das Versprechen, sein Weib zu werden. Es wurden von seiner Seite auch schon Vorkehrungen getroffen, und in einigen Wochen sollte die Hochzeit stattfinden. Heute sind es drei Tage, da brachte der Postbote wieder einen Brief von dem Buchhalter, sie eröffnete ihn freudig wie immer, las ihn und warf ihn zerknittert zu Boden. Anfangs war sie purpurrot, dann blaß wie der Tod. Ich hob den Brief auf, um seinen Inhalt kennenzulernen; der saubere Bräutigam schrieb mit kalten Worten, daß ihm sein Herr die Mitteilung gemacht habe, daß sie sich als Freimädchen in mehreren Städten Deutschlands herumgetrieben habe, und seine Ehre verbiete ihm daher, ein solches Mädchen seinen Eltern als Braut vorzustellen. Die Minna hat den ganzen Tag kein Wort gesprochen. Gestern früh ging sie in die Stadt hinein und wartete, bis der schöne 55

Herr Buchhalter aus dem Geschäfte k a m ; sie hatte sich so an eine Ecke der Straße gestellt, daß er sie sehen mußte, wenn er an ihr vorüberging. Er kam, ging vorüber an ihr und würdigte sie keines Blickes. Das war ihr Todesstoß. Sie ging in die Apotheke und kaufte für 20 Kreuzer Rattengift, und das hat sie gestern nachmittag anstatt Zucker in ihren Kaffee gegeben und den Kaffee getrunken. Jetzt wissen Sie alles, jetzt wissen Sie, was ihr gefehlt hat, und nun gehen Sie und lassen Sie mich allein mit ihr. Aber eines merken Sie sich, junger Mann", sprach die Alte mit erhobener Stimme, „meine Minna hat den Fabrikanten Monolas und seinen Buchhalter verflucht auf ihrem Sterbebette, die beiden werden elend zugrunde gehen, und der Fluch dieses Mädchens wird sich erfüllen." Einen Blick warf ich noch auf die tote Minna, dann ging ich wie träumend aus dem Zimmer und eilte ins Freie. Wie lange ich jene Nacht herumgeirrt und welche Gedanken und Gefühle in mir tobten, das kann ich heute nicht niederschreiben. J a h r um J a h r ist seit jenem Abend verschwunden, aber der Fluch der schönen Minna ist bis jetzt noch nicht in Erfüllung gegangen, denn der Fabrikant Monolas und sein ehemaliger Buchhalter sind reiche, geachtete Männer und, wie es scheint, auch glückliche.

Blätter und Blüten aus dem Kranze Erinnerungen

meiner

Wer ein ziemlich bewegtes Leben hinter sich hat, welches so reich an angenehmer und unangenehmer Unterhaltung ist wie mein vergangenes Leben, der hat etwas erfahren und mancherlei kennengelernt. Ich kann daher mit vollem Rechte sagen: Ich könnte ein dickes Buch vollschreiben über mein vergangenes Leben. Ich habe aber nicht die Absicht und auch keine Zeit, um dicke Bücher vollzuschreiben, sondern ich will nur meinen Freunden und Genossen einige kurze Geschichten erzählen, weil ich weiß, daß sie mir gerne zuhören und mir daher auch ihre Aufmerksamkeit schenken. Es ist jetzt gerade die rechte Zeit zum Erzählen, denn wenn der Herbst naht mit seinen trüben Tagen, da sind die Stunden grau wie die Wolken, und in den trübseligen Stunden gegen

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Abend, in den Dunkelstunden, da hören es namentlich die jüngeren Genossen und Genossinnen gern, wenn ihnen ein alter Mann seine Erlebnisse mitteilt. Ich bin nun gerade noch kein alter Mann; und wenn ich mein Leben mit einem Tage vergleiche, und zwar mit einem Herbsttage, mit seinen rauhen Winden und grauen Wolken, wo nur hie und da auf Augenblicke die Sonne durchleuchtet, so kann ich sagen, bei mir ist jetzt auch schon die Dunkelstunde angebrochen, welche der Nacht des Lebens vorausgeht. „Ich bin über sieben Jahre alt", spricht mancher, und bei mir wird es nicht lange dauern, bin ich sieben mal sieben Jahre alt, folglich kann ich euch, liebe Freunde und Freundinnen, schon mancherlei mitteilen. Wenn ich es auch manchmal nicht glauben will, daß ich anfange alt zu werden, so sagen es mir doch sehr oft die jungen Leute, wenn ich gegen Abend mit ihnen beisammen bin, indem sie mir oft zurufen: „Vater Schiller, erzählen Sie uns eine Geschichte!" Es ist also die höchste Zeit, daß ich noch einige Geschichten erzähle, damit die Dunkelstunde nicht ungenützt vorüberfließt. Außerdem erzähle ich meine Geschichten der Jugend schon deshalb gern und freudig, weil ich mir einbilde, daß tausende junge Leute, welche den „Freigeist" lesen, ihre Freunde und Freundinnen auf meine Geschichten aufmerksam machen und auf diese Weise unsere kräftigste Waffe, der „Freigeist", in immer weitere Kreise getragen und als willkommener Gast eingeführt und bekannt wird. Der letzte und triftigste Grund, warum ich so gerne der Jugend etwas aus meiner Vergangenheit erzähle, ist folgender: Wir können unseren gemeinsamen Gegnern, den Dunkelmännern und Knechtschaftspredigern, keinen schmerzhafteren und tödlicheren Schlag versetzen, als wenn wir die Jugend für unsere Bestrebungen gewinnen. Und nun hört mir zu, was ich euch, meine lieben Freunde und Freundinnen, zu sagen habe: Mein Vater war ein Weber, so ein armer Sünder. Er hinterließ der Mutter sieben kleine Kinder. Damit ist das Elend und die Not meiner Kindheit genügend geschildert. Alles andere habt ihr Ärmsten unter den Armen, die ihr selbst als Waisen großgewachsen, die ihr wie ich von Kindheit an in Fabriken geschmachtet, selbst erlebt und erütten, das brauche ich euch nicht zu sagen. Ich will euch auch nicht erzählen, wie oft ich aus Jugendübermut oder Hunger in die Obstgärten geschlichen bin, um meine 57

Lust oder meinen Appetit zu stillen. E s gibt noch viele alte Obstbäume, die davon zu erzählen wissen, aber die sind gar sehr verschwiegen — denn Blumen, Schmetterlinge und Obstbäume waren meine liebsten Spielkameraden in meiner Kindheit, so wie jetzt diejenigen meine liebsten Freunde sind, welche nicht unnötig plauschen und schwätzen. Ich will euch von jener Zeit erzählen, wo ich zum richtigen, vernünftigen Denken kam, wo ich für mein Leben ein festes Ziel gewann; wo ich einsehen lernte, daß ich eine Masse Vorurteile und einen ganzen Haufen Aberglauben in meinem Inneren aufgespeichert hatte; wo ich anfing langsam zu begreifen, daß mein Leben einen Zweck haben müsse und daß ich verpflichtet sei, diesem Zwecke entsprechend zu handeln, damit ich nicht als Lasttier von meinen Mitmenschen betrachtet und behandelt werde. — E s war an einem Herbsttage des Jahres 1868. Da sagte mir ein Arbeitskollege, daß ein Weber aus Friedland in Reichenberg sei, welcher ganz sonderbare Erlebnisse zu erzählen wisse, die er in der Ferne, in fremden Ländern erfahren, und ich sollte doch gegen Abend mit ihm gehen, er würde mich mit dem sonderbaren Menschen bekannt machen. Da ich zu jener Zeit selbst schon einige Jahre in der Fremde gewesen, ja zum Beispiel im Jahre 1866 neun Monate arbeitslos herumvaziert war, so wußte ich auch etwas vom „Walzen" und „Klopfen" zu erzählen und war daher sehr neugierig, diesen Friedländer kennenzulernen. Auf einer grünen Wiese in der Nähe des Reichenberger Krankenhauses trafen wir zusammen und lagerten uns rings um den Friedländer herum, wie die Getreuen Wallensteins, und lauschten auf seine Berichte und Erklärungen. Nachdem er uns viele lustige Handwerksburschen-Abenteuer und Anekdoten zum Lachen gegeben, fing er über verschiedene Einrichtungen zu sprechen an, welche in der heutigen Gesellschaft eingeführt sind, und tadelte mit scharfen Worten die Denkfaulheit und Dummheit der Arbeiter, die sich alles ruhig gefallen ließen usw. Einzelne von den älteren Arbeitern, die auf seine Auslassungen nichts zu sagen wußten, zuckten mitleidig die Achseln und meinten: „Ha, ha, jetzt bekommt er wieder den Rappel!" oder: „Jetzt wird er wieder verrückt!" Uns Jüngeren dagegen gefiel sein Rumoren und Tadeln ganz gut, nun fragten wir immer, warum es so sei und wie sich das ändern ließe. E r wurde auch

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nicht müde, unsere einfältigen Fragen zu beantworten. Er war auch sehr geduldig mit uns jungen Leuten, wenn wir eine Sache nicht richtig auffaßten und wiederholt Fragen über ein und denselben Gegenstand an ihn richteten. Nach diesem ersten Beisammensein mit dem Friedländer Josef Krosch ging ich jeden Abend, wo es mir möglich war, dorthin, wo er mich hin bestellte, denn er hatte mich gleich liebgewonnen, weil ich sehr viel wissen wollte. Er gab uns die ersten Arbeiterzeitungen in die Hände; er verschaffte mir die ersten Broschüren von F. Lassalle und andere Schriften. Kurz, er suchte uns mit Verschiedenem zu beschäftigen, damit wir aus dem alltäglichen dumpfen Dahinjammern herauskommen sollten. Und niemand war so geeignet, auf mich einen tiefen Eindruck zu machen, wie er, denn er hatte Energie und persönlichen Mut. Für solche Menschen hatte ich in der Jugend das größte Interesse, und mit wahrer, aufrichtiger Jugendbegeisterung hing ich an diesem seltenen Manne. Bald waren wir eine kleine mutige Schar von Jünglingen und Männern, welche mit Leidenschaft alles taten, was er für unser Bestes hielt. Aber die Widerwärtigkeiten und Stürme sollten nicht ausbleiben. Der Winter kam, und wir mußten ein Unterkommen finden, sollte unsere Wißbegierde nicht einschlafen. Es wurde nun ernstlich daran gedacht, einen Verein zu gründen, damit wir fest verbunden würden untereinander. Verschiedene Tage in der Woche wurden bestimmt, wo wir uns in einem Gasthause versammeln wollten, um Besprechungen abzuhalten. Da hatten wir aber die Rechnung ohne die Wirte gemacht, denn kaum hatten wir in einem Gasthause einige Zusammenkünfte, so wurde uns bedeutet, wir sollten uns ein anderes Winterquartier suchen. Das ging uns so einige Male nacheinander, aber wir lachten nur dazu, denn unsere Schar wurde immer stärker, unsere Zahl immer größer und fester. Die Angstmeier verließen uns und gingen ihren alten Dummheiten nach, wie es heute noch viele tun, aber neue Anhänger und Freunde, welche sich über unsere Ausdauer freuten, traten in unsere Reihen. J . Krosch allein hatte keine Freude an diesen Störungen, denn er meinte: „Zum Lernen muß man Ruhe haben, und Ruhe will ich mir für euch verschaffen; wenn nicht, gut, dann sollen andere auch keine Ruhe haben." Als wir wieder aus einem Lokale hinausgemaßregelt wurden, sagte uns Krosch jedem etwas ins Ohr, 59

und wir gingen befriedigt, lächelnd nach Hause. Am nächsten Tage, es war an einem Montage, machten die Kellner und der Gastgeber in dem größten und feinsten Hotel Reichenbergs gar sonderbare Augen, als gegen Abend sich die unteren Lokalitäten mit ganz unbekannten fremden Gästen nach und nach anfüllten, so daß die gewöhnlichen Stammgäste, Fabrikanten und andere Personen, gezwungen waren, anderswo ein Unterkommen zu suchen, denn wir, die bösen Sozialdemokraten, hatten an diesem Abende die Besitzenden von ihren Stammsitzen verdrängt. Das war es, was uns Krosch den Abend vorher ins Ohr geflüstert hatte; und wir hatten die erste Probe gut bestanden, denn noch denselben Abend in diesem feinen Hotel wurde uns von kompetenter Seite mitgeteilt, daß wir von nun an aus keinem Gasthause mehr vertrieben würden. Während der schönen Jahreszeit im Sommer 1869 wurde auch die Bewegung aufs Land getragen und in Reichenberg selbst die erste Volksversammlung abgehalten. Ich muß gestehen, ich war überall ein gern gesehener Gast, weniger wegen meines Wissens oder Könnens, denn ich fing damals erst an zu lernen, sondern wegen meiner Unterhaltungsgabe. Es verging damals keine Zusammenkunft, wo ich nicht aufgefordert wurde, ein Gedicht oder ein Lied vorzutragen. Ich wußte auch zu jener Zeit immer etwas Neues vorzubringen, denn ich wollte für das, was ich bei diesen Zusammenkünften erfuhr und erlernte, nach meinen Kräften dankbar sein; und es gelang mir auch in meiner Jugendbegeisterung, manches gute Gedicht zu verfassen, um mich und meine Freunde damit zu erfreuen. Die Gründung des Arbeitervereines wurde wohl durchzuführen versucht, aber dieser Verein, obgleich wir, ohne die Statuten bewilligt zu haben, schon eine bestimmte Vereinstätigkeit gewagt hatten, wurde als staatsgefährlich erklärt, die vorhandenen Gelder konfisziert und die provisorischen Funktionäre mit kleinen Freiheitsstrafen bedacht. Nun wurden freie, allgemein zugängliche Arbeiterversammlungen abgehalten, bei welchen die Lage der Arbeiter verhandelt wurde, und überall, wo es nur möglich war, wurde, wie wir uns ausdrückten, „eine Pauke losgelassen". Es konnte daher nicht ausbleiben, daß wir zu jener Zeit manchmal gestört wurden, wie die Studenten bei ihren Paukereien. In der Stadt war es die Polizei, auf dem Lande die 60

Gendarmen, welche uns oft den Spaß verdorben haben. Aber die Sache erhielt dadurch einen eigentümlichen Reiz, und wir machten uns damals wenig daraus, wenn wir aus einem Orte vertrieben wurden. Es gab ja viele Orte, und jeder war uns recht, das freie Feld, der Wald oder ein hoher Berg. Oft genügte uns die Privatwohnung eines gemütlichen Landmannes, um unsere Gedanken mitzuteilen und auszutauschen. — Das war eine bewegte und schöne Zeit! Ich habe damals manches, was mich recht warm machte, in Liedern besungen, und auch dieser Periode habe ich meine poetische Ader gewidmet. Ich schrieb zu jener Zeit: So war denn rasch der Streiter Zahl gestiegen, Verschwunden war der Zukunft Nebelgrau, Als Redner sah ich manchen, der geschwiegen, Die Augen leuchtend, wie des Himmels Blau. Ich sah die Kräfte sich zusammenfügen, Wie Stein auf Stein zu einem Tempelbau — Und viele Menschen, die ich sonst nie kannte, Begrüßten mich als geistig nah Verwandte. Ich sah so viele freudig emsig graben In Volkes Herzen auf den besten Grund, Und da so viele ihre Kräfte gaben, So gab auch ich mit Lust mein gutes Pfund. Da lagen nun verschiedene Geistesgaben, Und unsre Herzen schlössen einen Bund, Der fest und unzertrennlich sollte werden Durch äußere Bedrückung und Beschwerden. Bald gab es vielerorten Bruderbände — Und jeder gab das Beste, was er fand, Ein fühlend Herz und treue, feste Hände, Das war die Aufnahme-Formel zum Verband; Daß sich das Los des armen Volkes wende, Das war das Ziel, das in der Ferne stand, Doch führt der Weg durch keinen Rosengarten, Er ist bestreut mit Dornen aller Arten. Bald regte sich's lebendig in den Bergen, In niedre Hütten drang der Wahrheit Strahl,

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Als sei erwacht, mit seinen tausend Zwergen, Der vielbesungne Berggeist Rübezahl. Der Geist, der wie in festen Felsensärgen Geschlummert, war erwacht mit einem Mal. In des Gebirges schattenreichen Schluchten, Da traf ich Menschen, die nach Wahrheit suchten. Und jeder Ort war eine Andachtshalle, Das freie Feld, des Waldes Heiligtum, Wer zählt die stillen, trauten Orte alle, Wo wir gelauscht, oft voll Verehrung stumm, Damit das Wort auf guten Boden falle, Das Wort aus unsrem Evangelium: Seid einig, Proletarier aller Länder! Das schreibt ins Herz und nicht auf rote Bänder. Denn wo es in den Herzen steht geschrieben, Da mischt es sich mit unsrem warmen Blut, Dann wird es mit Gefühl ins Hirn getrieben, Und die Vernunft verleiht ihm Kraft und Mut. Dann müssen es auch unsre Kinder lieben, Als ein ererbtes, wohlerrungnes Gut, An dessen Früchten sie sich stets erfreuen, Drum laßt das Wort uns in die Herzen streuen. Es war die Rosenzeit unserer Bewegung in Nordböhmen, aber auch die Dornen sollten uns nicht erspart bleiben, sie wurden ziemlich reichlich auf unseren Weg gestreut, und keinem, der es gut meinte, sind sie hinweggeräumt worden. Manchem sind sie so tief in die Füße gedrückt worden, daß er bis heute noch Schmerzen spürt. Mancher hat die Dornen noch in dem Fleische sitzen und hinkt uns langsam nach. Im Jahre 1870 hatte ich Gelegenheit, meine Kräfte zu versuchen. Am 19. Jänner kam es zu großen Straßendemonstrationen, weil A. Scheu aus Wien am 17. Jänner im Gasthause „Zum Feldschlößchen" eine Rede gehalten und infolgedessen in der Nacht vom 17. auf den 18. Jänner verhaftet wurde. Schon am 18. Jänner demonstrierten die Arbeiter und verlangten, daß A. Scheu in Freiheit gesetzt werde. Am 19. wurde die Sache schlimmer, die Arbeiter kamen von nah und fern herangezogen. Das Bataillon Jäger rückte aus, um die Straßen und Plätze zu „säu62

bern"; bei diesem Anlasse wurde ein guter Freund von mir, Fritz Fischer, erschossen. Der unglückliche Freund mußte am selben Morgen für sein krankes Weib in die Apotheke gehen und fand bei dieser Gelegenheit seinen Tod. Fünf Minuten vor seinem Tode sprachen wir noch gemütlich miteinander. — Bei der am 17. Jänner stattgefundenen Versammlung hatte auch ich einige Worte gesprochen und wurde daher später zu drei Wochen Arrest verurteilt. Ich war damals erst vier Monate verheiratet, und mein Weib, noch jünger und unerfahrener wie ich, machte mir den Kopf ziemlich warm. Außerdem hatte ich von meinen Anverwandten, Geschwistern sowie von Seiten meiner Schwiegereltern und noch einer Masse „wohlmeinender" Freunde und Freundinnen so viel Liebenswürdigkeiten zu erdulden, daß ich am liebsten auf und davon gerannt wäre. Das wäre aber Feigheit gewesen, denn durch die Demonstration am 19. Jänner waren einige verheiratete Arbeiter verhaftet und zu längeren oder kürzeren Freiheitsstrafen verurteilt worden. Für die Familien dieser Männer mußte gesorgt werden, und folglich mußte ich mithelfen, diese Angelegenheit durchzuführen. Ich muß hier erwähnen, daß damals unter den Arbeitern nicht die beste Stimmung herrschte, denn einzelne von den Verhafteten hatten sich sehr unbesonnen betragen und in der Aufregung Worte gesprochen, die lieber hinter den Zähnen hätten bleiben sollen. Trotzdem ließ ich mich nicht abschrecken. Ich hatte damals vier Musiker zu meinen Freunden, sie sind noch meine Freunde. Mit diesen vier Mann habe ich in jener traurigen Zeit Abendunterhaltungen veranstaltet, und manche liebe Nacht habe ich gesungen und Soloszenen gespielt, um einen Reingewinn für die armen Familien zu erzielen. War die Einnahme nicht so groß, um etwas Anständiges zu erübrigen, so haben die vier Musiker einige Male auf ihren Lohn verzichtet. Bei solchen Abendunterhaltungen, namentlich auf den Dörfern in der Umgebung Reichenbergs, hatte ich immer einige treue Genossen bei mir, welche mit Zeitungen und Broschüren die Taschen vollgestopft hatten und welche es ausgezeichnet verstanden, die Schriften an den Mann zu bringen. Auf diese Weise wurde dem Zwecke und der guten Sache gedient. Viele, ach viele sind tot, welche damals mit mir durch Sturm und Schneegestöber oft weit bis ins Gebirge bei Nacht und Nebel lustig und wohlgemut gewandert sind. In den liberalen Tagesblättern nannten sie mich damals den 63

sozialdemokratischen Clown, sie haben mir seit jener Zeit manchen Namen gegeben, ich habe daraus immer gemerkt, daß ich meine Sache ziemlich gut gemacht habe, sonst hätten sie nicht immer geschimpft und gelästert gegen mich. Damals habe ich es ausgehalten, heute ertrage ich noch mehr. Durch dieses öffentliche Auftreten wurde man selbstverständlich bald aufmerksam auf mich, und die Hetzjagd ums tägliche Brot begann. Die Fabrikanten und Arbeitgeber mochten nichts mehr wissen von mir. Ich war nun gezwungen, auf etwas anderes zu sinnen, denn als Weber fand ich nirgends Beschäftigung. Mein Weib hatte eine kleine Summe Geld erübrigt für Krankheitsfälle oder sonstiges Ungemach. Dieses Geld nahm ich und steckte es in das Geschäft eines kleinen Tuchhändlers, welcher mit seiner Ware von Ort zu Ort hausieren ging. Wir kauften gemeinschaftlich einen zweirädrigen Wagen, darauf wurde eine große Kiste mit Tuch und Wollwaren befestigt, und nun begann der Handel. Wir plagten uns mit diesem Marterwagen wie die Lastpferde von Ort zu Ort, von Reichenberg bis in die Brüxer Gegend; und ich lebte so, von der Familie getrennt, ziemlich kostspielig und nicht gut, bei Tag als Zugtier, in der Nacht als Wachhund. Eines Abends — in Warnsdorf — hätte man uns die ganze Ware gestohlen, hätte uns der Gastwirt nicht geweckt. In jedem Orte suchte ich natürlich die Genossen auf, um Geschäfte zu machen und den Stand der Bewegung kennenzulernen. Auf diese Weise wurde ich mit vielen tüchtigen Genossen bekannt und hatte oft Gelegenheit, bei ihren Zusammenkünften ein gutes Wort zu sprechen. Es dauerte jedoch nicht lange, war es mit dem Tuchhandel aus, denn erstens hatte ich nicht genug Geld, und zweitens war ich kein richtiger Händler. Ich war nur Gehilfe bei dem ganzen Handel und konnte mich daher nach keiner Richtung hin so frei bewegen, wie es ein derartiges Geschäft erfordert. Eines Tages kamen wir mit unserem Tuchkrame nach Aussig ins Vereinslokal und machten einige Geschäfte. Gegen Mittag erschienen einige Genossen, unter welchen sich ein guter Freund von mir befand, welcher in Aussig in der chemischen Fabrik seit einigen Wochen in Arbeit stand. Sein Weib und drei kleine Kinder lebten noch in Reichenberg. Dieser gute Freund, Anton Sieber mit Namen, hatte sich schrecklich verändert, so daß ich sofort frug, was ihm fehle; Er sagte mir, daß er im Salzmagazine beschäftigt sei und die Arbeit sehr viel 64

Kraft erfordere. Übrigens meinte er: „Ich werde es schon aushalten, wenn ich nur wieder einen halben Tag ruhen kann. Heute habe ich mich für den Nachmittag frei gemacht, um mit dir zu plaudern." Seine Worte klangen aber so matt und traurig, daß es mich recht schmerzlich berührte. Er frug später nach seiner Familie; und da er mir erklärte, daß er seit vierzehn Tagen schon kein Geld nach Hause gesendet, da erst nächsten Sonnabend Rechnung in der Fabrik sei, so machte ich ihm den Vorschlag, er solle von mir 5 fl. annehmen und seinem Weibe schicken. Später könne er es mir wiedergeben. Er ging mit Freuden darauf ein, und wir sandten per Postanweisung dieselbe Stunde das Geld fort. Nachmittags machten wir einen kleinen Ausflug nach Obersedlitz. Wir ließen uns über die Elbe fahren — denn damals war die Brücke noch nicht erbaut —, und ich gab mir alle Mühe, meinen Freund aufzuheitern, aber er wurde nicht heiter. In Obersedlitz klagte er über heftige Unterleibsschmerzen und trank, um sich Linderung zu verschaffen, einige Gläschen Rum. Die Schmerzen wurden aber heftiger, und so machten wir uns wieder auf und gingen nach Aussig. Dort angekommen, machte mir Freund Sieber die traurige Nachricht, daß er ein Bruchleiden habe und er so rasch als möglich ärztlicher Hilfe bedürfe. Ein guter Genosse, welcher in der Nähe wohnte, nahm ihn zu sich, und ich rannte zum nächsten Arzte. Der erste Arzt machte sein Mittagsschläfchen, der zweite war verreist, der dritte, Dr. Adler, endlich ging mit mir. In einer Weile kam auch der erste Arzt, denn ich hatte ihm eine Prise Wahrheit verabreicht, wodurch ihm sein Mittagsschläfchen vergangen ist. Nun waren zwei Ärzte um meinen Freund und einige gute Genossen, ich dachte, nun wird dem Übel abgeholfen werden. Da ich denselben Tag nach Teplitz und den nächsten Tag nach Oberleutensdorf bestellt war, so nahm ich von meinem kranken Freunde Abschied und versprach ihm, in drei Tagen wiederzukommen. Als ich nach drei Tagen wieder nach Aussig kam, war die erste Frage: „Was macht Sieber?" Die Antwort lautete: „Dein Freund ist die vergangene Nacht gestorben." Mein guter Anton Sieber war tot. — Die beiden Ärzte hatten ihn in das Aussiger Krankenhaus tragen lassen, dort hatten sie eine Bruchoperation mit ihm vorgenommen, welche auch, wie die beiden Ärzte sagten, sehr gut gelungen war; und wenn sich der Kranke die letzte Nacht nicht selbst das 65

Glas mit Wasser genommen hätte, so wäre er nicht gestorben; wie schon bemerkt, so meinten die Ärzte. Ich meine aber, wenn bei meinem unglücklichen Freunde die letzte Nacht ein Wärter gewacht hätte, welcher ihm das Glas Wasser gereicht hätte, dann wäre er auch nicht gestorben. — Nun war für uns die erste Pflicht, das Weib des Verstorbenen schonend zu verständigen. Wir sandten ein Telegramm an sie und gaben ihr darin bekannt, daß ihr Mann plötzlich schwer krank geworden, sie möge rasch nach Aussig kommen. Gleichzeitig wurde ein Brief nach Reichenberg geschrieben und der wahre Sachverhalt geschildert. Mittlerweile hatten die Genossen schon vieles besorgt, um den verstorbenen Freund anständig zu begraben. Ein Komitee von Frauen hatte sich gebildet, die unglückliche Mutter in ihren Schmerzen zu trösten und ihr bei allem, was die letzten Stunden zu tun war, zu helfen. Und es gab wirklich noch viel zu tun, als das Weib mit ihren Kindern in Aussig ankam, denn obzwar der Verstorbene mit Blumen geschmückt im Sarge lag und auch das Grab fertig war, so fehlte doch noch die Bewilligung seines Weibes zu seinem Begräbnisse, denn er war aus der Kirche ausgetreten, und die Geistlichkeit wollte nicht dulden, daß in Aussig ein Verstorbener ohne priesterlichen Segen beerdigt werde. Es wurde dem Weibe meines verstorbenen Freundes nicht schwer, einen Entschluß zu fassen, denn als sie mich frug, was sie tun soll, so gab ich ihr die einfache Antwort: „Tun Sie das, was Ihr verstorbener Mann Ihnen raten würde, wenn er sprechen könnte." Sie trocknete sich die Tränen und gab mir gefaßt zur Antwort: „Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe." Sie ging und erklärte der Geistlichkeit und der löblichen Behörde, daß ihr verstorbener Mann ohne Beisein des Priesters begraben werden solle. Und so geschah es auch. Das Leichenbegängnis war ruhig und würdevoll. Nachdem man den Sarg in die Grube gesenkt und der Gesangverein ein Lied gesungen, hielt ich die Grabrede, wobei ich das mühevolle Leben und das ernste Streben des verstorbenen Freundes mit aufrichtiger Empfindung schilderte. Durch den Tuchhandel war ich in vielen Orten Nordböhmens bekannt geworden, da ich überall, wo es mir nur halbwegs die Zeit erlaubte, öffentlich als Redner auftrat und in verschiedenen Vereinen kleine Vorträge hielt. — In Aussig machten mir die Genossen den Vorschlag, in der chemischen Fabrik Arbeit zu nehmen, worauf ich bereitwillig einging,

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denn in Reichenberg konnte ich nicht länger bleiben, da ich, wie schon erwähnt, nirgends Arbeit finden konnte. Ich ging nun rasch daran, meine Verbindlichkeiten zu ordnen, und als dies geschehen, nahm ich Abschied von Weib und Kindern und zog guten Mutes nach Aussig, um mir ein neues Nest zu gründen. Ein alter, guter Genosse war mein Vorgesetzter in der chemischen Fabrik; er hatte die Verpackung der verschiedenen Säuren zu besorgen und konnte Hilfsarbeiter aufnehmen, soviel er wollte, wenn genügend Arbeit war. Die Beschäftigung in der chemischen Fabrik gefiel mir anfangs gar nicht, denn ich hatte solche schmutzige und schmerzliche Arbeit noch nie verrichtet. Die großen, dickbäuchigen Flaschen, in welchen sich Schwefelsäure, Salzsäure, Salpetersäure oder andere Säuren befanden, machten mir das Leben anfangs recht sauer, denn in einer solchen großen Flasche sind oft über hundert Kilogramm Säure enthalten, und bevor ich den Vorteil weghatte, die schweren Ballons und Flaschen von einer Stelle zur anderen zu befördern, mußte ich mich halb tot schinden. Als ich jedoch die genügende Handfertigkeit erworben hatte, war es mir ein leichtes, diese dickbäuchigen, giftgefüllten Burschen zu regieren und zu bemeistern. Das Verpacken und Verkitten geschieht unter freiem Himmel. Wenn die Flaschen gefüllt sind, werden die irdenen Stöpsel in die Flaschen mittels siedender Schwefel- oder Teerkitte befestigt. Wir hatten zu diesem Behufe eiserne Kessel, welche über ein Feuer gestellt wurden und in welchen Schwefel und Sand zu einem dicken Brei gekocht wurden; oft wurde auch Teer gesotten, je nachdem die Kitte gebraucht wurde. Bei dieser Schwefelkittekocherei mußte man aber auch immer sehr vorsichtig sein, sonst konnte leicht ein Unglück geschehen. Man mußte genau achtgeben, damit der ganze Schmarren nicht in Brand geriet. War der Brei gut geraten, dann konnte daran gegangen werden, die Stöpsel einzukitten. Mit einem passenden Holze wurde in die kochende Kitte gefahren und auf den irdenen Stöpsel gedrückt, welcher auf der Flasche steckte. Der Stöpsel klebte nun an dem Holze und wurde aus dem Flaschenhalse herausgehoben, rasch in den Kessel eingetaucht, so daß er sich mit Kitte überzog, und nun rasch wieder in die Flasche hineingesteckt. Da aber die Kitte siedend heiß war, so lief die Kitte an dem Flaschenhalse herunter, und da sich das Glas nicht so rasch ausdehnen kann, wie es ein solcher Hitzegrad verlangt, so sprang und knickste manche Flasche, was aber 7

Josef Schiller

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für uns oft recht gefährlich war, denn wenn die Flaschen Sprünge hatten, so spritzte die Säure heraus, und das hatte für uns bei der Verpackung sehr üble Folgen, wie ich gleich zeigen werde. Zur Verpackung wurde Stroh verwendet, welches wir in Hülle und Fülle im Strohmagazin vorrätig hatten. Erst mußten wir das Stroh anfeuchten, damit es geschmeidiger und biegsamer wurde, dann erst ging das „Wickeln" oder, besser gesagt, Strohspinnen an. Aus dem feuchten Stroh wurden nun mit beiden Händen Strohstricke gedreht und die Flaschen, welche bis zum Halse in einem Korbe steckten, umwickelt und so verpackt auf die Seite gestellt, eigentlich gerollt. Wenn nun eine Flasche nicht gut verkittet war oder einen Sprung hatte, so spritzte die Säure heraus und verbrannte uns die Kleidung. Aber das schlimmste war, daß oft diese giftigen Höllentropfen uns auf die Hände oder, was noch fürchterlicher war, ins Angesicht sprangen. Auch das Stroh, das wir um uns herum liegen hatten, wurde auf diese Weise mit Säure getränkt und zerfraß uns buchstäblich die Finger. Ich konnte die zweite Woche schon nichts mehr fest angreifen, so zerschunden und zerrissen waren meine Hände, und das Blut spritzte oft aus meinen Fingerspitzen. Des Nachts konnte ich meine Hände nicht auf den Betten liegen lassen, ich mußte die Arme zu beiden Seiten heraushängen lassen, wenn ich schlafen wollte. — Es war ein elendes Arbeiten. Aber was wollte ich machen, ich mußte ausharren, auch sagten mir meine Freunde, welche dieselbe Beschäftigung hatten, daß die Schmerzen aufhören, sobald die Hände fest genug seien. Solche Hände, wie sie meine Freunde hatten, Hände, welche so fest wie Huf und so hart waren, daß sie die innere Handfläche nicht mehr gerade machen, die Finger nicht mehr ausstrecken konnten, hatte ich noch nicht gesehen bei Arbeitern. Mein alter Freund Liebich in Ausig hatte von einzelnen Fingern die Spitzen halb zerfressen von der Säure, und er meinte stets zu mir, daß er nicht viel Schmerz empfinde. Und wahrlich, ich hatte kaum vier Wochen das scharfe, schneidende Stroh durch meine Hände gejagt, da waren sie fest und auch nicht mehr so weberweich. Ich konnte nun fest zugreifen und tat es auch. Als später mein Weib nach Aussig kam und mich auf dem schmutzigen Hofe der chemischen Fabrik bei meiner Arbeit stehen sah, wurden ihr freilich die Augen feucht, aber ich verdiente mir mehr wie bei der Weberei, und das war die Hauptsache.

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Außerdem gefiel mir auch die Bewegung in Aussig und der Umgebung; es gab für mich nach dieser Richtung viel zu tun. In Aussig selbst gab es zu jener Zeit einen Arbeiterverein mit über 700 Mitgliedern, und sehr viele arbeiteten in der chemischen Fabrik. Selbst viele Vorgesetzte, Aufseher und sogar der Direktor Stockhammer waren Mitglieder dieses Vereines. Als ich den ersten Vereinsversammlungen beiwohnte, bemerkte ich sofort, daß bei diesem Vereine ein falscher Ton herrscht, denn die wirklichen Fabrikarbeiter schwiegen zumeist, und nur die Vorgesetzten und Angestellten der chemischen Fabrik führten das große Wort. Ich hatte bald einen Anhang gewonnen und begann daher sofort die falschen und verkehrten Ansichten, über welche verhandelt wurde, zu bekämpfen. Man war gerade daran, für die altkatholische Bewegung die Vereinsmitglieder zu gewinnen, aber als ich nach Aussig kam, machte mein Auftreten im Vereine diesem falschen Streben ein Ende. Freilich verlor der Verein viele Mitglieder, denn als die Herren Werkführer und Auchsozialisten merkten, daß ihre Meinungen nicht mehr als unfehlbar betrachtet wurden, kehrten sie dem Vereine den Rücken. Als ich gar ihrem höchsten Heiligen, dem Herrn Direktor, gründlich die Wahrheit gesagt hatte, da war kein Halten mehr, die Arbeiter-Aristokraten verließen uns, und nun begann eine ganz andere, eine frischere Luft zu wehen, es wurde lebendiger und gemütlicher im Arbeitervereine. Bei diesen Arbeiten und Vereinskämpfen war Frühling und Sommer rasch vergangen, und als im Spätherbste die nasse und kalte Witterung eintrat, da wurde die Beschäftigung in der chemischen Fabrik immer unerträglicher. Gab es viele Regentage in einer Woche, so mußte ich halb erstarren bei meiner Arbeit und verdiente mir nicht viel dabei. — Da erbarmte sich ein guter Freund und half mir aus dem Schmutze heraus. Der Zimmerpolier Storch in Aussig, welcher zu jener Zeit in der chemischen Fabrik bei den Zimmerleuten als Vorarbeiter angestellt war, frug mich eines Tages, ob ich nicht Lust hätte, ein Zimmermann zu werden. Ich sagte ihm, daß ich wohl schon Holz gehackt und zersägt hätte, aber das würde nicht genügen, um als Zimmerer zu arbeiten. Er meinte aber, daß er sich schon kümmern wolle und ich solle nur getrost anfangen, seine Kollegen wollten mich gerne unter sich aufnehmen und belehren. Mit etwas bangem Herzen ging ich am nächsten Montag zum Herrn Zimmermeister Brettschneider und stellte mich ihm vor. 7*

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E r machte nicht lange Geschichten, schrieb mich in sein Buch, übergab mir Hacke, Säge, Hammer, Stemmeisen usw., und die Sache war abgemacht. Was das Allerwunderschönste bei dieser Angelegenheit war, ist folgendes: Sämtliche Zimmerleute in der chemischen Fabrik hatten nichts dagegen, daß ich als Zimmerlehrling denselben Taglohn erhalten solle wie jeder andere Zimmermann, und so erhielt ich denn wirklich für jeden Arbeitstag l fl. 30 kr. ausgezahlt. Das war annehmbar und schön, aber als ich mir mit meiner scharf geschliffenen Hacke anstatt ins Holz in die Hand hackte, das war nicht sehr angenehm; der Zimmermeister meinte aber, daß es ganz gut sei, wenn ich mir gleich anfangs das ungeschickte, dumme Fleisch wegschlage. Der ungeschickte Hieb hatte übrigens keine schlimmen Folgen, denn ich konnte trotz meiner Wunde arbeiten. Im Vereine ging es immer munter vorwärts, und um das Interesse der Mitglieder noch mehr zu wecken, hatte ich in Verbindung mit noch einigen Genossen für den Verein eine Zeitung gegründet, welche immer nach Schluß der Versammlung vorgelesen wurde. Die Zeitung war begreiflicherweise nur geschrieben und war auch nur für den Verein bestimmt, um Schwächen und Fehler einzelner Genossen zu rügen oder richtigzustellen oder über verschiedene Ereignisse oder lokale Vorkommnisse zu berichten. Die Zeitung führte den Namen „Die Brennessel" und wurde auch ihrem Titel entsprechend geschrieben. Die „Brennessel" war beißend und empfindlich derb, aber immer mehr humoristisch als ernst gehalten. Die „Brennessel" machte den Vereinsmitgliedern oft viel Vergnügen, denn es wurden einzelne Ereignisse sehr treffend geschildert. Jedes Mitglied hatte das Recht, Beiträge für das Blatt zu leisten, und so kam es denn, daß die „Brennessel" recht reichhaltig wurde. Eines Tages, als ich gerade mit meinem Freunde „Schwellen" für eine Hundebahn über den Hof zu legen hatte, worauf wir dann die Eisenbahnschienen zu befestigen hatten, ereignete sich ein Unglück in der Fabrik. In einem großen Warenmagazine wurden Fässer und schwere Kisten mittels einer Winde emporgezogen. Ein Arbeiter, welcher schon viele Jahre bei dieser Beschäftigung tätig war und hoch oben im dritten Stockwerke die schweren Lasten durch die Öffnung hineinzuziehen hatte, verlor plötzlich das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Aufschrei in den 70

Hof herunter. Da lag er nun, starr und steif, wie tot auf der Erde, und seine Kollegen standen ebenso starr vor Schreck um ihn herum. Plötzlich erschallte die Stimme eines Oberaufsehers: „Da seht ihr nun, ihr dummen Kerle, wie weit es kommt mit eurem verfluchten Branntweinsaufen! Hätte er nicht so viel gesoffen, so könnte er noch leben." Keiner der Umstehenden wagte sich ein Wort zu erwidern. Der scheinbar Tote wurde in das Magazin getragen und später, da er wieder zum Bewußtsein kam, in das Krankenhaus überführt. Mich und meinen Freund hatte das brutale Auftreten des Vorgesetzten so empört, daß wir laut darüber murrten und die Kollegen des Verunglückten tadelten, weil sie ihren Mitarbeiter nicht in Schutz genommen. Später erfuhr ich, daß der Verunglückte Vater von fünf Kindern und nach jeder Richtung ein verläßlicher und stets nüchterner Mensch sei. Ich konnte mich daher nicht enthalten, und in der nächsten „Brennessel" ließ ich meinen Groll aus gegen die Feigheit seiner Arbeitskollegen und insbesondere gegen die Gemeinheit des Vorgesetzten. Bei der Vereinsversammlung machte dieser Artikel viel Aufsehen, und die Arbeiter in der chemischen Fabrik verlangten, daß man diese „Brennessel" aus einer Werkstatt in die andere senden möge, damit diese Begebenheit in der chemischen Fabrik bekannt würde. Wir hatten nichts dagegen, und so wanderte die „Brennessel" von Hand zu Hand und kam auch in die Hände meines Vorgesetzten, des Zimmermeisters Brettschneider. E r ließ mich rufen und sagte zu mir: „Schiller, Sie haben eine Dummheit gemacht, wenn einer der Herren Direktoren dieses Blatt gelesen hat, so sind Sie am längsten hier in Arbeit gewesen." Der Mann hatte Recht, denn noch am selben Tage kam ein Bauingenieur und gab mir den Laufpaß. Ich mußte dieselbe Stunde die Fabrik verlassen, und nicht einmal im Chlorhause, wo jeder abgestrafte Verbrecher Arbeit erhielt, wurde ich aufgenommen. Die chemische Fabrik in Aussig war für mich für immer verschlossen. Da saß ich nun wieder auf dem Pflaster. Die Genossen in Aussig und Türmitz gaben sich alle erdenkliche Mühe und scheuten keine Opfer, um mich zu erhalten. Binnen einigen Wochen hatten sie viel Geld zusammengelegt, daß ich einen kleinen Handel mit Galanterie- und Schnittwaren beginnen konnte. Es war ein ärmliches kleines Gewölbe, welches ich in der Bielagasse gemietet 71

hatte. Die Eingangstür war die einzige Öffnung, wo Licht und Luft hereindringen konnte in den gangähnlichen dunklen, dumpfen Raum. Die hintere Hälfte des Gewölbes diente als Wohnung, die vordere Hälfte als Verkaufslokal. Ich hatte mir einige Bretter gekauft und kleine und größere Stellagen zusammengezimmert, auf welchen nun die Waren recht säuberlich auf- und ausgestellt standen oder lagen. Es durften nun nur recht viele Käufer kommen, und ich hätte in dem dunklen Loche gelebt wie ein Hamster. Aber es wollten sich keine Kunden finden, und nur langsam kamen die einzelnen Kreuzer und Gulden wieder ein, die ich in die vorhandenen Waren hineingesteckt. Es kamen Tage, wo nicht so viel eingenommen wurde, um für mich und meine Familie Brot zu kaufen. So verging ein Vierteljahr, und ich und mein Weib hatten trotz Sparen und Darben nicht so viel Geld beisammen, um die Miete zu entrichten. Der Hausherr war aber ein vernünftiger Mann, welcher der Meinung war, daß es im Anfang nicht anders sein könne. Ich dachte bei mir: Wenn die Kunden nicht selber kommen, so mußt du sie aufsuchen! und fing nun an, mit meinen Waren zu hausieren, und besuchte auch die Jahrmärkte in der Nähe. Aber das war alles vergebliches Bemühen, denn auf den Märkten, da merkte ich sehr bald, daß ich meine Artikel viel zu teuer eingekauft hatte und daß ich auch viel zu wenig Waren feilbieten konnte; die Käufer hatten bei mir zu wenig Auswahl. So konnte die Sache nicht fortgehen. Ich überließ den kleinen Handel meinem Weibe und bemühte mich um eine lohnende Beschäftigung. Ein Freund von mir war an der Elbe beim Kohlenaufladen beschäftigt, und dieser wollte mich bei seinem Partieführer unterbringen. Diese Arbeit war nun freilich keine leichte und keine ungefährliche. Hört mir zu: Am Hafendamme hin fährt ein Lastzug mit siebzig oder hundert Wagen Braunkohle, und plötzlich wird es lebendig an der Elbe entlang, wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Viele hundert kohlengeschwärzte Gestalten, Männer, Weiber und Kinder, kommen zum Vorschein, welche bis jetzt in Holzbaracken oder hinter dem Kohlenhaufen versteckt waren. Alle rennen auf den Lastzug hin. Die Kommandorufe und brüllenden Stimmen der Eigentümer werden laut, und es beginnt ein Hantieren und wirres Durcheinander, ein Streiten und Fluchen, als ob der Schwarze

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seine Gesellen losgelassen hätte. Bald aber kommt Ordnung in das wilde Treiben. Bei jedem Kohlenwagen steht ein Mann und zwei Weiber. Zwei Schubkarren, in welche die Kohle hineingeladen wird, werden von dem Manne über schmale, schwankende Bretter vom Hafenufer hinüber in die festgeankerten Kohlenschiffe gefahren. Während der Mann den einen Schubkarren hinüberschafft oder -karrt, wird von den beiden Weibern der andere vollgeladen, und das emsige Hinüber- und Herüberkarren geht ohne Unterbrechung fort, bis der Wagen leer ist. Dabei muß ich aber noch bemerken, daß von Seiten der Eisenbahnverwaltung die Bestimmung vorgeschrieben war, daß binnen zwei Stunden sämtliche Wagen geleert sein mußten. Die meisten Kohlenkarrer oder „Kohlenropler", wie man sie nannte, waren gewöhnlich etwas früher fertig. Bedenkt man nun, daß in einem Wagen 200 und über 200 Zentner Kohle sind und daß die schwankenden Bretter oft über zwei „Zillen" oder Kohlenschiffe gelegt waren und in das dritte Schiff ausgeladen wurden, so kann man sich vorstellen, was ein solcher Mensch in dieser kurzen Zeit leistet. Damals erhielt ein Kohlenkarrer für einen Wagen 1 fl. 50 kr., und da gewöhnlich zwei Kohlenzüge auszuladen waren, so verdiente ein Mann an der Elbe 3 fl. täglich. Ich war also hocherfreut, als mein Freund mich davon verständigte, daß ich mit bei der „schwarzen Garde" sei und den nächsten Tag „Kohlen ropeln" könne. Der Partieführer gab mir zwei Schubkarren und zwei Weiber zum Kohlenladen. Der Lastzug kam, und die Schinderei konnte beginnen. Meine beiden schwarzen Gehilfinnen verstanden ihre Arbeit gründlich. Mit einer bewunderungswürdigen Handfertigkeit und Raschheit wußten sie den Raum des Karrens auszufüllen, und dann türmten sie noch so viel Stücke darauf, daß mir die Achselknochen knackten, als ich den ersten Karren über die schwankenden Bretter schob. Einen Augenblick kam mir die Kohlenroplerei recht rapplig vor. Das Elbwasser rauschte und zischte zwischen den „Zillen" dahin, und ich schaukelte — meine Mutter würde gesagt haben: „tschunkelte" — mit meinem schwer geladenen Karren darüber hinweg bis zur zweiten Zille. Dort kippte ich meinen Karren um, machte „kehrt euch" auf dem schmalen Brette und trabte rasch wieder hinüber. Die beiden Weiber warteten schon auf den leeren Karren, und einige Kohlenkarrer lachten mich aus wegen meines unsicheren Auftretens.

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Mit der zweiten Karre ging's schon besser und nicht mehr so ängstlich. Als ich aber eineinhalb Stunden gefahren war und viele Männer ihre Wagen schon leer hatten, da trieben mich die beiden Weiber an, schneller zu ropeln. Ich konnte aber nicht rascher fahren, mir zitterten schon alle Glieder von dieser ungewohnten Anstrengung, und als ich wieder mit einer schwer geladenen Karre hinüberkam und sie umkippte, verlor ich das Gleichgewicht und stürzte in die Elbe. Ich kam glücklich wieder heraus, und die ganze Bande lachte mich aus. Der Partieführer fluchte und wetterte mit mir, denn die Karre war bei ihrem Sturze in das Kohlenschiff nicht so glücklich wie ich gewesen. Ich war ins Wasser gestürzt, die Karre in die Kohlen. Die Karre war entzwei, ich war noch ganz; wenn das Umgekehrte sich ereignet hätte, wäre es dem Partieführer vielleicht lieber gewesen. Was ich zu fordern hatte, wurde als Schadenersatz zurückbehalten. Mein Weib machte sonderbare Augen, wie ich patschepudelnaß nach Hause kam und ihr meinen wunderbaren Purzelbaum in die Elbe mitteilte. „Mit dir ist schon ein wahres Elend", meinte sie mißmutig, „nirgends geht es dir gut, und wenn du einmal eine gute Arbeit hast, dann hältst du dir die Stelle nicht; du kümmerst dich immer um andere Leute anstatt um deine Angelegenheiten, wenn das so fortgeht mit dir, dann müssen wir elend zugrunde gehen." Solche und ähnliche Redensarten hatte ich aber schon oft von meinem Weibe vernommen, folglich nahm ich mir die Sache nicht so sehr zu Herzen. Ich erhielt auch bald wieder lohnende Beschäftigung in einem Kohlenwerke bei Modlan, in einem sogenannten Handschachte. Modlan ist ein kleiner Ort zwischen Aussig und Karbitz in Böhmen. Ich hatte ungefähr zweieinhalb Stunden zu gehen, vom Hause bis nach meiner Arbeitsstätte. Es ist daher selbstverständlich, daß ich nicht jeden Tag diesen weiten Weg von meiner Wohnung bis in das Bergwerk und wieder zurück laufen konnte. Ich ging daher montags früh von meiner Familie fort und kam sonntags wieder zurück, oft auch sonnabends, je nachdem ich Tag- oder Nachtschicht hatte. Mußte ich in der Nacht arbeiten, so war ich gezwungen, sonntags meine Familie zu verlassen, also an demselben Tage oft, wo ich nach Hause gekommen. Die Handschächte sind solche, welche keinen Maschinenbetrieb haben, wo, wie schon der Name besagt, alles mit den Händen gemacht werden muß. Es war ein eigenartiges Bangen und Hangen, als ich zum ersten Male in den finsteren Schlund hinabkletterte. 74

Das „Mundloch" oder die Einfahrt in den Schacht war höchstens eineinhalb Meter im Durchmesser, und ging die Fahrt, das heißt das Einsteigen, kerzengerade hinunter. Die Leitern, an welchen wir hinabstiegen, waren so angebracht und befestigt, daß, wenn man mit den Füßen keine Sprosse mehr fand, rechts oder links die nächste Leiter zu erfassen war. Bequem war diese Kletterei nicht, denn die Leitern waren klebrig und schmierig, auch fehlte hie und da eine Sprosse, und ich mußte oft recht bedenkliche Kniebiegungen machen, um die nächstfolgende Sprosse zu erreichen. Dabei muß man sich hauptsächlich auf die Hände verlassen, denn rutscht man mit einem Fuße aus, so hängt oft die ganze Körperlast an der Leitersprosse, welche man mit den Händen festhält. Bricht diese Sprosse oder man bekommt den Krampf in die Finger, dann stürzt man hinunter; wäre mir das beim erstenmal Einsteigen geschehen, so wäre ich nicht nur allein hinuntergefallen, sondern ich hätte auch die anderen mitgerissen, welche vor mir hinunterstiegen. Es ging aber so ziemlich glatt das erste Mal, nur war ich wie blind, als wir alle unten auf der „Sohle", wie die Bergleute sagen, anlangten. Trotz der Öllampen, welche jeder Bergmann in seiner Laterne brennen hatte, konnte ich nicht zwei Schritte gehen, es schien mir die erste Minute, als ob eine undurchdringliche, schwarze Felsenwand mich eng umschließe, die immer näher auf mich eindringe; das waren einige ängstliche Augenblicke. Nach und nach trat die fürchterliche, finstere Masse zurück, und ich konnte meine nächste Umgebung unterscheiden. Bald sah ich, wie die einzelnen Bergleute mit ihren Laternen sich entfernten. Hie und da sah ich ein Flämmchen glühen und sich fortbewegen, wie ein Johanniswürmchen in dunkler Sommernacht. Endlich, als sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt, sah ich unter dieser schwarzen Masse graue Gestalten von verschiedener Form und Größe, die sich bald dahin, bald dorthin bewegten. Es waren Dünste und Nebel, die sich in den Gängen und Stollen herumtrieben. Ein Freund von mir, welcher in demselben Handschachte als Häuer beschäftigt war, stand schweigend neben mir und ließ mich einige Minuten in meinem Sinnen und Staunen ungestört. Ich rieb mir einige Male die Augen und frug dann: „Freund, was soll ich hier für Arbeit verrichten?" „Du sollst die erste Woche anschlagen und die nächste Woche fördern", gab er mir zur Antwort. Und nun lehrte er mich „anschlagen". Ein Handschacht hat die genaue Ähnlichkeit mit einem Brunnen, 75

aus welchem Wasser mittels Eimern heraufgewunden wird, nur daß in einem Handschachte Kohlen in dem Eimer enthalten sind, wenn er ans Tageslicht kommt. Der volle Eimer steigt empor, der leere Eimer senkt sich nieder. Meine Beschäftigung bestand nun darin, daß ich einen leeren Eimer mit Braunkohlen anfüllte und an das Seil kunstgerecht befestigte, welches von der Winde oben herabgelassen wurde. Dann faßte ich das Seil mit der rechten Hand und schlug damit an die Seitenwand. Die Schwingung des Seiles pflanzte sich fort bis zu dem Arbeiter, welcher oben an der Winde stand und das Seil in der linken Hand hielt, also genau wie beim Brunnengraben. Während nun der volle Eimer emporstieg und schwankte, füllte ich einen zweiten Eimer mit Kohle, welcher als Reserveeimer bereitstand. Wenn der leere Eimer herunterkam, löste ich das Seil von seinem Bügel und schlang es wieder vorschriftsmäßig an den gefüllten Eimer. Ich hatte also immer drei Eimer zu beobachten. Den vollen, welcher emporstieg, den leeren, welcher sich niederließ, und den dritten, welchen ich mittlerweile zu füllen hatte. Das „Anschlagen" war gerade keine schwere Beschäftigung, aber man mußte sehr vorsichtig sein, denn oft schwankte der volle Eimer derartig hin und her, daß er an den Seitenwänden ein Stück Kohle loslöste, oder aber es fiel ein Stück aus dem Eimer, welches nicht festsaß. Solch ein Stückchen Kohle, welches von oben heruntersauste, war verflucht grob, denn als mir am zweiten Tage eine kleine Kohlennuß auf die linke Hand herunterstürzte, da war es fast, als ob die Berggeister zu mir sagten: „Gib acht, du Bergmannslehrling, denn fällt dir ein Stück, wie die Faust groß, auf deinen Schädel, so tut dir kein Zahn mehr weh." Ich habe meine Arbeit gern verrichtet, denn ich hatte gute Kameraden um mich, welche mir alles gern mitteilten, was ich notwendig wissen mußte. Der erste Tag verging recht rasch, nur das „Ausfahren" oder Hinaufsteigen ging nicht schnell, denn ich war sehr müde, und das Emporklettern dauerte mir unendlich lange. Auch hatte ich den ganzen Tag wenig Nahrung zu mir genommen. Die Gefahr, die mich umgab, war ich noch nicht gewohnt, war nicht vertraut mit ihr. Es war nicht ganz nach meinem Geschmacke, dieses unterirdische Leben, und so war mir der Appetit zum Essen vergangen. Aber nur vorwärts! hieß es, denn unter mir kamen meine Leidensgenossen nachgestiegen, welche so rasch als möglich dem dunklen Schachte entsteigen wollten, denn das

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„Wetter" war nicht rein, die unreinen Dünste und erstickenden Gase trieben uns hinaus. Ich glaubte, es sei schon gegen Abend, aber es war erst gegen vier Uhr nachmittags, die Sonne stand noch hoch am Himmel, als ich endlich todmüde die letzten Sprossen erklommen und mein Freund mir die Hand reichte, welcher vor mir emporgeklettert war. Ich legte mich an den nächsten Wiesenrand hin und ruhte eine Weile. Mein Freund setzte sich zu mir und frug teilnahmsvoll, ob ich diese Lebensweise aushalten würde. „Unkraut verdirbt nicht", gab ich ihm lächelnd zur Antwort. „Ihr seid schwächer wie ich und müßt es aushalten, folglich wird mich auch nicht der Kukkuck holen." „Wir sind das von Jugend an gewohnt", meinte er. „Laß gut sein", sagte ich, und wir gingen langsam, plaudernd nach Hause. Ich war müde und legte mich beizeiten zu Bett. Nach Mitternacht, vielleicht gegen zwei Uhr, wurde ich schon wieder geweckt. Die Kraftsuppe der Armen, der Kaffee, dampfte schon brühheiß auf dem Tische. Wir nahmen uns so viel Brot, als wir für den ganzen Tag nötig hatten, und wickelten es in ein reines Tuch, dann füllten wir uns jeder einen Blechkrug voll Kaffee, und nachdem wir einen halben Liter von dieser Kraftbrühe getrunken, gingen wir ernst und schweigsam unserem Schachte entgegen. Ich muß euch sagen, meine lieben Freunde und Freundinnen, ihr hättet mich damals nicht erkannt, denn mein ganzes Wesen hatte sich binnen einigen Stunden verändert. Mein froher Sinn, mein leichter Mut, meine ganze Lebensfreudigkeit hatte sich zurückgezogen, wie eine Schnecke in ihr Häuschen. Erst als ich die zweite Woche ins Bergwerk ging, wagte sich mein heiteres Gemüt wieder aus dem Häuschen. Ich war nun Fördermann geworden. Meine Arbeit bestand nun darin, daß ich die Kohle, welche am Orte gehauen wurde, auf einem Schubkarren vom Orte weg bis zum Förderschachte führte. Den Ort nennt man jene Stelle, wo die Häuer mittels Fäustel und Keile oder, wenn es sein muß, mit Dynamit die Kohle brechen und sprengen. Das ist eine sehr schwere und lebensgefährliche Beschäftigung. Es gibt Orte, wo es zum Ersticken heiß, und andere, wo es sehr feucht und kalt ist. Der Häuer muß genaue Fachkenntnisse besitzen, er muß wissen, wie die Kohle am besten und vorteilhaftesten zu bearbeiten ist, damit sie sicher gewonnen werden kann. Und mit welchem Eifer wird da geschafft und ge77

arbeitet, als gelte es, die ganze Welt mit ihren Reichtümern zu erwerben. Da stehen oft zwei Häuer am Orte und hantieren bald mit der Spitzhaue, bald mit dem Fäustel und schlagen, hauen und brechen, daß die Funken sprühen, und Kohlenstaub und Splitter springen in die Augen. Der Schweiß rinnt über den halbnackten Körper und vermischt sich mit dem schwarzen Kohlenstaube. Ein Säuseln und Flüstern, vermischt mit leisem Singen und Klingen, rauscht durch den Stollen, bald hier, bald dort löst und bröckelt sich ein Stück Kohle von der Decke und schlägt dumpf auf die Lösche, welche die Sohle des dunklen Ganges bedeckt. Einzelne Wassertropfen dringen durch Risse und Spalten, oft sammeln sich kleine Mengen Wasser und plätschern von der Höhe herunter auf Haupt und Schultern des Bergmannes. Aber er merkt es kaum, immer wuchtiger treffen die Schläge die widerspenstige Kohlenschicht. Rechts und links hat er schon tief eingehauen, und ein breiter Spalt gähnt uns zu beiden Seiten entgegen, jetzt baut er mit der Spitzhaue an jene Stelle, wo Letten, Lösche und Erdreich die eine Schicht von der anderen trennen. Noch einige kräftige Hiebe, ein Knirschen und Bersten wird laut, ein Ächzen und Prasseln, dann ein donnerähnliches Getöse. Ein kühner, rascher Sprung nach rückwärts hat ihn gerettet. Kohlenstaub und Splitter umwirbein den Bergmann. Befriedigt lächelnd tritt er der riesigen Masse Kohle entgegen, welche durch sein Bemühen heruntergebrochen ist. „Glück auf!" murmelt er freudig, schwingt fröhlich sein Fäustel, um die größten und schwersten Stücke zu zertrennen und zu spalten. Und nun heißt es, Förderleute, schafft die Kohle zum Förderschachte. Mit wahrer Todesverachtung bin ich dann mit meinem beladenen Schubkarren durch die Gänge gefahren, denn die Häuer wollten Platz haben an dem Orte, um weiter vorwärtszudringen in der gesegneten Vorratskammer der Erde, wo die schwarzen und braunen Diamanten aufgeschichtet liegen. In kurzer Zeit war ich mit den meisten Bergarbeitern in Modlan und der Umgebung bekannt, und, wie es nicht anders sein konnte, unsere Gespräche drehten sich zumeist um solche Gegenstände, welche uns am meisten berührten; also unsere materielle Lage war es gewöhnlich, über welche wir unsere Meinungen austauschten. Und wahrlich, es gibt gar keinen schöneren Ort, in vieler Beziehung, wie einen tiefen Schacht für vertrauliche, freundschaftliche Gespräche und Mitteilungen. 78

Während der Mittagspause lagerten wir an einem trockenen Orte, aßen unser kärgliches Stückchen Brot, und die älteren Bergleute hörten mir aufmerksam zu. Wenn wir nach der Schicht unseren Behausungen zugingen, wurden die mittags abgebrochenen Gespräche wieder aufgenommen, und so hatte sich bald ein Häuflein Bergleute um mich geschart, welche nichts sehnlicher wünschten als eine öffentliche Arbeiterversammlung, welche in Modlan stattfinden sollte, bei welcher ich über die Verbesserung der materiellen Lage der arbeitenden Klasse sprechen und wo über die Gründung eines Arbeitervereines beschlossen werden sollte. Es war aber zu jener Zeit nicht leicht, in der dortigen Gegend eine Arbeiterversammlung abzuhalten, denn obgleich in vielen Gegenden Nordböhmens damals viele Volksversammlungen von seiten der löblichen Behörden genehmigt und bewilligt wurden, so war es doch im Teplitzer und Aussiger Bezirke sehr „heiß" — würden die Handwerksburschen sagen. Wir mußten daher ganz sicher zu Werke gehen, sollte uns unser Vorhaben gelingen. In Modlan war ein schöner, neugebauter Saal, in welchem höchstens alle vier Wochen einmal Tanzunterhaltung stattfand. Dieses Lokal war aber Eigentum des Herrn Gemeindevorstehers, und es war fraglich, ob dieser Mann sein Lokal zu einer Volksversammlung hergeben würde. Aber wir meinten: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Eines Sonntags gingen wir zum Gemeindevorsteher und zechten lustig in seinem Gasthause, wir wußten es in unserem Gespräche so einzurichten, daß wir auf seinen neuerbauten Tanzsaal zu sprechen kamen, und es dauerte gar nicht lange, so fing der liebe Herr Vorsteher an zu klagen, daß ihm dieser Bau unendlich viel Geld gekostet hat und nun nichts einbringe usw. So weit wollten wir ihn haben. Nun rückten wir mit unserem Plane heraus. Wir sagten ihm, daß wir gern einen großen Verein gründen möchten und alle vierzehn Tage eine öffentliche Vereinsversammlung abhalten wollten, daß der Vorsteher immer dann sein schönes Lokal besetzt haben würde und anderes mehr. Der Herr Vorsteher meinte: „Ja, warum tun Sie das nicht?" Nun erklärten wir dem guten Manne, daß die Behörde uns keine Versammlung bewilligen will, weil wir „keine vertrauenswürdigen Personen" seien. „So, so", sagte der ehrenwerte Bürgermeister von Modlan, „nun gut, die Versammlungsanzeige werde ich und ein Gemeinderat unterschreiben."

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Der Mann hielt Wort, und so kam die erste Volksversammlung zustande in Modlan. Durch die Versammlung in Modlan hatte ich Freunde und Feinde erobert, das heißt, viele Bewohner der dortigen Gegend hatten mich liebgewonnen, und viele fluchten und zeterten gegen mich. Der Grubenbesitzer, bei welchem ich in Arbeit stand, bemühte sich sogar bis unter die Erde, um mich kennenzulernen; er kam einige Tage nach der Versammlung während der Mittagspause in den Schacht und stellte mich zur Rede wegen meinem öffentlichen Auftreten. Ich erklärte dem Herrn frei und offen, daß ich die Absicht hätte, für die Bergarbeiter einen Verein ins Leben zu rufen, damit etwas mehr Licht in die Köpfe und etwas mehr Wärme in die Herzen kommen möchte. Er hörte mir ruhig zu und ging wieder seiner Wege, auf sein Feld zu seinen Ochsen, denn nebst dem Handschachte betrieb er die Landwirtschaft. Die nächste Woche ließ mir der Gruben- und Ochsenbesitzer sagen, er brauche keine „Aufhetzer" in seinem Schachte, kurz, ich war entlassen. In einem zweiten Handschachte arbeitete ich wieder vierzehn Tage, dann hieß es wieder: „Hinaus aus der Grube, du Aufwiegler!" Ich war schon so bekannt, daß mich die Grubenbesitzer nicht arbeiten ließen, folglich mußte ich wieder etwas anderes beginnen, um Brot zu verdienen. Aber was? — das war die Frage. In der Nähe von Aussig wurde ein großes Grundstück durch eine Mauer eingefriedet, zu diesem Baue wurden Handlanger gesucht. Ich ging zu dem Baumeister und erhielt auch eine Beschäftigung, die ich ganz gut hätte verrichten können, wenn ich nur unter vernünftige Menschen gekommen wäre. Aber der Maurerpolier war ein unpolierter Flegel, und die drei Maurer, welche ich zu bedienen hatte, waren schroffer und ungeschliffener wie die Steine, die ich zu dem Baue fahren mußte. Es ist alles nicht leicht, was man nicht gelernt hat, und selbst zum Steinefahren gehören Fachkenntnisse. Ich wußte daher die ersten Tage nicht, was ich für Steine auf meine „Karre" aufladen sollte, wenn die drei Grobsäcke zu gleicher Zeit brüllten: „Spitzsteine", „Brocken", „Quersteine", „Klötzel" usw. Für mich waren die vielen Haufen Steine, welche unweit des Baues in großen Haufen übereinander lagen, eben nur Steine von verschiedener Form und Größe, aber die eigenen Sorten und Spezialitäten, wie sie die drei Maurer verlangten, kannte ich nicht. 80

Dabei quälte mich der Polier mit seinen dummen Bemerkungen. Weil er glaubte, an mir einen Schreiber entdeckt zu haben, so rief er von Zeit zu Zeit: „Immer fest zugegriffen, Handlanger, Steinefahren ist nicht so leicht wie mit der Feder kritzeln!" usf. Ich blieb ihm selbstverständlich die Antwort nicht schuldig, und so war es kein Wunder, daß wir beide einander so liebgewannen, daß wir uns die zweite Woche bei der schönsten Witterung geprügelt hätten, wenn nicht ein vernünftiger Maurer sich ins Mittel gelegt hätte. Ich mußte selbstredend den Bau sofort verlassen und bin daher bis heute noch kein ausgelernter Handlanger. Aber soviel habe ich dabei gelernt, daß man jeden Handlanger achten soll. Diese fortgesetzten Maßregelungen hatten aber bei mir nicht den gewünschten Erfolg. Anstatt, daß ich müde geworden wäre, empörte sich mein ganzes inneres Wesen gegen den Druck, der auf mir lastete, und bei jeder Gelegenheit betätigte sich meine Widerstandskraft. In den öffentlichen Versammlungen, welche in Teplitz, Oberleutensdorf, Türmitz, Karbitz, Bilin, Görkau, Dux, Komotau und anderen Orten zu jener Zeit stattfanden, war ich stets ein gern gesehener Gast, denn ich wußte aus eigener Erfahrung die traurige Lage der Arbeiter zu schildern. Eines Mannes muß ich hier kurz erwähnen, welcher zur selben Zeit mein guter Freund war und welcher mich manches gelernt, was ich früher nicht kannte. Bei einer öffentlichen Versammlung in Aussig bemerkte ich während meines Vortrages unter den Anwesenden einen großen, schönen Mann mit einem prächtigen Kaiserbarte, welcher mit der größten Aufmerksamkeit meinen Worten folgte. Ich wußte ganz bestimmt, daß dieser Mann nicht nur auf mich hörte, sondern daß er meine Ausführungen auch richtig verstand, prüfte und beurteilte. Nach Schluß der Versammlung kam er auf mich zu, schüttelte mir herzlich die Hände und ließ sich mit mir in ein Gespräch ein. Ich bemerkte sofort, daß ich es mit einem klugen und belesenen Manne zu tun hatte; ich hatte alle Not, mich mit ihm auf gleicher Höhe zu erhalten. Er berührte viele Fragen, welche ich in meinem Vortrage nur angedeutet oder gestreift hatte, und lächelte immer befriedigt, wenn ich ihm eine treffende Antwort gab. Sobald er jedoch fühlte, daß ich nach einer Richtung nicht ganz sattelfest war, strich er seinen schönen Bart und belehrte mich darüber. Bei jeder Volksversammlung, wo ich referierte, war dieser Mann anwesend, wenn es sein Dienst erlaubte. 81

Anfangs wollte ich ihm kein Vertrauen schenken, aber ich hatte mich bald überzeugt, daß er es ehrlich meinte mit unserer Bewegung. Schade, daß er tot ist. Es war der Herr Polizeiwachtmeister Haschke aus Teplitz. Der Teplitzer Bezirk war von jeher für unsere Bewegung gefährlich, denn dort wurden seinerzeit sogar zwei Kapuziner einige Tage in Haft gehalten, weil man sie für zwei verkappte Sozialdemokraten hielt. Eines schönen Tages kam ein deutscher Arbeiterführer nach Teplitz, um dort Geschäfte zu machen, aber sofort wurde auf ihn Jagd gemacht. Die Polizisten durchstöberten alle Gasthäuser, ohne daß sie eine Spur von dem deutschen Agitator entdecken konnten. Dieser vielgesuchte und „gefährliche" Mann schlief aber ganz sicher und angenehm in dem Schlafzimmer des Herrn Polizeiwachtmeisters. Als der wackere Haschke begraben wurde, da kamen die Sozialisten massenhaft aus der Umgebung zu seinem Leichenbegängnisse, alle geschmückt mit dem Zeichen der Liebe und Verehrung, mit der roten Nelke im Knopfloche, und gaben dem toten Gesinnungsgenossen die ihm gebührende Ehre. Die Teplitzer Bierpolitiker wollten freilich nicht recht daran glauben, daß der Verstorbene ein Anhänger der f f j Sozialdemokraten sei, als sie aber in ihren bedruckten Sauerkrautblättern die fettgedruckte Nachricht lasen, worin es hieß: „In der Wohnung des verstorbenen Polizeiwachtmeisters wurde gehaussucht und ganze Kisten sozialdemokratischer Schriften vorgefunden und konfisziert", da ging den Thermen wasserkünstlern und Sozialistenfressern ein grauliches Gruseln über die dicken Ohrenspitzen und den krummen Rücken, denn es kam ihnen vor, als ob sie der tote Wachtmeister noch einmal berührt hätte. In der Gegend von Aussig war zu Anfang der siebziger Jahre eine lebendige Bewegung unter den Arbeitern, es war eine Freude für jeden Genossen, so mitten im frischen, fröhlichen Parteikampfe zu stehen, denn die Verfolgungsstürme waren damals noch nicht losgebrochen, wie sie später über Nordböhmen dahinrasten und Hunderte von Genossen unglücklich machten. Es wehte ein Hauch der Freiheit in manchen Orten, von welchem die Genossen so begeistert wurden, daß sie voll Liebe und Leidenschaft für die gute Sache manches taten, was heute die besten Genossen sich nicht wagen würden, weil sie wissen, daß sie dadurch den Behörden Gelegenheit bieten würden, „außerordentliche" Maßregeln zu ergreifen. 82

Ich will euch nun, liebe Freunde und Freundinnen, einige kleine Erlebnisse schildern, woraus ihr gleich erkennen werdet, welche freie und fröhliche Stimmung unter uns herrschte zu jener Zeit. Am rechten Ufer der Elbe liegt ein niedliches Dorf, ziemlich hoch an Bergeshöhen, von wo man die Gegend von Aussig recht gut überschauen kann. In diesem Orte (Obersedlitz) wohnte ein guter Genosse, welcher ein Gasthaus hatte. Dorthin gingen wir oft des Sonntags, wenn wir eingeladen wurden von den Genossen aus Obersedlitz. Die Einladung geschah auf einfache Weise. Der Genosse Hübner hatte eine hohe Fahnenstange in seinem Garten stehen, und wenn wir die achtzehn Ellen lange rote Fahne lustig im Winde flattern sahen, da wußten wir, was wir zu tun hatten. Wir gingen an die Elbe, ließen uns überfahren, denn damals war die prächtige Brücke noch nicht gebaut, und wanderten hinauf, den Bergen entgegen, nach Obersedlitz. Manche glückselige Stunde habe ich dort im Kreise guter Freunde verlebt. Die ganze Gegend, von Aussig bis Lobositz, rechts und links der Elbe, ist überhaupt so reich an Naturschönheiten, daß jeder, welcher dorthin kommt, voll Begeisterung ausruft: „Hier ist es prächtig und schön!" Im Jahre 1873, zur Herbstzeit, feierte der Arbeiterbildungsverein sein Gründungsfest, bei welchem viele fremde Genossen als Gäste anwesend waren, unter anderen auch das junge Weib des damals berühmten Redners Joh. Most. Das Fest verlief glänzend, und die ausländischen Gäste waren sehr befriedigt über die Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft, welche wir ihnen darbrachten. Joh. Most war zu jener Zeit zu eineinhalb Jahren verdonnert worden, welche Strafe er in Plötzensee bei Berlin abbüßen mußte. Sein junges Weib wohnte in Chemnitz in Sachsen, und da der gewesene Obmann des Aussiger Arbeitervereines dort Stellung hatte, so war er mit den tüchtigsten Genossen in Chemnitz bekannt und brachte sie daher als willkommene Gäste mit nach Aussig. Wie die gemütlichen Sachsen nun schon einmal sind, wenn sie die böhmischen Berge sehen, so wollen sie auch dieselben besteigen und, wenn möglich, die schönsten Orte besuchen. Den Tag nach dem Gründungsfeste sollte daher ein Ausflug arrangiert werden, nach Schreckenstein, dann in die Weinberge usw. Da aber viele Genossen von Aussig ihre Weiber und Töchter mitnehmen wollten, so unternahmen wir nur kleine, weniger beschwerliche Fußpartien links der Elbe. Der Nachmittag war 8

Josef Schiller

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prächtig, und alle waren in guter Laune, welche noch erhöht wurde durch die munteren Lieder, welche der Arbeitergesangverein von Zeit zu Zeit erschallen ließ, so daß wir gar nicht ans Nachhausegehen dachten. Endlich hieß es aber aufbrechen, denn wir hatten ziemlich zwei Stunden zu laufen bis nach Aussig. Die Sänger gingen voran und sangen ein Arbeiterlied, wir anderen hinterher, fröhlich plaudernd oder das Lied mitsingend, bis es von Seiten der Weiblein hieß: „Langsam, nicht so rasch, die Frau Most kann nicht so gut laufen, sie hat neue Schuhe." Nun gingen wir eine Strecke langsam, aber es dauerte nicht lange, hatten wir die weiblichen Ausflügler schon wieder weit hinter uns. Ich und noch einige Genossen forderten nun die anderen auf stehenzubleiben und gingen dann zurück zu den Frauen, welche die Frau Most in der Mitte hatten. „Ich kann fast nicht mehr auftreten", sagte das kleine, junge Weib zu mir, indes sich ihre Augen mit Tränen füllten. Da war guter Rat teuer. Eine Fahrgelegenheit war um diese Zeit und an diesem Orte nicht zu verschaffen. Ein Haus war nicht in der Nähe, und doch konnten wir nicht hier stehenbleiben. Die junge Frau hatte sich auf einen Stein gesetzt, um eine Weile zu ruhen, aber als sie versuchte, wieder weiterzugehen, fing sie an zu weinen und setzte sich wieder auf den Stein. Ich ging zu ihr und sagte, daß ich ein Mittel wüßte, um sie nach Aussig zubringen; wenn sie damit einverstanden sei, so würde sie rasch vorwärtskommen, wie die anderen. „Ach Gott, ich bin mit allem einverstanden", gab sie zur Antwort. „Nun gut", sprach ich, „jetzt müssen Sie mir aber gehorchen." Ich und noch ein kräftiger junger Genosse von meiner Größe gaben uns die Hände, ein anderer nahm das kleine, hübsche Weibchen, hob sie wie ein Kind von dem Steine, und ehe sie recht wußte, was geschah, saß sie auf unseren verschlungenen Händen. Um nicht herunterzufallen, mußte sie, wohl oder übel, mir und meinem Freunde einen Arm um den Nacken legen und, wenn das junge Weibchen auch anfangs recht furchtsam und schüchtern sich benahm, so wurde sie doch bald ruhig und wieder heiter; denn sie mußte ja selbst einsehen, daß wir unsere Pflicht nicht anders erfüllen konnten. Und so ging es wieder lustig und munter die Straße entlang bis nach Aussig, und heute noch ist mir dieser Tag unvergeßlich. Ich rate euch aber, meine Freundinnen, bei derartigen Ausflügen keine neuen, engen Schuhe zu tragen, denn ihr verderbt euch und anderen die Freude. 84

Kurze Zeit nach diesem denkwürdigen Gründungsfeste wurde ich von der Gemeindevertretung eines größeren Dorfes in der Nähe von Aussig ersucht, bei einem Schulfeste einen Vortrag zu halten. Ein derartiger Antrag war mir noch nie gemacht worden, ich fühlte mich sehr geehrt und sagte dem Herrn Gemeinderate meinen verbindlichsten Dank, mit der Versicherung, daß ich am genannten Tage zur bestimmten Stunde eintreffen würde, um mich dieses ehrenden Auftrages zu entledigen. In der Gemeindevertretung dieses Ortes gab es mehrere tüchtige Gesinnungsgenossen, welche es dahin gebracht hatten, daß mir diese Aufgabe zuteil wurde. Ich wurde gleichzeitig verständigt, daß der Herr Pfarrer und die beiden Herren Lehrer sehr neugierig seien, wie ich mich bei dieser Angelegenheit benehmen und was ich sprechen würde. Ich muß gestehen, es war mir nicht ganz gleichgültig, ob ich bei einer Arbeiterversammlung oder bei einem Schulfeste einen Vortrag halten mußte. Ich hatte da mit ganz anderen Leuten zu rechnen und mußte daher auch ein passendes Thema wählen. Als der Tag herannahte, war ich wohlgerüstet, ich hatte mir einen Vortrag einstudiert, welcher, wie ich hoffte, alle meine Zuhörer befriedigen würde. Ein guter Freund aus dem Dorfe, wo ich sprechen sollte, kam mir entgegen, als ich durch die Felder schritt und mich dem Orte näherte. In der Nähe eines Gasthofes, in der Mitte des Dorfes, in einem sehr großen Obstgarten, tummelten sich die Schulkinder und machten Spiele unter Anleitung der beiden Lehrer. Die erwachsenen Dorfbewohner und Eltern der Kinder sahen dem fröhlichen Treiben lächelnd zu. Kleine Gruppen von Männern saßen an runden Tischen unter den Bäumen und tranken plaudernd ein Glas Bier. Es war ein recht schöner Anblick, dieses ländliche Schulfest. Ich stellte mich den Herren der Gemeinde vor, und bald war ich umringt von vielen neugierigen Leuten, welche mich alle wie ein Wundertier begafften, denn es mochte manchem nicht einleuchten, daß außer ihrem Herrn Pfarrer irgend jemand eine öffentliche Rede halten könne. Ich war es aber damals schon gewohnt, mich unter Menschen, die mich zum ersten Male sahen, zu bewegen. Vor allem aber habe ich das Glück, daß mich die Kinder sehr bald liebgewinnen, ich konnte mich schon zu jener Zeit sehr rasch in das Gedankenreich der Kinder verstehen, weil ich von jeher ein Kindernarr war. So hatte ich dort gar bald die Kinder auf meiner Seite, und die Erwachsenen wunderten sich, daß viele so zutraulich zu mir waren. 8'

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Aber es dauerte nicht lange, das kindliche Vergnügen, denn die Erwachsenen ließen mir nicht lange Zeit, sie wollten mich sprechen hören. In dem Gasthause war ein großer Saal, und dorthin mußte ich nun mitgehen, um meine Weisheit auszukramen und anzubringen. Groß und Klein drängte sich in das geräumige Tanzlokal, aber es gab nicht Raum genug für alle, viele mußten draußen stehen, ja selbst der Herr Pfarrer hatte nur ganz hinten bei einem Fenster ein Plätzchen erobert. Ich hatte mich auf Störungen gefaßt gemacht, weil auch die Kinder anwesend waren, aber es war während meines ganzen Vortrages so ruhig wie in der Kirche; viel mochte dazu beitragen, weil nebst den Eltern auch die Herren Lehrer und der Herr Pfarrer zugegen waren. Als Thema zu meinem Vortrage hatte ich gewählt „Schule und Haus". Ich besprach vor allem die innigen Beziehungen, welche zwischen Eltern und Lehrer bestehen sollen, um die Kinder richtig zu erziehen und zu bilden. Ich erklärte durch viele Beispiele, welch üble Folgen es für die Kinder haben muß, wenn die Eltern geringschätzend von der Schule sprechen und ihren Kindern nicht die pflichtschuldige Achtung beibringen, welche sie den Lehrern und Erziehern schuldig sind. Ich vergaß aber auch nicht, den Herren Lehrern ans Herz zu legen, daß die armen Kinder wie von Wachs zu behandeln sind, da das kindliche Gemüt grobe Ausdrücke tief empfindet, und daher berufen seien, mit Milde und Liebe den Kindern entgegenzukommen. Ich schonte auch andererseits die Eltern nicht, welche alltäglich ihre Kinder belügen und denselben fortwährend im guten oder bösen Versprechungen machen, die sie nur selten imstande sind zu halten, und daß dadurch das Kind, schon ehe es die Schule betritt, zum Heuchler und Lügner erzogen wird. Kurz, mein Vortrag war so gehalten, daß ich Eltern und Lehrer als die Beschützer der Kinder hinstellte, welche dazu berufen sind, die Kinder so zu erziehen, daß sie die Wahrheit über alles lieben sollen, dann müßten sie auch gute und nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden. Als ich meine Rede geendet, kamen meine Bekannten und die Herren Lehrer zu mir und dankten mir für meine herzlichen Ausführungen. Nur einer freute sich nicht über meine Worte, das war der Herr Pfarrer. Vielleicht hatte er mich nicht recht verstanden, weil er im hintersten Winkel gestanden, ich kann es nicht sagen, nur soviel weiß ich, daß er nicht sehr zufrieden von uns ging. Wir 86

anderen haben uns noch recht gut unterhalten, bis wir uns gegen Abend voneinander verabschiedeten mit der Versicherung, daß wir uns recht bald wiedersehen wollten. Aber gar bald kam wieder ein böser Wind und trieb mein Lebensschifflein in eine andere Gegend, um dort eine kurze Zeit zu landen. — Meine lieben Freunde und Freundinnen, ich will euch wieder aus meinem Leben einiges mitteilen und bitte daher, mir Aufmerksamkeit zu schenken. Im Herbste des Jahres 1873 hatte sich in Graz ein Komitee gebildet, welches sich die Aufgabe gestellt hatte, die österreichische Arbeiterpartei, welche damals in drei Teile gespalten war, wieder zu vereinigen. Es erging daher an alle Vereine und Gewerkschaften, welche damals bestanden, ein Aufruf von Seiten der Grazer Genossen, daß in allen Orten Delegierte gewählt werden sollten, um einen österreichischen Arbeiterkongreß abzuhalten. Bis zum Monate März 1874 dauerten die Vorbereitungen und Vorarbeiten zum Kongreß. Die Arbeitervereine in Aussig, Türmitz, Bilin und Oberleutensdorf wählten mich als Delegierten, und die Genossen legten mir ans Herz, dahin zu wirken, daß die Parteiangelegenheiten geordnet, die Streitigkeiten geschlichtet und ein einheitliches Vorgehen erzielt werde. Nach dem Versammlungsgesetze bedürfen Zusammenkünfte, an denen nur geladene Gäste teilnehmen, keiner behördlichen Bewilligung, und so glaubten wir auch ganz sicher, daß unser Kongreß von Seiten der Behörde nicht beanstandet würde. Der Kongreß sollte am 5. April in Baden in Niederösterreich stattfinden. Als ich jedoch am 4. April in Baden ankam, hörte ich zu meiner Verwunderung, daß der Kongreß von der k. k. Bezirkshauptmannschaft verboten sei. Der Einberufer hatte die Behörde davon verständigt. Das war eine schöne Bescherung, nun hatte ich die weite Reise vielleicht umsonst gemacht. Aber nicht nur ich, sondern noch viele, viele Delegierte waren schon in Baden, und noch viele sollten den nächsten Vormittag ankommen. Was war nun zu tun? Dr. Hippolyt Tauschinsky aus Graz, als Einberufer des Kongresses, hielt mit uns Rücksprache und meinte, da wir schon an sechzig Delegierte anwesend seien, so wäre es doch gut, wenn wir den Kongreß auf alle Fälle abhielten. Wir waren alle damit einverstanden, und es wurde beschlossen, jenseits der österreichischen Grenze, in dem kleinen Orte Neudörfel in Ungarn, wo schon oft die Freimaurer ihre Zusammenkünfte, ihre Loge, hatten, unseren Kongreß abzuhalten. Wir meinten : Wenn die Freimaurer in Neudörfel das tun können, was ihnen 87

in Österreich verboten ist, dann können wir Sozialdemokraten das, was uns in Österreich verboten wurde, in Neudörfel ebenfalls tun. Den anderen Tag gegen elf Uhr kamen wir nach Neudörfel. Einige Genossen hatten ein Gasthaus gemietet, und der obere Stock, mit einem großen Saale und anstoßendem Zimmer, wurde für den Kongreß benützt. Wir waren beinahe achtzig Delegierte dort anwesend und mehrere bekannte Genossen aus Niederösterreich, Ungarn und Steiermark. Dr. Tauschinsky wurde zum Vorsitzenden und ich als dessen Stellvertreter gewählt. Die Einladungskarten wurden geprüft, und einige wurden als nicht stimmberechtigt zurückgewiesen, doch hatten die Zurückgewiesenen das Recht, in einem abgesonderten Teile des Saales den Verhandlungen beizuwohnen. Nachmittag um drei Uhr sollte der Kongreß eröffnet werden. Da erschien ein Abgeordneter von den Anhängern der „Volksstimme". Es war dies der Herr Mettal, ein sehr gewandter Redner, und dieser erklärte, daß der Kongreß von seiner Fraktion nicht anerkannt werde, sie verlange die Abhaltung desselben in Baden usw. Nun lag es aber klar auf der Hand, daß die Anhänger der „Volksstimme" diesen Kongreß vereiteln wollten, aber obgleich wir das wußten, so machten wir noch einen Versuch zur Güte, damit auch sie teilnehmen sollten. Der Kongreß wurde vertagt, und Dr. Tauschinsky, ich und noch ein Parteigenosse, wir gingen nach Baden zurück und fanden an dreißig Delegierte von der „Volksstimme", welche aber so aufgeregt und unzugänglich waren, daß wir bald einsehen mußten, daß mit diesen Leuten nichts anzufangen sei. Sie erklärten einfach: Wir sollten zu ihnen kommen und den Kongreß in Baden abhalten. Nach Neudörfel kämen sie nicht, und dabei blieben sie. Wir kehrten wieder nach Neudörfel zurück. Gegen sieben Uhr begannen die Verhandlungen und dauerten ununterbrochen bis sieben Uhr morgens. Nur einen einzigen Zwischenfall weiß ich aus diesen Verhandlungen anzuführen, welcher von großer Bedeutung für mich war. Gegen zehn Uhr abends hieß es plötzlich: „Panduren nähern sich dem Hause." Als die Panduren gefragt wurden, was sie wünschten, erklärten sie einfach: „Wir sind nur deshalb in der Nähe, damit die Herren in ihren Verhandlungen nicht gestört werden." Es ist nicht meine Absicht, über die Beschlüsse und Debatten, welche bei diesem Kongresse durchgeführt wurden, viel Geschichten zu machen, ich führe die ganze Begebenheit nur an, weil ich durch diesen Kongreß mit einzelnen Personen bekannt 88

wurde, welche schuld daran waren, daß ich eine neue Berufstätigkeit erlernte, wodurch ich zeitweise viel leichter mein Brot verdiente wie bei der Weberei. Ich gehörte damals zu den Anhängern der „Gleichheit", welche bei dem Kongresse zum Zentralorgan der österreichischen Arbeiterpartei erhoben wurde. Einzelne von den Wiener Genossen hatten mich rasch liebgewonnen und erkundigten sich daher auch über meine materielle Lage, wobei ich ihnen selbstverständlich nur Wahrheitsgemäßes, folglich nur Trauriges berichten konnte. Einige sagten mir daher, daß sie sich bemühen werden, in Wien ein Unterkommen für mich zu finden, damit ich aus den mißlichen Verhältnissen herauskäme. Von dem Kongresse zurückgekehrt, berichtete ich in Reichenberg, Aussig, Türmitz, Bilin und Oherleutensdorf über die Beschlüsse, welche wir gefaßt hatten, und gab mir Mühe, im Sinne unseres Programmes, welches wir in Neudörfel beschlossen hatten, tätig zu sein. Ende Mai 1874 erhielt ich ein Schreiben aus Wien, in welchem mir die erfreuliche Mitteilung gemacht wurde, daß die Gewerkschaft der Bildhauer beschlossen hätte, mich in ihre Assoziation aufzunehmen und als Gießer anzustellen. Ich sollte nur so rasch als möglich nach Wien kommen und meinen Posten übernehmen. Vorläufig wollte man mir 16 fl. per Woche als Entlohnung zahlen. E s sei alles geregelt, ich solle nur kommen. Ich war wie neugeboren und suchte nur so rasch als möglich einige Gulden Geld zusammenzubringen, damit ich recht bald nach Wien kam. Als ich alles in Ordnung hatte, nahm ich Abschied von Weib und Kind und fuhr mit der Staatsbahn von Aussig fort. In Wien angekommen, suchte ich meinen Freund Dunstätter auf, welcher mir das Schreiben gesendet hatte. In dessen Wohnung ließ ich mein Gepäck, und in kurzer Zeit war ich umgeben von einer kleinen Zahl guter Freunde und Genossen. E s schien anfangs, als wenn wirklich alles in Ordnung wäre, denn ich würde sehr gut aufgenommen. Bei dem einen Genossen hatte ich mein schönes Bett. Bei einem zweiten mußte ich jeden Tag mein gutes Mittagessen verzehren. Ein dritter ging mit mir jeden Tag in Wien herum, damit ich alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen konnte. Des Abends führten sie mich in die verschiedenen Vereinslokale, wo Sitzungen oder Unterrichtsstunden abgehalten wurden. Mittlerweile wurde es Sonntag, und ich erhielt zu meiner Verwunderung vom Genossen Dunstätter 3 fl. Taschengeld, mit der Bemerkung, daß ich jeden Sonntag 3 fl. von ihm erhalten würde. „Wie steht es mit meiner Arbeit bei den Bildhauern, werde 89

ich morgen anfangen können?" frug ich meinen Freund. „Du mußt dich schon noch eine Zeit gedulden, es sind einige größere Bestellungen wieder rückgängig gemacht worden, infolgedessen können wir dich jetzt noch nicht aufnehmen", gab mir der Bildhauer Dunstätter zur Antwort. „Übrigens hast du ja keine Not hier", meinte er, „und für Beschäftigung werden wir schon sorgen." Mir paßte dieser Handel aber gar nicht, und ich sagte daher den Genossen ganz einfach: „Entweder ihr verschafft mir Arbeit, oder ihr gebt mir sofort das Reisegeld, damit ich wieder zu meiner Familie komme." Denselben Abend wurde noch darüber beraten, was mit mir geschehen soll. Ein Genosse meinte, daß es am besten sei, wenn ich nach Mürzzuschlag in Steiermark reisen möchte; dort sei ein Genosse, ein Malermeister, welcher mich mit Freuden aufnehmen würde, wenn ich Lust hätte, als Hilfsarbeiter bei ihm einzutreten. „Wenn die Sache sich so verhält, so fahre ich morgen hin, denn ich will arbeiten und nicht h e r u m b u m m e l n g a b ich zur Antwort. Den anderen Tag fuhr ich mit der Südbahn über den Semmering nach Mürzzuschlag. Es war eine herrliche, unvergeßliche Fahrt. Meine Trübseligkeit verschwand angesichts dieser Naturschönheit, die mich umgab. Ich war ganz heiter gestimmt, als ich in dem dorfähnlichen Städtchen anlangte. Ich fühlte mich hier zwischen den Bergen viel freier wie zwischen endlosen Häuserreihen in Wien. Den ersten Mann, der mir im Städtchen begegnete, grüßte ich und frug ihn, wo der Malermeister Franz Wallek wohne. Er zeigte mir die Gasse, und da ich ein Schreiben von Wien bei mir hatte, fand ich auch bald das Haus, wo der Genosse Wallek wohnte und seine Werkstatt hatte. Ich trat ein, frug eine Frau im Hause, ob ich vielleicht mit dem Malermeister sprechen könnte, worauf diese sofort laut rief: „Franz, komme einmal aus der Werkstatt, ein Mann will mit dir sprechen." Gleich darauf öffnete sich eine Tür, und ein Mann von 36 bis 40 Jahren, von mittlerer Größe, mit einem gutmütigen Gesicht, welches in einem braunen Vollbart steckte, begrüßte mich und frug, was ich wünschte. Ich übergab ihm das Schreiben aus Wien und sagte, daß es mir recht lieb wäre, wenn er mich beschäftigen könnte. „Sie sind mir herzlich willkommen, und ich freue mich, wenn Sie bei mir arbeiten wollen. Die Malerei und Lackiererei ist freilich eine schmutzige Beschäftigung, wenn Sie aber tüchtig mit zugreifen, so soll es Ihr Schade nicht sein", sprach er und reichte mir dabei seine Hand. 90

„Ich bin bereit, sofort zu arbeiten, wenn Sie glauben, daß Sie mich sofort verwenden können." „Heute werden Sie mir Gesellschaft leisten", gab er mir lächelnd zur Antwort, „und morgen werden Sie anfangen zu arbeiten." Bei diesen Worten band er seine farbenbekleckste Schürze ab, warf sie in die Werkstatt und führte mich in sein Wohnzimmer. Sein Weib brachte Brot und Schwarzfleisch, und ich mußte zugreifen, so lange, bis ich nicht mehr konnte. „So, jetzt werden wir ins Vereinslokal gehen", sprach mein neuer Lehrmeister, „bei einem Glase Wein und im Kreise guter Genossen, da plaudert sich's besser wie zu Hause." Im Vereinslokale angekommen, mußte ich über mein vergangenes Leben verschiedenes erzählen, und in kurzer Zeit waren wir beide, ich und mein Lehrmeister, wie zwei Brüder bekannt. Später kam der Obmann des Vereines, welcher mir das Anerbieten machte, so lange bei ihm zu wohnen, als ich in Mürzzuschlag bleiben würde. Das war wohl annehmbar, und ich willigte freudig ein. Es fanden sich immer mehr Genossen, und alle begrüßten mich herzlich, wie einen alten Bekannten. Das ist das schönste bei unserer Bewegung, daß man sich überall bald heimisch fühlt, wo aufrichtige Genossen beisammen sind. Des anderen Tages machte ich mich mit meiner neuen Beschäftigung bekannt. Meister Wallek packte in ein großes Tuch allerlei Farben, Töpfe und Pinsel; einige Schablonen und Muster rollte er zusammen, und nun gingen wir miteinander in das eine Stunde entfernte Dorf Spital, wo in einem größeren Gasthause einige Zimmer gemalt und Türen, Fenster und Möbel frisch angestrichen und lackiert werden sollten. Ich hatte den schweren Pack mit den Flaschen, Töpfen und Farben, ohne zu ermüden, bis an Ort und Stelle getragen, denn zu jener Zeit konnte ich schon eine ziemliche Last auf meine Schultern nehmen. Meister Wallek rührte und mengte die Farben zurecht, wie sie gebraucht wurden. Ich mußte mittlerweile die Fensterrahmen abputzen und die alte Farbe losreiben, dann die Spalten und Löcher verkitten und schleifen, dann nahm mein Meister einen fingerdicken Pinsel, tauchte ihn in die Farbe und lehrte mich nun, wie man mit ruhiger Hand, sicher und rasch, knapp an der Glasscheibe hin die Holzrahmen bestreicht oder „beschneidet", wie die Anstreicher sagen. Die Sache wollte anfangs nicht recht gehen, denn der Pinsel 9i

rutschte mir oft aus, und ich beschmierte die Glasscheiben ganz abscheulich, aber nachdem mir mein Meister einige Vorteile und Handwendungen beigebracht, mußte der Pinsel gehorchen, und nach einigen Tagen konnte ich schon mit ziemlicher Sicherheit die Fenster „beschneiden". Das gewöhnliche Anstreichen, „Grundieren", ersten und zweiten „Strich", bei Türen oder Möbeln, war auch bald gelernt, und was mir noch an Geschicklichkeit abging, das suchte ich durch emsigen Fleiß zu ersetzen. Meister Wallek war auch sehr zufrieden mit mir, denn schon nach Verlauf von drei Wochen erhöhte er meinen Lohn um zwei Gulden per Woche, so daß ich als Maler- und Lackiererlehrling acht Gulden Wochenlohn hatte. Ich schickte mich auch zur Leimfarbe, zur Malerei. In dieser Kunst habe ich es zwar nicht weit gebracht, denn eine künstliche Beschäftigung konnte ich nicht übernehmen. Aber zum Anfangen und Fertigstellen eines Zimmers war ich stets der gesuchteste Gehilfe. Wände und Decken abschaben, seifen und einstreichen, schablonieren und sogar linieren hatte ich in kurzer Zeit gelernt, am allerbesten konnte ich Sockel streichen. So hatte ich denn bald im Städtchen, bald in einem Dorfe zu tun. Anfangs ging ich mit meinem Meister, dann als Hilfsarbeiter mit dem Gehilfen, und nach Verlauf von sechs Wochen konnte mir mein Freund Wallek schon kleine Arbeiten anvertrauen, die ich ganz allein besorgen und zur Zufriedenheit fertigstellen konnte. Des Sonntags gab es immer irgendein kleines Vergnügen. War im Vereine nichts los, so gingen wir nachmittags zum „Krügelbauer", wo beim Zitherspiel gesungen und Ländler getanzt wurde. Es war ein heiteres und fröhliches Völkchen, welches da oft beisammen war, aber ich konnte nicht recht fröhlich werden, denn ich konnte mir nichts erübrigen, weil in Mürzzuschlag und Umgebung die Lebensmittelpreise höher waren wie in einer Großstadt. Während ich bei der Arbeit tätig war, habe ich keineswegs die Arbeiterbewegung aus den Augen verloren, sondern auch dort mich bemüht, für unsere Idee neue Anhänger zu gewinnen. Ich war im dortigen Arbeitervereine bei jeder Versammlung tätig und habe außerdem bei einer Volksversammlung, welche in einem großen Gasthausgarten stattfand, referiert. Bei dieser Versammlung sprach auch Johann Schwarzinger aus Wien. Im Monate August sollte ein Volksfest abgehalten werden, welches der Arbeiterverein veranstalten wollte. Ich wurde damit 92

betraut, Kinderspiele bei diesem Volksfeste zu arrangieren, denn es war den Genossen in Mürzzuschlag bekannt, daß ich in Nordböhmen schon oft solche Festlichkeiten geleitet hatte. Ich war mit Lust und Liebe bei der Sache, denn es galt, den Kindern eine Freude zu bereiten, da war mir keine Anstrengung zu groß. Ich studierte und grübelte Tag und Nacht, was ich für Spiele und Tänze mit den Kindern aufführen wollte, und als ich alles planmäßig geordnet hatte, da erhielt ich einen Brief von meinem Weibe, in welchem ich aufgefordert wurde, so rasch als möglich nach Aussig zu kommen. Die Freunde in Mürzzuschlag machten gar trübselige Gesichter, als ich ihnen diese Nachricht mitteilte. Sie suchten mich zu überreden, wenigstens noch vierzehn Tage zu bleiben, bis das Volksfest vorüber sei, aber ich ließ mich nicht halten, denn mein Weib hatte mir geschrieben, daß ich in Aussig einen Posten übernehmen sollte, folglich war ich gezwungen, so rasch als möglich abzureisen. Die Genossen in Mürzzuschlag übergaben mir 20 Gulden mit dem Ersuchen, daß ich in Wien in einer Spielwarenhandlung allerhand passendes Spielzeug kaufen solle, welches beim Volksfeste unter die Kinder verteilt werden sollte. Ich unterzog mich willig diesem Auftrage der Genossen aus Mürzzuschlag, den ich auch gewissenhaft ausführte, hierauf fuhr ich nach Aussig. E s war ein trauriges Wiedersehen. Mein Weib hatte sich allein mit dem Handel durchhelfen müssen, dabei hatte sie ein kleines Kind zu versorgen. Ich hatte ihr durch die zwei Monate keinen Kreuzer senden können; wie gesagt, es war ein Wiedersehen zum Davonlaufen. Warum hatten mich die Genossen von Aussig so rasch zurückverlangt, wird mancher fragen. Nun, das war einfach so: In Schreckenstein bei Aussig, auf der alten Raubritter-Ruine, war die Schenke zu verpachten, und da meinten die Freunde in Aussig, das wäre ein passendes Geschäft für mich gewesen. Aber der ganze Handel kam nicht zustande, und so war ich aus Steiermark nach Aussig gekommen, um meinem Weibe und Kinde das letzte Stück Brot mithelfen zu essen. E s wurde jedoch bald wieder ein Weg frei für mich, und da ich denselben mutig betrat, so ging es auch wieder eine kurze Zeit besser. Nachdem ich acht Tage in Aussig herumgeschlendert, hörte ich, daß der Malermeister Pilz einen Anstreichergehilfen sucht. Ich ging zu dem Meister hin, und dieser nahm mich auf. Ich gab mir alle mögliche Mühe, um nur die Arbeit nicht zu verHeren, und es gelang mir auch, meinen Arbeitgeber zu befriedigen, obgleich 93

ich nur zwei Monate beim Meister Wallek in Mürzzuschlag gelernt hatte. Bis zum Spätherbste schmierte und pinselte ich lustig auf verschiedenen Bauten in Aussig und der Umgebung herum und erhielt wöchentlich 6 Gulden Lohn. Es war freilich nicht" viel, aber ich war zufrieden, denn ich konnte mich noch weiter ausbilden in diesem Fache; und da ich sehr beschränkt und genügsam lebte, so wäre es langsam vorwärts gegangen, aber der nahende Winter trieb mich wieder von meiner Familie. Die Arbeit bei Meister Pilz ging zu Ende, ein Gehilfe nach dem anderen wurde entlassen, und auch ich kam an die Reihe und konnte meine schmierige Hose und Jacke zusammenpacken und nach Hause gehen mit dem süßen Bewußtsein, mittel- und arbeitslos gegen Hunger und Kälte zu kämpfen. In Aussig konnte ich nicht bleiben, das war mir klar, denn der Winter ist für die Arbeiter in Aussig ein schlimmer Geselle. Ist die Schiffahrt zu Ende, kommt Not und Elend angefahren in Aussig, und viel, sehr viel Menschen, welche gerne arbeiten möchten, sieht man den Winter hindurch in den Gassen herumlaufen, welche nichts zu tun haben. Die Branntweinkneipen sind gefüllt, wo die Arbeitslosen Kälte und Hunger mit Branntwein betäuben und ihr Elend zu vergessen suchen. Ich wußte das alles, darum trachtete ich, so bald als möglich fortzukommen. Ich ging nach Hause, d. h. ich fuhr nach Reichenberg, und hatte das Glück, sofort in Arbeit zu treten. Bei einer kleinen Meisterin, welche um einen halben Kopf größer war wie ich, fing ich an zu weben. Ich habe selten so viel gewebt und geschunden wie bei dieser Frau, aber ich konnte mir nicht helfen, ich mußte weben auf Tod und Leben, denn es galt wieder ein neues Nest zu gründen für die Meinen. Mein Weib verkaufte den letzten Plunder, mit Ausnahme der Kleider, Wäsche und Betten, in Aussig, undin kurzer Zeit waren wir wieder beisammen und arbeiteten fleißig, damit wir uns wieder einige Einrichtungsstücke anschaffen konnten. So plagten wir uns den Winter durch, aber es war vergebliches Bemühen, denn im Frühjahr 1875 ging das Geschäft in Reichenberg so schlecht, daß ich trotz aller Mühe kaum das Allernotwendigste verdienen konnte. Ich war fuchsteufelswild auf mich selbst und auf die halbe Welt, weil es immer schlechter und erbärmlicher mit mir wurde. Dazu kamen noch allerhand Mißverständnisse und Streitereien mit den Genossen in Reichenberg, welche mich auch 94

noch verstimmten und niederdrückten, mit einem Worte: ich war müde und matt gehetzt, und Reichenberg war nicht der Ort, wo ich mich ausruhen und aufrichten konnte. Kurz entschlossen griff ich nach meinem Arbeitsbuche und fuhr nach Dresden zu meiner älteren Schwester und klagte ihr meine Leiden. Sie half mir, so gut sie es konnte, und, was das beste war, schon nach Verlauf von drei Tagen erhielt ich Arbeit bei einem Lackierer. Unter den lustigen Maler- und Lackierergehilfen kam ich bald wieder ins richtige Geleise und wurde auch bald mit den Dresdener Parteigenossen bekannt. Bei dem ersten Malermeister in Dresden erhielt ich 6 Taler Wochenlohn, und da ich bei meiner Schwester wohnte, so kam ich recht gut aus der Sache, denn Brot, Bier, Wurst, Fische, Tabak und andere Lebensmittel waren zu jener Zeit bedeutend billiger wie in Reichenberg; und wenngleich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre das gemütliche Sachsen viel zu tragen hatte und mehr Steuern zahlen mußte wie vor dem Jahre 1866, so sind auch heute noch viele Lebensmittel billiger wie bei uns in Böhmen. Ich fühlte mich daher ziemlich wohl, als ich die ersten harten Taler in der Tasche trug. Nach vierzehn Tagen hatte ich das Glück, im k. sächsischen Zeughause als Wagenlackierer aufgenommen zu werden. Das war keine Kleinigkeit, ich war nun Staatswerkstättenarbeiter und verdiente einen Lohn, wie ich ihn nie zuvor mir gedacht hätte. Es war freilich Akkordlohn, aber kein Mordlohn, denn die Arbeitszeit war von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, mit einer halben Stunde Frühstücks-, einer Stunde Mittags- und einer halbstündigen Vesperpause, also zehn Arbeitsstunden des Tags. Alle vierzehn Tage war Auszahlung, und ich erhielt die erste Rechnung 28 Taler, sage und schreibe achtundzwanzig Taler. Wenn mir so viel Geld für meine Arbeitskraft ein Reichenberger Fabrikant hätte auszahlen sollen, 45 fl. in vierzehn Tagen, ich glaube, da hätten wir keinen Mond am Himmel mehr, denn wenn diese Herren zu jener Zeit 10 fl. in einer Woche, im Jahre einmal, geben sollten, so sprangen manche schon ellenhoch in die Höhe. Im Zeughause gab es aber unter zwanzig Lackierern einige, welche 35 bis 40 Taler eine Rechnung verdienten, ja die Schlosser und Metalldreher bezogen einen noch höheren Lohn. Ich schrieb daher meinem Weibe sofort, daß ich in Dresden bleibe, und bald war ich wieder mit meiner Familie vereinigt und konnte wieder 95

als Arbeiter meine Pflichten erfüllen. Es war aber leicht zu denken, daß die Herren Vorgesetzten im Zeughause uns neidisch ansehen würden, wenn wir immer so viel verdienten, da unser Lohn höher war als ihr Gehalt. Es dauerte auch nur acht Wochen, da ging die Lohnreduzierung los, und wir mußten schwitzen und uns abschinden, daß ich oft recht müde nach Hause kam. Einige unter uns waren so rechte Schinder und Lohnverderber, mit denen sich nicht vernünftig reden ließ. Auch mußten wir viele Ausbesserungen vornehmen, weil zu rasch und schleuderhaft gearbeitet wurde. Wer nun die Woche durch einige Tage Ausbesserungen zu besorgen hatte, konnte selbstverständlich nicht viel verdienen, und so gab es Zank und Streit unter uns, wenn es zur Auszahlung kam. Wir Lackierer hatten einen Vorarbeiter mit Namen Franz Ludwig, ein geborenes Dresdener Kind und ein guter, verständiger Genosse. Dieser hatte die gelieferte Arbeit zu übergeben und erhielt für uns alle das Geld, welches er jedem einzelnen am Lohntage gab. Wir beide und einige vernünftige ältere Lackierergehilfen berieten uns, wie wir den stetigen Lohnabzügen Einhalt tun und dem Streite unter uns ein Ende machen könnten, und kamen nach längerem ernsten Beraten zu folgendem nachahmenswerten Entschlüsse: Die Arbeit, welche wir zwanzig Gehilfen in vierzehn Tagen fertigstellen, wird zur Zufriedenheit an die Vorgesetzten abgeliefert, und das Geld, welches wir dafür erhalten, wird gemeinsam zu gleichen Teilen unter uns verteilt. Der Vorarbeiter erhält für seine Mühe von jedem Gehilfen 50 Pfennige jede Rechnung. Der Vorgesetzte wurde von unserem Entschlüsse in Kenntnis gesetzt, und die nächste Rechnung verlief ohne Streit und Zank. Ich habe vom 4. Mai 1875 bis 4. Mai 1876 gearbeitet, und nur vier Rechnungen habe ich meinen Akkordlohn erhalten, die übrige Zeit haben wir gemeinschaftlich unseren gemeinsamen Lohn auf die oben angegebene Weise geteilt. Selbst als ein neuer Vorarbeiter bei uns eintrat, wurde diese Einrichtung hochgehalten, denn die alten Gehilfen, welche schon jahrelang im Zeughause beschäftigt waren, ließen an diesem Beschlüsse nicht rütteln, und wenn jüngere, welche rascher arbeiten konnten, auch anfangs murrten, so stellten sie sich bald zufrieden, weil wir die Arbeit so einteilten, daß keiner sich zu schinden brauchte und doch einen guten Verdienst hatte. Anfangs übernahm jeder Gehilfe drei oder noch mehr Wagen. Lazarett wagen, Munitionswagen, Protzen und Lafetten waren 96

anzustreichen. Nun mußte jeder seinen Wagen vom ersten bis zum letzten „Strich" allein bearbeiten. Grundieren, grau, dann zweimal blau streichen und zum Schlüsse alle erhabenen Gegenstände schwarz absetzen, wobei jede kleine Niete beobachtet werden mußte. Nachdem wir die gemeinschaftliche Lohnzahlung eingeführt, wurde die Arbeit so eingeteilt, daß einige grundierten, andere absetzten usw. Jede Woche wurde einer bestimmt zur Ausbesserung. Kurz, es war ein herrliches Arbeiten, und was das beste war, die Lohnabschneidungen hörten auf, denn es fiel keinem von uns ein, so viel zu schinden wie früher. So habe ich den Sommer und Winter ohne Nahrungssorgen gelebt und konnte mit meinem Weibe in Gesellschaft guter Freunde manche Freude genießen in dem prächtigen Elbflorenz und seiner prächtigen, erinnerungsreichen Umgebung. Wie oft habe ich von meinem großen Namensvetter geträumt, wenn ich in Blasewitz im Schillergarten unter der Linde saß, wo er oft gesessen. Wie oft habe ich das Bäckerhäuschen angesehen und bei mir gedacht: Potz Blitz, hier wohnte die Gustel von Blasewitz. Wenn ich dann hinüber über die Elbe schiffte, besuchte ich den „Burgsberg" und das „Schiller-Häuschen", wo der unsterbliche Meister seinen „Don Carlos" gedichtet. Welche Gedanken mögen sein klares Gehirn durchzuckt haben, als er seinen Marquis von Posa die Worte sagen ließ: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!"? Ja, wer ein empfängliches Gemüt und Lust zum Dichten und Träumen hat, Dresden mit seiner Umgebung, seinem weltberühmten Zwinger und anderen Monumentalbauwerken, in welchen Kunst und Wissenschaft seit einigen Jahrhunderten gehütet und gepflegt werden, das ist ein Fleckchen Erde, wo Dichter und Künstler gedeihen könnten, aber sie möchten so viel Kleingeld mitbringen, wie jene Leute haben, welche die bewunderten Prachtbauten besitzen. Indessen ist es ja so genug für uns arme Sünder, wenn wir alle diese Wunderdinge uns „einbilden" und einige kleine Schätze davon betrachten dürfen. Ich habe mir redlich Mühe gegeben und habe auch vieles gelernt und gern ein Opfer gebracht, wenn ich etwas lernen konnte. Ich konnte mir manches ansehen, weil ich mir einen anständigen Lohn verdiente. Aber auch meine Arbeitskollegen hatten mich gern, denn ich hielt Ordnung in der Werkstatt; und wenn es einmal hieß: „Es soll einer zum Herrn Hauptmann ins Büro kommen", so mußte ich gehen, „denn", sagten die anderen, „du böhmische Schmierfinke hast den schärfsten Schnabel". Später Heß mich 97

der alte Hauptmann Hanuscli oft rufen, wenn irgendetwas auszubessern oder sonst etwas nicht in Ordnung war. Eines Samstags ließ er mich wieder rufen. „Die Himmelhunde haben schon wieder die Wagen geschunden", damit meinte er seine Artilleristen, welche die Wagen und Kanonen in der großen Waffenhalle in Reih und Glied aufstellen mußten. Wenn nun eine Wagendeichsel oder ein Kanonenrohr nur um eine Linie vorstand, so fing der alte Mann an zu fluchen, daß die Soldaten hätten vor Schreck zusammenstürzen müssen, wenn sie ihn nicht gekannt hätten. „Da, sieh einmal her, wie die Himmelhunde ungeschickt sind, an verschiedenen Stellen fehlt die Farbe", meinte er zu mir. Er nannte jeden du, auch seinen alten Feldwebel. „Mache die Sache wieder glatt, sonst muß ich die Kerle bestrafen." Ich nahm mir daher meine Farben und Pinsel und pinselte emsig fort, denn es war bald fünf Uhr, und da gab's Auszahlung. Die Kanoniere hatten aber wirklich viel Schaden an einzelnen Wagen angerichtet, und als ich fertig war und mit meinen Farben und Pinseln durch die Reihe der Kanonen und Wagen hindurchging, fiel mir die eigentümliche Ruhe auf, welche ringsum in der weitläufigen Waffenhalle herrschte. Nahe an dem großen Einfahrtstore standen zwei französische Ungeheuer, es waren eroberte Festungsgeschütze. Die Kugeln, welche dabei standen, hatten die Form und Größe eines Zuckerhutes. An dem linken Flügel des Tores war eine kleine Eingangstür mit einem viereckigen Schieber, damit man hinaussehen konnte. Ich wollte die Tür öffnen, sie war verschlossen, ich war eingesperrt mit all den Kriegswaffen. Ich machte den Schieber auf. Ein junger Soldat hielt Wache. Ich klopfte an die kleine Scheibe, der Soldat erschrak und faßte sein Gewehr fester. „Machen Sie auf ¡"rief ich. „Wie kommen Sie in die Waffenhalle?" frug er. Ich klärte ihn auf. „Das ist eine nette Geschichte", meinte er. Ich warte und wartete, endlich kam der alte Feldwebel Wilhelm und befreite mich aus meiner kritischen Lage. Er bat mich herzlich, nur dem Alten, dem Hauptmann Hanusch, nichts zu verraten. Ich versprach es ihm und habe auch Wort gehalten, denn es wäre ihm nicht gut ergangen. Er war verpflichtet, sich genau zu überzeugen, ob niemand mehr in der Waffenhalle beschäftigt ist, dann mußte er das Tor schließen, die Schlüssel dem Hauptmann übergeben, und dieser händigte sie dem Obersten ein. Ich war froh, daß ich aus der Falle heraus war, zog meine schmie98

rigen Kleider aus, wusch mir die Hände und lief rasch in die Münzgasse, ins „Goldene Faß", wo meine Arbeitskollegen auf mich warteten und herzlich lachten, als ich mein Abenteuer erzählte. Ich lernte in Dresden mehrere hervorragende Parteimänner kennen und hatte Gelegenheit, mit einigen öfters zu verkehren und ihre Ansichten und Meinungen über verschiedene Fragen kennenzulernen, wodurch ich meine Urteilskraft stärken und schärfen konnte. Bei verschiedenen Volks- und Arbeiterversammlungen hörte ich die besten Redner, wie Bebel, Liebknecht, Kaiser, Vollmar u. a. Auch versäumte ich nicht, wo es anging, selbst um das Wort zu bitten, um mich im Reden zu üben und meine Meinung laut werden zu lassen. Es dauerte nicht lange, so war ich bekannt bei mancher Gewerkschaft und mußte bald hier, bald dort ein Referat übernehmen. Im Herbste 1875 hatte ich in einer allgemein zugänglichen Metallarbeiterversammlung gesprochen, bei welcher eine große Zahl Arbeiter aus dem k. Zeughause zugegen waren. Am nächsten Tage mußte ich beim Herrn Oberst erscheinen und über den Verlauf der Versammlung berichten. Der gestrenge Herr Oberst, der oberste Gebieter des k. Zeughauses, hörte mir anr scheinend ruhig zu und meinte zum Schluß: „Ich will nicht über Ihre sozialistischen Grundsätze und Ideen sprechen, ich will Ihnen nur das eine sagen, daß ich Arbeiter, welche sich öffentlich als Redner bei Arbeiterversammlungen hervortun, im k. sächs. Zeughause nicht beschäftigen kann. Sollte ich noch einmal hören, daß Sie als Redner auftreten, so werde ich Sie sofort entlassen." Ich wußte nun, wie ich daran war. Was wollte ich tun, ich mußte mich fügen. Ich konnte unmöglich dagegen handeln, denn in einer solchen Stadt wie Dresden ist der Winter schrecklich für einen Arbeitslosen. Und der Winter rückte heran, und tausende fremde Arbeiter wurden brotlos und mußten in ihre Heimat, einer trübseligen Zukunft entgegensehen. Ich aber war geborgen, ich hatte Arbeit bis zum nächsten Frühjahre, ich hatte zu leben für mich und die Meinen, aber ich durfte bei keiner Versammlung sprechen. Zur Faschingszeit hatten die Arbeiter des k. Zeughauses gemeinschaftlich mit den Werkmeistern und Offizieren einen Ball arrangiert, bei welchem es sehr fröhlich und munter herging. Die Leutnants und Hauptleute in ihren schönsten Uniformen tanzten fleißig mit den Töchtern und jungen Weibern der Ar9

Josef Schiller

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beiter, und um Mitternacht saßen wir alle gemeinsam um lange Tische und speisten auf Kosten der Herren Vorgesetzten. Nach aufgehobener Tafel hielt der Oberst eine Ansprache an die Anwesenden, in welcher er besonders die Tüchtigkeit der Werkführer und die Energie seiner Leutnants und Hauptleute hervorhob, wodurch es gelungen, daß bis zum bestimmten Termine die Lieferung an das Kriegsministerium gelangen könne, und schloß seine kurze Rede mit einem Hoch, in welches die Anwesenden jubelnd einstimmten. Unser Vorgesetzter und der Hauptmann Hanusch kamen auf mich zu, und letzterer meinte zu mir: „Na, nu, laß du eine Bombe los für die Arbeiter!" Ich besann mich nicht lange, sondern bestieg einen Stuhl und hielt eine kurze Rede, in welcher ich darauf hinwies, daß die Arbeiter vor allem es seien, welche mit K r a f t , Geschicklichkeit und Ausdauer die Werkführer und Vorgesetzten unterstützen, damit diese wieder ihre Verpflichtungen dem Herrn Obersten gegenüber erfüllen konnten, und schloß meine Rede mit einem Hoch auf die Arbeit, in welches die Arbeiter begeistert einstimmten. Dann wurde wieder flott getanzt bis gegen Morgen, und alle gingen befriedigt nach Hause. Die jungen Weiber und Mädchen hatten überhaupt einen richtigen Eitelkeitsdusel davongetragen, denn noch lange Zeit danach hörte man die eine oder die andere ausrufen: „Ach, der ZeughausBall im Hotel Braun war doch einzig schön. Der Oberleutnant von Hilsa und der dicke Hauptmann von Hummel haben mehrmals mit mir gewalzt." Und verschiedene andere Redensarten und Lobpreisungen wurden diesem Balle nachgerühmt. Das Königreich Sachsen hat nach dem deutsch-französischen Kriege eine Entschädigung von 40 Millionen Mark erhalten, welche zumeist zum Baue des Arsenals in Dresden, zum Schaffen neuer Waffen usw. verwendet wurden. Im Arsenale war die Waffenhalle beinahe fertig, im März 1876. E s wurden Gewehr-Stellagen, Säbelschränke und verschiedene andere Gestelle in den Waffensaal geschafft, welche sämtlich mit weißer Ölfarbe angestrichen werden sollten. Da diese Arbeit nur einfach war und keine große Fertigkeit erforderte, so wurde vom königlichen Zeughause bestimmt, daß diese Stellagen und Schränke Festungsgefangene anstreichen sollten.

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Bilder aus der Gefangenschaft In dem Kopfe eines jeden denkenden Menschen befindet sich eine reichhaltige Bildergalerie, welche alle Tage reichhaltiger wird, da alle Dinge und Erscheinungen der Außenwelt, alle Erlebnisse und Kämpfe, die wir durchmachen müssen, sich in unserem Innern abspiegeln. Auf diese natürliche Weise nehmen wir die Bilder in uns auf und geben denselben, je nachdem sie uns lieb und teuer sind, einen guten Platz in unserem Gedächtnis. Manche Bilder werden im Laufe der Zeit durch andere verdrängt und verschwinden ganz und gar; viele verlieren ihre Farbenpracht, und es bleibt nichts übrig wie unbestimmbare, nebelhafte Schleier, welche nicht klar erkennen lassen, wie die Gestalten auf diesen Gemälden ursprünglich ausgesehen haben. Das sind die Bilder aus der unschuldsvollen Kinderzeit, denn vieles ist uns nicht mehr bewußt, was wir in frohem, leichtem Sinn als Kinder schon erlebt und erlitten haben. Aber einzelne Bilder gibt es im Leben, welche unvergeßlich sind, welche einen Platz in unserem Gedächtnisse einnehmen, wie die Perlen in der Dresdener Bildergalerie, die Madonnengemälde von Raphael und Holbein. Und da wir zu jeder Zeit unsere eigene innere Bildergalerie durchwandern können — denn selbst wenn wir die Augen schließen, sehen wir die Bilder unseres vergangenen Lebens —, so habe ich mich entschlossen, einige Erlebnisse und Begebenheiten aus der Vergangenheit zu beschreiben. Ich werde mich dabei strenge an die Wahrheit halten und nur insoweit meine Phantasie walten lassen, als es notwendig erscheint, die einzelnen Bilder gefälliger erscheinen zu lassen.

Erstes Bild Die Reise nach Prag Mit großen Schritten lief ich in der engen Zelle des Reichenberger Kreisgerichtes hin und her — denn ich wollte nicht begreifen, daß ich ein Gefangener war — und frug mich immer von neuem wieder: Ja, was hab' ich denn so Schreckliches getan? Was hab' ich denn begangen, daß man mich gefangennimmt und nach Prag an das Landesgericht abliefert? Aber mein Fragen und 9'

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Nachdenken war vergebens, es blieb mir nichts übrig, als mich fügen und auf das Kommende gefaßt machen. Es ist aber eine eigene Sache mit der Fassung des Menschen. Äußerlich macht sich die Sache ganz gut bei einiger Übung. Aber innerlich, da geht die Gefühlsquälerei fort. Das Herz ist ein eigensinniges Ding, es läßt sich nicht so leicht beruhigen wie die Zunge, das habe ich jeden Abend in Erfahrung gebracht. Soviel ich mir auch Mühe gab, mein Herz durch Vernunftgründe zu beschwichtigen, es wollte keine ruhige Gangart annehmen. Zumal wenn ich an Weib und Kinder dachte, da klopfte es mir an die Rippen, als wenn das arme Ding die Gewalt hätte, Freiheitsdrang und Mannesmut auf kleine Stückchen zu zerschlagen. Nach einigen Stunden war aber auch innerlich Ruhe, und ich konnte mir sogar die Rede eines Verteidigers anhören, welcher an jenem Abende ein leichtsinniges, lasterhaftes Weib vor dem Geschworenengerichte zu verteidigen hatte. Der Verhandlungssaal befand sich meiner Zelle gegenüber, und da die Fenster sowie mein Fenster geöffnet waren, konnte ich fast jedes Wort hören. Um Mitternacht war die Schlußverhandlung gegen das unglückliche Weib beendet, und bald herrschte ringsum Stille in dem weitläufigen Gebäude. Zwei Stunden später rasselten die Schlüssel an meiner Zellentür. Ein Schließer trat ein und forderte mich auf mitzugehen. Er führte mich zum Kerkermeister, und dieser sagte mir, daß ich mit dem Frühzuge in Begleitung eines Gendarmen nach Prag fahren würde. Mein Handkoffer mit Wäsche stand schon bereit. In einer Weile kam mein Reisebegleiter, und als er die nötigen Papiere und das Fahrgeld hatte, hieß es vorwärts. Es war ein heller Morgen, und als wir in die Nähe des Bahnhofes kamen, begegneten wir schon einigen Arbeitern, welche mich gut kannten. „Wo geht die Reise hin?" frügen sie mich beim Vorübergehen. „Nach Prag, Rosinen lesen!" gab ich zur Antwort. Ich hatte meinen Humor wiedergefunden, das war mir das Liebste. Auf dem Bahnhofe hatte sich mein Weib und viele Arbeiter eingefunden, um mich zu sehen und, wenn möglich, mir einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Der eine gab mir fünf Stück Zigarren, ein anderer drückte mir beim Abschied einen Gulden in die Hand; mein Weib gab mir einen Kuß und steckte ein Fläsch102

chen Wein in meine Tasche, aber kämpfte mannhaft die Tränen hinunter, die ihr in die Augen kamen. In einem Extrakupee dritter Klasse fuhren wir beide, ich und mein Begleiter, bis Turnau. Dort tranken wir gemütlich Kaffee und wollten dann wieder ungestört miteinander die Reise nach Prag fortsetzen. Da hatten wir aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn der Herr Stationsvorsteher erklärte ganz einfach, daß er uns kein Extrakupee geben könne und wir sollten nur einsteigen, wo Platz sei. Mein Begleiter brummte, und mir wäre es auch lieber gewesen, wenn ich keine weitere Bekanntschaften auf dieser Reise gemacht hätte, aber uns blieb keine Wahl. Wir stiegen ein, brannten uns jeder eine Zigarre an und setzen sich ziemlich weit auseinander. Da stiegen zwei Personen bei uns ein: ein junger Mann mit seinem Weibe. Beide kannten mich. Sie waren aus Niemes und hatten mich dort bei Arbeiterversammlungen sprechen hören. Ich sehe noch heute die traurigen Gesichter der beiden guten Menschen, als sie hörten, daß ich wegen Geheimbündelei nach Prag geschafft würde. Sie setzten sich zu mir, so daß ich mit ihnen sprechen konnte, und wir plauderten eine Weile. Plötzlich wurden wir gestört, denn eine Familie aus dem Volke Israels stieg schwadronierend ein. Vater, Mutter und Tochter. Die Mutter hätte eigentlich für zwei Personen zahlen sollen, denn sie brauchte so viel Platz. Sie setzte sich meinem Begleiter gegenüber. Die Tochter, ein ziemlich hübsches Mädchen, saß mir gegenüber, und der Vater hatte seinen Sitz zwischen Mutter und Tochter. Ich warf meine Zigarre zum Fenster hinaus und hätte gern mit dem hübschen Kinde ein Gespräch angefangen, aber ich wagte es nicht wegen meinem Begleiter und Vormund, welcher ein recht verdrießliches Gesicht machte, seitdem die alte, dicke Jüdin eingestiegen und sich ihm gegenüber niedergelassen hatte. Endlich wurden die Türen zugekracht. Das dritte Glockenzeichen ertönte ; ein Pfiff, ein Ruck, und der Zug war in Bewegung. Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen, denn die Anwesenheit eines Gendarmen mochte der Juden-Familie nicht recht passen. Die alte Jüdin unterbrach plötzlich das Schweigen, indem sie die Frage aufwarf, warum der Gendarm sein Gewehr bei sich trage. „Ich habe strengen Dienst", gab ihr mein Begleiter zur Antwort. „Das Schießgewehr ist aber nicht geladen ?" frug die Jüdin weiter. „Es ist scharf geladen!" war die Antwort. 103

„Mein Gott, warum denn scharf geladen? Es kann geschehen ein Unglück. Geben Sie hinaus das scharf geladene Gewehr. Ich kann nicht einsehn, zu was Sie brauchen eine scharf geladene Flinte unter friedliche und ehrliche Leute", jammerte die ängstliche Frau. „Ich schaffe einen Gefangenen nach Prag und muß daher meine Waffen bei mir haben", sagte lächelnd mein Begleiter. „Aber wo haben Sie, Herr Gendarm, Ihren Gefangenen?" fragte nun der reiche Jude aus Prag. „Der Gefangene bin ich!" sprach ich laut und vernehmlich, noch ehe mein Begleiter antworten konnte. Dabei stand ich von meinem Sitze auf und erklärte den erschrockenen Kindern Israels, daß ich ein Sozialdemokrat sei und deshalb um ihre Geldtaschen ganz unbesorgt sein sollten. Aber meine Worte beruhigten die ängstliche Familie nicht, vielmehr machte ich die Bemerkung, daß sie noch ängstlicher wurden, und bei der nächsten Station schrien Vater, Mutter und Tochter wie aus einem Munde: „Herr Kondukteur! Wir wollen aussteigen, wir wollen umsteigen!" Wir mußten alle herzlich lachen über den Eifer und die Beweglichkeit der dicken Jüdin, welche ihre Schachteln und Handgepäck im Stiche ließ und beinahe hinausgestürzt wäre, als der Schaffner die Türe aufklinkte. Dieses Erlebnis bei meiner ersten Reise nach Prag werde ich nie vergessen.

Zweites

Bild

Meine Aufnahme in Prag Es mochte ungefähr neun Uhr vormittags sein, als wir in Prag ankamen. Die guten Leutchen aus Niemes drückten mir herzlich die Hände — denn damals war ich noch kein Schloßbesitzer, das heißt, man hatte mir meine Hände nicht geschlossen —, sie wünschten mir Glück und guten Ausgang zu meinem Prozesse und gingen ihrer Wege. Der Gendarm, mein Begleiter, machte mir den Vorschlag, mit einer Droschke in das k. k. Landesgericht zu fahren, da der Weg vom Bahnhofe bis dahin ziemlich weit sei. 104

Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, denn die vielen neugierigen Gaffer, welche uns umstanden, gefielen mir gar nicht. Ich nahm meinen Handkoffer, mietete für 60 Kreuzer eine Kutsche, und nun ging es in gelindem Trab durch die belebten Straßen dem Karlsplatze entgegen. Als der Kutscher den mageren Klepper anhielt und mein Begleiter mich aufmerksam machte, daß wir an Ort und Stelle seien, da überkam mich wieder eine ängstliche Beklemmung, denn das düstere Gebäude, vor welchem wir standen, sah gar nicht sehr einladend aus. An einem Seiteneingange des k. k. Landesgerichtes machte mein Begleiter halt, griff nach dem Glockenzuge und — eins, zwei — waren wir beiden in der Falle drin. Drei oder vier Wachleute standen um mich her und sprachen tschechisch untereinander; dann wurde ich in die Schreibstube des Herrn Kerkermeisters geführt. Mein Begleiter gab seine Papiere ab, und ich wurde in das Sündenregister eingetragen. Mein Geld, meine Uhr und mein Messer wurde mir abgenommen. Ein Wachmann begann eine gründliche Untersuchung meiner Kleidungsstücke. Ich mußte alles vom Leibe ziehen, bis auf Adams Unterhose, und auch diese wurde gründlich untersucht. Nachdem ich mich wieder angekleidet, wurde ich von einem alten Wach manne aus der Schreibstube des Kerkermeisters durch die Wachstube hinaus auf einen Hof geführt. Das war der Vorhof, vielleicht dreißig Quadratmeter groß. Einige bekannte Sozialisten, Mitangeklagte von mir, gingen hier plaudernd herum, bewacht von einem Hauswachmanne, welcher mit Säbel und Flinte, scharfen Augen und Ohren die Gefangenen bewachte. Die Gesinnungsgenossen grüßten mich mit den Augen, zu sprechen auf mich, wagte keiner; es war auch keine Zeit dazu, denn mein alter Schutzengel hat bereits eine Türe geöffnet, und wir kamen durch einen engen, dunklen Gang auf einen zweiten Hof, welcher bedeutend kleiner wie der erste, aber schöner war. In diesem sogenannten „mittleren Hofe" gab es rings herum Blumenbeete, Holunder und andere Sträucher; selbst an den düsteren Mauern wucherte wilder Wein und rankte sich aufwärts bis zum ersten Stockwerke. Kaum waren wir in den mittleren Hof eingetreten, so riefen einzelne Stimmen von oben und unten, rechts und links: „Hoch 105

Schiller! Grüß Gott, Bruder Schiller!", so daß ich gar nicht wußte, wo ich hinsehen und hinhören sollte. Das ging aber alles rasch vorüber, ich konnte mich nicht recht umschauen, denn schon rasselten wieder die Schlüssel, eine Tür öffnete sich, und über eine dunkle, schmale Stiege ging es aufwärts, dann öffnete sich wieder eine Tür, und wir befanden uns auf einem schmalen Gange. Ein alter, verdrießlicher Schließer nahm mich in Empfang, nahm seine „Nachtigall", den Schlüsselbund, von der Wand, ging mit mir einige Schritte weiter, öffnete eine schwere, mit Eisen beschlagene Tür und sagte: „Da gehn Sie hinein." Das war meine Zelle während der viermonatlichen Untersuchungshaft. Bequem war es nicht darin. Nahe an der Tür, auf einem Holzgestelle lagen drei Strohsäcke, die Leintücher und Decken darübergebreitet. Zwei andere, gleiche Holzgestelle standen rechts und links an den Seiten wänden, dazwischen ein kleiner, roher Tisch, und oberhalb desselben war ein kleines, vergittertes Fenster, durch welches nur wenig Licht in die Zelle hereinschimmerte. Links in der Ecke bei der Tür stand ein schwerer eiserner Ofen. Aber ich will auch nicht vergessen, das Vorzimmer zu beschreiben. Im ersten Augenblicke hatte ich keine Ahnung davon, erst später, als sich meine Gedanken etwas gesammelt, wurde ich aufmerksam darauf. Ich war nämlich so verblüfft, daß ich gar nicht bemerkt hatte, daß zwei Türen waren, da die innere Zellentür von den beiden Gefangenen, welche schon dieZellen bewohnten, geöffnet worden war. Es waren also zwei Türen; die eine führte auf den Gang hinaus und war stets verschlossen, die andere war nicht verschlossen. Der Zwischenraum war kaum einen Meter breit, und diesen Raum nennen die Gefangenen das Vorzimmer. In diesem engen Räume zwischen den beiden Türen stand der Kübel. Es ist daher leicht erklärlich, daß es in den Zellen nicht nach Rosenöl gerochen hat. Außerdem waren die Zellen stets überfüllt, denn wenn ich in meiner Zelle die sechs Schritte, die man gehen konnte, laufen wollte, mußten meine Zellengenossen auf den Bettstellen sitzen bleiben. 106

Wie es nicht anders sein kann, fühlt man sich die erste Zeit nicht recht zu Hause in einem solchen engen Loche; zum Glück hatte man mir Pfeife und Rauchtabak nicht abgenommen, und ich konnte mir durch Tabakrauch die unreinen Dünste verscheuchen, welche meine lange Nase umzogen. Meine beiden Zellengenossen suchten sich bald einzuschmeicheln in meinen gefüllten Tabakbeutel. Der eine hatte eine Pfeife, aber keinen Tabak. Der andere hatte weder Pfeife noch Tabak, aber rauchen wollte er auch, und so rauchten nun die beiden abwechselnd aus einer Pfeife, bis mein Tabak zu Ende war. Der eine Unglücksgefährte war ein Schreiber, er war Familienvater. Er hatte bei einem Notar in Prag geschrieben, und da er für seine 23 Gulden 33 und einen Drittelkreuzer Monatsgehalt seine drei Kinder nicht erhalten konnte, so hatte er seinem Herrn für einigeGulden Stempel gezottelt. Der andere, ein junger Bauernsohn, hatte seinem Freunde eine Uhr entwendet und bei seinem Meister einen Einbruchdiebstahl verübt. Der Schreiber war ein gebildeter Mann, der Bauernsohn ein roher, wilder Bursche. Die Gesellschaft gefiel mir nicht zum besten, aber ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, denn unter solchen Verhältnissen muß man sich in manches fügen, und wohl dem, der das einsieht und in dem gefährlichsten Verbrecher noch immer den Menschen erblickt. Mein erstes Mittagessen habe ich nicht berührt, ich war ziemlich satt von dem, was ich bis jetzt gesehen und erlebt. Meine Zellengenossen teilten sich in meine Menage. Ich muß aber gleich hier bemerken, daß die gewöhnliche Kost, namentlich das Brot, im Landesgerichte, wenn auch mager, doch nicht schlecht war. Die Spitalkost, welche ich später bekam, war sogar sehr schmackhaft, denn ich erhielt täglich Fleisch, gute Suppe und weißes Brot. Mancher Arbeiter würde sich glücklich schätzen, wenn er solche Nahrung hätte. Der erste Tag verging so ziemlich rasch, denn der Schreiber wußte mir viel zu erzählen. Manchmal hörte ich auch meinen Namen rufen, denn in anderen Zellen rechts und links steckten Gesinnungsgenossen. Wir waren damals über hundert Sozialisten „eingewickelt". Daß ich als „Zuwachs" angekommen war, hatten die Genossen längst vernommen, denn eine solche Kunde verbreitet sich wunderbar schnell in einem Gefängnisse. Die Gangarbeiter und andere dienstbaren Geister tragen jede Neuigkeit von Zelle zu Zelle.

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Als es dunkel wurde, hörte ich aus einzelnen Zellen sozialistische Lieder singen, auch wurde laut und verständlich aus einer Zelle in die andere herüber und hinüber gesprochen. Ich wunderte mich darüber, denn auf den Gängen patroullierte die Wache. — Später wurde es ruhig, und um neun Uhr abends war es still, nur selten hörte man eine Stimme. Ich konnte nicht schlafen, denn mein Unglücksgefährte, der Schreiber, erzählte von seinen Kindern. Er weinte und schluchzte dabei zum Erbarmen. Er bereute aus tiefstem Herzen seinen Fehltritt. — Bald packte ihn wieder die Verzweiflung, und er verfluchte sich und die ganze Welt. Der gemeine Einbrecher und Dieb schlief wie ein Faultier und schnarrte wie eine rostige Kreissäge. Am anderen Morgen wurde ich zum Hausarzte geführt. Er frug mich, ob ich gesund sei, und als ich ihm geantwortet, daß mir nichts fehle, konnte ich mit den anderen Gefangenen, welche auf unserer Abteilung waren, in den „mittleren Hof" gehen, um eine Stunde bessere Luft zu atmen. Wir waren ungefähr vierzig Gefangene, und da der Raum nur klein war, in welchem wir unseren Rundgang machen mußten, so gingen immer zwei, oft drei Mann zusammen. Dabei konnten wir nach Herzenslust plaudern und uns gegenseitig unsere Erlebnisse mitteilen. Die Gesinnungsgenossen drückten mir herzlich die Hände, und aus den Zellen der anderen Abteilungen riefen bekannte Stimmen: „Willkommen Josef!" Die erste Luftstunde war rasch vergangen. Wir wurden wieder in unsere Zellen geführt, und ich hatte Zeit und Muße genug, über das, was ich bis jetzt gesehen und gehört, nachzudenken. Wenn man aber gewöhnt ist, täglich zu arbeiten, und man wird gezwungen, den lieben langen Tag zu faulenzen, so wird man bald krank, denn das Blut wird faul und stockig. Wenn ich also gesund bleiben wollte, so mußte ich darauf trachten, irgend etwas zu tun, damit ich die Langeweile vertreiben und gleichzeitig meinen Geist munter und rege erhalten konnte. Prag ist eine schöne Stadt, und Bewegung und Abwechslung hätte ich mir genug verschaffen können, wenn mir nur der Haus- und Zimmerschlüssel anvertraut worden wäre, da dieses aber nicht gut möglich war, so mußte ich innerhalb meiner engen Zelle eine Tätigkeit beginnen.

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Drittes Bild

Meine Beschäftigung während der Untersuchungshaft Wenn man monatelang in einer engen Zelle sitzen soll und man bleibt buchstäblich sitzen, Tag für Tag, so verliert sich gar bald der Appetit zum Essen, und in kurzer Zeit tritt Schlaflosigkeit dazu. Es juckt und zuckt an allen Gliedern; dunkle Flecke zeigen sich an der Oberhaut des Körpers, namentlich an den Beinen; das Zahnfleisch fängt an zu faulen; der Skorbut ist im Anzüge. Ich trachtete daher gleich im Anfange meiner Untersuchungshaft, gegen diese Krankheit durch körperliche Bewegung und Tätigkeit vorzubeugen. Die erste Arbeit war: gründlicher Umsturz alles Vorhandenen in meiner Zelle; denn es wimmelte und krabbelte an allen vorhandenen Dingen von lebendigen Tierchen. Die eine Gattung hüpfte und sprang lustig herum, die andere Sorte setzte sich faul in die Kleider, und die dritte Gattung, die Wanzen, machten auch keine Nacht die Augen zu. Da gab es nun in allen Fugen und Spalten solche stinkende, braune Geheimbündler, welche ausgerottet werden sollten. Der „Vater", so nannten wir den Schließer, besorgte mir Petroleum und Fischtran, und nun wurde geklopft, geschmiert und getötet an allen Ecken und Enden. Das war die erste Zeit alltäglich unsere Morgenbeschäftigung. Der Schreiber half mir redlich mit, aber der Bauernsohn, obgleich er ein Fleischer, also ein gelernter Totschläger, war, wollte nicht mitziehen in den grauenhaften Wanzenkrieg. Am zweiten Tage abonnierte ich das „Prager Abendblatt", eine andere Zeitung wurde uns im Anfange nicht erlaubt, und nun begann für mich eine neue Tätigkeit. Wir hatten die Eßlöffel in der Zelle. Der Stiel jedes Löffels wurde im Vorzimmer auf den Steinen scharf gemacht, damit wir ein Schneidwerkzeug hatten. Mit dem scharfen Löffelstiele begann ich nun einzelne Worte und Buchstaben aus dem „Prager Abendblatte" auszuschneiden und setzte diese gedruckten Worte und Buchstaben zusammen, um passende Sprüche oder Verse zu bilden. Aus weichem Brote machten wir einen dünnen Brei, und so wurden die Silben und ganze Sätze, wie ich sie brauchte, auf ein Papier geklebt. Auf diese Weise habe ich während der Untersuchungshaft verschiedene Lieder und Gedichte zusammengeleimt. 109

Außer diesem Zeitvertreibe machte ich gleich die erste Zeit Schachspiele aus Brot. Das war aber keine Kleinigkeit; denn wenn ich die Springer, Läufer, Türme und Bauern fertig hatte und sollte dann die beiden Könige und Königinnen fabrizieren, so wollte mir dies anfangs nicht gelingen, da sie die höchsten Figuren waren und beim Trocknen stets die Köpfe verloren. Endlich kam ich doch darauf, was zu tun sei, um meine Schachkönige und -königinnen steif und ganz zu erhalten. Ich gab meinen höchsten Figuren eine starke Stütze, indem ich ein abgebranntes Zündhölzchen durch den Körper steckte und auf die Spitze den Kopf setzte. Von nun an gelang mir die Fabrikation der Schachspiele immer besser, und wenn auch meine Schachfiguren nicht wie gedrechselt waren, so fand ich doch rasch Abnehmer, denn aus allen Zellen kamen Aufträge und Gesuche um Schachspiele. Bekanntlich sind bei einem Schachspiele sechzehn Figuren weiß und sechzehn Figuren schwarz. Um die schwarzen Figuren herzustellen, hatte ich keine Not, denn ich brauchte nur etwas Schuhwichse unter das schwarze Brot zu mischen und, wenn die Figuren trocken waren, mit meiner Bürste zu polieren, so glänzten sie wie aus Ebenholz. Zu den weißen Figuren nahm ich Kreide, aber sie wurden nie recht weiß, sie blieben gelb. Mit diesen schwarzgelben Schachspielen haben sich die Genossen und Mitgefangenen oft tagelang beschäftigt und manche trübe und gramvolle Stunde vertrieben. Auch haben sich viele Genossen die von mir verfertigten Schachspiele mit in die Heimat genommen, nachdem sie ihre Strafe abgebüßt und das „goldene" Prag verlassen durften. Mein Zellengenosse, der Schreiber, fühlte sich glücklich, wenn ich mit ihm eine Partie Schach spielte. Er hatte mich in kurzer Zeit liebgewonnen, und als er nach vierzehn Tagen zu sechs Wochen Arrest verurteilt wurde, bat er unseren Schließer um die Erlaubnis, diese Strafe in meiner Zelle abbüßen zu dürfen. Da es in der Strafabteilung immer sehr überfüllt war, so gab ihm der Schließer das Versprechen, daß er bei mir bleiben könne, wenn der Herr Kerkermeister nichts dagegen einzuwenden habe. Die ersten drei Tage seiner Strafzeit vergingen, und da der „Vater", unser Schließer, nichts erwähnte, so glaubte der Schreiber, daß er seine sechs Wochen bei mir bleiben würde. Infolgedessen wurde nun von uns beschlossen, daß etwaige „Schiffe", die an den Schreiber abgingen, auch richtig einlaufen. 110

Ein „Schiff" nennt man das, was die Angehörigen eines Gefangenen in das Gefängnis senden. Während der Untersuchungshaft und bei einfacher Arreststrafe können Freunde und Verwandte den Gefangenen Eßwaren senden und beim Kerkermeister abgeben. Dieser läßt alles genau untersuchen, und ein Wachmann bringt die Geschenke dem Gefangenen in die Zelle. Das Weib meines Zellengenossen war bei einem Restaurateur in Prag, bei ihrem Bruder, im Dienste, und dieser schickte dem Schreiber allwöchentlich dreimal Fleisch, Wurst, Suppe und verschiedenes Eßbare in das Landesgericht. Da aber der Schreiber bei strengem Arreste nichts mehr erhalten konnte, so hatte er sein Weib bei ihrem letzten Besuche verständigt, daß alle „ Schiffe" unter der Flagge „An Herrn Josef Schiller" abgehen sollten. Wir freuten uns beide königlich, denn das nächste „Schiff" sollte eine volle Ladung Zwetschkenknödel und böhmische Talken bringen. Es ist manchmal sonderbar. Wenn zwei Menschen einander recht verstehen, ist nicht nur Herz und Geist in harmonischem Einklänge, sondern auch zwei verschiedene Magen haben ein und dasselbe Gefühl, namentlich im Gefängnisse, wo der Speisezettel keine Auswahl zuläßt. Aber hier artete das Gefühl zur Schwärmerei aus, denn ich war von Kindheit an ein Freund von böhmischen Talken und Zwetschkenknödeln, und der Schreiber behauptete gleichfalls, Lukullus sei ein Narr gewesen, wenn er Nachtigallenzungen als das schmackhafteste gepriesen habe. Kurz, wir konnten kaum den nächsten Tag erwarten, so freuten wir uns beide auf das neu ankommende „Schiff". Den anderen Tag machten wir unseren gewohnten Rundgang im „mittleren Hofe", und als die Luftstunde vorüber war und wir eben eine Partie Schach begonnen hatten, kam der „Vater" und holte den Schreiber in die Strafabteilung. Eine Masse „Zuwachs" war angekommen; der Schreiber mußte einem Bäcker Platz machen, welcher für ihn in meine Zelle einrückte. Er drückte mir stumm die Hand und ging. Gegenüber meiner Zelle in dem anderen Flügel des Gebäudes war die Strafabteilung. Nach Verlauf einer halben Stunde hörte ich meinen Namen rufen. Der Schreiber war es. Er logierte drüben, eine Etage höher wie ich, und konnte von seinem Fenster aus genau in meine Zelle herübersehen. 111

Um elf Uhr kam der „Vater" mit einem Wachmanne, und dieser brachte das heißersehnte „Schiff" in meine Zelle bugsiert. In einem großen Handkorbe war die Ladung untergebracht: ein zweihenkliger brauner Topf — ähnlich dem Bademeister im Landesgerichte, wenn er beide Arme an die Seiten stemmte, wenn ich mehr Wasser haben wollte —; in dem Topfe dampften fast ein Schock Zwetschkenknödel, und ringsherum lagen ein Dutzend böhmische Talken und zwei Würste. Das „Schiff" wurde ausgeladen, der Schließer und der Wachmann verschwanden, aber „drüben" von der Strafabteilung, da rief der Schreiber, schmerzlich lächelnd: „Mein Schiff ist sicher angekommen, aber mich hat der Sturm vertrieben." „Was soll ich damit anfangen?" frag ich hinüber. „Essen, fleißig essen und brüderlich teilen mit den anderen!" sprach er und war beim Fenster verschwunden. Ich habe seinen Rat befolgt, und der Fleischer und der Bäcker ließen sich's nicht zweimal sagen, als ich gesättigt war und den beiden den Topf überließ. Die böhmischen Talken sowie zwei Würste ließ ich durch Vermittlung der Gangarbeiter dem Schreiber hinüberschaffen.

Viertes Bild Unter Mördern und Räubern Ich hatte vor siebzehn Jahren einen guten Gesinnungsgenossen zum Freunde, welcher mir zu jeder Zeit belehrend und ratend zur Seite stand, wenn ich etwas tun wollte oder mußte, was ich noch nicht getan hatte. Dieser aufrichtige und bis in den Tod getreue Genosse war Anton Hoffmann aus Kratzau, ihm verdanke ich viel. Er hat mich vor mancher unüberlegten Handlung zurückgehalten, die ich im Jugendübermute und aus Begeisterung für unsere gerechte Sache, zu jener Zeit, oft ausführen wollte. Wenn mir die Handlungen meiner Mitmenschen verächtlich und hassenswert erschienen, wenn ich in ungebändigtem Zorn meinen Gefühlen Luft machte und gegen die verdorbenen, hartherzigen Menschen losdonnerte, da nahm er mich oft beiseite und dämpfte mein leidenschaftliches Jugendfeuer. „Jeder Mensch ist ein Produkt der Gesellschaft und der Natur", 112

sprach er bei solchen Gelegenheiten beschwichtigend zu mir und belehrte mich jedesmal, wie die natürlichen Anlagen und die gesellschaftlichen Einrichtungen die Handlungen eines jeden Menschen regeln und bestimmen. Auf diese Weise gewann ich gar bald eine bessere Meinung über das Tun und Streben der Menschen, und nirgends hat sich dieser Spruch von meinem unvergeßlichen Freunde so bewahrheitet, nirgends habe ich diesen Maßstab, daß der Mensch ein Produkt der Gesellschaft und der Natur sei, so treffend gefunden wie zur Zeit meiner Gefangenschaft. Da hatte ich Zeit und Gelegenheit, Menschen zu studieren, welche mit der menschlichen Gesellschaft in fortwährendem Kampfe leben und infolgedessen ausgeschlossen und — eingeschlossen werden. Meine beiden Zellengenossen waren zwei junge, kräftige Burschen und, ihren Gesprächen nach, zu allen schlechten Handlungen fähig. Der Bäcker war nicht so gemein und roh in seinem inneren Wesen wie der Fleischer, er wußte seinen Taten eine entschuldigende Grundlage zu geben. Er meinte, daß es nur deshalb so viele Bäcker unter den Dieben gebe, weil die Bäcker ihre Arbeit in der Nacht verrichten und die Diebe ebenfalls. Er war der festen Überzeugung, daß nur die Nachtarbeit daran schuld sei, daß er ein Dieb geworden. Der Fleischer dagegen suchte gar keinen Entschuldigungsgrund für seine Raubzüge anzuführen; ihm machte es die größte Freude, wenn er sich mit seinen Heldentaten rühmen konnte, wobei seine Roheit immer die Hauptrolle spielte. Ihm war nichts heilig, denn selbst in unserer Zelle war nichts sicher vor seinen schmutzigen Fingern. Ich konnte mir meinen Tabak hinstecken, wo ich wollte, er wußte ihn zu finden. Er nahm des Nachts mein Brot, meine Butter und verzehrte alles, was er in seiner unersättlichen Freßgier verschlingen konnte. Wenn ich ihn zur Rede stellte, log er mir frech ins Gesicht und beschuldigte den Bäcker. Andere Gemeinheiten, die ich sonst noch zu erdulden hatte von diesem Menschen, lassen sich nicht niederschreiben. Ich meldete mich zum Rapport beim Herrn Kerkermeister und ersuchte denselben, mich in eine andere Zelle zu stecken oder aber den Fleischer anderswo unterzubringen, da ich nicht länger mit diesem gemeinen Menschen beisammen bleiben wolle. Das war aber ein vergebliches Verlangen, denn der Kerkermeister 113

sagte mir einfach: „Wir werden euch Sozialdemokraten keine Extrazimmer einrichten. Ihr seid alle Gefangene, und alle Gefangenen sind gleich." „Gut", sagte ich, „Sie werden mir aber erlauben, daß ich den gemeinen Menschen zurechtweise, wenn er mir mein Brot und meinen Tabak stiehlt." „Melden Sie das dem Herrn Hausinspektor!" gab er mir zur Antwort. Hätte ich diesen Rat befolgt, so wäre der Fleischer mit einem Tage Dunkelarrest bestraft worden. Ich hätte aber dabei nichts gewonnen. Denn nicht nur, daß er selbst mich noch mehr gequält hätte, auch die anderen Diebe hätten mich gehaßt und vielleicht tüchtig durchgewalken, denn die Verbrecher verstehen in solchen Dingen keinen Spaß. Aber Ruhe wollte ich haben vor diesem Menschen. Ich ersuchte daher einen tschechischen Genossen — da ich selbst der tschechischen Sprache nicht so mächtig bin —, den Fleischer zu belehren, er möge sich anständiger betragen und meine Sachen respektieren, sonst könnte es leicht geschehen, daß ihm etwas Unangenehmes passierte. Der Genosse — Lawaschek — besorgte meinen Auftrag, aber der Fleischer lachte auf und erklärte, er würde mich erwürgen wie eine Katze, wenn ich ihm etwas verbieten wollte. Ich ersuchte nochmals den tschechischen Genossen, dem Fleischer zu sagen, er möge sich von nun an hüten, denn sobald ich ihn ertappe beim Stehlen, geht der Tanz los. Auch dieses sagte ihm Lawaschek, während wir im „mittleren Hofe" unsere Luftstunde hatten. Der Fleischer lachte höhnisch und meinte, ich soll es nur wagen, wenn ich Lust hätte. Wir gingen wieder in unsere Zellen, und die Genossen warnten mich vor Tätlichkeiten, denn sie hatten gehört, wie der Bäcker dem Fleischer versprochen hatte, fest zuzuschlagen, wenn es zur Keilerei kommen sollte. Aber ich bin ein Mensch, ich halte gern mein Wort, und wenn ich mit einem Menschen nichts anderes reden kann wie mit dem Fleischer, so halte ich auch Wort, so empfindlich und handgreiflich wie möglich. Manche Genossen sind vielleicht der Meinung, daß es nicht notwendig sei, einen so rohen Menschen zu schlagen; das mag im gewöhnlichen Leben wohl gehen, aber wo man einem rohen, gewalttätigen Menschen gegenübersteht, auf einem engem Räume, wie in einer Kerkerzelle, da liegt die Sache wesentlich anders. 114

Außerdem kann solchen ungebändigten Naturen nur Mut und Kraft imponieren. Ich bewachte daher den Tag über meine beiden Gegner scharf und ließ mich durch ihre Spott- und Stichelreden nicht aus der Fassung bringen. Erst gegen Abend, als der Fleischer mich direkt aufforderte und mich einen feigen Hund schimpfte, da kam die Wut ins rote Blut, und wie ein nordböhmischer Bär schlug ich mit meinen großen Händen den Fleischer auf sein Lästermaul. Wir packten einander und rangen uns nieder, kein Wort wurde gesprochen, kein Fluch ausgestoßen, und ich konnte kaum atmen, nur keuchen. Endlich hatte ich ihn unter mir, ich kniete auf seiner Brust und walkte ihn gründlich durch. Nun fing er an zu brüllen, und der Bäcker brüllte auch, bis ich von hinten gepackt und zurückgerissen wurde, da war plötzlich etwas Ruhe in der Zelle. Der alte Schließer und zwei Wachmänner standen in der Zelle und machten nun Ruhe zwischen uns. Der Schließer wußte, daß der Fleischer schuld war an der ganzen Geschichte, folglich nützte ihm sein Lügengewebe nichts, wodurch er mich zu verdächtigen und zu verleumden suchte. Kaum waren die beiden Wachleute und der Schließer hinaus, stellte sich der Fleischer auf den Tisch und heulte und schluchzte zum Fenster hinaus und klagte den gefangenen Genossen, daß ich ihn halb tot geschlagen hätte. Es erhob sich nun ein Gebrülle und Wutgeheule aus vielen Zellen, wie in einer Menagerie, wenn die wilden Tiere hungrig sind. Aus allen Zellen wurde ich verflucht, und gräßliche Drohungen wurden gegen mich laut. Es war, als ob ich das ganze Räuber- und Diebskorps geprügelt hätte. Schlafen konnte ich diese Nacht nicht, denn der Fleischer meinte, daß er mich diese Nacht erwürgen müsse. Es ging aber nicht, denn ich wußte, daß ich stärker war wie er. Auf den Bäcker konnte er nicht rechnen, denn dieser hatte mich nicht berührt, er hatte nur aus Angst um Hilfe geschrien, weil er geglaubt, ich würde den Fleischer erdrosseln. Am andern Morgen machte sich der Fleischer einige Zigaretten von gewöhnlichem Tabakpapier, diese Art zu rauchen war untersagt. E r hatte schon oft auf diese Weise die Luft verstänkert, ich hatte mir aber fest vorgenommen, nichts Unanständiges mehr zu dulden von ihm. Als er die erste Stinkadora anbrannte, nahm ich sie ihm aus t o Jos ei Schiller

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dem Munde und warf sie zum Fenster hinaus. Er brüllte wie ein wildes Tier vor Wut, aber er griff mich nicht an, ich hatte ihn gebändigt. Die Gesinnungsgenossen rieten mir, ich solle nicht in den Hof gehen, denn die ganze Bande würde über mich herfallen und tüchtig schlagen. Ich muß gestehen, ich hatte nur vor einem einzigen Furcht, es war der „Führer" der Bande. Ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Haar und schwarzem Schnurrbart, schön gebaut und rasch in seinen Bewegungen, ungefähr dreißig Jahre alt, das war der Herr und Meister unter den gemeinen Verbrechern. Wunderdinge wußten sie von seiner Kraft und Gewandtheit zu erzählen; alle fügten sich seinen Anordnungen und waren ihm ergeben. Vor diesem Einen war mir bange, aber ich ging doch auf die Luftstunde. Ich ging aber mit geballten Fäusten. Hätte mich einer geschlagen, es wäre schlimm geworden, aber es kam ganz anders. Als wir im Hofe waren, kam der gefürchtete „Führer" zu mir und frug mich, warum ich den Fleischer geschlagen. Er sprach rein deutsch und sehr höflich mit mir. Ich erzählte ihm kurz, wie sich der freche Bursche benommen, wie er mich gequält und bestohlen und wie ich alles versucht, um ihn vernünftig zu machen usw. Er hörte mich ruhig an, frug von Zeit zu Zeit den Bäcker, ob das alles wahr sei, und nachdem er sich überzeugt, daß ich ihm die Wahrheit gesagt, gab er mir die Hand und sprach: „Wenn Sie diesen Schuft wieder prügeln werden, dann lassen Sie ihn nicht schreien, drücken Sie ihm gefälligst die Gurgel zu, denn es bringt uns in Aufregung, wenn wir einen von unseren Leuten um Hilfe rufen hören." Mit einem Schlage verwandelten sich die häßlichen Gesichter der Verbrecher, und von dieser Stunde an wurde ich anständig behandelt, ja, der rohe Fleischer ließ mich bitten — da er denselben Tag in eine andere Zelle kam —, ich solle ihm alles verzeihen, was er Böses und Schlimmes an mir getan. Es waren auch einige Mörder und Totschläger in Untersuchung, mit denen ich hin und wieder in Berührung kam. Der eine hatte seine Schwiegermutter erschossen, der andere seinen Nebenbuhler erstochen. Mit dem letzteren, ein sehr gebildeter junger Mann aus guter Familie, habe ich manche Stunde Schach gespielt. Er saß in der „großen Zelle" gleich neben mir. Man nannte sie die „große Zelle", weil sie wirklich größer war; es standen fünf 116

Bettstellen darin, und es wurden auch oft die größten Verbrecher hineingesteckt. Wenn meine Zelle gereinigt wurde, so sperrte uns der Schließer in die „große Zelle", auf diese Weise kam ich mit den sogenannten größten Verbrechern in Berührung. Eines Tages war ich auch in der beschriebenen „großen Zelle", da kam „Zuwachs". Ein französischer Tanzmeister, welcher mit seinen Tänzerinnen in Prag sich produzieren wollte, wurde in die Zelle eingeschoben. Der fein gekleidete, galante Franzose machte ein erbärmliches Gesicht, als er uns anschaute. Ich und der junge Mensch, welcher seinen reichen Nebenbuhler erstochen, wir spielten eine Partie Schach. Der arme Mensch, welcher seine Schwiegermutter erschossen, schaute unserem Spiele zu. Ein Straßenräuber und ein Sozialdemokrat saßen zusammen auf einer Bettstelle und spielten „Wolf und Schaf" zusammen. Der feine Franzose frug die beiden, warum sie hier seien. „Wegen Straßenraub", gab der Wolfsspieler mürrisch zur Antwort. Der Franzose fuhr erschreckt zurück und frug meinen Partner: „Wegen was sind Sie hier?" „Ich habe einen reichen Mädchenjäger erstochen." „Mein Gott", sprach der Franzose, „haben Sie auch einen Mord begangen?" zu meinem zweiten Nachbar. „Ich habe meine Schwiegermutter erschossen", gab ihm dieser traurig zur Antwort. Der Franzose wurde bleich und frug mich: „Wie kommen Sie in solche Gesellschaft, wer sind Sie, mein Herr?" Ich stand ruhig auf und blickte den Franzosen lächelnd an, indem ich langsam, jedes Wort betonend sagte: „Ich bin der Scharfrichter von Prag!" Der Franzose machte einen Sprung bis zur Zellentüre, donnerte mit beiden Fäusten an dieselbe und schrie, so laut er konnte: „Um Gottes willen, laßt mich hinaus, ich sterbe, wenn ich hier bleiben muß." Unser lautes Gelächter brachte den erschreckten Tanzmeister zur Vernunft.

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Fünftes Bild Eine moderne Räuberbande Seitdem der rohe Fleischer aus meiner Zelle fort war, begann die Untersuchungshaft für mich gemütlich zu werden, denn von dieser Zeit an hatte ich, bis zu meiner Verurteilung, stets verständige, gebildete Zellengenossen. Der neue „Zuwachs" war gelernter Kaufmann, hatte aber längere Zeit ohne Stellung herumvagiert, bis er in Prag bei einem Wechselstubenbesitzer als Agent angestellt worden war. Sein Herr und noch einige zwanzig Agenten, samt Buchhalter und Geschäftsleiter, waren wegen Betrug in Untersuchung, und die Mehrzahl dieser modernen, gut organisierten Bande war vor einigen Tagen eingeliefert worden. Der Wechselstubenbesitzer oder Bankhalter hatte jahrelang das ehrsame Schusterhandwerk in Prag betrieben, war aber trotz aller Mühe und Lehrlingsschweiß nicht „in die Höhe" gekommen. Da hatte der ehrsame Schuster spekuliert, wie es möglich sei, auf einem nicht „ungewöhnlichen" Wege in die ersehnte „Höhe" zu gelangen, und es war ihm, in Verbindung mit einigen zugrunde gegangenen Kaufleuten, gelungen, dieses Ziel zu erreichen. Mein neuer Zellengenosse kannte das ganze betrügerische und schwindelhafte Unternehmen, aber die Not hatte ihn gezwungen, bei diesem unsauberen Geschäfte Handlangerdienste zu verrichten. Er beichtete mir alles ganz genau, wie das Geschäft gegründet und geführt wurde. Der Schuster hatte in Prag, in einer belebten Straße, ein schönes Gewölbe gemietet, eine Wertheimer Kasse und einige feine Möbel, wie Schlafdiwan, große Spiegel, Bilder, Schreibtische und Zubehör, hineinschaffen lassen, und nachdem alles — natürlich auf Pump — glänzte und strahlte, wurden die Agenten gegen eine entsprechende Kaution angestellt. Das Prager Publikum konnte durch diesen glänzenden Pomp nicht getäuscht werden, das wußte der Schuster und seine Bande ganz genau, sie rechneten daher hauptsächlich auf die Landbevölkerung und auf die Fremden. Ihre Rechnung stimmte so ziemlich, denn sie betrieben ihren Gimpelfang lange Zeit ungestört und „verdienten" Geld wie Heu, wie mir der Kaufmann erklärte. Ganze Bezirke um Prag herum machten sie unsicher, und die leichtgläubigen Bauern und Kleingewerbetreibenden auf dem 118

Lande gaben bereitwillig ihr Geld her, um unsichere Papiere und gefälschte Lose dafür zu erhalten. Dabei gingen die Agenten so planmäßig und sicher zu Werke, daß niemand so leicht einen Verdacht schöpfen konnte. Wollte die Bande ein Dorf überfallen, so wurde erst alles reiflich erwogen und gründlich bedacht, um auf geschickte Weise die wohlhabenden Bewohner auszuplündern. Man suchte erst einige Bewohner zu gewinnen, welche in dem Orte selbst in großem Ansehen standen, diese wurden von einigen Agenten zu einem Gesellschaftsabende eingeladen und mittels feiner Equipage nach Prag gefahren. Bei diesen geselligen Abenden fanden sich die feinsten Spießgesellen zusammen, und bei dieser Gelegenheit wurde den gefangenen Gimpeln der Chef der Bande als Bankvorsteher vorgestellt. Der schlaue Schuster spielte dann den freigebigen Wirt. Er ließ einige Flaschen aufmarschieren, und wenn die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hatte, ging der Schuster lächelnd nach Hause. Die Agenten wußten nun den steinreichen Herrn Bankhalter bis in den Himmel zu heben und ließen nicht eher nach zu drängen, bis sie von den geladenen Gästen das Versprechen hatten, daß dieselben die „weltberühmte" Wechselstube besuchen wollten. Des anderen Tages wurden die Gimpel in die fein eingerichteten Geschäftslokalitäten geschleppt, und hier sahen sie nun binnen wenigen Minuten, wie die Leute aus- und eingingen, und alle, die da kamen, brachten Geld und freuten sich, daß es nur angenommen wurde. Der Herr Geschäftsführer machte oft Schwierigkeiten, wenn ein Kunde ein Los kaufen wollte, „denn", hieß es bei solchen Gelegenheiten, „der Herr Baron A." oder „der Graf B. will den letzten Rest dieser Papiere kaufen." „Und das alles war Berechnung und Komödie", erklärte mein Zellengenosse, „denn alle die fein geschniegelten und gebügelten Herren, welche so eifrig und geschäftig aus- und eingingen, wenn einige Fremde in der Wechselstube waren, waren Agenten und Helfershelfer unseres Herrn, Gehilfen des spekulativen Schusters." „Da seid ihr ja eine richtige Räuberbande", meinte ich entrüstet. „Ja, ja", gab mir der Kaufmann zur Antwort, „wir sind eine Räuberbande, aber zeitgemäß modern haben wir unsere Raubzüge ausgeführt." 119

„Übrigens, was wollen Sie sagen, Herr", sprach er weiter, „was sollte ich tun, in meiner Lage? Ich hatte schon monatelang keine Stellung, ich war schlecht gestellt in der Kleidung und hätte so bald keine Stellung gefunden. Außerdem gibt es seit dem Jahre 1874 viele tausend vazierende Kaufleute, welche nirgends ein Unterkommen finden. Denn die Herren Prinzipale nehmen sich nur junge Kräfte, welche als Lehrlinge und Praktikanten abgeschunden werden, und wenn sie frei sind, können sie auf der Landstraße verhungern. Ich habe das durchgemacht und war froh, bei dieser Bande unterzukommen." „Sie werden aber wegen Betrug bestraft werden", gab ich zur Antwort. „Nun ja", entgegnete er, „was ist da weiter, das ist eine Geschäftskrankheit oder ein Berufsübel, wenn Sie wollen, denn das werden Sie wohl schon bemerkt haben, daß ein großer Teil der Gefangenen, welche ins Landesgericht eingeliefert werden, dem Kaufmannsstande angehört. Das hat aber seinen ganz natürlichen Grund, denn ein Handelsmann oder Kaufmann bezahlt seine .Ladendiener' so schlecht, daß es viele mit der Ehrlichkeit nicht so genau nehmen dürfen, sonst müssen sie bei aller Tätigkeit Hunger leiden." „Fragen Sie nur", sprach er weiter, „was so ein junger Mann in einem Kolonialwarengeschäft oder Schnittwarenhandel für einen Gehalt bezieht, und rechnen Sie die vielen Stunden in einer Woche, dann werden Sie finden, daß so ein junger Mann oft schlechter gestellt ist wie ein Fabrikarbeiter. Dazu kommt noch, daß viele Kaufleute ihre ,Ladendiener' während der Lehrjahre wie Diebe behandeln. Kein Wunder, wenn viele durch solche Behandlung und Mißachtung auf schlechte Wege geraten." „Ich habe nur geschwindelt, aber nicht betrogen, mein Herr", sprach er lächelnd, „denn daß die Lose und Papiere falsch waren, die wir den dummen Landleuten verkauft haben, das habe ich nur geahnt, aber nicht gewußt. Bestimmt gewußt hat es nur der Herr und der Geschäftsführer. Der erste Buchhalter hat es auch gewußt, aber das ist ein schlauer Fuchs, dem wird man den Betrug nicht nachweisen können." Im Laufe der nächsten Tage lernte ich mehrere Mitglieder dieser Bande kennen, namentlich auch den ersten Buchhalter. Man hatte ihn in die „große Zelle" gesteckt, und so fand sich bald Gelegenheit, mit ihm in Berührung zu kommen. Es war ein vielseitig gebildeter junger Mann, hatte als Reisender bei einem großen Prager Handelshause Gelegenheit gehabt, 120

mancherlei kennenzulernen, und hatte schließlich, um bald reich zu werden, mit dem „genialen" Schuster das papierene Schwindelgeschäft ins Leben gerufen. Bei unseren gemeinsamen Spaziergängen erzählte er mir manches Kunststück, was sie gemeinschaftlich ausgeführt, um die Leute zu angeln und ins Garn zu locken. „Wenn jemand zu uns kam", meinte er, „der ging auch nicht fort, ohne ein .Geschäft' mit uns gemacht zu haben." Ja, er sagte mir, daß die Agenten oft den Bauern das Vieh aus dem Stalle geschwindelt hatten, um nur die falschen Lose anzubringen. Es wäre auch alles ganz gut gegangen, aber der Hauptmann von der Bande, der „geniale" Schuster, hatte Pech. Die Koffer waren schon gepackt, das erschwindelte Geld schon geteilt und die Flucht nach Amerika schon bezahlt und der Weg geebnet. Da fällt es dem Schuster ein, noch ein kleines Fest zu veranstalten, und bei dieser Gelegenheit erscheint einer von den vielen Geprellten und will sein Geld wieder zurück haben. Der Schuster weigert sich, der Betrogene rennt auf die Polizei, und das saubere Kleeblatt wird festgenommen. Die Koffer und Kisten werden mit Beschlag belegt, die Papiere und Bücher untersucht und geprüft, und der ganze, ungeheure Schwindel kam zutage. Der Schuster erhielt fünf Jahre schweren Kerker und die übrigen Mitglieder der Bande, je nach ihrer Tätigkeit, angemessene Strafen. Der erste Buchhalter wurde kurz vor der Schluß Verhandlung wahnsinnig, das heißt, er stellte sich so. Er sagte, er sei der Kaiser von China, und spielte seine Rolle so gut, daß er selbst die Gerichtsärzte täuschte. Er wurde aus dem Landesgerichte in die Irrenanstalt geschafft, aber nach drei Wochen wieder zurückgebracht, denn die Irrenärzte zu täuschen, war ihm nicht gelungen. Drei Jahre Kerkerstrafe war sein Lohn. Das war eine Bande, welche nicht mit Brecheisen und Sperrhaken in die Häuser friedlicher Bürger einbrach, sondern modern, mit feuerfester Kasse und fein bedrucktem Papier.

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Sechstes Bild Bauingenieur und Sozialdemokrat Wochen und Monate waren in den Raum der Vergangenheit geflohen, und die freudenreiche Weihnachtszeit rückte langsam heran, als eines Tages der „Vater", unser Schließer, einen vierten Unglücklichen in unsere Zelle brachte. Es war ein junger Mann von 23 Jahren, mit Namen Fischer, gelernter Schuhmacher und ein durch und durch gebildeter Sozialdemokrat. Meine Freude läßt sich leicht begreifen, als ich gewahrte, mit wem ich's zu tun hatte; da wurde ich nicht müde, mich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Fischer freute sich ebenfalls, als er die Gewißheit hatte, daß ich wirklich Schiller sei. Er traute mir anfangs nicht recht, als ihm aber die anderen Genossen versicherten, daß er mir voll und ganz vertrauen könne, dann ließ er mich einzelne Blicke in sein Herz tun, und ich muß sagen, daß es unter den vielen gefangenen Sozialisten, welche damals in Prag „studierten", keinen gab, welcher so namenlos unglücklich war wie dieser junge Mann. Er hatte längere Zeit in Serbien gelebt und dort mit mehreren Arbeitern ein inniges Freundschaftsbündnis geschlossen. Da er mit einigen hervorragenden Genossen in Budapest in Verbindung stand, so bezog er aus Ungarn verschiedene sozialistische Zeitungen und Broschüren, um unter seinen Freunden und Anhängern unsere Idee zu verbreiten. Unter anderen Zeitungen hatte er auch die von Most redigierte „Freiheit" an die dortigen Arbeiter verteilt, und infolgedessen wurde er aus Serbien ausgewiesen. Das war ein harter Schlag für ihn gewesen, denn er war selbständiger Meister, und, wie er mir sagte, hatte er guten Verdienst und wäre mit der Zeit ein wohlhabender Mann geworden, denn in Serbien seien die Einrichtungen noch so wie bei uns vor hundert Jahren. Nebstdem hatte er ein treues, allerliebstes Mädchen erobert, welches in einigen Monaten sein Weibchen werden sollte. Kurz, der junge Mann hatte Herz und Gemüt ganz gründlich zerrüttet, aber es war alles noch nicht genug, es sollte noch schlimmer kommen. In Budapest hatte er nicht lange Zeit zum Nachsinnen und 122

Erholen, denn ein viel schlimmeres Gewitter zog sich in Böhmen zusammen, um diesen jungen Feuergeist zu bändigen. Sein Jugendgespiele, sein Schulkamerad, des Nachbars Sohn — der Sohn seines Lehrers und Erziehers — hatte ihn verraten und verkauft. Aber nicht für dreißig Silberlinge, nein, nur um sich beliebt zu machen bei der betreffenden Behörde. Der arme Fischer hatte aus Ungarn, wo die „Freiheit" zu jener Zeit wie jede andere Zeitung abonniert werden konnte, dreizehn Exemplare in seine Heimat, an seinen Jugendfreund und Schulkameraden, gesandt. Dieser Schu-lkamerad hatte gleich das erste Exemplar der Behörde übergeben und an den verratenen Fischer geschrieben, er möge nur recht viel solche Zeitungen senden; und so ging jeder Brief und jede verbotene Zeitung durch die Hände des Verräters an die Behörde. Fischer hatte aus Ungarn sein Wanderbuch nach Böhmen an seinen alten Vater gesandt, mit dem Ersuchen, von der Behörde eine Verlängerung seiner Reiselegitimation zu erlangen. Sein Vater hatte ihm jedoch geschrieben, daß die Behörde sein Wanderbuch zurückbehalten hat, mit dem Bemerken, Fischer solle sich das Wanderbuch selbst holen. Der unglückliche junge Mann hatte keine Ahnung von dem, was ihn in seiner Heimat erwartete. Er packte seine Sachen und wanderte durch Ungarn nach Mähren, besuchte seinen einzigen Bruder, welcher dort in einer Garnisonsstadt seit Anfang Oktober als Soldat seine Pflicht erfüllte, fuhr von dort mittels Eisenbahn nach Böhmen, in seine Heimat, zu seinem alten Vater. Kaum war er angekommen, ging der Verräter, der Schu-lfreund, zur Behörde, und am nächsten Tage erschien ein Gendarm im Hause des alten Fischer, mit der Aufforderung, sein Sohn solle sofort bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft erscheinen. Der junge Mann ging erst zum Nachbar, zum Herrn Oberlehrer, und sein Jugendgespiele begleitete ihn eine Strecke des Weges, ohne ihm einen Wink zu geben, ja, er drückte ihm noch die Hände, dieser doppelte Judas. Von der k. k. Bezirkshauptmannschaft wurde Fischer an das betreffende Kreisgericht abgeliefert und nach einigen Tagen an das k. k. Landesgericht in Prag. Nun hatten wir diesen jungen „Hochverräter" in unserer Zelle. Wir hatten nur drei Bettgestelle und waren vier Gefangene. Einer mußte auf dem Fußboden schlafen, das war ganz klar. 123

Wir erhielten noch ein „Sorgenlager", einen mit „langen Federn" gefüllten Strohsack, und lagen wie die Heringe in unserer Zelle, konnten aber gemütlich plaudern und uns gegenseitig trösten. Der alte Vater Fischers hatte vier Wochen vor dem Weihnachtsfeste ein Schwein geschlachtet und schickte daher seinem Sohne ein riesiges „Schiff" allerhand Würste. Mein Weib sandte mir ebenfalls ein „Schiff", vollgeladen mit böhmischen „Buchteln" und Christbrot, einige gute Genossen hatten noch einen Topf Gänsefett dazugepackt, und so konnten wir bei all unserem Elende den Magen vollstopfen, wenn wir Hunger hatten. Drei Wochen vor Weihnachten kam gegen Abend unser alter Schließer und machte Platz in unserer Zelle, der Bäcker und der Agent mußten hinaus, denn, „ein nobler Zuwachs kommt", meinte der „Vater" schmunzelnd zu mir. Richtig, gegen sieben Uhr abends rasselten wieder die Schlüssel an den Türen, und ein fein gekleideter Mann trat seufzend und zögernd bei uns ein. Wir hatten schon unsere Lagerstätten vorgerichtet, saßen aber noch plaudernd beisammen. Der „noble Zuwachs" grüßte und setzte sich auf die Bettstelle bei der Tür. Wir beiden erwiderten den Gruß, und da der feine Mann schwieg, nur von Zeit zu Zeit mit der zarten Hand über seine Stirne strich und dabei tief seufzte und stöhnte, so waren auch wir ruhig, denn einen Fremden soll man nie durch neugierige Fragen belästigen, überhaupt unter solchen Umständen. Als der „Graf" vom Landesgerichtsturme die neunte Abendstunde durch sein Sprachrohr verkündete (über den „Grafen" und sein Sprachrohr werde ich im nächsten Bilde ausführlich berichten), gingen wir schlafen oder legten uns wenigstens auf unsere harten Strohsäcke, denn schlafen konnte ich auch nicht viel, da ich ein ganz besonderes Christgeschenk zu erwarten hatte, nämlich meine Verurteilung. Der „noble Zuwachs" blieb auf seinem Strohlager sitzen, als wenn wir nicht existierten. Wir löschten unsere Öllämpchen aus, wünschten ihm angenehme Ruhe, aber er tat nichts dergleichen. Als es finster in der Zelle war, fing er an, einzelne Worte zu flüstern, als ob er jemanden bei sich hätte. Einmal fuhr er rasch in die Höhe und murmelte: „Ich bin verloren, ich jage mir eine Kugel durch den Kopf." Dann fiel er wieder wie gebrochen auf das Lager und weinte und jammerte um sein Weib und sein Kind. Das paßte mir nicht zum besten, denn ich hatte auch Weib und Kinder zu Hause, kurz, mir stieg es so heiß aus der Brust empor, 124

und beim Kehlkopfe würgte mich der Schmerz, die Augen brannten mir, und es fehlte nicht viel, hätte ich mitgeweint. Endlich schlief ich ein. Als ich erwachte, saß der „noble Zuwachs" immer noch auf derselben Stelle. Decke und Leintuch lagen noch zusammengelegt auf seinem Strohsacke. E r hatte also gar nicht geschlafen. Wir legten unsere Decken und Leintücher vorschriftsmäßig zusammen und ersuchten ihn aufzustehen, da wir auf seine Bettstelle unsere Stohsäcke legten, damit wir den Tag über die leeren Bettstellen als Sitzplätze benützen konnten. E r schreckte zusammen, als ich ihn ansprach, sein Geist war nicht in der Gefangenschaft. Als wir die Zelle gereinigt und uns gewaschen hatten, brachte der „Vater" unsere Morgensuppe. Der „noble Zuwachs" hatte nichts zum Morgenimbiß. Ich bot ihm die Hälfte meiner Suppe an. Ein Frösteln ging ihm durch den ganzen Körper, als ich ihm den unappetitlichen Blechtopf hinstellte. Er dankte mir höflich und sprach: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich nichts zu essen habe, aber ehe ich aus einem solchen Topfe esse, eher verhungere ich." „Na, wenn der richtige Hunger kommt, dann geht eine solche Kraftsuppe ganz glatt um die Geschmacksecke", gab ich ihm zur Antwort. „Sind Sie mir nicht böse, mein Herr, aber ich könnte beim besten Willen nichts essen, denn ich bin satt, zum Sterben satt", sprach er schmerzlich, und seine großen, dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Er seufzte tief auf, und zwei große, schwere Tropfen rollten über seine Wangen und verloren sich in seinem wohlgepflegten Kaiserbarte. Da er nun einmal gesprochen, so ließ ich ihn nicht mehr aus der guten Stimmung heraus. Ich erzählte ihm, wer ich sei und was mich ins Gefängnis gebracht. Er hörte mir bald aufmerksam zu, gab mir hie und da eine gute Antwort, und bis um neun Uhr hatte ich ihn so weit, daß er gefaßt und männlich vor dem Hausarzte und später vor dem Untersuchungsrichter erscheinen konnte. Nach elf Uhr sandte ihm seine Frau gutes Essen, eingelegte Früchte, eine Flasche Wein, ein Päckchen feine Zigarren, einen Sorgenstuhl, Betten, Decken und Verschiedenes. E r bestellte beim Schließer eine große, weiße Waschschüssel sowie einen schönen, großen Wasserkrug, ein Trinkglas, Kleider- und Schuh125

bürsten. (Krug und Waschschüssel habe ich von ihm zum Andenken erhalten.) Abends bestellte er für mich und den Genossen Fischer zwei Liter Bier und für dreißig Kreuzer Schinken; wahrhaftig, das war ein „nobler Zuwachs". Das ging so Tag für Tag. Was das schlimmste bei der Sache war, der gute Mann hatte keinen Appetit, und es blieb mir nichts übrig, ich mußte nun auch in der Gefangenschaft meinen Magen für diesen reichen Mann opfern. Als er die erste Zigarre angebrannt hatte und sich in seinen Sorgenstuhl niedergelassen hatte, da war es, als ob mit den blauen Rauchwölkchen auch seine schweren, düsteren Gedanken durchs Gitter zum Fenster hinauszögen. Er fing an zu erzählen, und ich lauschte und rauchte stillvergnügt von seinen Zigarren, die er mir angeboten, und ich hörte mancherlei. E r war Bauingenieur, hatte Eisenbahnbauten und andere monumentale Bauten ausgeführt. Er wollte auch das Prager Landesgericht umbauen, und nun steckte er selbst in der Zelle und machte Studien über die engen Gänge und Stiegen. Wir hatten nun alle Tage verschiedene Leckerbissen zu essen und nebstdem eine geistreiche Unterhaltung. Denn nicht nur, daß dieser Mann selbst ein gutes Gedächtnis und ein umfangreiches Wissen besaß, er hatte auch eine wertvolle Bibliothek und abonnierte eine Masse Zeitschriften, von welchen alltäglich einige in unsere Zelle kamen. Wir konnten daher lesen, rauchen, essen, trinken nach Herzenswunsch. Es war ein kleiner Vorgeschmack von reich zu sein und angenehm zu leben. Was hatte aber der Mann gemacht, daß man ihn verhaftet, werden meine werten Leser fragen. Nun, das war ein „kleines" Geschäft. Er hatte bei einem großen Baue böhmischen Zement statt englischen verwendet, und ein Konkurrent von ihm hatte berechnet, daß bei diesem „Versehen" 40000 bis 50000 Gulden dem Herrn Bauingenieurin die Tasche geschlüpft sein könnten. Der Bauingenieur wurde gegen Kaution nach Verlauf von vierzehn Tagen auf freien Fuß gesetzt, und später wegen Mangel an Beweisen die Untersuchung eingestellt. Der Sozialdemokrat Fischer wurde von den Präger Geschworenen für schuldig erkannt und zu dreizehn Jahren Kerkerstrafe verurteilt. Ich kam billiger weg, ich erhielt am 23. Dezember 1882, zwei Tage vor dem Christfeste, vier Monate Kerkerstrafe.

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Siebentes Bild

In der Strafabteilung Im k. k. Landesgerichte zu Prag gab es zu jener Zeit eine Strafabteilung, wo diejenigen Gefangenen hinkamen, welche den guten Willen hatten, während ihrer Strafzeit zu arbeiten. Ich und viele Genossen hatten uns zur Arbeit gemeldet, und so wurden wir nach den Weihnachtstagen in dieser Abteilung untergebracht. Die Arbeit war einfach und leicht zu erlernen, wir machten Papiersäckel oder Tüten für Kaufleute, Krämer und Apotheker. Unser Arbeitgeber war ein Prager Jude, welcher nicht nur für Böhmen, sondern nach verschiedenen Ländern, ja selbst nach Italien, diese Papiersäckel an seine Kunden versandte. Das Papier erhielten wir zugeschnitten, zehn bis fünfzehn Zentner auf einmal, ins Landesgericht, dort wurde es vor unseren Augen abgewogen, und nun konnte die Arbeit beginnen. Wir hatten eine kleine und eine große Werkstätte. In der kleinen Werkstätte wurde das Papier „gezuppt", das heißt, die zugeschnittenen Säckel einzeln auf lange Bretter gelegt und in der großen Werkstätte „geschmiert" und „gepappt". Um lange Tische herum saßen die Genossen und Verbrecher bunt durcheinander, sangen ein Liedchen oder erzählten sich ihre Erlebnisse, indes ihre Hände geschäftig und schnellgewandt die einzelnen Teile der Papiersäckel zusammenklebten. Es gab da verschiedene Arten Säckel, von verschiedener Größe und Form. Auch das Papier war sehr verschieden, je nachdem es von guten oder schlechten Lumpen fabriziert oder hergestellt war. Das schlechteste Papier, aus welchem die „ Spitzsäckel" gemacht wurden, war das Strohpapier. Von dieser Sorte erhielten wir die erste Zeit allwöchentlich viele Zentner. Wir konnten noch so fleißig arbeiten, bei dieser Sorte Säckel konnte ein Mann höchstens 7 bis 8 Kreuzer pro Tag verdienen. Der Jude zahlte uns per Zentner 1 Gulden, ganz gleich, ob die „Säckel" eine Hand groß oder einen Meter lang waren. Was wir verdienten, wurde gemeinschaftlich geteilt, nur unser Vorarbeiter oder „Meister" erhielt eine Extrazulage. 60 Kreuzer konnten wir jede Woche „verzehren", der Überschuß sollte uns gutgeschrieben und nach Ablauf der Strafzeit ausgezahlt werden. Da wir aber die erste Zeit kaum 60 Kreuzer verdienten, so konnte von Ersparnissen keine Rede sein. 127

Der Jude kam die meisten Tage in unsere Werkstätte, tadelte die Arbeit, schimpfte mit uns nach Herzenslust, und wenn sich einer verteidigen wollte, so fing er förmlich an zu wüten. Einige Tage ließ ich mir den Lärm gefallen, wie es mir aber zu bunt wurde, riß mir die Geduld, und ich ließ ihn einmal meine Stimme hören. Er merkte gleich die ersten fünf Minuten, daß ich besser schreien konnte wie er, infolgedessen sprachen wir bald recht anständig miteinander. Ich sagte ihm, daß es nicht recht sei, die Menschen so zu behandeln und so miserabel zu entlohnen. Außerdem gab ich dem Manne den guten Rat, uns bessere Arbeit zu senden, sonst würden wir eines schönen Tages die Arbeit stehenlassen, und er könne sich seine Säckel selbst zusammenkleben. Das mochte ihm noch kein Gefangener gesagt haben, denn er schaute mich erstaunt an und frug, ob dieses möglich sei in einem Gefangenenhause. „Warum sollte das hier nicht möglich sein?" gab ich ihm zur Antwort. „Hier haben wir alle Kleidung, Nahrung und Wohnung, da läßt sich eine Arbeitseinstellung leichter durchführen wie draußen; und wenn sie uns nicht besser bezahlen, werden sie über kurz oder lang selbst einsehen, daß ich recht habe." Der Jude lachte laut auf und ging fort. In einigen Tagen kam er wieder, aber nicht allein. Unser Schließer, der Herr Kerkermeister und ein Wachmann betraten gleichzeitig die große Werkstätte. Nun begann der Jude eine lange Rede zu halten und wollte uns nachweisen, daß er nicht imstande sei, uns bessere Arbeit zu geben, denn die Leute im Riesengebirge machten die Arbeit so billig wie wir im Landesgerichte. Nun wußte ich aber gerade, daß die Leute im Gebirge, welche solche Papiersäckel für die Kaufleute in Reichenberg verfertigen, nur deshalb so wenig verdienten, weil dieser Jude mit seiner Gefangenenhausarbeit die armen Teufel niederdrückte und überall verdrängte. Ich geriet daher in einen gelinden Eifer und machte dem strengen Herrn die Sachlage so gründlich klar, daß mir die sämtlichen Gefangenen, auch die in der kleinen Werkstätte, recht gaben. Von nun an wurden wir höflich behandelt und verdienten von Woche zu Woche einige Kreuzer mehr. Bei jeder Gelegenheit wurde ich als Vermittler gewählt, wenn es zwischen uns und unserem Arbeitgeber zu Streitigkeiten kommen sollte. Im allgemeinen, muß ich sagen, ist die Strafe leichter zu ertragen wie die Untersuchungshaft, schon deshalb, weil jeder 128

Tag zählt und durch die Arbeit angenehm verkürzt wird. Während der Untersuchung stand Tag und Nacht Wache auf den Gängen, auf der Strafabteilung gab es keine Wachen. Wir konnten daher in dem Arbeitslokale und des Nachts in der Zelle ungestört plaudern und uns manchen Spaß erlauben. Rauchen sollten wir nicht, aber es fanden sich immer gute Seelen, welche Mittel und Wege ausfindig machten, um uns mit Tabak und Zigarren zu versorgen. Wenn der Schließer uns dabei ertappte, so wurde der Glimmstumpel oder die Pfeife konfisziert. Es half jedoch nicht viel, denn die Gefangenen machten sich Pfeifen aus Brot; Tabak wußten sie sich zu verschaffen. Früh von sechs Uhr bis abends um sieben Uhr wurde gearbeitet, mit zweimaliger Unterbrechung: Luftstunde und Mittagsruhe. Mittwochs und samstags nachmittags gab es „Zubesserung". An diesen Tagen konnten wir Bier, Wurst, Speck und Verschiedenes bestellen, was von unserem Lohne bis zur Höhe von 60 Kreuzern erlaubt war. Da ging es natürlich immer lustig zu, wenn wir jeder unseren Liter Bier und unser Stückchen Fleisch oder Wurst hatten. Abends saßen wir dann noch vergnügt bis um neun Uhr in der Zelle. Um diese Zeit erscholl der erste Ruf des Turmwächters und mußten die Lämpchen in den Zellen ausgelöscht werden. Alle Viertelstunden wiederholte sich der Ruf des Wächters, und es klang immer wie „Ruht!" durch das Sprachrohr. Eines Tages war ein Bauer als „Zuwachs" eingerückt, welcher eine kleine Strafe abzubüßen hatte. Der Mann war noch jung und recht ängstlich. In der Zelle, wo er steckte, befanden sich drei übermütige junge Männer, welche sich mit dem ängstlichen Bäuerlein einen Spaß machten, über welchen wir oft gelacht haben. Sie sagten nämlich zu dem leichtgläubigen Manne, daß jeder, welcher den ersten Tag in Haft sei, sich melden müsse, wenn der Turm Wächter das erste Mal ruft. Der Bauer setzte sich daher gegen neun Uhr abends auf das Fenster, und als der erste Ruf erschallte, schrie er, so laut er konnte: „Hier bin ich!" Unser alter Schließer hatte es gehört; er kam aus seiner Wohnung und schimpfte wütend über diese Ruhestörung. Als er wieder in seiner Wohnung war, frug der Bauer, warum der Schließer so böse sei. Seine Zellengenossen lachten den Bauer aus, und einer meinte, wenn man seine Strafe antritt, müsse man nicht rufen: „Hier

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bin ich!", sondern man müsse seinen Namen nennen, damit sich der Turmwächter diesen Namen aufschreiben könne. Als nun der Wächter die zweite Runde auf dem Turme machte und wieder sein „Ruht" erschallen ließ, schrie der Bauer zum zweiten Male: „Franz Pichel, hier!" Daß unser alter, guter Schließer sehr rasch wieder in Gange war und wieder derb wetterte, wird jeder meiner freundlichen Leser gerne glauben.

Achtes

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Die Arbeitseinstellung in der Papiersäckelmacherei Unter den Gefangenen in der großen Werkstatt gab es einige Gewohnheitsdiebe, welche in Prag als arbeitsscheue Taugenichtse bekannt waren. Im Landesgerichte jedoch arbeiteten die Burschen so fleißig, daß wir oft darüber verwundert waren. Ich frug einmal unseren „Meister", wie das möglich sei. Er sagte mir, daß die Diebe in der Freiheit ebenso arbeiten würden, wenn sie nur so geachtet wären wie in der Gefangenschaft und so gemütlich und ohne Nahrungssorgen leben könnten. Ich konnte ihm nicht unrecht geben, denn erstens ist es schwer für einen solchen Menschen, Arbeit zu finden, da es ja ehrlichen Arbeitern nicht leicht möglich ist, eine Beschäftigung zu erhalten, und zweitens wird ein Dieb, welcher Brot gestohlen hat, mehr verachtet wie ein Millionendieb. Es ist daher leicht denkbar, daß solche unglückliche Menschen alle Lust zur Arbeit verlieren und nur in der Gefangenschaft, wo alle gleich behandelt werden, wieder Lust und Liebe zur Arbeit gewinnen. Außerdem hat jeder die Hoffnung, wenn er recht fleißig arbeitet, nach Abbüßung seiner Strafe eine kleine Summe Geld in die Hände zu bekommen, wofür er sich neue Kleidung anschaffen kann. Die Gefangenen arbeiteten daher recht fleißig in der Papiersäckelmacherei, und sie murrten nur, wenn der Sonntag kam, wo es dann hieß: „Wir haben diese Woche wieder nichts übrig." Die Papiersäckel wurden auf den Gängen, im GeschworenenGerichtssaale und, wenn dort kein Platz war, auf den Bodenräumen des Landesgerichtes zum Trocknen ausgelegt. Wenn wir auf den Boden hinaufgingen, begleitete uns nur der alte Schließer. Gleich beim Eingange lagerten rechts in einer dunklen Ecke Bret130

ter und Balken. Es war der Galgen samt Zubehör. - Von diesem verdächtigen, kitzligen Halskragengerüste schnitt sich mancher Gewohnheitsdieb ein Stückchen ab, in dem Wahne, daß er bei seinen künftigen Diebereien nicht ertappt werde. Diejenigen Diebitzen, welche nicht so glücklich waren, ein Stückchen Galgenholz zu erobern, gaben gern für ein solches „Schutzholz" ihr Stück Fleisch oder sonst etwas Brauchbares demjenigen, welcher ihnen einen solchen Talisman verschaffte. Daß mancher sein gutes Stück Fleisch für ein Stückchen Holz hergab, welches kein Galgenholz war, kann sich jeder leicht denken. Wenn wir in den Bodenräumen waren und schauten zu den Dachluken hinaus, so rief der alte Schließer jedesmal: „Wer hinaussieht, kommt wieder herein!" Die meisten lachten darüber, aber bei vielen sind diese Worte in Erfüllung gegangen, auch bei mir. Wenn wir unsere Säckel ausgelegt hatten, gingen wir wieder herunter in unsere Werkstatt. Der alte Schließer zählte uns jedesmal an der Ausgangstüre und unten an der Eingangstüre, welche zur Strafabteilung führte, nochmals, das heißt, er gab mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand immer ein Zeichen, als ob er uns zählte. Ich und noch ein Gefangener, wir wollten uns überzeugen, ob er uns wirklich zählt. Wir versteckten uns beide und hatten nun das Vergnügen, fast eine Stunde in der Nähe des Galgens bei der verschlossenen Bodentüre zu stehen, bis uns der Schließer herausließ. Er mochte wohl gedacht haben: Wenn es den beiden auf dem kalten Boden besser gefällt wie in der warmen Werkstatt, dann mögen sie eine Weile stecken bleiben. Wir haben uns nicht wieder versteckt. Eines Tages erhielten wir wieder eine ganze Wagenladung Strohpapier auf „ Spitzsäckel". Wir hatten ohnedies keine gute Arbeit, und nun sollten wir noch schlechteres Papier verarbeiten, das wollte uns nicht in den Kopf. Alle waren der Meinung, für diese Sorte „Spitzsäckel" muß der Jude besser zahlen. Wir ersuchten unseren Schließer, er möge sofort unseren Arbeitgeber verständigen, diese Lieferung Strohpapier zurückzunehmen und anderes zu senden, damit wir mehr verdienen könnten, oder er möge uns besser entlohnen. Der Schließer brummte wohl anfangs, als er jedoch merkte, daß wir alle einig waren, machte er die Meldung beim Herrn Kerkermeister, und nach Verlauf einer Stunde kam der Jude mit seinem Buchhalter, in Begleitung des Kerkermeisters und des Schließers. Nun ging der Lohnstreit los. Wir erklärten, unter diesen Bedingunii

Josef Schiller

gen nicht weiterzuarbeiten, und der Jude wollte um keinen Preis etwas zulegen. Schließlich sagte er: „Seit die Herren Sozialdemokraten in der Säckelmacherei sind, geht es gar nicht mehr, und es wird am besten sein, die Herren lassen die Arbeit stehen, damit weitere Störungen in meinem Geschäfte nicht mehr vorkommen." „Gut", sagten wir, „wir sind entlassen und werden auch gehen." Wir ersuchten den Schließer, uns in die Zellen zu führen, und verließen die Werkstätten. Als wir in unseren Zellen waren, wurde den übrigen Gefangenen gut zugesprochen von Seiten des Juden und seines Buchhalters, aber, o Schreck, die Leute mochten nichts wissen von schönen Redensarten, sie verlangten bessere Arbeit, und als ihnen der Jude sagte, er wolle zwanzig Zentner „Reissäckel" senden — bei dieser Sorte Säckel war das meiste Geld zu verdienen —, da erklärten die sogenannten gemeinen Verbrecher: „Wenn die .Reissäckel' in die Werkstatt kommen, müssen auch die Sozialisten wiederkommen, sonst arbeiten wir nicht!" Und dabei beharrten sie. Nachmittags gegen drei Uhr kam das Papier auf die großen „Reissäckel", wir wurden ersucht, wieder zu arbeiten, was wir auch bereitwilligst und mit Freuden taten, denn wir hatten, einen kleinen Sieg errungen. Das schlechte Strohpapier wurde beiseite gelegt, denn niemand hatte Lust, „ Spitzsäckel" zu machen. Damit aber der kleine Sieg nicht verlorenging, mußten wir noch einen Schritt weiter gehen. Es wurde daher beschlossen, einen Mann zu bestimmen, welcher unsere Angelegenheiten bei dem Herrn Hausinspektor klarzulegen habe, damit diese Lohnstreitigkeit in der Werkstatt aufhöre und unsere Stellung gegenüber unserem Arbeitgeber endgültig geregelt werde. Die Wahl fiel auf mich. Ich ersuchte unseren Schließer, mich bei dem Herrn Hausinspektor, Baron von M., zu melden und, wenn möglich, recht bald vorzuführen. Es verging die ganze Woche, aber ich wurde nicht gerufen und nicht vorgeführt. Sonntags vormittags von sieben bis neun oder bis elf Uhr wurde ebenfalls gearbeitet, zum Plaudern und Spielen war der Nachmittag noch lang genug. So arbeiteten wir auch diesen Sonntag, und es wurde mir aufgetragen, daß ich den Herrn Hausinspektor ersuchen solle, daß die Arbeitszeit um eine Stunde verkürzt werden möge, das heißt, es sollte früh erst um sieben Uhr angefangen werden. Bis jetzt hatten wir regelmäßig um sechs Uhr angefangen. Da aber um diese Zeit erst die Öfen geheizt wurden, 132

so war es in den Werkstätten die erste Stunde immer sehr kalt, und wir standen untätig um den Ofen herum, weil wir mit erstarrten Fingern nichts fertigbrachten. Ich versprach den Leuten, diese Angelegenheit bei dem Herrn Hausinspektor mit zur Sprache zu bringen, aber einige meinten, es wäre besser, wenn wir überhaupt gleich vom nächsten Tage an eine Stunde später in die Werkstatt gingen. Diese Meinung gewann die Oberhand, und es wurde unserem alten Schließer bekanntgegeben, daß wir beschlossen hätten, von nun an erst um sieben Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Der Schließer wollte davon nichts wissen, er sagte, das sei gegen die Hausordnung und könne daher auf keinen Fall durchgeführt werden. Am anderen Morgen, pünktlich um sechs Uhr, wurden unsere Zellen geöffnet, aber es war ein faules Arbeitervolk, wie der Schließer sagte, denn alle lagen noch auf ihren Strohsäcken und schnarchten. — Um sieben Uhr kam der Schließer wieder, und alle waren munter und bereit zur Arbeit. Am anderen Morgen wiederholte sich dasselbe Spiel. Nachmittags wurde ich zum Herrn Hausinspektor gerufen, um über die ganze Angelegenheit Auskunft zu geben und Bericht zu erstatten. Ich war ganz erstaunt über das ruhige und wohlwollende Entgegenkommen des Herrn Hausinspektors. Über die scheinbar unbedeutendsten Ereignisse erkundigte er sich und suchte so die wahren Ursachen unserer Unzufriedenheit zu ergründen. Nachdem ich dem Herrn Hausinspektor über alles gewissenhaft Bericht erstattet hatte, gab er mir die Versicherung, daß wir in betreff der Arbeitszeit unseren Willen haben sollten und vor sieben Uhr früh nicht zu arbeiten brauchten, was jedoch die Lohnaufbesserung beträfe, so müsse er erst mit dem Juden Rücksprache nehmen. Ich wurde mit der Mahnung entlassen, meine sozialistischen Bestrebungen beiseite zu legen, da ein Gefangenenhaus nicht der Ort sei, solche Ideen zu verwirklichen. Der Jude wurde von nun an noch zahmer und höflicher gegen uns, er mochte fühlen, daß mit uns nicht zu spaßen sei. Da wir sein Strohpapier nicht leiden konnten, er jedoch die „Spitzsäckel" notwendig brauchte, so blieb ihm nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und uns zu ersuchen, eine kleine Partie Strohpapier zu verarbeiten. Wir erklärten ihm, daß wir seinen Wunsch erfüllen, wenn er uns als Extravergütung jedem einen Liter Bier zahle. 11*

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Nach langem Handeln und Schachern ging er auf unseren Vorschlag ein, und der Streit war geschlichtet zu unserer aller Zufriedenheit. Als ich nach einem Jahre wieder frei und in meiner Vaterstadt Reichenberg war, begegnete ich eines Tages in der Prager Straße den Papiersäckelfabrikanten aus Prag. Er erkannte mich auf den ersten Blick. „Gott über die Welt, was treiben Sie jetzt?" war seine erste Frage. Ich griff in die Rocktasche, nahm ein Exemplar des „Radikalen" heraus und sagte ihm, daß ich diese Arbeiterzeitung herausgebe. „Was machen Sie für ein Unheil wieder", sprach er zu mir, nachdem er den Kopf des Blattes flüchtig mit seinen schwarzen Augen überflogen, „geben Sie acht, Sie kommen wieder ins Landesgericht. Aber das sage ich Ihnen, wenn Sie wieder kommen ins Gefangenenhaus nach Prag, in meine Papiersäckelmacherei kommen Sie nicht, denn Sie haben mir gemacht einen großen Schaden." Neuntes

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B e k a n n t s c h a f t e n u n d Liebschaften Wenn befriedigt ist der Magen Und die Töpfe fortgetragen. Leg' ich mich mit frohem Sinn Auf mein Sorgenlager hin, Wie Minister . . . Ohne etwas zu versäumen, Kann ich denken, sinnen, träumen Von des Herzens Ideal, Doch, da stört mich jedesmal Weibliches Geschnatter. Und wie ein gefangner Ritter Eil' ich rasch ans Eisengitter. Manchmal hab' ich auch das Glück Und erhasche einen Blick Von der schönen Jüdin. So lauten drei Verse aus einem Liede, welches die Gefangenen in Prag oft sangen. Es war das Inquisitenlied, welches namentlich 134

die Sozialisten gern anstimmten, denn in diesem Liede war auf humoristische Weise das ganze Gefängnisleben enthalten. Die schöne Jüdin war eine Hopfenhändlerin aus einer größeren Handelsstadt in Böhmen, welche ihr Geschäft so schwunghaft betrieben hatte, daß ihr schließlich nichts übrig blieb, als den Konkurs anzumelden. Bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, daß sie ihre Geschäftsfreunde um 100000 Gulden geprellt hatte. Für diese betrügerische Handlung wurde ihr ein Jahr Kerkerstrafe zuteil. Aber trotz ihrer grauen, unschönen Sträflingskleider ging sie doch wie eine Königin unter den anderen weiblichen Gefangenen herum, und ihre schöne Gestalt konnte auch in dieser Kleidung nicht entstellt werden, denn ein schönes Weib bleibt in jeder Hülle schön, wenn nur das Angesicht unverhüllt bleibt. Wenn daher die weiblichen Gefangenen auf dem vorderen Hofe ihre Luftstunde hatten, so blickte mancher Gefangene durchs Eisengitter, um die „grauen Damen" zu belauschen, um womöglich einen Blick oder einen vertraulichen Wink zu erhaschen. Freilich war solches Tun und Haschen streng untersagt. Aber was half es? Verbotene Früchte schmecken süß, und so wagte mancher ein Auge daran, um seine „Flamme" zu sehen, um ihr einen Handkuß oder Liebesgruß zuzusenden oder gar einen „Motak", einen Liebesbrief, durchs Gitter zu werfen. Liebesbriefe wurden überhaupt alle Tage gewechselt, denn bei aller strengen Handhabung der Hausordnung läßt sich diese geheime Hauspost im Prager Landesgerichte nicht abschaffen. In dieser Beziehung sind eben die weiblichen Gefangenen sehr erfinderisch. Papier und Bleistifte sind immer vorhanden, wo es die Verliebten hernehmen, ist in den meisten Fällen ein unauflösliches Rätsel. Die „Motake" oder Liebesbriefe gehen selten verloren und kommen meistens an die richtige Adresse. Ab und zu kam es wohl auch vor, daß ein Liebesbrief, wenn er durchs Gitter in den Hof geworfen, von dem Wachmanne erwischt wurde, aber in den meisten Fällen konnte es nicht festgestellt werden, aus welchem Fenster und welcher Gefangene die verliebte Freveltat begangen hatte. Wurde wirklich einmal einer oder eine bei frischer Tat ertappt, so setzte das höchstens einen oder zwei Tage Dunkelarrest, und der Fall war erledigt. Viele Gefangenen hatten ihre Liebste unter den weiblichen Gefangenen, weil ja bekanntlich unter den Verbrechern die weiblichen Mitglieder in einer Bande eine große Rolle spielen, da 135

sie bei manchen Diebstählen viel geschickter arbeiten Wie die Männer, zum Auskundschaften und Verbergen der geraubten Gegenstände auch viel geeigneter sind. Aber wehe der ganzen Bande, wenn ein solches Räuberbräutchen bemerkt, daß ihr angebeteter Langfinger mit einer anderen Braut sich zu schaffen macht, dann ist ein solches Weib zu allem fähig; und wenn sie selbst eine jahrelange Kerkerstrafe zu erdulden hat, das kümmert sie nichts, sie verrät in ihrem Hasse alles, was sie weiß, um nur ihren Liebsten von seiner neuen Liebe zu trennen. Solche Fälle könnte ich mehrere berichten, für heute will ich zwei Beispiele anführen. Ein sehr gebildeter Mann hatte sich mit einigen seinesgleichen vereinigt, um falsche Silbergulden zu erzeugen. Der Falschmünzer hatte in einem böhmischen Dorfe eine kleine, halbverfallene Hütte gemietet, welche einsam, in der Nähe eines Friedhofes stand. Seine Liebste machte ihm den Vorschlag, als Gespenst zu erscheinen, wenn sich fremde Personen der Hütte nähern sollten. Auf diese Weise schützte das Mädchen längere Zeit die Falschmünzer, wenn sie ihre verbrecherische Tätigkeit ausübten, und in der ganzen Umgebung wagte sich niemand in der Nacht in die Nähe der alten Hütte zu kommen. Da wagte es der Führer der Falschmünzer, mit einem anderen Mädchen eine Bekanntschaft anzuknüpfen, und vernachlässigte seinen nächtlichen Schutzgeist. Die Liebe des Mädchens verwandelte sich in Haß, und, blind vor Eifersucht, rannte sie zur Behörde. Binnen einigen Stunden war der Falschmünzer gefangen und nach Verlauf von einigen Wochen zu einem Jahre schweren Kerker verurteilt, sein Schutzgeist zu sechs Monaten. Schon während der Untersuchungshaft schrieb ihm das Mädchen die rührendsten Briefe, um den Falschmünzer zu versöhnen; und es gelang ihr auch, seine Liebe wiederzugewinnen. Wahrhaftig rührend war es, wenn sie ihn erblickte, wie sie die kleinen Hände faltete und so stumm und doch so flehend mit ihren Augen um Verzeihung bat. Ein solcher Blick genügte, um den Falschmünzer aus seiner trübseligen Stimmung zu reißen. Als beide nach der Verurteilung wieder ganz einig waren, bemühte sich das Mädchen auf alle erdenkliche Weise, dem Falschmünzer seine Lage zu verbessern. Sie bat und flehte so lange bei dem Herrn Hausinspektor, bis sie in der Küche angestellt wurde. Außerdem meldete sie sich zum Waschen und Reinigen der Zellen und Amtslokalitäten, 136

um nur alle Tage einige Kreuzer mehr zu verdienen. Für die 60 Kreuzer, welche sie wöchentlich als „Zubesserung" verzehren konnte, kaufte sie Butter, Speck, Fleisch usw., und Gott Amor, in Gestalt eines Kübelträgers, brachte dem Falschmünzer alle Wochen einige Liebesgaben von seinem kleinen Schutzgeiste. Ein zweites Beispiel: Ein gefährlicher Einbrecher war samt seinem guten Mädchen in flagranti erwischt worden. Acht Monate Kerkerstrafe wurde ihm, fünf Monate seinem „guten Mädchen", wie er sie immer nannte, zudiktiert. Seine größte Freude war es immer, wenn ihm das Mädchen ein Viertel Kommißbrot oder sonst etwas Genießbares zukommen ließ. Auch war es ihm immer ein hoher Festtag, wenn er bei dem Arzte oder sonst zufällig auf den Gängen oder beim Untersuchungsrichter sein gutes Mädchen sah oder gar einige Worte mit ihr sprechen konnte. Nach der Verurteilung wurde er eines Tages zum Kerkermeister gerufen und ihm angekündigt, daß er in das k. k. Landesgericht nach Leitomischl transportiert werde, da das Landesgericht in Prag zu überfüllt sei. Der arme Bursche war untröstlich darüber, obgleich er nicht allein, sondern mehrere dieselben Schmerzen hatten, denn es mußte fast alle Monate eine größere Partie Abgeurteilter transportiert werden, um nur Platz für den frischen „Zuwachs" zu gewinnen, aber gerade er wollte es nicht begreifen, daß man ihn von seinem Mädchen trennen wollte. E r setzte alle Hebel in Bewegung, um dieser Trennung zu entgehen, aber all sein Flehen und Bitten war vergebens. Als der Tag kam, nahm er Abschied von uns, mit der festen Versicherung, daß er bald wieder in Prag sein würde, denn ohne sein Liebchen könne er nicht leben. Wir lachten über den verliebten Menschen, aber nach Verlauf von drei Wochen saß er wieder in unserer Mitte in der Papiersäckelmacherei. E r war in Leitomischl durchgebrannt und direkt nach Prag gelaufen und hatte sich beim k. k. Landesgericht angemeldet, daß er seine Strafe nur hier abbüßen wolle. Sein gutes Mädchen jauchzte laut auf vor Wonne, als sie seih gutmütiges Gesicht zum ersten Male wieder erblickte. E r hatte Wort gehalten. E r war seinem Mädchen zuliebe aus einem Kerker entsprungen und hatte sich freiwillig und noch dazu zur Sommerszeit in das Landesgericht stecken lassen, um nur mit ihr wieder vereint zu sein. „Ich hätte mich den ganzen Sommer herumtreiben können, ±37

denn ich bin bekannt in Prag und habe gute Kameraden", sagte er zu uns, „aber ich hätte nichts Großes — machen können ohne mein gutes Mädchen, und so ist es besser, ich mache meine Strafe ab." Viele Gefangene gibt es auch, welche während ihrer Haft Bekanntschaften mit den weiblichen Gefangenen anbandeln, woraus dann nach Abbüßung ihrer Strafe innige Liebschaften werden. Gewöhnlich finden sich solche Männlein und Weiblein zusammen, welche fast gleichzeitig das Gefangenenhaus verlassen. Auch wir Sozialisten wurden mit solchen „ernstgemeinten" Anträgen aus der Reihe der weiblichen Gefangenen beglückt, und hie und da gab es auch einzelne junge Männer, welche ein solches Liebesverhältnis per distance eingingen, um eine kurze Zeit einen Spaß zu haben. Wenn aber die „grauen Damen" in Erfahrung brachten, daß wir sich über ihre Liebesbrieflein lustig machten, war der Spaß zu Ende. Gefangene, welche nur leichten Arrest hatten, bekamen auch nicht selten von ihren Mädchen ein „Liebesschiff" ins Landesgericht. So war in meiner Zelle einige Wochen ein junger Mann, welcher in einem Prager Hotel als Koch angestellt war und wegen eines Jugendfehlers sechs Wochen leichten Arrest hatte. Seine „Flamme", ein Stubenmädchen, sandte ihm von Zeit zu Zeit einige Leckerbissen. Unglücklicherweise war auf unserer Abteilung ein zweiter junger Mann, welcher denselben Namen führte und ebenfalls leichten Arrest hatte. Für den letzteren kam eines Sonntags ein „Liebesschiff" angefahren, bestehend aus einem Viertel gebratener Gans mit Kraut und gedünsteten Pflaumen. Nebstdem noch verschiedene Sorten Wurst und Backwerk. Auch eine Flasche Wein ragte recht einladend aus dem Vorderteile des „Schiffes" hervor. Wer war glücklicher als unser Koch. Sofort verteilte er die Wurst und das Backwerk unter uns, und er selbst machte sich über die Gans, welche ihm, wie er glaubte, sein verliebtes Gänseblümchen gesandt hatte. Aber o Schreck! Nachdem die Speisen vertilgt waren, stellte es sich heraus, daß das „Liebesschiff" nicht für unseren Koch, sondern für den anderen jungen Mann bestimmt war, welcher denselben Namen führte. Der Schließer brummte, aber die Liebesgaben waren verschwunden. Solche „Liebesschiffe" kamen manchmal in unrechte Hände. Ein Prager Kaufmann Wurde wegen Betrugs auf einige Monate 138

verdonnert. Sein junges Weib hatte einen Weg ausfindig gemacht, um ihrem lieben Aaron alle Wochen Zigarren und Speck durch einen Mitgefangenen in die Zelle zu schmuggeln. Der Mitgefangene gab aber dem Kaufmanne regelmäßig nur die Hälfte von den Zigarren, den Speck behielt er ganz für sich. Als nun das Weib des Kaufmannes, bei einem Besuche, ihren lieben Aaron frug, wie ihm das Pfund Speck alle Wochen schmeckte, stellte es sich heraus, daß sein Mitgefangener ein Lump sei. Der Kaufmann konnte nichts dagegen machen, denn was ihm seine Frau sandte, mußte nur in die Zelle geschmuggelt werden, folglich hieß es schweigen. Als ich den Gangarbeiter, welcher den Speck unterschlagen hatte, zur Rede stellte, meinte er lächelnd: „Das ist keine Sünde, wenn ich mir den Speck behalte, denn Aaron ist ein Jude, und den Leuten ist es verboten, Speck zu essen." Das war Diebslogik.

Zehntes Bild Ein Geschäftsführer u n d eine Sängerin Eines Abends saßen wir in unserer Zelle und studierten in dem „weltbekannten" „Prager Abendblatt" die neuesten Neuigkeiten, welche in der Welt und in den Köpfen einiger „Schmierfinken" entstehen. Es war uns schon ein Bedürfnis geworden, alltäglich die wunderbare Zusammenstellung der verschiedenen Weltund Mordgeschichten, wie sie in diesem Blatte enthalten sind, nach unserer Weise zu besprechen. Da, als wir uns gerade lustig machten über eine Nachricht von einer deutschen Dame, welche zu ihrer seidenen Schleppe achtzig Näherinnen und zwanzig Stickerinnen durch sechs Wochen beschäftigt hatte, da kam es mir vor, als ob ich einen bekannten Pfiff hörte; ich hörte auf zu lesen und antwortete zum Fenster hinaus durch einen ähnlichen Pfiff. Gleich darauf rief eine Stimme von der Inquisitenabteilung herüber: „Morgen kommt ein .Zuwachs' von uns zu euch hinüber, hütet euch, derselbe ist ein Verräter!" „Wer ist der Kerl, und was hat er verraten?" frug ich hinüber. „Der Geschäftsführer von der schönen Sängerin", kam die Antwort zurück. „Gut", sagte ich, „wir werden uns darnach richten." Die schöne 139

Sängerin kannten wir schon seit drei Wochen, denn so lange ging sie schon alle Tage mit den „grauen Damen" spazieren, hatte aber ihre eigenen Kleider, da sie nur in Untersuchungshaft war. Die Geschichte mit dem Geschäftsführer und der Sängerin war uns allen aus dem „Prager Abendblatt" bekannt, noch ehe die beiden an das Landesgericht abgeliefert wurden. Es war eine Geschichte, wie sie in großen Städten alle Tage passiert, nur kommt das, was alle Tage geschieht, nicht immer an den Tag, wie man spricht. Die Sängerin war jung und hübsch, und wenn sie auch keine Luccastimme hatte, so wußte sie doch mit ihren Stimm- und anderen Mitteln sehr viele junge Männer anzulocken, welche sich bis über die Ohren in sie verliebten — und da über den Ohren der Verstand beginnt, so verlor mancher nicht nur sein Geld, sondern auch den Verstand, wenn er in den Bereich dieser modernen Gimpelfängerin kam. Wer am besten zahlte, stieg am meisten in ihrer Gunst. Der Geschäftsführer hatte diese Schwäche der Sängerin bald bemerkt, und so legte er jedesmal, wenn sie einkassierte, fünf Gulden auf den Teller. In jedem Gasthause, wo die Holde sich produzierte, war auch der Geschäftsführer zu treffen; und wenn sie an einem Abend zehnmal mit dem Teller zu ihm kam, er gab nie weniger, immer langte er in seine Brieftasche und gab fünf Gulden. Das machte er so einige Wochen Tag für Tag, bis ihm das Mädchen Besuche in ihrer Wohnung erlaubte. Nun ging aber der Fünfguldenregen erst richtig an. Schöne Kleider, neue Möbel, unter anderem ein prachtvolles, blauseidenes Himmelbett, eine goldene Damenuhr nebst Kette und verschiedene Schmucksachen hatte er der Sängerin gekauft. Auch kleine Lustreisen machte er mit ihr, so oft es seine Zeit erlaubte, denn seine Mittel erlaubten es ihm, wie es schien. Das ging so durch einige Monate ohne Störung fort, bis sein Herr die empfindliche Bemerkung machte, daß in seiner Kasse einige hundert Fünfguldennoten fehlten. Nun wurde die Polizei verständigt und der verschwenderische Geschäftsführer samt seiner Primadonna anstatt in das blauseidene Himmelbett in die Polizeidirektion und von dort in das Landesgericht geschafft. Dem Mädchen konnte keine verbrecherische Handlung zur Last gelegt werden, denn sie hatte seine Verhältnisse nicht gekannt und ihn für sehr reich gehalten. Er selbst hatte gesagt, daß er ihr noch mehr gegeben, wenn sie es nur angenommen hätte. Sein Herr machte keinen Anspruch 140

auf Schadenersatz, da der Geschäftsführer schon zehn Jahre in dem Handelshause angestellt war und stets treu und gewissenhaft seine Pflichten erfüllt hatte. Alles dieses war günstig für ihn, und so kam er mit sechs Monaten Kerkerstrafe davon. Das alles wußten wir schon; daß er aber ein Verräter sein sollte, das war uns etwas Neues. Im Laufe des nächsten Morgens wußten wir auch, was er verraten hatte. Während seiner Untersuchungshaft war ein Geschäftsreisender aus Hamburg sein Zellengenosse, welcher ebenfalls Gelder unterschlagen und einen Teil davon seiner alten Mutter gesendet hatte. Der Agent hatte dem Geschäftsführer davon Mitteilung gemacht, und dieser hatte es dem Schließer erzählt, welcher es sofort dem betreffenden Untersuchungsrichter meldete. Das war nun in den Augen der meisten Gefangenen ein sehr schweres Vergehen, und als der Geschäftsführer nachmittags auf unsere Abteilung gebracht wurde, da mochte ihm nicht wohl zumute sein, denn er hatte es bereits in Erfahrung gebracht, daß wir alle von seiner Handlungsweise unterrichtet waren. Zum Glück für ihn kam er vorläufig in meine Zelle, denn hätte man ihn unter einige schlimme Burschen gesteckt, so würde ihm gleich am ersten Tage eine Tracht Prügel oder, wie viele meinten, eine „Verrätersuppe" zuteil geworden sein, an die er lange gedacht haben würde. Ich war auch nicht sehr gut gestimmt an diesem Tage, und so mußte sich's der Geschäftsführer gefallen lassen, daß ich nicht gerade freundlich mit ihm umging, als ich abends in die Zelle kam. E r war 28 Jahre alt, hatte ein verlebtes Aussehen, aber ein schönes, treues Auge. E r bat mich, nicht böse zu sein wegen seiner schlechten Handlung gegenüber dem Hamburger Agenten, und suchte sich so viel als möglich zu entschuldigen. Auch sollte ich die anderen Gefangenen, welche in der Papiersäckelmacherei beschäftigt waren, beschwichtigen, damit er unter uns bleiben könne und während seiner Haft beschäftigt würde. Ich versprach ihm, mein Möglichstes zu tun, und die nächste Woche war er auch beschäftigt in der großen Werkstätte. Die schwierige Arbeit gefiel ihm aber nicht lange, und da er nicht arbeiten mochte, so kam er auch in eine andere Zelle. Die kurze Zeit, die er bei mir war, hatte ich aber Gelegenheit, seine ganze Vergangenheit kennenzulernen, denn er beichtete mir halbe Nächte lang, oft mit halberstickter Stimme, da ihm das Weinen immer sehr nahe war, wieso es gekommen, daß er

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jetzt im Kerker schmachte. Ich hörte ihm aufmerksam zu und tröstete, wo es möglich war; sein Herzeleid war groß. Nicht nur, daß sein guter Ruf dahin war, sondern eine alte Mutter, die ihn über alles hebte, saß zu Hause und grämte sich zu Tode über den Jugendfehler ihres Sohnes. Aber aus allem, was er mir erzählte, konnte ich immer nur das eine herausfinden, daß gerade seine Mutter durch ihre grenzenlose Liebe und Güte den Weg zum Kerker geebnet hatte. Seine Mutter hatte es ganz in der Ordnung gefunden, wenn der Herr Sohn seinen Monatsgehalt zu seinem Vergnügen verbraucht hatte. E r durfte nur bitten und schön mit ihr tun, also heucheln und schmeicheln, so gab sie ihm noch Geld, damit der Leichtfuß noch leichtsinniger dahinleben konnte. Wenn er seinen Gehalt verputzt hatte, wurden Uhr und Ringe ins Leihhaus geschafft. Wenn die Mutter darnach fragte, gab der Herr Sohn einfach zur Antwort: „Meine Uhr geht um zehn Gulden zu spät, und meine Ringe lernen Hebräisch." Dann wußte die gute Mutter schon, wieviel es geschlagen hatte, sie löste die Sachen aus, ihr Sohn küßte sie dafür, und die Sache war gut. Mit 25 Jahren wollte er ein eigenes Geschäft beginnen und ein armes Mädchen zu seinem Weibe nehmen, da hatte aber seine Mutter so lange ihren Geldbeutel zugehalten und ihm täglich Vorwürfe gemacht, bis er seine Heiratsgedanken wieder aufgegeben. „Hätte mich meine Mutter damals heiraten lassen, so wäre ich heute ein anderer Mann", klagte er mir, „denn dieses Mädchen hatte mich binnen wenigen Wochen zu einem anderen Menschen gemacht. Ich hatte keine Freude mehr an dem verschwenderischen Leben, seit ich sie kennengelernt. Aber meine Mutter wollte hoch hinaus, ich sollte nur eine reiche Bürgerstochter, ein Kaufmannstöchterlein heiraten, aber an dieser kraftlosen Modepuppe konnte ich keinen Gefallen finden. Meine Mutter ließ mir von Kindheit an in allen Stücken meinen Willen. So manchen tollen Streich, den ich im Jugendübermut begangen, hat sie mir verziehen, aber in diesem Punkte, was meine Heiratspläne betraf, da blieb sie hart wie Stein. — Ich stürzte mich aus einem Vergnügen in das andere, um mich zu zerstreuen, und meine Mutter war zufrieden, da sie glaubte, ich hätte das arme Mädchen vergessen. Da lernte ich die Sängerin kennen, und eine leidenschaftliche Gewalt zog mich zu ihr hin, denn sie war dem Mädchen täuschend ähnlich, welches ich vor drei Jahren liebte. Eine un-

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widerstehliche Sehnsucht trieb mich alle Tage in ihre Nahe, ich war berauscht und bezaubert von ihrer Stimme und gab ihr alles, was ich hatte, ja noch mehr. So ist das Unglück über mich gekommen." So klagte er mir und weinte dabei wie ein Kind, dieses verwöhnte Muttersöhnchen. Ich dachte oft bei mir, solche Mütter sollte man ihre Kinder gar nicht erziehen lassen, denn durch solche Nachgiebigkeit und Affenliebe auf der einen und solche Lieblosigkeit und Härte auf der anderen Seite, wenn es sich um wichtige Lebensfragen handelt, kann nur Unheil entstehen. Wenn ich des Mittags oder Abends in meine Zelle kam, blickte der junge Mann unverwandt nach irgendeiner Stelle an der Decke oder den Wänden, und ich wußte die ersten Tage nicht, was das zu bedeuten hat. Am dritten oder vierten Tage gab er mir selbst eine Erklärung darüber. Als ich früh, es war Sonntag, meine Suppe essen wollte, setzten sich zwei Fliegen auf den Rand des Topfes. Ich nahm den Löffel und wollte nach den beiden Mitessern schlagen. Da bat mich der Geschäftsführer, ich möchte doch den beiden Tierchen nichts zuleide tun. „Es sind die einzigen zwei Fliegen in der Zelle", sagte er, „und ich belausche sie den ganzen Tag. Ich weiß stets, wo sie sitzen, und freue mich immer, wenn sie zu mir kommen." Ich wurde nun selbst aufmerksam auf die beiden Fliegen und muß gestehen, daß sie auch mich stundenlang angenehm unterhalten haben. Der Geschäftsführer war ganz vertraut mit diesen zwei kleinen Lebewesen. Er suchte sie, wenn sie nicht gleich bei der Hand waren, zum Frühstück und wußte auch genau ihre Lieblingsplätze beim Ofen oder an einer anderen Stelle zu finden. Als er aus meiner Zelle fort mußte, tat es ihm unendlich leid, daß er die beiden Spielkameraden nicht mitnehmen konnte, und ersuchte mich, nur ja darauf zu achten, daß den beiden munteren Tierchen nichts geschieht.

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Elftes

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Zwei B r a n d s t i f t e r Nichts ist wohl schwieriger, als einen Menschen genau kennenzulernen, u m auf Grund dieser Erkenntnis zu ermessen, ob er eine schlechte Handlung begangen hat oder nicht. Wenn schon bei manchem Menschen einzelne Handlungen darauf schließen lassen, daß er zu bösartigen Streichen geneigt sein könnte, so ist es doch nicht gesagt, daß er wirklich in seinem inneren Wesen so verdorben sei, um ein Verbrechen mit vollem Bewußtsein zu begehen. Ich habe im Prager Landesgerichte Menschen kennengelernt, welche ihrem äußeren Wesen nach so einnehmend waren, welche so treue, offene Augen hatten, daß es mir sehr schwer wurde, a n ihre Schuld zu glauben, obgleich es unwiderleglich bewiesen war, daß sie ein schweres Verbrechen begangen haben. So waren in der Zeit meiner Gefangenschaft zwei Brandstifter in Untersuchung, welche so verschieden in ihrem Äußeren, in ihren Reden und Handlungen waren, d a ß man den einen sofort als schuldig zu erkennen meinte und den anderen gar bald als unschuldig betrachtete; und doch stellte es sich später heraus, d a ß wir uns schrecklich getäuscht hatten. Derjenige, welchen wir als unschuldig betrachteten, war ein alter, gebrechlicher Mann von 68 Jahren. Schneeweißes H a a r bedeckte seinen schön geformten Schädel. Ein feines, zartes Angesicht, aus welchem ein p a a r treue Augen, f r o m m wie die eines Kindes, herausblickten, mit wenigen Runzeln verziert, kurz ein Angesicht, wie man es oft auf Heiligenbildern sieht, bückte jedem entgegen, der mit dem ehrwürdigen Alten in Berührung kam. Und das sollte ein Mensch sein, welcher aus Rachsucht seinem Nachbar H a u s und Hof angezündet und ihn an den Bettelstab gebracht hatte. Es war fast unglaublich. Der andere Brandstifter war ein junger Mann von achtzehn Jahren, welcher beschuldigt war, im Hause seines Herrn Feuer angelegt zu haben. E r war nicht zu bewegen, über seine Handlungsweise sich zu äußern. E r schwieg hartnäckig und ließ alles über sich ergehen. „Ich bin ein armer Mensch, und alle sind gegen mich, was hilft mir mein Reden und Verteidigen, kein Mensch glaubt mir. E s ist alles vergebens, ich m u ß büßen, ohne daß ich etwas verschuldet." Das war alles, was er sagte, wenn wir ihn jrugen, wie seine Sache steht. *44:

Es war aber auch keine Kleinigkeit, sich gegen solche Verdachtsgründe zu wehren, wie sie gegen ihn vorlagen. Er hatte sich mit seinem Herrn nie vertragen können. Verschiedene kleine Fehler hatten ihn in den Augen seines Herrn zum Tunichtgut gestempelt. E r selbst hatte sich keine Mühe gegeben, durch Aufmerksamkeit und Fleiß das frühere Vertrauen wiederzuerwerben, und so war das Verhältnis immer gespannter und unerträglicher geworden. Der junge Mann wäre am liebsten auf und davon gelaufen, aber das ging nicht gut, denn sein Herr gab ihn nicht frei, da er noch nicht ausgelernt hatte. In dieser Verzweiflung hatte der junge Mann oft geäußert: „Wenn ich noch lange in diesem Hause bleiben muß, so geschieht ein Unglück." Das Unglück war auch bald geschehen. Eines Tages brannte es auf dem Bodenräume im Hause seines Herrn; und da der junge Mann oft gesagt hatte: „Es geschieht ein Unglück im Hause", so war der Verdacht bald stark genug, um ihn als Brandstifter hinzustellen. Auch war sein Betragen während des Brandes ganz darnach angetan, um diesen schrecklichen Verdacht noch zu verstärken. Anstatt wie die anderen Hausbewohner mit Hand anzulegen, damit der Brand gelöscht werde, hatte er starr und steif zugesehen, wie das Feuer um sich griff. Erst als man ihn aufgefordert mitzuhelfen, hatte er mechanisch eine Kanne ergriffen und langsam Wasser die Treppe hinauf getragen. Oben angelangt, war er so ungeschickt gewesen, und hatte die Hälfte des Wassers anstatt ins Feuer auf die hölzernen Stiegen gegossen. Als der Brand gedämpft war und sein Herr ihn in Gegenwart der Hausbewohner gefragt hatte, ob er nicht wisse, wie das Feuer entstanden, habe er geschwiegen und niemanden angesehen. Er hatte sich eben betragen wie ein schuldbewußter Mensch, und wenn auch anfangs der Verdacht nur leise wie ein Mäuschen, welches über die Straße huscht, aufgetreten war, so mehrten sich doch gar bald die verdächtigen Gedanken; sie wurden endlich laut, man zischelte und wischelte sich die Worte so lange in die Ohren, bis es endlich mit vernichtender Schwere auf ihn niederdonnerte: „Du bist der Brandstifter!" E r konnte sich nicht retten aus diesem schrecklichen Netze von Verdächtigungen und scheinbar unwiderleglichen Beweisen, und so wurde er von den Geschworenen für schuldig erkannt und zu vier Jahren schweren Kerkers verurteilt. Er hatte das 145

Urteil gehört und war wieder in seine Zelle abgeführt worden, ohne daß er einen Laut oder ein Zeichen des Schreckens von sich gegeben. Seine Zellengenossen waren erstaunt über diese Gleichgültigkeit oder Verstocktheit. — Er hatte sich auf seine Pritsche gesetzt und mit niemandem ein Wort gesprochen oder einen Blick gewechselt. Er hatte auch nicht geweint, wie so viele Verbrecher nach der Verurteilung. Aber in der Nacht wurde er von Krämpfen befallen, welche so heftig waren, daß er sofort in die Krankenabteilung geschafft werden mußte. Wir bedauerten den jungen Menschen aufrichtig, denn uns schien die Strafe zu groß, da durch den Brand kein großer Schaden entstanden und der arme Mensch noch so jung war. Der junge Brandstifter hatte einen wohlhabenden Onkel in Wien, und dieser, als er die Verurteilung seines unglücklichen Neffen aus den Zeitungen erfahren, kam nach Prag und erkundigte sich genau über den ganzen Verlauf der Untersuchung und des Prozesses. Ein tüchtiger Verteidiger wurde um Rat und Hilfe gefragt, und es stellte sich bald heraus, daß die Belastungszeugen nicht ganz die Wahrheit gesagt hatten; und so blieb nichts übrig, als eine neue Untersuchung einzuleiten. Der junge Brandstifter kam daher nochmals vor das Geschworenengericht, und nun stellte sich so recht heraus, was unüberlegtes Reden, Klatschen und Zischeln für Unheil anstiften kann. Der Verteidiger hatte einige Belastungszeugen so in die Enge getrieben, daß sie eingestehen mußten, daß sie es mit der Wahrheit nicht so genau genommen, da es allgemein bekannt gewesen sei, der junge Mann und kein anderer hätte den Brand gelegt. Der arme, kranke Mensch mußte freigesprochen werden. In derselben Gerichtsperiode kam auch der alte Brandstifter zur Verhandlung, und wir waren alle gespannt auf den Ausgang seiner Sache; daß er verurteilt werden könnte, dachten wir kaum. Aber wie ich schon gesagt, in diesem heiligen Angesichte, wo ich und andere nur Gutes und Liebes herausgefunden hatten, da war das Böse so gut verdeckt und versteckt, daß wir gar nicht daran glauben wollten. Dieser alte Mann mit seinen ehrwürdigen Gesichtszügen hatte schon viele Verbrechen begangen, und auch seine letzte böse Tat war wohlüberlegt und mit boshafter Berechnung ausgeführt worden. Er wurde zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt, 146

blieb aber noch in der Untersuchungsabteilung, bis sein Urteil rechtskräftig war, dann sollte er fortkommen. Während der Untersuchungshaft hatte er das Anfeuern der Öfen zu besorgen und machte auch sonst gern irgendeine Arbeit, welche oft einem anderen Gefangenen zugefallen wäre. Für ein halbes Lot Schnupftabak konnte man viel von ihm verlangen, er war überhaupt sehr gefällig, bescheiden und zuvorkommend. Nach seiner Verurteilung hatte er eines Morgens eine Zelle zu reinigen, während wir anderen auf dem „mittleren Hofe" unseren gewohnten Spaziergang machten, wobei, wie schon erwähnt, immer ein Wachmann uns scharf im Auge hatte. Plötzlich blieb der scharfe Wächter stehen und blickte nach dem vergitterten Zellenfenster, wo der alte Brandstifter waschen sollte. „I des dolü!" schrie er hinauf. „I des dolü!" schrie er nochmals. Wir blickten ebenfalls hinauf und bemerkten die weißen Haare des alten Mannes. Wir und der Wachmann waren der Meinung, der alte, scheinheilige Brandstifter wolle sehen, was wir machen, oder vielleicht etwas zuwerfen. Der Wachmann schrie zum dritten Mal: „I des dolü!" und packte wütend sein Schießgewehr, aber der weiße Kopf blieb beim Fenster. Er konnte nicht fort, denn er hing am Gitter fest. - Der alte Brandstifter hatte sich erhängt. Der betreffende Schließer auf dem Gange, wo das Unglück oder Glück geschehen war, erhielt einen Tag Dunkelarrest.

Zwölftes Bild Eine Erbschleicherin Einzelne Gefangene hatten nebst den gewöhnlichen Luftstunden noch extra Erholungsstunden, doch gab es nur wenige, welchen diese Gunst erteilt wurde. Selbstverständlich gingen die weiblichen Gefangenen auf einem anderen Hofe herum und hatten auch eine andere Stunde des Tages wie die männlichen Gefangenen. Es kam daher höchst selten vor, daß man die weiblichen Gefangenen in der Nähe betrachten konnte. Da ich jedoch eine Zeitlang selbst so glücklich war und täglich eine extra Luftstunde hatte, so war es mir manchmal möglich, die wenigen weiblichen Gefangenen in nächster Nähe zu sehen, und zwar deshalb, weil der eine Schließer seine Schützlinge einige Minuten später in die Zellen führte, dagegen mein gutes, altes 12

Jose! Schiller

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„Väterchen" mich pünktlich mit dem Glockenschlage hinunterbegleitete. Auf diese Weise geschah es mehrmals, daß wenn ich mit dem alten Schließer die enge Stiege hinunter wollte, die wenigen weiblichen Gefangenen die Treppe hinaufgehen wollten, welche eben ihre Erholungsstunde genossen. Der alte Schließer nahm mich bei solchen Gelegenheiten stets bei der Hand und hielt mich fest, bis die Weiblein und Mädchen vorüber waren. Gesprochen konnte bei solchen Begegnungen nicht werden, indes es ließ sich nicht verhindern, daß die Augen auch nicht sprechen durften; und wahrlich, die Augen wissen sich rasch zu verständigen, wer nur die Augensprache richtig kennt. Während der Untersuchungshaft hatte ich einige Male das Glück, einer weiblichen Gefangenen in die Augen zu sehen; und ich muß gestehen, daß es mich jedesmal schmerzte, wenn sie mich mit ihren großen, braunen Augen anblickte, so rein wie ein heller Sonnenstrahl war ihr Blick, aber unergründlich tief war die Glut, welche aus ihren Augen strömte. Ich dachte oft bei mir: Ich habe diesem Weibchen doch nichts getan, warum blickt sie mich so sonderbar, fast feindlich an? Es war ein Mädchen, vielleicht 24 Jahre alt, fast so groß wie ich, schlank, aber kräftig gebaut, und prachtvolle, kastanienbraune Zöpfe thronten wie eine Krone auf ihrem Haupte. Schöne, moderne Kleider gaben der ganzen Erscheinung ein feines Ansehen, so daß man auf den ersten Blick sagen mußte: Das Mädchen ist aus den Reihen der oberen Zehntausend — und so war es auch gewesen. Ich frug den „Vater", unseren Schließer, und dieser erzählte mir, daß dieses Mädchen ein schweres Verbrechen begangen haben sollte. Man legte ihr zur Last und beschuldete sie, daß sie einem alten, reichen Herrn, welchen sie während seiner Krankheit bedient, 8000 Gulden entwendet hatte. Mir wollte das nicht in den Kopf. Ich suchte nun Näheres über dieses Mädchen und ihre Vergangenheit zu erfahren, und da unter den Gefangenen einige aus demselben Orte waren, wo dieser reiche Herr gelebt, so hörte ich mancherlei und konnte mir binnen kurzer Zeit die Leidensgeschichte dieses unglücklichen Mädchens zusammenstellen. In der Nähe von Prag hatte dieser reiche Herr ein Rittergut, lebte aber mit seinen beiden Söhnen stets in Unfrieden, weil er das Mädchen als seine Wirtschafterin zu sich genommen hatte.

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Die unglückliche Gefangene war eine weitläufige Verwandte des reichen Mannes, die einzige Tochter einer alten Mutter. Die beiden Söhne hatten geglaubt, ihr alter Vater wolle sich die junge Verwandte heiraten, und so hatten sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Mädchen aus dem Hause zu bringen. Der alte Herr hatte jedoch kurzen Prozeß gemacht und seine beiden Söhne mit dem Bedeuten aus dem Hause geschafft: Wenn ihr nicht wollt, wie ich will, so werdet ihr nicht weiter von mir unterstützt werden. Die beiden Söhne waren lustige Lebemänner, welche in Wien nach ihren leichtsinnigen Neigungen lebten und nur auf das Geld ihres reichen Vaters angewiesen waren, überlegten sich die Sache und ließen den Herrn Papa mit seiner jungen Wirtschafterin in Ruhe. Bei hohen Festen, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, besuchten sie ihren Vater und trachteten so viel als möglich die junge Wirtschafterin zu quälen, aber diese ließ sich mit den beiden Burschen in keinen Streit verwickeln, denn sie hatte den Alten auf ihrer Seite, und oft mag sie auch gedacht haben, meiner alten Mutter zuliebe muß ich mir schon die Dummheiten der jungen Herren gefallen lassen. So war wieder das Osterfest gekommen, und die beiden Söhne waren wie gewöhnlich bei ihrem Vater auf Besuch. Der alte Herr war lustig und froh, denn seine Söhne hatten sich anständig gegen seine junge Pflegerin benommen. Er erzählte seinen Söhnen, mit welcher Sorge und Aufopferung sie ihn gepflegt, da er einige Wochen krank gewesen sei, und wie es ihn freue, eine solche verläßliche Person um sich zu haben. Kurz, der Familienfriede war wiederhergestellt. Die beiden Söhne frugen nun nebenbei, ob er nicht gedenke, diese treue Seele fester an sich zu binden, worauf der Alte erklärte: „Das wäre eine Sünde, so ein junges Mädchen zu heiraten." Mit dieser Erklärung waren die Brüder zufrieden, und infolgedessen behandelten sie das Mädchen recht anständig und quälten sie nicht. Ehe die beiden Söhne wieder nach Wien reisten, machte der alte Herr noch die Dummheit und ließ sie sein Barvermögen sehen, das er in seiner Kasse verwahrte. Es waren über 8000 Gulden. Es vergingen kaum drei Wochen, erhielten die Brüder ein Telegramm, worin ihnen angezeigt wurde, daß ihr Vater plötzlich gestorben sei. 12'

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Sie reisten sofort in die Heimat und fanden den lieben, reichen Vater tot. Nun ging es natürlich vor allem anderen über die Kasse, denn Geld geht ja solchen Burschen über jedes andere Gefühl. Was lag an dem Tode des Alten, die Hauptsache ist Geld. Geld, Geld! Was kein Schwein frißt. Geld, dieses kalte Metall, welches durch alle schmutzigen Hände geht. Geld, das verfluchte Geld, welches schon die Kinder in ihrer zarten Jugend so gern haben, daß sie es küssen und ablecken. Geld, Geld! Was heute als Maßstab des Verstandes angenommen wird. — Geld suchten die Brüder; und welcher Schrecken, als sie die Kasse öffnen, finden sie nur einige Gulden und Wertpapiere. — Die 8000 Gulden, welche sie vor einigen Wochen gesehen, sind verschwunden. „Wo ist das Geld!" brüllen sie beide wütend die junge Wirtschafterin an. Das junge Mädchen weiß; keine Auskunft zu geben. Die beiden Brüder zeigen die ganze Geschichte bei der k. k. Staatsanwaltschaft an, und die Wirtschafterin wird wegen Erbschleicherei und Diebstahl gefangengenommen. Das ist die Geschichte der jungen Wirtschafterin. Wie sollte nun der Prozeß enden? Schon einige Monate war das Mädchen in Untersuchungshaft, und binnen kurzer Zeit sollte es sich entscheiden, ob sie schuldig oder nicht schuldig sei. Ich frug oft unseren Schließer, wie es mit der Angelegenheit dieses Mädchens steht, ich konnte nichts erfahren. Es war eben nicht erfindlich, wo die 8000 Gulden hingekommen waren, welche seine Söhne gesehen hatten. Und so nahte der Termin der Hauptverhandlung immer näher. Nicht nur ich, sondern viele meiner Leidensgefährten, welche das Mädchen kannten, waren gespannt und neugierig auf den Ausgang dieses sonderbaren Prozesses. Eines Tages gingen die weiblichen Gefangenen auf dem vorderen Hofe spazieren, da brachten zwei Wachleute einen jungen Mann — es war ein schwerer Verbrecher — über den Hof geführt. Er konnte kaum laufen, denn ein Wachmann hatte ihn ins rechte Bein gestochen, da er in der Nacht einen Fluchtversuch gewagt und sich nicht gleich ergeben wollte. Wir blickten aus unserer Werkstatt hinunter und sahen den ganzen Vorgang. Die meisten von den weiblichen Gefangenen waren gleichgültig oder lächelten, wie der junge Verbrecher mit seinem verwundeten Beine über den Hof geschleppt wurde. 150

Das junge Mädchen, die Erbschleicherin, die lachte nicht, sie weinte, das werde ich nie vergessen. — Wir hatten auf unserer Abteilung einen jungen Adeligen, welcher wegen Totschlags zu acht Monaten schweren Kerkers verurteilt war; er hatte aus Versehen anstatt eines Hasen einen jungen Gärtnergehilfen erschossen. Dieser siebzehnjährige Grafensohn war der Meinung, daß die Erbschleicherin eine große Strafe erhalten müsse, da sie den beiden Brüdern viel mehr Schaden zugefügt hätte als wie er, da er ja nur einen armen Teufel erschossen. Wir waren natürlich viele ganz anderer Meinung und hielten ein Menschenleben höher wie 8000 Gulden. Zwei Tage vor der Hauptverhandlung begegnete ich dem Mädchen wieder, als ich auf dem engen Gange stand. Aber das war ein schreckliches Begegnen, denn sie zitterte am ganzen Körper und mußte von dem Schließer geführt werden. Als sie bei mir vorübergeschlottert war, frug ich unseren Schließer, was dieser Schmerz und dieses halberstickte Weinen zu bedeuten habe. „Sie hat eben die Nachricht erhalten, daß ihre Mutter gestorben ist", sagte er gleichgültig. „Führen Sie mich wieder in meine Zelle", sagte ich, und es geschah. Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte Ruhe haben. Was mag das Mädchen für Höllenqualen ausgestanden haben an diesem Tage. Die Mutter tot, wer kann diese Worte beschreiben, wer kann ermessen, wie da das Herz krampfhaft schlägt bei diesen drei Worten. — Nur ein Mensch, welcher, ausgeschlossen aus der menschlichen Gesellschaft, im Kerker schmachtet, welchen alle verfluchen, und nur die Mutter fühlt, daß er unschuldig ist, nur so ein Mensch kann annähernd den grenzenlosen Gram und die Verzweiflung begreifen, wenn ein gefühlvolles Herz die traurige Nachricht empfängt: Die Mutter ist tot. Einen Tag vor der Schlußverhandlung wurde das Mädchen freigelassen, denn unter den hinterlassenen Papieren des reichen Grundbesitzers hatte ihr Verteidiger eine Schrift gefunden, in welcher dem Mädchen 8000 Gulden bei einem Geldinstitute als Erbteil angelegt waren. Sie war frei und unschuldig, aber ihre Mutter war aus Gram gestorben, und sie selbst hatte einige Monate unter gemeinen Verbrechern gelebt. —

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Dreizehntes Bild Eine Empörung im Gefangenenhause In jedem alten Gefängnisse gibt es eine Menge Sagen und dunkle Geschichten, welche von Zeit zu Zeit in den Zellen erzählt werden, denn die schon oft bestraften Verbrecher sorgen dafür, daß die merkwürdigsten Ereignisse und Begebenheiten erhalten bleiben. Einzelne alte Gefangene gibt es, welche schon in ihrer Jugend mit dem Strafgesetze in innige Berührung gekommen und infolgedessen bei manchem dieser Gefängnisereignisse eine große Rolle gespielt haben. Diese sind es dann auch zumeist, welche mit Vorliebe solche Geschichten erzählen und unter den Gefangenen verbreiten. Wenn man von diesen Erzählungen nur die Hälfte glaubt, so kommt man zu der festen Meinung, daß es vor vierzig Jahren schrecklich und barbarisch zugegangen sein muß und die Gefangenen von Seiten der Schließer und Wächter auf unmenschliche Weise behandelt wurden. J a , die alten Schließer selbst, welche im Prager Landesgerichte angestellt und schon dreißig oder vierzig Jahre im Dienste waren, bestätigten teilweise diese schrecklichen Geschichten, indem sie oft uns gegenüber bedauerten, daß sie nicht mehr die Gewalt hätten wie früher. Als unser alter Schließer eines Tages einem jungen Diebe mit der Faust ins Gesicht schlug und ich ihn deshalb zur Rede stellte, meinte er ganz einfach: „Oh, könnte ich nur noch so dreinschlagen wie früher, ich würde die Lumpenbande schon zusammenhauen." Daß wirklich die Schließer und Wachleute einzelne Gefangene tüchtig durchbläuten, das war uns bekannt, denn von Zeit zu Zeit kam es vor, daß ein Gefangener, welcher sich schlecht betragen hatte, in die Wachstube hinabgeführt wurde, um dort eine Ladung Prügel in Empfang zu nehmen. Es geschah selten, aber es geschah. — Der Geschlagene konnte nicht viel dagegen tun, denn wenn er sich auch beschwerte und Klage erhob, die Wachleute und der betreffende Schließer leugneten einfach, und der Kläger wurde abgewiesen. Uns Sozialisten war eine solche Wachstubenkeilerei noch nicht vorgekommen, und wir waren auch alle der festen Überzeugung, daß wir vor Schlägen sicher seien. Es kam jedoch ganz anders, und wir wußten eines schönen Tages bestimmt, daß wir ebenfalls Prügelsuppen erhalten, wenn wir die Wachleute beleidigen. 152

Allerdings konnte ein Sozialist, welcher geprügelt wurde, nicht wissen, daß er durch sein Tun und Handeln die Wachleute beleidigte; und konnten wir alle die Wut nicht begreifen, welche die beiden Wachleute erfaßt hatte. Der Tatbestand war folgender: Am 18. März gingen wir Sozialisten in dem „mittleren Hofe" spazieren, als plötzlich an einem Zellenfenster ein rotes Plakat erschien, mit der Inschrift: „Hoch der 18. März!" Kaum erblickte der Wachmann das rote Papier, so riß er an den Glockenzügen und verständigte die Hauswache. Ich schrie sofort hinauf in die Zelle: „Weg mit dem roten Fetzen!", denn ich hatte bemerkt, daß es dasselbe Fenster war, wo meine Pritsche stand. Das rote Papier verschwand auch sofort, aber in einigen Minuten hörten wir aus derselben Zelle ängstliche Hilferufe, Schreien, Fluchen und Schlagen. Was nun plötzlich erfolgte, läßt sich nicht gut beschreiben. Ein wilder Schrei ertönte von allen Lippen. In den Zellen ringsum erhob sich ein Lärm, als wenn alle Höllengeister erwachten. Der Wachmann zerrte an den Glockenzügen, noch einige Wachleute und Schließer erschienen, der junge Sozialist in meiner Zelle rief zum Fenster herunter: „Ich bin schrecklich geschlagen worden!" Nun gab es kein Halten mehr, die Wachleute und Schließer mußten die Türen öffnen. Wir stürmten über die Stiegen hinauf und in den Gang, wo meine Zelle sich befand. Der Schließer öffnete, und ich und die anderen betrachteten nun den geschlagenen jungen Sozialisten. Zwei Wachleute hatten ihn mit der flachen Klinge bearbeitet. Sein Rücken zeigt deutlich, wo die kräftigsten Hiebe hingefallen waren. Wir Sozialisten beruhigten die anderen Gefangenen und erklärten, daß diese empörende Behandlung genau untersucht werden müßte. Auf dieses hin ließen sich alle beschwichtigen. In meiner Zelle selbst machte ich noch eine wichtige Entdeckung. Ich fand eine schöne Schnupftabakdose. In der Hitze des Gefechtes hatte sie einer von den beiden Helden verloren. Das war für die ganze Angelegenheit von großer Wichtigkeit, denn unser alter Schließer blieb fest dabei, es wäre kein Wachmann in der Zelle gewesen. Den anderen Tag sollte der junge, geschlagene Sozialist zum Kerkermeister geführt werden. Er weigerte sich jedoch, allein zu !53

gehen, weil er glaubte, noch eine Portion Prügelsuppe zu erhalten. Ich ging mit ihm zum Rapport, und der Herr Kerkermeister versicherte mir, daß eine genaue Untersuchung eingeleitet werden würde. Die Tabakdose behielt ich mir. Am zweiten oder dritten Tage wurde der Geschlagene von den Gerichtsärzten untersucht, sie konnten jedoch keine Spur von Schlägen an seinem Körper auffinden. Nun wurden die einzelnen Sozialisten einvernommen, und auch ich mußte vor das Hausgericht und alles genau zu Protokoll geben; bei dieser Gelegenheit übergab ich auch die Schnupftabakdose. Die beiden Wachleute, unser alter Schließer und noch einige Gefangene wurden scharf verhört, dann konnten wir wieder abtreten. Wir waren alle gespannt, wie die Sache endlich ablaufen würde. E s verging wieder eine Woche, und wir hörten nichts. Mein junger Freund, welcher durch seine Unbesonnenheit mit dem roten Plakate die Wachleute erbittert hatte, wäre froh gewesen, wenn er nichts mehr gehört hätte von der traurigen Geschichte, denn er hatte nur noch vierzehn Tage zu „studieren", dann war seine Freiheitsstrafe zu Ende. Wenn nun die Herren Richter recht strenge sein wollten, so konnte er noch eine Zeit länger in Haft bleiben, denn durch seinen Übermut hatte er den ganzen Krawall hervorgerufen und andere auch noch mit hinein verwickelt. Denn es ist ja selbstredend, daß bei solchen Vorkommnissen manches Wort gesagt wird, was man später bei ruhiger Überlegung gern wieder zurücknehmen möchte. Wie gesagt, die Sache war gar nicht so einfach, denn wenn auch die beiden Wachmänner mit bestraft wurden, so hatten wir als Gefangene doch kein Recht, über die Stiegen zu stürmen, um anderen Gefangenen zu Hilfe zu eilen in einem solchen Falle. Aber das natürliche Gefühl ist oft stärker wie alle Satzungen und Vorschriften, und die Vernunft ist nicht imstande, die Gefühle zu bändigen. Endlich wurden die Schuldigen vorgerufen und ihnen das Urteil verkündet. Mein junger Freund mußte die letzten acht Tage seiner Strafe in dunkler Zelle absitzen. Ein zweiter Sozialist, welcher am 18. März die beiden Wachmänner beleidigt hatte, drei Tage Dunkelarrest und die beiden Wachmänner ebenfalls jeder drei Tage bei Wasser und Brot und Extrabrummsuppe von dem Herrn Kerkermeister, denn, das muß man sagen, dem Kerkermeister 154

und den anderen Herren Richtern und Räten war die ganze Angelegenheit sehr peinlich, und_ich bin der Überzeugung, daß wohl heute kein Wachmann oder Schließer sich mehr wagen wird, einen Gefangenen zu schlagen wegen eines Stückchens roten Papieres.

Vierzehntes

Bild

Die letzten Erlebnisse in Prag und meine A n k u n f t in Reichenberg Von Anbeginn unserer Strafzeit rechneten wir Sozialisten unsere Strafe nicht nach Monaten und Tagen, sondern nach Knödeln. Wenn einer zum Beispiel drei Monate zu brummen hatte, so hieß es einfach: „Wenn du wirst 26 Knödel verspeist haben, bist du fertig." Der junge Sozialist, welcher in meiner Zelle geprügelt worden war, hatte sich aber mit seiner Knödelrechnung geirrt, denn an den beiden Tagen, wo es Knödel gab — als er seine acht Tage Dunkelarrest abbüßte —, erhielt er gar kein warmes Essen. Das war die schlimmste Strafe für ihn, denn auf die „Bosniaken", wie wir die Knödel nannten, freute sich jeder, weil dieselben sehr schmackhaft vorgerichtet waren. Mein junger Freund beklagte sich auch scherzhafterweise bei uns, daß er noch zwei Knödel zu fordern hätte. Wir anderen, die wir noch einige Wochen zu büßen hatten, hätten ihm gern unsere „Bosniaken" überlassen, wenn wir nur auch, so wie er, lustig und wohlgemut die Strafanstalt hätten verlassen dürfen. Es gab aber einige unter uns, die nicht so heiter in die Zukunft blickten, denn sie hatten während der langen Untersuchungshaft in feuchten Zellen gesessen und dadurch ihre Gesundheit ruiniert. Mancher konnte die letzte Zeit seiner Strafe fast nicht mehr gehen und stehen; einzelne lagen krank und mußten nach Abbüßung ihrer Strafe erst wochenlang in einem Krankenhause verpflegt werden, ehe sie in ihre Heimat geschafft werden konnten; ja, es liegen auch einige wackere Genossen in Prag begraben, welche gesund von Weib und Kindern weggerissen wurden, um ihre Lieben niemals wiederzusehen. So erging es auch einem Bergarbeiter, welcher fünf unversorgte Kinder zu Hause hatte. Der Skorbut hatte seinen starken Körper

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so durchfressen, daß er nicht mehr stehen oder gehen konnte; er lag längere Zeit in der Krankenabteilung, und als man bemerkte, daß er im Landesgerichte nicht gesund werden könne, so wurde beschlossen, den Mann einem Prager Spitale zu übergeben. Ich und noch einige Gefangene trugen den halbtoten Genossen aus der Krankenabteilung über die schmalen Gänge und dunklen Stiegen hinunter in den vorderen Hof und legten ihn so sanft als tunlich in die schauerliche Tragbahre. Er gab uns jedem die Hand, dankte uns mit leiser Stimme für die Liebe, die wir ihm bewiesen, und forderte uns auf, festzuhalten an unserer gerechten Sache. Uns allen standen die Augen voll Wasser, wir ahnten es, daß wir ihn nicht mehr wiedersehen. Nach kurzer Zeit hatte er ausgelitten. Einige Genossen hatten dieselbe Strafe wie ich, und da wir nur noch einige Wochen zu „studieren" hatten, so machten wir allerhand Pläne, wie wir die ersten Stunden unserer Freiheit benützen würden. Denn es läßt sich nicht beschreiben, mit welcher Sehnsucht man auf die Stunde der Freiheit wartet. Mit wahrem Heißhunger verlangt das Herz die heimatlichen Berge und Wälder wiederzusehen. Tausend und abertausend Mal bin ich im Geiste die Strecke von Prag bis Reichenberg durchflogen; die letzten acht Tage meiner Strafe wollten kein Ende nehmen, aber endlich, endlich kam die Stunde, und ich hatte meinen letzten Knödel vor mir in dem Blechtopfe liegen, und wahrlich, ich muß es gestehen, keiner hat mir so gut geschmeckt wie dieser. Damals hätte ich nicht gedacht, daß ich einige Jahre später noch 104 solcher Knödel essen werde. Nachdem ich glücklich meine Sachen zusammengepackt und auch die große Waschschüssel und den Drei-Liter-Krug eingebunden, harrte ich nur auf die Minute, wo der Schließer mich rufen würde. Endlich war auch diese da; wir gingen erst in die „große" Werkstätte und dann in die „kleine", und ich nahm Abschied von meinen Leidensgefährten. Alle wünschten mir Glück zu meinem ferneren Leben, denn sie hatten mich liebgewonnen, und ich wüßte nicht einen, der mich durch meine vier Monate gekränkt hätte. Aus der Papiersäckelmacherei führte mich der Schließer zum Herrn Kerkermeister, wo genaue Rechnung geführt wurde über alles, was ich während meiner Haft verbraucht, sowie über die wenigen Kreuzer, welche ich mir allwöchentlich bei 156

meiner Arbeit erspart hatte. Nachdem ich die Rechnung geprüft und unterfertigt, wurden meine Sachen durchsucht und eine Körpervisitation vorgenommen. Ich hatte mir ein schönes Schachspiel aus Brot angefertigt, und es hätte mich sehr gekränkt, wenn man mir es abgenommen hätte, deshalb ersuchte ich den Herrn Kerkermeister, mir die Figuren nicht zu zerbrechen, da ich das Spiel zum Andenken mit nach Hause nehmen wolle. „Nun", sagte der Kerkermeister, „es haben schon einige Sozialisten solche Schachspiele gehabt bei ihrer Entlassung, und ich habe keines zerbrochen, weil ich voraussetze, daß in diesen Figuren nichts Verdächtiges enthalten ist." Ich erhielt meine Sachen, ein Wachmann bekam mein Geld und meine Papiere, und nun ging's fort auf die löbliche Polizeidirektion in Prag. Dort gab's aber noch vielerlei zu besorgen, ehe wir daran denken konnten, uns richtig umzusehen. Erst wurden die Papiere übergeben — wir waren drei oder vier aus dem Landesgericht denselben Tag entlassen worden —, dann mußten wir unsere Kopfbedeckung hergeben und wurden zur ärztlichen Visite geführt. Dann mußten wir durch eine Reihe Zimmer, und in jedem dieser Zimmer standen einige Herren, welche uns sehr genau betrachteten; endlich in einem großen Lokale wurde haltgemacht, und wir konnten uns niederlassen. Nach Verlauf von einer halben Stunde kam ein feiner Herr, welcher verschiedene Akten unter dem Arme trug, und sprach zu uns: „Ich muß Ihnen die Mitteilung machen, daß Sie aus Prag ausgewiesen sind, doch steht Ihnen das Recht zu, dagegen Beschwerde zu erheben." „Wir wußten das schon, ehe wir hierher gebracht wurden, mein Herr, ich bitte Sie daher nur, wenn möglich, unsere Papiere in Ordnung zu bringen, damit wir, sobald es uns gestattet ist, das unvergeßliche goldene Prag verlassen können", gab ich lächelnd zur Antwort. „Ich verzichte ebenfalls auf jede Beschwerde", gab der lange Walter zur Antwort. „Ich will nur so bald als möglich frei sein", sprach der lustige Schneider aus Oberleutensdorf, „denn wenn ich noch länger hier bleiben muß, dann werde ich vor Ärger so dünne, daß ich durch die Schlüssellöcher durchkomme." Wir unterschrieben unsere Ausweisung ruhigen Herzens, denn 157

nun waren wir doch sicher, daß man uns nicht ewig dort behalten wollte. Aber frei waren wir noch nicht, denn nachdem wir unterzeichnet, wurden wir wieder in eine Zelle gesteckt. Schon im Landesgerichte hatte ich den Herrn Baron Trautenberg gebeten, er möge die Güte haben, die löbliche k. k. Polizeidirektion zu verständigen, daß sie uns Sozialisten doch etwas anständiger behandeln möge wie das gewöhnliche Lumpengesindel, damit wir nicht in dieselben Ungezieferzellen gesteckt würden, wo die gemeinsten Strolche stecken. Meine Bitte war nicht umsonst gewesen, denn ein höherer Polizeibeamter erklärte mir, daß der Herr Baron einen Brief an die löbliche Polizeidirektion gerichtet, auf Grund welchen wir mit dem gewöhnlichen Lumpen- und Verbrecher-Transporte, welcher jeden Tag nachmittags halb zwei Uhr nach dem städtischen Schubhause geschafft wird, nicht in Berührung kommen würden. Die Zelle, in welche wir gesteckt wurden, war reinlich. In kurzer Zeit wurden wir abgeholt und in die Aufnahmekanzlei geführt, wo wir unsere Kopfbedeckung wiedererhielten und auch unser Geld. Ein Polizeimann in Zivilkleidern, welchen wir entlohnten, führte uns auf die sogenannte „Fischbanka" in Prag, wo alle Schüblinge und alle aus dem Prager Polizeirayon Ausgewiesenen hinmüssen. Als wir über den Hof auf die Straße hinausgingen, sahen wir den ganzen Transport, welcher, von Gendarmen umgeben, nach der „Fischbanka" geschafft wurde. Wahrhaftig, wer einen solchen Trupp solcher herabgekommener und gesunkener Menschen sieht, der muß seine ganze Menschenliebe zusammennehmen, um keinen Ekel zu empfinden vor solchen Menschen. Anderenteils gehören gute moralische Grundsätze dazu, wenn man nicht tödlichen Haß fühlen soll auf solche erbärmliche Einrichtungen, nach welchen es möglich ist, solchen Schmutz, solche Gemeinheit und eine solche Summe von Jammer und Elend öffentlich durch die Straßen zu schleppen. Menschen jeden Alters und Geschlechts waren da beieinander. Kinder, aus dem Findelhause entlassen, Kinder, welche noch nicht die Schule betreten, gingen mit frechen Dirnen H a n d in Hand per Schub in ihre Heimat. Junge, halbreife Burschen gingen schon zum soundsovielten Male als Vagabunden in Gemeinschaft mit alten Dieben und Verbrechern in ihre Heimat. Noch nie im Leben hatte ich solche zerlumpte Gestalten gesehen; 158

und wer noch eine ganze Hose am Leibe trug, dem wurde sie von den anderen mit Gewalt vom Leibe gerissen, weil jeder auf der „Fischbanka" für seine Lumpen ganze Kleider erhält. Die Heimatgemeinden müssen dann die ganzen Kosten bezahlen. Ein solcher verkommener Mensch macht in seinem Leben der Heimatgemeinde einige hundert Gulden Auslagen. Aber wie kann es anders sein. Es waren ja vier Findelkinder von sechs Jahren unter diesem rohen Haufen, welche in ihre Heimatgemeinden geschafft wurden. In wessen Hände wird man sie gegeben haben? Wie wird so ein Findelkind in der Gemeinde behandelt? Wenn man diesen beiden Fragen auf den Grund geht und sich wirklich darum kümmert, wie oft in einem böhmischen Dorfe solche unglückliche Wesen behandelt werden, dann begreift man sehr bald, warum alle Tage von der Polizeidirektion in Prag ein solcher Transport verwahrloster Menschen nach der „Fischbanka" geschafft wird. Aber schwer zu begreifen ist es, warum man nicht Alter und Geschlecht getrennt durch die Straßen führt und warum man in der Hauptstadt nicht verdeckte Wagen anschafft, damit nicht jedes Kind dieses schamlose und schmutzige Schauspiel sehen könnte. Ich atmete erleichtert auf, als wir die Menschen aus den Augen verloren, da unser Wachmann eine nähere Gasse einbog. Auf der „Fischbanka" erhielten wir unsere Ausweisungsdekrete und konnten nun gehen, wohin wir wollten, wir waren frei. Erst jetzt atmeten wir die Luft der Freiheit. Den Genossen aus Oberleutensdorf erwartete sein Weib an der nächsten Ecke der „Fischbanka". Das war die erste Freudenszene. Ich hatte den Genossen schon erklärt, daß ich gesonnen sei, ins „schwarze Bräuhaus" zu gehen, um mich zu überzeugen, ob in den weißen Wasserkrug drei Liter schwarzes Bier hineingehen. Sie waren einverstanden und gingen mit. Dort angekommen, ließ ich meinen Krug füllen, und wir waren heiter und guter Dinge, bis wir auseinander mußten, denn wir wollten jeder denselben Tag zu Hause sein. Wir nahmen herzlich Abschied voneinander, jeder mit dem heiligen Versprechen, für unsere Überzeugung auch fernerhin zu ringen und für die Wahrheit unserer Grundsätze einzustehen. Ich eilte dann auf den Bahnhof, und binnen kurzem ging es mit Dampfgeschwindigkeit den heimatlichen Bergen entgegen. Ich hatte keine Lust, mich mit meinen Reisegefährten zu unter159

halten, denn meine Gedanken weilten zu Hause bei Weib und Kindern. Allerhand dumme Gedanken gingen mir durch den Kopf, denn es kam mir so vor, als ob immer noch ein Unglück geschehen sollte, ehe ich zu meinen Angehörigen komme. Doch es ging glücklich vonstatten, und als es hieß: „Station Reichenberg", da war die ängstliche Furcht gewichen, und freundliche Bilder der Wirklichkeit rückten mir entgegen. Da stand mein liebes Weib und die Kinder gesund und blühend. Die Genossen hatten ihre heilige Pflicht erfüllt, meine Lieben hatten keinen Hunger gelitten, das sah ich auf den ersten Blick. Und nun umringten mich alle jubelnd, jedes wollte zuerst an die Reihe, und keines wollte mich gleich wieder loslassen. Ich mußte den Freudenrausch selbst dämpfen, indem ich den andrängenden Genossen erklärte, daß ich zu angegriffen sei, um einen solchen Sturm zu ertragen. Sie beruhigten sich auch bald und begleiteten mich bis zu meiner Wohnung, wo sie mir das Versprechen abnahmen, am nächsten Abende bestimmt im Vereinslokale zu erscheinen und über meine Freuden und Leiden genau zu berichten. Das war ein warmer und herzlicher Empfang. Ich war frei, und neue Tatkraft rieselte durch alle Glieder. Neue, feurige Gedanken durchzuckten mein Hirn, und ich gelobte mir, der Arbeitersache treu zu bleiben; und ich habe mir Wort gehalten, bis auf den heutigen Tag. Darum tue jeder seine Pflicht, es kann keiner genug tun für den Sieg der Wahrheit und Gerechtigkeit.

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DOKUMENTE

[Schlußwort auf dem ersten österreichischen arbeitertag in Brünn (Brno) i8go]

Textil-

Der Congreß ist über alle Erwartung gut ausgefallen. Ich muß gestehen, mir war vor der Durchführung etwas bange, und zwar weil dies der erste Versuch war und die Verhandlungen in beiden Landessprachen geführt werden mußten; doch es ist besser gegangen, als ich es dachte. Wir in Reichenberg vertragen uns schon seit zwanzig Jahren mit unseren cechischen Freunden. Und dann sind wir ja auch auf der „Hochschule" zu Prag mit ihnen zusammengekommen. Wenn in irgend einem Dorfe sechs bis sieben Arbeiter zusammengekommen sind, so habe man gedacht, es geht Alles außer Rand und Band. In Prag sind wir sehr Viele zusammengekommen, dort haben wir uns „auf der Luft" und in den Zellen gegenseitig berathen können, und das trägt heute seine Früchte. Gegenwärtig weht wieder ein etwas milderer Wind, folglich müssen wir trachten, daß wir das Werk der Organisation zu Stande bringen. Man hält uns für staatsgefährlich, und doch thun wir nichts Anderes, als daß wir dem verblendeten Reiter Capitalismus, der sein Roß, die Productionsweise, nicht lenken noch zügeln kann, in die Zügel fallen und ihm zurufen: Ueber Hunderttausende von armen Menschen sprengst du einem Abgrunde zu; du bist das Verderben der Menschheit und brichst dir selbst den Hals! und hört er nicht, so muß unsere Macht ihn hemmen. Heute ist es noch Zeit, auf die von uns gemachten Vorschläge einzugehen und in die von uns dargereichte Hand einzuschlagen. Doch wie dem auch sei, wir müssen trachten, das Werk der Organisation zu vollenden. Ich kann Sie versichern, es ruht in guten Händen, denn wir Böhmen haben bekanntlich gar harte Köpfe; es steckt noch etwas von dem alten Geiste Zizkas in uns. Es kann auch sein, daß die Zügel über kurz oder lang wieder etwas strammer angezogen werden und wir uns abermals etwas tiefer bücken müssen, um durch die Thür hindurch zu kommen. Das macht nichts, diese Periode dürfte eben13

Josef Schiller

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falls wieder vorübergehen und die gefesselten Geister erwachen auf's Neue und die Menschheit kommt dann mit einem Ruck ein gewaltiges Stück nach aufwärts. Es ist Herbst und die Ernte ist vorbei. Was haben Sie geerntet? Ein paar Kartoffeln, welche der Fabrikant mitessen hilft, indem er auf Kosten der elenden Kartoffelernte den Lohn drückt. Auch mein Vater war ein armer Weber und baute sich einige Kartoffel an. Und wir Kindergingen zur Zeit der Kartoffelernte hinaus auf's Feld, machten ein kleines Feuer und brieten uns einige Kartoffeln. Das war immer ein Jubeltag für uns Kinder. Und wenn das Feuerchen nicht brennen wollte, dann kamen die Mädchen und machten mit ihren Schürzen Wind und wir Jungen bliesen hinein, bis es brannte. Das müssen Sie auch machen. Sie müssen, wenn Sie nach Hause kommen werden, anblasen, daß das kleine Feuer zur hellen Begeisterungsflamme für unsere gute Sache wird; denn es gilt heute eben mehr, als einige Kartoffeln. — Hiermit erkläre ich den Congreß für geschlossen. (Stürmischer Beifall.)

[Diskussionsrede auf dem zweiten Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Wien, 28.—30. Juni 1891] Genossen und Genossinnen! Dieser Punkt ist wohl einer der wichtigsten auf der Tagesordnung, und ich muß wirküch gestehen, daß ich gedacht habe, daß er viel ausführlicher behandelt werden könnte. Es ist so, wie ein Redner zu Anfang des Parteitages sagte : Es wird gepeitscht werden und es wird auch gepeitscht. Wir werden auch nicht ganz klar nach Hause gehen. Auf was basirt eigentlich die ganze Organisation jeder Partei, jeder socialdemokratischen Partei. Die Grundlage der Organisation ist und bleibt die Agitation und die haben wir bei uns in Oesterreich verhältnismäßig noch gar nicht geregelt, besonders in der Provinz. Wir finden sehr oft, daß sehr viele Fehler geschehen sind, weil die Agitation nicht geregelt ist. Wir brauchen in Böhmen böhmische Redner, in Wien deutsche Redner, in italienischen Bezirken deutsche Redner, in deutschen Bezirken italienische Redner und umgekehrt. In Galizien brauchen sie 164

deutsche Redner und wir brauchen in manchen Gegenden polnische Redner. Das ist aber noch gar nie in Betracht gezogen worden. Ich agitire schon ziemlich lange Zeit und ich habe da: die Bemerkung gemacht, daß wenn wir die Redner planmäßig, systematisch mischen könnten, und zwar mischen, daß nicht ein Agitator in einem Provinzorte 20 Jahre mit seinem alten Werkel herumleiert, im Gegentheil der vielleicht mit seiner Walze in andere Provinz geht, daß wieder dorthin ein Fremder kommt, wir bedeutend größere Erfolge erzielen würden, da wenn die Leute, wenn sie Einen hören können, der noch nicht dort gewesen ist, eher hinkommen, um sich ihn anzuhören. Ich wünschte, daß wir hierauf Rücksicht nehmen könnten und ich versichere Ihnen, daß wenn die Agitation so eingerichtet sein wird, auch die Mittelfrage sich leichter regeln läßt. Durch diese Art der Agitation — in der Weise haben hauptsächlich die Pfaffen agitirt und organisirt — wird das Interesse der Bevölkerung geweckt, da kommen auch die Mittel eher herein, die Leute sind nicht so karg und selbst ein Bettler ist imstande etwas dafür zu leisten. Bis heute aber — das muß ich gestehen, wir sind ja da, uns die Wahrheit zu sagen — können wir sagen, daß es einzelne Orte und Städte in Oesterreich gibt, wo die Redner und Agitatoren ziemlich bequem sind. Wo sie nicht leicht hinkommen können, da gehen sie nicht hin, und das soll nicht sein, denn wer sich für unsere Idee opfert, der muß auch als Agitator hingehen, mag es sein, wo es will. Wir in Nordböhmen haben das immer durchgeführt, wir laufen ins Gebirge, dorthin wo es keine Eisenbahn und keine Tramway gibt, wir gehen eben. Also sehen Sie, das ist das Wichtigste. Was die Mittel zur Agitation betrifft, hat der Referent erklärt, daß diese möglichst centralisirt werden sollen, daß der Agitationsfonds an einem bestimmten Punkte zusammenfließen soll. Das halte ich nicht für richtig. Meine Freunde! Ich habe die feste Ueberzeugung und Erfahrung, daß man soviel wie möglich kleine Kreise interessiren soll, verstehen Sie, was die Geldmittelfrage betrifft. Wie man aber die Geldmittelfrage über den ganzen Staat organisiren will, verliert sich das Interesse dafür. Es ist gerade so, wie wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen; wo er hineinplumpt, macht er ein Loch; aber je weiter die Wellen gehen, desto kleiner werden sie, bis sie schließlich ganz verschwinden. Es mag ganz richtig sein mit der Darlegung von dem, was geschehen soll und was zu geschehen hat. Aber 13'

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ich glaube, daß, wie wir es bis jetzt gemacht haben, mit dieser freiwilligen Beisteuer, daß jeder Ort, jeder Bezirk, jedes Land für die Agitation, für die Mittel, welche aufgebracht werden müssen, daß die dortselbst aufgebracht werden müssen, es besser ist, als wenn wir sagen, es soll das, was gebraucht wird bei der Partei an einem Platze zusammenkommen, das ist meine Meinung, weil man überhaupt mehr Interesse daran hat, wo man direct berührt wird. Was die Presse betrifft, so constatire ich, daß die Verhältnisse in Oesterreich sehr schwierige sind. Laut unserer Preßgesetzgebung nämlich ist ein socialdemokratischer Schriftsteller oder Autor, der im Interesse unserer Partei etwas herausgibt, schlechter daran in Oesterreich als ein Falschmünzer. Das constatire ich nach dem, was mir passirt ist. Ein Falschmünzer kann tausend falsche Silbergulden prägen und er kann sie an fünfzig Stellen ausgeben, er wird e i n m a l bestraft wegen Falschmünzerei. Ich bin aber als Herausgeber des „Freigeist" und Herausgeber von verschiedenen Schriften öfters bestraft worden. Weil ich als Herausgeber Abonnenten für den „Freigeist" sammle und Geld übernehme. Weil ich meine Gedichte und Broschüren auf 20 oder 30 Stellen v e r k a u f t habe, werde ich zwanzigmal, wenn's sein kann, bestraft, wegen eines und desselben Dinges. Ich darf weder meinem Bruder, noch meiner Schwester oder irgend wem, wenn ich zu ihm auf Besuch komme, das Ding schenken. Ich darf auch nicht sagen, das habe ich gemacht, ich freue mich darüber, daß ich es gemacht habe, ich möchte es ihm gerne geben, ich hätte es gerne mitgebracht, aber ich darf es nicht. In d i e s e r B e z i e h u n g s o l l t e n w i r e i n m a l S t u r m laufen und den Leuten es klar machen, was da geschieht, und wir werden uns die Sympathien der ganzen Welt erwerben, wenn wir zeigen, daß wir in Bezug auf die Presse in Oesterreich schlechter behandelt werden als die Falschmünzer. Was den letzten Punkt betrifft, betreffs der Frauen, so unterstütze ich es vollkommen, daß die Frauen in preßlicher Beziehung in irgend einer Weise unterstützt werden. Ich bin fertig. (Beifall.)

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Brief an einen Freund Germania, am 25. Juli 1897. Liebe das Herdentier, aber fliehe vor der Herde und Du wirst gesund sein an Geist und Körper!

Freund Preibisch! Das war gestern ein Tag der Freude für mich verlassenes Einhorn. Nachmittags um 2 Uhr, als ich eben einen breiten, matratzenartigen Sack mit frischem, weichen Heu gestopft hatte und die letzten roten Rosen, 10 Stück, an einem grünen, jungen Goldregenbaum befestigt, welcher als Willkommen für mein Weib und Fritz in der guten Stube meiner Hütte stand, kam ein Mädchen und ein Knabe den Berg hinauf und zu mir in den Schlafraum. Was bringt ihr? frug ich etwas barsch. Da schössen dem Jungen die Tränen aus den Augen und nun erkannte ich meinen Fritz. Er hatte Gelegenheit gehabt, mit einem Manne von der Station in einem leichten Wagen bis hierher zu fahren und kam so drei Stunden früher wie mein Weib, welches erst gegen 5 Uhr mit dem Gepäckwagen nachgehumpelt kam. Meinem Jungen gefällt die alte Bude mit dem kleinen Acker und Obstgarten ausgezeichnet sowie die wildromantische Ausstattung von Fellen, Fasanfedern, Baumstämmen usw. Mein Weib dagegen hatte gar keine Freude, weder an den 10 roten Rosen, an dem prächtigen, bis an die Stubendecke ragenden Baume, noch an dem frischen, breiten Strohsack, welcher für die neue Heimat frisch mit Heu gefüllt war. Sie schaute sich die von mir aus ungehobeltem Holze verfertigten Möbel an, zwei Bettgestelle, ein Tisch, eine Bank, zwei wacklige Stühle ohne Lehne und anderes Gerümpel mehr. Nur mein Waschkasten hatte Gnade vor ihren Augen gefunden, denn darin befindet sich schöne Leibwäsche und es versteht sich, von mir selbst gewaschen. Ihre Augen wurden aber bedenklich groß, als sie sich umsah und in beiden Wohnräumen keinen Ofen sah. Ich führte sie unter den schattigen Obstbäumen bei dem leider leeren Schafstalle vorbei und zeigte ihr meinen eigenen Herd, den Ofen, den ich mit eigener Hand gebaut. Ich sage nur soviel, in ganz Pennsylvanien gibt's ein solches Kochkunstwerk nicht mehr zu finden. Ich kann braten und kochen, daß mir 167

Herz und Magen lacht und habe keine Hitze im Zimmer. Aber ein Weib (das Wort fängt schon mit W an) ist wehmütig. Mein Weib betrachtete diesen meinen stillen Wohltäter, welcher mir schon 15 Erdschweinchen (Dachse) gesotten und gebraten, mit schiefen Blicken und meinte, dies sei „zigeunermäßig". Wenn ich vor 50 Jahren den ersten Ansiedlern solche Öfen gebaut hätte, ich wäre heute ein berühmter Mann. Aber rede doch mit einem Weibe über einen Ofen und die wird Dich richten! Der Meter Ofenröhre ist aus Südgermania, der Blechtopf, wo die Röhre wind- und wetterfest sitzt, ist aus der „Krik", der größte Forellenfluß hier. Die Platte ist ein Stück feindurchlöcherten, eisernen Gartentores, die schlanken, runden Eisenstäbe sind von einem zerbrochenen Wagenrade, das Ofentürel ist von Gußeisen und ich habe es so genau in die Steine gemauert, aus demselben Kitt, mit welchem der Schöpfer die E v a gebaut, aber gerade wie bei dieser bleibt auch in meinem Ofen das Türlein nicht zu. Und so ein unsterbliches Werk nennt mein eigenes Weib „zigeunerhaft". Du wirst Dich wundern, weshalb ich über meinen Feldofen so viel schreibe. J a , alter Freund, in Amerika ist der Ofen das wichtigste, wenn man ein Weib nimmt. Denn hier gibt Dir kein Hauseigentümer einen Ofen, Du mußt den Ofen gerade so mitschleppen wie jedes andere unentbehrliche Einrichtungsstück. Mein Ofen bleibt aber stehen und noch lange werden die Bewohner im Tale sagen: „Dort oben, da steht er so frank und frei, Der Ofen von Schiller Seffs Einsiedelei!" XJnd nun zu etwas anderem. Dein und Stumpes Schreiben sowie ein Brief von Barthel ist uns gleichzeitig gestern eingehändigt worden. Ich habe Dir und Deiner Familie zu Weihnachten einen Brief gesandt. Hast Du ihn nicht erhalten? Zur Sache! Ich glaube es Dir recht gern, daß Du und Dein liebes Weib oft an mich gedacht, denn Ihr habt ja oft meinen Übermut ertragen, aber ich bin, wie Ihr merken könnt, nicht besser geworden. Was das Alt werden betrifft, so sage ich Dir, Heber Freund, bin ich hier jetzt wieder jung geworden, denn ich habe mich wieder freuen gelernt, an ganz kindlichen Dingen. Auf meinen langjährigen Magenstreik, welcher immer gegen mich rebellierte, ist nun stiller Friede eingetreten und ich kann nun

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alles essen, was vor den Schnabel kommt. Wenn es Dir also auch so schmeckt und bist auch so gesund wie ich, so sind wir beide noch nicht alt. Was wir durchlebt und wie wir ringen mußten, dies haben die Jungen nicht nötig: Wir haben das Feld der Arbeiterbewegung mit heiliger Jugendbegeisterung urbar gemacht und die Idee der Menschenbefreiung ist durch die scheinbar unüberwindlichen Hemm- und Hindernisse mit unserem inneren Wesen verwachsen: Die Jüngeren (wenigstens die Mehrzahl) sehen auf dem von uns bebauten Felde die Ideen nur wie die Schmetterlinge herumfliegen und denken auch dieselben so leicht zu erhaschen wie solche. Aber doch wie gesagt, gehe allein und Dein Gemüt wird wieder leichter und heiter werden. Was mich betrifft, so habe ich wohl jetzt die schönsten Tage meines Lebens gehabt, hier auf der luftigen Anhöhe, in der Nähe des Urwaldes. Mein kleiner Garten und Acker gaben mir täglich eine kleine Beschäftigung. Andere Arbeit habe ich seit drei Monaten wenig gehabt. Es gibt eben nur Farmer hier und die machen sich ihre Feldarbeit selbst. Ich habe wöchentlich einen Taler zum Leben gebraucht, soviel Geld hatte ich, um bis zur Kartoffelernte auszuhalten. So lebte ich wie ein freier Hirsch und durchstreifte Feld und Wald. Ganz, wie es mir beliebte, konnte ich ruhen und rasten, wenn es mir nötig schien, denn meine Arbeit nahm mir niemand ab. Jetzt ist die Herrlichkeit zu Ende, denn sobald man wieder mit einem Weibe lebt, beginnt auch die Sklaverei. — Was dann geschieht, wenn das Rauschen des Urwaldes stärker wird durch die anrückenden Stürme des Winters, das wissen die Götter: „Zeit und Zufall!" Ewig langweilig ist's im Winter hier und nichts, aber rein gar nichts zu verdienen. Aber ich mache mir keine großen Sorgen und genieße in vollen Zügen, was mir die Gegenwart bietet. Ich hoffe und wünsche Dir vom Herzen ein ebenso leichtes Blut und heitern Sinn, wie ich mir ihn hier an der gesunden Brust der mich umgebenden urwüchsigen Schönheit der Natur angetrunken habe. Tausend herzliche Grüße an Dich und Deine Lieben und Allerliebsten sowie an alle, die sich noch erinnern an den treuen, groben Seff. 169

Bericht aus Germania über Josef Schillers Tod Freunde und Genossen! Indem ich bei meiner Abreise von vielen Parteigenossen aufgefordert wurde, ihnen bekannt zu geben, wie es mir gehe und wie die Verhältnisse hier sind: Die Lebensprodukte sind hier bedeutend billiger wie in Böhmen. Die Kleidungsstoffe haben denselben Preis wie bei Euch. Meine Arbeit ist Holzmachen und Bodenarbeit. Wenn ich arbeiten tu, verdiene ich mir die Kost und 3—4 Dollar die Woche. Die Arbeit ist hier etwas anstrengender wie bei Euch. Aber eine Stunde weniger. Die Kost ist vielmal besser wie bei Euch. Meine Erlebnisse sind bis jetzt dies die traurigsten gewesen: Daß ich eines Abends, als ich aus dem Walde kam und in meine Heimat eintrat, wurde ich von meiner Frau gefragt, ob ich schon eine Neuigkeit erfahren hätte. Ich frug: „Was gibt es?" Meine Frau sagte: „Erschrick Du nicht, dein Freund Schiller ist tot." Ich eilte dann in mein Zimmer, überzog mich etwas und wollte dann zur Leiche eilen. Mein Wirt forderte mich auf, weil es hier Mode und Gebrauch ist, daß die Gemeinde bei jeder Leiche zwei bis drei Nachtwächter anstellen; so sagte er: „Sie waren jetzt sein bester Freund, Sie sollten es tun." Unterwegs wurde ich von einem reichen Bräuer aufgefangen, der mich ebenfalls um den Nachtwächterdienst ansprach. Denn sehr wenige waren, die den Mut hatten, zu ihm zu gehen. Bis 11 Uhr abends waren wir acht; als ich im Zimmer war, verschwand der fünfte, um 12 Uhr verschwand der sechste; nur ich und ein ernsthafter Amerikaner waren noch. Dessen seine Kurage dauerte bis früh 1I2 3 Uhr, dann verschwand er auch. Seine Frau und sein Kind waren unten im Tale bei einem reichen Schmiedemeister in Logis. Ich war der einzige mit Seifen dann im Haus. Seine Beschäftigung war in zwei Zeitungen, die politische Ideen verfolgten, Artikel zu schreiben und Gedichte. Separat hat er noch ein kleines Grundstück von zirka einem Scheffel zu versorgen, wofür er zwei Dollar den Monat für Grund und Haus zahlte. Darauf hatte er verschiedenes gepflanzt. Den vierten Teil hat er mit Kartoffeln bebaut, den achten Teil wieder mit Bohnen bepflanzt und wieder so einen Teil hat er mit Buchweizen und Kukuruz bebaut; auch hatte er zwölf Apfelbäume. Um sein Feld herum hatte er Hollundersträucher, wovon er gesonnen war, zum Herbste von den Beeren Wein zu machen. Dies war seine Fürsorge für den Winter. Im mittelsten Garten 170

hatte er seinen aus Steinen zusammengesetzten Ofen. Seine Kochgeschirre waren zwei alte Blechtöpfe und ein aus Holz geschnitzter Löffel. Sein Messer war ein alter Schusterkneip. Sein Werkzeug zum Feldbau war ein zwiselförmiger Baumast, der mit einem Querbalken verbunden war. Durch den Querbalken hatte er verschiedene Nägel geschlagen. Diese bildeten den Rechen. Ein schweres Stück Eisen, worin in der Mitte ein Loch war, hatte er sich einen Stiel hinein gemacht: dies bildete seine Hacke. Im Zimmer hatte er von Brettern zusammengeschlagen einen Schreibtisch. Er hatte auch zum Essen so einen ähnlichen Tisch. Zum Schlafen hatte er eine zusammengenagelte Pritsche und einen Strohsack, mit Heu gefüllt. Zum Decken hatte er vier Wolldecken. Zum Sitzen hatte er eine Holzbank. Seine Bilder im Vorzimmer waren 1 3 Dachshäute, die er von den Bauern geschenkt hatte. Die wollte er zum Winter ausgerben, um für seine Frau und Fritz einen Pelz zu machen. In der Wohnstube hatte er einige Photographien verschiedener Baumstämme an die Wand genagelt. Einige leere Vogelnester. Neben dem Bette hatte er einen ungefähr 2 Meter hohen grünen Baum. Dies war eine Traueresche. Seine letzte Arbeit war drei Grabtafeln zu schreiben in seinem Sinne und ein Gedicht. Ich habe dies Gedicht im Besitze. Es titelte sich: Die rote Kuh. Die letzte Strophe war: „Auch mir gefällt das starke Tier. Und ganz im stillen denk' ich mir: O, armes Volk, wenn wirst auch du einmal so klug wie diese Kuh." Er sollte auch ungefähr den 29. August im Pufflo noch in einer Großstadt bei einer politischen Zeitung als Agitator und Artikelschreiber eintreten. Er konnte auch schon so ziemlich Englisch. Bei meiner Ankunft begrüßte er mich freundlich mit den Worten: „Servus, Kleiner! Wieder einen Freund aus meiner Heimat." Den zweiten Tag besuchte ich ihn auf seinem hundert Meter hohen Berge. Er zeigte mir seinen Garten, seine verschiedenen Früchte, seine verschiedenen Werkzeuge, seine Möbel, seine Manuskripte, die er geschrieben hatte. Als wir eine Weile geplaudert hatten, sagte er „Komm, wir gehen in den Wald!" Da erzählte er mir seine verschiedenen Erlebnisse und sagte: „So geht es einem Freiheitskämpfer, der mit leerer Tasche in den Kampf zieht und nur an seiner Überzeugung festhält. Ich will jetzt ein Jahr lang meinen Erbfehler — kurieren." Vier Monate lang, kann ich Euch nachweisen, daß er von seiner Leidenschaft — nicht Gebrauch gemacht hat. „Wenn ich werde dies überstanden haben und ein Jahr in der Öffentlichkeit gekämpft

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haben werde, dann bin ich gesonnen, nach Wien zu reisen und die verschiedenen Parteien von einer neuen Idee anzufeuern." Josef Schiller sei den 17. August gestorben und den 18. beerdigt. E r hatte einen schönen Sarg, der kostete 18 Dollar. Sechs Mann trugen ihn den Berg herunter. Und dann auf den Leichenwagen. 39 Personen begleiteten ihn bis zum Grabe. Der Arzt konstatierte, er sei am Herzschlag gestorben. Die Amerikaner sind gesonnen, ihm ein Denkmal zu setzen. Ich bitte, sprecht Ihr Euch aus, ob Ihr was beitragen wollt. Meine Adresse lautet: Mr. Franz Hermann, Germania Totter Co., Pennsylvania.

ANMERKUNGEN

Abkürzung GW

Schiller Seff: G e s a m m e l t e W e r k e . H g . v. d e r Z e n t r a l e n L i t e r a t u r k o m m i s s i o n der K P C . Mit einer einleitenden A b h a n d l u n g „Schiller Seff u n d die Geschichte der n o r d b ö h m i s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g " v o n P a u l R e i m a n n . Reic h e n b e r g 1928. E i n e tiberarbeitete F a s s u n g der einleitenden A b h a n d l u n g ist u n t e r d e m Titel „Schiller Seff u n d die A n f ä n g e der n o r d b ö h m i s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g " abged r u c k t i n : P a u l R e i m a n n : Von H e r d e r bis Kisch. Berlin 1961, S. 5 3 - 9 3 -

Anmerkungen zur

Einleitung

1 Zur Geschichte der österreichischen u n d speziell der n o r d b ö h m i schen A r b e i t e r b e w e g u n g vgl. vor a l l e m : H e r b e r t S t e i n e r : Die A r b e i t e r b e w e g u n g Österreichs 1867—1889. B e i t r ä g e zu ihrer Geschichte v o n der G r ü n d u n g des W i e n e r A r b e i t e r b i l d u n g s v e r e i n e s bis z u m E i n i g u n g s p a r t e i t a g in H a i n f e l d . W i e n 1964 (Veröffentlichungen der A r b e i t s g e m e i n s c h a f t f ü r Geschichte der Arbeiterb e w e g u n g in Österreich. B d . 2); L u d w i g B r ü g e l : Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Bde. 1—5. W i e n 1922—1925; E m i l S t r a u ß : Die E n t s t e h u n g der d e u t s c h b ö h m i s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g (Geschichte der d e u t s c h e n S o z i a l d e m o k r a t i e B ö h m e n s bis 1888). P r a g 1925; J i r i K o f a l k a : Ü b e r die A n f ä n g e d e r Z u s a m m e n a r b e i t zwischen der A r b e i t e r b e w e g u n g in D e u t s c h l a n d u n d in d e n b ö h m i s c h e n L ä n d e r n . I n : Aus 500 J a h r e n d e u t s c h tschechoslowakischer Geschichte. H g . v. K a r l O b e r m a n n u n d Josef Poliäensky. Berlin 1958, S. 299—330 (Schriftenreihe d e r K o m m i s s i o n d e r H i s t o r i k e r der D D R u n d d e r C S R . H g . v. K a r l O b e r m a n n u n d Josef Poliäensky. B d . 1); K a r l O b e r m a n n : Z u r Geschichte der d e u t s c h e n u n d der t s c h e c h o s l o w a k i s c h e n Sozialdemokratie u n d ihrer freundschaftlichen Beziehungen i m 19. J a h r h u n d e r t . I n : Aus 500 J a h r e n d e u t s c h - t s c h e c h o s l o w a kischer Geschichte, a. a. O., S. 331—370; Giesela N e u h a u s :

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Die Haltung der deutschen Sozialdemokratischen Partei zu den Auseinandersetzungen des österreichischen Proletariats im Ringen um die Schaffung einer revolutionären Klassenpartei (1871—1874). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin J g . 1 7 (1975) H. 3, S. 489—503; Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart. Redaktion: Horst Köpstein. Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Sonderband IV. Leipzig 1964. 2 Vgl.: Die großartige Arbeiterdemonstration in Wien. I n : Der Vorbote. Politische und sozial-oekonomische Monatsschrift. Zentral-Organ der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassociation. Redigirt von Joh. Ph. Becker in Genf. J g . 4 (1869) Nr. 12, S. 1 8 8 - 1 9 2 . 3 Zur Geschichte Nordböhmens vgl.: Albin B r ä f : Studien über nordböhmische Arbeiterverhältnisse. Prag 1881. Zur Geschichte Reichenbergs vgl.: Hermann Hallwich: Reichenberg und Umgebung. Eine Ortsgeschichte mit spezieller Rücksicht auf gewerbliche Entwicklung. Reichenberg 1874. Zur Geschichte der nordböhmischen Arbeiterbewegung vgl. auch: Josef Hannich: Erinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Warnsdorf o. J . ; Eduard Rieger: Nordböhmische Reminiszenzen. I n : Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift. J g . 2 (1908/09) Wien 1909, S. 158—164; Robert Preussler: Erinnerungen aus der Arbeiterbewegung. In: Der Kampf, a. a. O. J g . 3 (1909/10) 1910, S. 469—475; Anton Kühnel: Aus der Parteigeschichte des Karbitzer Gebietes. I n : Der Kampf, a. a. O. J g . 4 ( 1 9 1 0 / 1 1 ) 1 9 1 1 , S. 184—188; Adolf Reitzner: Wie es einst war. I n : Der Kampf, a. a. O. J g . 5. ( 1 9 1 1 / 12) 1912, S. 176—182; Anton Behr: Aus den Anfängen der Arbeiterbewegung in Nordböhmen. In: Der Kampf, a. a. O. J g . 5 ( 1 9 1 1 / 1 2 ) 1912, S. 223—226; Jiri Koralka: Vznik socialisticköho dSlnickeho hnuti na Liberecku. Liberec 1956 [in tschechischer Sprache, mit knappem Resümee in deutscher Sprache]. 4 Andreas Scheu: Umsturzkeime. Erlebnisse eines Kämpfers. Zweiter Teil: Werdegang. Wien 1923, S. 3 1 . — Andreas Scheu (1844—1927), Funktionär der österreichischen und der internationalen Arbeiterbewegung, Schriftsteller, vor allem Lyriker. 5 Vgl.: Hannich. a. a. O., S. 8, und Paul Reimann: Schiller Seff und die Geschichte der nordböhmischen Arbeiterbewegung. I n : GW, S. 33. — Josef Hannich (geb. 1843 in Rosenthal bei Reichenberg in Böhmen), gelernter Tuchmacher, Redakteur

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verschiedener sozialdemokratischer Blätter, Lyriker, Reichsratsabgeordneter. Vgl.: Hannich. a a. O., S. 9, und Reimann. a. a. O. Hannich. a. a. O., S. 30. Sozialpolitische Rundschau. Reichenberg i877ff., 1877—78 und noch einmal ab 1879 Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie. Josef Schiller gab sie 1879—80 heraus. Zwischendurch (1878—79) fungierte der „Sozialist", Wien, als Zentralorgan. 1879—80 hatte der „Volksfreund", Reichenberg, diese Funktion. Der Arbeiterfreund. Reichenberg/Prag (Druck bei J . R . Wilimek in Prag) 1874—82. Reimann. a. a. O., S. 44. Josef Schiller: Gedichte. Im Verlage des Verfassers. Reichenberg 1880 (Druck bei J . R. Wilimek in Prag). 68 S. Vgl. S. 109 dieses Bandes. Der Radikale. Reichenberg 1883—85. Josef Schiller: Die Wahrheit im Kampfe mit Lüge und Unverstand! 1880. Abgedrucktin: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das J a h r 1885. Hg. v. A. Behr. Reichenberg 1885, S. 55—61, und in: GW, S. 211—221 (unter etwas verändertem Titel: Kampf der Wahrheit mit Lüge und Unverstand). [Ausgewählte Gedichte] in vier Heften. Im Selbstverlag des Verfassers. Druck bei Carl Ther in Reichenberg. 1885 (jeweils 16 S.) [d. i. erweiterte Ausgabe des Gedichtbandes von 1880]. — Josef Schiller: Gedichte (eigentlich: Gedichte. Hg. v. Josef Schiller). Im Selbstverlage des Verfassers. Druck bei Carl Ther in Reichenberg. 1885 (oder 1886) [das sind: Gedichte aus dem Gefängnis]. — Josef Schiller: Lustige Gedichte. Reichenberg[?] 1885. — Josef Schiller: Der Mensch im Thierreiche. Humoristische Vorlesung. Reichenberg[?] 1885 (3. Auflage: 1890). Reimann. a. a. O., S. 66. Freigeist. Reichenberg 1890 ff. Erschien im „Freigeist", Reichenberg 1890—91. Erschien im „Freigeist" 1890. Ebenfalls noch 1890 in Buchform, im Selbstverlag des Verfassers in Reichenberg, erschienen. Die Maulschelle. Reichenberg 1891 ff., erschien zeitweilig unter dem Namen „Der Spottvogel". Strauß, a. a. O., S. 210—211. Franz Hermann: Bericht aus Germania über Josef Schillers Tod. In: GW, S. 481—482. Abgedruckt in diesem Band, S. 171—172. Preussler. a. a. O., S. 470—471. — Robert Preussler (geb. 1866 in Antoniwald in Böhmen), Funktionär der österreichischen Arbeiterbewegung, insbesondere der Gewerkschaftsbewegung, Lyriker, Redakteur und Redner. 175

24 A n t o n B e h r : E r i n n e r u n g e n a n Josef Schiller. I n : G W , S. 518.— A n t o n B e h r (geb. 1854 in Oberleutensdorf in B ö h m e n ) , F u n k t i o n ä r u n d A g i t a t o r der österreichischen A r b e i t e r b e w e g u n g , R e d a k t e u r u n d H e r a u s g e b e r sozialdemokratischer P a r t e i b l ä t t e r , L y r i k e r . Z u s a m m e n m i t Schiller Seif g a b er die Z e i t u n g „ D e r R a d i k a l e " , Reichenberg, h e r a u s . E r lebte zeitweilig in D e u t s c h land. 25 E b d . , S. 519. 26 A n t o n B e h r : Josef Schiller u n d seine Stellung in der n o r d b ö h m i s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g . I n : GW, S. 501—502. 27 K a r l G ü n z e l : Schiller Seff als A g i t a t o r . I n : GW, S. 513—514. 28 Josef B e r a n e k : Meine Beziehungen zu Josef Schiller. I n : G W , S. 508. 29 Preussler. a. a. O., S. 471. 30 B e h r : Josef Schiller u n d seine Stellung in d e r n o r d b ö h m i s c h e n Arb e i t e r b e w e g u n g . I n : G W , S. 506. 31 Ebd. 32 V g l . : V o r w o r t . I n : G W , S. 3. 33 H e i n r i c h B a r t h e l : Josef Schiller. I n : Die F r e i h e i t . Teplitz, v o m 9. 9. 1897, S. 1—2. — H e i n r i c h B a r t h e l (geb. 1874 in R e i c h e n berg in B ö h m e n ) w a r Schwiegersohn Schiller Seffs, d u r c h d e n er f ü r die n o r d b ö h m i s c h e bzw. österreichische A r b e i t e r b e w e g u n g g e w o n n e n w u r d e , der er als R e d a k t e u r u n d V e r s a m m l u n g s r e d n e r diente. E r w a r L y r i k e r u n d H e r a u s g e b e r d e r G e d i c h t s a m m l u n g „ N o r d b ö h m i s c h e K l ä n g e " (1897). S p ä t e r l e b t e er in d e n U S A , wo er sich in ä h n l i c h e r Weise in d e r A r b e i t e r b e w e g u n g betätigte. 34 Vgl. d a s G e d i c h t „ D e r W e g z u m besseren L e b e n " , S. 24 dieses Bandes. 35 Vgl. d a s G e d i c h t „Die v i e r t e Klasse", S. 30 dieses B a n d e s . 36 Vgl.: Die W a h r h e i t i m K a m p f e m i t L ü g e u n d U n v e r s t a n d ! A b g e d r u c k t i n : a. a. O. 37 Josef Schiller: Selbstbefreiung. R e i c h e n b e r g [1889]. Abged r u c k t i n : F r ü h e s d e u t s c h e s A r b e i t e r t h e a t e r . 1847—1918. E i n e D o k u m e n t a t i o n v o n F r i e d r i c h Kniiii u n d U r s u l a M ü n c h o w . (München und) Berlin 1970, S. 202—208. 38 Vgl. S. 1 0 1 dieses B a n d e s . 39 R e i m a n n . I n : G W , S. 49.

Anmerkungen zu den Texten und

Dokumenten

Alle T e x t e — a u s g e n o m m e n zwei D o k u m e n t e — w u r d e n n a c h G W a b g e d r u c k t . Die O r t h o g r a p h i e w u r d e n a c h d e m D u d e n korrigiert, desgleichen — a b e r vorsichtig u n d u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g stili-

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stischer Eigenheiten — die Interpunktion. An den Dokumenten wurden v o m Herausgeber dieses Bandes keine Korrekturen vorgenommen. S. 3 In der Fabrik: Veröffentlicht am 11. 8. 1917 im „Vorwärts", New Y o r k , anläßlich des 20. Todestages des Autors. S. 3 guten großen Vater: Johann Liebieg (1802—1870), Reichenberger Fabrikant der Textilbranche. S. 5 Das Sklavenjoch: 1869 entstanden. Offenbar fragmentarische Fassung, handschriftlich mitgeteilt v o m Arbeiter Gahler. S. 7 Retten kann's der Vater nicht: Anmerkung in G W : „ N a c h diesem Vers ist scheinbar eine größere Lücke in unserer Fassung." S. 7 Die Schranke der Freiheit: 1869 entstanden. S. 9 Sehnsucht nach der Heimat: 1869 entstanden. S. 10 Der Konfessionslose: 1870 entstanden. S. 12 Die Buße: 1872 entstanden, handschriftlich mitgeteilt von Josef Beranek. Für dieses Gedicht erhielt der Autor eine achttägige Arreststrafe. S. 15 mein Schwiegervater: Die letzten fünf Zeilen dieses Gedichtes waren von den tschechoslowakischen Behörden 1928 in der zweiten Lieferung der G W konfisziert worden. Sie fehlen in der Ausgabe der G W , die uns als Quelle diente (S. 120). Auf der Seite 222 dieser Ausgabe findet sich aber folgende, „Die Konfiskation der Schiller-Seff-Ausgabe im Parlament" überschriebene, Notiz: „ I n der Sitzung des Abgeordnetenhauses v o m 22. März 1928 beschäftigte sich der Abgeordnete Genosse Elstner in seiner Rede mit der Konfiskationspraxis in der Tschechoslowakei. Als Beispiel hiefür führte er auch die Konfiskation der Ausgabe der Werke von Schiller Seff an und betonte, daß diese ein Beispiel sei, daß in der Tschechoslowakei auch gegenüber wertvollen Werken der K u n s t nicht die geringste Rücksicht geübt werde. E r zitierte darauf folgende fünf Verszeilen aus dem Gedichte ,Die Buße' von Schiller Seff, die in der zweiten Lieferung konfisziert worden sind: Dann ist j a Christus gar mein Schwager! Und sind sie Gottes Töchterlein, Dann wird mir Gott schon selbst verzeih'n. Dann brauch ich E u c h nicht mehr, Herr Pater, Da ist j a Gott mein Schwiegervater! Unsere Ausgabe wird auf diese Weise nicht nur zu einem Kulturdokument der alten österreichisch-ungarischen Monarchie, sondern auch der tschechoslowakischen Republik." S. 16 S. 18 S. 20

Der Weichensteller: 1874 entstanden. Frühlingsgedanken: Bis 1880 entstanden. Die Christnacht: Bis 1880 entstanden.

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S. 23 S. 28 S. 30 S. 32 S. 33

S. S. S. S.

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S. S. S. S.

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S. 42 S. 44 S. 46 S. 46 S. 47 S. 48 S. 49 S. 50 S. 51 S. 56 S. 59

S. 82

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Der Weg zum besseren Leben: Bis 1880 entstanden. Die vierte Klasse: 1879 entstanden. Der Weihnachtsabend: A b g e d r u c k t in: Der Radikale. Reichenberg, vom 20. 12. 1883. An mein liebes Weib!: Entstanden während einer H a f t , wahrscheinlich während der H a f t 1884—85. Inquisitenlied: Entstanden während einer H a f t , wahrscheinlich während der H a f t 1884—85. T e x t unvollständig, mitgeteilt von Heinrich Barthel in der „Freiheit", Teplitz, v o m 9. 9. 1897. Die 6. Strophe wurde in G W von Paul Reimann eingefügt, nach einer Angabe von Anton Behr. Neni 6isty: E s ist nicht rein (nach GW). pane dohtrovi: Herr Doktor (nach GW). Bosniaken: Knödel (nach GW). An meine persönlichen Feinde!: A u s : Die Maulschelle. Reichenberg 1895. Die „Maulschelle" erschien 1891 ff., zeitweilig unter dem Namen „Der Spottvogel". Sinnspruch: A u s : Die Maulschelle, a. a. O. 1895. Phantasie-Gewebe: A u s : Die Maulschelle, a. a. O. 1895. Jetzt ist alles gerettet: A u s : Die Maulschelle, a. a. O. 1895. Herr von Kasewetter: Anmerkung in G W : „ K a s e w e t t e r = Wilhelm Kiesewetter, der damalige Herausgeber des .Freigeist' und spätere Abgeordnete." Ein Geldprotz: A u s : Die Maulschelle, a. a. O. 1895. Ein Stimmungslied am Abend: A u s : Die Maulschelle, a. a. O. 1895. Kleine Verse: Nach dem Tode des Autors erschienen. Korruption: Nach dem Tode des Autors erschienen. Die Sozialdemokratie von Nordamerika: Erschienen am 24. 7. 1897 im „Volksanwalt" in Cleveland (USA). Die gute Kuh : 1897 entstanden. Fenzen: Umzäunung (nach GW). Ein verlorenes Leben: Erschienen in: Der Radikale. Reichenberg, vom 4. 10. 1883. Allein mit meinem Hoffen . . . : Diese beiden Zeilen sind dem Gedicht „Sehnsucht nach der Heimat" entlehnt. Blätter und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen: Erschienen in: Freigeist. Reichenberg 1890—91. Josef Krosch: Vgl. u. a.: Herbert Steiner: Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867—1889. Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitagin Hainfeld. Wien 1964, S. 25 u. 27 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich. Bd. 2). deutscher Arbeiterführer nach Teplitz: Gemeint ist offenbar

August Bebel. Vgl.: K a r l Obermann: Zur Geschichte der deutschen und der tschechoslowakischen Sozialdemokratie und ihrer freundschaftlichen Beziehungen im 19. Jahrhundert. I n : Aus 500 Jahren deutsch-tschechoslowakischer Geschichte. Hg. v. K a r l Obermann und Josef Polisensky. Berlin 1958, S. 347 (Schriftenreihe der Kommission der Historiker der D D R und der ÖSR. Hg. v. K a r l Obermann und Josef Poliäensky. Bd. 1). S. 87 S. 87

S. 89

S. 89 S. 101

S. 147 S. 163

S. 164

Der Kongreß-. Vgl. Steiner, a. a. O., S. 95—100. Dr. Hippolyt Tauschinsky: Tauschinsky spielte eine merkwürdig zwiespältige Rolle in der österreichischen Arbeiterbewegung. V g l . : Steiner, a. a. O., u. a. S. 13—15. „Gleichheit": Gleichheit. Politische Zeitschrift für Jedermann; seit Juni 1873: Sozialpolitische Zeitschrift für das arbeitende Volk. Hg. v. Verein „Gleichheit"; seit 1874 von der SPÖ. Wiener Neustadt/Wien 1870—1877. Dunstätter: österreichischer Arbeiterfunktionär. Bilder aus der Gefangenschaft: Erschien zuerst im Feuilleton des „Freigeist", Reichenberg 1890, bald darauf, ebenfalls nach 1890, in Buchform im Selbstverlag des Verfassers in Reichenberg. Hier abgedruckt nach der Buchfassung. „I des dolü\": „Gehst du hinunter!" (nach GW). Schlußwort auf dem ersten österreichischen Textilarbeitertag in Brünn (Brno) 1890: A u s : Protokoll des Ersten österreichischen Textilarbeitertages, abgehalten in Brünn am 1. und 2. November 1890. Verantwortlicher Herausgeber: Josef Schiller. Reichenberg o. J., S. 45—46. Diskussionsrede auf dem zweiten Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Wien, 28—30. Juni i8gi: Abgedruckt nach: Verhandlungen des zweiten österreichischen sozialdemokratischen Parteitages, abgehalten zu Wien am 28., 29. und 30. Juni 1891. Nach dem stenographischen Protokolle. Wien 1891, S. 152—154.

S. 167

Brief an einen Freund: Dieser Brief wurde von Anton Behr (Pseudonym: Brutus) in den „Zeitschwingen", Saaz, 1898 mitgeteilt. Anmerkung in G W , S. 475: „Preibisch, an den dieser Brief gerichtet ist, war in Warnsdorf in der Sozialdemokratie tätig. E r zerfiel später mit der Partei."

S. 170

Bericht aus Germania über Josef Schillers Tod: Dieser Brief wurde in G W , S. 479—482, nach dem im Besitz von K a r l Kreibich befindlichen Original abgedruckt. E r wurde beim A b d r u c k in G W orthographisch korrigiert. E r trug den Poststempel: Germania v o m 31. August 1897. zwiselförmiger: gegabelter (nach GW). im Pufflo: möglicherweise gemeint: Buffalo (nach GW).

S. 171 S. 171 »4

Josef Schiller

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