Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert: Francis Glissons Substanztheorie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext 9783484366138, 3484366133, 9783110909258

Neo-Scholastic metaphysics plays an outstanding role in 17th century philosophy. The beginnings of the modern scientific

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German Pages 305 [308] Year 2006

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Table of contents :
Vorwort
In den Fußnoten verwendete Abkürzungen
1. Einleitung
1.1 Glisson als »Scholastiker«: Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert
1.2 Glisson als Anatom: Aktivitäten in Cambridge und London
1.3 Glisson als »Baconianer«: Naturgeschichte der Selbstbewegungen
1.4 Forschungsstand und Methode
2. Medizintheoretische Vorlagen von Glissons Begriff der natürlichen Perzeption
2.1 Influxus und Ubiquität der Naturalvermögen im Galenismus der Renaissance
2.2 »ovum ipsum sponte sua«: William Harvey und die Suisuffizienz des Foetus
2.3 Ein Rezipient von Hermetismus und Stoa: Johann Baptist van Helmont
3. Glissons Naturbegriff im Zeichen seines Suárezianismus
3.1 Die seins- und distinktionstheoretischen Voraussetzungen der Substanztheorie Glissons
3.2 Die »Anatomie« der Substanz: Materialismus und Dynamisierung der Natur
4. »vestibulum Monadologiae«? Selbstsein und Fremdbezug
4.1 Der Begriff der potentia substantialis und das Paradigma der spirituellen Vermögensdreiheit
4.2 »qualis est entitas, talis est idea«: die Isomorphie von perzipierender Substanz und Perzeptionsinhalt
4.3 perceptio naturalis und sensus animalis: Glisson und die »Platoniker«
4.4 Exkurs: Glisson und die Geistmetaphysik
4.5 Individuation als Selbstkonföderation: idea und lex, series und memoria
4.6 »ideam et motum non realiter differre«: materielle Selbstgeneration und Autarkie der Natur
4.7 Der Solipsismus der Substanz und Glissons Kausalitätsmodell
4.8 Relationalität: eine Denkfigur in Metaphysik, Naturphilosophie, Politik
5. Masse, Ausdehnung, Geist: Anwendungen in der Physik
5.1 quantitas interminata: der Paduaner Averroismus im England der »wissenschaftlichen Revolution«
5.2 plica materiae: der Dichtebegriff im Dynamismus
5.3 Transformation eines Begriffes: die unbestimmte Quantität als quodditas
6. Schlußbetrachtungen
6.1 Glisson als »Animist«? Zum Naturbegriff im Neustoizismus
6.2 Immanenz versus Transzendenz
Literaturverzeichnis
Im Literaturverzeichnis verwendete Abkürzungen
Texte Francis Glissons
Quellentexte anderer Autoren
Forschungsliteratur
Personenregister
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Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert: Francis Glissons Substanztheorie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext
 9783484366138, 3484366133, 9783110909258

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Frhe Neuzeit Band 113 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frhen Neuzeit“ an der Universitt Osnabrck Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller und Friedrich Vollhardt

Karin Hartbecke

Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert Francis Glissons Substanztheorie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2006

n

Gedruckt mit Untersttzung des F6rderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-36613-8

ISBN-10: 3-484-36613-3

ISSN 0934-5531

? Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, Mnchen http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, Dbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, M6ssingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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In den Fußnoten verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Glisson als »Scholastiker«: Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Glisson als Anatom: Aktivitäten in Cambridge und London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Glisson als »Baconianer«: Naturgeschichte der Selbstbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Forschungsstand und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Medizintheoretische Vorlagen von Glissons Begriff der natürlichen Perzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Influxus und Ubiquität der Naturalvermögen im Galenismus der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Natur und Naturalvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 sunai/sqhsij, oi)kei/wsij, irritabilitas: Modelle innerorganischer Selbstregulation . . . . . . . . 2.2 »ovum ipsum sponte sua«: William Harvey und die Suisuffizienz des Foetus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Epigenese und tactus naturalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 »Ganz im Ganzen und ganz in jedem Teil«: das Blut als Prinzip der Belebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ein Rezipient von Hermetismus und Stoa: Johann Baptist van Helmont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Konzept des sympathetischen Kausalnexus . . . . 2.3.2 archeus und idea: Motive eines naturtheoretischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 »Zustimmung«: Naturphilosophie und Physiologie im Neustoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Gott als Schöpfer der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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29 29 45 52 52 64 67 72 74 76 81

VI 3 Glissons Naturbegriff im Zeichen seines Suárezianismus . . . . . . .

4

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3.1 Die seins- und distinktionstheoretischen Voraussetzungen der Substanztheorie Glissons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 ratio entis und similitudo transcendentalis . . . . . . . . . . 3.1.2 »cogitur intellectus anatomicum agere«: conceptus inadaequati und distinctio ratione cum fundamento in re . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Substanz, modus und distinctio modalis . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Die ratio entis als Selbstposition und das ens als simile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die »Anatomie« der Substanz: Materialismus und Dynamisierung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Essenz und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Materie, Form, entitativer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Natur und Subsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Natur als biusia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 subsistentia fundamentalis: Natur als Stützprinzip ihrer selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 natura energetica: Natur als Prinzip der Selbstbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Die biusia als natura in genere und die Univokation des Lebensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8 »materia dat esse formae«: Glissons Programm der selbstgenügsamen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9 vita primaeva, vita modificans: die Formen als modi der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.10 »Nihil enim inter substantiam & vitam suam intercedere potest.«: die Selbstbewegung als das »Innerste« der Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.11 Glisson: Materialist, Immanentist, Substanzmonist . .

167 177

»vestibulum Monadologiae«? Selbstsein und Fremdbezug . . . . . .

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4.1 Der Begriff der potentia substantialis und das Paradigma der spirituellen Vermögensdreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 »qualis est entitas, talis est idea«: die Isomorphie von perzipierender Substanz und Perzeptionsinhalt . . . . . . . . . . . 4.3 perceptio naturalis und sensus animalis: Glisson und die »Platoniker« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Exkurs: Glisson und die Geistmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Individuation als Selbstkonföderation: idea und lex, series und memoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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94 101 105 109 110 112 116 119 124 131 140 149 160

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VII 4.6 »ideam et motum non realiter differre«: materielle Selbstgeneration und Autarkie der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Der Solipsismus der Substanz und Glissons Kausalitätsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Relationalität: eine Denkfigur in Metaphysik, Naturphilosophie, Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Masse, Ausdehnung, Geist: Anwendungen in der Physik . . . . . . . 5.1 quantitas interminata: der Paduaner Averroismus im England der »wissenschaftlichen Revolution« . . . . . . . . . . . . 5.2 plica materiae: der Dichtebegriff im Dynamismus . . . . . . . . . 5.3 Transformation eines Begriffes: die unbestimmte Quantität als quodditas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

218 232 236 240 242 248 261

Schlußbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.1 Glisson als »Animist«? Zum Naturbegriff im Neustoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Immanenz versus Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Im Literaturverzeichnis verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . Texte Francis Glissons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellentexte anderer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Was aber der Mythos hinzusetzt, daß Proteus ein Wahrsager gewesen sei und dreier Zeiten kundig, dies stimmt vorzüglich mit der Natur der Materie zusammen. Wer nämlich die Widerfahrnisse und Vorgänge der Materie kennt, der erfaßt notwendigerweise alle Dinge, die vergangenen und gegenwärtigen ebenso wie die zukünftigen […].« (Francis Bacon: De sapientia veterum, Works VI, 652)

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Studie wurde 2003 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung nur geringfügig überarbeitet. Zahlreiche Menschen haben auf verschiedene Art und Weise dazu beigetragen, daß dieses Buch entstehen konnte. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Das Projekt einer historisch-systematischen Rekonstruktion der Naturphilosophie Francis Glissons wäre nicht durchführbar gewesen ohne die Recherchemöglichkeiten und Hilfestellungen einer ganzen Reihe von Institutionen, hinter denen das Engagement kompetenter und hilfsbereiter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht. Es ist nicht möglich, sie alle namentlich zu erwähnen. Ganz besonders möchte ich jedoch Prof. Dr. Hermann Real und seiner damaligen Mitarbeiterin Dr. Helga Scholz am Münsteraner Ehrenpreis-Institut für Swift-Studien meinen Dank aussprechen für die großzügige Bereitstellung unzähliger Materialien, die Mithilfe bei der Planung meiner Recherchen in der British Library in London und den außerordentlichen Einsatz, mit dem sie meine Forschungsarbeit über einen langen Zeitraum hinweg unterstützt haben. Dr. Guido Giglioni danke ich für einen über Jahre geführten freundlichen Austausch und Kontakt. Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Thomas Leinkauf, der den Anstoß zur vorliegenden Studie gab und ihre Entstehung durch Gespräch, Rat und geduldige Kritik gefördert hat. Prof. Dr. Peter Rohs danke ich für die Übernahme des Koreferates und sein Interesse an meiner Arbeit. Meinen herzlichen Dank spreche ich ferner Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann aus, der zusammen mit den anderen Herausgebern der Reihe Frühe Neuzeit die Publikation des Bandes ermöglicht hat. Christine Scharlau, Dr. Justus Lentsch und Dr. Christof Stadelmann trugen die Aufgabe, die vorliegende Studie zu veröffentlichen, in unzähligen Gesprächen mit. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk danke ich für die Unterstützung durch ein Promotionsstipendium, ohne das diese Arbeit gar nicht hätte entstehen können. Der VG Wort schließlich sage ich Dank für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Halle, im September 2005

Karin Hartbecke

In den Fußnoten verwendete Abkürzungen Die vollständigen Titel sind im Literaturverzeichnis angeführt. A AA AT De natura DI DM DPV G GP NUeberweg 3/1 O OL SVF

Helmont, Johann Baptist von: Anfang der Artzney-Kunst. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Sämtliche Schriften und Briefe. Descartes, René: Œuvres. Glisson, Francis: Tractatus de natura substantiae energetica. Bruno, Giordano: Dialoghi italiani. Suárez, Francisco: Disputationes Metaphysicae. Diderot, Denis: Œuvres complètes. Giglioni, Guido (Hg.): Latin Manuscripts of Francis Glisson. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3: England. 1. Halbband. Helmont, Johann Baptist von: Ortus medicinae. Bruno, Giordano: Opera latine conscripta. Stoicorum Veterum Fragmenta.

1

Einleitung

1.1 Glisson als »Scholastiker«: Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert Nun gebe ich diesen Traktat in Deine Hände, lieber Leser, und unterwerfe ihn zusammen mit diesem Vorwort Deinem Urteil. Sei vor allem ohne Vorurteil, das oft selbst die Geister der scharfsinnigsten Menschen verdunkelt. Bedenke, daß wir sterblich sind; vor Mißgriffen und Irrtümern bin ich ebenso wenig gefeit wie Du. Mache von Deiner Menschlichkeit Gebrauch. Das meiste steht hier allerdings geschrieben, nachdem ich es sorgfältig durchdacht und oft erwogen habe: urteile also nicht übereilt. So gut wie möglich beurteilt Deine redliche Interpretation, um die ich Dich vor aller strengen Bewertung bitte, Dein aufrichtiger Freund F.G.1

Gleich dreifach bittet Francis Glisson im Vorwort seines Tractatus de natura substantiae energetica (1672) um Nachsicht und Milde des Urteils, so als ahnte er, welche Reaktionen die nachstehende Abhandlung auslösen würde. Bei aller Anerkennung seiner Originalität:2 Wohlwollen ruft der Autor Glisson, dessen Texte schon die Zeitgenossen als Zumutung empfinden,3 bei den meisten seiner wenigen Rezipienten bis in die heutige Zeit nicht

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3

De natura, Ad Lectorem, §20, fol. d1v: »Jam Tractatum hunc in manus tuas (ingenue Lector) trado, eundemque, & quicquid ei hic praelusi, judicio tuo subjicio. A praejudicio apprime cave: hominum etiam acutissimorum mentes frequenter occaecat. Scis, quam sumus mortales; labi, errare, perinde mihi ac tibi pronum est. Utere humanitate tua. Verum plurima hic perpensa & saepius trutinata propronuntur: ne ergo praepropere judices. Utcunque candidam tuam interpretationem prae rigida censura expetendam judicat tuus ex animo Amicus, F.G.« So bemerken Hunter und Davis in ihrer Einleitung zur Ausgabe von Boyles Free Enquiry into the Vulgarly Received Notion of Nature: »He [= Glisson, K.H.] provided a metaphysical basis for this attribute [der Irritabilität, K.H.] in his Treatise on the Energetic Nature of Substance (1672), which – though little known – constitutes one of the most original philosophical systems to be devised in the second half of the seventeenth century.« (Introduction, xxii); ebenso beispielsweise Henry: Medicine and pneumatology, 16: »Glisson’s Treatise [gemeint ist De natura, K.H.] deserves recognition as one of the most original systems of philosophy to appear in the second half of the seventeenth century and as one of the most profound attempts to develop a monistic solution to the mind-body problem.« Vgl. die Äußerung des Theologen Richard Baxter: The nature and mortality of the soul, London 1682, 6: »I have talkt with divers high pretenders to Philosophy here of the new strain, and askt them their judgment of Dr Glissons Book [gemeint ist De natura, K.H.], and I found that none of them understood it, but neglected it as too hard for them and yet contemned it.« Zitiert nach Henry: The matter of souls, 93.

2 hervor. Die Vorwürfe der Weitschweifigkeit, fehlenden Ordnung und Schwerfälligkeit werden gegenüber De natura und Glissons übrigen, medizintheoretischen Werken gleichermaßen erhoben.4 Glisson wiederhole sich oft, lasse Angekündigtes im Gegenzug aus, verliere sich in Spitzfindigkeiten, bezeichne nicht immer, wenn es angebracht wäre, die Herkunft seiner Gedanken.5 Sein philosophisches Vorbild ist der Neuscholastiker Francisco Suárez. Bei Glisson finden wir kein Lobpreis der mechanistischen Philosophie, keine Polemik gegen Aristoteles oder seine Ausleger, sondern eine neue Theorie der Substanz und ihrer »natürlichen Kräfte«, somit eine Theorie über Lehrstücke des Aristotelismus und Galenismus inmitten der Zielscheibe zeitgenössischer Invektiven. Diese trägt Glisson zudem im Stil der disputatio vor: in Syllogismen und fingierten Wechselreden von opponierendem Leser und antwortendem Autor. Sich seinen Weg durch unzählige Distinktionen schlagend, schält der redliche Interpret nur mühsam die Argumentation des Verfassers heraus. Wie bei vielen Physiologen seines Umfeldes tut die technische, vielfach der medizinischen Fachsprache entlehnte Terminologie ein übriges, den Inhalt der Schriften, der theologisch zum Teil hochbrisant ist, vor der breiten, überall den Atheismus wähnenden Öffentlichkeit eher zu verbergen als offenzulegen.6 Am ehesten dürften noch Fachkollegen in der Lage gewesen sein, die Naturtheorie Glissons ohne größeren Aufwand in ihrer komplexen Aussage zu verstehen: etwa Walter Charleton, der Glissons Kompetenzen ungemein schätzte,7 oder John Locke, der sämtliche Werke Glissons besaß und umfangreich aus ihnen exzerpierte.8 – Welches Motiv gibt es, bei allen Schwierigkeiten

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Vgl. etwa Clarke: Whistler and Glisson on Rickets, 55; Sprengel: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneykunde, 36; Cousin: Histoire générale de la Philosophie, 498; Moore: Art. ›Francis Glisson‹, 1317; Henry: Medicine and pneumatology, 17; Daremberg: Histoire des sciences médicales II, 645, 650–653 passim; deutlich auch Pacchi: Cartesio in Inghilterra, 151: »[il Tractatus de natura substantiae energetica, K.H.] rappresentava un indirizzo speculativo abbastanza inconsueto, sostenuto per di più da una pesante armatura scolastica che doveva risultare ormai intollerabile alla maggioranza dei lettori.« Vgl. auch die Angaben bei Mani: Biomedical thought in Glisson’s hepatology, 47. Vgl. Clarke: Whistler and Glisson on Rickets, 54f., 61; Langdon-Brown: Chapters of Cambridge Medical History, 20. So Giglioni: Panpsychism versus Hylozoism, 43: »it is true that an increase in the sophistication of language and arguments made the doctrine more esoteric, so that it would escape the notice of theologians and people obsessed by the atheistic threat. This was Glisson’s case. The metaphysical intricacies in the treatise on the energetic nature of substance hid its potential heretical content.«; vgl. auch drs.: Anatomist Atheist, 127; Henry: The matter of souls, 93, 97, 111f. Vgl. The Immortality of the Human Soul, 38–41. Vgl. Harrison/Laslett: The Library of John Locke, 144; Frank: Science, medicine and the universities of early modern England, 247f.; Dewhurst: John Locke, 6, 27. Marion zufolge kannten Glisson und Locke einander persönlich. Glisson widmet den Traktat De natura Anthony Ashley Cooper, dem ersten Earl of Shaftesbury; Locke war des-

3 der Exegese, sich mit über dreihundert Jahren zeitlichem Abstand erneut mit Francis Glisson zu beschäftigen? Die These der vorliegenden Studie ist, daß Glisson mit seiner Substanztheorie ein systematisches Problem zu lösen versucht, das philosophie- und wissenschaftshistorisch bemerkenswert ist. Es ist die Suche nach einer neuen theoretischen Fundierung der seinerzeit aktuellen Naturforschung in einem philosophischen System, die Glisson zur Abfassung des Traktats De natura veranlaßt. Entsprechend stellt diese Monographie die Theorie der »energetischen Natur der Substanz« Glissons als das Projekt einer metaphysischen Grundlegung seiner empirischen und naturphilosophischen Studien vor. Glisson selbst wird hier als ein Wissenschaftler gezeichnet, der an der Schnittstelle erfahrungsgestützter Forschung einerseits, metaphysischer Spekulation andererseits operiert und dabei beide Pole mit derselben Emphase verfolgt. Denn Francis Glisson, der Anhänger des Francisco Suárez, ist zugleich einer der berühmtesten Physiologen seiner Zeit. Als Medizinprofessor in Cambridge, Präsident der Londoner Ärztekammer und Gründungsmitglied der Royal Society in London führt er über Jahrzehnte die anatomische Forschung in England an. Als Naturphilosoph verschreibt er sich dem Forschungsprogramm Francis Bacons. Mehr als zwanzig Jahre lang sammelt, verzeichnet, ordnet er seine Beobachtungen oder »Instanzen« von Naturprozessen, bevor er mit De natura den Prospekt einer Naturgeschichte materieller Selbstbewegungen vorlegt.9 Gerade aus seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler heraus, so die These dieser Untersuchung, setzt er sein zentrales Vorhaben einer metaphysisch rückversicherten Naturphilosophie um. Was er am organischen wie auch unbelebten Untersuchungsmaterial beobachtet, erfährt dabei eine theoretische Interpretation, die schließlich auf eine vereinheitlichte, also in einem philosophischen System formulierbare Naturbeschreibung führt. Im Nachweis dieser These stellen sich der »supposedly conservative outlook«10 und die unbestreitbaren Schwächen der Texte Glissons als vordergründige und oberflächliche Momente der Darstellung heraus. De natura erweist sich gewissermaßen als ein Stereogramm: auf den ersten Blick mutet die Abhandlung wie ein wirres Tapetenmuster an. Schaut man jedoch länger darauf und mit entsprechender Blicktechnik, so wird ein Arrangement der scheinbar unge-

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sen Sekretär, Arzt und Freund. Auch soll Locke Glisson und George Ent bei der Behandlung des Lord um Rat ersucht haben. Vgl. Marion: Franciscus Glissonius, 7; Francis Glisson, 125f.; Dewhurst: John Locke, 36f. Bei Romanell: John Locke and medicine, fehlt leider jeglicher Hinweis auf Glisson. Vgl. das Manuskript »De vita materiae, materiam vivere«, hier fol. 410r. Webster: The College of Physicians, 408.

4 ordneten Formen sichtbar, und sei es auch nur als Fragment, das Glisson unvollendet ließ. Daß für Glisson bei der Durchführung seines Projektes einer metaphysischen Grundlegung seiner Beobachtungen nicht die cartesische Metaphysik maßgeblich ist11 und er vielmehr direkt auf die Disputationes Metaphysicae des Suárez zurückgreift, wirft ein ungewöhnliches Schlaglicht auf die intellektuellen Formationsbedingungen der neuzeitlichen Wissenschaften. In der Historiographie gilt die schulphilosophische, aus der Aristoteles-Kommentierung hervorgehende Metaphysik vielfach als bloßer Störfaktor qualifizierten Wissenserwerbs. Heutige Leser sind es gewohnt, das 17. Jahrhundert als Epoche der sogenannten Scientific Revolution, des geradlinigen Aufbruchs in eine neue Wissenschaftlichkeit und des endgültigen Niedergangs der schulischen Systeme zu betrachten. Der Scholastizismus Glissons erscheint vor diesem Hintergrund als geistesgeschichtliche Regression.12 Bereits der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Aufklärung nach befreiten Autoren wie Bacon oder Descartes die Philosophie vom »Joch der Scholastik« und bahnten »der modernen Wissenschaft« damit den Weg.13 Solche Einschätzungen sind gepaart mit dem Glauben an eine permanente Höherentwicklung der Physik bis zu ihrer endgültigen Formulierung bei Newton.14 Die Kritik an beiden historiographischen Vorstellungen, der eines teleologischen Entwicklungsgangs der Wissensgeschichte wie auch der einer unumkehrbaren wissenschaftlichen Revolution, ist im 20. Jahrhundert allerdings immer lauter geworden.15 Je weniger man aber die Entwicklung der Wissenschaften als eine Geschichte der »Sieger« und ihrer philosophischen Entwürfe begreift und je mehr sich die Erkenntnis durchsetzt, daß das Konzept der wissenschaftlichen Revolution selbst nicht mehr ist als ein vergänglicher Topos der Wissenschaftsphilosophie,16 umso weniger ist es historiographisch legitim, Glissons Abhandlung über die energetische Natur als einen regressiven »Ausrutscher« zu brandmarken. Eine ganze

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Vgl. Secada: Cartesian Metaphysics. Vgl. bereits Weber: Commentatio de initiis ac progressibus doctrinae irritabilitatis, 40: »An forte in eo quaerenda est ratio, quod aetatis ingenio repugnabant GLISSONII placita, quae aetas, Matheseos studio nimium indulgens, mechanicam potius explicandi rationem in deliciis habebat? Nec denegari potest, ut rem ipsam loquar, in eo peccasse GLISSONIUM et obstitisse doctrinae suae commodis, quod eam multo magis philosophia scholastica, quam experimentis firmaverit.« Vgl. einschlägig d’Alembert: Éléments de philosophie, 458f.; Discours Préliminaire, Groult 120. So etwa d’Alembert: Discours Préliminaire, Groult 125. Vgl. hierzu die Bilanz bei Osler: The Canonical Imperative. Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, dazu etwa Poser: Wissenschaftstheorie, 155; ferner Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, 9: »Die sogenannte wissenschaftliche Revolution hat es nie gegeben […] .«

5 Reihe von Autoren verfolgten in dieser Zeit das Projekt einer »reformierten Philosophie«, in der mechanistische Physik und aristotelische Philosophie zum Ausgleich gebracht und miteinander verbunden werden.17 Theorievorhaben wie das der philosophia reformata sind ein Beleg dafür, daß überkommene metaphysische Konzeptionen und neue Wissensstandards sich nicht durchweg entgegen standen. Auch die metaphysischen Disputationen eines Francisco Suárez konnten dann in ihrem Innovationspotential entdeckt und derart weiterentwickelt werden, daß es möglich war, sie mit aktuellen physikalischen Theorien wie auch mit der zeitgenössischen Forschungspraxis zu vermitteln. Umgekehrt waren auch Jesuiten als Naturforscher aktiv, wie die jüngste Forschung zur »Jesuit science« betont und damit das Bild von reaktionären oder zumindest konservativen Ordensmitgliedern differenziert.18 Die theologisch dominierte Metaphysik des Jesuiten Suárez nun als einen Katalysator naturphilosophischer Innovationen des fortgeschrittenen 17. Jahrhunderts zu präsentieren, ist ein Novum, das die vorliegende Studie in die Forschungslandschaft einbringt. Der strenge Suárezianer Glisson, der sich auch im fortgerückten Jahrhundert noch zur Begrifflichkeit und Argumentationsweise bekennt, an der man ihn in Cambridge ausbildete, mag also ein extremes Beispiel für die fortgesetzte Geltung spätscholastischer Vorgaben auf dem Gebiet der Naturphilosophie sein; ein Einzelfall ist er keineswegs. Mit einem Blick auf das naturphilosophische Profil der Londoner Ärztekammer wird dies noch weiter erhärtet.19 Der schulfeindliche Reduktionismus Descartes’ stößt dort keinesfalls auf die unumschränkte Anerkennung, die die philosophiegeschichtliche Retrospektive für gewöhnlich suggeriert. Es sind andere Ansätze – vornehmlich der biologisch-medizinische Vitalismus William Harveys –, die die kollegierten Ärzte in ihren naturphilosophischen Anstrengungen leiten.20 Folgt man Glisson ferner auf seinen schulphilosophischen und fachterminologischen Ausgangspunkt nach und ermißt seine argumentativen Schritte von dort aus, erscheint sein Traktat gerade nicht chaotisch,

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Vgl. Mercer: The Seventeenth Century Debate Between the Moderns and Aristotelians: Leibniz and Philosophia Reformata; Henry: Der Aristotelismus und die neue Wissenschaft. Einleitung; Henry: Atomism and Eschatology. Vgl. Feingold: The new science and Jesuit science; drs.: Jesuit Science and the Republic of Letters. Vgl. Brown: The College of Physicians and the acceptance of iatromechanism in England, 14: »in treatises published by leading College writers, scholastic logic and peripatetic content remained the intellectual modes of medical discourse, despite the growing popularitiy of the new mechanical philosophy elsewhere in England.«; sowie Cunningham: The historical context of Wharton’s work on the glands, xlixf. Webster: The College of Physicians, 410; Cunningham: The historical context of Wharton’s work on the glands, xli, l.

6 sondern als systematische und präzise Leistung.21 Die nüchterne Strenge des Glissonschen Textes schließlich beruht nicht etwa auf schriftstellerischem Unvermögen, sondern ist Ausdruck einer regelgeleiteten Disziplinierung der wissenschaftlichen Arbeit, wie Glisson sie für die Abfassung von Naturgeschichten verbindlich macht: kein verbaler »Pomp« oder fabulöses Gerede, keine rhetorische Ausschmückung, keine philologica.22 Glisson zeigt zudem durchweg ein großes Bemühen, die Konzeptionen verschiedenster Denker miteinander zu vermitteln und die eigene Auffassung mit einem breitgestreuten Spektrum von verfügbaren Lehrstücken anderer Autoren abzugleichen: »Verum modo de re conveniat, de nominibus ne laboremus.«23 Diese Synthese gelingt ihm im Einzelfall vielfach allein durch eine Interpretation, die konzeptionelle Querstände suggestiv abglättet, wie sich herausstellen wird. Sachlich kann sich der Eklektiker Glisson je nach Gelegenheit sowohl mit Galen und Aristoteles als auch mit deren scharfem Kritiker Johann Baptist van Helmont oder aber dem iatrophysikalischen Experimentator Santorio Santorio eins fühlen. Die neue Zirkulationsthese seines Lehrers Harvey bringt er mit dem überkommenen galenischen Therapieverständnis zusammen.24 Selbst mit den Bewegungsgesetzen des cartesianischen Mechanismus sieht Glisson seine Substanztheorie kompatibel: er konzediert ihre Geltung bezüglich der Bewegungen eines Körpers durch äußeren Anstoß, wohingegen seine Theorie sich mit einem anderen Typus von Bewegung, dem motus pure ab intus proveniens, befasse.25 Nicht zuletzt hat die Hochschätzung der Alten, der magna mundi lumina, für Glisson eine besondere Bedeutung. Ihre Errungenschaften, einst selbst Novitäten, werden durch neue Entdeckungen, die schon bald ebenso überholt sein können, nicht notwendigerweise zunichte gemacht: »Nova inventa non necessario subruunt authoritatem veterum«. In dieser Gleich-

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Man vergleiche die Einschätzung Meyers: Glisson’s Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre, 1f.: »Schwer verständlich ist die Sprache des Vortrages, und diese Unverständlichkeit des Vortrages kann wohl leicht auch den Vorwurf der Unverständlichkeit auf die Lehre selbst werfen. Wer indessen die Schwierigkeiten des Vortrages überwindet, der wird mit Staunen gewahr werden, dass in der rauhen Hülle ein schöner und gesunder Kern stecke. Jedes Wort zeigt den scharfen philosophischen Denker. Feinheit und Schärfe der Gedanken und geistvolle Auffassung des Lebens zeichnet diese Lehre aus.« Und auch der Eindruck Cousins: Histoire générale de la Philosophie, 498: »Le style de Glisson est, il est vrai, dur, hérissé, scholastique, mais il est net et précis, et le livre est méthodique et bien ordonné.« [Hervorhebung dort] Vgl. Glisson: »Ars inveniendi ac perficiendi alias artes«, im Abschnitt »De Historia sive de plena enumeratione experimentorum« die »regulae et cautiones et adminicula«. De natura, Ad lectorem, §18, fol. c3v–c4r. Vgl. das von Boss transkribierte und kommentierte Manuskript »Doctrina de circulatione sanguinis haud immutat antiquam medendi methodum« aus MSS Sloane 3309. Vgl. De natura, 191, 340–346.

7 förmigkeit des Erkenntnisstroms ist abseits aller Verfeindungen einzig die Wahrheitssuche geboten, in der die Autorität der Altwürdigen mit dem Eifer der »Neoteriker« zusammenbestehen kann. Programmatisch läßt Glisson die Formel amicus Plato, amicus Aristoteles, magis amica veritas anklingen: Nova inventa non necessario subruunt authoritatem veterum. […] Veterum vestigiis, si qua, salva veritate sensuum testimonio manifestaria, liceat, insisto; eos quantum licet candide interpretor; in eorum authoritate quousque fas est acquiesco. […] Quid igitur dicendum est? Si mihi daretur optio, nec veterum authoritas vilesceret, nec neotericorum industria flaccesceret; sed veritas undicunque, viz. omnibus viis & modis, pervestigaretur. Haec enim, seposita animositate, optime consistere posse videntur.26

Die Orientierung an philosophischen und wissenschaftlichen Autoritäten hat für Francis Glisson insgesamt einen hohen Stellenwert. Daher ist es das Ziel der vorliegenden Darstellung, Glissons Metaphysik der Natur als das Resultat einer Wechselwirkung von autoritativen Einflußnahmen einerseits, eigener intellektueller Initiativen andererseits zu beschreiben und die begriffsstrukturelle und argumentationsstrategische »Funktionsweise« dieser Wechselwirkung aufzudecken. Es ist der philosophiehistorische Ort zu markieren, den Glissons Denken im mehrdimensionalen Gefüge einnimmt, das die Positionen eines kompromißlosen Traditionalismus und eines radikalen Modernitätsenthusiasmus historiographisch aufspannen. Die Beschäftigung mit Wissensreformatoren wie Francis Glisson zeigt, wie wenig durch Gegensätze wie »Tradition – Innovation«, »Scholastik – Moderne« usw. trennscharfe Dichotomien bezeichnet werden. Solche Gegensatzpaare stehen vielmehr für die Extreme eines Kontinuums und sind als idealtypische Grenzfälle wissenschaftsgeschichtlichen Geschehens allenfalls gedanklich extrapolierbar. Begriffe wie der der wissenschaftlichen Revolution haben sich als Forschungskonstrukte erwiesen, deren methodologische Legitimation nicht ohne Weiteres offenliegt. Im besten Fall reproduzieren sie einen wissenspolitischen Anspruch, den historische Individuen wie d’Alembert mit ihrer Epoche verbanden, und erheben ihn zum Leitbegriff einer historiographischen Narration.27

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De natura, Ad Lectorem, §20, fol. d1r–v. Zur Formel vgl. Guerlac: Newton on the continent, 17–28. Vgl. ausführlicher Hartbecke: Geschichte des Naturgesetzbegriffs.

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1.2

Glisson als Anatom: Aktivitäten in Cambridge und London

Mit wenigen Strichen sei Glissons intellektuelle Biographie skizziert.28 Am 28. Juni 1617 immatrikuliert sich Francis Glisson am Gonville and Caius College der Universität Cambridge und damit an einem der Colleges mit dezidiert medizinischer Ausrichtung, dessen Absolventen noch das gesamte 17. Jahrhundert hindurch der Ruf einer großen medizinischen Bildung vorauseilen wird.29 Obwohl die in Cambridge geltenden Elizabethan Statutes von 1570 dies nicht mehr zwingend vorsehen,30 erwirbt Francis Glisson zunächst den Grad des Magisters der Künste, bevor er sich der Medizin zuwendet.31 In der Umsetzung eines Erlasses Elizabeths durch den für die Cambridger Lehre ab 1613 so einflußreichen Tutor Holdsworth32 sieht das curriculum artium für die undergraduates bis zur Erlangung des B.A. den Unterricht in den Disziplinen des Trivium vor, also Rhetorik, Dialektik, Grammatik, darüberhinaus Ethik.33 Das Studium der scientiae Metaphysik,

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Die gründlichsten und genauesten mir bekannten Quellen zu Leben und Werk Glissons sind: Giglioni: Art. ›Glisson‹; Walker R.M.: Francis Glisson and his capsule; drs.: Francis Glisson. Weitere Angaben entnimmt man: Henry/Jones: Art. ›Francis Glisson‹; Munk: The Roll of the Royal College of Physicians of London, 218f.; Temkin: Art. ›Glisson, Francis‹; Birch: The History of the Royal Society of London III 356f.; Moore: Art. ›Glisson, Francis‹; Rolleston: The Cambridge Medical School, 151–155; Venn/Venn: Alumni Cantabrigiensis I, 2, 223; Wood: Athenae Oxonienses II, 434f.; Haeser: Art. ›Glisson, Francis G.‹ Informationen zum Medizinstudium am Caius College oder in Cambridge allgemein liefern beispielsweise: Allen: Medical Education; Frank: Science, medicine and the universities of early modern England; Costello: The Scholastic Curriculum; Copeman: John Caius (1510–73); Valadez: Anatomical Studies at Oxford and Cambridge; RobbSmith: Cambridge Medicine. Den allgemeinen intellektuellen und institutionellen Hintergrund beleuchten Menn: The intellectual setting; Tuck: The institutional setting. Anders als der ab 1536 in Oxford geltende Laudian oder Caroline Code, der die übliche Abfolge von vier Studienjahren bis zum B.A., weiteren drei bis zum M.A., dann drei Jahren bis zum M.B. und schließlich vier Jahren zum M.D. festgeschrieben hatte, war es in Cambridge möglich, in sechs Jahren den Grad des M.B. und weiteren fünf Jahren den des M.D. zu erlangen. Vgl. Allen: Medical Education, 121f.; RobbSmith: Cambridge Medicine, 328f. Glisson war hier kein Einzelfall; viele weitere in Cambridge promovierte Ärzte hatten zuerst den M.A. erworben. Vgl. Allen: Medical Education, 122; sowie RobbSmith: Cambridge Medicine, 329. 1549 hatte Edward VI. angeordnet, daß das Curriculum der Freien Künste mit Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Kosmographie beginnen, im zweiten Jahr mit Dialektik, im dritten mit Philosophie, d.h. Metaphysik, Physik und Ethik, fortgesetzt werden solle. 1559 erläßt Elizabeth I., es mit Rhetorik im ersten Jahr beginnen, die Dialektik im zweiten und dritten und Philosophie im vierten Jahr folgen zu lassen. Ihr Erlaß wurde jedoch zunächst ignoriert, und das Notizbuch eines Studenten Holdsworths von 1618 ist der früheste Beleg dafür, daß das Dekret doch noch durchsetzt wurde. Vgl. Costello: The Scholastic Curriculum, 41f. Vgl. Costello: The Scholastic Curriculum, 36–69. Allen: Scientific Studies, 219; Rogers: Cambridge, 10; Frank: Science, medicine and the universities of early modern England, 201.

9 Physik, Mathematik ist erst nach der Graduierung zum B.A. angesetzt und erfolgt zu Glissons Zeit anhand aristotelisch-scholastischer Handbücher wie Keckermanns Systema physicum, Magirus’ Physica Peripatetica, Scheiblers Philosophia compendiosa oder Suárez’ Disputationes Metaphysicae und natürlich nach den Schriften von Aristoteles selbst.34 Die universitäre Ausbildung im Cambridge des frühen 17. Jahrhunderts vollzieht sich nach wie vor in den drei mittelalterlichen Lehr- und Lernformen lectio, declamatio, disputatio.35 Im noch ungebrochenen »Ipsedixitismus« des jungen Jahrhunderts erwirbt Francis Glisson 1621 den Grad des B.A., drei Jahre später den des Magisters. Von 1624 bis 1634 lehrt er als Fellow seines College unter anderem Griechisch und steht ihm 1629 als Dekan vor. Um dieses Jahr nimmt er das Studium der Medizin auf und ist 1634 promoviert. Verglichen mit den großen medizinischen Lehrstätten auf dem Festland ist die Ausbildung in Cambridge zu Glissons Studienzeiten eher mittelmäßig.36 Der medizinische Cursus ist ganz von der Inanspruchnahme der Autoritäten Hippokrates und Galen beherrscht.37 Viele Medizinstudenten verlassen Oxford und Cambridge, um in Padua oder Leiden, Paris, Heidelberg, Basel zu studieren.38 Die Universität Padua bietet bereits seit 1596, seit dem Bau des Anatomischen Theaters durch Girolamo Fabrici d’Aquapendente, die Möglichkeit einer komfortabel verfolgbaren öffentlichen Sektion. In einem vergleichsweise kurzen Aufenthalt auf dem Festland gelingt es den britischen Gaststudenten, den elf oder vierzehn Jahre beanspruchenden Weg zur medizinischen Graduierung an ihrer Heimatuniversität zu umgehen,39 ein Weg, der mit Textlektüre überladen ist, auf

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Eine gute Übersicht über die wichtigen Standardwerke in Metaphysik, Naturphilosophie, Mathematik bieten: Allen: Scientific Studies, 220, 224f. und Rogers: Cambridge, 10f., sowie die Bibliographie im NUeberweg 3/1, 33. Vgl. desweiteren Costello: The Scholastic Curriculum, 70–106; Reif: The Textbook Tradition in Natural Philosophy 1600–1650; sowie Thorndike: The Cursus Philosophicus or Physicus before Descartes. In: A History of Magic and Experimental Science VII 372–425. Vgl. hierzu Costello: The Scholastic Curriculum, 7–35. Vgl. beispielsweise Costello: The Scholastic Curriculum, 128; Valadez: Anatomical Studies at Oxford and Cambridge, 408f.; Rook: Medical Education, 49, und 62 die Charakterisierung, die Ausbildung in Cambridge leide in dieser Zeit an »a total lack of organization«. Wöchentlich waren die Professoren zu vier entsprechenden Vorlesungen verpflichtet; vgl. Allen: Medical Education, 131, 142; Robb-Smith: Cambridge Medicine, 327. Zur herausragenden Bedeutung der Universität Padua gerade auch für britische Studenten vgl. Haynes: The English in Padua. Vgl. Allen: Medical Education, 115f., 130; Robb-Smith: Cambridge Medicine, 331; Rook: Medical Education, 58f.; Rook: Introduction, xi. Wie Rook in Medical Education und Medicine at Cambridge (bes. 113) anhand von Statistiken nachgewiesen hat, ist die Bedeutung der kontinentalen Universitäten für die medizinische Qualifizierung der Studenten aus Cambridge allerdings nicht zu hoch zu veranschlagen; den gewichtigeren Teil ihrer Bildung erhielten sie an ihrer Heimatuniversität. Zu demsel-

10 dem die heilkundliche Praxis jedoch fehlt. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts schreiben die Universitätsstatuten in Cambridge zwar vor, daß die Studenten für den Grad des B.M. und des D.M. jeweils zwei bis drei Sektionen beobachten; um praktizieren zu dürfen, sollten sie selbst zwei Sektionen durchführen. Diese Bestimmungen werden jedoch im Ausbildungsalltag im allgemeinen nicht befolgt. Wurde doch seziert, so dürften die schlechten Sichtverhältnisse – Cambridge besitzt zu dieser Zeit noch kein anatomisches Theater – starke Zweifel an einem möglichen Lernerfolg aufwerfen.40 Nach einem Studienaufenthalt im Ausland ist es ein allenfalls noch mit einer kleinen Disputation verbundener Routineakt, in Oxford, Cambridge, oder – wenn man seine Kompetenz außer Frage stehen lassen wollte41 – an beiden Universitäten zu inkorporieren. Die Herkunft von Oxford oder Cambridge ist seit Jahrhunderten die Voraussetzung dafür, in England zu praktizieren.42 Obwohl die Fortsetzung der Studien auf dem Kontinent demnach durchaus üblich ist und attraktiv gewesen wäre, hat Glisson England allem Anschein nach nie verlassen. Bis 1707 in Cambridge endlich eine Professur für Anatomie eingerichtet wird, liegt die Verantwortung der Lehre in den Händen eines einzigen Mannes: des Regius Professor für Medizin.43 Das 17. Jahrhundert hindurch sind es recht mediokre Figuren, die diesen Lehrstuhl innehaben. Auch John Collins, der Lehrer Glissons, bildet hier offenbar keine Ausnahme.44 1636, nur zwei Jahre nach seiner Promotion, beruft man Glisson auf den verantwortungsvollen Posten und trifft damit eine eine glückliche Wahl, wird sich der vielversprechende Absolvent in der Folgezeit doch als einer der kompetentesten Anatomen und Physiologen seiner Zeit erweisen. Ein Jahr zuvor, 1635, tritt Glisson dem renommierten Royal College of Physicians in London bei, an dem noch bis 1657 William Harvey wirkt, der seinerseits unter Fabrici in Padua studiert hatte. Glisson hört die neue

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ben Schluß kommt auch Robb-Smith: Medical Education at Oxford and Cambridge Prior to 1850, 29. Vgl. Valadez: Anatomical Studies at Oxford and Cambridge, 393f., 406f., 420. Vgl. auch Rolleston: The Cambridge Medical School, 145; sowie Robb-Smith: Medical Education Prior to 1850, 41. Möglicherweise war es genau dieses Motiv, das Glisson dazu bewegte, als Magister der Universität Cambridge am 25. Oktober 1627 an der Universität Oxford zu inkorporieren. Dies bestimmte ein Gesetz von 1421. Siehe Allen: Medical Education, 116, 130f. Vgl. Rook: Medicine at Cambridge, 116; Robb-Smith: Cambridge Medicine. 327. Vgl. Frank: Science, medicine and the universities of early modern England, 208. Über die Lehre Collins’ ist nicht viel bekannt. Vier Jahre lang las er als Linacre Lecturer, vgl. Rolleston: The Cambridge Medical School, 144–146. Diese Vorlesung wurde von Thomas Linacre 1524 gestiftet, spielte für die medizinische Ausbildung in Cambridge jedoch kaum je eine Rolle, vgl. Rolleston: The Cambridge Medical School, 213; RobbSmith: Medical Education Prior to 1850, 24.

11 Lehre Harveys vom Blutkreislauf somit aus erster Hand,45 wird zu einem ihrer ersten Verfechter und trägt sie nach Cambridge, wo er sie in Dissertationen und Abschlußprüfungen verteidigen läßt. Unter seinen Studenten ist der junge John Wallis. Wallis erinnert sich: From Logick, I proceeded to Ethicks, Physicks and Metaphysicks, (consulting the Schoolmen on such points) according to the Methods of Philosophy then in fashion in that University. And I took into it the speculative part of Physick and Anatomy as parts of Natural Philosophy; and as Dr. Glisson, (then Regius Professor of Physick at that University) hath since told me, I was the first of his sons, who (in a publick Disputation) maintain’d the Circulation of the Blood, (which was then a new Doctrine,) tho’ I had no Design of Practising Physick. And I had then inbib’d the Principles of what they now call the New Philosophy.46

In London setzt er die Reihe von Versuchen einer experimentellen Bestätigung und Weiterentwicklung der Zirkulationsthese fort.47 Diese hatte mit der galenischen Auffasung der Blutversorgung auch die der Leberfunktion hinfällig werden lassen.48 1654 legt Glisson mit seiner Anatomia hepatis den umfassenden Entwurf einer Hepatologie nach Harvey vor, der aus seinen ab 1639 gehaltenen Vorlesungen De morbis partium hervorgegangen ist.49 Im Unterschied zu den medizinischen Fakultäten der Universitäten Oxford und Cambridge haben Forschung und Lehre am Royal College ein sehr hohes Niveau.50 Mit seiner gepflegten Diskussionkultur wirkt der gesamte, auf Kooperation angelegte Forschungsbetrieb auf seine Mitglieder ausgesprochen anregend. Auch Glissons Leistungen finden im günstigen Klima dieser Institution ihren Höhepunkt. Die Verpflichtungen in Cambridge weitgehend an seine Vertreter delegierend,51 macht er London zum Hauptschauplatz seiner Aktivitäten und übernimmt im weiteren Verlauf verschiedene Ämter des Ärztecorpus, ist in den schwierigen Jahren

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Bereits 1615 hatte Harvey begonnen, vor dem Royal College über seine spektakuläre Entdeckung zu lesen; vgl. Clark: History, 250; Gillespie: Physick and Philosophy, 214. Zitiert nach: Robb-Smith: Cambridge Medicine, 341. Vgl. die Berichte von Henry Power und Walter Charleton, Robb-Smith: Cambridge Medicine, 346; Webster: The College of Physicians, 401f. Zu Power und dem Cambridger Zirkel, dem er angehörte und dem Glisson offenbar wichtige Impulse gab, vgl. Webster: Henry Power’s Experimental Philosophy; Wood: Henry Power. Zu den Sezier-, Injektions- und Abdrucktechniken Glissons im einzelnen vgl. Mani: Biomedical thought in Glisson’s hepatology, 39f., 45; sowie Walker: Francis Glisson and his capsule, 86f. S.u. den Abschnitt 2.1.1. Anatomia hepatis, cui praemittuntur quaedam ad rem anatomicam universe spectantia et, ad calcem operis, subjiciuntur nonnulla de lymphae ductibus nuper repertis, London 1654. Vgl. desweiteren Walker: Francis Glisson, 44; Walker: Francis Glisson and his capsule, 83–87; Webster: The College of Physicians, 401; Munk: The Roll of the Royal College of Physicians of London, 219. Vgl. Allen: Medical Education, 139. Vgl. Rook: Medicine at Cambridge, 119; Walker: Francis Glisson and his capsule, 81.

12 nach Pestepidemie, Großem Feuer und gipfelnder öffentlicher Kritik sogar dessen Präsident (1667–69).52 Gilt das Royal College in den eigenen Reihen auch als »Haus Salomons«, als Verwirklichung des Wissenschaftsideals aus Bacons New Atlantis,53 so ist sein Ansehen in der Öffentlickeit seit längerem schwer beschädigt.54 Immer wieder flammen Streitigkeiten mit den Londoner Apothekern auf, die die Unabhängigkeit ihrer therapeutischen Praxis von der Supervision des College durchsetzen wollen.55 Finanzielle und politische Probleme sowie gelegentliche Konkurrenzkämpfe zwischen den Mitgliedern erschüttern die Grundlagen der Zusammenarbeit.56 Angesichts der aktuellen medizinischen Strömungen, des cartesianisch motivierten Iatromechanismus und der Iatrochemie Johann Baptist van Helmonts, hält man die Kammer für rückschrittlich und geht sie wegen ihres noch 1647 in den Statuten gefestigten Galenismus scharf an.57 1665, im Jahr der Pest und damit der größten heilkundlichen Ohnmacht, versucht eine Gruppe von Ärzten gar, eine Society of Chemical Physitians zu gründen, mit dem Ziel, ein Gegengewicht zum herrschenden Galenismus zu schaffen und die iatrochemischen Ideen Paracelsus’ und van Helmonts gegen den Widerstand des College durchzusetzen.58 Auch für Glisson, der sich zur galenischen Therapeutik bekennt, würde mit der »Chymiatria« der falsche Weg be-

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Vgl. im einzelnen Munk: The Roll of the Royal College of Physicians of London, 219. Zu den Schwierigkeiten, denen Glisson sich gegenüber sah, vgl. Clark: A History of the Royal College of Physicians, 327–331, 345. Vgl. Charleton: The Immortality of the Human Soul, 34; Webster: The College of Physicians, 398. Zum (umstrittenen) Baconianismus der Society vgl. Krook: Two Baconians: Robert Boyle und Joseph Glanvill, 272; Webster: The Origins of the Royal Society, 114; Fisch/Jones: Bacon’s Influence on Sprat’s History of the Royal Society; Fabian: Ein Apologet der Royal Society: Joseph Glanvill, 439. Zu Glanvill vgl. auch Pauschert: Joseph Glanvill und die Neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Vgl. Brown: The College of Physicians and the acceptance of iatromechanism in England, 29: »The collegiate physicians had been condemned in public, persecuted in Parliament, and ridiculed in print.« Vgl. Clark: A History of the Royal College of Physicians, 342ff. Bereits in den 1630ern war der schon auf die Zeit um 1610 zurückgehende Konflikt neu entbrannt, s. ebd., 219, 269f. Vgl. Brown: The College of Physicians and the acceptance of iatromechanism in England, 16. Angeführt wird die Kritik von Noah Biggs und Nicholas Culpeper. Vgl. Webster: The College of Physicians, 395; Debus: Paracelsian Medicine: Noah Biggs and the Problem of Medical Reform, 36; Rattansi: The Helmontian-Galenist Controversy in Restoration England. Mittelpunkt der Bewegung war Marchamont Nedham. Sie scheiterte, da der König die Gründungsurkunde verweigerte. Vgl. Rattansi: The Helmontian-Galenist Controversy in Restoration England; Brown: The College of Physicians and the acceptance of iatromechanism in England, 17; Thomas: The Society of Chymical Physitians; Clarke: A History of the Royal College of Physicians, 322–326.

13 schritten.59 Den Aufschwung, den die Arbeit der Kammer nach diesen Krisen erst 1678/79 mit den Anatomievorlesungen Walter Charletons im soeben vollendeten Cutlerian Theatre wieder nimmt, soll Glisson leider nicht mehr erleben. Schon mehrere Jahre von der primären Stätte seines Wirkens zurückgezogen stirbt er 1677.60 1650 erscheint der Traktat De Rachitide, den acht Mitglieder des College, darunter der in der Royal Society später sehr aktive Jonathan Goddard, in mehrjähriger Forschungsarbeit unter der Ägide Glissons ausarbeiten.61 Weitere Kollegen, mit denen Glisson stets einen engen Austausch pflegt, sind der Harvey-Übersetzer George Ent sowie der Drüsenforscher Thomas Wharton, welcher mit Glisson im Jahr der Pest 1665 als einer der wenigen Ärzte des College zur medizinischen Notversorgung in der Stadt bleibt.62 1662 beginnt Glisson die Arbeit am Tractatus de ventriculo et intestinis,63 in dem er seinen schon in der Anatomia hepatis verwendeten Begriff der Reizbarkeit (irritabilitas) präzisieren will. Als er merkt, daß dieser Begriff der Ausarbeitung seiner philosophischen Implikationen bedarf, stellt er die Veröffentlichung des Tractatus de ventriculo bis in sein Todesjahr zurück und macht sich daran, die metaphysische Grundlegung seiner Theorie der Irritabilität zu leisten. Das Resultat ist der Tractatus de natura substantiae energetica von 1672,64 der im Mittelpunkt dieser Studie steht. Bereits 1660 stellt sich dem College of Physicians die Royal Society of London als wissenschaftliche Institution zur Seite. Bei ihrem Gründungsakt verschreibt die Gesellschaft sich der Verbreitung des »physicomathematical experimental learning«.65 Die neue, sich als experimentell

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Vgl. das Manuskript »Chymiatria non est optima medicina«. Vgl. Clark: A History of the Royal College of Physicians, 327–331; Walker: Francis Glisson, 40. De Rachitide; sive morbo puerili qui vulgo The Rickets dicitur, Tractatus, London 1650. Der Traktat ist die erste in England publizierte Detailstudie einer einzelnen Krankheit und wird sogleich ins Englische übersetzt (A Treatise of the Rickets, London 1651). Vgl. Clark: A History of the Royal College of Physicians, 300; McKie: The origins and foundation of the Royal Society of London, 34; Clarke: Whistler and Glisson on Rickets, 54- 56; Walker: Francis Glisson, 42f.; Walker: Francis Glisson and his capsule, 88f.; Gillespie: Physick and Philosophy, 220; Moore: Art. Glisson, Francis, 1316. Vgl. Webster: The College of Physicians, 401; Walker: Francis Glisson, 39f.; Clark: A History of the Royal College of Physicians, 321f., 341. Zu Wharton und seiner Adenographia (London 1656) vgl. Cunningham: The historical context of Wharton’s work on the glands. Tractatus de ventriculo et intestinis. Cui praemittitur alius, de partibus continentibus in genere, et in specie de iis abdominis, London 1677. Tractatus de natura substantiae energetica, seu de vita naturae, eiusque tribus primis facultatibus, I. perceptiva, II. appetitiva, & III. motiva, naturalibus, &c., London 1672. Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 3. Zur Geschichte der Royal Society aus wissenssoziologischer Sicht ist klassisch: Hunter: Science and Society in Restoration England.

14 begreifende Naturwissenschaft wird zunächst informell betrieben, institutionalisiert sich jedoch in den 1640ern und 1650ern immer mehr. Im zunehmenden Maße reglementieren sich die Gelehrtenzirkel, die sich in London, Cambridge, Oxford bilden66 und die 1660 schließlich mehr oder weniger direkt in die Royal Society einmünden, durch eigene Statuten.67 Zusammen mit Wallis, Goddard, Ent, dem späteren Lukrez-Übersetzer John Evelyn und anderen gehört Glisson einem Zusammenschluß an, der in der Forschungsliteratur meist als »Londoner 1645er Gruppe« bezeichnet wird und der neben dem Oxford Philosophical Club um John Wilkins den unmittelbaren Vorläufer der Royal Society verkörpert.68 Entsprechend der Tatsache, daß viele Mitglieder Mediziner sind, diskutiert man im Londoner Kreis vor allem Fragen, die die Lehre Harveys aufgeworfen hatte oder die allgemein die Anatomie betreffen. Hierin dürfte die Gruppe dem Harveian Circle, den Harvey während seines Aufenthaltes in Oxford 1642– 1646 um sich versammelt und dem Glisson wohl nicht angehört,69 sehr gleichen. Wie Wallis in seinen Erinnerungen mitteilt, verfolgt die London group auch die Forschungsansätze Descartes’ und Galileis, widmet sich der Astronomie, der »mathematischen Physik«, der Mikro- und Teleskopie.70 Im Gegensatz zu anderen Zusammenschlüssen, etwa dem bildungspolitisch ambitionierten Zirkel um Hartlib, scheint man dabei ein rein theoretisches Erkenntnisinteresse zu haben.71

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Zu den Gruppierungen im einzelnen vgl. Hunter: Die Royal Society, 383–387; Frank: Science, medicine and the universities of early modern England, 259f. So gab sich der Oxford Philosophical Club, eine Struktur, die der der späteren Royal Society bereits sehr ähnelte. Der Oxford Philosophical Club formierte sich um 1649 aus solchen Forschern, die im Commonwealth nach Oxford versetzt wurden, um dort lehrende Royalisten zu ersetzen, Vgl. Hunter: Die Royal Society, 386. Die Clubstatuten von 1651 sind abgedruckt bei McKie: The origins and foundation of the Royal Society of London, 25f. Der Oxford Philosophical Club rekrutierte sich zum Teil aus der Londoner Gruppe; Wallis und Goddard nämlich wurden 1649 bzw. 1651 nach Oxford abberufen. Ab 1654 schloß sich Robert Boyle dem Club an. Nachdem die meisten seiner Mitglieder nach London zurückgekehrt waren, nahm man die Tradition gemeinsamer Treffen mit den in London Verbliebenen im Gresham College wieder auf. – Für weitere Angaben vgl. Hunter: Die Royal Society, 383–387; McKie: The origins and foundation of the Royal Society of London, passim; Gillespie: Physick and Philosophy, 215f.; Johnson: Gresham College, passim; Sprat: The History of the Royal Society, 57f. zusammen mit den Korrekturen von Birch: The History of the Royal Society of London I, 2f. Vgl. die Übersicht bei Fleitmann: Walter Charleton, 400. Wallis gibt zwei retrospektive Beschreibungen der Geschehnisse der 1640er und 1650er Jahre: A defence of the Royal Society etc., London 1678; 1696/7 stellte er die Details für seine Biographie zusammen, die dann 1725 gedruckt erscheint als ein Kapitel (Dr. Wallis’s account of some passages of his own life) des ersten Bandes von Peter Langtoft’s Chronicle, hg. von Thomas Hearne, Oxford. Vgl. McKie: The origins and foundation of the Royal Society of London, 13, 36; Gillespie: Physick and Philosophy, 215; Hunter: Die Royal Society, 384. Vgl. Hunter: Die Royal Society, 383, 385.

15 Bei der Zusammenkunft am 28. November 1660 beschließen die zwölf Anwesenden, darunter Robert Boyle und Jonathan Goddard, die Gründung der Society. Sogleich legen sie die Statuten fest, vergeben die ersten Ämter und erstellen eine Liste mit den Namen derer, die sie als »willing and fit to be joined with them in their design« erachten und denen sie die Mitgliedschaft vorzugsweise anbieten. Neben John Wallis, George Ent und über dreißig weiteren Gelehrten wird auch Glisson für qualifiziert befunden. Am 6. März 1661 wählt man ihn in die Gesellschaft; am 2. Oktober besiegelt er seine Mitgliedschaft mit der Ableistung der subscription, einer Art Treueeid, die den Kandidaten auf die Ziele und Statuten der Gesellschaft verpflichtet.72 Glisson gilt damit als sogenannter original fellow.73 Seine Teilnahme an den Sitzungen ist vor allem für die Jahre 1662–63, aber auch einmal 1670 belegt.74 Es muß offenbleiben, wie oft er tatsächlich anwesend ist und inwieweit er die Aktivitäten der Gesellschaft auch dadurch verfolgt, daß er sich von Goddard, Ent und anderen Bericht erstatten läßt. Doch wird man einräumen müssen, daß Glisson nicht unter die engagiertesten Mitglieder zu zählen ist, auch wenn er sich in sachlichen Fragen durchaus mit der Society identifiziert und von ihr sogar die Fortführung seiner Forschungen erbittet.75 Noch 1666/67 versucht man wohl erfolglos, Glisson, der während des Pestjahres ja in London verblieben war, als Referenten seiner Beobachtungen zu gewinnen.76 Vermutlich sind Glissons Kräfte durch seine Aufgaben im College of Physicians zu stark gebunden, um noch freie Kapazitäten für eine gleichgewichtete Beteiligung an den Projekten der jüngeren Institution zu haben. Zudem befindet sich die Royal Society bald nach ihrer Gründung in ihrer ersten Krise:77 Das Engagement der fellows und folglich auch die Durchführung öffentlicher Experimente ermüden zusehends. Die Aktivitäten der arbeitsteiligen Kommittees, die man 1664 einsetzt,78 sind binnen kurzem erlahmt. Kritiker stellen die neue Forschungsmethode in einen Zusammenhang mit materialistischen und atheistischen Strömungen und bringen sie damit in Verruf.79

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Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 3–5. Die 98 Mitglieder des Jahres 1663, in dem Karl II. der Gesellschaft ihre endgültige Gründungsurkunde zubilligt, werden gemeinhin original fellows genannt; vgl. Beer: The Earliest Fellows of the Royal Society, 172. 22.10.1662; 27.05.1663; 03.08.1663; 14.09.1663; 03.03.1670. Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 117f., 246, 248, 291f., 304, II, 425f. S.u. 17. Vgl. Birch: The History of the Royal Society II, 76, 166. Vgl. Hunter/Wood: Towards Solomon’s House: Rival Strategies for Reforming the Early Royal Society. Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 406f. Vgl. Spiller: Überblick über die frühen Gegner. Die prominentesten Kritiker sind Henry Stubbe, dessen Pamphlete 1670/1 erschienen, und Méric Casaubon, der sich 1669 in seinem Letter to Peter du Moulin […] concerning natural experimental philo-

16 1674 sehen sich William Petty und Jonathan Goddard angesichts der desolaten Lage genötigt, einen Entwurf für eine »declaration for restoring the Society« vorzubringen.80 Für einen Wissenschaftler, der, wie Glisson, im homogenen Gelehrtenkörper des Royal College fest etabliert ist, dürfte es keine unwiderstehliche Verlockung darstellen, sich im Übermaß für die indisponierte Society zu engagieren, zumal diese den Eindruck erwecken kann, die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem tradierten naturphilosophischen Wissensfundus durch eine Kultur spektakulärer Knall- und Zischexperimente zu ersetzen, mit denen man sich potentiellen Geldgebern anbiedern muß – eine Szenerie, die einen Teil der kollegiierten Ärzte sicherlich abstößt. Obendrein ist die Kooperation der beiden Einrichtungen, die den persönlichen Einsatz auch in der jüngeren Einrichtung hätte begünstigen können, gleich Null. Von der anfänglichen Idee einer Zusammenarbeit mit dem Medizinerkollegium kommt die Society bald ab.81 Die Differenzen der beiden Institutionen treten nur zu deutlich zutage, als die Society sich im Streit des College mit den »Chemical Physitians« auf die Seite der letzteren zu schlagen scheint.82 Die Sektion der Helmontianer und Paracelsianer, die der Society zugehört, ist beachtlich.83 Im übrigen läßt man die medizinische Forschung eher im Sinne einer gegenseitigen Ergänzung als eines Konkurrenzverhältnisses weitgehend die Domäne des Royal College sein.84

1.3

Glisson als »Baconianer«: Naturgeschichte der Selbstbewegungen

Glisson stellt seine Abhandlung De natura in die entschiedene Nachfolge des Novum Organon Francis Bacons.85 Den meisten seiner Interpreten hat die dominante Bezugnahme Glissons auf Suárez den Blick auf seinen Ba-

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sophie öffentlich gegen die Society stellt. Vgl. auch Spiller: Méric Casaubon; Jacob/ Spiller: Henry Stubbe. Vgl. Birch: The History of the Royal Society III, 137; Hunter/Wood: Towards Solomon’s House: Rival Strategies for Reforming the Early Royal Society, 54f. Zum Verhältnis des College of Physicians zur Royal Society vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 5, 347, 367–373; ferner Gillespie: Physick and Philosophy; Hall: Medicine and the Royal Society, 421–427. Vgl. Brown: The College of Physicians and the acceptance of iatromechanism in England, 17. Vgl. etwa Spiller: Überblick über die frühen Gegner, 445. Vgl. Hunter: Die Royal Society, 389. Die Society spielte indes offenbar eine Rolle in der Verbreitung medizinischen Wissens; vgl. Porter: The early Royal Society and the spread of medical knowledge. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §6, fol. a4v, 357, 425; vgl. auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 45, den Rekurs auf die Idolenlehre Bacons.

17 conismus gründlich verstellt.86 Tatsächlich entwirft Glisson im Schlußteil von De natura den Prospekt einer großangelegten Naturgeschichte der Selbstbewegungen. Hier konnte er seine langjährigen Beobachtungen der Bewegungen und Gestaltbildungen der Materie ebenso verarbeiten wie seine Erfahrungen im Kommittee For collecting all phaenomena of nature hitherto observed, and all experiments made and recorded der Royal Society.87 Offenbar sollten in De natura ursprünglich sämtliche Instanzen des »Lebens der Natur« im Anschluß an die Exposition eines metaphysischen Selbstbewegungsbegriffs, die den ersten Teil des Traktats einnimmt, in Bewegungsklassen (classes motuum) katalogisiert werden. Von diesem ehrgeizigen Vorhaben mußte vieles unverwirklicht bleiben. Obwohl Glisson seine Naturlehre auch an organischer Materie entwickelt, also an Gewebe, Gefäßen, Organen, behandelt De natura lediglich die Bewegungen der unbeseelten Naturdinge, und diese nur gemäß einer Beweisart, der probatio a priore. Die probatio a posteriore, d.h. die experimentelle Bestätigung seiner Auffassung vom »Leben der Natur«, die zu leisten Glisson sich nicht mehr imstande fühlt, erhofft er vertrauensvoll von der Royal Society.88 Er selbst muß sich darauf beschränken, seine Ausführungen nur vereinzelt in eine Beziehung zu den Forschungstätigkeiten seiner selbst und seiner Kollegen zu setzen, so etwa zur Mikroskopie,89 zu den Instrumenten Boyles und seinen Versuchen zur »Vermessung« der Luft,90 zu zahlreichen experimenta rarefactionis & condensationis, als welche Glisson beispielsweise Unterdruckphänomene diskutiert, wie sie in der Medizin beim Atmungsvorgang oder Schröpfen beobachtet werden.91 Die mangelnde Systematik dieser Querverweise zwischen Theorie und Forschungspraxis dürfte den Mitbegründer der experimentellen Physiologie, der sich im Royal College jahrzehntelang um den Aufweis und die Weiterführung der Herzkreislaufslehre Harveys verdient gemacht hat, sehr unbefriedigt gelassen haben. Doch erst bei der Durchsicht seiner zahlreichen handschriftlichen Entwürfe von Naturgeschichten wird deutlich, wie tief Glisson sich dem Wissenschaftsprospekt des Lordkanzlers tatsächlich verpflichtet fühlt.92 Mit seiner Orientierung an der Methode Bacons schafft Glisson die entscheidende Voraussetzung zur Umsetzung der Agenda, seine Forschungsergeb-

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Vgl. etwa Marion: Franciscus Glissonius, 27: »Hanc vero Baconianam Methodum, quum in physica plurimum, in metaphysica autem nihil valeat, imo metaphysicae ex toto repugnet, magis noster in hoc sui Tractatu laudat quam sequitur.« Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 406f. Vgl. De natura, Epistola Dedicatoria, Ad Lectorem, §10, fol. b2v, 425. Vgl. De natura, 415, 431, 511. Vgl. De natura, 415–418. Vgl. De natura, 365–376; 409f. Vgl. das Verzeichnis der Naturgeschichtsentwürfe im Literaturverzeichnis.

18 nisse in einer vereinheitlichten Metaphysik der Selbstbewegung zu systematisieren. Denn bei Bacon fand Glisson eine Forschungsphilosophie vor, nach der der Ausgang von Naturphänomenen mit deren theoretischer Interpretation einhergehen soll. Schon Glissons Verhältnisbestimmung von Sinnlichkeit und Vernunft ist damit bestens vereinbar. Glisson definiert ›experientia‹ als Einsicht in die Wahrheit einer Behauptung aufgrund des Zeugnisses der Sinne; ›experimentum‹ bezeichnet das im Prozeß der experientia Eingesehene.93 Die Sinne sind demnach glaubwürdiger noch als die Autorität der Alten.94 Das »Leben der Natur«, das sinnlich erfahrbar ist, gewinnt daher seine Evidenz: »experientia constat multa corpora, inanimata dicta, se movere«.95 Auch die Vernunft stellt, gemäß dem Axiom quicquid est in intellectu prius fuit in sensu, nurmehr einen dematerialisierten Abkömmling unserer Sinnlichkeit dar. Umgekehrt ist die Erfahrung des animal rationale schon an sich niemals dumpf (bruta), sondern stets vom Vernunftgebrauch begleitet. Vernunft und Erfahrung sind »gleich leiblichen Schwestern« nicht voneinander isolierbar.96 Die derart immer schon vernünftige experientia ist die Grundlage, von der ausgehend alles Wißbare aller Zeiten zugänglich wird; sie ist, wie Glisson formuliert, die mater inventionis omnium scientiarum. Damit sind die Historien oder Aufzählungen (enumerationes), in denen die experientiae zusammengestellt sind, der erste Teil einer auf das Auffinden neuer Erkenntnisse gerichteten »Wissenschaft der Wissenschaften« (ars de inventione artium) . 97 Durch diese Universal- oder Fundamentalwissenschaft sollen die Grenzen der Erkenntnis beständig erweitert werden, um schließlich von den Einzelerfahrungen aus zu allgemeinen »Regeln« (regulae artium) zu gelangen.

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Vgl. »De arte inveniendi ac perficiendi alias artes«, fol. 78r: »Experientia et sensatio inter se differunt. Experientia enim est ipse processus sensibilis quo aliquid recte cognoscitur sensatio vero unius rei singularis ac simplicis esse potest Experientia est cognitio veritatis alicuius propositionis ex testimonio sensuum. quod autem sic cognoscitur experimentum dicitur, ut ignis est calidus«. [Zeichensetzung original] S.o. das Zitat zu Anm. 26. De natura, 338, meine Hervorhebung. Vgl. auch 119, 231, 370, 401f., 510, 512f. Vgl. »Ratio sine experientia potius quam experientia sine ratione in arte medica est praeferenda.«, fol. 79r: »Questio haec ipso limine rationem ab experientia mox experientiam a ratione divellit; ast illae tanquam germanae sorores aegre hoc patiuntur. Nam 1°. cum quicquid est in intellectu prius fuit quoquo modo in sensu, ratio videtur supponere sensum et experientiam, quod species intelligibilis sub sensibili occultata primo representatur, ab intellectu vero separatur a materialitate, quatenus, intellectus recipit in se spiritualem partem speciei neglecta materiali. Porro experientia ipsa in homine, rationali creatura, vix videtur seiungi posse ab ipsa ratione: numquam enim experientia humana res plane bruta est, quasi nullo modo de rebus sensu perceptis exerceretur ratio.« Glissons Sprachgebrauch folgend übersetze ich ars und scientia hier synonym.

19 Experientia singularis parum aut nihil conducit ad artis regulas extundendas, inductio si non sit completa, opinionis potius quam scientiae verae fundamentum est, quare ad inveniendas rerum absconditarum naturas, plena enumeratio sive hystoria omnium quae spectant ad naturam quaesitam, colligenda est. quae collectio sive hystoria. primam partem huius artis, de inventione artium constituit.98

Glissons »Regeln« sind nichts anderes als die Baconschen axiomata, d.h. die allgemeinen und wahren Sätze, die in Bacons Methode über den Schritt der Induktion aus zuvor gesammelten Erfahrungsdaten »erschlossen« werden, um aus ihnen umgekehrt neue Experimente und Vorgehensweisen der Forschung abzuleiten. Bacon hatte das Novum Organon mit »Aphorismen über die Interpretation der Natur« untertitelt. Das Ziel dieser Naturinterpretation ist es, zum »Inneren« der Natur vorzudringen, das in seinen Strukturen und Prozessen (schematismi, processus) zunächst verborgen liegt.99 Daß die Induktion dabei als ein ebenso »experimentelles« wie »rationales« Unterfangen veranschlagt wird, bei dem praktische Fertigkeit und intellektuelle Kapazität zu gleichen Teilen gefragt sind, läßt das Forschungsprogramm Bacons für Glissons metaphysische Spekulationen offen sein.100 Aus den Übersichten (tabulae) der Instanzen allein ergeben sich noch keine allgemeinen Wahrheiten. Die Ausgangsdaten müssen »interpretiert«, also in Mutmaßungen einer allgemeinen Ordnung miteinander verbunden werden.101 So besehen liefert Glisson in De natura eine schulphilosophische Lösung des Induktionsproblems: er formuliert eine Variante der Naturinterpretation, bei der er für die zusammenhängende Beschreibung der Phänomene Konzeptionen der Metaphysik von Suárez heranzieht. Die Schulmetaphysik ist Glissons »speculative part of Physick and Anatomy«.102

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»De arte inveniendi ac perficiendi alias artes«, fol. 78r; s. auch ebd.: »Cum omnis intellectio nostra vel directe vel indirecte ad sensum reducitur, necesse est ut fateamur experientiam quae sensuum est esse matrem et ipsum fundamentum inventionis omnium scientiarum, et omnium quae haectenus [sic!] inventa sunt, aut in posterum inveniri possunt. qui ergo utilem praescribere velit normam sive artem inveniendi alias artes, debet ipsius experientiae fines atque modos ampliare atque extendere, eiusque multiplicem usum et efficaciam ad regulas artium formandas annotare et docere.« Vgl. Bacon: Novum Organon I, 79, Works I, 186: »haec ipsa [= Naturalis Philosophia, K.H.] […] pro magna scientiarum matre haberi debet.« Vgl. etwa Bacon: Novum Organon I, 18, 19, 26, 36, 63; II, 10, 17, Works I, 159, 161f., 173f., 235f., 257f. Vgl. Bacon: Novum Organon I, 95, Works I, 201. Ähnliches wird sich in der Naturphilosophie der französischen Aufklärung wiederholen: Diderot, in seinem Entwurf einer vereinheitlichten Physik, in der auch er auf Bacons Naturinterpretation zurückgreift, setzt seine metaphysischen Spekulationen ebenfalls an die Stelle der Baconschen Hypothesenbildung. Vgl. Hartbecke: Naturgesetze und Naturphilosophie. Vgl. Krohn: Das Naturgesetz, 51–56; Schneider: Das Weltbild des 17. Jahrhunderts, 56–59. Vgl. oben das Zitat zu Anm. 46.

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1.4

Forschungsstand und Methode

Der Metaphysiker Glisson versteht sich als fidus interpres des Francisco Suárez’, der die Konzeptionen seines geistigen »Wegweisers« (dux) und »Vorkämpfers« (antesignanus) nicht nur gemäß der eigenen theoretischen Belange transformiert, sondern oft genug zugleich in dessen Sinne zum Entwurf einer selbstbewegten, kraftbegabten Materie umzubilden beansprucht. Für eine angemessene Interpretation der Philosophie Glissons scheint damit kaum der Spielraum gegeben, von einer Darstellung des Suárezianismus Glissons abzusehen. Aber obwohl – oder gerade: weil – Glisson regelmäßig mit dem Etikett des verbissenen Scholastikers versehen wird, ist die vorliegende Untersuchung die erste Studie, die Glissons Substanztheorie als eine schulmetaphysisch gestaltete Grundlegung seiner Naturphilosophie, d.h. seiner Naturgeschichten, seiner Korpuskularphysik, seines Materialismus, würdigt. Allein eine einzige Dissertation vom Beginn des 20. Jahrhunderts stellt die Suárez-Rezeption Glissons in den Mittelpunkt. Wie weit ihr Autor die metaphysische Konzeption Glissons aber verkennt, wenn er in ihr »im wesentlichen nichts anderes […] als de[n] aristotelisch-scholastische[n] Substanzbegriff«103 entdeckt und die entschiedenen Eingriffe, die Glisson an seiner Vorlage vornimmt, schlichtweg ignoriert, wird im Verlauf der vorliegenden Ausführungen zunehmend deutlicher werden. Die Erschließung der Philosophie Francis Glissons, ihrer Vorgaben und ihrer Wirkung ist ein mehrfach angemahntes Desiderat der Ideengeschichte, trotz der Forschungsarbeit, die Walter Pagel, Owsei Temkin, John Henry und vor allem Guido Giglioni unter Betonung der Unvollständigkeit ihrer Ausführungen geleistet haben.104 Zwar wird die große Bedeutung und Originalität der Philosophie Glissons schon in älteren Werken zur Philosophie- und Medizingeschichte unterstrichen.105 Eine Darstellung der medizintheoretischen und therapeutischen Errungenschaften des berühmten Harvey-Schülers fehlt in keiner soliden Medizingeschichte; nicht

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Heinrichs: Die Überwindung der Autorität Galens, 50. Vgl. etwa Henry: Medicine and pneumatology, 17, 39: »The time is long overdue for a further reappraisal of Glisson’s influence.«; Henry/Jones: Francis Glisson, 369; MeierOeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 6. Johannes Marcus Marci, 44. Vgl. Sprengel: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneykunde, 39f.: »Es ist kaum zu begreifen, warum diese einleuchtenden und vortrefflichen Lehrsätze des Lehrers in Cambridge nicht von seinen Zeitgenossen mit größerm Beifall aufgenommen und mehr ausgebildet worden sind.«, auch 35; de Rémusat: Histoire de la philosophie en Angleterre II, 166: »un traité sur la substance […] dont la fécondité est loin d’être épuisée.«; 168: »une pensée aussi originale et forte«; Cousin: Histoire générale de la Philosophie, 498: »ce curieux traité«. Vgl. auch Henry: Medicine and pneumatology, 16f.; drs.: Der Aristotelismus und die neue Wissenschaft. Einleitung, 354.

21 zuletzt deshalb, weil kein Geringerer als Albrecht von Haller ihn als den geistigen Urheber des Reizbarkeitsbegriffs (irritabilitas) anerkannte.106 Eine Monographie, die sich De natura in philosophiehistorischer wie systematischer Absicht vornimmt, dabei den Metaphysiker mit dem Naturphilosophen und Physiologen zusammenführt, wird mit dieser Studie allerdings erstmals vorgelegt. Die erste Phase eines neuen Interesses an Glisson nahm ihren Ausgang nicht von der Wissenschafts- oder der Ideengeschichte, sondern von den Lebenswissenschaften: der Biochemie, Neurologie, Physiologie.107 Claude Bernard, seinerzeit am Collège de France, kommt hierbei eine herausragende Rolle zu. In Berufung auf Glisson begriff Bernard das Leben in seinen Erscheinungen als jeweiliges »résultat d’un conflit entre la matière vivante et les conditions extérieures«,108 als Wechselwirkung von eigengesetzlicher Innerlichkeit (lois préétablies, milieu intérieur) und umgebenden physiko-chemischen Faktoren.109 Wie Glisson ging er davon aus, daß die Strukturbildungen in der anorganischen Natur nach demselben Muster interpretierbar seien wie die der Organismen.110 Im Kontext der Protoplasma-Theorie und der Erkenntnis, daß das Leben nicht erst mit der strukturierten Zelle, sondern bereits im kern- und hüllelosen »Plasma« beginnt, erscheint Glissons Theorie einer vita primaeva der gänzlich ungeformten ersten Materie ebenfalls anschlußfähig.111 In diese Zeit fallen auch die wissenschaftshistorische Darstellung bei Lasswitz sowie die Veröffentlichungen von Henry Marion, der nun als Phi-

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Vgl. Haller: De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus, 437; Sur l’Irritabilité, 84; Bibliotheca anatomica I, 452; Ad Objectiones, 464f. bzw. Response générale, 62f. Ihm folgend Weber: Commentatio de initiis ac progressibus doctrinae irritabilitatis widmet, 36–40, 73) In seiner Bibliotheca medicinae practicae III, 13f., erwähnt Haller übrigens auffallenderweise nicht den Traktat über die Natur und rekurriert lediglich auf Glissons medizintheoretische Werke. Zu Bezugnahmen Hallers auf Glisson vgl. auch Walker: Francis Glisson, 89f.; sowie Mani: Biomedical thought in Glisson’s hepatology, 54. Vgl. Heinrichs: Die Überwindung der Autorität Galens, 48; Soury: Über die hylozoistischen Ansichten der neueren Philosophen (1881/82) beschreibt das Interesse der zeitgenössischen Neurologie an Glisson. Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie, rekurriert an folgenden Stellen auf Glisson: I, 243f., II, 433f. sowie 464–467. Wie Glisson ist auch Bernard als Leberforscher bekannt; vgl. zu Einzelheiten Mani: Die historischen Grundlagen der Leberforschung, 339–369. So Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie I, 242. Vgl. Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie, v.a. I, 26, 29, 66. Vgl. Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie I, 34f.: »les cristaux, comme les êtres vivants ont leurs formes, leur plan particulier, et lorsque les actions perturbatrices du milieu ambiant les en écartent, ils sont capables de les rétablir par une véritable cicatrisation ou rédintégration cristalline.« Vgl. Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie I, 187–194, 241–291. Zur Protoplasma-Theorie vgl. man auch die Darstellung bei Hall: Ideas of life and matter, 210– 218, der auf Glisson nicht eingeht.

22 losoph ein Licht auf den Traktat De natura wirft. Zuvor hatte Glisson in seiner Prominenz als Metaphysiker und Naturtheoretiker durchweg davon profitiert, mit Leibniz und seiner Monadologie zusammen genannt zu werden. Bereits früh hatte man einen Einfluß der beiden Mitglieder der Royal Society vermutet, und dieser Verdacht, obwohl er sogleich in Zweifel gezogen wurde,112 erfuhr mit der Histoire générale de la philosophie (1838) des Neuscholastikers Viktor Cousin noch einmal Auftrieb.113 Auch Marion widmet sich in einer Monographie dem Vergleich der beiden Denker, wendet sich allerdings – ganz offensichtlich auf der Grundlage einer weitaus besseren Textkenntnis114 – gegen die voreilige Interpretation Cousins, der Glisson gewissermaßen zum Leibnizianer vor Leibniz gemacht und in De natura sowohl die Idee der Fensterlosigkeit als auch die der prästabilierten Harmonie der Substanzen entdeckt haben wollte.115 In der angelsächsischen History of Science hat Glisson mittlerweile seinen festen Platz, sei es in seiner Rolle als Medizinprofessor in Cambridge,

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Die These der Abhängigkeit findet sich spätestens 1747, und zwar beim Göttinger Philosophieprofessor Samuel Christian Hollmann: Prima philosophia, 622f.: »Totus ergo GLISSONII liber cum Leibnitianis sententiis adeo exacte convenit, ut vel a Glissonio Leibnitium, vel a Leibnitio Glissonium, sua accepisse oporteat. […] Totam ergo bellam illam fabulam suam ex Glissonio procul dubio petit LEIBNITIUS, atque Germanis suis, sub alia paulisper forma, & Glissonii suppresso nomine, vendidit: id quod vel invito mihi hic fatendum est.«; vgl. dazu den Kommentar in: Heinekamp/Müller: Leibniz-Bibliographie, 357, Eintrag 3771. Dutens nimmt in seiner Ausgabe der Werke Leibniz auf diese Zeilen Hollmanns Bezug, vgl. Gothofredi Guillelmi Leibnitii […] Opera Omnia I, CXLI. Dutens berichtet dort zudem von einer Verteidigung Leibniz’ in einer Schrift von Friedrich Widder: De Hylozoismo, & Leibnitianismo, Groningen 1758, die mir leider nicht zur Verfügung stand. Sehr grundsätzliche Zweifel an der These Hollmanns äußert 1758/59 auch Succov: Vergleichung der Glissonischen und Leibnizischen Lehren von dem Leben der Natur. An prominenter Stelle werden Leibniz und Glisson etwa auch von Frischeisen-Köhler/Moog: Die Philosophie der Neuzeit, 325, zusammengebracht und zugleich eine Abhängigkeit Leibniz’ von Glisson für unwahrscheinlich erklärt. Affirmativer ist Jammer: Concepts of force, 159f. Vgl. Cousin: Histoire générale de la philosophie. Douzième leçon, 497–500, bes.: »il est certain que la théorie de la substance, que Leibniz donne comme sa découverte capitale en philosophie, […] est déjà tout entière dans la livre de ce dernier [=Glisson, K.H.], imprimé en 1672. […] nous ne voyons guère ce que Leibniz a eu besoin d’y ajouter d’essentiel, […].« (498); »En partant du principe de la simplicité des substances, considérées comme des forces, Glisson est arrivé au même résultat que Leibniz, à savoir: que toute substance est solitaire, et que sa puissance énérgetique la rend capable de perception, d’appétit, de mouvement, sans avoir besoin du concours d’une autre substance. […] Ainsi la monadologie a conduit aussi Glisson à l’exclusion de toute action réciproque des substances les unes sur les autres, c’est-à-dire aux causes occasionnelles et à l’harmonie préétablie.« (500) Zur Einordnung Cousins vgl. Fitzpatrick: Neoscholasticism, 840. Zudem hat Marion ein untrügliches Gespür für die zentralen, und was noch wichtiger ist: die nicht zentralen Passagen des umfangreichen Traktats De natura. Vgl. Marion: Franciscus Glissonius, 126: »Pace V. Cousin dixerim, monades apud Glissonium nullae; ›praestabilitae harmoniae‹ ne minima quidem suspicio.«

23 als Angehöriger des Royal College of Physicians, oder als Gründungsmitglied der Royal Society. Die noch heute maßgebliche, um den Autor selbst bemühte wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Aufarbeitung des Denkens Glissons beginnt mit den entsprechenden Veröffentlichungen von Walter Pagel und Owsei Temkin, wenige Jahrzehnte später gefolgt von denen John Henrys.116 Henry revidiert die von Arrigo Pacchi noch einmal bekräftigte Einschätzung, daß der Traktat De natura ohne nennenswerte zeitgenössische Reaktionen blieb, wenn auch der Befund der geringen Prominenz des Textes dadurch nicht hinfällig ist.117 Seit ungefähr fünfzehn Jahren widmet sich Guido Giglioni der Naturphilosophie Glissons und hat der Glisson-Forschung mit seinen Arbeiten eine völlig neue Qualität gegeben. Es ist ihm zu verdanken, daß uns zwei metaphysische Traktate aus den Manuskripten Glissons gedruckt vorliegen. In seiner Dissertation stellt er Glissons »Philosophie des Lebens« vornehmlich im medizinhistorischen Kontext dar.118 Auf den iatrochemischen Galenismus und Helmontianismus Glissons konzentriert, verzichtete auch Giglioni bislang allerdings weitgehend darauf, die platonisch-hermetischen Lehrstücke Glissons systematisch an seinen Scholastizismus zurückzubinden. Der Herausforderung, dem substanztheoretischen Ansatzpunkt der Naturphilosophie Glissons gerecht zu werden und die begrifflich-systematische Feinarbeit in ihrem Beitrag für den Gesamtentwurf zu würdigen, stellt sich erst die vorliegende Studie. Die nachstehende Untersuchung von De natura folgt einer Methode, die philosophiehistorische Darstellung und argumentative Analyse verbindet und insofern »Methode der historisch-systematischen Rekonstruktion« genannt werden kann. Unter der Vorgabe, die argumentativen Zielsetzungen, Strategien und Einflußfaktoren der Substanztheorie Glissons unter ideengeschichtlichen wie auch systematischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren, sind textinterne mit kontextbetonenden Zugängen kombiniert worden. Die Rekonstruktion der Kontexte, die Glissons Projekt einer metaphysischen Grundlegung seiner empirischen Naturforschung angeregt haben, geschah in zwei Formen: einerseits als selektive Rekonstruktion von biographischen, institutionsgeschichtlichen und soziohistorischen Konstellationen, andererseits als Rekonstruktion von Ideenzusammenhängen, die auf Glissons Denken nachweislich Einfluß hatten. Vor allem im zweiten Teil dieser Mongraphie ›Medizintheoretische Vorlagen von Glissons Be-

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Vgl. das Literaturverzeichnis am Ende dieser Arbeit. Vgl. Pacchi: Cartesio in Inghilterra, 151; Henry: Medicine and pneumatology, 39. Vgl. Giglioni: The Genesis of Francis Glisson’s Philosophy of Life.

24 griff der natürlichen Perzeption‹ ist die These tragend, daß Glissons Substanztheorie medizintheoretisch motiviert ist und einer Anwendungsintention im Bereich medizinischer Grundlagenforschung unterliegt. Daher macht dieser Teil einen dreifachen medizintheoretischen Ideenhintergrund für die Genese der Substanztheorie Glissons geltend: 1) die auf Galen zurückgehende Lehre von den »natürlichen Vermögen« im Organismus und die damit verbundenen Modelle der Selbstregulation organischer Vorgänge, 2) William Harveys Embryologie und seine Vorstellung einer Epigenese der Organismen, 3) die von platonisch-hermetischen Einflüssen geprägte Medizintheorie und Kosmologie des Johann Baptist van Helmont. Jeder dieser drei ideengeschichtlichen Komplexe repräsentiert einen zentralen medizintheoretischen Diskurs des 17. Jahrhunderts, der in der bisherigen Forschung allenfalls unzureichend in seiner Wechselwirkung mit der zeitgleichen schulphilosophischen Metaphysik gesehen wurde. Erst die Substanztheorie Glissons bietet hier die Gelegenheit einer eingehenderen Inblicknahme. An zentralen Begriffen und im Rückgriff auf einschlägige medizintheoretische Literatur der Zeit werden die genannten drei Ansätze auf ihre grundlegenden naturphilosophischen Implikationen abgeklopft und auf diese Weise hinsichtlich ihrer Anschlußfähigkeit für das Theorievorhaben Glissons transparent gemacht. Es stellt sich heraus, daß Glisson seine eigenen Ideen der Selbstgenügsamkeit, Kraftbegabung und Individualgesetzlichkeit natürlicher Einheiten wesentlich in der Auseinandersetzung mit diesen Vorlagen entwickeln konnte. Die textimmanente Rekonstruktion von De natura erfolgt in Form von eingehenden Analysen der in den Texten enthaltenen Begriffe, Konzeptionen und Argumente. Bestimmte Schlüsselbegriffe wie der der Natur werden unter der Fragestellung betrachtet, mit welchem semantischen Gehalt Glisson sie verwendet, auf welche thematische Problematik mit ihrer Einführung geantwortet wird, wie sie sich zueinander verhalten, welche konzeptionelle Stellung, Funktion und Bedeutung ihnen im jeweiligen argumentativen Gesamtgefüge zukommt. Im dritten Teil ›Der Naturbegriff im Zeichen des Suárezianismus‹ werden die zentralen substanztheoretischen Aussagen Glissons im Zusammenhang mit der neuscholastischen Metaphysik des beginnenden 17. Jahrhunderts, vor allem mit der Jesuitenscholastik von Francisco Suárez entwickelt. Es wird gezeigt, auf welche Weise Glisson die Konzeptionen seiner Vorgänger im Sinne der eigenen theoretischen Belange vereinnahmt. Wie gelingt es ihm, Suárez’ Begrifflichkeiten mit Versatzstücken anderer, meist neuplatonischer Autoren so zu durchsetzen, daß eine kohärente eigene Naturauffassung dabei herauskommt? Wo stecken die »offenen Flanken« der schulmetaphysischen Vorlage, die zu einer solchen eklektischen Umformung Anlaß geben?

25 Im vierten und fünften Teil (›»vestibulum Monadologiae?«‹ und ›Masse, Ausdehnung, Geist‹) werden die Konsequenzen der Substanztheorie Glissons hinsichtlich einiger spezieller Diskussionen weiter ausgezogen. Dies betrifft zum einen die Beziehung Glissons zum jüngeren Gottfried Wilhelm Leibniz. Daß Glisson im 18. Jahrhundert in den Ruf geriet, Leibniz’ Monadenlehre vorweggenommen zu haben, verhalf ihm zu einiger Prominenz. Der vierte Teil setzt sich mit den Affinitäten der beiden Denker, aber auch mit ihren großen Differenzen auseinander. Marion prägte für Glissons Lehre der energetischen Natur der Substanz den Ausdruck der »Vorhalle zur Monadologie«119 und brachte damit zum Ausdruck, daß der Entwurf De natura sich im Zustand der mangelnden konzeptionellen Konsequenz befinde. Erst durch die Monadologie Leibniz’ wird Glissons Substanztheorie demnach vollendet. In dieser Studie wird jedoch dafür plädiert, die Naturphilosophie Glissons unbedingt als ein eigenständiges Vorhaben zu verstehen, das, von Terminologie und stilistischer Eigenart einmal abgesehen, mehr mit dem Materialismus eines Lamettrie oder Diderot gemein hat als mit der Leibnizschen Monadenlehre.120 – Zum anderen thematisiert der fünfte Teil, daß Glisson seinen Substanzbegriff nicht nur auf dem Gebiet der Medizintheorie, sondern auch auf physikalische Spezialprobleme wie das Ringen um wohldefinierte Begriffe der Dichte und Masse anwandte. Zu den übergeordneten Zielen dieser Untersuchung gehört es, Glissons Entwurf der »energetischen Natur der Substanz« als das Ergebnis einer Aneignungs- und Transformationsleistung vorgefundener Ideencluster herauszustellen und die entsprechenden Strategien der Modifikation, die Glisson an seinen Vorlagen vornimmt, offenzulegen. Glisson wird dabei als ein »Wissensakteur« in den Blick genommen, der aus seiner Forschungspraxis in den führenden medizinischen Institutionen seines Umfeldes heraus initiativ, zielführend und kontrolliert mit den Ideen anderer umgeht. Dieser Ansatz impliziert eine spezifische methodologische Entscheidung innerhalb der Kontroverse, ob »internen« oder »externen« Faktoren in der Wissenschaftsgeschichte mehr Rücksicht gebührt, also den Ideen und Theorien einerseits oder den soziohistorischen Umständen, Kontexten und Bedingungen von deren Genese andererseits.121 War die Wissenschaftsund Ideengeschichte in den seinerzeit wegweisenden Werken von Mach, Koyré oder Lovejoy mehr oder weniger als ein teleologischer Vollzug rekonstruiert, in dem Theorien immer wahrer, Begriffe immer »reifer« wer-

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Vgl. Marion: Franciscus Glissonius, 127: »Fateor equidem Glissonium in Monadologiae quasi vestibulum nos adducere […].« Vgl. Hartbecke: Naturgesetze und Naturphilosophie. Vgl. Skinner: Meaning and Understanding; Osler: The Canonical Imperative; Hartbecke: Geschichte des Naturgesetzbegriffs.

26 den,122 so geriet sie bei Wissenschaftshistorikern wie Merton, Hunter oder Shapin zum kontingenten Epiphänomen soziohistorischer Sachlagen.123 Im einen Fall haben soziopolitische, ökonomische oder institutionelle Genesebedingungen von Theorien und Begriffen kaum einen Stellenwert, im anderen ist »die« Wahrheit als Fluchtpunkt der Verläufe nicht existent. In beiden Fällen kommen historische Subjekte, die die Wahrheit ihrer Aussagen, die Folgerichtigkeit ihrer Systeme, die Neuheit ihrer Gedanken beanspruchen, als Träger der Wissensentwicklung nicht prominent vor. Ein Wahrheitstelos ist ebenso subjektlos wie soziokulturelle Kontingenzen. In der vorliegenden Studie kommt dagegen eine Auffassung von Ideengeschichte zum Tragen, der zufolge Ideen in Kontexten entwickelt und geäußert werden, welche jeweils durch institutionelle Bedingungen, Wissens- und Rationalitätsstandards, Wertesysteme usw. geprägt sind. Dieser Ansatz wird mit einer Ideenhistoriographie umgesetzt, die primär von Wissenssubjekten ausgeht. Wenn Glisson seine zentralen Ideen der Autarkie und Produktivität der Natur veröffentlicht, so stehen diese Ideen in Kontexten – Kontexten ihrer Genese wie auch Kontexten ihrer Äußerung. Zugleich sind diese Ideen Ausdruck seiner intellektuellen Initiativen und genuinen philosophischen Programmatik. Er erhebt mit ihrer Äußerung epistemische Ansprüche, also Ansprüche auf die Evidenz seiner Naturbeschreibung, auf die Folgerichtigkeit seiner Argumentation, auf die ausreichende Absicherung seines Systems durch Autoritäten. Epistemische Ansprüche können nur von Wissensakteuren erhoben werden und sind vom performativen Akt der Erhebung abhängig. Zugleich gehen sie ihrem Inhalt nach über die Initiativen eines Einzelagenten deutlich hinaus und sind Teil einer kollektiven Praxis, in der Wissens- und Geltungsansprüche institutionalisiert sind. Jegliche kollektive Praxis mag der kulturellen Varianz und dem historischen Wandel unterliegen. Erhebt jedoch ein Autor Anspruch etwa auf die Wohdefiniertheit seiner Begriffe oder die wissensprogrammatische Relevanz seiner Aussagen, so ist dieser Anspruch im Moment der Erhebung für ihn keine Frage seiner subjektiven Interpretation, seiner kulturellen Aneignungsleistung oder der soziohistorischen Begleitumstände. Nimmt er erst diese Dinge in den Blick, hat er sich von seinem Anspruch bereits distanziert und erhebt ihn nicht mehr im selben Sinne.

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Vgl. etwa Mach: Die Mechanik; Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum; Lovejoy: Die große Kette der Wesen; auch Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes; begriffsgeschichtlich gewendet Ritter: Leitgedanken und Grundsätze, 78f. Vgl. z.B. Shapin: History of Science and its Sociological Reconstruction; Shapin: A Social History of Truth; Hunter: Science and Society in Restoration England; Shapin & Schaffer: Leviathan and the Air-Pump; Merton: Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England.

27 Ideengeschichte wird hier demnach weder als der Prozeß der Durchsetzung von Wahrheit noch als ein Epiphänomen soziohistorischer Kontingenzen betrachtet. Sie spielt sich vielmehr in den Köpfen historischer Akteure ab. Der ideengeschichtliche Ansatz meiner Darstellung steht nicht für das Unternehmen einer Rekonstruktion zutage getretener Wahrheiten, nimmt sich aber der Wahrhaftigkeit Glissons im Sinne von dessen Anspruch, etwas Wahres und Begründetes über die Natur zu sagen, an.

2

Medizintheoretische Vorlagen von Glissons Begriff der natürlichen Perzeption

Die Abhandlung De natura ist in erster Linie ein metaphysischer Grundlagentraktat und verbindet in dieser Funktion die beiden medizintheoretischen Hauptwerke Glissons, die Anatomia hepatis und den Tractatus de ventriculo et intestinis.1 Auch wenn Glisson in De natura vor allem als Metaphysiker ernstgenommen werden will, kann kein Zweifel daran bestehen, daß seine Substanztheorie medizintheoretisch motiviert ist und einer Anwendungsintention im Bereich medizinischer Grundlagenforschung unterliegt. Bereits Anfang der 1760er Jahre hatte er sich an die Abfassung des Tractatus de ventriculo et intestinis gemacht, eine Abhandlung, in der er seinen neuen Begriff der Reizbarkeit (irritabilitas) vorstellen wollte. Doch er merkt, daß er zunächst eine andere, grundsätzlichere und philosophische Frage klären muß: die Frage nach der »Perzeption der Natur«. Aus dem Bedürfnis einer metaphysisch-philosophischen Grundlegung des Reizbarkeitsbegriffs heraus faßt er De natura ab. Quindecim minimum jam anni praeterierunt, candide Lector, a quo tempore Tractatum hunc Anatomicum primo scripseram. Verum mecum tunc reputans, eum multis in locis praesupponere (quanquam in multis quoque probare) generalem naturae Perceptionem, de qua in genere nihil adhuc scriptum extabat; visum est ejusdem impressionem tantisper differre, dum alium Tractatum huic prodromum de Vita naturae cincinnarem, & in lucem ederem.2

Diesen Anwendungskontext von De natura läßt Glisson vor allem im populär gehaltenen Vorwort an den Leser deutlich werden, wo er auf einige herausragende Ansätze der aktuellen Embryologie und Physiologie in einer Ausdrücklichkeit Bezug nimmt, die sich im gesamten Traktat nicht wiederholen wird.3 Die epigenetische Lehre seines Lehrers William Harvey findet hier ebenso Erwähnung wie die Zwei-Seelen-Theorie des

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S.o. 13. Vgl. Tractatus de ventriculo et intestinis, Lectori benevolo, fol. 2v. Vgl. auch Tractatus de ventriculo et intestinis, Lectori benevolo, fol. 3r–v: »quis mihi, absque perceptione naturali, modum exposuerit, quo vis plastica pullum in ovo formet? Evidentissimum est, hoc naturaliter & familiariter fieri, nihilque subesse miraculi. Datur itaque naturalis causa huic operi adaequata, quae, sublata naturali perceptione, nullibi comparebit.«

29 Julius Caesar Scaliger oder das archeus-Konzept der Paracelsisten. Ein genauerer Blick auf diese Entwürfe vom werdenden und gewordenen Organismus wird sich für das Gesamtverständnis von Glissons Denken als äußerst fruchtbar erweisen. Darüberhinaus läßt es sich zeigen, daß Glissons Projekt eines »Lebens der Natur« ganz unter dem Eindruck der neuen Blutkreislaufslehre Harveys,4 und hier besonders der ihr nachfolgenden Leberforschung steht, zu der Glisson ja selbst einige der engagiertesten Beiträge lieferte. Die Zirkulationsthese hatte der schulmedizinischen Hepatologie ihren schwersten Stoß versetzt, und es galt, die revolutionäre Entdeckung in einer Revision der überkommenen Vorstellungen einzuholen. Gleiches gilt für die Embryologie: auch auf diesem Gebiet hatte Harvey neue Maßstäbe gesetzt; dies zum Teil in Wirkung der Zirkulationsannahme, vor allem aber durch sein spätes Hauptwerk, die Schrift über das Werden der Lebewesen.5 Dort war er mit einem ungewöhnlichen Eibegriff und einer neuen Theorie foetaler Selbstperfektion vorstellig geworden. Der Einfluß auf Glisson ist auch hier deutlich ausmachbar. – Die Aufdeckung des doppelten Genese-Zusammenhangs, in dem die Naturphilosophie Glissons zur Physiologie und Embryologie seiner Zeit steht, ist ein schönes Ergebnis in einem der glücklichen Fälle, in denen es gelingt, eine Rekonstruktion der Motive, Anstöße, Grundintuitionen eines Denkers anhand seines unveröffentlichten Nachlasses nahezulegen. Überhaupt erscheint es sinnvoll, sich der komplexen Theorie unseres Autors im Ausgang von den medizintheoretischen Fragestellungen anzunähern, auf die sie eine Antwort sein soll.

2.1

Influxus und Ubiquität der Naturalvermögen im Galenismus der Renaissance

2.1.1 Natur und Naturalvermögen Wie nach der philologischen Wende des Humanismus und im Rahmen der medizinischen Ausbildung am Caius College üblich,6 kannte Glisson die Lehren Galens aus dessen Schriften selbst, wahrscheinlich in den einflußreichen lateinischen Übersetzungen von Thomas Linacre und John Caius, später vermutlich auch in weiteren, dem Personenkreis des Royal College entstammenden Übertragungen. Mit der Förderung entsprechender Ausgaben gab man dort nach wie vor der Überzeugung Ausdruck, daß die Bereitstellung korrekter Editionen von Werken der beiden größten Ärzte

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Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in animalibus, Frankfurt 1628. De generatione animalium, London 1651. Ich benutze die Ausgabe Amsterdam 1651. S. meine Bemerkungen in der Einleitung, 9.

30 der Antike für die medizinische Forschung, Wissensvermittlung und Praxis unerläßlich sei.7 Ferner dürften Glisson die einschlägigen Interpretationen und Weiterentwicklungen der galenischen Medizin vertraut gewesen sein. In einem nicht genauer bestimmbaren Grad gilt dies für die traditionell orientierte Medicina (1554) des Jean Fernel,8 die die nachfolgende Medizintheorie prägte wie kaum ein anderer Text, und für die Historia Anatomica (1602) des Andreas Laurentius, der allerdings wiederum vom Einfluß Fernels abhing.9 Zusätzlich machte man sich anhand medizinischer Lexika kundig, im Falle Glissons nachweislich anhand der geschätzten Definitionum medicarum libri XXIV des Parisers Gorraeus (Jean de Gorris), eines Standardwerks nach dem Vorbild der pseudo-galenischen o(/roi i)atrikoi/, das die wichtigsten Termini hippokratisch-galenischer Herkunft verzeichnet und für alle späteren Nachschlagewerke gleicher Art maßgeblich wurde.10 Das Verhältnis Gorraeus’ zur Medizinischen Fakultät der Pariser Universität ist zu weiten Teilen ungeklärt, und damit ist es zugleich fraglich, inwieweit er in Kontakt mit dem nur einige Jahre älteren, ab 1534 lehrenden Fernel kommen konnte.11 Zeitgenossen setzen Gorraeus durch-

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Die editio princeps der Texte Galens, die Aldina, erschien 1525 in Venedig. Linacre hatte unter anderem De inaequali intemperie (erstmals 1521), De naturalibus facultatibus (1523), De sanitate tuenda (1517), De symptomatum causis (1524), De temperamentis (1521), Methodus medendi (1519) an verschiedenen Verlagsorten, darunter Cambridge, publiziert. Seine Übersetzungen waren für die im 16. Jahrhundert erscheinenden Werkausgaben maßgeblich, insbesondere für die zahlreichen Editionen des Verlagshauses Giunta in Venedig. John Caius besorgte unter anderem eine lateinische Übersetzung von De Hippocratis et Platonis decretis (1544). Vgl. die entsprechenden Einträge in: Durling: A Chronological Census, sowie Fichtner: Corpus galenicum. Die Herausgabe der hippokratischen Aphorismen Anfang der 1630er Jahre durch Ralph Winterton, den Vorgänger Glissons auf dem Regius-Lehrstuhl in Cambridge, unterstützte das Royal College mit einem eigenen Vorwort; vgl. Robb-Smith: Cambridge Medicine, 339. Weiteres Beispiel einer jüngeren Textausgabe durch ein Mitglied der Ärztekammer sind die von Thomas Goulston besorgten Opuscula varia, London 1640; vgl. Neuburger/Pagel: Handbuch der Geschichte der Medizin I, 393; Clark: History, 47, 199; Moore: The history of the study of medicine in the British Isles, 183–185. Moore lag ein Exemplar mit Notizen von Harvey vor. Vgl. allgemein zum Werk, Leben und Wirken des Fernel: Sherrington: The Endeavour of Jean Fernel; ferner Granit: Art. ›Fernel, Jean François‹. Andreae Laurentii Historia Anatomica Humani Corporis Lib. VIII, Francofurti 1602. Vgl. Pagel: Biological Ideas, 239. Glissons namentlicher Rekurs auf beide Mediziner ist vereinzelt und fehlt im Traktat De natura völlig. Vgl. aber MSS Sloane 3307, fol. 157r (Fernel); sowie »Quatuor sunt partes principes in corpore humano etiam ratione individui.« (Laurentius). Paris 1564. Ich arbeitete mit der Ausgabe Frankfurt 1578. Glisson memoriert frei aus dem Lemma »Yuxh/. anima sive animus.«; vgl. De natura, 234. Vgl. Fichtner: Corpus galenicum, 64f. Zu Gorraeus und seinem Wirken ist wenig bekannt. 1505 zu Paris geboren, promovierte er an der dortigen Fakultät 1541 zum Doktor der Medizin. Von 1548–1550 hatte er das Amt des Dekan inne. 1557 wurde er aufgrund seines Bekenntnisses zum re-

31 aus als die Figur des spöttelnden Kritikers Fernels in Szene.12 Inhaltlich läßt sich jedoch eine deutliche Übereinstimmung der beiden Autoren in den Tendenzen ihrer Galen-Auslegung feststellen. Wie aus einer Leseempfehlung des Sir Thomas Browne an einen Schüler hervorgeht, gehörten die Definitiones des Gorraeus auf der Insel zur gängigen Literatur, an der man die Studenten noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts ausbildete.13 Zum Bild des Organismus, das Galen zusammen mit seinen Interpreten hinterlassen hatte und das im konservativ-schulmedizinischen Klima der Universitäten und der Londoner Ärztekammer zur Zeit Glissons nach wie vor verbindlich war, gehörte die Vorstellung des influxus, mit der der Begriff des Lebens, d.h. der Wirkweise von Natur und Seele im Lebewesen, hier ausgestaltet wird. Für Fernel und Gorraeus »fließen« die Lebensvermögen von bestimmten Kardinalorganen ausgehend in den übrigen Körper »ein«. Die Leber ist dabei der Herkunftsort der sogenannten Naturalvermögen. Diese Vorstellung erweis sich mit der Entdeckung des großen Blutkreislaufs durch William Harvey als unhaltbar. Mit dem Zirkulationsbefund war die wahre Funktion der Venen als Organe des Bluttransports zum Herzen erwiesen, und das hepatozentrische Paradigma der Schulmedizin schien mit einem Schlag hinfällig. Es war nicht länger möglich, die Leber als den Mittelpunkt des venösen Systems zu erachten, von dem aus der Körper mit Nährblut versorgt würde. Ihre Kompetenzen im Organismus mußten völlig neu verhandelt werden.14 Damit war zugleich ein neues Konzept der Nähr- und Wachstumsvorgänge gefordert. Unter dem Eindruck des Zirkulationsbefundes war es gefordert, eine grundlegend neue Erklärung der vegetativen Lebensfunktionen zu finden. Das weit ausholende naturphilosophische System, das Glisson im Traktat De natura anbietet, kann als ein konzeptioneller Reflex auf eben diese veränderte Theoriesituation interpretiert werden.

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formierten Protestantismus aus der Universität ausgeschlossen, jedoch auf Intervention des Königs 1563 rehabilitiert. Gorraeus war philologisch äußerst gebildet. Er fertigte zweisprachige Ausgaben von Hippokrates’ jusjurandum, de arte, de antiqua medicina (1542) und von Galens Kommentar in prognostica Hippocratis (1552) an. Vgl. Pagel: Art. ›Jean de Gorris‹; Kestner: Medicinisches Gelehrten-Lexicon, 353; Chereau: Le Parnasse Médical, 264; Dezobry/Bachelet: Dictionnaire général de biographie; Tétry: Art. ›Gorris (Jean de)‹; vgl. auch die Einträge in Durling: A Chronological Census, 270, und Fichtner: Corpus galenicum, 60. Vgl. Sherrington: The Endeavour of Jean Fernel, 53. Vgl. Robb-Smith: Cambridge Medicine, 343f. Vgl. Nikolaus Mani: Die historischen Grundlagen der Leberforschung. Bd. 2. Basel / Stuttgart 1967, 84–103 passim; drs.: Naturwissenschaftlich-biologische Grundlagenforschung in der Medizin des 17. Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal 11 (1976), 181–205, hier: 182–186; Andrew Cunningham: The Historical Context of Wharton’s Work on the Glands, xxxix.

32 Galen begreift die Vorgänge im Organismus als Werke (e)/rga) einer alles kunstfertig durchwaltenden, in die gesamte Welt (gh=) »ausgedehnten« mens-Natur.15 Vom universalen Geist »fließt«, so Gorraeus, die Eigennatur der einzelnen Dinge »aus«.16 Von den verschiedenen Bestimmungen der menschlichen Natur, die das Corpus Galenicum aufführt, setzen Gorraeus und Fernel diejenige ins Zentrum, derzufolge die Natur eine »vis […] quae ex seipsa nostri […] opifex & conservatrix« sei.17 Sie formt und nährt den Körper, macht ihn wachsen und leistet überhaupt alle Aufgaben in ihm.18 Bereits in der hippokratischen Sammlung sind die »Enkomien«, die beharrlich wiederholten Bewunderungsformeln an die Natur, verzeichnet: Eine providente und gerecht zumessende Künstlerin handelt die Natur stets weise und niemals ohne lo/goj, ist dabei aber unbelehrt.19 Glisson wird sagen: sie ist Autodidakt.20 Hippokratisch ist auch das Diktum von der Natur als Heilerin der Krankheiten, das Glisson für seinen Begriff der energetischen Natur nutzen wird.21 Mit der aristotelischen Bestimmung des Körpers als Instrument der Seele gesprochen gestaltet die Natur den Körper nach Maßgabe der Beschaffenheiten und Vermögen der Seele: der Nutzen aller Teile nützt der Seele.22 Das von der Natur erhaltene Lebewesen bildet eine Einheit ohne Nutzlosigkeit, ohne Mangel, ohne Mög-

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Vgl. De usu partium XVII, 1, Kühn IV, 358: »ti/j ou)=n ou(/twj e)/mplhktoj e)xqro/j e)sti

kai\ pole/mioj toi=j e)/rgoij th=j fu/sewj, o(\j ou)k e)k tou= de/rmatoj eu)qe/wj a(pa/ntwn kai\ prw/ton sunh=ke th=j te/xnhj tou= dhmiourgou=; ti/j d'ou)k a)\n eu)qu\j e)xequmh/qh nou=n tina du/namin e)/xonta qaumasth\n e)piba/nta th=j gh=j e)kteteta/sqai kata\ pa/nta mo/ria;«

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(Übersetzung von Kühn: »Quis igitur adeo est demens aut operum naturae inimicus, qui non ex cute statim et iis, quae primum occurrunt, artem opificis intelligat? Quis non statim animo concepit, mentem quandam esse, quae vim habeat admirabilem, quaeque terras omnes pervadens in omnes ejus partes extendatur?« Vgl. Definitiones medicae, Lemma »Fu/sij. natura«, 500: »[Galenus] definit [naturam] esse Mentem admirabili virtute praeditam quae omnia pervadat. Ab ea singularum rerum naturam propriam manare consentaneum est […].« Zur Vorstellung der emanatio s.u. 168f. So Definitiones medicae, im Lemma »Fu/sij. natura.«, 500; vgl. Fernel: Medicina IV, 7, 113: »naturam esse definimus vim primam & causam per se nostri opificem & conseruatricem. Hominis enim natura est quae non aliud quicquam procurat, & quae soli addicta homini, quem conformauit gubernat quantum potest longissime.« Vgl. Galen: Definitiones medicae, XCV, Kühn XIX, 371. Vgl. Gorraeus: Definitiones medicae, Lemma »Fu/sij. natura.«, 500: »Itaque natura est quae animal ab initio conformat, auget, nutrit, & omnia in corpore munia exercet.«; Fernel: Medicina IV, 7, 113: »illa ipsa simul omnium functionum causa censeri debeat.« Vgl. Epidemiarum VI, 5, 1; Littré V, 315; De alimento, 39; Littré IX, 113; Galen: De naturalibus facultatibus I, 12, Brock 47, 49; I, 13, Brock 60: »a)dida/ktwj«; III, 3, Brock 229; De usu partium, XVI, 2, Kühn IV, 268; XVII, 1, Kühn IV, 349. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c2r: »au)todi/daktoj«. Vgl. Harvey: De generatione animalium, Ex. 50, 195: »au)todi/daktoj est, & a nemine edocta«. Vgl. Epidemiarum VI, 5, 1; Littré V, 315: »Nou/swn fu/siej i)htroi/.«; Glisson: De natura, Ad Lectorem §18, sig. c4r; 191, 256. Vgl. Aristoteles: De anima II, 4, 415b19; Galen: De usu partium I, 2, Kühn III, 2.

33 lichkeiten einer »bautechnischen« Verbesserung.23 Die Harmonie der Dämpfe und Säfte, die Sympathie, Wechselwirkung und Kohärenz aller Teile erlauben erst die Auslegung der Vorgänge im Lebewesen als nützliche – eine Interpretation, die im Ausgang von »unteilbaren und unharmonischen Atomen« keinen Anhalt hat.24 Ohne die Annahme der Natur als Grund organischer Einheit ist jede Diskussion des Lebens lächerlich; der Anatom wäre nicht mehr als ein Schlachter.25 »Einheit« und »Harmonie« des Körpers stehen also für das Konzept eines inneren Zusammenhangs der Teile, und mit diesem Konzept wird auch Glisson den Atomismus seiner Zeit kritisieren.26 Im Begriff der Natur als Einheits- und Organisationsprinzip des Körpers wird die stoische Natur- und Pneuma-Vorstellung für den menschlichen Organismus artikuliert; diese wiederum macht deutliche Anleihe beim platonischen Konzept der selbstbewegten Seele.27 In der Tat ist es die Vorstellung der Selbstbewegung, die es, in der Schnittfläche von Seele und Natur, schwer macht, die Zuständigkeitsbereiche beider Instanzen gegeneinander abzugrenzen. Die Verwirrung liegt bereits in der Terminologie begründet, die je nach Herkunft aus der aristotelischen, platonischen oder stoischen Literatur dieselben Sachverhalte verschieden bezeichnen kann; sie wirkt sich dann aber auch auf die medizintheoretische Systematik aus. So hatte Galen es zu einer Frage der Benennung erklärt, ob man Wachstum und Ernährung als Werke einer fu/sij oder anima vegetativa, Motorik und Sensorik einer yuxh/ oder anima sensitiva zuschreibe.28 Und während Gorraeus die vegetativen Lebensfunktionen als Effekte in den Lemmata »Fusikh\ du/namij. naturalis facultas.« und »Du/namij. facultas.«, aber gerade nicht im Eintrag »Yuxh/. anima sive animus.« diskutiert, handelt Fernel sie im Buch über die Vermögen der Seele ab.29 Es waren grundsätzlich zwei Verfehlungsfiguren, die das Unternehmen einer Theorie der Natur zu einer fast aporetischen Angelegenheit machen konnten: der Naturbegriff konnte einerseits allzu willkürlich mit Konnotationen des Rational-Seelenartigen belastet werden. Ernüchterte man sich

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Vgl. De naturalibus facultatibus I, 11, Brock 38: dhmiourgei=n. Vgl. De naturalibus facultatibus I, 12, Brock 46–48; I, 13, Brock 60; I, 14, Brock 72; II, 6, Brock 156: »a)/narma kai\ a)me/rista [...] stoixei=a«; De usu partium I, 8, Kühn III, 17–19; XVII, 1, Kühn IV, 350f. Vgl. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 127; II, 4, Brock 143. Zur einheitsstiftenden Funktion der Natur vgl. beispielsweise ebd. I, 12, Brock 44; I, 14, Brock 72; II, 6, Brock 156. S.u. 3.2.10. Vgl. hierzu Forschner: Die stoische Ethik, 54–58, 92f., 108; Steinmetz: Die Stoa, 606– 608; zu Platon Phaidros 245c6–246d1, Nomoi X, 892a2–899a6. Vgl. De naturalibus facultatibus I, 1, Brock 3; De placitis VI, 3, de Lacy 375. Fernel: Medicina V, 3–6, 126–134.

34 andererseits in der Frage nach dem materiellen Substrat des Lebens, schien es ausgeschlossen, dem Überlegenheitsmoment der Natur und der Seele gegenüber den nackten Elementen begrifflich habhaft zu werden. Im ersten Fall drohte der Vorwurf des »Animismus«, im zweiten der des »Naturalismus«. Glissons Theorie kann gelesen werden als der Versuch, zwischen beiden Extremen hindurchzusteuern. Als wichtigste Definition der Substanz der Natur gibt Gorraeus aus den hippokratischen und galenischen Corpora diejenige einer Mischung aus den Elementarqualitäten an, in dem deutlichen Bewußtsein, daß diese Festlegung bereits Unbehagen auslösen konnte.30 Umso mehr gilt dies für die Vorstellung einer Mischungsseele, die sich einstellt, wenn die Seele nicht hinreichend von der so bestimmten Natur abgerückt wird. Hinsichtlich der substantia animae selbst hatte Galen zwar seine Unwissenheit eingestanden und sich jeglichen Urteils enthalten;31 Gorraeus verweist den Wissensdurstigen denn auch lieber an die Bücher De anima des Aristoteles.32 Über die e)poxh/ des Galen setzte man sich jedoch fast immer hinweg: bereits von seinen frühesten Auslegern wurde Galen als »Naturalist« gehandelt. Christliche Autoren verdächtigten ihn, die Seele als bloßes temperamentum corporis und damit als sterblich zu aufzufassen. Unter dem programmatischen Titel Quod animi mores corporis temperamenta sequantur wurde der gesamte Ärztestand programmatisch zusammengefaßt.33 Noch Suárez schreibt 1621: »Galenus […] ait animam esse temperiem seu proportionem humorum.«34 Für diese Interpretation Galens war vor allem Bischof Nemesius von Emesa autoritativ gewesen. Dessen Schrift peri\ fu/sewj a)nqrw/pou, die von den su/mmikta zhth/mata des Porphyrius inspi-

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Vgl. Gorraeus: Definitiones medicae, Lemma »Fu/sij. natura.«, 500: »Sed citra controversiam omnino est, cum natura pluribus modis dicatur ab Hippocr. eum cum saepissime, tum toto libro de natura humana, Naturae nomine temperamentum intellexisse, atque id esse praecipium & maxime proprium Naturae significatum, ab ipsa naturae substantia desumptum, ut Galenus in Aphoris.2.lib.3 annotavit, quo scripsit Hippocrates, naturarum has quidem aestate, has vero hyeme bene maleve se habere. Quod si quis contendat naturam non satis temperamenti nomine explicari, definiat si volet, naturam esse universam substantiam ac temperiem quae ex primis elementis conflatur, ut & Galenus lib. 3. de temper. definivit.« Vgl. beispielsweise De substantia facultatum naturalium, Kühn IV, 760–764, Quod mores animi corporis temperamenta sequantur, Kühn IV, 767–822, passim. Vgl. allerdings auch De praesagitione ex pulsibus II, 8 (Kühn IX, 305) Galens Bekenntnis, daß die essentia facultatum nichts anderes sei als die Mischung der Elementarqualitäten. Vgl. Gorraeus: Definitiones medicae, 518: »Yuxh/. anima sive animus. […] Scio quidem Aristotelem multo accuratius animam definivisse, & paulo supra medici contemplationem, quam tamen, si cui curae est, requirat in libris ab eo conscriptis de anima.« Vgl. Temkin: Galenism, 92f., mit Bezug auf den Kommentar De anima des Johannes Philoponus; vgl. auch ebd., 170. Suárez: De Anima, Castellote 64 (disp. 1, quaest. 1, 4. Quid sit anima).

35 riert ist, war im Mittelalter stark verbreitet. In der Übersetzung von Ricardus Burgundio aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts heißt es: Galenus […] contestatur […] quod nihil erat de anima enuntiaturus; videtur autem ex quibus dicit existimare magis complexionem esse animam, hanc enim sequi morum differentiam, […]. Si autem hoc est, manifestum est quoniam et mortalem eam existimat esse, non omnem autem sed irrationalem animam hominis. […] Quoniam autem non potest corporis crasis (id est complexio) esse anima, manifestum est […].35

Eine als Mischung von Qualitäten gefaßte Seele lief indes nicht nur der christlichen Seelenlehre entgegen; sie war auch nicht ohne weiteres mit der aristotelischen Auffassung der Seele als individueller forma substantialis vereinbar. Der gerade in Cambridge vielgelesene Aristoteliker Johannes Magirus bringt in seiner Physiologia peripatetica (1605) den Begriff der forma substantialis bezeichnenderweise mit dem der i)diosugkrasi/a als peculiaris et singularis temperamentum zur Deckung.36 Glisson selbst bezieht den Terminus ›crasis‹ auf den Begriff des Lebens und argumentiert gegen die Gleichsetzung von ›vita‹ und ›temperamentum‹, in der das Leben nur als Akzidens, nicht aber als vita substantialis gefaßt werden könne, wie es gerade sein Anliegen ist.37 [Naturam energeticam, K.H.] appellare possumus to\n bi/on ou)siwdh/n, vel, brevius, th\n biousi/an, vitam substantialem, vel vitae substantiam.

Mit seiner Bestimmung des Lebens, das nicht Mischung, Qualität, Quantität usw., sondern substantielles (ou)siw¯dhj) Leben ist, scheint Glisson zunächst in der Linie einer spirituell-metaphysischen Auffassung des Lebensprinzips zu stehen, wie sie auch der Neuplatonismus, hier vor allem Porphyrius, gegen die materialistischen Festlegungen der Stoa für den Seelenbegriff getroffen hatte: yuxh\ a)sw/matoj kai\ ou)siw/dhj.38 Doch obwohl Glisson sich mit Einschränkungen als Platoniker versteht, besteht

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De natura hominis II, Verbeke 32 (Matthaei 87). Die doxographische Zusammenstellung der Seelenauffassungen, innerhalb derer der obige Passus steht und die unter der Fragestellung der Einheit (e(/nwsij) von Seele und Körper geschieht, beruht auf einer früheren, nicht mehr erhaltenen Vorlage, vgl. Dörrie: Porphyrios’ ›Symmikta Zetemata‹, 111f., 117. Dörrie versuchte eine Rekonstruktion des porphyrischen Textes bzw. seines Gehaltes und stützte sich dabei wesentlich auf das zweite und vor allem das dritte Kapitel von De natura hominis. Die Deutung des Nemesius wurde dem Galen-Bild des christlichen Westens schon im 11. Jahrhundert eingeschrieben; bereits Alfanus von Salerno übersetzte das Werk ins Lateinische; Näheres in der Einführung von Verbeke/Moncho zur Textausgabe von De natura hominis; vgl. auch Temkin: Galenism, 81–86, 96f.; Neuburger/Pagel: Handbuch der Geschichte der Medizin I, 522–524. Vgl. Temkin: Galenism, 144f.; Rogers: Cambridge, 10. Vgl. De natura, 233: »Vitam non esse accidens. Obj. […] Hinc Galenus, ab aliquibus, vitam pro crasi quadam sive temperamento habuisse putatur.« Das folgende Zitat ebd. 191f. Vgl. Dörrie: Porphyrios’ ›Symmikta Zetemata‹, 9, 29–32, 111–151.

36 seine These gerade darin, daß das Leben, also das Vermögen der Selbstbewegung, eine der Materie immanente vita materialis ist.39 Fernel stellt sich mit Nachdruck den Tendenzen des »Naturalismus« entgegen und öffnet den Naturbegriff für die Vorstellung einer überelementar-göttlichen Kraft. Die Substanz der Natur definiert er als calidum innatum, als himmlische Wärme, die erst die Lebensvollzüge des Wachsens, Ernährens, Bewegens usw. zu bewirken vermag.40 Der Sitz dieser Wärme ist der spiritus, als ätherischer Körper die Vermittlungsinstanz (vinculum) des Unkörperlichen und Körperlichen und somit das erste Instrument der Seele.41 Gorraeus verzeichnet diese Bestimmungen für die Lebenswärme und den spiritus gleichermaßen42 und betont die innige Durchmischung beider, die sie wie ein und dieselbe Substanz erscheinen läßt.43 Er hebt zudem den Aspekt des Bewegungsanfangs hervor, wenn er

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Dazu im Abschnitt 4.3. Vgl. Medicina IV, 7, 113: »Naturae substantia. Veruntamen si proprie agendum est, naturae substantia est calidum innatum […].«; 114: »Naturam esse temperamentum. Hinc fit vt rursum naturam quodammodo liceat appellare primum id corporis temperamentum, quod a prima statim origine ex elementorum & caloris diuini perfusione contractum est.«; vgl. auch IV, 1, 102. Vgl. Medicina IV, 2, 105: »2. de animal. gene. cap. 3. Quocirca recte prodidit Aristoteles in semine spumosoque corpore spiritum, in spiritu naturam contineri, quae proportione respondet elemento stellarum: aperte quidem significans spiritum hunc inter corpus & diuinam illam naturam, tanquam commune quoddam vinculum interponi. Neque vero menti solum, sed & vnicuique animae parti caducae proprium spiritum attribuit, omnemque animae facultatem affirmat corpus aliud participare, idque magis diuinum quam quae elementa dicuntur, atque prout nobilitate obscuritateve animae inter se differunt, ita & huius corporis naturam distare. Quapropter si tum Aristotelis, tum caeterorum rationes iudicio certo ponderemus, palam fiet vnamquamque animae partem spiritu quodam ceu fundamento niti, per quem tum corpori insidet, tum omne officij munus exequitur. Spiritus quid. Est igitur spiritus corpus aethereum, caloris facultatumque sedes & vinculum, primumque obeundae functionis instrumentum.« Vgl. Definitiones medicae, Lemma »Qermo/n. calidum.«, 178: »Talis autem substantia calida non est aliud […] quam calidum innatum cuius vi omnium animantium vitam natura moderatur. Est enim aut anima, aut primum & praecipuum animae instrumentum, quo omnia quae sunt ad vivendum necessaria, administrat. Id non est nuda aliqua aut elementaris qualitas, non ignis aut aliquid quod ab igne originem ducat, sed substantia coelitus in viventia corpora delapsa, & aliquid proportione respondens elemento stellarum […] elementare non est, sed plane coeleste & divinum, […].«; Lemma »Pneu=ma. spiritus.«, 380: »utrumque interdum naturam, opificem, animam etiam aut eius instrumentum, authoremque omnium functionum, adhaec vitae vinculum indifferenter dici invenies a medicis aliud agentibus & non ex professo ea de re differentibus.« Vgl. Definitiones medicae, 380, Lemma »Pneu=ma. spiritus.«: »Substantiam quidem esse liquet, quod tertia sit substantiae nostrae portio, quam medici constare scripserunt solidis, humoribus & spiritibus: verum supra corporeae naturae sortem ex elementorum temperamento conflatae. Siquidem haec nihil habet elementare, sed eiusdem plane est cum calore nativo originis, cuius etiam perpetuo comes est, & in rebus omnibus gerendis instrumentum. […] Proindeque spiritus ille cum calido nativo mis-

37 den spiritus als »substantia aetherea, calida, levissima tenuissimaque, omnes in corpore motus ciens«44 definiert. Die Konnotation des GöttlichCoelesten entnehmen beide Autoren den Äußerungen des Aristoteles zum pneu=ma im zweiten Buch De generatione animalium 45 – eine Textstelle des Corpus, auf die erst Fernel die Diskussion der Lebenswärme gelenkt hatte.46 Calidum innatum und spiritus bezeichnen keine irdischen Elemente oder deren Mischungen; sie sind von einer göttlicheren Natur, die dem Element der Sterne entspricht (respondere).47 In der Initiierung der Lebensverrichtungen überlagern sich die Kompetenzen von Geist und Lebenswärme mit denen der sogenannten Vermögen (duna/meij), mit denen die Natur den Körper durchwirkt.48 Die Vermögen sind Ursache von e)ne/rgeiai, d.h. aktiven Bewegungen (kinh/seij drastikai/) oder Bewegungen seiner selbst (kinh/seij e)c e(autou=);49 in die-

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tus ita confususque est, ut nunquam ab invicem separentur, sed ubicunque calor est, ille etiam spiritum esse sit necesse. Non insidet alterum alteri, ut subiecto, sed totis substantiis perfectissime secum commiscentur, adeo ut unum tantum corpus, unaque res videri possint. […] Cum ergo tanta sit spiritui cum calore nativo communio operisque societas, par est eum eiusdem etiam naturae esse, hoc est, aethereum, coelestem & divinum, cuiusmodi calidum innatum esse, […]. Est enim spiritus praecipuum naturae instrumentum quo omnes functiones muniaque exequitur.« Definitiones medicae, 380, Lemma »Pneu=ma. spiritus.« II, 3, 736b 30–737a 8. Vgl. oben die Anm. 41. Vgl. Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, 207–219, 228. Vgl. die Zitate in Anm. 41, 42, 43 sowie Medicina IV, 1, 103: »Calorem nostrum non esse prorsus elementarem. […] necesse est hunc vitae calorem praestantioris cuiusdam esse originis, neque ignei elementi rudiorum naturam redolere, […]. Vnde intelligi potest calorem eum […] non ex prima elementorum mistione, sed aliunde ortu recondito fluxisse.«; IV, 6, 111: »is calor qualitas quum sit, totus tamen diuinus est atque coelestis, & in aethereo spiritu subsistit.« Gorraeus äußert sich ganz ähnlich, etwa im Lemma »Qermo/n. calidum«, 178: »Id non est nuda aliqua aut elementaris qualitas, non ignis aut aliquod quod ab igne originem ducat, sed substantia coelitus in viventia corpora delapsa, & aliquid proportione respondens elemento stellarum, sicut Aristoteles de generat. animal. lib. 2. cap. 3. explicavit.« Galen setzt ein unbekümmertes »haben« zwischen die Natur und ihre Vermögen: die Natur »hat« ihre Vermögen, vgl. De naturalibus facultatibus I, 13, Brock 60; I, 12, Brock 48. Alle Aktivität im Körper kommt von der Natur, wie Gorraeus festhält, auch die durch unseren Willen, d.h. durch unsere tierische Seele bestimmte; die eigentlichen Naturalvermögen sind jedoch die unwillkürlich aktuierten Vegetativvermögen; vgl. Lemma »Fusikh\ du/namij. naturalis facultas.«, 500: »Ac quanqum natura per universum corpus sit diffusa & omnes actiones ab ea proficiscantur, & nullum opus non possit naturae tribui, adstringitur tamen a medicis facultatis naturalis nomen ad eas actiones, quarum principium & sedes iecur est.« sowie das Zitat unten in Anm. 50. Vgl. De usu partium, XVII, 1, Kühn IV, 346f.; De placitis VI, 1, de Lacy 360(. Es ist mit diesen Festlegungen selbstverständlich, daß der du/namij-Begriff der Medizintheorie nur einer Bedeutungslinie des aristotelischen du/namij-Begriffs folgt und ausschließlich das sich selbst verwirklichende, »kinetische« Vermögen, nicht aber die Möglichkeit im Sinne einer rein passiven Bestimmungslosigkeit der ersten Materie oder einer logischen Possibilität bezeichnet (»ontologisches Vermögen«); vgl. Schlü-

38 ser Funktion sind sie von der Natur selbst kaum unterscheidbar und explizieren diese lediglich in die einzelnen Aspekte ihrer Aktivität.50 Galen nimmt ebenso viele facultates wie actiones an.51 Am Ende des Bewegungsvollzuges steht das Werk (e)/rgon).52 Fernel belädt auch den Vermögensbegriff mit den Epitheta einer überirdisch-stellaren Herkunft.53 Die Vermögen werden dreifach klassifiziert und können natürlich (naturale), vital (vitale) oder seelisch (animale) sein, je nachdem, ob sie Vegetation, Pulsation oder Sinnlichkeit, Bewegung und Verstandestätigkeit verantworten. Sie werden von einem je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedenen Kardinalorgan prinzipiiert. Im Ausgang von Platons Timaios hatte Galen die anima concupiscibilis, irascibilis und rationatrix in Leber, Herz bzw. Gehirn verortet.54 Dementsprechend ist die Leber das Prinzip (a)rxh/, phgh=) des Nährvermögens und der Unterscheidungsfähigkeit des Eigenen und des Fremden, das Herz ist der Ursprungsort von Pulsierkraft und Lebenswärme, Gehirn und Rückenmark schließlich bilden die Quelle der willkürlichen Bewegung und der Sinnesempfindung.55 Aristoteles und später

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ter: Art. ›Akt/Potenz‹, 135–138, bes. 136. Für letzteres Verständnis von du/namij steht im Lateinischen potentia oder possibilitas, für ersteres bevorzugt facultas oder virtus, ferner ebenfalls potentia. Auch in Glissons Rehabilitationsversuch des Vermögensbegriffs spielen die beiden Auffassungen von du/namij eine Rolle, vgl. unten den Abschnitt 4.1. Gorraeus notiert denn auch: »Naturam intelligi […] Omnem facultatem quae animal sive voluntatis nutu sive citra hunc, regit.« (Definitiones medicae, Lemma »Fu/sij. natura.«, 500) Vgl. Quod animi mores corporis temperamenta sequantur, 2, Kühn IV, 769. Vgl. De naturalibus facultatibus I, 2, Brock 4–7. Im Rahmen seiner embryologischen Ausführungen schreibt Fernel über die Vermögen des Samens (Medicina VII, 5, 228): »Spiritus & facultates non ex elementis, sed ex semine nasci. […] certa demonstratione confici potest, spiritus & eas quae in nobis vigent facultates, nec primam elementorum temperiem esse, nec ex ea, sed e semine solo originem habere. […] Obiicies hic fortassis, id semen ex primis constare elementis, omnemque vim suam ex illis adeptum esse. Hoc certe non est vsquequaque verum, sed a diuiniori quodam magisque excelso principio robur assumit, quanquam est ex elementis concretum. […] Nam (inquit Aristoteles) omnis animae siue vis siue potestas, alterius cuiusdam corporis particeps esse apparet, eiusque diuinioris quam quae elementa appellantur.« Bei Gorraeus finden sich derartige Ausführungen innerhalb der Vermögens-Lemmata hingegen nicht. Vgl. Quod animi mores corporis temperamenta sequantur, Kühn IV, 767–822, passim; oder etwa De placitis VI, 3, de Lacy 373; vgl. Timaios 69d6–72b5; 76e7–77c5. Vgl. De methodo medendi IX, 10, Kühn X, 635f.; De placitis, VI, 3, de Lacy 372–375; sowie Galenis in Platonis Timaeum commentarii fragmenta, 12: »trei=j le/gomen a(/j

a)pe/deica, kata\ me\n to\n e)gke/falon th\n a)rxh\n ei)=nai tw=n neu/rwn te kai\ proairetikw=n kinh/sewn, e)/ti te pro\j tou/toij ai)sqh/sewn pe/nte kata\ de\ to\ h(=par ai(/mato/j te kai\ flebw=n kai\ tou= tre/fesqai to\ sw=ma kai\ tou= gnwri/zein th/n t' oi)kei/an ou)si/an ei)j tou=to kai\ th\n a)llotri/an, kata\ de\ th\n kardi/an a)rthriw=n kai\ th=j e)mfu/tou qermasi/aj kai\ sfugmw=n kai\ qumou=.«; sowie Gorraeus: Definitiones medicae, Lemma »Fusikh\ du/namij. naturalis facultas.« 500: »Ac quanquam natura

per universum corpus sit diffusa & omnes actiones ab ea proficiscantur, & nullum

39 Chrysipp hatten alle Vermögen von einem Organ, dem Herzen, ausgehen lassen, und um die Frage, welcher Autorität hier in welchem Sinne Recht zu geben sei, war ein erbitterter Streit zwischen »Galenisten« oder »Platonikern« auf der einen und »Aristotelikern« auf der anderen Seite entbrannt.56 Das »Prinzip-Sein« der drei Kardinalorgane wird lichttheoretisch als eine durch Venen, Arterien oder Nerven geleistete Radiation der entsprechenden Vermögen an die jeweiligen Organe gedacht.57 So sind die Organe der Bewegung und Sinneswahrnehmung zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf die Vermittlungsleistung der Nerven angewiesen, durch die ihnen die facultates animales einfließen wie das Licht von der Sonne.58 Mit dem Durchtrennen eines Nervs verunmöglichen sich die sensitiven oder motorischen Verrichtungen des betroffenen Organs.59 Bei Fernel und Gorraeus sehen wir die Vorstellung etabliert, daß es der Geist (spiritus) ist, der als eine Art Transmitter (vehiculum facultatis 60) über die anatomischen Kanäle verschickt wird. Ganz analog zu den drei Klassen von Vermögen unterscheiden beide Autoren den spiritus naturalis, vitalis, animalis.61 Ungefähr 100 Jahre nach den Veröffentlichungen der Pariser Mediziner referiert Glisson diese Vorstellung der Aussendung von spiritus als Influx-Modell, in dem die Vorstellung einer materiellen Emission sehr viel stärker hervortritt:

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opus non possit naturae tribui, adstringitur tamen a medicis facultatis naturalis nomen ad eas actiones, quarum principium & sedes iecur est. Nam sicut rationalis & irrationalis animae vim & quae ad sensum motumque pertinent in cerebro statuerunt, & in corde irascibilem atque pulsificam, sic in iecinore concupiscibilem & quaecunque nutriendo corpori conveniunt, tanquam in suo fonte collocarunt.« Diesem widmet sich Fernel in aller Ausführlichkeit (vgl. Medicina V, 12–15, 147–157) und bekennt sich selbst zum galenisch-platonischen Lager. Zu Galens Argumentation gegen Chrysipp vgl. unten die Anmerkungen 82 und 92; ferner Nickel: Stoa und Stoiker in Galens Schrift De foetuum formatione. Vgl. beispielsweise De usu partium I, 16, Kühn III, 45; IV, 13, Kühn III, 308f.; In Platonis Timaeum Commentarii Fragmenta, 12; Fernel: Medicina IV, 10, 119: »Quae partes corporis principiatum obtinent, iecur, cor & cerebrum, tum natura, tum spiritu praepotente valent, vt non se ipsis duntaxat gubernandis dent operam, sed alios de se spiritus tanquam iugi de fonte promant, in omne corpus propriis ductibus deriuatos.« Vgl. De locis affectis I, 7, Kühn VIII, 66: »Kai\ diafe/rei pa/mpolu kata\ tou=to ta\ fusika\ tw=n yuxikw=n o)rga/nwn, ei)/ge toi=j me\n fusikoi=j e)dei/xqh su/mfutoj h( th=j e)nergei/aj du/namij ou)=sa, toi=j yuxikoi=j de\ a)po\ th=j a)rxh=j e)pir)r(ei=n o(moi/wj h(liakw=? fwti/.« (Übersetzung Kühn: »Atque hac in re plurimum differunt naturalia ab anima-

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libus instrumentis; siquidem naturalibus innatam actionis facultatem esse, animalibus vero a principio, veluti lumen a sole, defluere ostensum est.«) Vgl. De symptomatum causis I, 7, Kühn VII, 140. Vgl. etwa Fernel: Medicina IV, 10, 120: »si qua in iocinere [sic!] communis & influens statuitur naturalis facultas, illinc quoque naturalem spiritum dimanare, qui eius distribuendae sit vehiculum.« Vgl. die Zitate in und zu Anm. 79.

40 Existimo itaque influxum dici re actionem transeuntem a causa influente perpetim et immediate dependentem: ut exempli gratia, lumen a sole ad terram perpetim diffunditur; interposita autem nube aut corpore Lunae continuo intercipitur. […] Credibile enim est, eos qui de influxu facultatum disceptarunt, non intellexisse facultates absque materia a una parte ab aliam migrare (hoc enim non fert sana philosophia): verum nobilem aliquam materiam puta spiritum in parte quapiam principe praeparari et inde ad alias partes ab illa dependentes dispensari. Posuerunt enim in animalibus tres partes principes, cor, cerebrum et hepar; atque has tres in caeteras influere: cor, per arterias, spiritum vitalem; cerebrum, per nervos, spiritum animalem; hepar, per venas, spiritum naturalem.62

Die Auffassung eines dreifachen Geistes analog zur Dreizahl der Kardinalorgane und Seelenteile war von Galen allerdings nicht oder doch nicht kanonisch vorgesehen und bildete sich erst in der Absicht einer symmetrischen Abglättung seines Systems heraus: in Analogie zu den anderen beiden Systemen, dem zerebralen und dem kardialen, sollte auch den Venen und der Leber die Aufgabe der Distribution von lebensspendenden Vermögen zugedacht werden. Während Galen selbst die Termini des pneu=ma zwtiko/n und vor allem des pneu=ma yuxiko/n vielfach verwendet – wobei er hierbei allerdings, wie gesagt, eher nicht an eine materielle Emission, sondern an eine Kraftausbreitung nach dem Paradigma der Wärme- und Lichtradiation denkt –, ist seine Rede vom pneu=ma fusiko/n mit Sitz in der Leber sehr vereinzelt und dann hypothetisch.63 Ein eigenes Lemma zum spiritus naturalis sucht man in Gorraeus’ Definitiones denn auch vergeblich. Ferner hatte Galen es im Unklaren gelassen, ob er auch im Falle der Naturalvermögen an eine echte Prinzipiierung durch eines der Zentralorgane und an eine Kraftvermittlung über anatomische Kanäle glaubt,64 wie es im Beispiel der facultates animales unzweifelhaft ist,65 ob er die Venen lediglich als Transportwege des Nährsaftes und gerade nicht von Kräften betrachtet,66 oder aber ob er beide Möglichkeiten gar nicht als einander ausschließende Alternativen erachtet.67

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Glisson: »Facultas naturalis non influit.«, fol. 385r–386r. Vgl. Siegel: Galen’s System of Physiology and Medicine, 183–190; Kudlien/Wilson: Art. ›Galen‹, 235; sowie: Temkin: On Galen’s Pneumatology. Die Vorstellung des dreifachen spiritus findet sich indes bereits in einer recht frühen Phase der GalenRezeption; Temkin, ebd., 188, verweist auf die Isagoge des Joannitius (Hunain Ibn Ishaq), die ein Bestandteil der Articella war. Bis in die Gegenwart wird die These, daß Galen selbst drei pneu/mata angenommen habe, beharrlich wiederholt, s. etwa Magner: A History of the Life Sciences, 67f.; Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin, 356. Die Pneuma-Lehre Galens im Kontext der Physiologien seiner Vorläufer betrachtet Wilson: Erasistratus, Galen, and the pneuma. Vgl. De placitis VI, 3, de Lacy 375f.; VI, 7, de Lacy 408f. Auch im Fall der Leber ist die Redeweise von der a)rxh\ duna/mewn ganz üblich bei Galen, vgl. etwa ebd., VI, 1, de Lacy 360; VI, 5, de Lacy 374. Vgl. Siegel: Galen’s System of Physiology and Medicine, passim. Vgl. De locis affectis, I, 7, Kühn VIII, 66. Vgl. De placitis VI, 4, de Lacy 384f.

41 Zudem konzipiert Galen die Naturalvermögen als einwohnende Vermögen (duna/meij e)/mfutoi oder su/mfutoi),68 die jedem einzelnen Partikel des Körpers originär zugedacht werden müssen, will man sein Entstehen und seinen Unterhalt befriedigend erklären. In den Kräften des Anziehens, Zurückhaltens, Kochens und Ausscheidens ließ sich die Natur nur als noch dem kleinsten Teil immediat innewohnende Kraft fassen (vis insita et inhabitans),69 die die gesamte »Tiefe« (ba/qoj) des Lebewesens ohne Absenzen (o(/la di' o(/lwn) durchwirkt und jede Stelle in ihm anrührt.70 Hier verwendet Galen offensichtlich das Chrysippische Konzept der kra=sij di’ o(/lwn, der vollständigen Durchdringung des materiellen Substrats von Lebewesen und Pflanzen durch die Seele bzw. Natur.71 In ihrer Inwendigkeit ist die Natur den menschlichen Künsten unnachahmlich: so dem Statuenbildner, der sein Material lediglich von außen (e)/cwqen) in eine Form kleidet, dem Weber, der neues Material nur an Ränder und Enden heranwebt, auch den Kindern, die eine Schweineblase dehnen und sie dabei immer dünnwandiger werden lassen.72 Das naturgewirkte Wachstum indes ist zugleich Verdichtung, Erhaltung der Form und Ausdehnung in alle Richtungen73 und kann daher nur als Wachstum im Kontinuum infinitesimaler Wachstumspunkte gedacht werden. Wollte man am influxus-Modell uneingeschränkt festhalten, sah man sich demnach der Herausforderung gegenüber, die Radiation und Ubiquität der Naturalvermögen zusammenzudenken. Gorraeus schreibt: Hae [facultates secundariae,74 K.H.] numero sunt quatuor, una attractrix, altera retentrix, tertia concoctrix, quarta expultrix dicitur, quae non in iecinore modo, sed in

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Vgl. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 126; III, 1, Brock 224; III, 5, Brock 244; III, 12, Brock 282. Vgl. Gorraeus: Definitiones medicae, im Lemma »Fu/sij. natura.« die Bestimmung »Naturam intelligi Vim quandam corporibus insitam et inhabitantem« (500). Wie das Ganze der Welt durchwirkt die Natur auch das Ganze des Körpers, vgl. Galen: De usu partium XVII, 1, Kühn IV, 350. Vgl. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 127: »h( ga\r diapla/ttousa ta\ mo/ria fu/sij e)kei/nh kai\ kata\ braxu\ prosau/cousa pa/ntwj dh/pou di' o(/lwn au)tw=n e)kte/tatai • kai\ ga\r o(/la di' o(/lwn ou)k e)/cwqen mo/non au)ta\ diapla(ttei te kai\ tre/fei kai\ prosau/cei. […] to\ me\n o)stou= me/roj a/(pan o)stou=n a)potelei=, to\ de\ sarko\j sa/rka, to\ de\ pimelh=j pimelh\n kai\ tw=n a)/llwn e(/kaston • ou)de\n ga/r e)stin a)/yauston au)th=? me/roj ou)d' a)nece/rgaston ou)d' a)ko/smhton.« Der Terminus »to\ ba/qoj« ebd., und etwa De usu partium XVII, 1, Kühn IV, 352: »dia\ ba/qouj«.

Vgl. SVF 2, frg. 471, 473, 479–481; Steinmetz: Die stoische Ethik, 608; Dörrie: Porphyrios’ ›Symmikta Zetemata‹, 25f.; Leinkauf: Mundus combinatus, 57; zu den verwandten Konzepten der panspermia und des anaxagoreischen omnia in omnibus vgl. ebd., 92–110. Vgl. De naturalibus facultatibus I, 7, Brock 26–29, und II, 3, Brock 128, 136f. Vgl. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 136–139, I, 7, Brock 28f. In der Fachterminologie hatte sich die Kategorisierung der facultates generatrix, auctrix, nutrix als primae, der attractrix, retentrix, concoctrix, expultrix als secundariae durchgesetzt; mit Galen: De naturalibus facultatibus I, 9, Brock 33. Vgl. Gorraeus:

42 omnibus vel minimis etiam corporis partibus insunt, genere quidem plane eaedem, sed numero valde differentes. […] tamen omnes eas vires atque facultates quamvis tam differentes a iecinore sortiuntur, a quo tanquam a fonte in universum corpus illae derivantur. Est enim principium vegetabilis facultatis, […].75

Fernel erscheint eine Übertragung des Paradigmas des Einfließens auf die Vegetativkräfte schon deshalb rechtfertigungsbedürftig, weil das Hervorkommen des natürlichen Geistes aus der Leber bisher noch nie wahrgenommen worden sei. Hier scheint er eine Argumentation Galens anzudeuten, welcher auf der Grundlage von Gefäßligaturen ebenfalls die mangelnde Sinnfälligkeit eines Vermögensstromes aus der Leber eingestanden hatte.76 [Animalem spiritum, K.H.] quidem in cerebri ventriculis viisque sensuum contineri, quemadmodum & in arteriis vitalem, inter omnes medicos iam plane constat: at naturalem ex iocinere [sic!] proferri, non vsqueadeo est sensu compertum.77

Indes finden wir bei Fernel und Gorraeus folgenden konzeptionellen Vorschlag, wie Innesein und Derivation der Lebenskräfte miteinander vermittelt werden können: neben dem einfließenden Geist (spiritus influens), der von den drei Hauptorganen emittiert wird und dementsprechend dreifach klassifizierbar ist, nehmen sie in jedem Körperteil einen je spezifischen fixen Geist (spiritus insitus) an.78 Die spiritus influentes haben die Herrschaft über die spiritus innati; sie nähren sie, regen sie beständig zu ihren Funktionen an und erhalten überhaupt das Leben in ihnen.

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Definitiones medicae, 500: »Fusikh\ du/namij. naturalis facultas. Distinguitur bifariam a Galeno, in primas sive principes, & in secundarias sive ministras. Primae statuuntur triplices, generatrix, auctrix, nutrix. […] Itaque generatio, auctio & nutritio prima naturae operum ac veluti capita sunt, proindeque tres facultates primae atque principes horum effectrices, quae tamen tum ipsarum inter se tum aliarum ministerium desiderant, quas secundarias possumus appellare.« Im Eintrag »Du/namij. facultas.« (117f.) stellt Gorraeus allerdings auch andere Klassifizierungen vor. Auch Galen hatte alternative Hierarchisierungen der Naturalvermögen durchgespielt: man vgl. etwa De naturalibus facultatibus III, 12, Brock 285, wo Galen jedem Organ vier natürliche Vermögen zuspricht, deren erstes die facultas attractrix sei. Gorraeus: Definitiones medicae, 500, Lemma »Fusikh\ du/namij. naturalis facultas.« Anders als im Fall des Arterial- und des Nervensystems stellt sich beim Unterdrükken des Flusses in den Venen kein sofort beobachtbarer Effekt ein; vgl. De placitis VI, 3, de Lacy 372–375. Medicina IV, 10 (das Kapitel ist in der von mir benutzten Ausgabe fälschlicherweise mit »7« überschrieben), 119f. Vgl. Fernel: Medicina IV, 10, 119: »PARTEM vnamquamque similarem innato calido & proprio spiritu instructam esse quoad in vita sit animans, neque citra opem illorum posse vnquam consistere, perspicuum iam est & euidens. […] Quot partes corporis tot sunt spiritus & totidem naturae. […] Hae [= die effectrices functionum, K.H.] autem quum sint spiritus & innatum calidum, quibus naturae substantiam compleri diximus, consequens est totidem statui spirituum innatorum, totidem & humidorum & calidorum & naturarum varietates, quot partium similarium differentias numero dimetimur, vt vniuscuiusque partis sua haec sint, caeterarum nulli eadem prorsus impertita.«

43 Natiui tum caloris, tum spiritus differentiae: hosque partibus singulis insitos, aliunde influentibus gubernari. Cap. VII. […] Spiritus & vires influentes. Quae partes corporis principatum obtinent, iecur, cor & cerebrum, tum natura, tum spiritu praepotente valent, vt non se ipsis duntaxat gubernandis dent operam, sed alios de se spiritus tanquam iugi de fonte promant, in omne corpus propriis ductibus deriuatos. His quicunque partibus singulis ingeniti sunt spiritus, aluntur: his in vires functionesque suas concitati, constantem & perpetuam operum functionem edunt. Naturalis. Vitalis. Animalis. Vnde intelligitur praeter innatos spiritus qui stabiles & in vnaquaque parte fixi sunt, tres insuper errantes & vagos influentesque existere, vnum naturalem e iecore [sic!] per venas in corporis extrema diffusum: alterum vitalem quem cor assiduo per arterias emittit: tertium animalem qui in cerebri ventriculis genitus, hincque per neruos profectus, partes irrigat sensus motusque compotes.79

An der kontraintuitiven Annahme einer Emission der Naturalgeister festzuhalten ist in diesem Entwurf des Organismus letztlich ein Postulat der zentralen Stellung der Leber, für die die »Galenisten« gegen die Priorität des Herzens im Aristotelismus eintreten mußten. Wenn man voraussetzt, daß die Leber eine facultas naturalis habe, so Fernel, müsse man auch annehmen, daß ein natürlicher Geist von ihr ausgehend verschickt würde.80 Die Leber ihrer Würde als Motor der Vegetation im Zentrum des venösen Systems zu berauben,81 war gleichbedeutend mit der Aufgabe der eigenen Position als Ganzer.82 Mit der Entdeckung Harveys war nun die wahre Funktion der Venen als Organe des Bluttransports zum Herzen erwiesen, und die Kompeten-

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Vgl. Fernel: Medicina IV, 10, 119. Wenig später, 120, heißt es dann: »Partes omnes tum insitis tum influentibus viribus gubernari. Nulla pars in nobis aut calorem aut insitum spiritum, aut vires ab ortu datas potis est retinere citra influentium spirituum vires, sed in breui omnia conciderent a principiorum viribus & fauore destituta. Itaque quum sint partium corporis aliae principes, vt cerebrum, cor, & iecur, adde si videtur & testes: aliae ab his natae & quasi earum viribus subseruientes, vt nerui, arteriae, venae, seminis vasa: reliquarum omnium insitae vires influentibus inde viribus gubernantur: aliae manifestius, vt musculus: aliae obscurius, vt os, cartilago, vinculum. In has enim partes tametsi neque vena inseritur quae sanguinem, neque arteria quae spiritum perferat, satis tamen haec in illas deriuari declarat assidua quae fit earum nutritio. Neque enim citra influxum possint eae persistere & vita teneri.« Vgl. Gorraeus’ Referat, Definitiones medicae, im Lemma »Pneu=ma. spiritus.«, 380: »Quo fit ut totidem sint innati nobis spiritus, quot sunt & naturarum & calorum varietates. Qui quoniam promptissime exolverentur & evanescerent, nisi subinde alio adveniente spiritu reficerentur, ideo natura triplicem spirituum procreandorum officinam instituit, ex quibus tres in universum spirituum differentiae oriuntur: naturali quidem ex iecinore, vitalis autem a corde, animalis autem a cerebro, […].« Vgl. Medicina IV, 10, 120: »Caeterum si vis est vlla demonstrationis, neque sunt omnia sensuum testimonio fulcienda, conficient supra adductae Aristotelis rationes, si qua in iocinere [sic!] communis & influens statuitur naturalis facultas, illinc quoque naturalem spiritum dimanare, qui eius distribuendae sit vehiculum.« Vgl. Fernel: Medicina V, 14, 153: »Venas a iecore [sic!] nasci.« Man vgl. hier auch die Argumente, die Galen gegen Chrysipp anführt: vertritt man die These, alle Lebensfunktionen gingen vom Herzen aus, so sei die Leber doch gänzlich nutzlos. Vgl. De placitis VI, 4, de Lacy 385.

44 zen der Leber im Organismus waren seitdem völlig fraglich.83 In der Anatomia Hepatis von 1654 veröffentlicht Glisson die Konsequenzen, die er für die moderne Hepatologie aus der Zirkulationsthese gezogen hatte.84 Er erklärt die überkommene Annahme der hepatischen Blutbildung für falsch und verwirft das Lehrstück der Leber als Quellort des venösen Systems, das in der Beförderung von Nährblut die Versorgung der Organe sicherstellt. Die Leber degradiert zum bloßen Organ der Blutreinigung.85 Unter dieser Voraussetzung fällt auch die These eines Influx der Naturalvermögen: »Facultas naturalis non influit.«86 Zunächst erwägt Glisson noch, vom Blut- und Lebensbegriff Harveys inspiriert,87 eine Vermittlung über das arterielle System und meint, die constitutio naturalis der Körperteile borge sich ihr Leben vom Vitalblut, das »in sua potestate continet vitam originalem«.88 Dann aber formuliert er: Et quidem mihi cum illis convenit, cor influere vitalem facultatem in et cum spiritu vitali; cerebrum sensum et motum in et cum spiritu animali; de hepate vero, an ullo sano sensu in caeteras partes influere dicatur, ambigitur. Neque enim est principium venarum, neque principium sanguificationis, neque distributionis sanguinis. […] Hisce datis nullus superest locus dubitandi quin hepar excidat omni officio influend

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Vgl. Mani: Die historischen Grundlagen der Leberforschung, bes. 81–84, aber auch passim 84–103; Naturwissenschaftlich-biologische Grundlagenforschung in der Medizin des 17. Jahrhunderts, 182–186; Cunningham: The historical context of Wharton’s work on the glands, xxxix. Zu den medizintheoretischen Errungenschaften der Anatomia hepatis vgl. die konzise Darstellung bei Mani: Biomedical thought in Glisson’s hepatology, 38f. Glisson diskutiert die Zirkulationsthese Harveys in zahllosen Zusammenhängen, wie die Manuskripte dokumentieren. Einen der betreffenden Texte, die Abhandlung »Doctrina de circulatione sanguinis haud immutat antiquam medendi methodum« aus Sloane 3309, hat Jeffrey Boss kritisch ediert und übersetzt. Zu den Konsequenzen der Neuerungen Harveys und Glissons für die Pathologie und Therapie der Zeit vgl. Davis: Some implications of the circulation theory. Glisson äußert sich zu diesen Zusammenhängen in einer Fülle von Manuskripten, vgl. beispielsweise »Hepar non est organum sanguificationis«; »Hepar non est principium venarum«; »Sanguinis cursus in venis est a partibus exterioribus versus cor«; »Officium hepatis est secretio bilis a sanguine.«. Für weitere Handschriften zum Thema vgl. die Auflistung im Literaturverzeichnis. Vgl. zur Sache auch Mani: Die historischen Grundlagen der Leberforschung, 113–116. Die Leber entfernt die galligen Exkremente aus dem sanguis biliosus, das ihr durch die Pfortader herangebracht wird. Das filtrierte Blut speist sie sodann in die vena cava ein und leitet die abgeschiedene Galle zur Sammlung in die Gallenblase. So der Titel des Manuskripts Glisson in MSS Sloane 3309. Vgl. De generatione animalium, Ex. 57, 262: »Dicendum itaque arbitramur, motus omnes naturales a virtute cordis profluere, […].« S. sogleich den Abschnitt 2.2. Vgl. »Influxus spirituum vitalium requiritur ad exercium [sic!] facultatum naturalium.«, hier insbesondere folgende Passagen: »Ex circuitu sanguinis luculenter constat sanguinem cum spiritu vitali ad omnes partes distribui. […] Enimvero inscita [sic!] sive naturalis partium constitutio, non in se continet vitam originalem; si autem de natura vitae participare velit, necesse habet alicunde eandem mutuare, et quidem ab illa parte quae in sua potestate continet vitam originalem, nimirum a sanguine vitali.« (fol. 118r)

45 [sic!] in alias partes. […] Negamus enim facultatem insitam influere transmittendo naturalem spiritum in omnes alias partes per vasa, quemadmodum dicimus cor et cerebrum influere. […] Hisce sic definitis mihi cum ornatissimo respondente concurrendum est Facultatem naturalem non influere.89

Diese medizintheoretischen Verwicklungen bilden den Nährboden des immanentistischen Lebensbegriffes, den Glisson im Traktat De natura entfaltet. Für Glisson kann die Natur nur dann als das »nächste« Prinzip der jeweiligen Verrichtung (principium intimum operationis, facultas insita) gelten, wenn der Gedanke verabschiedet wird, daß die Lebensäußerungen, deren Urheber sie ist, von einem entfernten Zentralorgan abkünftig seien. Das »Leben der Natur«, das Glisson in De natura vorstellt, verzichtet zum einen auf die Präsenz einer vegetativ-hepatischen Seele, zum anderen aber auch auf das Einfließen des spiritus vitalis, in dem Glisson den influxusGedanken zunächst noch fortgeschrieben hatte.

2.1.2 sunai/sqhsij, oi)kei/wsij, irritabilitas: Modelle innerorganischer Selbstregulation Galen entwirft die Natur als das inwendige, jedem Partikel des Leibes intim gegenwärtige Prinzip der vegetativen Lebensvollzüge. Er kennt nun auch die Vorstellung der Gegenwart eines Organs in sich selbst, vermöge derer dieses die eigenen Verrichtungen kontrolliert. Vorgabe sind hier das stoische Lehrstück der sunai/sqhsij (sensus sui), der Selbstwahrnehmung der Pflanzen, Tiere und Menschen, sowie das damit begrifflich eng zusammenhängende Gegensatzpaar der oi)kei/wsij (conciliatio, commendatio) und a)llotri/wsij (alienatio), der »Zueignung« und »Abstoßung des Fremden«.90 Stoischer, insbesondere Chrysippischer Auffassung zufolge gehört

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»Facultas naturalis non influit.«, fol. 386r–v. Glisson wechselt zwischen einem transitiven und einem intransitiven Gebrauch von influere also hin und her. Vgl. »Hepar non est principium venarum«, fol. 201r: »Hepar non est principium causationis vel respectu venarum ipsarum, vel respectu alicuius virtutis et influentiae per eas in alias partes dispensatae. […] Etenim non existimandum est posse facultates ab una parte in aliam commigrare; et consequenter si hepar illas facultates partibus transmittat, necesse est in et cum sanguine eiusque naturalibus spiritibus deferat. Cum igitur excircuitu [sic!] sanguinis innotescat hepar nullum sanguinem in partes dispensare, aeque certum est idem neque naturales facultates in easdem influere.« Zentrale Quellen sind unter anderem die Berichte bei Diogenes Laertius: De vitis VII, 85f.; das dritte Buch von Ciceros De finibus, besonders die Passage III, 5, 16: »Placet his […] quorum ratio mihi probatur, simul atque natum sit animal […] ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum et ad suum statum eaque quae conservantia sunt eius status diligenda, alienari autem ab interitu iisque rebus quae interitum videantur afferre. Id ita esse sic probant, quod ante quam voluptas aut dolor attigerit, salutaria appetant parvi aspernenturque contraria, quod non fieret nisi statum suum diligerent, interitum timerent. Fieri autem non posset ut appeterent aliquid nisi sensum haberent sui eoque se diligerent. Ex quo intelligi debet principium ductum esse a se diligendo.«; ferner Senecas 120. und 121. Brief sowie Passagen aus

46 die Selbstempfindung zur natürlichen Konstitution des Lebewesens, welches sich in ihr als das erste ihm Zugehörige, »Eigene« (prw=ton oi)kei=on) selbst gegeben ist. Die Selbstempfindung ist unmittelbar affektiv: das Lebewesen affirmiert sich, ist sich selbst zugeneigt; sein erster Trieb (prw/th o(rmh/) ist der der Selbsterhaltung und Selbstperfektion.91 Das perzeptiv bestimmte Selbstsein, mag es wie bei primitiven Organismen auch noch so rudimentär sein, ist Voraussetzung eines gemessen an dem Ziel der Selbstwahrung sinnvoll geordneten und wertenden Bezuges zur Außenwelt. Denn erst auf seiner Grundlage können Einflüsse als lebensförderliche oder -bedrohende klassifiziert, erstere als oi)kei=a angestrebt, letztere als allo/tria gemieden werden. Gelingt die Umsetzung dieser Strebungen bzw. Aversionen, stellt sich Lustempfinden (h(donh/) ein. Galen kannte diese Theoriestücke in ihrer reifen Formulierung durch Chrysipp offenbar sehr gut und expliziert sie nun für die Teile des Einzelorganimus.92 Sofern in dieser Ausdeutung auf die Idee eines »natürlichen«

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dem zweiten Buch der Stobaeus-Anthologie (116,21–128,9 in der Ausgabe von Wachsmuth); vgl. Forschner: Die stoische Ethik, 145 und seine Rekurse 145–156 passim. Zum Folgenden, aber auch zum weiteren Hintergrund wie etwa den Vorläufertheorien des kata\ fu/sin im Peripatos und bei Zenon, vgl. ebd., 142–159; Pembroke: Oikeiôsis; Steinmetz: Die Stoa, 543–545 sowie 613–615; Pohlenz: Stoa I, 112–115. Vgl. SVF III, 178: »Th\n de\ prw/thn o(rmh/n fasi to\ zw=?on i)/sxein e)pi\ to\ threi=n e)auto/, oi)keiou/shj au)tw=? th=j fu/sewj a)p’ a)rch=j • kaqa/ fhsin o( Xru/sippoj e)n tw=? prw/tw? peri\ Telw=n, prw=ton oi)kei=on le/gwn ei)=nai panti\ zw/?w? th\n au(tou= su/stasin kai\ th\n tau/thj sunei/dhsin. ou)/te ga\r a)llotriw=sai ei)ko\j h)=n au(tw=? to\ zw=on, ou)/te poih/sasan au)to\ mh/te a)llotriw=sai mh/te [ou)k] oi)keiw=sai.«; auch SVF III, 179–189; ferner etwa Cicero: De finibus, III, 18, 59, Rackham 278: »Ex quo intellegitur quoniam se ipsi omnes natura diligant, […].« Aufschlußreiche Stellen bei Galen sind De placitis I, 5, de Lacy 64; IV, 7, de Lacy 288–290; aber besonders das gesamte Buch V, de Lacy 292–358. Vgl. auch Nickel: Stoa und Stoiker in Galens Schrift De foetuum formatione. Die harsche Kritik, die Galen mit Posidonius an der Affekten-Lehre Chrysipps anführt, kann über seine Abhängigkeit von ihm nicht hinwegtäuschen. Wenn Galen gegen die Chrysippische Bestimmung der Affekte als Urteile der Vernunft polemisiert, in der der Stoiker die niederen Seelenkräfte schlichtweg geleugnet habe und so einen physiologischen Zentralismus des Herzens als Sitz des logistiko/n begründen konnte, so zieht er nicht den »Mechanismus« der oi)kei/wsij und a)llotri/wsij selbst in Zweifel, sondern will ihn gerade ausdehnen auf die natürlich-unbelehrte (fu/sei, a)dida/ktwj; vgl. De placitis V, 4, de Lacy 316) Haushaltung in den anderen, in Kopf und Leber residierenden Seelenteilen. Denn zu dreierlei Dingen unterhalten wir eine natürliche Zuneigung (oi)kei/wsij): vermöge der konkuszibilen Seele zur Lust (h(donh/), vermöge des Muthaften zum Sieg (ni/kh), vermöge der Vernunft zum Guten (kalo/n) (De placitis V, 5, de Lacy 318; IV, 7, de Lacy 288). In dieser Korrektur der oi)kei/wsij-Lehre Chrysipps versteht Galen sich als Denker, der die Annahme einer seelischen Vermögensdreiheit der »Alten« (oi( palaioi\ filo/sofoi) – namentlich nennt er Hippokrates, Pythagoras, Platon, Aristoteles – rehabilitiert (De placitis IV, 7, 298; V, 4, de Lacy 312–314; V, 5, de Lacy 318). Vgl. ferner Pohlenz: Stoa I, 208–238 zu Posidonius, zur hier in Rede stehenden Problematik 224–228. Zur Rezeption der Affektenschrift des Posidonius (peri\ paqw=n) in Galens De placitis vgl. Kidd: Posidonius on Emotions.

47 Wahrnehmungsvermögens ausgegriffen wird, dessen Aktuierung auf den nervalen influxus des Seelenpneumas nicht angewiesen ist, können wir in diesen Zusammenhängen insbesondere den Ausgangspunkt für Glissons Konzept der Reizbarkeit (irritabilitas) ausmachen,93 eine der großen medizintheoretischen Errungenschaften des Briten, die er mit seinem späten Tractatus de ventriculo et intestinis vorlegt. Dem Irritablitätsbegriff Glissons ist in der Medizingeschichte längst Beachtung geschenkt worden, ohne daß jedoch seine philosophischen Implikationen in annähernd befriedigender Weise thematisiert wären oder auch nur ein Hinweis auf die stoische Herkunft gegeben würde.94 Diese Zusammenhänge erschließen sich erst bei genauer Kenntnis der philosophisch-metaphysischen Perzeptivitätslehre von De natura, dergegenüber die Klärung des Reizbarkeitsphänomens Motivation und Anwendung zugleich ist. Denn nichts anderes als die stoische Vision einer selbstwahrnehmenden Natur ist es, die Glisson in De natura zu seiner Theorie der Suiperzeption aller natürlichen Agentien umbildet. In Galens medizintheoretischem Entwurf sind die Vorgänge im Organismus einerseits hochselektiv. So bleibt in Abwesenheit geeigneter Materie (oi)kei/a u(/lh) jedes Vermögen inoperativ;95 die facultas attractrix eines Organs zieht nur qualitativ entsprechend disponierten Saft an (to\ oi)kei=on xumo/j)96 und dies auch nur bis zum Zustand der »Sattheit«.97 Andererseits wohnt den organischen Abläufen des Lebewesens ein natürliches Ende

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Vgl. Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 297–328. Diesem Artikel verdanke ich wesentliche Anregungen für den vorliegenden Abschnitt. Vgl. Meyer: Glissons Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre. Die Darstellung von Möller: Die Begriffe »Reizbarkeit« und »Reiz«, 6–11, ist durch Unkenntnis der Quellen gekennzeichnet und zudem – zumindest was die spärlichen Rekurse auf den Traktat De natura betrifft – durchsetzt von terminologischen Verwechslungen. Singers Auseinandersetzung: Der Begriff der Irritabilität bei Glisson und bei Haller besteht fast ausschließlich in einer geordneten Aneinanderreihung von Zitaten aus Glissons De ventriculo et intestinis. Vgl. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 130: »a(/pasa ga\r du/namij a)rgei= a)porou=sa th=j oi)kei/aj u(/lhj«. Vgl. De naturalibus facultatibus I, 12, Brock 48; De placitis, VI, 8, de Lacy 410. Um attrahiert zu werden, muß eine bestimmte qualitative Gemeinsamkeit und Verwandtschaft (koinwni/a kai\ sugge/nneia) des Nahrungssaftes zum anziehenden Vermögen bestehen, vgl. I, 10, Brock 32. Man beachte, daß es sich hierbei nur akzidentell um eine Affinität auch in Hinsicht auf das jeweilige Organ handelt. Den facultates attractrices ist das dem Organ Nützliche (h( xrhsth\ trofh/, vgl. III, 13, Brock 306) die eigene Materie, wohingegen für die abstoßenden Vermögen das dem Organ Widrige die oi)kei/a u(/lh ist. Für eine genauere Erklärung s. sogleich unten. In jedem Organ ist das Ausgefülltsein mit eigener Flüssigkeit (plh/rwrij th=j oi)kei/aj u(gro/thtoj) die obere Schranke (o(/roj) der Nahrungsaufnahme, so wie im Lebewesen die Sättigung (ko/roj) des Magens der o(/roj der Nahrungsaufnahme ist; vgl. De naturalibus facultatibus III, 13, Brock 306.

48 inne – sei es, weil bestimmte Prozesse wie Wachstum und Formung an ein mit ihnen gesetztes Ziel (te/loj) kommen, sei es, weil Hohlmuskel wie Blase oder Magen nur eine beschränkte Aufnahmekapazität aufweisen und sich vor weiterer Sammlung zunächst entleeren müssen (o(/roj). Fortlaufend bedarf es der Festlegung, wann eine facultas in einem Organ aktiv werden und wann sie zugunsten einer anderen ruhen soll. Es bedarf der »Mechanismen« innerorganischer Rückkopplung. Für den Fall des Wechselspiels der anziehenden und ausscheidenden Vermögen gibt uns Galen besonders aufschlußreiche Passagen an die Hand, in denen er besagte Steuerungsvorgänge zum einen auf das »So-Sein«,98 also die Natur der Körperteile zurückführt, zum anderen in einem perzeptiven Selbstbezug begründet, von dem nicht immer klar ist, ob er bloß »natürlichen« oder aber »nervlichsinnlichen« Charakters ist. Letztendlich kämpft Galen hier mit Schwierigkeiten, die erst in der modernen Neurologie mit der Unterscheidung von zentralem und peripherem Nervensystem handhabbar werden. Drei Ziele, so erklärt er in De usu partium, werden mit der Verteilung der Nerven im Organismus erreicht: den Sinnesorganen wird die Sinneswahrnehmung gewährt, den Organen des Bewegungsapparates die Bewegung, allen anderen Körperteilen die Kenntnis dessen, was »Kummer« bereiten wird.99 Das Prinzip der Unterscheidungsfähigkeit von »eigen« und »fremd« (to\ oi)kei=on – to\ a)llo/trion), über die jeder Teil verfügt, ist jedoch die Leber.100 Alle Teile können also ohne das Differenzierungspotential eines Nervensystems zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterscheiden. Im Fragment De substantia facultatum naturalium, wo Galen diese Frage einmal mehr in der Auseinandersetzung mit der Behauptung einer Pflanzenempfindung des Timaios diskutiert,101 beschreibt Galen die du/namij gnwristikh/ 102 der Körperteile als eine Distinktionsfähigkeit von Lust und Schmerz.103 Das nährende Eigene wird – bis zur Sättigung – angestrebt, deshalb attrahiert; es führt »Genuß« herbei.104 Ist das Organ

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Vgl. De semine I, 16, de Lacy 134: »e)/sti de\ e(ka/stw? mori/w? to\ ei)=nai tou=to, o(/per e)sti/n«. Sein So-Sein, so erklärt Galen an dieser Stelle, verdankt sich nicht der Natur der im Organ enthaltenden Flüssigkeiten (u(gra/), sondern der ou)si/a seiner festen Partikel (sterea\ sw/mata). »tw=n luphso/ntwn dia/gnwsij«, vgl. De usu partium V, 9, Kühn III, 378. Vgl. In Platonis Timaeum Commentarii Fragmenta, 12; zitiert oben in Anm. 55. Vgl. De substantia facultatum naturalium, Kühn IV, 764f. Vgl. auch In Platonis Timaeum Commentarii Fragmenta, 11. Vgl. Timaios 76e7–77c5; vgl. auch die Wahrnehmung der Leber in 71a4. In Platonis Timaeum Commentarii Fragmenta, 11. Das Unterscheidungsvermögen des Eigenen und Fremden heißt oft auch (mit Platon) ai)/sqhsij, vgl. beispielsweise ebd. und De substantia facultatum naturalium, Kühn IV, 759. De substantia facultatum naturalium, Kühn IV, 765: »h( dia/gnwsij […] kaq' h(donh\n«, bzw. »kat' a)ni/an«. So beispielweise in De naturalibus facultatibus III, 6, Brock 246–248: »e)/fesij«,

49 »satt«, beendet das Attraktionsvermögen seinen Dienst und überläßt anderen Vermögen die Weiterverarbeitung, d.h. Assimilation des Nahrungssaftes.105 Die Endprodukte werden »gehaßt« und so bald wie möglich ausgeschieden.106 Alleinige Instanz der Regulierung ist hier die im Organ residierende fu/sij. Am Beispiel des Samens, der eine wohlbemessene Menge Blutes anzieht, um aus ihm und sich den Foetus zu formen,107 vergleicht Galen die natürliche Anziehung mit der Attraktionswirkung des Magneten gegenüber dem Eisen und weist die Vorstellung eines überlegten und einsichtsvollen Agierens mit dem Argument zurück, daß man in ihr den Samen oder die Natur mit einem Lebewesen verwechsele.108 Nicht so eindeutig liegen die Verhältnisse allerdings im Falle der Hohlmuskeln. Galen behandelt die zurückhaltenden und entleerenden Vermögen, die auf den Inhalt des Hohlraums wirken, systematisch nicht anders als die allen Organen gemeinen facultates naturales retentrices et expultrices. Und doch beteiligt er nun das Nervensystem an der Kontrolle der Abstoßungsprozesse. Als besonders undurchsichtig erweist sich der Fall der Sekretabsonderung aus der Gallenblase – eine der Folgelasten der galenischen Physiologie der Leber, deren »Nervenkostüm« ausgesprochen dürftig ist. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet der Hepatologe Glisson im Durchgang durch diese Schwierigkeiten zu einem neuen Begriff von innerorganischer und schließlich auch allgemein-fibröser Perzeptivität durchstößt. Magen, Blase und Uterus empfinden ihren Inhalt als unangenehm, wenn sie durch ihn übermäßig gedehnt, durch sein Gewicht beschwert, oder aber durch seine Säure »gebissen« werden.109 Um den Schmerz loszuwerden, aktivieren sie ihr Ausscheidungsvermögen. Diese Art der Empfindung kommt unter Beteiligung der Nerven zustande, mit denen die

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»o)/recij«, »a)po/lausij«. Eine jede Strebung oder Attraktion, so Galen hier, ist um eines Genusses willen. Den komplizierten Ablauf der weiteren Bearbeitung beschreibt Galen etwa in De naturalibus facultatibus I, 11, Brock 38–43; wiederholt in III, 1, Brock 222–225. Vgl. De naturalibus facultatibus III, 6, Brock 248: »mi=soj«; auch III, 13, Brock 299. Vgl. De foetuum formatione, 3. Kühn IV, 660. Der Samen ist das aktive Prinzip (a)rxh\ drastikh/) des Lebewesens, wohingegen die Katamenien das materielle Prinzip stellen (a)rxh\ u(likh/); s. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 134. Aus dem Blut entstehen die fleischigen Teile, aus dem Samen die Membranen. Vgl. De semine I, 11, de Lacy 103. Der Samen agiert ohne nou=j und logismo/j, s. De naturalibus facultatibus II, 3, Brock 132. Der Vergleich der Wirkungsweise der »natürlichen« Organe mit dem des Magneten wird etwa auch in De locis affectis aufgenommen; s. dort I, 7, Kühn VIII, 66. Die Termini sind ai)/sqhsij, a)ni/a, dhxqei=son, vgl. De naturalibus facultatibus III, 12, Brock 282–289. Gerade die anschaulichen Ausdrücke dh=cij, dhxqei=son, daknei=n fallen gehäuft, s. ebenso ebd. III, 5, Brock 244–247. Auch ein toter, sich im Uterus zersetzender Foetus wird hierbei als »bissig« erachtet, ebd., III, 12, Brock 287. Die größte Sensibilität besitzt übrigens der Magen (vgl. ebd., Brock 287), der Magenmund wird unter die Sinnesorgane gezählt wird; s. De usu partium V, 9, Kühn III, 378.

50 betreffenden Organe versorgt sind.110 Diese Idee einer Koppelung an das Nervensystem mag in ihrer Genese durch die Beobachtung motiviert sein, daß uns die Widrigkeiten in Magen, Blase, Uterus ins Bewußtsein kommen können, die »Mühsal« des Organs hier auch die des Organismus ist. In erster Linie diskutiert Galen die ai)/sqhsij der genannten Teile jedoch als eine, die am Ort ihrer Entstehung bleibt. Ihre Übermittlung an Gehirn und medulla spinalis interessiert ihn in diesen Zusammenhängen allenfalls am Rande.111 Es ist der Magen, dem übel ist und der sich entleert, weil er sich selbst vermöge seines Nervs als »gereizt« wahrnimmt. Dieses auf das Nervensystem rekurrierende Modell innerorganischer Sensitivität kann allerdings auf die Gallenblase nur eingeschränkt zutreffen, da sie in der Physiologie Galens lediglich mit einem kaum auszumachenden Ast des an sich ja schon sehr dünnen Nerv der Leber versehen ist.112 Dieser wiederum vermag weder sensus noch motus zu vermitteln,113 derer die Leber zur Ausübung ihrer Funktion, d.h. zur Nahrungsversorgung des Körpers über das venöse System, nicht bedarf. Ihr kleiner Nerv zeichnet sie lediglich als Teil eines animal vor den Pflanzen aus114 und ermöglicht die allenfalls »dumpfe« Wahrnehmung ihrer pathologischen Zustände.115 Nun füllt und entleert sich die Gallenblase aber ebenso wie die anderen Hohlmuskel, und aus dieser Beobachtung schließt der Physiologe auch hier auf die Belästigung, Überdehnung, auf die irritatio – mit dieser Vokabel nämlich werden die »Reizungen« und insbesondere der Eindruck der beißenden Galle später im Lateinischen belegt116 – des Organs durch das füllende Sekret.117 Die Leber hat damit eine nahezu unsinnliche ai)/sqhsij, einen »natürlichen« Sinn. Die Frage nach dem Schließ- und Öffnungsmechanismus der Gallenblase steht auch am Beginn der Reizbarkeitslehre Glissons.118 In seiner Anatomia hepatis untersucht Glisson die Reizung der Gallengefäße; dabei ver-

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Dies gibt Galen indirekt durch die Abgrenzung vom Fall der Gallenblase zu verstehen; vgl. De naturalibus facultatibus III, 12, Brock 287–289. De usu partium V, 10, Kühn III, 380 argumentiert Galen, daß die Tiere mit anästhetischen Verdauungsorganen an ihren unbemerkten Exkrementen umkommen würden und daß wir durch die Wahrnehmungen der Eingeweide zu deren Ausscheidung aufgefordert sind. Dies setzt natürlich die Übermittlung an unser Bewußtsein voraus. Vgl. De naturalibus facultatibus III, 12, Brock 289; De usu partium IV, 13, Kühn III, 308; V, 10, Kühn III, 382. Vgl. De usu partium IV, 13, Kühn III, 308; gegen V, 9, Kühn III, 379, wo Galen sagt, daß in allen Nerven notwendigerweise ai)/sqhsij sei. Vgl. De usu partium IV, 13, Kühn III, 310f.; V, 9, Kühn III, 377f. Vgl. De usu partium IV, 13, Kühn III, 310: »a)mudrw=j«. So noch in Fernels Physiologia und Vesalius’ Fabrica, vgl. die bei Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 309 herangezogenen Stellen. Vgl. De naturalibus facultatibus III, 12, Brock 289. Vgl. Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 299.

51 steht auch er unter irritatio jegliches quantitativ oder qualitativ verursachte »Unbehagen« der Teile.119 Die Fähigkeit der Reizung (irritationis capacitas) meint das Vermögen, erlittenes »Unrecht« wahrzunehmen und es mit einer Reaktionsbewegung zu beantworten.120 Die Irritation der Gallenblase wegen Überfüllung oder aufgrund der Qualität der Flüssigkeit bewegt den Schließmuskel der Blase (anulus fibrosus) zur Freigabe der Organöffnung.121 Während in der Anatomia hepatis das Irritiertsein der Gallenblase noch wie selbstverständlich damit begründet wird, daß ihr ein kleiner Nerv zugeteilt ist,122 gelten Irritabilität und Perzeptivität im späten Tractatus de ventriculo et intestinis als natürliche, keine Sinnlichkeit voraussetzende Eigenschaft aller Fibern, d.h. aller kleinsten organischen Einheiten und der gesamten Körpermasse.123 In seiner Vorliebe für Neologismen belegt Glisson die Aktivierung der Fibern durch einen Reiz mit dem Terminus der »vigoratio«; eine in diesem Sinne aktivierte Faser ist »vigorosa«.124 Albrecht von Haller entwickelte den Glissonschen Irritabilitätsbegriff anhand unzähliger Experimente weiter zu dem der Kontraktilität von Muskelfasern. Während Glisson annimmt, daß die nervlich vermittelte Empfindung lediglich eine komplexere Form der natürlichen irritabilitas sei und sich aus dieser über die Entstehung entsprechender Organe zu entwickeln habe,125 steht die Kontraktionsfähigkeit Hallers in keinem Zusammenhang mehr zur seelengeleiteten Sensibilität. Irritabilitas und sensibilitas sind hier zwei grundlegend verschiedene Arten von innerkörperlicher Wahrnehmung; reizbare Organe wie Muskeln, Herz, Arterien oder Venen, sind nicht sensibel; sensible Organe, darunter Nerven, Lunge, Leber, sind nicht irritabel.126

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Marion: Franciscus Glissonius, führt die entsprechenden Zitate an: 14f.; Marion besitzt eine unübertroffene Kenntnis des Textes Glissons und beruft sich auf die breiteste Textbasis. Vgl. Daremberg: Histoire des sciences médicales II, 650; Meyer: Glissons Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre, 14; Singer: Der Begriff der Irritabilität bei Glisson und bei Haller, 12. Vgl. die Beschreibungen bei Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 300–302 und bei Mani: Leberforschung, 118f. Vgl. Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 300; so auch bei Mani: Leberforschung, 118f. Vgl. Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 305f.; Pagel: Harvey and Glisson on Irritability with a Note on Van Helmont, 499–501, aber bereits Marion (Franciscus Glissonius, 9–18) hat dies erkannt. Zum Fiberbegriff Glissons vgl. Daremberg: Histoire des sciences médicales, 653–655. Duchesneau: Les Modèles du vivant, 189–196, bringt weitere Details zur Irritabilitätslehre des Tractatus de ventriculo. Glisson denkt nicht nur den Fibern, sondern auch den anderen Körperteilen wie Knochen, Blut, Nährsaft, Rückenmark, Fett, usw. eine natürliche Perzeption zu, vgl. MSS Sloane 574B, fol. 53r. Vgl. Daremberg: Histoire des sciences médicales, 653. S.u. 4.3. Vgl. Ad Objectiones, 483: »Primum quidem vim irritabilem a sentiente necesse fuit

52 Die Grundzüge seines Begriffs einer nervenlosen, ubiquitären Reizbarkeit, die Glisson im Traktat De ventriculo et intestinis veröffentlicht, sind zum Zeitpunkt dessen Erscheinens längst in De natura niedergelegt, und dies mit weitaus größeren Ambitionen. Bei medizinischen Detailproblemen wie der dumpfen Selbstregulation des Sekretflusses aus der Gallenblase bleibt Glisson hier nicht stehen. Der universalkosmologische fu/sijGedanke der Stoa selbst soll nun im Begriffstripel perceptio, appetitus und motus naturales eingeholt werden; der gesamte Kosmos soll sich als irritabel erweisen.

2.2

»ovum ipsum sponte sua«: William Harvey und die Suisuffizienz des Foetus

2.2.1 Epigenese und tactus naturalis Die Physiologie nach Harvey war dazu aufgefordert, zu einem neuen Verständnis der auktiv-nutritiven Vorgänge zu gelangen, das nicht mehr auf die Leber als Prinzipiierungsinstanz rekurrierte, hatte doch die Entdeckung des Blutkreislaufs die galenische Fehleinschätzung der Aufgabe der Leber im Organismus aufgedeckt. In noch radikalerer Weise war jedoch der Embryologe, der im Foetus127 zwar keine Organe, sehr wohl aber Indizien der Belebung entdecken konnte, durch die Fragen eines vororganischen Formungs-, Wachstums- und Nährungsvermögens herausgefordert, und nicht nur die im Sinne Galens »unpsychischen« Vegetativvorgänge mußten im Verzicht auf jegliche Koordinationsleistung von Organen erklärt werden; der Embryo schien vor Ausbildung des Gehirns zu empfinden, ja sogar kontraktile Bewegungen auszuführen, wie man aus Experimenten mit Aborten längst wußte.128 Mit den klassischen Seelendefinitionen des Aristoteles, denenzufolge die Seele als erste Entelechie des organischen Körpers dessen potentielles Leben erst verwirklicht, avanciert die Frage nach dem Beginn der Organbildung zur Frage nach dem Beginn des Lebens überhaupt. Eine mögliche Antwort war es, die Entwicklung bei einem mit plastischer Kraft

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separari. Quae enim partes corporis humani acerrime sentiunt, eae omni vi irritabili destituuntur.«; vgl. auch De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus, 407; De la Sensibilité, 7; Response générale, 91. Vgl. auch Weber: Commentatio de initiis et progressibus doctrinae irritabilitatis, 80. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Duchesneau: La physiologie des Lumières, 141–215. Ich übernehme den Sprachgebrauch der behandelten Autoren und spreche auch da vom »Foetus«, wo die heutige Biologie den Terminus »Embryo« setzen würde. Spätestens mit Albertus Magnus’ De animalibus ist das Punktieren des Foetus belegt, das auch noch Harvey durchführt. Vgl. Pagel: Harvey, foetal irritability – and Albertus Magnus; und: Harvey: De generatione animalium, Ex. 17 und 57, unten in Anm. 183 und 184 die entsprechenden Zitate.

53 begabten Keim (semen) anzusetzen, der mit Hilfe einer »potentia naturalis sine instrumento ullo«,129 gleich wie ein Magnet Eisen anzieht,130 den Körper ausformt, wobei die Gelehrten sich an der Frage, ob zuerst die Leber oder das Herz entstehe, in zwei Fraktionen entzweiten, die der Galenisten, die die Leber vorzogen, und die der Aristoteliker, die vom Primat des Herzens ausgingen.131 Die Gestaltungskraft des Samens mußte beim selbstinduzierten Übergang vom Unbeseelten zum Beseelten in einer zweifelhaften Zwitterstellung angenommen werden. Während Galen davor gewarnt hatte, den Samen mit einem beseelten Lebewesen zu verwechseln,132 affirmierten andere Autoren gerade die Seelenartigkeit der forma seminis und erklärten die exakte Bemessenheit und Zweckgerichtetheit ihres plastischen Wirkens in dezidiert gnoseologischen Kategorien. Die Form des Samens könne, so Julius Caesar Scaliger in seinen wirkmächtigen Exotericae Exercitationes de Subtilitate, keine »bruta res« sein, kenne sie doch das »quid, quantum« ihres Geschäftes genau, wisse um den Zweck und Nutzen der Teile und sei damit der Seele ebenbürtig. Insbesondere müsse die fabricatrix corporis eine Substanz sein, da kein Akzidens wissend sei.133 Der Seele gehe in der Samenform eine weisere und vortrefflichere anima formatrix voran, die ihr gleich einem Architekten die körperliche Wohnstätte einrichte oder, wie Scaliger an anderer Stelle verbildlicht, den Körper »auswickele«. Erit igitur in semine anima formatrix, antecedens animam, cui parat illud domicilium. Quare prior illa posteriore hac sapientior, ac nobilior. Quemadmodum nos anteit potestate ac sapientia Creator Opt. Max. qui nostra haec utenda dedit nobis. Oportet enim fabricatricem illam non ignorare, quid, quantum opus habeat illa altera ingressura. Ergo cum cor aedificat, scit, quid sit uita; cum alias molitur partes, notum habet earum partium & finem, & usum.134

Glisson veranschlagt Scaligers Annahme einer »vorpsychischen Seele« als Vorläufer seiner Idee der natürlichen Perzeptivität aller Materie,135 weist

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So Scaliger in seinem Referat der Samenlehre des Aristoteles, vgl. Exercitationes, Ex. VI, 7, fol. 14v. Vgl. oben 49. Vgl. oben 38f., 43. Vgl. oben 49. Vgl. Ex. VI, 5, fol. 14r: »Haec fabrica fit, aut a substantia, aut ab accidente, aut ab utroque. Non ab accidente solo. Primum quia nullum accidens agit, nisi per uim suae substantiae. Deinde quia nullum accidens cognoscit. Illa uero uirtus tam nobilis templi architecta, sapientissima ab omnibus Philosophis iudicata est. Aedificabitur igitur a substantia. At haec, forma seminis est. Sane seminis forma, si non est anima, bruta res est. Et si fabricat, est aequalis animae.« Ex. VI, 5, fol. 14r. Vgl. auch Ex. VI, 9, fol. 15v: »Sic sensit Themistius in primo De anima: Animam sui esse domicilij architectam.«, und die Vorstellung des »Auswickelns« des Körpers in Ex. VI, 15, fol. 17v: »diximus, Animam sibi dearticulare corpus: […].« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §12, fol. b4r–v: »Haec formationis explicatio suas veritates erroribus forsan implexas habet. 1.° Recte quidem statuit architectum animalis esse substantiam, & efficaciter (ut puto) probat. 2.° Recte infert, dari perceptionem sensu priorem. Quod nostrae sententiae plurimum quoque favet. […] 3.° Recte quo-

54 die Vorstellung zweier Seelen allerdings zurück: »Nam quo vadit prior anima? aut unde venit posterior?«136 Die Ausbildung des Körpers mündet in diesem Entwicklungsmodell – in Glissons Lesart – nicht kontinuierlich in seine vollendete Belebung ein. Letztendlich ist die Frage nach der Herkunft des Lebens hier in keiner Weise geklärt. In Glissons Entwurf sind Unbeseeltes und Beseeltes dagegen lediglich verschiedene Perfektionsgrade einer vorgängigen vita primaeva; Übergangsprobleme kommen in diesem Ansatz nicht auf.137 Eine andere, aktuellere Vorlage, auf die Glisson nachweislich zurückgreift, sind die 1651 publizierten Exercitationes de generatione animalium William Harveys, seines langjährigen Lehrers am Royal College of Physicians. Wegbereitend für die Ausführungen Harveys wiederum waren die embryologischen Traktate des Paduaner Anatomen Hieronymus Fabrici d’Aquapendente: De formatione ovi, et pulli und De formato foetu. 138 Von der intensiven Beschäftigung Glissons mit der Schrift Harveys zeugt ein in seinen Manuskripten erhaltenes Register, in dem Glisson die wichtigsten Stichwörter mit der entsprechenden Seitenzahl der Londoner Auflage von 1651 vermerkte.139 Auch ist es vorstellbar, daß Glisson bereits vor dem Erscheinen der Erstausgabe mit den englischsprachigen Entwürfen Harveys in Berührung kam, die der gemeinsame Freund George Ent für die Publikation ins Lateinische übersetzte; in jedem Fall dürfte Glissons enge Zusammenarbeit mit Ent auch seine Rezeption des Textes Harveys intensiviert haben. Den Embryologen des 16. Jahrhunderts folgend untersuchten Fabrici und Harvey das Werden des Lebens vor allem anhand der

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que encomia a Philosophis naturae ascripta huic perceptioni transfert. Denique, 4.° recte quoque asserit, animam sensitivam in hoc domicilio a natura parato inhabitare.« Die Annahme, die Residenz der Seele werde durch eine Substanz bereitet und sei nicht die Wirkung von Akzidenzien, war Glisson sehr wichtig, vgl. unten 4.1. De natura, Ad Lectorem, §13, fol. b4v; ausführlicher auch §18, fol. c3v–c4r: »Formato foetu, quid fit de vi plastica. […] Sed adhuc manet scrupulus, formata jam planta aut animali, quo evadit haec vis plastica? Proculdubio non egreditur corpore; sed in eo, durante nova vita, cujus anima materialis limen & terminus est, manet, & naturali vitae partium tum similarium tum organicarum praesidet.« S. unten vor allem 3.2.9. Padua 1621 bzw. 1604. Die beiden Schriften sind Bestandteile einer Trilogie, deren erster Teil De instrumentis seminis nie veröffentlicht wurde, vgl. Adelmanns Kommentar in: The Embryological Treatises of Hieronymus Fabricius of Aquapendente, 682. Cunningham machte – der üblichen Tendenz der Medizingeschichtschreibung entgegen, Fabrici lediglich als Harvey-Vorläufer zu verschlagworten – den Versuch, die Arbeiten Fabricis im Sinne eines von Aristoteles entlehnten methodischen Vorgehens (in der Abfolge: historia, d.h. Beschreibung – Ursacheninduktion – deduzierende Demonstration) zu lesen; vgl. Cunningham: Fabricius and the »Aristotle project«. Eine hervorragende Darstellung der Verhältnisse an der Universität Padua zu der Zeit, als William Harvey hier bei Fabricius studiert, gibt Kuhn: Venetischer Aristotelismus, 73–93. Vgl. den »Index Harveanus«.

55 Entwicklung des Kükens im Ei,140 und mit Harveys »omnia ex ovo«141 wird der Eibegriff die Embryologie endgültig anführen können. Auch Glisson reiht sich in die Tradition der »Kükenschau« ein, inspiziert befruchtete Hühnereier und notiert Tag für Tag seine Beobachtungen.142 Versteht Scaliger die generatio als Artikulation des Körpers durch eine dem Samen einwohnende anima formatrix, so entwirft Fabrici die Entwicklung der Nachkommenschaft als vollständige Fremdformung. Der Foetus (der Lebendgebärenden) lebt aufgrund der Organfunktionen seines Muttertieres und ist selbst nach Abschluß der Embryogenese noch auf dessen Herz- und Leberfunktionen angewiesen. Seine Organe üben keine actiones publicae im Sinne Galens aus, d.h. sie können keine Sorge für den Körper als Ganzen tragen; ihre »private« Tätigkeit richtet sich lediglich auf die eigene, innerorganische Versorgung.143 Die Vermögen zur Gestaltgebung und Ernährung von Ei und Hühnerembryo sind diesen jeweils äußerlich: der Uterus der Henne bringt das Ei hervor, das Ei formt und nährt das werdende Küken, dessen hauptsächliche actio ist das Wachstum.144 Insbesondere werden die Vermögen der Empfindung und Eigenbewegung, bei Harvey mit dem ersten Anfang des Keimes bereits gegeben,145 nicht einmal dem vollentwickelten, dem »geformten« Foetus zugestanden. quamvis foetus animal etiam sit, non tamen ut animal dispensatur, sed ut planta quousque utero concluditur ex Arist. 6. de gen. an. cap. 3. ratio autem est, quia vegetales operationes in secundo actu sunt in foetu, animales autem duntaxat in primo: quocirca neque videt, neque audit, neque olfacit, neque gustat: multo minus non imaginatur, non memoratur, ratiocinaturque, atque ut summatim dicam, neque sentit, neque movetur.146

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Vgl. Lesky: Harvey und Aristoteles, 362. So weiß John Aubrey: Brief Lives, 300, über Harvey zu berichten: »I remember he came severall times to Trin. Coll. to George Bathurst, B.D., who had a hen to hatch egges in his chamber, which they dayly opened to discerne the progres and way of generation.« So Ex. 1, 2 oder etwa Ex. 63, 292. Daß Harvey das Entstehen aller Tiere aus dem Ei postulieren kann, baut ganz zentral auf der weiten Anlage seines Eibegriffs auf. Vgl. die Ausführungen bei Lesky: Harvey und Aristoteles, 349–378. Die Breite des Harveyschen Eibegriffs ist oft angemerkt worden; Adelmann, 89, nennt weitere Titel. Auch ist das »omnia ex ovo« in Fabricis »Maxima animalium pars ex ovis gignitur.« vorbereitet, vgl. Lesky: Harvey und Aristoteles, 357. Vgl. »De formatione pulli.« Vgl. De formato foetu, 111f., 117–120. Zur Lehre der functio oder actio publica und privata bzw. des munus publicum und privatum vgl. ebd., 116. Dahinter steht Galen: De usu partium IV, 12, 296ff.; De placitis VI, 8, de Lacy 412. Vgl. De formatione ovi, et pulli, 41f., De formato foetu, 109. Man beachte, wie sorgfältig Fabrici Ernährung und Wachstum trennt. Im Hintergrund steht ganz offenkundig die Diskussion des Wachstums bei Galen: De naturalibus facultatibus I, 7, Brock 26–31; II, 3, 126–139. Vgl. unten 64f. De formato foetu, 109f. Vgl. auch ebd., 16.: »motrix facultas in foetu ociosa omnino est, […].« Fast gleichlautend Galen in De foetuum formatione, Kühn IV, 672.

56 Vermeintliche Bewegungen glaubt Fabrici als plötzliche Aufmischungen des Fruchtwassers zu entlarven.147 Jegliche Sensitivität geht erst dann vom actus primus in den actus secundus über, wenn der Embryo Reizen (species, alterationes) ausgesetzt wird, also nach der Geburt. Im Uterus können solche Stimuli allenfalls taktiler Natur sein, ausgelöst durch saure, reizende, dehnende Flüssigkeiten, die ihn umgeben.148 Der Gedanke einer vorpsychischen oder vororganischen Empfindsamkeit, zu dem es von hier aus nur noch ein Schritt zu sein scheint, wird von Fabrici nicht ergriffen. Der Foetus empfindet nicht; alles Vitale in ihm ist von außen eingeschwemmt. Fabrici steigert das influxus-Modell des Lebens noch und stellt es in der Nabelschnur geradezu plastisch vor Augen. Demgegenüber spricht Harvey dem Ei – sein Eibegriff umfaßt verwirrenderweise beides: das Ei und den Foetus im Sinne Fabricis – ein eigenes Lebensprinzip (propria anima) zu: Es hängt ausschließlich in der Bereitstellung der Nahrung noch von seiner Mutter ab;149 der Uterus kann als agens externum darüberhinaus nicht an den radikal von innen gewirkten Lebensfunktionen und Formungsprozessen beteiligt sein. Auch hier wird die Inwendigkeit und Stetigkeit von Wachstum und Formung als Argument herangezogen: die interiora des Eies wachsen, und zwar in alle Richtungen.150 Nos autem quanquam fatemur, uteri actionem aliquo modo esse, ut ovum generet; hoc tamen ab eo nutriri, & augeri, nullo pacto concedimus. Idque, tum ob rationes nuper a nobis allatas, cum de ovi anima, quae ipsum nutrit, ageremus; tum etiam, quod ab agente externo (qualis uterus est respectu ovi) omnia ovi interiora, & secundum omnes dimensiones, nutriri, augeri, ac formari, minus probabile sit; imo vero, ex Aristotelis sententia, impossibile. Nam quod extrinsecum est, quomodo (precor) per interiora moveat aliunde adveniens alimentum, & in locum deperditi secundum omnes dimensiones restituat? aut quomodo aliquid ab eo, quod ipsum non tangit, afficiatur, aut moveatur?151

Ausgehend von der mit Aristoteles’ De generatione animalium II, 1152 erneuerten Evidenz dieser Inwendigkeit zeichnet Harvey das Bild eines

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Vgl. De formato foetu, 110. Vgl. De formato foetu, 110: »Dubium forte fuerit de sensu tactus, num scilicet foetus humores quandoque acres, vellicantes, aut distendentes sentiat: Gal. id negat, & ratio est; quia nisi sensus alterationes ad cerebrum & principes facultates perveniant, non fit sensus: propterea in phrenitide non sentiunt, quia alteratio a cerebri facultatibus non percipitur; at in foetu percipi non potest, quia huiusmodi facultates in primo actu sunt, neque possunt ad secundum revocari, nisi prius species a sensibus suscipiantur.« Ex. 27, 112: »credibile est, ovorum primordia in vitellarii racemo propria anima vivere, non autem matris; licet huic per venas & arterias cohaereant, & subministrato ab eadem alimento nutriantur: […].« Vgl. oben 41 die Diskussion des Wachstums bei Galen. Ex. 27, 110. Vgl. 734a2–5: »tw=n me\n ou)=n e)/cwqe/n ti poiei=n e(/kaston h)\ tw=n spla/gxnwn h)\ tw=n a)/llwn merw=n a)/logon a)\n do/ceien • kinei=n te ga\r mh\ a(pto/menon a)du/naton kai\ mh\ kinou=ntoj pa/sxein ti u(po\ tou/tou. e)n au)tw=? a)/ra tw=? kuh/mati e)nupa/rxei ti h)/dh h)\ au)tou= mo/rion h)\ kexwrisme/non. to\ me\n ou)=n a)/llo ti ei)=nai kexwrisme/non a)/logon«

57 Nachkommen, der sich nach der Hervorbringung durch den Uterus in seinen Wachstumsvorgängen selbst genügt.153 Wie die Eicheln nicht länger Teile der Eiche sind, so existiert auch das Ei »instar filii emancipati suique juris facti«,154 denn ein eigenes Nährvermögen sorgt in jedem seiner Teile für Unterhalt, Formung und Wachstum: »non ab utero, sed ab interno principio naturali«.155 Vom Beginn an hat der Foetus eine eigene Seele, sein eigenes Blut, seinen eigenen Geist (spiritus). Schon mit dem ersten Tropfen Blutes ist ihm das eigene Vegetations- oder Lebensprinzip gegeben.156 Die Auffassung, daß die Organe des Embryos lediglich actiones privatae verrichteten und dem Ganzen keinen »Dienst« leisten könnten, muß folglich falsch sein. Vom ersten Moment an sieht man das Herz pulsieren, und das heißt: sein öffentliches Amt (munus publicus) ableisten.157 Diese Aussagen regten Francis Glisson zu seinen Spekulationen über die actiones publicae im Foetus an, in denen er den Schlußfolgerungen seines Lehrers von der Herzkreislaufthese ausgehend zustimmt: Veteres putarant foetum in utero vitam matris vivere, et esse quasi corporis materni appendiculam. Verum Harveus noster quanquam non negat eum e matre cibum petere, demonstrat tamen vivere vitam propriam, et alimentum e matre prolectum ulterius elaborare et in suum usum convertere. Illi nesciebant circularem motum sanguinis minusque adeo mirandum si existimabant embrionem, vitalem quem habet sanguinem a matris corde mutuasse. At vero cor embrionis pulsat, eiusque vitalis sanguis est internum suae vitae principium; […] non cor tantum in embrione publico munere fungitur, sed et plurimae aliae partes.158

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Vgl. Ex. 27, 110: »proculdubio in ovi generatione idem usu venit, quod in omnium viventium exordio; ut nempe ab externo, & praeexistente constituantur; mox autem semetipsa (quamprimum vita donantur) nutriant, atque adaugeant; idque propriis insitisque viribus a principio jam innato, & implantato.« Vgl. Ex. 26, 107; Ex. 27, 111. So Ex. 10, 34: »Nos autem brevitati studentes, […] ut facile concedimus, uteri officium, & usum procreandis ovis destinatum esse; ita efficiens adaequatum (ut dici solet) & immediatum, in ovo ipso contineri asseveramus; ovumque, non ab utero, sed ab interno principio naturali, sibique proprio, tum generari, tum augeri censemus; […].« Der Ausdruck insitum principium in Ex. 53, 221. Vgl. etwa auch die Wendungen principium motivum internum in Ex. 43, 152f. oder internum agens & formans in Ex. 69, 318. S. unten 62. Vgl. Ex. 34, 126: »Sed dum contendunt, sanguinem maternum esse foetus in utero alimentum, praesertim partium ejus sanguinearum (ut appellant;) foetumque ab initio ceu partem matris esse, illius sanguine nutriri, & crescere, spirituque ejus vegetari: adeo ut nec cor pulset, nec jecur sanguificet, nec pars ulla foetus publicum aliquod munus exequatur, sed omnes ab opere suo ferientur; eos quidem falsi autopsia redarguit. Pullus enim in ovo, proprio suo sanguine, ex liquoribus intra ovum contentis nato, gaudet; corque ipsius statim ab initio pulsare cernitur: non autem faciendis partibus sanguineis, aut plumis, quicquam sanguinis aut spiritus a gallina mutuatur; ut rem probe animadvertentibus clare liquet. Imo vero ex observationibus post dicendis, abunde me demonstraturum arbitror, Viviparorum quoque foetum, dum adhuc in utero continetur, non matris sanguine nutriri, spirituve ejus vegetari, sed anima, viribusque suis frui; (ut pullus in ovo solet,) proprioque sanguine gaudere.« Ähnlich auch Ex. 53, 221f. »Foetus in utero obit actiones publicas«, hier der Beginn auf fol. 175r. Es ist das

58 Das Ei, so Harvey, leistet seine Entwicklung zum Lebewesen aus sich heraus: »ovum ipsum sponte sua«.159 Die aristotelische Definition der Natur als inneres Prinzip von Bewegung und Ruhe 160 kommt hier gerade gelegen. Harvey wendet sie auf das Ei an, bestimmt dessen internes Bewegungsprinzip aber zugleich als »virtus animalis«. Durch natürliche Neigung, (»insita a natura propensione«), gleich wie ein schwerer Körper zu Boden fällt, wird das Ei zum beseelten Körper. Ovum itaque est corpus naturale, virtute animali praeditum; principio nempe motus, transmutationis, quietis, & conservationis: Est denique ejusmodi, ut, ablato omni impedimento, in formam animalis abiturum sit: nec magis naturaliter gravia omnia, remotis obstaculis, deorsum tendunt; aut levia sursum moventur; quam semen, & ovum, in plantam, aut animal, insita a natura propensione feruntur.161

Im Ausgang von seinem Eibegriff kann Harvey das Werden des Lebewesens als sukzessiv fortschreitende Entwicklung »secundum partium dignitatem, & usum«,162 d.h. als Epigenese beschreiben. Der Werdeprozeß beginnt im Dotterfleck (cicatricula, macula, cicatrix), der, mit plastischer Kraft begabt, zum »Auge des Eies« (oculum, colliquamentum) auswächst, in dem sich die Flüssigkeit des Eies aufgeklart und mit einer leichten Hülle umgeben hat.163 Aus und in dem Auge (»ex quo, & in quo«) generieren sich die primordialen, aus diesen alle übrigen Teile.164 Die primordia sind

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typische Vorgehen Glissons, seinen als Fließtext verfaßten Niederschriften stichwortartige Übersichten zur Seite zu stellen, in denen er nach Art einer universitären Disputation streng syllogistisch die Argumente für und wider die jeweils fragliche These abwägt. Auch hier gibt es ein solches gleichnamiges Gegenstück auf fol. 178r–v. Es ist wohl unvollständig, zumindest ist die These dort nicht determiniert. Vgl. ferner die »Sanguis maternus non est nutrimentum faetus [sic!] in utero.« überschriebenen Notizen, dort heißt es: »faetus conficit sanguinem priusquam habet organa.« Ex. 14, 58. Vgl. Aristoteles: Physik II, 1, 192b21–23: »ou)/shj th=j fu/sewj a)rxh=j tino\j kai\ ai)ti/aj

tou= kinei=sqai kai\ h)remei=n e)n w(=? u(pa/rxei prw/twj kaq' au(to\ kai\ mh\ kata\ sumbebhko/j«. Bei Hager: Art. ›Natur‹, 430, 439 zahlreiche weitere Belegstellen.

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Gleichzeitig verabschiedet Harvey die Annahme eines Seelenübergangs vom männlichen Tier über das Material des weiblichen Tiers und das Ei in die Nachkommenschaft, vgl. Ex. 47, 175f., und Lesky: Harvey und Aristoteles, 370. Ex. 26, 102. Die Exercitatio 26 ist in der von mir verwendeten Amsterdamer Ausgabe fälschlicherweise als (dann zweite) Exercitatio 25 überschrieben. Vgl auch die Definition des Eies als eine »substantiam quandam corpoream, vitam habentem potentia; vel quoddam per se existens, quod aptum sit, in vegetativam formam, ab interno principio operante, mutari.« in Ex. 62, 286; vgl. auch die Anwendung der NaturDefinition des Aristoteles in Ex. 50, 194: »At vero Natura, principium motus & quietis in omnibus, in quibus est; & anima vegetativa, prima cujuslibet generationis caussa efficiens; movent, nulla facultate acquisita, (sicut nos) quam vel artis, vel prudentiae nomine indigitemus; sed tanquam fato, seu mandato quodam secundum leges operante: simili nempe impetu, modoque, quo levia, sursum; gravia, deorsum feruntur.« Ex. 45, 163. Vgl. Ex. 69, 316. Vgl. Ex. 44, 160: »in ovo, cicatricula, sive macula inest, quae vi plastica imbuta, in oculum & colliquamentum crescit; ex quo, & in quo pulli primordia, (sanguis scil. &

59 das punctum saliens oder sanguineum pulsans, der den ersten Grundstein des Foetus (primum futuri foetus fundamentum) bildet und von dem ausgehend alle Teile mit Leben versehen werden,165 sowie das in ihm pulsierende Blut, des Foetus’ pars primogenita et genitalis. 166 Das Gegenmodell zur Epigenese ist das der Metamorphose, bei der die Materie zunächst ausgedehnt, dann derart gestaltet wird (transformatio, transfiguratio), daß alle geformten Teile simultan entstehen.167 Dies ist das Paradigma, das Fabrici in Anschlag gebracht hatte. Die facultas generativa unterschied er in eine facultas alteratrix und eine facultas formatrix. Die facultas alteratrix oder immutatrix bildet die partes similares aus der Substanz der chalaza, d.h. aus der Materie des Eies, heraus. Sie ist vollends natürlich (»tota naturalis«), worunter Fabrici versteht, daß sie ohne Wissen und lediglich unter Einsatz der vier Elementarqualitäten vorgeht; das naturale wird hier also ganz im Sinne der galenischen Auffassung der Natur als crasis gedeutet.168 Die facultas formatrix ist weitaus vornehmer (longe nobilior) und mit höchster Weisheit begabt (summa sapientia praedita). Planvoll, wissend, wählend generiert sie die partes dissimilares und damit die Organstrukturen.169 Für Harvey ist die Vorstellung der Meta-

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punctum saliens) generantur, nutriuntur, augentur in pullum perfectum.« Vgl. auch die Aufarbeitung des Aspektes der Epigenese im Werk Harveys bei Pagel: Biological Ideas, 233–247; sowie bei Capecci: Finalismo e meccanicismo nelle ricerche biologiche di Cesalpino ed Harvey. Vgl. Ex. 69, 316. Der Ausdruck »punctum sanguineum pulsans« in Ex. 45, 164. Das Bild vom punctum saliens als Fundament des Körpers findet sich z.B. auch in Ex. 45, 165: »Fitque hujusmodi generatio potius per epigenesin, (tanquam ex puero, vir) nempe ex puncto saliente, ceu fundamento, corporis aedificium; quemadmodum ex carina fit navis […].« Vgl. Ex. 52, 205 und 212. Hinsichtlich der Reihenfolge der Entstehung des punctum saliens und des Blutes äußert sich Harvey widersprüchlich. In der Ex. 43, 154 setzt er die Existenz des Blutes mit der des punctum saliens an, in der Ex. 51, bes. 199–202, stellt er die Genese des Blutes zeitlich voran. Blut und punctum saliens werden jedenfalls gleichermaßen als die ersten Partikel (prima particula) des Kükens angesprochen, vgl. Ex. 43, 153f. Vgl. Ex. 45, 163: »Quare Fabricius, materiam pulli, (ceu distinctam ovi partem, ex qua corporetur) perperam quaesivit: tanquam pulli generatio per metamorphosin, sive materiae congestae transfigurationem, fieret; & partes omnes corporis, vel saltem principales, ex eadem materia simul orirentur, & (ut ipse loquitur) corporarentur: non autem per epigenesin, in qua ordo observatur secundum partium dignitatem, & usum; ubi primo exiguum quasi jacitur fundamentum, quod simul dum augetur, distinguitur quoque, & formatur; partesque deinceps, ordine quasque suo, supergenitas & adnascentes obtinet.«; auch beispielsweise Ex. 54, 225: »licet aliter fiat, in eorum animalium generatione, quae per metamorphosin constituuntur; ubi ex materia prius existente, satisque aucta, & praeparata, partes omnes per transformationem discernuntur, & delineantur (veluti, cum ex eruca fit papilio; ex necydalo, bombyx:) in generatione tamen per epigenesin, res longe aliter se habet; […].« S. oben 34f. Vgl. De formatione ovi, et pulli, 41: »Prima, quae tum immutatrix, tum etiam alteratrix appellatur facultas, tota naturalis est, & sine ulla cognitione agit, & calido, frigido, hu-

60 morphose nur für die Insekten zutreffend.170 Für die höherentwickelten Lebewesen lehnt er die Vorstellung einer finalitätsblinden, den Fingerzeig Gottes entbehrenden Entwicklungsphase ab. In allen Vorgängen der Lebenswerdung – ubique – zeigt sich die Natur als göttlicher Wink (numen divinum). Das Prinzip aller Dinge (natura naturans, anima mundi, mens divina, Creator) ist dem einzelnen Werk nicht weniger gegenwärtig als dem Universum als Ganzem.171 Rem enim si penitius introspexisset; vidisset, tam formatricem, quam alteratricem facultatem, calido, frigido, humido, & sicco (tanquam instrumentis) uti: nec minus divini numinis, atque artificii, in nutritione & immutatione deprehendisset, quam in ipsius formatricis operationibus. Quippe Natura omnes istas facultates in finem aliquem instituit; & ubique cum providentia & intellectu operatur. […] Facultates, inquam, coctrix, & immutatrix; nutrix, & auctrix […] non minore artificio, nec minus in destinatum finem operantur; quam formatrix facultas. […] agnoscimus Deum, creatorem summum atque omnipotentem, in cunctorum animalium fabrica ubique prasentem esse; & in operibus suis quasi digito monstrari […].172

Am Anfang der Epigenesethese mag der Phänomenbefund gestanden haben, der Harvey zur Aufgabe der Zeugungslehre seines dux Aristoteles173 nötigte: er fand im Uterus der Hirschkühe, die er sezierte, lange Zeit nach dem Koitus kein Menstrualblut, das dem männlichen Samen als materielles Substrat hätte dienen können.174 So nahm er an, daß die Materie oder

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mido, & sicco assumpto, totam per totam chalazae substantiam alterat, & alterando in pulli partes immutat, hoc est in carnem, ossa, cartilaginem, ligamenta, venas, arterias, nervos, & si quae sunt in animali, seu pullo, partes omnes similares, ac simplices conuertit, […]. Altera vero, quae formatrix dicitur, quaeque similares partes dissimilares efficit, ijs scilicet ornatum ex apta figura, iusta magnitudine, idoneo situ, & congruo numero, conferens, iam proposita longe nobilior est, & summa sapientia praedita; […] haec (inquam) opera non naturaliter, sed cum electione, & cognitione, atque intellectu potius facta videntur. Videtur siquidem formatrix facultas exactam habere cognitionem, & prouidentiam tum futurae actionis, tum usus cuiusque partis, & organi, […].« Vgl. Ex. 45, 160 und 165. Vgl. Ex. 50, 195: »rem recte pieque (mea quidem sententia) reputaverit, qui rerum omnium generationes, ab eodem illo aeterno atque omnipotente Numine deduxerit, a cujus nutu rerum ipsarum universitas dependet. Nec magnopere litigandum censeo, quo nomine primum hoc Agens compellandum, aut venerandum veniat, (cui nomen omne venerabile debetur) sive Deus, sive natura naturans, sive anima mundi appelletur. Id enim omnes intelligunt, quod cunctarum rerum principium sit, & finis; quod aeternum, & omnipotens existat; omniumque autor & creator, per varias generationum vicissitudines, caducas res mortalium conservet, ac perpetuet; quod ubique praesens, singulis rerum naturalium operibus non minus adsit, quam toti universo; quod numine suo, sive providentia, arte, ac mente divina, cuncta animalia procreet.« Vgl. auch Ex. 54, 228f. Ex. 54, 228. Vgl. ebd.: »Quinetiam, ut in mundo majore, Iovis omnia plena nobis dicuntur; ita pariter in pulli corpusculo, singulisque ejus actionibus & operationibus, digitus Dei, sive Naturae numen elucescit.« Am Ende der Praefatio schreibt Harvey, er habe sich Aristoteles zu seinem »Dux«, Fabrici zum »Praemonstrator« gewählt. Vgl. Ex. 44, 158: »Errant enim toto coelo, (ut dici solet) qui existimant, post coitum necessario remanere materiam aliquam in utero paratam & ideoneam, ex qua aut foe-

61 corporis moles erst mit ihrem Formungsprozeß zur Existenz komme und generatio, auctio, praeparatio, formatio in einem einzigen Vorgang gleichzeitig ablaufen. Die facultas formatrix findet die Materie nicht vor, sie stellt sie erst bereit,175 ganz wie der Töpfer, wenn er die Gegenstände formt, ihnen gleichzeitig Tonmasse zufügt. Haec [= omnia ex ovo prognata, K.H.] ut simul fiunt, & augentur; crescunt, & transformantur; ordineque observato, in partes distinguuntur: ita nulla iis immediata materia praeexistens adest, (qualis statui solet seminum maris & foeminae mixtio, vel sanguis menstruus, vel aliqua ovi portiuncula) ex qua foetus corporetur: sed simul ac fit & paratur materia, augetur etiam, & formatur aliquid; […]. Fitque hujusmodi generatio potius per epigenesin, (tanquam ex puero, vir) nempe ex puncto saliente, ceu fundamento, corporis aedificium; quemadmodum ex carina fit navis: & potius, ut figulus statuam, absque praeexistente materia; quam ex materia aliqua, ut faber ex ligno scamnum, aut statuarius e marmore statuam efformant. […] Nimirum ex colliquamento, fit sanguis; ex sanguine, corporis moles exsurgit; quae similaris ab initio, & tanquam gluten spermaticum cernitur: inde autem partes per divisionem obscuram delineantur primo, posteaque organa fiunt, & distinguuntur.176

Die Epigenesebehauptung Harveys dürfte Glisson einen der wichtigsten Anstöße zur eigenen Auffassung der Formgenese gegeben haben, mit der er die »erdichteten Metamorphosen« zur grotesken Widersinnigkeit degradiert.177 Das Ei verfügt Harvey zufolge über ein eigenes Prinzip des Lebens und bewältigt die geordnete Artikulation des Embryos gerade aus dieser Selbstsuffizienz heraus. Als Mittler zwischen beseelter und unbeseelter Welt ist es nicht im vollgültigen Sinne lebend, es ist jedoch keinesfalls ohne Vitalität.178 In der berühmten Exercitatio 57 diskutiert Harvey mehrere Phänomene dieses »natürlichen« Lebens, die angesichts des üblichen Lebensbegriffs mit seiner Bindung an das Vorhandensein von Organen einen regelrechten Katalog von Paradoxa stellen:179 Noch vor dem Aufbau

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tus fiat, aut conceptus primus constituatur, aut aliud quid protinus in cavitate uteri fabricetur, quod plantarum semini in terrae gremium injecto respondeat.« Siehe auch Ex. 46, 172; Ex. 49, 181f.; Ex. 69, 315; vgl auch Lesky: Harvey und Aristoteles, 307f. S. auch Glissons beiläufige Bezugnahme in De natura, Ad Lectorem, §13, fol. b4v: »perperam sumit [Scaliger, K.H.] semen canis pro materia foetus canini. Sed communis hic Philosophorum error fuit ante Cl. Dris. Harvei nostratis tempora, qui primus Libro suo de Generatione efficaciter evicit, semen materialiter compositionem ovi non ingredi.« Vgl. Ex. 45, 163: »Facultas enim pulli formatrix, materiam potius sibi acquirit, & parat; quam paratam invenit: videturque pullus haud ab alio fieri, vel augeri, quam a se ipso.« Ex. 45, 165f., ganz ähnlich auch schon 160. Vgl. auch 162: »In generatione per metamorphosin, quasi sigillo impresso, vel proplasmate concinnata finguntur; materia scilicet tota transformata. Animal autem, quod per epigenesin procreatur, materiam simul attrahit, parat, concoquit, & eadem utitur: formatur simul, & augetur.« S.u. 4.6. Vgl. Ex. 26, 101: »Est quoque medium inter animatum & inanimatum, neque enim vita prorsus donatum est, neque eadem omnino privatur.« Die Auflistung der Paradoxa befindet sich auf den Seiten 255–258.

62 sanguifizierender und bluttransportierender Organe ist das Blut gekocht 180 und bewegt sich hin und her.181 Vor der Beseelung des Eies durch die vegetative Seele wird es ohne Verdauungsorgane genährt und wächst, und dies mit Plan und Vorausschau, ja fast könnte man glauben, die vegetative Seele sei vor dem Küken selbst da, noch bevor aus der Flüssigkeit des Eies dessen Teile bereitet sind.182 Schon vor Ausbildung des Gehirns, wenn dieses noch nichts mehr ist als eine klare Flüssigkeit, empfindet der Foetus; sticht man ihn an, windet er sich, kontrahiert und entfaltet sich wieder.183 Schon das punctum saliens ist irritabel und reagiert auf Reize wie ein Lebewesen.184 Bereits der erste Tropfen Blutes, der in ihm pulsiert, verfügt über sensus und motus und »weiß« Angenehmes und Schädliches zu unterscheiden.185 Was immer aber sich in seinen Bewegungen gegen Be-

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Eine Anspielung auf die Lehre der sanguificatio als zweiter »Kochung«. Die Schulmedizin unterscheidet drei Kochungen: die Verdauung der Nahrung im Magen, im Leberparenchym die Herstellung von Blut aus dem chylus, der aus der Verdauung hervorgeht, schließlich die Assimilation des Nährblutes in den Festteilen des Körpers, vgl. Gorraeus: Definitiones medicae, Lemma »Πεψις. coctio. concoctio.«, 371f. Vgl. Ex. 57, 256: »Videtur praeterea paradoxon, Sanguinem fieri & moveri, spirituque vitali imbui; antequam ulla organa sanguifica, vel motiva exstiterint.« Nach Galen beginnt mit dem Pulsieren des Blutes die »animalische« Phase der Entwicklung, in der der Foetus das Leben einer Pflanze aufgibt; vgl. De formatione foetuum, 3, Kühn IV, 670. Vgl. Ex. 57, 255–257: »Cum enim in ovo macula prius dilatetur; colliquamentum concoquatur, & praeparetur, plurimaqua alia (non sine providentia) ad pulli formationem & incrementum instituantur; antequam quippiam pulli, vel ipsa primogenita ejus particula appareat: quidni utique credamus calorem innatum animamque pulli vegetativam, ante pullum ipsum existere? […] Adhaec, corpus nutritur & augetur, antequam organa coctioni dicata (ventriculus nempe, & viscera) formantur. […] Denique, non modo in vegetativa animae parte, sed & ante animam ipsam, inest mens, providentia, & intellectus; qui cuncta statim a prima origine, ad pulli esse & bene esse, disponunt, ordinant, ac procurant; adque formam & similitudinem generantium arte effingunt.« Der letzte Satz ist eine weitere Invektive gegen Fabrici. Vgl. Ex. 57, 258: »Prima quoque corporis fabrica, sive constitutio […] priusquam membra ulla discernuntur; cumque cerebrum nil aliud, quam aqua limpida est; si modo leviter pungatur, instar vermis vel erucae, sese obscure movet, contrahit, & contorquet; ut sentire ipsam, evidenter pateat.«; und auch 256: »Nec minus novum, atque inauditum inesse sensum ac motum in foetu, priusquam cerebrum exstructum fuerit: Movetur enim foetus, contrahit & explicat sese, cum pro cerebro adhuc nihil conspicuum est, praeter aquam limpidam.« Vgl. auch die Kopfbewegung und Krümmung des Foetus, von denen Harvey Ex. 19, 82f. berichtet: »Jam quoque foetus sese movet, & leniter contorquet, caputque exporrigit: licet nihil etiamnum cerebri, praeter aquam limpidam vesiculae inclusam, comperiatur.« Vgl. Ex. 17, 69f.: »Ego vero pluribus experimentis certus sum, non motum solummodo puncto salienti inesse, (quod nemo negaverit) sed sensum etiam. Nam ad quemlibet vel minimum tactum, videbis punctum hoc varie commoveri, & quasi irritari; […] & ad iteratam saepe injuriam extimulari, atque in pulsuum rhythmo, & ordine conturbari. […] Vidi inquam, saepissime; aliique, qui una mecum aderant, ab acus, styli, aut digiti contactu, imo vero a calore aut frigore vehementiore admoto, aut cujuslibet rei molestantis occursu, punctum hoc varia sensus indicia […] edisse. Ut dubitandum non sit, quin punctum hoc (animalis instar) vivat, moveatur, & sentiat.« Vgl. Ex. 57, 258: »ex historia constitit, in prima statim sanguinis guttula in ovo, ante-

63 lästigungen wehrt, muß notwendigerweise mit Sensitivität begabt sein.186 Folgerichtig verwirft Harvey die Formel des Aristoteles von der Seele als Akt des organischen Körpers.187 Er verweist auf die Irritationen der Hohlorgane,188 die als innerorganische »Wahrnehmungen« ohne die Vermittlung des sensus communis 189 beispielsweise zu Erbrechen führen und gänzlich unbewußt bleiben können. Darüberhinaus führt er die Zoophyten an, die Schwämme, auch die Würmer und andere Arten, die sich bei Berührung zusammenziehen, damit ihre Empfindsamkeit anzeigen und doch über keinen Gemeinsinn verfügen.190 Nach diesen Vorgaben präpariert Harvey den klaren Begriff eines tactus naturalis heraus, den er den natürlichen Verrichtungen (actiones naturales) zur Seite stellt: Quemadmodum tamen actiones & motus quidam sunt, quorum regimen sive moderamen a cerebro non pendet, atque ideo naturales appellantur: ita quoque statuendum est, dari sensum quendam tactus, qui non referatur ad sensum communem, nec cerebro ullo modo communicetur; ac proptera [sic!] in ejusmodi sensu, non percipimus nos sentire; […] [hoc sensum, K.H.] propterea a sensu animali distinguimus. […] Atque ut Medici docent, actiones naturales ab animalibus, discrepare: ita pari ratione, tactus quoque naturalis, videtur diferre a sensu tactus animali, aliamque actus speciem constituere: adeo ut iste, sensui communi, sive cerebro communicetur, ille vero, nequaquam.191

Zwei Arten von ›Sinn‹ sind hier deutlich unterschieden: der sensus animalis ist der zum sensus communis durchgestellte Sinneseindruck; der tactus naturalis bleibt am Ort seiner Entstehung und gelangt nicht ins Bewußtsein. Embryonen verfügen über ihn, auch entwickelte Lebewesen, und zwar nicht nur in den genannten Hohlorganen und im Herzen,192 sondern auch in den Werkzeugen der Sinneswahrnehmung. Das, was wir schließlich als Sinneseindruck in uns erfahren, ist nicht originäre, sondern bereits verarbeitete Information, da der sensus communis die an den äußeren Sinnen empfundenen Daten »beurteilt«, sie hinsichtlich ihrer Verschiedenheit je nach Herkunftssinn unterscheidet und überhaupt erst ermöglicht, daß das sinnlich wahrnehmbare Lebewesen die Tätigkeit seiner Einzelsinne perzipiert. Harvey greift hier auf einschlägige, erstmals

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quam quicquam corporis efformatur, sensum motumque clare elucescere.« Vgl. auch Ex. 52, 207, sowie Ex. 47, 174. Zum Diskrimationsvermögen des Schädlichen und des Nützlichen vgl. Ex. 52, 205: »Quinimo ex vario ipsius motu, in celeritate aut tarditate, vehementia, aut debilitate &c. eum & irritantis injuriam & foventis commodum persentiscere, manifestum est.« Vgl. Ex. 57, 259: »Quicquid enim contra irritamenta & molestias, motibus suis diversis nititur, id sensu praeditum sit necesse est.« Vgl. Ex. 57, 256; auch Ex. 26, 108. Vgl. Ex. 57, 259f. Dazu sogleich. Vgl. Ex. 57, 261; auch Ex. 17, 70. Ex. 57, 261. Vgl. Ex. 57, 259.

64 von Aristoteles formulierte Funktionsbestimmungen des Gemeinsinns zurück.193 Quare ita censendum arbitror: Experimur in nobis sensus potissimum quinque esse, quibus de rebus externis judicamus: quoniam autem haud eodem sensu sentimus, quo nos sentire percipimus; (oculis enim videmus, iis tamen non intelligimus nos videre) sed alio sensu, organove sensitivo, (nempe sensu communi interno) quo ea, quae per singula sensoria externa nobis advenerunt, dijudicamus, albumque a dulci, & duro distinguimus […].194

Harveys seelischer und natürlicher Sinn sind die unmittelbaren konzeptionellen Vorläufer der perceptio animalis und perceptio naturalis bei Glisson.195 Allerdings weiß Harvey den eingeführten Naturalsinn nicht im Sinne der Epigenesevorstellung zu nutzen. Im tactus naturalis ist ein Phänomen konstatiert, es bleibt aber theoretisch weitgehend ungenutzt. Wenn Glisson hingegen der natürlichen Perzeption entsprechende Begriffe von Streben und Bewegung zur Seite stellt, kann er vermöge dieses Tripels jeglichen Formungsprozeß als finalistische Sequenz psychoider Verrichtungen konzipieren.196 Die perceptio naturalis bildet hier den integralen Auftakt des epigenetischen Bildungsvorgangs selbst. Erst die spekulativmetaphysische Ausdeutung des beobachteten Phänomens der Reizbarkeit, die Glisson in De natura leistet, läßt ein Denkgebäude von hoher systematischer Einheit entstehen, in dem alle in der Natur vorkommenden Formungsprozesse auf einen Grundablauf zurückführbar sind.197

2.2.2 »Ganz im Ganzen und ganz in jedem Teil«: das Blut als Prinzip der Belebung Es ist nur folgerichtig, daß Harvey die vorvegetative »Seele« des Foetus im Blut lokalisiert. Da das geformte Lebewesen bereits das Werk der Eigentätigkeit des Eies sein soll,198 muß mit dem ersten Rudiment des Foetus,

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Aristoteles selbst geht allerdings nicht von einem von den Einzelsinnen getrennten seelischen Vermögen aus, das die koina\ ai)/sqhta, die allen Einzelsinnen gemeinsamen Wahrnehmungsgegenstände, perzipiert. Die Vorstellung eines eigenen sensus interior bildet sich erst bei Augustinus aus. Die Delegierung des Urteilens, Unterscheidens und der Selbstwahrnehmung an den sensus communis bilden bis ins 17. Jahrhundert die Grundlage des ästhetischen Diskurses. Die Lokalisierung des sensus communis in der Hirnkammer findet sich bereits bei Avicenna. Vgl. Leinkauf und Dewender: im Art. ›sensus communis‹. Ex. 57, 260. Daß Harvey darin den Reizbarkeitsbegriff Glissons vorwegnimmt, ist längst gesehen worden, vgl. Pagel: Harvey, Foetal Irritability – and Albertus Magnus, 409. Der iatromechanistische Einschlag des Denkens Glissons offenbart sich auch in der gelegentlichen Bezeichnung des Organs als machina, vgl. z.B. De natura, 212, 219. S.u. 4.6. Vgl. Ex. 53, 221: »Ex dictis patet, pullum […] ut ab insito ovi principio, sive anima, oritur & efformatur […].«

65 dem punctum saliens und dem in ihm pulsierenden Blut, sogleich der Lebensanfang, mithin das Prinzip von Vegetation, Empfindung und Bewegung gegeben sein.199 Das Blut ist, in Anwendung der klassischen Definition der eingeborenen Wärme,200 das erste und unmittelbare Instrument und die Residenz der Seele,201 ja nahezu die Seele und das Leben selbst.202 Deshalb hat auch das Blut, wie die Seele, eine Mittlerstelle zwischen Unkörperlichem und Körperlichem (»nec omnino corpus sit, nec plane sine corpore«203). Als eine Art göttlicher Körper und von himmlischer Natur agiert es mit Kräften, die denen der irdischen Elemente überlegen sind. Hier spricht Harvey mit eben der Denkfigur und Terminologie der spiritusAuffassung Fernels und Gorraeus’ gegen den Naturalismus, benutzt auch den Schlüsselpassus aus Aristoteles’ De generatione animalium II, 3 . 204 Die spiritus-Lehre hält Harvey indes für verfehlt, rufe sie doch »Götter« auf die Bühne und erbitte etwas von den Sternen, was »daheim« (domi) hervorkomme.205 Es ist das Blut, das die Seele in alle Teile des Körpers einfließen (influere) macht; dies ist die an jeder Stelle gegenwärtige Lebens-

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Vgl. Ex. 69, 316, wo Harvey dem »springenden Punkt« eine anima vegetativa und motiva zuspricht; Indiz der Beseelung des Punktes sind Bewegung und Empfindung, vgl. Ex. 47, 174. Vgl. oben Anm. 42. Vgl. Ex. 52, 207: »immediatum animae instrumentum […] animaeque commune vinculum«; auch etwa Ex. 71, 338; Ex. 52, 217: »Dum autem assero, animam primo ac principaliter in sanguine residere […].« Vgl. auch Ex. 51, 202. Vgl. Ex. 71, 344: »[sanguis, K.H.] permeat quoquoversum, & ubique praesens est; eodemque ablato, anima quoque ipsa statim tollitur: adeo ut sanguis ab anima nihil discrepare videatur; […].«; sowie Ex. 51, 202: »Vita igitur in sanguine consistit, (uti etiam in sacris nostris legimus) quippe in ipso vita atque anima primum elucet, ultimoque deficit.« Ex. 71, 344. Diese Bestimmung der Seele ist genuin neuplatonisch und trifft sich beispielsweise mit der Patrizis, vgl. Leinkauf: Il neoplatonismo di Francesco Patrizi, 84– 86. Vgl. Ex. 71, 339: »Idem enim ego quoque de calido innato, & sanguine affirmaverim; non esse scil. ignem, neque ab igne originem ducere: sed corpus aliud, idque divinum magis participare: ac propterea non agere facultate aliqua elementari; sed quemadmodum in semine inest aliquid, quod ipsum foecundum reddat, & in fabricando animali vires elementorum excellat; spiritus nempe, & natura in eo spiritu respondens elemento stellarum: ita pariter in sanguine, inest spiritus, sive vis aliqua, agens supra vires elementorum, (in singulis animalis partibus nutriendis & conservandis valde conspicua) & natura, imo anima in eo spiritu & sanguine, respondens elemento stellarum.« Harvey setzt sich in Ex. 71, 335–346 ausführlich mit der spiritus-Lehre von Fernel und Scaliger auseinander und nimmt das Fazit gleich vorweg (335f.): »Non est opus profecto spiritum aliquem a sanguine distinctum quaerere, aut calorem aliunde introducere, Deosve in scenam advocare, philosophiamque fictis opinionibus onerare: domi scil. nascitur, quod vulgo ab astris petimus. Solus nempe sanguis est calidum innatum, seu primo natus calor animalis: uti ex observationibus nostris circa generationem animalium (praesertim pulli in ovo) luculenter constat: ut entia multiplicare, sit supervacaneum.«

66 quelle.206 Mit ihm ist auch die Seele ganz im Ganzen und ganz in jedem Teil, wie Harvey unter Verwendung eines verbreiteten Topos der scholastischen Psychologie folgert, in dem man ausgehend vom spekulativen Denken Plotins die Eigenart der Präsenz der Seele oder der Natur im Körper einzufangen suchte.207 Sanguis denique totum corpus adeo circumfluit, & penetrat, omnibusque ejus partibus calorem & vitam jugiter impertit; ut anima primo & principaliter in ipso residens, illius gratia, tota in toto & tota in qualibet parte (ut vulgo dicitur) inesse, merito censeatur.208

Betrachtet man ferner das punctum pulsans als Herz, dem lediglich die Anlagerung von Gewebesubstanz fehlt, so läßt sich der aristotelische Primat des Herzens, im Galenismus strittig gemacht, wiederherstellen:209 Alles Leben, das natürliche und vitale gleichermaßen wie das animalische, entstammt dem Herzen, dem erst im Tod erlöschenden »heimischen Herd« des Lebewesens. 210 Cor, inquam, aut saltem ejus primordium, vesicula nempe & punctum saliens, reliquum corpus, tanquam futurum sibi domicilium, fabricat; […] estque veluti lar quidam familiaris, prima animae sedes, calidi innati primum receptaculum, focus animalis perennis; facultatum omnium fons & origo […].211

Die galenische Dreiheit der Lebensprinzipien überlagert sich in einem Organrudiment, das als Residenz von sensus und motus naturales klassische Zuständigkeiten von Gehirn, Herz und Leber im Galenismus auf sich vereinen kann.212 Die Herstellung dieser Einheit findet ihr Inverses in der Annahme des Blutes als eines ubiquitären Lebensfluidum. Dieser Ansatz profitiert von den Teilbarkeitseigenschaften des Blutsubstrats als eines homoiomeren Körperteils: War in der Tradition der »tota-in-toto«-Formel

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Vgl. Ex. 52, 207, Ex. 71, 338, zitiert in Anm. 201. Harvey begründet dies auch ganz konkret: wenn ich mich verletze, egal wo, tritt Blut aus der Wunde, vgl. Ex. 51, 202f. Vgl. zur Sache Leinkauf: Mundus combinatus, 56–66. Ex. 51, 204; die Formel bringt Harvey recht oft, so auch beispielsweise Ex. 26, 109; Ex. 43, 154. Vgl. Ex. 47, 172f.: »Cor enim, cum venarum ductu, primo cernitur; tanquam principium animatum, in quo & motus, & sensus; & tanquam filius emancipatus, parsque genitalis, unde membrorum ordo describitur, &, quaecunque ad absolvendum animal pertinent, disponuntur; & cui reliqua conveniunt ab Aristotele attributa.«; auch Ex. 53, 218; Ex. 57, 258; in beiden Fällen mit expliziter Berufung auf Aristoteles. Vgl. Ex. 53, 223: »Ideoque concludimus, Foetus partes invicem subordinatas esse, vitamque primum a corde mutuari.« Vgl. auch Ex. 47, 174: »Ex generatione quoque pulli manifestum est, quodcunque illi fuerit principium vitae, seu prima caussa vegetativa; hanc ipsam prius in corde fuisse.« Ex. 46, 168. In der Zuständigkeit für die motiones naturales übernimmt das Herz die Funktion der Leber bei Galen; vgl. Ex. 57, 262: »Dicendum itaque arbitramur, motus omnes naturales a virtute cordis profluere, & ab illo dependere: spontaneos autem, actionemque aliquam perficientes, (quos Medici animales vocant) sine cerebro & sensu communi regulante, non fieri.«

67 die Seele der selbst einheitliche »Ursprung von Vielheit und Differenz«, so kann Harvey ihn von der intelligiblen auf die – wenn auch spirituell aufgeladene – materielle Substanz verlagern.213 Glissons Materialismus ist darin vorgezeichnet; zunächst schließt er sich seinem Lehrer an und begreift das Vitalblut als den Teil des Körpers, der dem gesamten Organismus Leben mitteilt, weil er selbst das ursprüngliche Leben in sich hat (»in sua potestate continet vitam originalem«).214 In seiner reifen Theorie der vita primaeva allerdings ist jegliche Perspektivierung auf ein zentrales Prinzip der Belebung hinfällig. Die Materie ist hier bereits in ihren minimalen Partikeln als einer Vielheit von »Lebenssitzen« mit einem originären Leben begabt.215 Der tota-in-toto-Topos wird nur noch zitiert, um seine Absurdität vorzuführen.216 Mit der Entdeckung des Blukreislaufs wird für Glisson nicht nur die galenische Hepatologie hinfällig, sondern die traditionelle Beseelungsvorstellung schlechthin kritisch.

2.3

Ein Rezipient von Hermetismus und Stoa: Johann Baptist van Helmont

Zu Glissons Lebzeiten wurden die naturphilosophischen und medizinischen Systeme der aristotelischen und galenischen Schulen zunehmend aus den Lehr- und Forschungsstätten verdrängt.217 In der Retrospektive der Wissenschaftsgeschichte war es lange Zeit üblich, eine quantitativ-mathematisch und auch mechanistisch orientierte Experimente-Wissenschaft, wie sie vornehmlich von der Royal Society propagiert wurde, als das siegesgewisse Gegenvorhaben herauszustellen, aus dem in direkter Linie die modernen Naturwissenschaften hervorgegangen seien.218 Mittlerweile hat sich das historiographische Bild differenziert, und man hat ein Bewußtsein dafür gewonnen, daß für die Zeitgenossen die Weichen alles andere als klar gestellt waren. Attraktive Neuorientierung und aussichtsreiches Innovationspotential boten auch andere Konkurrenzbewegungen wie etwa die den Aristote-

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Vgl. Leinkauf: Mundus combinatus, hier bes. 66. Vgl. oben die Anm. 88 und das Zitat zu Anm. 158. S.u. 3.2.9, 3.2.10. S.u. 257f. S. o. 1.1 und 1.2. Vgl. etwa Webster: From Paracelsus to Newton: »From the historical point of view it is impossible to disregard the sources of evidence suggesting that non-mechanistic modes of scientific expression remained intellectually challenging to natural philosophers of all degrees of ability into the age supposedly dominated by the mechanical philosophy. […] The dominance of the mechanical philosophy is exaggerated and this construct is handled too simplistically. […] Natural magic in one form or another was firmly linked to the history of organized science, […].« (11f., 60) Vgl. auch die Einschätzung und die Hinweise bei Leinkauf: Interpretation und Analogie, 41.

68 lismus modifizierende philosophia reformata 219 oder die vielgestaltigen Projekte einer physica hermetica oder physica chemica, welche sich mehr oder weniger vermittelt auf die Lehren des Paracelsus und die durch Ficino und Patrizi neu zugänglich gemachten Texte des Corpus hermeticum beriefen.220 Beobachtungen magnetischer oder elektrostatischer Fernwirkung, organische Wachstums- und Formungsprozesse oder auch Phänomene vermeintlicher planetarer Einflußnahme provozierten immer wieder zur Annahme »okkulter« Mächtigkeiten und plastischer Kräfte in den Naturdingen. Mechanismus, Korpuskularphysik und Experimentalwissenschaft waren gegenüber solchen Überlegungen nicht steril. Vielmehr wurde auch hier versucht, Konzeptionen natürlicher Kräfte und Vermögen zu finden, die eine explanatorische Integration »magischer« Wirkungen erlaubten.221 Der Naturbegriff bestimmt sich in der hermetischen Naturphilosophie nun grundsätzlich anders als im Rationalismus eines Descartes; ein Gegensatz, der jüngst anhand des Begriffspaars intima rerum – res extensa herausgearbeitet wurde.222 Wo hermetische Autoren von inneliegenden, aus

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Vgl. hierzu Mercer: The Seventeenth Century Debate Between the Moderns and Aristotelians: Leibniz and Philosophia Reformata. Vgl. MacDonald Ross: Okkulte Strömungen; Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 1. Einleitung; zur Präsenz der hermetischen Philosophie speziell in England Debus: The English Paracelsians; Robert Fludd and the Chemical Philosophy of the Renaissance. Zum Hermetismus vgl. Mulsow: Das Ende des Hermetismus. Die Entdeckung des Innovationspotentials von hermetistisch inspirierten Wissenschaftsprojekten führte wiederum zu einer Engführung mit dem Begriff der wissenschaftlichen Revolution, vgl. Yates: Giordano Bruno and the hermetic tradition. Bei Boss: Helmont, Glisson, and the doctrine of the common reservoir, gerät Glisson, was seinen Helmontianismus betrifft, denn auch zum Promotor der neuen Wissenschaftlichkeit. Vgl. hierzu die einschlägige Untersuchung von Hutchison: What Happened to Occult Qualities in the Scientific Revolution? Vgl. auch beispielsweise Hunter: The seventeenth century doctrine of plastic nature; oder Meinel: Okkulte und exakte Wissenschaften. Meinel zeigt insgesamt auf, daß »die naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts die okkulten Qualitäten nicht beseitigt, sondern sie im Gegenteil an zentraler Stelle in ihr Weltbild inkorporiert hat«, ebd., 25. Mit Bezug auf Boyle und Newton zieht er den Schluß, daß gerade ein verarmter Materiebegriff, der von der Annahme innewohnender Vermögen und Qualitäten absieht, die »Hypothese Gott« im Sinne seines unvermittelten Eingreifens in den Weltlauf auf den Plan rufen mußte (27). Vgl. ganz ähnlich auch Leinkauf: Mundus combinatus, 59–61; Webster: From Paracelsus to Newton, 65: »Retreat into the categories of Neoplatonism and hermeticism promised protection against the divorce between God and his universe.« MacDonald Ross zeigt am Beispiel der Aufnahme der eigentümlichen Vorstellung einer sympathetischen Wundheilung durch Kenelm Digby auf, wie man versuchte, die magischen Wirkungen mechanistisch oder korpuskulartheoretisch zu erklären, vgl. Okkulte Stömungen, 198; siehe auch Copenhaver: The occultist tradition and its critics, 481f., zu Boyle 488–490. Vgl. Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts, hier besonders 14, 17. Vgl. ebenfalls Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 1. Einleitung, 9– 11, 15, 17.

69 sich heraus tätigen Kraftzentren als Objekten der Naturbetrachtung ausgehen, läßt Descartes nur noch ein superfizielles »Außen« der materiellen Substanz gelten, das sich auf figura, situs, motus beläuft.223 Dementsprechend richtet sich das Wissenschaftskonzept des Hermetismus nicht an den Paradigmen von Geometrie, Algebra und Arithmetik aus. Die Kenntnis der Prinzipien der Natur meint hier: in ihr verhülltes, geheimes Inneres eingeweiht sein. Erst der Magier legt die verborgenen Wirkzusammenhänge in der Natur offen, indem er Einsicht und – bevorzugt medizinische – Anwendung verbindet.224 Die magia naturalis vollendet die Naturphilosophie in einer Bemächtigung über die Natur. Wenn Francis Glisson nun schreibt, daß das Leben der Natur verborgen sei und erst durch seine Früchte und Anzeichen, die drei natürlichen Operationen perceptio, appetitus, motus, offenbar werde,225 so ist dies ein Zugeständnis an den magischen Begriff des Okkulten. In seinen Notizen zum Traktat De ventriculo et intestinis bezeichnet er die Objekte der perceptio naturalis, deren Eindruck nicht zum Gehirn weitergeleitet wird und die daher actio privata ist, ganz offen als okkulte Qualitäten.226 Die energetische Natur der Materie ist ihr »Innerstes«; hier bietet sich Glisson die Gelegenheit, das hermetische Motiv des verborgenen Urgrunds der Natur mit der Substanztheorie des Aristotelismus, namentlich des Suárez, zusammenzubringen. Denn auch dort, in der Substanzauffassung der Neuscholastik, kennt man mit der Essenz eine Instanz des intimum der Substanz.227 Die Idee einer spirituell, d.h. mit Perzeptions- und Strebekräften aufgeladenen ersten Materie kann Glisson von hermetischen Philosophen übernehmen, die den Urstoff als Einheit von Masse und Geist, als mens corporea begreifen. Mit Paracelsus ist die erste Materie das Chaos, aus dem die Welt wird, in Berufung auf den biblischen Schöpfungsbericht wird sie als aqua primaeva vorgestellt. Die hermetische Physik nämlich will dezidiert physica christiana sein und gleicht ihre Kosmogonie mit dem mosaischen Genesistext ab.228 Die Urmaterie trägt in sich die Keimgründe aller Dinge

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Vgl. Descartes: Princ. Phil. IV, 187, AT VIII-1, 314f. Vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Philosophie. 1. Einleitung, 11f. So Glisson zu seinen Gegnern, die das Leben der Natur nicht anerkannten: »Adeo nullibi motum pure ab intus provenientem agnoscunt: nedum operationes naturales esse latentis cujusdam vitae fructus & indicia aut cogitant, aut credunt.« (De natura, 191) Vgl. MSS Sloane 574B, fol. 73r: »Sensus publica perceptio est et toti animali nota. […] Perceptio autem naturalis privata est et eatenus toti occulta nec aliter fit publica quam qua per nervum cerebro communicatur, et in sensum vertitur. Fateor enim obiecta; quae sola naturali perceptione advertuntur, manere adhuc privata seu occulta, et hoc sensu non perperam vocari occultas qualitates.« Vgl. den Abschnitt 3.2.10. Vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Philosophie. 1. Einleitung, 12–14.

70 (rationes seminales).229 Sie wird durch den ignis primaevus, d.h. den »Geist des Herrn« oder spiritus universi, »gesegnet« und »geschwängert«.230 Der Weltgeist hat seinerseits die Ideen aller Dinge in sich, entfaltet sie im Vorgang der imaginatio und verschafft ihnen auf diese Weise physische Realität und Wirksamkeit.231 Die Weltwerdung ist so eine »Auswicklung« der Ideen der Weltseele (evolutio idearum) . 232 Im Ausgang von den Instanzen einer Weltseele oder eines Weltgeistes können sämtliche Vorgänge in der Natur mit der Begrifflichkeit mentaler Prozesse beschrieben werden, und mehr noch: sie stellen deren tatsächlichen Ausfluß dar. Der imaginative Idealismus wiederholt sich im Hinblick auf das innerweltliche Geschehen; auch im bereits gewordenen Kosmos setzen sich die Objekte der Einbildungskräfte in die realen Verhältnisse um. Klassische Beispiele sind der »böse Blick der Catablepha«, der Tötung bewirkt, oder die Schwangere, die dem ungeborenen Kind die Formbilder ihrer Gelüste eindrückt.233 Hier bildete man Platons Theorie der Sehstrahlen nach: So wie der Sehende gemäß dieser Theorie erst dadurch sieht, daß er einen Strahl inneren Feuers auf den jeweiligen Gegenstand wirft, so projiziert der Imaginierende seine geistigen Bilder auf die Dinge außerhalb seiner und affiziert sie dadurch.234 Marcus Marci von Kronland, der mit Glisson fast gleichaltrige Leibarzt am Hofe Rudolf II. in Prag, dessen Aufnahme in die Royal Society lediglich an seinem unerwarteten Tod scheiterte, prägt den Ausdruck der tätigen Idee (idea operatrix); 235 Glisson wird Idee und Bewegung gleichsetzen: »Ideam non realiter differre a motu.« 236

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Hier dienen die stoischen lo/goi spermatikoi/ als Vorbild. Der Einfluß der Stoa auf die hermetische Philosophie wird unten im Abschnitt 2.3.3 am Beispiel des Autors van Helmont thematisiert. Zur Sache vgl. Leinkauf: Mundus combinatus, 92–110. Vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Philosophie. 1. Einleitung, 14. Vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Philosophie. 1. Einleitung, 14. So der Terminus Marcus Marcis, auf den sogleich die Rede kommen wird. Beide Exempla finden sich an prominenter Stelle, nämlich im »Problemkatalog« des ersten Kapitels von Fracastoro: De sympathia et antipathia liber unus, fol. 1v: »Catablepha animal hominem ad mille paßus conspectum interficit. in faetus [sic!] signa quaedam eorum transire videntur, quae matres avidißime appetiuere.« Das Beispiel der Schwangeren, die dem Foetus durch ihre Vorstellungen die Form einer Kirsche eindrückt, repetiert auch van Helmont an zahlreichen Stellen, vgl. De ideis morbosis, §3, O 540 (A II 962); De magnetica vulnerum curatione, §§131f., O 772, (A II 1035). Zur Zitierweise s.u. Anm. 246). Vgl. Platon: Timaios, 45b–46c u.ö.; auch Theaitetos 156d-e. Zum Gesamtzusammenhang und weiteren Einzelheiten vgl. MacDonald Ross: Okkulte Strömungen, 200f. Zu Marci vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 6. Johannes Marcus Marci von Kronland; Giglioni: Panpsychism versus Hylozoism, 28–33; Svobodný: Johannes Marcus Marci; Baumann: Un philosophe tchèque oublié: Jean Marcus Marci. De natura, 166; vgl. dazu unten 4.6. Eine Wirkung Marcis auf Glisson wird von Baumann: Un Philosophe Tcheque oblié: Jean Marcus Marci, 102, ohne Beleg behauptet.

71 Mit welch entschiedenem Bekenntnis Glisson das Paradigma der Imagination in De natura beerbt, ist in der Überbetonung der scholastischen Gesamtanlage des Traktats bisher kaum gesehen worden.237 In seiner Bemühung um einen Ausgleich der Positionen ist Glisson ein exzellentes Beispiel für die außerordentliche Dichte, mit der harte scholastische Diktion einerseits und unorthodoxes platonisches Gedankengut andererseits zusammengebracht werden konnten. Eine direkte Wirkung der Generationslehre Marcis auf Glisson ist nun zwar nicht nachweisbar; vorstellbar ist allenfalls eine über Harvey vermittelte Einflußnahme, denn Marci gab dem englischen Kollegen bei einem persönlichen Zusammentreffen in Prag 1636 ein Exemplar seiner soeben gedruckten Idearum operatricium idea.238 Eindeutig ist jedoch belegbar, daß Glisson seinen Ideenbegriff in Auseinandersetzung mit den iatrochemischen Schriften des Brüsselers Johann Baptist van Helmont (1579–1644) entwickelte.239 Dieser wurde vor allem aus seinem Ortus medicinae 240 rezipiert, den der Sohn Franciscus Mercurius als posthume Werksammlung besorgte. Aufgrund seines Konfliktes mit der spanischen Inquisition – man warf ihm sogleich in seinem Erstlingswerk über die magnetische Wundenheilung241 eine Anlehnung an die »teuflischen« Künste des Paracelsus vor – durfte Johann Baptist bis fast an sein Lebensende nichts publizieren. Die Durchschlagkraft des Ortus, gerade in England, ist umso stärker.242 Bereits 1650 bringt Walter Charleton seine Adaptionstrilogie Spiritus Gorgonicus, Ternary of Paradoxes, Deliramenta Catarrhi in London heraus.243 1662 erscheint eine eng-

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Man beachte auch die Hinweise bei Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 6. Johannes Marcus Marci von Kronland, 47. Die jüngste Ausnahme bilden die Veröffentlichungen von Guido Giglioni. Vgl. Pagel: William Harvey’s Biological Ideas, 285–323. Harvey nimmt übrigens nicht ausdrücklich Bezug auf die Schrift. Zu van Helmont vgl. z.B. Giglioni: Immaginazione e malattia; Pagel: Johann Baptist van Helmont; drs.: Joan Baptista Van Helmont; Mepham: Johann van Helmont 1579–1644; Partington: A History of Chemistry II, 209–241; Hall: Ideas of life and matter I, 206–216; Thorndike: A history of magic and experimental science VII, 218– 240; Mudroch: Hermetisch-platonische Philosophie. 4. Johann Baptista van Helmont; Bernet: Art. ›Helmont, Jean Baptiste van‹. Ortus medicinae. Id est, initia physicae inaudita […], Amsterdam 1648; ferner Opuscula medica inaudita […], Frankfurt 1707. Disputatio de magnetica vulnerum naturali et legitima curatione, Paris 1621. Van Helmont verfaßte die Schrift bereits 1617. Vgl. Rattansi: Paracelsus and the Puritan revolution; Partington: A History of Chemistry II, 241f.; Mudroch: Hermetisch-platonische Philosophie. 4. Johann Baptista van Helmont, 37. Das wechselvolle Verhältnis Charletons zur Naturphilosophie J.B. van Helmonts und ihre schließliche Integration in eine wesentlich atomistische, durch die Physik Gassendis angeregte Theorie ist im einzelnen dargestellt bei Fleitmann: Walter Charleton, 52, 67, 95–119.

72 lische Übersetzung des Ortus. 244 In diesen Jahren formiert sich die iatrochemische Bewegung zur Society of Chemical Physitians. 245 Für die enorme Wirkung van Helmonts spricht nicht zuletzt das Erscheinen der deutschen Übersetzung Aufgang der Artzney-Kunst durch den Rosenkreuzer Christian Knorr von Rosenroth, die im folgenden neben den lateinischen Textausgaben zugrunde gelegt wird.246

2.3.1 Das Konzept des sympathetischen Kausalnexus Van Helmont nutzt das Paradigma der imaginatio, um Genese und Verlauf der Krankheiten zu erklären, und in diesem Bezugsrahmen hat es Francis Glisson nachhaltig inspiriert. Im Mittelpunkt des eigenwilligen Bildes vom menschlichen Organismus, das der Flame zeichnet, steht das von Paracelsus entlehnte Konzept des archeus, des – mit Knorr von Rosenroth – Werckmeisters oder Lebens-Geistes, der den gesamten Körper ohne festen Sitz in einem seiner Organe regiert. Gleich einem absolutistischen Fürsten (praeses) hat er eine Vielzahl von Neben-Meistern 247 unter sich, die den einzelnen Körperteilen einsitzen. Van Helmont knüpft hier an Fernels Unterscheidung von spiritus influens und insitus an.248 Es ist nun erstaunlicherweise der archeus der Milz, dieses in seinem Nutzen seit der Antike umstrittenen Organs,249 dem van Helmont eine herausgehobene Stellung zuweist: er ist das unmittelbare Instrument der sinnlich-empfindenden Seele, die im Magenmund residiert.250 Durch ihn schickt sie ihre Licht- und Lebens-Stralen in den ganzen Organismus aus und ist überall in ihm gegenwärtig.251 Milz und Magen bilden das zweyherrige Regiment (duumviratus) des menschlichen Körpers.252 Das galenische influxus-Modell ersetzt van Helmont durch sein sympathetisches Konzept der »Herrschaft« (regimen, imperium). Die Seele

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Oriatrike Or, Physick Refined […], London 1662. S. oben 1.2. Knorr von Rosenroth: Aufgang der Artzney-Kunst […], Sulzbach 1683. Stellenangaben, die sich auf diese Ausgabe beziehen, werden künftig mit »A«, gefolgt von Bandund Seitenzahl, markiert. Stellen aus dem Ortus medicinae werden mit »O«, solche aus den Opuscula medica inaudita mit »Opusc.« angezeigt. Vgl. Magnum oportet, §3, A I 194 (O 150). Der übergeordnete archeus heißt demgegenüber Obergeist oder allgemeiner Geist, vgl. Imago fermenti, §8, A I 152; Archeus faber, §7, O 40 (A I 41). Vgl. Archeus faber, §§7f., O 40: praeses – archeus influus (A I 41). Siehe das Referat bei Galen: De naturalibus facultatibus II, 4, Brock 142f. Vgl. Sedes animae, O 288–293 (A II 829–834), den Traktat über den »Tummel-Platz der Seelen«. Vgl. Sedes animae, §§5, 12, O 289f. (A II 830, 832). Vgl. Jus duumviratus (O 300–314, A II 841–853) und Duumviratus (O 345–349, A II 853–857).

73 »herrscht« durch einen lichthaft hergestrahlten Befehl, durch einen Winck (nutum) oder durch Anblicken (aspectus).253 Dabei bedarf sie keiner anatomischen Kanäle zu vermeintlichen Lebens- oder Sinneszentren wie dem Gehirn, um von ihm »Rath einzuholen.«254 Sie selbst ist es, die im verletzten Glied Schmerz empfindet oder im Gesichtsgeist (spiritus opticus) des Augapfels sieht.255 Hier steht van Helmont ganz unter dem Eindruck des Topos der Seele als tota in toto et tota in qualibet parte. Im ubiquitär beseelten Körper oder Kosmos gibt es keine Distanz. Der Zusammenhang der Teile ist sympathetisch oder magnetisch, nicht aber durch einen »aneinander hangenden Zug gewisser Werckzeuge«256 gestiftet. Die Anatomie, wird sie als Suche noch nach der kleinsten Ader betrieben, ist rohe Metzelei.257 Überhaupt ist die Idee der Vermittlung der Natur fremd.258 Es geht in den Dingen der Natur nicht zu wie in den Menschlichen Händeln allwo ein Richter oder ein Priester (oder dergleichen) etwas würcket Krafft seines Ampts / und nicht als ein Hanß vor sich. Denn von solchen Aemptern weiß die Natur nichts / und hat deren biß anhero gar gerne ermangelt. Denn bey ihr thut ein jedes Dings selbst das was es thut / und nicht im Namen oder Krafft eines höhern. […] Denn die Natur weiß nichts vom Stelle-vertreten / und ist aller Rechts-Fündlein unkundig.259

Es gehört zu den Paradoxa der tota-in-toto-Vorstellung, daß das UrsacheSein einzelner Körperteile nicht mit der Urheberschaft der Seele konfligieren, die doch die Totalität des Leibes stellvertritt. Mit der Seele als gegenwärtiger Regiererin kann ein Neben-Meister selbst, gewarnt durch ihren Schmerz oder Widerwillen, Schädliches erkennen und umgehen, ohne auf die Beteiligung des allgemeinen Geistes angewiesen zu sein.260 Die Gegenwart der Seele und damit des ganzen Leibes in ihnen ist zugleich ihre Selbstgegenwart. Insofern ist die Feststellung, daß der archeusBegriff des van Helmont auf die Monadenlehre Leibniz’ und der in ihr

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Vgl. De lithiasi IX, §75, Opusc. 81 (A I 513): »Etenim suum istud vitale lumen, diradians, defert imperium voluntatis, sive nutum, ad musculos, organum exsecutivum motus illius, quem anima sibi arbitraliter proposuit.«. Vgl. auch A sede animae ad morbos, §4, O 294 (A II 836); Ignota actio regiminis, §§38f., 43, O 339, 341 (A II 825f.). Vgl. De lithiasi IX, §44, A I 503 (Opusc. 71: »Ergo ad dolorem non est opus recursu ad cerebrum, ut per reflexionem, velut consulto opus habeat.«). Dies ist das Fazit des neunten Buches über den Stein im Menschen. Vgl. De lithiasi IX, §§34, 90, Opusc. 67f., 93 (A I 499, 516). Ignota actio regiminis, §34, A II 824 (O 339: »concatenato filo organorum«). Vgl. Ignota actio regiminis, §32, A II 824 (O 338): »Denn es wäre schon genug wenn man durch die Anatomie die Gelegenheit / die Zusammenknüpfung und den Nutzen der Glieder kennen lernete: Und brauchte es gar nicht / daß man sein gantzes Leben umb die Gänge etwan einer gar kleinen Ader zu finden mit einer solchen Zermetzelung der todten Leiber zubrächte«. Vgl. De lithiasi IX, §90, Opusc. 83 (A I 516): »nuncium ad cerebrum mittere, importunum fuisset.«; Ignota actio regiminis, §§29f., O 338 (A II 823f.). Formarum ortus, §9, A I 172f. (O 131) Vgl. De lithiasi IX, §§55, 90f., Opusc. 75, 83 (A I 507f., 516).

74 getroffenen Verhältnisbestimmung des Ganzen und des Teils vorausdeute, plausibel: jede Monade spiegelt das gesamte Universum, aber in ihrer eigenen Perspektive.261

2.3.2 archeus und idea: Motive eines naturtheoretischen Idealismus Die archei sind die Kraft- und Bewegungsprinzipien im Organismus und im Kosmos: jedes Glied hat seinen eigenen Trieb (blas),262 jedes Naturding ist mit diesem inneliegenden »Aufwecker seiner Bewegungen« ausgestattet, der es vom Moment seiner Entstehung bis zu seinem Untergang begleitet.263 Auch van Helmont begreift das Werden der Dinge als Resultat einer »Zeugung« oder »Schwängerung«: der Geist des Herrn oder das Gas schwebt über dem Wasser, dem Urstoff oder ersten Zeug.264 In die Örter hat Gott mit dem Fiat die Keimgründe und Bilder der Dinge gestellt (rationes, ideae), »die zu gewisser Fülle der Zeit an das Liecht kommen und das Kleyd des Wassers anziehen […] sollen«.265 Geschwängert und zur Gärung getrieben vom Fäulnisgeruch des jeweiligen Ortes wandelt sich der Zeug,266 so daß die spezifischen Fermente (Urhebe, Sauer-Teige) und Samen der Dinge hervorkommen können.267 Der Zeug eines Samens »bekommt« sodann eine »körperliche Luft«, den archeus.268 Er ist der »Schmied der Zeugung«, der inwendig die zukünfftige Geburt entwirfft und regieret / und bey dem gezeugten Dinge verbleibet / […] biß seine Comedie ein Ende hat.269

Der zeugende Vorfahr ist demgegenüber nur die »gelegenheitsbereitende« Ursache (causa occasionalis) der Entwicklung.270 Der archeus ersetzt nicht nur das pneu=ma der Galenisten, sondern auch die forma substantialis der aristotelischen Schulen: er ist »Vorläuffer und Haushalter« der jeweiligen

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Vgl. beispielsweise Pagel: The religious and philosophical aspects of van Helmont’s science and medicine, 8, 27–36; Leibniz: Monadologie, §§56–62. Vgl. Ignota actio regiminis, §22, O 336 (A II 822). Zum Begriff des blas vgl. Pagel: Joan Baptista van Helmont, 87–95. Vgl. Archeus faber, §§2f., A I 40 (O 40): »Denn alles was der Natur nach in die Welt kommt / das muß einen Anfang / und […] Aufwecker seiner Bewegungen / und einen inwendigen […] Regierer der Zeugung haben. […] Doch hat ein jedes Ding […] den Archeus […].« Vgl. Jus duumviratus, §47, O 311 (A II 850); Magnum oportet, §39, O 157 (A I 204). Knorr von Rosenroth setzt hier für Gas: Dampf, Lufft, Dunst. Zum Konzept des Gas vgl. Pagel: The religious and philosophical aspects, 18, 20, 23. Magnum Oportet, §§33, 38f., A I 203f. (O 156f.) Da ich Zeug hier als Fachterminus verwende, übernehme ich auch den Artikel, den Knorr von Rosenroth gebraucht. Vgl. Magnum oportet, §§1–3, O 149f. (A I 193f.); Causae et initia naturalium, §25, O 36 (A I 34); Imago fermenti, §11, O 113 (A I 153). Vgl. Formarum ortus, §62, A I 185 (O 144). Archeus faber, §§1f., A I 40 (O 40). Vgl. Causae et initia naturalium, §10, O 34 (A I 32).

75 Form und verwirklicht das Gezeugte als ein selbständig existierendes Ding.271 Die Innerlichkeit des Naturdings ist für van Helmont ebenso wie für Francis Glisson der eigentliche Ort des Naturgeschehens, bei ersterem markiert durch den archeus, bei letzterem durch die natura energetica. Der archeus imaginiert, die energetische Natur perzipiert.272 Indem der Werckmeister sich die Wesensidee seines zeugenden Vorfahrens vorstellt, ist er instruiert, die unterliegende Materie nach dieser Idee zu gestalten. Ich sage / dieser Werckmeister hat das Bild seines Vorfahren in sich / wie das Gezeugte werden soll / nach dessen Anleitung füget er sich selbst und ordnet alles was gethan werden muß; […].273

Im Organismus designiert er so – ganz die gerecht-maßvolle fu/sij des Hippokrates und Galen – die Stellen der Organe, teilt jedem Glied Maß, Größe, Bewegung und Zweck zu und setzt in jedes einen Neben-Meister. 274 Ohne die Ideen ist der archeus allerdings antriebslos und »durchaus ohne Handlung / Würckung und Fortpflantzung.«275 So sind die sämlichen Geist-Bilder (Ideae) in dem gantzen Welt-Bau der anfangende Ursprung […] alles Triebes (Blas) der Samen / der Zeugungen / der Wechsel / und der Bestürmungen.276

Dabei ist der imaginierte Inhalt zunächst ein phantastisches Getichte, ein Unding (non-ens), von dem die Einbildungskraft des Werckmeisters sich Bilder formt, die sie ihm wie ein Siegel als Idee eindrückt. Diese Idee ist ein etwas, eine sämliche Gestalt (ens spirituale) mit eigenen Qualitäten, mit einer Kraft der Verwandlung, »wissend«, was künftig im Samen oder Foetus zu tun sei, um seine Entwicklung zuwege zu bringen.277 Selbst weder ganz körperliche Substanz noch ganz Geist »zieht« die Idee sodann einen Körper »an«.278

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Vgl. Magnum oportet, §3, A I 194 (O 150: »formae praecursores, & oeconomi«); Causae et initia naturalium, §8, O 33 (A I 32). Vgl. De conceptis, §2, O 605 (A II 992): »Archeus suas habet & peculiares Imaginationes, sibi proprias«. Archeus faber, §3, A I 40, O 40: »Ille inquam faber, generati imaginem habet, ad cujus initium, destinationes rerum agendarum componit.« Vgl. Archeus faber, §6, O 40 (A I 41). De ideis morbosis, §19, O 543 (A II 964f.): »absque idea ejusmodi, plane omnis actionis, operationis, & propagationis exsors Archeus maneret.« Vgl. auch De morbis archealibus, §§2, 7, O 548f. (A II 969f.) Ortus imaginis morbosae, §15, A II 976 (O 535: »quod Ideae seminales, in toto mundi systemate, sint inchoativum principium omnis Blas seminum, generationum, vicissitudinum & procellarum.«); vgl. auch De magnetica vulnerum curatione, §140, O 774 (A II 1036): »materialem mundum utrobique ab immateriali & invisibili, regi & coërceri.« De ideis morbosis, §§2, 5, 19, O 540f., 543 (A II 961f., 964). Vorbild auch hier Platons Timaios, vgl. die Passagen zu den Einprägungen der Formen in die Weltmaterie 50d2–51b6. Vgl. auch Archeus faber, §§3, 5, O 40 (A I 40). De magnetica vulnerum curatione, §134, O 772f. (A II 1035): »corpus induit«; vgl. auch

76 Im Menschen ist es die in der Milz ansässige Einbildungskraft, die die archetypischen Ideen in den allgemeinen archeus einprägt.279 Ist eine Idee aber einmal in den archeus wie auf eine Tafel »gemahlt« und mit ihm »vermählt«, kann dieser nichts anderes verrichten als das, was sie ihm diktiert.280 Er spult – modern ausgedrückt – ein genetisches Programm ab.

2.3.3 »Zustimmung«: Naturphilosophie und Physiologie im Neustoizismus Die Ideen der archei entscheiden auch über Krankheit und Gesundheit. Alle Krankheiten sind »abgemahlte Gedancken«.281 Anhaltende Trauer etwa verursacht »stets-währende Seuffzer« und »nagt« das Leben selbst »ab«.282 Die galenistische Vorstellung der Krankheit als Unausgewogenheit des Temperaments ist damit hinfällig.283 Und wie demnach durch die in den Samen eingedruckte Bilder das Leben und die Gesundheit entstehet / so müssen durch eben solche / wiewol verkehrte Bilder / auch Kranckheiten entspringen.284

Die »verkehrten« Bilder können von außen durch die archei der Speisen, durch Arzneien und Gifte, Verletzungen oder Objekte der Sinneswahrnehmung hereingetragen (affectiones materiales) oder aber innerleiblich durch unmäßige Leidenschaften der Seele hergebracht sein (perturbationes).285 Als sogenannte ideae archeales rühren sie schließlich vom betroffenen archeus selbst her, wenn dieser aus eigenem Muthwillen von sich selber unordentlich wird / und sich wie ein Protheus nach Lust und Gefallen / bald in diese bald in jene Gestalt verwandelt. […] Und auf solche Weise entstehen Bilder / die in lauter muthwillige und ungebundne Tyranney der Kranckheiten gantz frey ausbrechen.286

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Archeus faber, §6, O 40 (A I 41): »Archeus […] seipsum vestiat statim corporali amictu«. Vgl. Ortus imaginis morbosae, §10, O 554 (A II 975); De ideis morbosis, §2, O 540 (A II 961); De conceptis, §2, O 605 (A II 992); Jus duumviratus, §13f., O 303 (A II 843). Vgl. De ideis morbosis, §20, A II 965 (O 543: »syngamicum«); De conceptis, §9, A II 993 (O 606: »tabulam, in quam depinguntur«); auch De ideis morbosis, §§5, 19, 22, O 540f., 543 (A II 962, 965). Vgl. Platon: Timaios, 50c5: »mimh/mata«. Ortus imaginis morbosae, §8, A II 975 (O 554: »conceptus quidam depicti«). Ortus imaginis morbosae, §10, A II 975 (O 554). Vgl. auch De lithiasi IX, §137, Opusc. 91 (A I 525): »Irae enim, agoniae, ultionis, tristitiae, ac metus characteres, sive imagines, contracturas, suis istis Ideis pares, pariunt.« Vgl. Ortus imaginis morbosae, §1, O 552 (A II 974). De morbis archealibus, §5, A II 970 (O 548f.). Vgl. auch Ortus imaginis morbosae, §4, O 553 (A II 974). Vgl. De lithiasi IX, §§38–40, Opusc. 70 (perturbationes & affectiones materiales; A I 501f.); §79, Opusc. 82 (A I 514); De ideis morbosis, §32, O 545f. (A II 966). De morbis archealibus, §7, A II 970 (O 549: »dum proprio luxu sponte exorbitat Archeus, & Prothei instar, seipsum voluptuose transformat. […] unde quoque excen-

77 Glisson wird van Helmont im Rückgriff auf diese Zeilen eines undifferenzierten Sensualismus bezichtigen, einer Verwechslung von animalischem Sinn und vorpsychischer, natürlicher Wahrnehmung, die er selbst in den Begriffen einer perceptio naturalis und eines sensus doch so säuberlich zu trennen sucht.287 Er wird es weit von sich weisen, daß die natura energetica sich das Objekt ihrer natürlichen Perzeption willkürlich selbst bilden kann. Ganz im Gegenteil ist es ihr mit Notwendigkeit, wenn auch sponte, d.h. durch ihr eigenes Wesen vorgegeben. Das Vermögen, sich von einem Objekt der Sinneswahrnehmung zum nächsten zu wenden, kommt allein der Seele des Lebewesens zu.288 Die von außen induzierte Ideenverkehrung stellt van Helmont metaphorisch als »Überwältigung« oder »Verführung« dar. Der behagliche Geruch und Geschmack unverdauter Speisen (sapores et odores) erwecken im Lebens-Geist eine »Lust« (appetitus) zur Selbstveränderung.289 Die Kraft der Nierenstein-Idee, ist sie stark genug, unterwirft sich den betroffenen archeus im Kampf, d.h. es verkehrt ihn in sein Wesen.290 Der archeus, derart »in die irre«291 geraten, wird zum tobenden Propagator der Krankheit.292 Van Helmont setzt nicht nur den Einzelorganismus, sondern die gesamte Natur als einen Kampfplatz der Formen in Szene, auf dem das Faustrecht gilt. Dieser Kampf hat das Ziel, einem anderen archeus die Materie, die noch unter seinem »Gebiet« steht, streitig zu machen, er wird mit Gerüchen und Fermenten ausgetragen, und es ist derjenige der Stärkste, der

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tricae atque virulentae imagines, mera pariunt venea.« Einige Organe, insbesondere Magenpförtner und Gebärmutter, sind für diese eigenmächtige Selbstverkehrung sehr anfällig; sie können tyrannische Monarchen des Körpers werden, vgl. etwa De conceptis, §13–20, O 607–609 (A II 994–996). Vgl. auch De lithiasi IX, §38, Opusc. 70: passiones spontaneae (A I 501); Ortus imaginis morbosae, §12, O 555 (A II 976). Vgl. Platon: Timaios, 91c. Vgl. Glisson: De inquetudine [sic!], fol. 67r–68r: »Sed unde constat Helmontio naturalem perceptionem a sensu non fuisse distinctam? […] Eo quod […] erret circa idaeas [sic!] naturalis perceptionis, liquet, quod putasset Archeum eas pro arbitrio suo cudere, […]. Sic enim de ijs loquitur loco laudato de morbis Archealibus p. 351. n. 6 et 7. Sed unde hospites illae imagines prosiliant etc.« S.u. 4.3. Vgl. Magnum oportet, §§25f., O 154f. (A I 200). Diese Residua schlummern in uns im Zustand des sogenannten »Mittel-Lebens«, das van Helmont im Magnum oportet beschreibt. Seit dem Sündenfall werde die Speisen in uns nicht mehr rückstandsfrei verdaut. Diese Schlacken können den Archeus in »Zorn« und »Unwillen« bringen und damit eine Krankheit auslösen. S. bes. Magnum oportet, §§24, 25, 42, 52f., O 154f., 158, 162 (A I 199, 200, 205, 209). Vgl. De ideis morbosis, §28, O 544 (A II 966); Magnum oportet, §42, O 158 (A I 205). Magnum oportet, §55, A I 209 (O 162: »aberrans«). Natürlich zu seinem eigenen Schaden, vgl. De ideis morbosis, §34, O 546 (A II 967); oder ganz besonders drastisch auch die Schilderung des »einheimischen Bürger-Krieges«, dem der archeus gegen sich selbst ausgesetzt ist, vgl. Ortus imaginis morbosae, §2, O 552f. (A II 974). Vgl. Magnum oportet, §55, O 162 (A I 209); De ideis morbosis, §§24, 32–33, O 544– 546 (A II 965, 967).

78 die stärksten Gerüche hat.293 Die einmal eingenommene Materie hat den Geruch des Obsiegenden an sich, muß ihn unterhalten und verstärken.294 Der Bezwinger hat sich selbst propagiert; die Assimilation des Unterliegenden bedeutet für ihn Selbststeigerung und Lustgewinn.295 Mehrfach spricht van Helmont auch von einer »Wanderung« (migratio) der Bilder oder Formen von Materie zu Materie und vereinnahmt so die pythagoreische Seelenwanderungsvorstellung auch für die Formen der unbeseelten Naturdinge.296 Der eigentliche Formenwechsel findet in der Einbildungskraft des besiegten archeus statt, der zunächst noch Wohlgefallen an sich hat, dann aber den Geruch der fremden Form als »besser« erkennt. Aus eigenem Verlangen nach Selbstverlust übernimmt er die Fremdidee. Es entsteht ein »Verdruß« über das eigene Wesen sowie die »Begierde, nicht zu sein«, die »Lust, anders zu werden« (complacentia, desiderium), ein neues, eben dieses Wesen mit den behaglichen Fermenten zu sein. Die Kraft des alten Bildes fällt immer mehr zurück, bis sie schließlich erliegt.297 Das neue Bild führt das betroffene Organ »gefangen dahin […] / wohin es in seinem Irthum selber will.«298 Auch die Ansteckung mit einer Krankheit kann erst mit der Zustimmung des archeus als vollzogen gelten, wenn dieser selbst die Archetypen der Krankheit in sich wachruft.299 Betörung und Überwältigung meinen dasselbe. Folglich therapiert man den Kranken nicht durch contraria, wie die Schulmedizin meint, denn diese widerstreiten dem krankmachenden archeus, ohne in ihn zu dringen oder sich mit ihm zu vereinigen. Die »geheimen« Arzneimittel des Magiers hingegen verändern seine Natur, indem sie ihn »kräfftiglich berühre[n]«. Aus dem Inneren des abgeirrten Lebens-Geistes muß die Heilung erfolgen: natura curatrix morborum. Wie denn Hippocrates saget / daß von den Naturen selber die Heylungen der Kranckheiten entstehen / und der Artzt nur ein Diener ist.300

Van Helmont betont, daß seine Redeweise vom »Erkennen« und »Zustimmen« nur metaphorisch ist und aus Mangel an einem geeigneteren Vokabular entsteht, mit dem die Selbstgenügsamkeit der natürlichen

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Vgl. Magnum oportet, §§3, 19, O 150, 153 (A I 194, 198). Jede substantielle Form hat ihre eigene Materie und ist also einzige substantielle Form dieser Materie, vgl. Formarum ortus, §31, O 137 (A I 179). Ferner Imago fermenti, §18, O 114 (A I 154). Vgl. Imago fermenti, §12, O 113 (A I 153); Magnum oportet, §16, O 153 (A I 198). Vgl. Archeus faber, §5, O 40 (A I 41): »per libidinis imaginationem«. Vgl. etwa De ideis morbosis, §19, O 343; Magnum oportet, §§4–7, O 150f. Zur Sache vgl. van der Waerden: Die Pythagoreer, 23–25, 28–31; Zander: Seelenwanderung, 81– 85; Riedweg: Pythagoras, 86–88. Vgl. Magnum oportet, §12, O 152 (A I 196f.) De ideis morbosis, §28, A II 966 (O 544: »ad lubitum suum erroneum«). De conceptis, §21, O 609 (A II 996). Magnum oportet, §10, A I 195f. (nicht in O).

79 Agentien in ihren Verrichtungen, mithin die Selbstverwaltung der Natur als Gesamt aller Naturdinge benannt werden könnte.301 Zwar ist ein jedes Ding durch seine Natur, d.h. durch göttlichen Befehl, in seinem Verhalten gegenüber anderen Dingen determiniert.302 In Anwesenheit bestimmter Naturdinge verwirklicht es sich notwendigerweise, in Anwesenheit anderer notwendigerweise nicht. Das Verursachen oder Zurückhalten der eigenen Wirkung läßt van Helmont dingimmanent motiviert sein und erklärt es zum Resultat einer natürlichen »Empfindung« (perceptio surda, sensatio naturalis) und »Auswahl« (electio). es erscheinet hieraus / daß in allen und jeden Sachen eine gewisse Art von Empfindlichkeit sey / vermittelst deren sie sich gegen verschiedene vorhabende Dinge bald so / bald anders bewegen und auslassen […].303 Denn wenn der Magnet sich nach dem Angel-Punct richtet / so muß er wissen / ob er in seinem Hinlencken keinen Irrthum begehen wird: Und wie kann er dieses nun wissen / wenn er nicht empfindet wo er sey? Desgleichen / wenn er sich zu einem Eisen wendet […] so muß er nothwendig das Eisen vorhero empfunden haben / und kennen.304

So wie die natürliche Empfindung nicht durch Sinnesorgane geschieht, verzichtet die Auswahl der Unbeseelten auf jegliche Beteiligung eines Verstandes und geschieht keinesfalls aus freiem Belieben heraus. Die Vorstellung, daß das »Innere« der Agentien den eigentlichen Schauplatz der Naturprozesse bildet, die van Helmont und ihm folgend Glisson ausarbeiten, ist vom seinerzeit hochentwickelten Neustoizismus tief durchdrungen.305 Nach der bei Cicero referierten Meinung des Chrysipp werden

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Vgl. etwa Magnum oportet, §12, O 152: »non […] intentionis naturae, sed imaginaria metaphora potius« (A I 197). Vgl. De magnetica vulnerum curatione, §152, O 775 (A II 1038); Physica Aristotelis et Galeni ignara, §3, O 46: »Ego vero credo, Naturam jussum Dei, quo res est id quod est, & agit, quod agere jussa est.« Ignota actio regiminis, §11, A II 820 (O 334: »Sensus nempe quidam rebus singulis inesse hinc apparet, quo mediante, circa diversa objecta, sese aliter atque aliter movent, & explicant«). Glisson rekurriert auf genau diese Stelle in De inquetudine [sic!], fol. 67r. De magnetica vulnerum curatione, §141, O 774 (A II 1036). Vgl. etwa auch Imago mentis, §36, O 274 (A II 875); De magnetica vulnerum curatione, §§32, 86, O 754, 766 (A II 1016, 1029). Justus Lipsius initiierte die Bewegung mit seinen Veröffentlichungen (De constantia, 1584; Physiologia Stoicorum, 1604; Manuductio ad stoicam philosophiam, 1604). Weitere Ausgaben, Berichte usw., die zum Teil erst nach neuen Textfunden in der Renaissance gedruckt wurden und an denen noch Glisson sich informiert haben dürfte, sind: das siebte Buch bei Diogenes Laertius’ De vitis, verschiedene Texte Ciceros (Academica, darin die als Lucullus überlieferten Abschnitte, De fato, De finibus, De divinatione, De officiis) die Briefe Senecas, Galens De placitis (zur Chrysippischen Affektlehre), die Ausgabe der Stobaeus-Anthologie durch Canter (1575), das Enchiridion des Epiktet, Libertus Fromondus: Chrysippus, sive de libero arbitrio (1644). Vgl. im einzelnen die von Michael J. Wilmott und Charles B. Schmitt erstellte bibliographische

80 körperliche Bewegungen wie das Rollen einer Walze doppelt, nämlich durch externe (causae adiuvantes et proximae), hinreichend und hauptsächlich jedoch durch interne Ursachen (causae perfectae et principales) bewirkt.306 Im Beispiel: die Walze, einmal angestoßen, rollt durch ihre eigene Natur und Kraft (suapte vi et natura). Ebenso wird auch der archeus durch äußerliche Einwirkung zur Selbstbewegung veranlaßt, die ausschließlich und notwendig dem gehorcht, was natürlicherweise in ihm angelegt ist. In der Ursachenlehre der Stoiker entspricht der causa adiuvans et proxima terminologisch das einem Ereignis vorauslaufende, dem Agens äußerliche prokatarktiko\n ai)/tion, der causa perfecta et principalis hingegen das sunektiko\n ai)/tion oder au)totele\j ai)/tion, das aus sich heraus seinen Effekt hervorbringt und, sofern es auch stofflich als das je spezifische pneumatische Substrat der Naturdinge aufgefaßt wird, deren jeweiliges Einssein und Fortbestehen von innen verantwortet.307 Die stoische Lehre des e)f’h(mi=n artikuliert denselben Befund einer Verschränkung von Selbst- und Fremdursächlichkeit für die menschliche Psychologie.308 Ist auch alles Geschehen durch den Kausalnexus der ei(marme/nh unabänderlich festgelegt, dessen Vollzug dem Abrollen eines Seils gleicht,309 so liegt die Zustimmung (adsensio, approbatio, sugkata/qesij) oder Ablehnung gegenüber dem Unabänderlichen doch in menschlicher Hand.310 Wie der Hund, der an der Leine mitläuft oder durch sie gezogen wird,311 kann der Mensch dem Zwang des Fatums nur entgehen, indem er es affirmiert und »der Natur nachfolgend« lebt.312 Die Zustimmung ist »in nobis posita et voluntaria«, wie Cicero hinblicklich des Zwanges der Eindrücke in den herrschenden Seelenteil (h(gemoniko\n) schreibt, ein Zwang, der nur mit unserer Einwilligung zum triebhaften Handlungsimpuls (adpetitus, o(rmh\) wird und zu seiner Umsetzung drängt.313 Es ist dieses Konzept der Zu-

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Anlage der Cambridge History of Renaissance Philosophy unter den jeweiligen Einträgen; ferner Grafton: The availability of ancient works, passim; sowie Kraye: Moral philosophy, 360, 370–374; und Park/Kessler: The concept of psychology, 460. De fato, 41–44. S. auch Alexander von Aphrodisias: De fato XIII, SVF II, 979. Vgl. Long: Freedom and determinism, 180–182, 196; Forschner: Die stoische Ethik, 90, 96f., 109f. Vgl. Forscher: Die stoische Ethik, 90–97; speziell zur Ursachenlehre Chrysipps vgl. Steinmetz: Die Stoa, 611. Vgl. Long: Freedom and determinism, 183–185, sowie auch zum folgenden die Ausführungen bei Steinmetz: Die Stoa, 611f. Vgl. Cicero: De divinatione I, 125, 127; auch etwa Alexander: De fato XXII, SVF II 945; vgl. Long: Freedom and determinism, 175, 177; Forschner: Die stoische Ethik, 98–104. Vgl. Cicero: De fato, 41–43; Long: Freedom and determinism, 182, 190; Forschner: Die stoische Ethik, 97. Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, 110. Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, 110f. Vgl. Cicero: Academica I, 37ff.; De fato, 41–45; zum stoischen Konzept der Zustim-

81 stimmung als innerer Ursache, das van Helmont zu seiner Auffassung des Formenwechsels umbildet. Die Bezwingung des schwächeren Gegners ist Naturgesetz; der Ausgang des Kampfes ist determiniert. Und doch ist der Angriff des Aggressors nur die Gelegenheit (causa occasionalis & remota), nicht aber die hinreichende Ursache (causa sufficiens & necessaria) dafür, daß der Angegriffene sich fügt.314 Die Überwältigung kann nicht ohne das »Einverständnis« des Unterliegenden, als Zutat aus dessen Innerlichkeit, erfolgen.

2.3.4 Gott als Schöpfer der Formen Obwohl van Helmont die Prozesse in der Natur durch immanente psychoide Kraftzentren initiiert sein läßt und somit die Autarkie der Gesamtnatur ihrer Innenseite nach zu behaupten scheint, redet er doch keinem Deismus das Wort, demzufolge Gott nach dem Akt der Schöpfung die Welt sich selbst überließe. Gott ist omnia in omnibus, Schöpfer und Regierer der Natur, in der er »mit stetem Schöpfen« anwesend ist.315 Insbesondere verwirft van Helmont als erklärter physicus christianus jeglichen Materialismus.316 Zwar geht er nicht mehr vom Materiebegriff des Aristotelismus und seiner Annahme eines allen Form gegenüber indifferenten, »Huren«artigen Stoffes aus und erklärt stattdessen eine Materie, die die Samen der Dinge bereits in sich hat, zum Substrat der Dinge.317 Dennoch ist die Materie für ihn nicht der letzte Ursprung der Formen, Empfindungen und Bewegungsimpulse, wie Francis Glisson meinen wird.318 Selbst der archeus ist, für sich genommen, leblos und kann die Materie nur für den Erhalt der jeweiligen Form zubereiten. Dann aber muß er innehalten und um das lumen vitale aus der Hand Gottes bitten.319 Gott gibt der Natur mit den

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mung ferner Pohlenz: Zenon und Chrysipp, 178–180, 197f., 209; Long: Freedom and determinism, 181–183, 190; Forschner: Die stoische Ethik, 97, 116. Vgl. Causae et initia, §10, O 34 (A I 34). Vgl. Formarum ortus, §2, O 129 (A I 171). Zum »omnia in omnibus« vgl. auch De magnetica vulnerum curatione, §146, O 774 (A II 1037). Der Hintergrund bei Leinkauf: Mundus combinatus, 83–91. Vgl. Formarum ortus, §20, O 133 (A I 175). Vgl. De morbis archealibus, §3, A II 969 (O 548): »Weg demnach allhier mit dem Aristotele / welcher seiner an sich doch unmüglichen Materie / eine gewisse geile Lust / gleich einer Huren zuschreibet / (von einer Form auf die ander zu fallen / und sich solcher zu unterwerffen.)«; Causae et initia naturalium, §32, O 37: »considero materiam plerumque semine impraegnatam« (A I 36). Zur drastischen Kritik van Helmonts an Aristoteles vgl. Browne: J.B. van Helmont’s Attack on Aristotle. Vgl. De lithiasi IX, §14, Opusc. 63 »Profecto, quia corpus, sive pars solida, ex se non sentit. Quia potius est cadaver. Sensatio ideo nimirum ad solam vitam spectat.« (A I 494). Vgl. Formarum ortus, §§18f., O 133, (A I 175); De lithiasi IX, §§28f., Opusc. 66f. (A I 498).

82 Formen die Vollkommenheit, die sie sich selbst nicht zuführen kann.320 Das »Vorherwissen« um die Geschicke der Dinge, das die Formen haben und das den Daseinsvollzug der Seienden zur Verwirklichung eines der Potenz nach immer schon vorhandenen seriellen Zusammenhangs macht, ist Derivat der göttlichen Weisheit.321 Dabei pflanzt Gott den unbeseelten Naturdingen, die nur im eingeschränkten Sinn als lebend gelten können, ihre Kraft »nicht so nahe« ein wie etwa den Gewächsen.322 Diese Aussage ist mit Hinblick auf die Naturtheorie Glissons interessant: Glisson kann, indem er den Ursprung aller Kräfte in die Materie setzt, behaupten, die Bewegungsprinzipien seien jedem Naturding gleich intim.323 Erst bei Glisson ist somit der Schritt zum Hylozoismus, d.h. zur Naturtheorie im Ausgang von einem der Materie vollends immanenten Leben vollzogen; erst bei ihm wird die Natur selbstgenügsam.324 Für van Helmont ist die Annahme einer transzendenten Formenkreation ohne weiteres mit der Aussage vereinbar, daß die Naturprozesse von den Naturdingen selbstinitiiert sind und nicht aus höherer Ursächlichkeit hervorgehen.325 Denn an der Relation von Gott und Natur wiederholt sich das Spannungsverhältnis von individueller Verantwortung und allumfassender Urheberschaft, wie es schon die Herrschaft der Seele über den Organismus kennzeichnete.326 Van Helmont unterscheidet eine unmittelbare und eine mittelbare Wirkungsweise Gottes: unmittelbare Erstursache (causa prima) ist er, soweit er die Essenz aller Dinge ist. Das Sein (esse) hingegen hat er den Dingen bei ihrer Schöpfung als »Eigenthum« überlassen; es ist »des Dinges oder der Creatur selbst: Nicht aber GOtt.« Vermöge des Seins ist das jeweilige Ding causa secunda und ist in dieser Hinsicht selbst Ursache von Bewegungen und Wirkungen.327

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Vgl. Formarum ortus, § 96, O 148 (A I 192): »Nam natura non valet unquam ex se, ad vitalis luminis procreationem ascendere.« Auch §§2f., 14, 74f., O 129f., 132, 146, (A I 172, 174, 187). Vgl. Formarum ortus, §74, O 146 (A I 187): »Et cum formae res ipsas active distinguant, atque perficiant, consideratur in illis Potestas, praecognoscens a fine usque in finem, infinitae Sapientiae.« Vgl. Causae et initia naturalium, §20, O 35: »non tamen tam propinque« (A I 34). S.u. 173. Zu Recht kritisiert Giglioni, daß Pagel diesen Unterschied zwischen dem Hylozoismus Glissons und dem Panpsychismus van Helmonts vernachlässigt habe; vgl. Immaginazione e malattia, 43. Vgl. oben das Zitat zu Anm. 259. S.o. 2.3.1. Vgl. Formarum ortus, §§2, 16f., O 129, 132f. (A I 171, 174f.)

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Glissons Naturbegriff im Zeichen seines Suárezianismus

Glisson geht bei der Entwicklung seines Ansatzes vom neuscholastischen System des Francisco Suárez aus, und dies ist noch zu wenig gesagt: stets mit einem Finger in den Schriften des Jesuiten und aus dem Ideal textgetreuer Interpretation heraus führt er ausführliche Zitate an, exzerpiert, analysiert, kritisiert die Ausführungen seines »dux in rebus metaphysicis«1 und Vorkämpfers (»antesignanus«2) in den für ihn belangvollen Fragen bis ins letzte Detail. Dieses Vorgehen führt in der Tat zu Symptomen, die den Vorwurf der Rückschrittlichkeit, der scholastischen Schwerfälligkeit und kleinlichen Abschweifung in Einzelfragen, der von der Wissenschaftsgeschichte immer wieder gegen Glisson erhoben wurde,3 nähren können und verständlich machen. Doch signalisiert dieser Vorwurf zugleich eine Reserviertheit gegenüber einer Kultur des Denkens und Schreibens, die für Glissons Zeitgenossen, insbesondere für seine Kollegen der konservativen Londoner Ärztekammer, aufgrund ihrer universitären Ausbildung nach wie vor selbstverständlich gewesen sein dürfte, auch wenn man sich vielfach bereits von ihr abgewandt hatte, wie man es in Figuren wie Descartes, Hobbes, Boyle längst beobachten konnte. Mit seinen Disputationes Metaphysicae (1597) hatte Suárez für die Philosophen des 17. Jahrhunderts einen wahren Fundus von Topoi, Argumenten, Auslegungsvarianten bereitgestellt, mit dem die unübersichtlich gewordene scholastische Kommentartradition noch am ehesten zu bewältigen schien.4

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So tituliert Glisson ihn, versteht sich aber gleichzeitig als kritischen Ausleger, vgl. De natura, 3: »[Suarium, K.H.] prae aliis mihi ducem in rebus metaphysicis elegi, sed non juratus in verba magistri […].« (Hervorhebung dort). Diese Pionierrolle kommt ihm allerdings in der Hauptintention Glissons, den Begriff einer vita naturae zu etablieren, gerade nicht zu, vgl. De natura, 332: »Si ergo Ornatissimi Suarii sententiae in multis repugnem, eo est, quod ipse de dignitate vitae naturali debita deroget. Minime itaque mirandum, si ego, qui me vindicem istius dignitatis vitaeque per se subsistentis profiteor, eum (quem alias mihil elegeram antesignanum) aliquoties deseruerim.« Vgl. oben die Hinweise in der Einleitung, 1.1. Hier wird der Nachdruck der Disputationes metaphysicae in der Ausgabe Paris 1866, Hildesheim 1965 zugrunde gelegt. »34, VII, 5« heißt: 34. Disputation, Sektion VII, Abschnitt 5.

84 Glissons Traktat De natura bestätigt nicht nur, daß Suárez in der Frage der Vermittlung der mittelalterlichen Metaphysiktradition an die Denker der Neuzeit eine der wichtigsten Gestalten darstellt;5 er dokumentiert auch den hohen Grad, in dem Suárez selbst nun als die neue Autorität etabliert ist. Die mittelalterlichen Größen und Stammväter der Exposition schulischer Metaphysik wie Averroes, Thomas, Scotus, aber auch arrivierte Neulinge, etwa Cajetan, zitiert Glisson ausschließlich aus Suárez; möglicherweise kennt er die referierten Gedanken in einigen Fällen primär in dieser Vermittlung. Zu Beginn ihrer Rezeption leisteten die Disputationes Metaphysicae dem Aufkommen eines neuen textmorphologischen Ideals, ja darin eines veränderten Verständnisses von Metaphysik überhaupt, wesentlichen Vorschub. Eine Reformbewegung fortsetzend, die ihren Ausgang bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Valencia genommen hatte,6 entwarf Suárez seine Metaphysik nicht nach Art eines Kommentares oder Quästionentraktates entlang den Texten des Aristoteles, sondern als »rerum ipsarum examinatio« und gemäß der Lehrordnung, die den Dingen selbst entspricht.7 Die systematisch-architektonische Anlage der Disputationes setzte die Standards künftiger Lehre und hatte Vorbildfunktion für die gesamte nachfolgende Handbuch- und Kompendienliteratur.8 Besonders bereitwillige Rezipienten fanden sich auch in der protestantischen deutschen Schulphilosophie, so in den Personen des Christoph Scheibler, des »protestantischen Suárez« in Gießen, seitens der Lutheraner, und des in Steinfurt lehrenden Clemens Timpler, in der Fraktion der Calvinisten.9 Glissons Traktat De natura markiert nun eine wesentlich spätere Phase der Aufnahme. Für Glisson ist weder das metaphysische Gesamtanliegen

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So beispielsweise Honnefelder: Scientia transcendens, 200–203. Vgl. Lohr: Metaphysics, 608–613. Vgl. das Prooemium zur zweiten Disputation: »Ut enim majori compendio ac brevitate utamur, et conveniente methodo universa tractemus, a textus Aristotelici prolixa explicatione abstinendum duximus, resque ipsas, in quibus haec sapientia versatur, eo doctrinae ordine ac dicendi ratione, quae ipsis magis consentanea sit, contemplari. […] Rerum vero ipsarum examinationem in sequentibus disputationibus trademus, simulque curabimus Aristotelis mentem ac sensum, […].« Vgl. auch Honnefelder: Scientia transcendens, 201f.; Specht: Über die Individualität, Einleitung, XXIV, XXVII. Vgl. Leinsle: Das Ding und die Methode, 120; Honnefelder: Scientia transcendens, 202; Lohr: Metaphysics, 615. Zu Scheibler vgl. Leinsle: Das Ding und die Methode, 322–337; zu Timpler vgl. ebd., 352–369; ferner Freedman: European Academic Philosophy. Zur Rezeption der Disputationes metaphysicae speziell in Wittenberg vgl. Sparn: Wiederkehr der Metaphysik, passim. Zu ihrer Aufnahme in der deutschen Schulphilosophie allgemein vgl. Courtine: Suarez et le système de la métaphysique, 405–435. Zur Rezeption Suárez’ vornehmlich in der niederländischen Reformation vgl. Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis bei Suárez und Descartes, passim.

85 des Suárez als solches von Interesse, noch läßt er sich auf die theologischen Debatten um die Idiomenkommunikation oder ähnliche Streitfragen ein, für die die Disputationes vom jeweiligen Standpunkt der verschiedenen Konfessionen aus vereinnahmt wurden. Vielmehr extrahiert er gezielt Begrifflichkeiten und Konzepte aus ihrem Zusammenhang im metaphysisch-theologischen System und bearbeitet diese Versatzstücke im Sinne der eigenen medizintheoretischen und naturphilosophischen Belange. Der enorme Wirkradius der Disputationes tritt in diesem Ausgriff auf fremde Disziplinen und Anwendungskontexte umso deutlicher zutage.

3.1

Die seins- und distinktionstheoretischen Voraussetzungen der Substanztheorie Glissons

3.1.1 ratio entis und similitudo transcendentalis »Nihil enim inter substantiam & vitam suam intercedere potest.«10 – Die Kernaussage des Traktats De natura besteht in der These der unmittelbaren »Nähe«, der Gleichursprünglichkeit von Substantialität und Vitalität. Alles, was subsistiert, ist durch seine eigene Natur selbstbewegte, wie Glisson sagt: »lebende« Substanz: »Omnes substantias vivere.« 11 In diesem Abschnitt wird es um die Voraussetzungen des Selbstbewegungsthemas im Traktat De natura gehen. Denn natürlich steht Glissons Idee nicht für die unbedarfte Forderung einer zunächst auch völlig kontraintuitiven Gleichsetzung von Selbstand und Leben. Die Substanz und ihre Vitalität befinden sich in einem weitaus komplexeren Verhältnis zueinander, das in der Spanne zwischen Identität und Verschiedenheit erst gefunden sein wollte. Insbesondere muß Glissons Begriff des Lebens, mißt man ihn an den Theorien der meisten seiner geistigen Vorfahren, dabei starken Modifikationen unterliegen. Darüberhinaus waren Glisson hier ganz grundsätzliche systematische Entscheidungen in der Frage von Selbigkeit und Differenz abverlangt, die darauf drängten, durch ein elaboriertes metaphysisch-erkenntnistheoretisches Gesamtpanorama umschrieben zu werden. In De natura selbst entwickelt Glisson seine Voraussetzungen jedoch nur sehr unzureichend und oft widersprüchlich; seine dortigen Ausführungen sind allenfalls zur gelegentlichen Ergänzung heranzuziehen. Glücklicherweise sind in den Manuskriptbänden Glissons zwei nahezu vollständige metaphysische Abhandlungen erhalten, die Guido Giglioni mittlerweile in einer zwar modernisierenden, aber sehr zuverlässigen Edi-

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De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3r. De natura, 217.

86 tion zur Verfügung gestellt hat.12 Es handelt sich dabei um den Tractatus de Inadaequatis Rerum Conceptibus sowie um die Disquisitiones Metaphysicae, sive Conceptus Inadaequati Metaphysici. 13 Beide sind nicht genauer datierbar, jedenfalls aber in der Reihenfolge ihrer Nennung zwischen 1654 und 1672 entstanden, also zwischen dem Erscheinen der Anatomia Hepatis und der Schrift über die Natur.14 Diese Abhandlungen werden hier zusätzlich hinzugezogen. Glisson bestimmt in De natura Sein und Sich-Bewegen, Substantialität und Aktivität als »inadäquate, durch den Verstand mit sachlicher Grundlage unterschiedene Begriffe« (conceptus inadaequati distincti ratione cum fundamento in re) der einen substantiellen Natur.15 Die begriffliche Grundlage dieser Verhältnisbestimmung bildet Suárez’ Diskussion der ratio entis mit der in der spanisch-portugiesischen Metaphysik üblichen Unterscheidung von objektivem und formalem Seinsbegriff und der daran anknüpfenden Lehre von den Distinktionen (zweite und siebte Disputation).16 Suárez stellt den Seinsbegriff hier als einen von allen Seienden – Substanz wie Akzidens, Gott wie Geschöpf – univok prädizierbaren Begriff vor. »In re« bestehe eine Übereinstimmung (convenientia) oder Ähnlichkeit (similitudo) aller Seienden untereinander allein dadurch, daß sie »extra nihil« seien.17 Die Verschiedenartigkeit der Seienden könne niemals so groß sein wie die zwischen dem Seienden und dem Nichts.18 Auch wenn

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Guido Giglioni (Hg.): Latin Manuscripts. Der Tractatus de Inadaequatis Rerum Conceptibus befindet sich in MSS Sloane 3314, fol. 8r–168r. Die Disquisitiones Metaphysicae entstammen dem Band Sloane 3313 (fol. 1r–122v); dort aber fehlt ein Kapitel, das Guido Giglioni in Sloane 3308 (fol. 13r– 19r) ausfindig gemacht hat. Glisson überschreibt die Abhandlungen nicht mit diesen Titeln, nimmt aber mit ihnen Bezug auf sie, vgl. die Einleitung der Ausgabe von Giglioni, iv. Zur Datierung vgl. die Einleitung von Giglioni: Latin Manuscripts, v. Glissons Handschriften sind voll von Ansätzen zu metaphysischen Traktaten und entsprechenden Notizen. Einige sind im Literaturverzeichnis verzeichnet. Es ist im Grunde genommen unmöglich, eine geeignete Übersetzung für diese in De natura ständig repetierte Formel zu finden, zumal Glisson Erkenntnis- und Sachebene in ihr vermischt, s. sogleich unten 100. Der doppelte Seinsbegriff wird sowohl in der Jesuitenscholastik als auch unter Dominikanern angenommen. Aus Leinsle: Das Ding und die Methode, 37–41, 104–106, 114f., 125, sind hier vor allem Dominicus Soto OP, Pedro da Fonseca SJ, Didacus Masius SJ zu nennen. Für die diesbezügliche Rezeption Fonsecas und Suárez’ durch den in Helmstedt lehrenden Cornelius Martini und den Wittenberger Professor Jacobus Martini – mithin für zwei Beispiele einer starken Einflußnahme auf die protestantische Metaphysik – vgl. ebd., 218, 226, 233. Vgl. DM 2, II, 24; 28, III, 15; Honnefelder: Scientia transcendens, 285; Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 133. Vgl. DM 2, II, 14: »quodlibet ens habet aliquam convenientiam, et similitudinem cum quolibet ente; majorem enim convenientiam invenit intellectus inter substantiam et accidens, quam inter substantiam et non ens seu nihil.«

87 Suárez an der thomistischen analogia entis und ihrer Betonung der Abhängigkeit des kreatürlichen Seins von Gott festhält,19 kann an der Vorbildfunktion, die der univoke Seinsbegriff des Scotus für den conceptus communis entis des Suárez hat, kein Zweifel bestehen.20 Nicht »per Deum«, sondern »intrinsece« und »absolute a suo esse« würden die Geschöpfe »Seiende« genannt.21 Der Intellekt als abstraktiv-präzisives Vermögen ist nun imstande, so Suárez weiter, die gemeinsam-einheitliche ratio entis »herauszuschneiden«: er kann von den Partikularitäten des jeweiligen Seienden absehen und hat es sodann mit dem conceptus objectivus oder der ratio objectiva entis zu tun:22 omnia entia realia vere habent aliquam similitudinem et convenientiam in ratione essendi; ergo possunt concipi et repraesentari sub ea praecisa ratione qua inter se conveniunt; ergo possunt sub ea ratione unum conceptum objectivum constituere; ergo ille est conceptus objectivus entis.23

Glisson bestimmt die ratio objectiva entis unmittelbar als similitudo transcendentalis und generalissima. Alle Seienden kommen darin überein, daß sie sind (»quod sunt«), d.h. daß sie sich actu außerhalb ihrer Ursachen befinden.24 Glisson spricht hier von der similitudo quodditativa oder quod-

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Vgl. etwa DM 28, III, 5, wo Suárez sich zur Annahme bekennt, daß das Sein vorzugsweise (primario) von Gott, und secundario von den Geschöpfen ausgesagt werde; offenbar schließen sich Univokation und Analogie Suárez zufolge einander nicht aus, sondern werden auf verschiedenen Ebenen der Betrachtung virulent: in 28, III, 16 stellt er beide nebeneinander. Vgl. Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 133f. Vgl. Honnefelder: Scientia transcendens, 282–294; kritisch jedoch Darge: ›Ens intime transcendit omnia‹. Vgl. ferner die zahlreichen Literaturhinweise zur suaresischen univocatio/analogia bei Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 134. Vgl. DM 28, III, 4: »neutra ex his analogiis reperitur respectu Dei et creaturarum. De priori patet, quia creatura denominatur ens absolute a suo esse, et non ex proportione aliqua, quam servet ad esse Dei. De posteriori probatur, quia creatura non dicitur ens per extrinsecam denominationem ab entitate Dei. […] creatura autem in ratione entis non definitur per Deum.« Vgl. Honnefelder: Scientia transcendens, 283, der eben deshalb vom Projekt der Metaphysik als »scientia transcendens« spricht. Zu den genauen Ausprägungen und Implikationen des Konzepts der Metaphysik als scientia transcendens ebd., 403–421; Courtine: Suarez et le systeme de la métaphysique, 339f. Bauer: Francisco Suárez (1548–1617), folgt der Interpretation Honnefelders weitgehend. Zur Synonymie von conceptus objectivus und ratio objectiva vgl. das Zitat in Anm. 35. DM 2, II, 14; vgl. auch 2, II, 15: »hic conceptus objectivus est secundum rationem praecisus ab omnibus particularibus, seu membris dividentibus ens, etiam si sint maxime simplices entitates.« Vgl. De natura, 5: »ratio entis in eo consistat, quod realiter sit extra suas causas. Verum hoc ipsum esse actu extra causas similiter in omni ente reperitur, & eatenus a quolibet eorum uno ab intellectu abstrahitur, […].«

88 ditas essendi der entia – Wortschöpfungen, die er analog zum Begriffspaar quidditas/quidditativum bildet. ut inveniamus obiectivam rationem entis in genere perquirenda est illa essentialis et transcendentalis similitudo, quae intervenit inter omnia entia sive ea perfecta sive imperfecta, sive nobilia sive vilia, sive integra sive rudimenta abiectissima cuiusvis entis integri fuerint.25 Ens vero existens in omni individuo ente est similitudo latissima sive generalissima.26

Einen conceptus objectivus kann es nun nicht nur vom allgemeinsten ens geben; alle Erkenntnisobjekte werden dem Verstand in Objektivbegriffen vorgestellt. In der Regel steht der conceptus objectivus jedoch für eine »res universalis et communis« wie »Mensch« oder »Substanz«.27 Glisson definiert den Objektivbegriff indes betont gegenständlich-singulär als das außerhalb des Verstandes existierende »objectum intelligibile«28 und meint mit ihm die ähnlichen Naturen (naturae similes), soweit sie in den Dingen

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Die Auszeichnung der univok prädizierten similitudo in der Seinslehre Suárez’ und besonders die Bezeichnung »similitudo transcendentalis« bei Glisson sind durch die Transzendentalienlehre der Neuscholastik inspiriert, derzufolge similitudo und dissimilitudo zu den sogenannten passiones entis disiunctae gehören. Da Suárez die Zahl der Transzendentalien allerdings auf drei beschränkte (die obligatorischen: unum, verum, bonum) und insbesondere die passio der Ähnlichkeit auf die des unum zurückführte (DM 3, II, 3–14, bes. 14), da ferner Glisson hier keine spektakulären Bemerkungen macht, verzichte ich hier auf eine weitere Thematisierung des Zusammenhangs von Seins- und Distinktionslehre einerseits und Transzendentalienlehre andererseits. Vgl. jedoch Lay: Passiones entis disiunctae. Disquisitiones Metaphysicae, G 135. Vgl. auch G 138: »Sit assertio prima, omnia inferiora sub ente contenta esse inter se similia in obiectiva ratione entis, sive in quodditate essendi; hoc est, in eo quod sunt; et hanc similitudinem esse convenientiam quandam, qua res alioquin divisae paulo propius ad unitatem reducuntur.« Zur quidditas/quodditas vgl. De natura, Ad Lectorem, §4, fol. a3r–v: »Similitudo dividitur in quidditativam, & quodditativam. Dictionis insolentia (diserte Lector) ne te commoveat. Res nova novum quaerit nomen. Duae sunt interrogationes generales, an, & quid. Priori respondet, quod est; posteriori, quid est. Metaphysici olim finxerunt voces quidditatem & quidditativum; nobis perinde liceat fingere quodditatem & quodditativum. […] ea similitudo quae consistit solum in ponendo quod res sunt, nomine, (quo exprimi absque periphrasi queat) nisi concedatur ut vocetur quodditas, aut similitudo quodditativa, plane caret. […] Omnia enim entia in hoc tantum similia sunt, quod realiter sunt, seu exsistunt.« Die quodditas ist die quidditas des ens als solchen. Zur quodditas vgl. auch De natura, 79f., 517; Disquisitiones Metaphysicae, G 136. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 89. Vgl. DM 2, I, 1: »conceptus autem objectivus interdum quidem esse potest res singularis, et individua, quatenus menti obiici potest, et per actum formalem concipi, saepe vero est res universalis vel confusa et communis, ut est homo, substantia, et similia.« Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 78: »quod quicquid in natura existit et simul aptum est concipi vel intelligi, conceptus obiectivus sive ratio obiectiva est. Nihil enim aliud per obiectivam rationem sive conceptum obiectivum hic intendimus quam obiectum intelligibile extra intellectum realiter existens.«

89 existieren.29 Das objectum intelligibile wird dem Intellekt von außen angetragen, wie ja auch das Objekt der visuellen Wahrnehmung »ex adverso« dem Sehsinn entgegenkommt.30 Daß Glissons epistemologischer Traktat De Inadaequatis Rerum Conceptibus vom obiectum intelligibile in genere als dem intentionalen Objekt (terminus) des intellektiven Aktes schlechthin anhebt, verrät im übrigen den – direkten oder indirekten – Niederschlag der Metaphysik Timplers:31 nicht nur jedes Seiende, sondern auch jedes non ens, d.h. die Chimären und andere entia rationis, fallen unter diesen ersten Begriff.32 Timpler hatte sich hier in einen umstrittenen Gegensatz zur verbreiteten Auffassung der Metaphysik als einer Realwissenschaft begeben, einer Metaphysik, deren vorrangiges Objekt erklärtermaßen das ens reale sei und die die entia rationis allenfalls nach Art eines Nachtrags zu behandeln habe.33 Es ist argumentiert worden, daß genau der Timpler’sche Ausgangspunkt, den ersten Gegenstand der Metaphysik in einer gnoseologischen Kategorie als omne intelligibile zu bestimmen, den argumentativen Raum eröffnet habe, »sensualistische« Naturphilosophien wie die Campanellas in der Grundüberzeugung einer Welt sich gegenseitig perzipierender Körper akademisch hoffähig zu machen.34 Diese ideengeschichtliche Argumentation scheint mir für das Denken Glissons überaus

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Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 89: »Hae similitudines seu potius hae naturae similes quatenus in rebus existunt vocantur conceptus obiectivi, rationes obiectivae et intentiones primae […].« Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 17: »Dicitur autem obiectum, quia ut plurimum est extra intellectum eidemque quoque obicitur, hoc est, ex adverso statuitur, ut comtempletur. Nam ut dicimus de oculo, id ei obici, quod coram est et eidem occurrit ex adverso, ita dicimus de intellectu, terminum eius consideratum propositum ei obici, atque adeo esse intellectus obiectum.« Zur Verbreitung der Schriften Timplers in Cambridge und Oxford vgl. Freedman: European Academic Philosophy I, 98f. Zu nennen wären hier der Logiker Robert Sanderson in Oxford, der auch in Cambridge vielgelesen war, sowie Joseph Mede am Christ’s College in Cambridge und hier Lehrer von Henry More und John Milton; vgl. Robb-Smith: Cambridge Medicine, 342; Ashworth: Oxford, 7; Rogers: Cambridge, 10. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 17: »Respondeo, obiectum intelligibile non tantum in sua latitudine complecti omne ens, sed et omne non ens, scilicet quodvis figmentum aut chimaeram ut et entia rationis.« So etwa Fonseca, Suárez, Jacobus Martini; vgl. Leinsle: Das Ding und die Methode, 102, 107, 121, 134–137. Die Kritiker Timplers, etwa Rudolph Göckel, J. Martini, Bartholomäus Keckermann, Christoph Scheibler, Johann Heinrich Alsted, verwehrten sich mit verschiedenen Argumenten gegen das Konzept einer vom intelligibile anhebenden Metaphysik; das größte Unbehagen manifestierte sich im Vorwurf der Annahme einer »Intelligibilität des Nichts«. Vgl. Leinsle, ebd., 193, 232f., 287, 334, 364, 372, 391; Freedman: European Academic Philosophy I, 106f. Vgl. Mulsow: Sociabilitas, hier besonders: 209, 218–223. Vgl. auch Freedman: European Academic Philosophy I, 210–248; Leinsle: Das Ding und die Methode, 361–364, 372f.

90 zutreffend zu sein. In solcher Lesart artikuliert Glissons Theorie einer perzeptiven Materie, die die Kerntheorie seines naturphilosophischen Entwurfes bildet, eine ursprünglich seinstheoretisch verortete Relationalitätsthese auf naturphilosophischem Gebiet. Dem conceptus objectivus korrespondiert der conceptus formalis. Der Objektivbegriff ist nach vollzogenem Erkenntnisakt durch den Formalbegriff als erfaßte »Materie« bildartig im Verstand vertreten.35 Objektiv- und Formalbegriff stehen im Verhältnis unmittelbarer Adäquation.36 Der conceptus objectivus ist, so Suárez, nichts anderes als die Sache selbst, soweit sie durch den conceptus formalis repräsentiert wird und sub denominatione intellectus steht.37 Sach- und Erkenntnissituation sind damit bereits im conceptus objectivus wohlgeschieden. Denn die reale Ähnlichkeit, die der Intellekt im objektiven Seinsbegriff aus den Einzelseienden herauspräzisiert,38 ist zwar das hinreichende sachliche Fundament (fundamentum sufficiens) dieser praecisio, 39 aber diese ist vor der Tätigkeit des Intellektes nicht in der Sache selbst anzutreffen, sondern ist eine praecisio secundum rationem. 40 Umgekehrt behaupten realverschiedene conceptus formales

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Vgl. DM 2, I, 1: »Conceptus formalis dicitur actus ipse, seu (quod idem est) verbum quo intellectus rem aliquam seu communem rationem concipit; qui dicitur conceptus, quia est veluti proles mentis; formalis autem appellatur, vel quia est ultima forma mentis, vel quia formaliter repraesentat menti rem cognitam, vel quia revera est intrinsecus et formalis terminus conceptionis mentalis, in quo differt a conceptu objectivo, ut ita dicam. Conceptus objectivus dicitur res illa, vel ratio, quae proprie et immediate per conceptum formalem cognoscitur seu repraesentatur […]« Vgl. Glisson, De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 89: »Hae similitudines seu potius hae naturae similes quatenus in rebus existunt vocantur conceptus obiectivi, rationes obiectivae et intentiones primae; quatenus vero ut sic existentes in mente concipiuntur, vocantur conceptus formales et conceptus inadaequati […].« Zur Interpretation des conceptus formalis bei Suárez vgl. auch Honnefelder: Scientia transcendens, 216f. Vgl. DM 2, II, 8: »Dico ergo primo, conceptui formali entis respondere unum conceptum objectivum adaequatum, et immediatum, qui expresse non dicit substantiam, neque accidens, neque Deum, nec creaturam, sed haec omnia per modum unius, scilicet quatenus sunt inter se aliquo modo similia, et conveniunt in essendo.« Vgl. DM 2, I, 1; 2, II, 3: »Conceptus objectivus nihil aliud est quam objectum ipsum, ut cognitum vel apprehensum per talem conceptum formalem.«; die Wendung »sub denominatione intellectus« in 2, III, 13. Vgl. oben 86f. Vgl. DM 2, II, 14: »in re est fundamentum sufficiens ad hunc modum concipiendi, et in intellectu non deest virtus et efficacia ad hujusmodi conceptionis modum, nam est summe abstractivus, et praecisivus rationum omnium. […] unitas conceptus objectivi non consistit in unitate reali et numerali, sed in unitate formali seu fundamentali, quae nihil aliud est quam praedicta convenientia et similitudo.« Vgl. DM 2, II, 17: »haec praecisio secundum rationem solum consistit in distinctione rationis in ordine ad conceptus formales.«; 2, II, 16: »Est ergo advertendum, abstractionem seu praecisionem intellectus non requirere distinctionem rerum, seu praecisionem alicujus rationis, vel modi, quae ex natura re antecedat in re ipsa praecisionem intellectus, sed in re simplicissima posse fieri hujusmodi praecisionem variis modis, scilicet, vel per modum formae a subjecto, vel e contrario per modum subjecti a forma, vel

91 keine Realdistinktion seitens der Sache; sie ergeben sich jeweils aus den verschiedenartigen Abstraktions- und Schneidevorgängen (»praecisio variis modis«41), die der Intellekt an demselben Erkenntnisobjekt vornimmt, etwa dann, wenn er die virtus Dei ihren Wirkungen nach in die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit zerlegt.42 loquimur enim in intellectu humano, qui dum ea etiam, quae in re distincta non sunt, mente dividit, in seipso conceptus partitur, conceptus realiter distinctos formando ejusdem rei secundum diversam praecisionem vel abstractionem rei conceptae […].43

Der Intellekt begreift die Sache im Formalbegriff in einer unvollkommenen, undeutlichen, »unangemessenen« Art und Weise (»imperfectus, confusus, inadaequatus modus«),44 die nicht das ganze Wesen (tota quidditas) der betrachteten Sache erschöpft.45 Daher ist der Formalbegriff als conceptus inadaequatus zu bezeichnen, der die Eigengehalte der unter ihm stehenden Einzeldinge (»rationes inferiorum entium«) nicht ausdrücklich, distinkt und actu, sondern nur »verworren«, weniger bestimmt oder der Möglichkeit nach einschließt.46 Aus der Perspektive der Einzelsache gesprochen zieht der intellectus inadaequate concipiens Allgemeinbegriffe (conceptus communes) ab, die er in der Sache ausmacht, sobald er sie mit anderen Sachen vergleicht.47 Die Metaphorik des »Herausschneidens« des Seinsbegriffs ist hier insofern irreführend, als Suárez offenbar eher an ein akzentuierendes Herausheben des allen Dingen gemeinsamen Ähnlichkeitsmoments und ein bloßes Verschweigen der vereinzelnden Aspekte

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per modum formae a forma, ut in Deo praescindimus Deum ut sic a suo actu voluntatis, et actum voluntatis a Deo, et actum voluntatis ab actu intellectus […].« DM 2, II, 16, zitiert in Anm. 40. Vgl. DM 2, I, 10; 7, I, 5. DM 2, I, 10. DM 2, II, 16: »Sic igitur abstrahit et praescindit intellectus aliquod ab aliquo tanquam commune a particulari, non ob distinctionem vel praecisionem quae in re antecedat, sed ob imperfectum, confusum, seu inadaequatum modum concipiendi suum; ratione cujus in objecto, quod considerat, non comprehendit totum quod est in illo, prout a parte rei existit, sed solum secundum aliquam convenientiam vel similitudinem, quam plures res inter se habent, quae per modum unius sub ea ratione considerantur.« Vgl. DM 7, I, 5. Vgl. DM 2, II, 21; 2, III, 13; 2, VI, 7: »Quarta igitur opinio, et quae mihi probatur, est, hanc contractionem seu determinationem conceptus objectivi entis ad inferiora non esse intelligendam per modum compositionis, sed solum per modum expressioris conceptionis alicujus entis contenti sub ente; ita ut uterque conceptus, tam entis quam substantiae, verbi gratia, simplex sit, et irresolubilis in duos conceptus, solumque differant, quia unus est magis determinatus quam alius. Quod in ordine ad conceptus formales recte explicatur; differunt enim solum quia per unum expressius concipitur res, prout est in se, quam per alium, quo solum confuse concipitur, et praecise secundum aliquam convenientiam cum aliis rebus; hoc autem totum fieri potest sine propria compositione per solam cognitionem confusam vel distinctam, praecisam vel determinatam.« Vgl. DM 2, III, 11.

92 denkt als an ein abtrennendes Isolieren. Seitens der Natur der Sache ist der objektive Seinsbegriff, »prout in re ipsa existit«, nicht von den inferiora, in denen er existiert, unterschieden.48 Damit ist eine Position in der Frage nach dem ontologischen Status der Universalien eingenommen. Beide Autoren, Suárez und Glisson, sind Konzeptualisten; für sie ist das universale ein Begriff, den der Intellekt von Dingen, die eine reale Ähnlichkeit untereinander aufweisen, abstrahiert.49 Unter der Überschrift »Modus quo fiunt universalia« beschreibt Glisson die Universalbegriffe als abstrakte Ausbeute der Jagd (venatio) des Intellektes nach Ähnlichkeit50 und folgert: »Universale & singulare in re non differunt.« 51 In dieser Konstellation ist es möglich, daß ein und derselbe Gehalt einer Sache das Fundament sowohl der Übereinkunft als auch der Differenz zu einer anderen Sache sein kann, wenn distinctio und convenientia als solche nur in verschiedenen »Ordnungen« – der dinglichen oder aber der gedachten Ordnung – begriffen werden. Quantität und Qualität etwa fallen in der ratio accidentis zusammen, aber ihre Übereinkunft ist secundum rationem tantum, in re sind sie unterschieden, und dies, obwohl ihre rationes propriae nicht ex natura rei, sondern jeweils nur »secundum rationem« von der gemeinsamen ratio accidentis unterschieden sind oder – wie Suárez am Beispiel des Dreiecks aus Substanz, Akzidens und gemeinsamer ratio entis formuliert – obwohl gilt, daß »substantiam in re ipsa ex eodem esse ens, ex quo est substantia«. Dieselbe »intrinseca natura et entitas«, die ein Ding besitzt, fundiert so zugleich die Ähnlichkeit und Unterschiedenheit gegenüber anderen Dingen.52

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Vgl. DM 2, III, 7. Vgl. Specht: Über die Individualität, Einleitung, XXI, XXXII; Trentman: Scholasticism in the seventeenth century, 823–825. Zum »Konzeptualismus« seit seinem signifikantesten Vertreter Ockham, seinen Ausstrahlungen in die Schulen zu Suárez’ Zeit und seine Reformulierung durch den Jesuiten selbst vgl. Courtine: Suarez et le système de la métaphysique, 169–182. Vgl. De natura, 59: »Modus quo fiunt universalia. Intellectus enim objectum reale nactus, idem sedulo cum aliis comparat; nempe similitudines essentiales & dissimilitudines venatur. Inventa essentiali similitudine, eam solam, praecisa omni dissimilitudine, considerat, atque adeo conficit inadaequatum objecti conceptum. Hic autem conceptus, in re, nihil aliud est nisi similitudo (ut dictum) essentialis inter omnia individua alicujus speciei aut generis: quae, ut praecise intellectui objicitur, in Scholis vocatur conceptus objectivus, ratio objectiva, & forma objectiva. […] Ex hoc conceptu, praecisa reali exsistentia, sit conceptus universalis, puta species humana, sive homo in specie.« Vgl. auch 58: »omnia (prout in rerum natura sunt) facta fuisse ab initio singularia; intellectum vero nostrum (ob modum intelligendi per inadaequatos conceptus) e singularibus universalia abstraxisse.« De natura, 61, mit Bezug auf DM 5, II, 9ff. Besonders deutliche Passagen sind 5, II, 15–16. Glisson äußert sich ganz ähnlich in Sloane 3311, fol. 43r–44v, im Stück »Porro circa similitudinem essentialem sciendum est …« [ohne Titel]. Vgl. DM 2, III, 16: »quibusdam videtur impossibile ut idem secundum rem absque ulla

93 substantia

accidens in re distincta a conveniunt secundum rationem in

ratio(ne)(m) entis in re eadem ac secundum rationem distincta a

ratio substantiae

ratio accidentis

Abb. 1: Suárez: Die Unterscheidung von gemeinsamem und eigenem Sachgehalt der inferiora am Beispiel substantia, accidens, ratio entis (DM 2, III, 15–17)

Liest man den suaresischen Entwurf mit Honnefelder als das Projekt einer scientia transcendens, erschließt sich das Lehrstück der conceptus inadaequati als der Versuch, »eine begriffliche Erkenntnis zu statuieren, die das Schema des seine Differenzen ausgrenzenden porphyrianischen Gattungsbegriffs hinter sich läßt, damit die Einheit der erkannten ratio entis behauptet werden kann, ohne ihre jeweilige Verschiedenheit bestreiten zu müssen.«53 Gemeinsamer Seinsgrund und eigener Sachgehalt changieren in der einen Entität einer jeden Sache; erst der Intellekt entzerrt sie, indem er conceptus inadaequati bildet.

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distinctione ex natura rei, quam in se habeat, possit esse principium seu fundamentum convenientiae et distinctionis ab alio, […]. Ego vero existimo, […] id non repugnare, ut patet exemplis, […] quantitas et qualitas […] univoce conveniunt in ratione accidentis, et tamen in unaquaque earum ratio accidentis non distinguitur ex natura rei a propria, […]; et idem existimo esse de omnibus speciebus respectu suorum individuorum, […]. Ratio vero est, quia, si distinctio et convenientia sint diversorum ordinum, non repugnat in eodem fundari; […]. Ita vero est in praesenti; nam distinctio est realis, convenientia autem secundum rationem tantum, et ideo non repugnat ut duo simplicia, quae secundum rem sunt realiter primo diversa, secundum rationem habeant unitatem fundatam in reali similitudine vel convenientia, quam inter se habent. Ea enim, quae in re diversa sunt, in eo ipso in quo distinguuntur, possunt esse similia […].«; 2, III, 15: »Ad tertium respondetur primo, substantiam in re ipsa ex eodem esse ens, ex quo est substantia, et e converso, nimirum per suam intrinsecam naturam, et entitatem quam in re habet; et idem est, servata proportione, in accidente.«; 2, III, 17: »Jam enim dictum est rationem substantiae et entis in substantia esse quidem eamdem omnino secundum rem, differre tamen ratione, et priori consideratione habere in substantia eamdem rationem essentialem, ratione tamen diversam, et idem est de ratione entis et accidentis prout in accidente reperiuntur; e contrario vero accidens et substantia inter se comparata, dicuntur habere in ratione entis essentialem rationem eamdem secundum rationem tantum, non secundum rem […].« Honnefelder: Scientia transcendens, 233f.

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3.1.2 »cogitur intellectus anatomicum agere«: conceptus inadaequati und distinctio ratione cum fundamento in re In den abstrakten conceptus inadaequati wird dieselbe Sache unter einer bestimmten jeweiligen Akzentuierung ihrer natura intrinseca erfaßt; der Verstand hat mehrere Möglichkeiten der praecisio, die zu realverschiedenen Formalbegriffen führen können.54 Suárez stellt eigens heraus, daß der Verstand hier nicht Urheber einer illegitimen, das Gebot einer Entsprechung von Sein und Begriff mißachtenden Erdichtung ist. Nicht entia würden ersonnen, sondern lediglich distinctiones. Ein ens reale werde »per modum distinctorum« konzipiert,55 ohne es als in sich real geschieden zu behaupten. Somit irrt die mens keinesfalls ab von der Realität der Dinge, der sie sich anzumessen hat,56 findet die Unterschiedenheit der Inadäquatbegriffe sehr wohl einen Anhalt in der Sache (fundamentum in re). Diese birgt trotz ihrer Selbigkeit in ihrer entitativen Beschaffenheit die »Gelegenheit«, verschiedene Formalbegriffe auszubilden.57 Die Distinktion erfolgt nämlich, wenn man die bezeichnete Sache in ihrer Stellung, Verfaßtheit, Proportion (habitus, ordo, proportio) anderen, real von ihr verschiedenen Dingen gegenüber begreift.58 Für diesen Typus von Unterschiedenheit, die vor der Betätigung des Verstandes nicht actu et formaliter in den Dingen ist, die aber in rebus fundiert ist und nicht ausschließlich auf der Präzisionsleistung des Verstandes beruht, prägt Suárez in seiner Distinktionslehre den Ausdruck der distinctio rationis ratiocinatae. 59 Der Verstand realisiert diese Art der Unterschiedenheit, indem er conceptus inadaequati bildet.60 Ihr steht die distinctio rationis ratiocinantis gegenüber, zu der kein fundamentum in re gegeben ist und die allein auf der Unterscheidungsanstrengung des Intellektes beruht. Suárez gibt das Beispiel des von sich selbst ausgesagten Petrus. Die mens unterscheidet hier denselben Begriffsinhalt in der Funktion als Subjekt und als Prädikat. Der Begriff des Petrus wird dabei ungeteilt, einfach und vollständig seiner Wiederholung gegenübergestellt; der Intellekt geht mit ei-

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S. oben 90f. Vgl. DM 7, I, 6: »ea, quae sic distingui dicuntur, entia realia esse, vel potius ens reale diversis modis conceptum; et ratione etiam id patet, quia ratio non fingit entia, quae sic distinguit, sed solum per modum distinctorum concipit, quae distincta non sunt; ergo non ea, quae distinguuntur, sed sola ipsa distinctio per rationem resultat.« Vgl. DM 7, I, 6: »Nec tamen mens fallitur sic distinguendo, quia non affirmat in re esse distincta quae sic concipit, sed simpliciter, et absque compositione, seu affirmatione aut negatione, ea concipit ut distincta per abstractionem praecisivam, per quam quasi efficit hujusmodi distinctionem.« Vgl. DM 7, I, 4: »ex occasione, quam res ipsa praebet«. Vgl. DM 7, I, 5. Vgl. DM 7, I, 4–5. Vgl. DM 7, I, 5.

95 nem conceptus adaequatus um.61 Beide graduelle Spielarten rationaler Distinktion sind gegen die distinctio realis oder rei a re abgegrenzt, die auf zwei res zutrifft, deren »una non est alia«.62 Ein hinreichendes Kriterium zu entscheiden, ob eine Realdistinktion oder lediglich eine distinctio rationis ratiocinatae vorliegt, ist die Abtrennbarkeit der involvierten Objektivbegriffe gegeneinander seitens der Sache (a parte rei).63 Glisson deutet die Distinktionslehre des Suárez gemäß dem methodischen Analysegestus der anatomia subtilis 64 aus und läßt die rationes objectivae zu einer Art noetisch-sachlicher Minima des Erkenntnisobjektes geraten, die jeweils adaequate in einem eigenen conceptus formalis im Intellekt abgebildet sind. Auch Glisson denkt das Verhältnis von conceptus objectivus und conceptus formalis als die genaue Adäquation des in natura existierenden Sachgehaltes und seiner mentalen Repräsentation. Allerdings betont er tendentiell eher die Sachnähe des conceptus objectivus als seine Intellekterwirktheit, wie sie bei Suárez den deutlichen Akzent trägt.65 Der Formalbegriff nun, auch wenn er die Sache als ganze nur inadäquat erfaßt, ist dennoch das adäquate Bild einer der rationes objectivae, die diese birgt.66 Die Tatsache, daß eine Sache, wird sie nur inadaequate begriffen, verschiedene Repräsentationen im menschlichen Verstand finden kann, wird von Glisson als ihre Analysierbarkeit in rationes objectivae entworfen. inesse quoque omnibus rebus ad nostrum modum intelligendi collatis aptitudinem quandam, ut concipiantur inadaequate; hoc est, ut a nobis in obiectivas rationes inadaequatas resolvantur.67

Eine dezidiert skeptische Position bildet den Ausgangspunkt der erhobenen Zerlegungsforderung: »nihil a nobis simul concrete & distincte con-

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Vgl. DM 7, I, 4–5. Vgl. DM 7, I, 1–2. Vgl. DM 7, II, 2. Unter den Begriff der anatomia subtilis oder des Mikrostrukturalismus faßt Duchesneau: Les Modèles du vivant, 183–185, die mikroskopgestützten Forschungsansätze Borellis, Malpighis, Bellinis, Glissons, schließlich Boerhaaves und anderer zusammen. Wie schon bei Bacon dürfte auch hier bei Glisson eine Reminiszenz an den Topos der Subtilität der Natur, wie Cardano ihn einflußreich 1554 in De subtilitate ausführte, vorliegen; vgl. Manzo: Francis Bacon, 211–215. Vgl. oben 87; zur »Versachlichung« der rationes objectivae s. oben die Zitate in den Anm. 28 und 29. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 19: »Conceptus formalis obiectivo adaequate respondere debet. Est enim ipsa imago sive idea eiusdem per quam is menti repraesentatur.«; ebd., G 77: »Non dubium est quin cuilibet inadaequato conceptui, si is realis, verus et sufficiens sit, obiectiva aliqua ratio in natura existens adaequate respondeat.« (zur Bezeichnung der conceptus formales als »inadaequati« sogleich unten); Disquisitiones Metaphysicae, G 144: »Cum enim conceptus formalis sit ipsa repraesentatio obiectivi, aequum est in omnibus correspondeant […].« De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 69.

96 cipi.«68 Der Intellekt muß ein mögliches Erkenntnisobjekt zunächst analysieren, um es distinkt zu erkennen. Als Ganzes kann er es nicht deutlich in einem integren, adäquaten Begriff erfassen. Dies erklärt Glisson am Beispiel der Suche nach der Ursache eines gegebenen Effektes, von der man sich zunächst nur einen unklaren Begriff machen könne: was genau ist auf welche Weise das bewirkende Moment? Ferner können mehrere Wirkungen aus ein und derselben Ursache hervorgehen. Warum also einmal dieser Effekt, ein anderes Mal jener?69 Die Aufgabe des Forschers besteht daher in einer gründlichen Analyse. intellectum humanum adeo imperfectum esse, ut nequeat ullum vel vilissimum et maxime obvium obiectum adaequate et distincte uno conceptu comprehendere.70 Si ergo velimus distincte rem aliquam dignoscere, oportet inadaequatos ejusdem conceptus inveniamus, & accurate ab invicem distinguamus. Analysis igitur accurata ejusdem ineunda est, ut, si fieri possit, varias ejus rationes, sive realiter, sive sola ratione, sive medio modo, scilicet ex parte rei, distinctas, adamussim internoscamus71

Das Unterfangen, eine Begriffsdinstinktion zu rechtfertigen, welche nicht ohne weiteres auf die jeweilige Sachstruktur zurückblicken kann, muß Glisson als überaus prekär empfunden haben, verwendete er doch außerordentlich viel Mühe darauf, sich in dieser Frage zu erklären. Wie schon Suárez verwehrt auch Glisson sich deshalb gegen die Konnotation einer isolierenden Partition. Die resolutio der Sache in ihre rationes objectivae meint keine buchstäbliche Division,72 sondern vielmehr den Vorgang einer projektiven Verkürzung: Die rationes objectivae sind die Sache selbst in der Projektion auf jene wesentlichen Eigenschaften, in denen diese den anderen Sachen ähnlich oder unähnlich ist.73 Zwar ist im entsprechenden conceptus inadaequatus nur ein »modus concipiendi« explicite repräsentiert, weitere Weisen, die Sache zu denken, werden »verschwiegen«. Die

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De natura, Ad Lectorem, §1, fol. a2r. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §1, fol. a2r: »Qui concretam alicujus effectus causam noverit, confusam ejusdem notitiam a priore habet: nondum tamen praecise quid in specie operatur, aut quo modo effectum proxime attingit, satis assequitur: & cum varii effectus ab eadem concreta causa proveniant, formalem rationem ob quam modo hunc, modo illum in specie producit, plane ignorat.« De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 68. De natura, Ad Lectorem, §1, fol. a2r. Eine bausteinartige Kompositionsstruktur der Sache ist mit den rationes objectivae nur uneigentlich konnotiert; vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 74: »quaelibet obiectiva ratio respectu totius obiecti quasi pars est«; ebd., G 78: »incompletae rationes obiectivae sunt tamquam rerum partes, quamquam non semper realiter, sed obiective tantum distinctae in natura existentes reperiantur.« (Hervorhebungen durch mich, K.H.). An anderen Stellen bezeichnet Glisson die rationes obiectivae allerdings ganz unbefangen als partes; vgl. z.B. ebd., G 65, G 68. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 78: »[obiectivas rationes, K.H.] esse res ipsas quatenus illae aliis praesentes vel absentes, similes vel dissimiles sunt.«

97 anderen rationes objectivae, ja die entitative Ganzheit der Ausgangssache sind bei alledem jedoch confuse eingeblendet.74 Tunc enim intelligit illas diversas obiectivas rationes […] esse in natura unam eandemque rem, quae propter varias suas cum aliis rebus similitudines ac dissimilitudines varias obiectivas rationes de se proicit.75

Auch Glisson setzt dieselbe Sache als anderen Dingen gleichermaßen ähnlich wie unähnlich an76 und bildet in diesem Zusammenhang den interessanten Begriff einer Ähnlichkeit zweiter Ordnung, nämlich den des similiter dissimile oder der similitudo reductiva aus. So ist der Mensch in Platon gegenüber dem Menschen in Sokrates unähnlich, indes ist diese Unähnlichkeit auf eine Ähnlichkeit zurückführbar, so Glisson, da beide in ähnlicher Weise, nämlich aufgrund einer »negatio cuiusvis alterius hominis«, allen anderen Menschen unähnlich sind. Die similitudo reductiva bezeichnet Glisson auch als similitudo quodditativa secundaria, die darin besteht, daß derart Unähnliche in ähnlicher Weise voneinander abweichen.77

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Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 141: »Etenim una ratio alteram in re perpetuo includit nec possibile est ut ab invicem separentur […].«; vgl. auch De natura, 95, mit Bezug auf die Materie und die verschiedenen Inadäquatbegriffe, in denen sie gedacht wird: »Etsi enim quilibet conceptus inadaequatus confuse includat totam entitatem materiae, unum tamen duntaxat modum concipiendi eandem explicite continet.«; und ebd., 204f.: »Describimus enim […] nostras rerum ideas quatenus repraesentant res inadaequate: quia autem unus conceptus id rei exprimit quod alter tacet, & versa vice; […].« De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 101. Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 138: »Eandem rem realiter existentem esse quasi materiam sive fundamentum tum similitudinis tum dissimilitudinis, et quidem similitudinis, ponendo se, dissimilitudinis, negando alia. Eadem enim res omnibus aliis tam similis quam dissimilis est.« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §5, fol. a4r: »Procedo ad distinctionem dissimilitudinis; viz. in simpliciter dissimilem, & similiter dissimilem. Illa est fundamentum omnium differentiarum quibus res inter se distinguuntur; de qua nihil hic ulterius dicendum est. Haec est fundamentum cujusdam communitatis per reductionem. Est enim similitudo e dissimilitudine, quasi postliminio, restituta. Intellectus observans ipsam dissimilitudinem esse similiter dissimilem, eam, quasi conclamatam respectu similitudinis primae intentionis, ad secundariam quandam rationem ejusdem revocat. Hoc modo negatio, quae est ratio qua praedicatum a subjecto separatur, reducitur ad quandam communitatem; quod nimirum omnis negatio similiter praedicatum a subjecto dividat seu separet. Similiter ipsa differentia fit genus differentiarum; quod omnes similiter distinguant. Genus oppositorum ab hujusmodi quoque similitudine suam originem petit; nimirum, quod ea similiter opponantur. Haec genera, eorumque conceptus formales, ut & similitudines in quibus fundantur, reductiva voco. Fateor ea omnia includere similitudinem quandam quodditativam secundariam; nimirum, quod sunt quodditative similia, sed similitudine secundaria seu similiter diversa.« [Hervorhebungen dort]; vgl. auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 88f.: »homo existens in Socrate et homo existens in Platone directe et positive similes sunt, […]. E contra Socrates quatenus includit negationem cuiusvis alterius hominis est eatenus omnibus aliis dissimilis: at vero Plato et quilibet alius particularis homo similiter includit negationem de quovis alio. Sunt ergo omnes similiter dissimiles et similiter de omnibus

98 Jede Sache birgt ebenso viele projektive rationes objectivae, wie sie Hinsichten (modi) gewährt, in denen sie anderen Dingen ähnlich oder unähnlich genannt wird.78 Damit ist dem Intellekt seine Analysevorschrift (»ansa«79) vorgegeben. Die begriffliche Auflösung findet ihren Anhalt in der ontologischen Verfaßtheit des Objektes und ist keine rein logische Angelegenheit, bei der der Verstand sich selbst überlassen wäre. Denn auch Glisson besteht auf einer sachlichen Fundierung der conceptus inadaequati. 80 Die Beschaffenheit der Sache, ihre aptitudo, potentia, habitudo läßt den Intellekt nur auf bestimmte Weise fortschreiten und gibt ihm die Grenze der Auflösung in rationes objectivae vor (»non ultra«). Hoc enim iure non permittitur intellectui quidvis fingere, aut pro arbitrio obiecta in inadaequatas rationes concidere, sed tenetur certo modo procedere, nimirum illam aptitudinem, quae in rebus ipsis elucescit, sequi. Non enim temere res comminuendo sunt in tot partes, quot volueris: sed rationes obiectivae in rebus existentes praefiniunt intellectui, quoutque et non ultra resolvendae sunt. Si ergo plures obiectivas rationes aut etiam pauciores rebus assignaveris, quam in iis aptitudines, ut sic dividantur, reperiuntur, errore manifesto teneberis.81

Die rationes objectivae bestreiten keinesfalls die Einheit der Sache, obwohl sie »in rebus« existieren und »verae et reales«82 sind. Denn erst im Intellekt, d.h. in Form ihrer mentalen Repräsentanten, stellen sie verschiedene Formen oder Bilder dar;83 erst die conceptus formales abstrahieren von der

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aliis negativi. Adeoque similitudo quaedam hic exsurgit ex ipsa dissimilitudine, utpote similiter dissimili. Hanc similitudinem indirectam et reductivam vocamus, quod quasi postliminio a dissimilitudine ad qualemcumque similitudinem revocatur.« Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 79: »certissimum quoque est, rem, qua aliis similem, esse proprio sensu obiectivam rationem et consequenter quot modis res aliqua dicatur aliis similis vel dissimilis, tot obiectivas rationes de se praebet.« De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 74, unten in Anm. 84 zitiert. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §2, fol. a2v: »Nam profecto [conceptus inadaequati, K.H.] non pro arbitrio nostro fingendi sunt; sed (nisi errare velimus) e rebus ipsis eliciendi.« Allgemeiner De natura, 188: »distinctiones rerum non necessario sequuntur distinctiones nostrorum conceptuum, sed ex ipsis rebus petendae sunt.«; sowie De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 39: »res vero ipsae in natura existentes immmediate respondent suis ideis in intellectu rite formatis.« De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 69; vgl. auch ebd.: »inesse quoque omnibus rebus ad nostrum modum intelligendi collatis aptitudinem quandam, ut concipiantur inadaequate; hoc est, ut a nobis in obiectivas rationes inadaequatas resolvantur. Si autem rebus insit talis aptitudo non dubium est quin illae rationes obiectivae in natura satis fundentur. Nam potentia obiecti in re ut certo modo concipiatur est sufficiens fundamentum intellectui, ut is actu sic idem concipiat.«; vgl. auch ebd., G 73; sowie Disquisitiones Metaphysicae, G 141f. Disquisitiones Metaphysicae, G 142: »Fundamentum relationis sive aptitudinis obiecti ut intelligatur inadaequate, consistit in eo, quod obiectivae rationes inadaequatis nostris conceptibus respondentes sint verae et reales.« Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 141: »Quamquam enim [rationes obiectivae] realiter in rebus reperiuntur, nemine tamen cogitante non realiter distinguuntur. Una enim ratio obiectiva quatenus in re existit, non praecidit alteram, sed hoc fit tantum in intellectu.«; und De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 101: »[Conceptus inadaequati,

99 Perspektive der Einheit, in der die rationes objectivae noch zusammenfallen. In Suárez’ Terminologie gesprochen stehen die rationes objectivae damit im Verhältnis einer distinctio rationis ratiocinatae; Glisson gibt diese Verhältnisbestimmung fast immer in der Formel »distinctio rationis cum fundamento in re« wieder.84 Nach eben diesem Paradigma von Distinktion, in dem Einheit und Verschiedenheit gegeneinander verschränkt sind, entwirft Glisson in De natura die Beziehung von Sein und Leben. Der Intellekt, der die rationes objectivae einer Sache in einer discissio mentalis 85 voneinander teilt, vollzieht, so Glisson, die subtilste aller Anatomien. Die zerlegende Methode abstraktiver Kognition »heilt« die Unzulänglichkeiten der intuitiv-undeutlichen Erkenntnis.86 Cum igitur quaelibet res existens in se plurimas obiectivas rationes satis distinctas contineat; non sufficit eas omnes una idea confusa simul intueri, sed oportet eas separatim perpendamus et examinemus, ut quid cuique proprium quidque alienum sit intelligamus. Hinc cogitur intellectus anatomicum agere et separare partes a partibus, elementa a mixto, suppositum a natura, naturas ab invicem, proprietates ab essentiis, a [sic!] accidentibus, accidentia a se mutuo. Quin et omnes ordines rerum, gradus, subordinationes, coordinationes, respectus, etc., discriminare et seiungere. Est igitur anatomia haec multo subtilior et accuratior illa, quae circa corpora versatur; quamquam et ista quoque quatenus ad mentem spectat sub hac contineatur. Verum haec insuper separat ea, quae alias nulla arte disiungi, aut separatim existere possunt; separat essentiam ab existentia, potentiam ab actu, necnon omnes obiectivas rationes, etiam illas quae inter se haud realiter differunt. Quare est haec analysis […] omnium subtilissima. […]

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K.H.] Sunt enim quasi diversae formae sive ideae inter se distinctae. Quamquam enim extra intellectum differunt tantum ut diversae obiectivae rationes eiusdem rei, in intellectu tamen differunt ut ideae sive formae plane diversae. Quia inadaequati hi conceptus cum abstractivi sint praecidunt illam considerationem in qua eorum obiectivae rationes coincidunt.«; ebd., G 20: »res intellecta, quamquam concedatur quoad essentiam actualem quoquo modo concretam una eademque esse, et non posse vel cogitatione dividi in plures res actu divisas, potest tamen in ordine ad intellectum nostrum diversimode se habere et diversas obiectivas rationes de se fundere […].« In den unveröffentlichten Traktaten verwendet Glisson noch die Bezeichnung Suárez’, so etwa in De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 101f. Ebd., G 73f. faßt Glisson zusammen: »non tamen sequitur ipsas obiectivas rationes […] esse habitudines extrinsecas, sed potius esse res ipsas ut per istas habitudines distinctas: hoc est ratione cum fundamento in re. Ratione quod res realiter una et eadem sit; cum fundamento in re quod istae habitudines extrinsecae, quae distinguendi ansam intellectui ministrant, entia rationis sint, simulque quod vel in praesentia vel absentia, in similitudine vel dissimilitudine satis fundantur nec ab intellectu nostro pro suo arbitrio fingantur.« S. auch Disquisitiones Metaphysicae, G 141f. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 41, mit Bezug auf solche allgemeinen Seinsgehalte wie Weiß-Sein: »Id enim quod video, non est abstractus color, sed coloratum: intellectus autem est, qui anatomicum agit et separat colorem a substantia mentali discissione.« Zur Unterscheidung von verworren-intuitiver und distinkt-abstraktiver Erkenntnis (notitia intuitiva, notitia abstractiva), die erstmals Scotus systematisch herausstellt, vgl. Boler: Intuitive and abstractive cognition; zu ihrer Verwendung speziell bei Scotus und Suárez vgl. Courtine: Suarez et le système de la métaphysique, 157–169.

100 confusioni intuitionis medetur, ea quae alias in rebus concreta existunt et confuse intellectui intuenti obiciuntur, separando, distinguendi, et separatim considerando.87

Die Wendung der distinctio ratione cum fundamento in re empfindet Glisson überraschenderweise auch für die conceptus inadaequati selbst als angemessen,88 im Gegenlaut zur Aussage, daß diese als Formalbegriffe im Intellekt doch realdistinkt seien.89 Für den Traktat De natura, in dem der Terminus der ratio objectiva weitgehend durch den des conceptus inadaequatus verdrängt ist, sollen Wendungen wie »esse tantum inadaequatos conceptus ejusdem rei ratione sola cum fundamento in re distinctos«90 sogar zum allgemeinen Sprachusus werden. Die Auffassung, daß sich conceptus objectivus und conceptus formalis in adäquater Entsprechung gegenüberstehen, legitimiert es in Glissons Augen offenbar, ihren bei Suárez so sorgfältig herausgestellten Unterschied einzuebnen. Die fast synonyme Verwendungsweise der beiden Begriffe ›ratio objectiva‹ und ›conceptus inadaequatus‹, wie sie im Traktat De natura charakteristisch ist, kann dabei durchaus den Eindruck einer ungerechtfertigten Vermischung der Ebenen von Sein und Denken erwecken und das Verständnis des Textes erschweren.91 Wie schon in der Tendenz zur Versachlichung der rationes objectivae wird auch hier die subtile begriffliche Anlage der rezipierten Autorität nicht erreicht oder doch wenigstens nicht durchgehalten.92 Im Rückgriff auf die suaresische Konzeption der ratio objectiva legt Glisson eine Distinktionstheorie vor, die zweierlei leistet: 1. Die bei der Begriffsanalyse getroffenen Unterscheidungen – im Bild: die Schnitte des Seziermessers – sind nicht willkürliche mentale Auswüchse, sondern folgen den res ipsae in ihrer von similitudo und dissimilitudo gegliederten Seinsstruktur. Auf diese Weise legitimieren sie sich und beruhen nicht auf beliebiger, irrtumsbehafteter Begriffsbildung. Die Natur der Dinge, die in sich bereits differenziert ist, wird der distinkten Erkenntnis zugänglich gemacht.

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De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 74f. Vgl. z.B. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 101: »dicimus hos conceptus non differre re sed ratione tantum cum fundamento in re.« Vgl. oben Anm. 83. Beispielsweise De natura, 188. Sätze wie »Verum qui hanc materiam totam accurate cognoscere cupit, eam in suos inadaequatos conceptus resolvat, […].« (De natura, 87) scheinen nicht wirklich geglückt. Seltsam mutet es etwa auch an, daß Glisson die reale Existenz der conceptus formales in den Einzeldingen behauptet. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §19, fol. c4v: »Sciendum enim est, formales conceptus, sive generales sive particulares, realiter in singulis exsistere.« Vgl. oben 11. Leinsle: Das Ding und die Methode, 332f., weist auf ähnliche Tendenzen in der Suárez-Rezeption des Christoph Scheibler hin.

101 2. Die sachimmanente Ausdifferenzierung bestreitet die Einheit des Ausgangsbegriffs nicht. Die Theorie der conceptus inadaequati als irreduzible Produkte einer begrifflichen Analyse stellt für die in De natura dargelegte Substanztheorie Glissons ein unerläßliches interpretatorisches Werkzeug dar, ohne daß sie dort selbst vollständig entfaltet würde. Wie noch deutlich wird, wendet Glisson die Methode des anatomicum agere gerade auf die konzeptionellen Grundlagen seiner dortigen Lehre an. So wird die materia in drei conceptus inadaequati zerlegt: materia prima, materia secunda, materia formata. 93 Inadäquater Begriff der materia prima wiederum ist die moles materiae, ihrerseits Schlüsselbegriff zur Erklärung der physikalischen Phänomene Verdichtung und Verdünnung.94 Schließlich sind die Zentralbegriffe der Abhandlung, natura energetica und subsistentia fundamentalis, inadäquate Begriffe der natura substantialis. 95 Damit ist Glisson einerseits legitimiert, die Ausdrücke subsistentia fundamentalis und natura energetica als Begriffe disjunkten Inhalts zu diskutieren – anders können wir uns dem, was ›Natur‹ heißt, aufgrund des Unvermögens unseres Verstandes gar nicht annähern –, andererseits ist ein Weg gefunden, dennoch die Gleichursprünglichkeit von substantiellem Sein (oder Subsistieren) und Leben (als energetischer Vitalität) plausibel zu machen.

3.1.3 Substanz, modus und distinctio modalis Ein weiteres wesentliches Lehrstück der Distinktionstheorie Suárez’, das Glisson rezipiert, ist die sogenannte distinctio modalis, die Suárez in der siebten Disputation als Spielart der distinctio realis einführt.96 Sie besteht zwischen einer Sache und dem sie affizierenden »Realmodus«. Suárez’ Konzeption des modus und der Modaldistinktion ist in Glissons Schriften von überaus deutlichem Niederschlag.97 Die Problematik, auf die der Modusbegriff des Jesuiten zu antworten sucht, liegt in der Frage, wodurch man Verhältnisse der Vereinigung und Dependenz, wie sie etwa zwischen Materie und Form, Subjekt und Akzidens, dem Sitzen und dem Sitzenden bestehen, begründen könne. Denn ausgehend von der Auffassung, daß ein

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Vgl. De natura, 113. Vgl. De natura, 97, 101. Vgl. unten den Abschnitt 3.2.4. Vgl. DM 7, I, 16–20. Das landläufige Verständnis der Begriffe modus und modificatio hat Christia Mercer knapp zusammengefaßt, vgl. The Platonism of Leibniz’s New System of Nature, 105: »For Leibniz and his contemporaries, a modification is an extension of the essence of a thing. It does not constitutes [sic!] a wholly new entity, but rather a determinant state of the thing of which it is a modification.« Zur Entstehung des Modusbegriffs in der Jesuitenscholastik vgl. Menn: Suárez, Nominalism, and Modes.

102 ens »ex se et in se« etwas darstellt, das einem anderen nicht von sich aus »unibile« sei, werden die Erscheinungen des Zusammentretens der Seienden erklärungsbedürftig.98 Suárez definiert die Realmodi als »aliquid positivum«, das die Entitäten der Kreaturen um etwas ergänzt, das außerhalb ihrer Essenz liegt, ohne jedoch selbst als Seiende aus eigenem Recht gelten zu können.99 Modi »affizieren« die geschöpflichen Entitäten, d.h. sie legen deren Zustand und Existenzgrund letztgültig fest.100 Dieses Verständnis grenzt Suárez von allgemeineren Bedeutungen ab, denenzufolge ein modus jede Begrenzung oder Bestimmung einer »res finita« schlechthin meint, wie man etwa das rationale als modus des animale erachten kann. Suárez diskutiert unter anderem folgende Beispiele: der modus einer akzidentellen Form im Subjekt ist ihre Inhärenz, ebenso ist die Vereinigung von Substantialform und Materie ein modus der Form, die Subsistenz ein solcher der Natur, die Abhängigkeit des Lichtes von der Sonne ein modus des Lichtes.101 Die modi sind notwendig, da die Geschöpfe abhängig, begrenzt, imperfekt sind und von sich her einer Vervollständigung bedürfen. Eine solche Vervollständigung kann, so Suárez, weder von einer gänzlich unterschiedenen Sache noch durch nichts überhaupt erfolgen.102 Die modi – einerseits »aliquid positivum« – können andererseits ohne die Entität, die sie affizieren, keinesfalls sein; sie sind ihr »wie angeklebt« und implizieren »intime« eine identitätsartige Verbindung mit ihr.103 Damit sind sie von der modifizierten Entität nicht unterschieden wie eine Sache von einer anderen, sondern gemäß einer »minor distinctio«, aber dennoch »ex natura rei« und »ante operationem intellectus«, also in einer Mittelstellung von Real- und Rationaldistinktion (distinctio media), der Suárez den Namen der distinctio modalis aufprägt.104 Setzte man die modi als eigene Entitäten im vollen Sinne an, könne die Vereinigung von Form und Materie, die Inhärenz des Akzidens im Subjekt, die Dependenz des Lichtes von der Sonne nicht durch sie

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Suárez nimmt die entitas in DM 7, I, 19 »pro illa re, quae ex se et in se ita est aliquid, ut non postulet omnino intrinsece et essentialiter esse semper affixam alteri, sed vel non sit alteri unibilis, vel saltem uniri non possit, nisi medio aliquo modo a se ex natura rei distincto […].« Vgl. DM 7, I, 17; ähnlich auch 7, I, 19. Vgl. DM 7, I, 17. Vgl. DM 7, I, 18. Vgl. DM 7, I, 19. Vgl. DM 7, I, 18: »haec inhaerentia habet talem modum essendi, ut per nullam potentiam esse possit, nisi actu conjuncta ei formae, cujus est inhaerentia, et quod haec inherentia [sic!] numero non potest afficere seu potius unire nisi hanc numero formam, cui est veluti affixa […].«; vgl. auch 7, II, 6; und 7, I, 20: »hic modus tam intime includit conjunctionem cum re, cujus est modus, ut per nullam potentiam sine illa esse possit; ergo signum est illam conjunctionem esse quemdam modum identitatis […].« Vgl. DM 7, I, 9; 15; 16; 20.

103 gedacht werden. Jedes intermediäre ens, das man in Anschlag brächte, machte es notwendig, eine weitere Instanz der Vermittlung zu finden, die die In-Sein- oder Abhängigkeitsbeziehung erklärbar machte.105 »[P]er seipsos« seien die modi die jeweilige »ratio unionis et inherentiae [sic!]«.106 Suárez fordert für das Vorliegen einer distinctio realis, d.h. für die Erfülltheit des Satzes »una res non est alia«, die tatsächliche Isolierbarkeit der in Frage stehenden Sachen voneinander.107 Diese starke Forderung mag es gewesen sein, die die Ausbildung des Begriffs einer distinctio media als einer abgeschwächten Realdistinktion mitprovozierte. Ist dies zutreffend, so ist die Einführung der Modaldistinktion nichts anderes als ein Reflex auf die Emanzipationsaussage der skotistischen univocatio entis. 108 Wenn Suárez zudem die Substanz als »Stütze ihrer selbst« definiert,109 steigert er ihre Würde so weit, daß im strengen Sinne nur das ens a se, also Gott als ein durch sein Wesen bereits Existierender, sie erfüllt.110 Diese Steigerung wird Descartes in seinem Substanzbegriff nachziehen,111 und Glisson und Spinoza handeln sich ihren unorthodoxen Substanzmonismus und seine starke Betonung des modus-Begriffs ebenfalls mit der Formulierung eines überaus hohen Anspruchs ein, den sie an das stellen, was »für sich stehende, von anderen Seienden abtrennbare Entität« heißen kann: die Substanz ist solche nur als causa sui (Spinoza) oder ultimum fundamentum suiipsius (Glisson).112 Ein Seiendes ist genau dann selbstsubsistent

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Glisson beschwört einen infiniten Regreß herauf; vgl. De natura, 326: »si primus modus nequeat uniri sine secundo, nulla ratio reddi possit cur secundus tertium, aut tertius quartum, & sic in infinitum, non requirat.« Vgl. DM 7, I, 17–19. Vgl. DM 7, II, 9: »quamvis ad distinctionem realem cognoscendam, plura indicia soleant assignari, tamen duo, quae ex separatione sumuntur, videntur potissima. Unum est de separatione tantum quoad realem unionem, id est, si utrumque simul et actu possit conservari in rerum natura absque unione reali inter se. Aliud est de separatione mutua quoad existentiam, id est, quod unum possit sine alio conservari, et e converso, per se immediate, et sine ordine seu connexione necessaria cum alioquo tertio.« S.o. 3.1.1. Vgl. den Tractatus de divina substantia (1606) 1.3.4., I, 9b: »Sed substantia dicitur ens, quod ita per se est, ut non indigeat sustentari ab aliquo subjecto«; zitiert nach Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 53. Die Aseität Gottes wird in der Barockscholastik zum vieldiskutierten Topos; Suárez bestimmt sie als das wesentlichste Gottesattribut; vgl. DM 29, I, 41. Das a se esse bestimmt Suárez als Negation; s. DM 28, I, 7: »per quam negationem nos declaramus positivam et simplicem perfectionem illius entis, quod ita in se et essentia sua claudit ipsum existere, ut a nullo illud recipiat, […].« Die Interpretation des a se als causa sui, die Descartes vollziehen wird, ist bei Suárez jedoch abgewendet; vgl. zum Gesamtzusammenhang Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 42–57. Vgl. Princ. Phil. I, 51, AT VIII-1, 24: »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum.«; vgl. auch Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 53. Zu Glisson vgl. die Zitate in und zu Anm. 113. Zu Spinoza vgl. Ethica I, Def. 1, Blumenstock 86; Def. 3, ebd.: »Per substantiam intelligo id, quod in se est, et per se con-

104 (»per se & suis viribus subsistit«), wenn die einzige Veränderung, der es unterliegen kann, die Vernichtung durch Gott (annihilatio) ist. Substantia […] per solam creationem incipit, & per solam annihilationem desinit: alioquin vero a nulla creatura suam entitatem mutuatur, sed per se & suis viribus subsistit.113

Da die Körper diesem Anspruch nicht genügen und durch natürliche Veränderungsvorgänge entstehen und vergehen, können sie lediglich modi der einen Substanz, im Falle Spinozas Gottes, im Falle Glissons der ersten Materie, darstellen. Formae materialis corruptibilitas ab omnibus agnoscitur: materiae vero perpetuitas innotescit, quod per solam creationem incipiat, perque solam annihilationem destruatur; […].114

Die Philosophie Leibniz’ zeigt indes, daß der Substanzmonismus keineswegs eine notwendige Folge einer solch hochgesteckten Anforderung an das selbständig Seiende ist.115 Glisson wiederholt die modus-Auffassung des Suárez bei mehreren Gelegenheiten nahezu im Wortlaut und klassifiziert die »plures acceptiones«, die Suárez in 7, I, 17 anführt, in modi afficientes, modi unientes und modi terminantes. 116 Die modi afficientes disponieren ihr Subjekt zu seinen Verrichtungen; Glisson wird die »energetischen Naturen« der Substanzen darunter fassen, d.h. die substantiellen Formen und Akzidenzien.117 Die

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cipitur: hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.«; Def. 5, ebd.: »Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur.«; auch Propositiones 6 (Blumenstock 90), 7 (Blumenstock 92), 14 (Blumenstock 104), sowie das Scholium zur Prop. 11 (Blumenstock 102): »quicquid substantia perfectionis habet, nulli causae externae debetur; […].«; ferner Ethica II, Def. 1 (Blumenstock 160). Zu Descartes’ Lehre von Gott als causa sui vgl. Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis, 249–252. De natura, 218. Vgl. auch 128f.: »quod ultimum suiipsius fundamentum est, repugnat ut habeat alius fundamentum creatum ex quo fiat. Si enim ultimum sit, aliter mutari nequit quam per annihilationem. Nam ultimi fundamenti destructio annihilatio est, & ultimi fundamenti productio est creatio« De natura, 88. Vgl. auch unten die Diskussion des Formenbegriffs Glissons in 3.2.8 und 3.2.9. Die Monaden entstehen und vergehen als einfache Substanzen nur durch Schöpfung und Vernichtung, nicht aber durch natürliche Veränderungen. Demgegenüber sind die Körper-Vielheiten durch Zerlegung und Zusammensetzung generierbar und zerstörbar; vgl. Principes de la Nature, §§1–2; Monadologie, §§1–6; aber auch schon 1686 im Discours de métaphysique, §9. Zum Substanzbegriff Leibniz’ im Gesamtzusammenhang seines Systems vgl. die konzisen Ausführungen bei Leinkauf: Gottfried Wilhelm Leibniz. Systematische Transformation der Substanz: Einheit, Kraft, Geist. Hier: 200–204. Vgl. De natura, 13, 15, 54, 240, 325. Vgl. De natura, 191: »Est ergo [natura energetica, K.H.] quasi qualitas essentialis, sive substantialiter qualificat, in quantum modificat subsistentiam fundamentalem, id

105 modi unientes veranlassen die Vereinigung von Materie und Form, Akzidens und Subjekt, sowie der Teile, die ein Ganzes aufbauen. Die modi terminantes wiederum vervollständigen ihr Subjekt; diesen modus-Begriff beansprucht Glisson im folgenden zur Beschreibung des Verhältnisses von Natur und Subsistenz.118 Insbesondere ist der modus-Begriff Glissons Instrument, seine Hauptthese, daß die formbedingte Aktivität der Substanzen als Abkömmling einer ursprünglichen Operationalität der ersten Materie zu erachten sei, argumentativ abzusichern.119

3.1.4 Die ratio entis als Selbstposition und das ens als simile Die skotistische univocatio entis liest sich bei Suárez als die Aufforderung, das ens trotz seiner Abhängigkeit vom Schöpfer als von sich her seiend, in seiner Entität selbstkonstitutiv zu denken: non potest res aliqua intrinsece ac formaliter constitui in ratione entis realis et actualis, per aliud distinctum ab ipsa, quia hoc ipso quod distinguitur unum ab alio, tanquam ens ab ente, utrumque habet quod sit ens, ut condistinctum ab alio, et consequenter non per illud formaliter et intrinsece.120

Das ens ist, so Suárez, »per se ipsum«, d.h. unmittelbar durch sein »esse ens« und ohne weitere Negation, vom non ens geschieden. Indem es ferner durch seine Natur unum ist, ist es ungeteilt (»indivisum«), sich selbst gegenüber kein anderes (»non esse aliud a se«) und »distinctum ab alio«.121 Es sind dies die Momente der entitas, die Suárez in seiner fünften Disputation über das Individuationsprinzip in der These zusammenführt, daß eine jede singuläre Substanz durch ihre Entität bereits individuiert sei, daß die Negation, Verschiedenes oder Vieles zu sein, nicht durch etwas von dieser Entität real Distinktes fundiert sei.122 Glisson stimmt dieser These, mit der Suárez »fast alle Autoren vor ihm« widerlegt habe, mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit zu: »nihil fere certius«. Die entitas realis sei das Prinzip der Individuation in dem Sinne, in dem ein universale zum singulare kontrahiert werde, speziell das ens zur substantia werde.123

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est, disponit & coaptat ad suas operationes.« Die modi afficientes unterscheiden sich in Glissons Metaphysik vom Modifizierten somit nicht zwangsläufig modal; denn natura energetica und subsistentia fundamentalis differieren lediglich ratione cum fundamento in re. Vgl. auch unten den Abschnitt 3.2.6. Vgl. unten 128. S.u. die Abschnitte 3.2.8 und 3.2.9. DM 31, I, 13. Von Glisson in De natura, 61 zustimmend zitiert. Vgl. auch ebd., 16: »constituere nihil aliud est, nisi esse internum principium quod primo & radicaliter dividit sive distinguit rem ab omnibus aliis.« Vgl. DM 4, I, 17–18; 4, II, 6–7. Vgl. DM 5, VI, 1. Vgl. die von Specht gemachten Angaben zum Text der fünften Disputation, ferner Thiel: Individuation, 216–222. Vgl. De natura, 58f.: »Cl. Suarius Disp. 5. s. 3. hanc rem [die Frage nach dem Indivi-

106 Res enim ab alia non primo distinguitur per aliam entitatem praeter eam per quam ipsa est. Id enim per quod ens est unum & idem sibi, per idem non est aliud a se. Impossibile enim est ut aliquid sit unum & idem sibi, simulque divisum a se, aut non divisum ab aliis. Cum ergo omne ens qua ens sit unum, necesse est per suam propriam entitatem ab aliis primo distinguatur; & consequenter quod primo distinguit, etiam constituit.124

Glisson sieht das ens durch die Position oder Affirmation seiner selbst konstituiert, wohingegen das non ens in der Negation und im Ausschluß seiner selbst aus der »Familie der Dinge« besteht: Diximus rationem entis consistere in positione sui sive in affirmatione, quod est. Oppositorum itaque lege ratio non entis consistere debet in negatione quod est, sive in extirpatione sui e familia rerum.125

Indem eine Sache sich als die, die sie ist, setzt, negiert sie zugleich alle anderen Sachen von sich: Immo res, quia ponit se, eo ipso necessario tenetur negare alia. Nequit enim esse id quod est et simul esse aliud.126

Derart ist sie die Grundlage sowohl der Ähnlichkeit als auch der Unähnlichkeit allen anderen Dingen gegenüber.127 Eandem rem realiter existentem esse quasi materiam sive fundamentum tum similitudinis tum dissimilitudinis, et quidem similitudinis, ponendo se, dissimilitudinis, negando alia.128 ut exempli gratia: hic homo, quatenus est positivus suiipsius, est omnibus aliis hominibus similis, quatenus negativus aliorum, est iis dissimilis.129

Daher begründet jede Sache mindestens zwei conceptus obiectivi: einen, soweit sie selbstpositiv ist, einen anderen, insofern sie fremdnegativ ist.130

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duationsprinzip, K.H.] prolixe tractat, ubi omnes prope expositores ante se efficaciter refutat; neque quidem ipse D. Thomae mentem stricte sequitur, sed puteat s.6. entitatem cujusque rei, ut est principium unitatis ejus, ita esse quoque principium indivisionis ejusdem in se. Quae sententia, si intelligatur de individuo quatenus opponitur universali, adeo certa est, ut nihil fere certius esse queat. […] Necesse ergo est realis entitas cujusvis rei exsistens sit principium entis universalis & individuationis ejusdem.« Vgl. ähnlich auch 60. Zur contractio vgl. etwa ebd., 58, die Redeweise, daß die Essenz zum suppositum kontrahiert werde, 62f. diejenige, daß die natura universalis zur natura individua kontrahiert werde, oder 16f., den Abschnitt »Esse per se contrahere ens ad substantiam.« De natura, 131. Disquisitiones Metaphysicae, G 157; vgl. auch ebd., G 135, 185. Disquisitiones Metaphysicae, G 139. Vgl. auch oben 97. Disquisitiones Metaphysicae, G 138; eine Wiederholung des Zitats in Anm. 76. Disquisitiones Metaphysicae, G 138f. Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 139: »res, qua positiva sui, manifeste una est realis obiectiva ratio. Insuper eadem, qua negativa aliorum, est aeque manifeste alia realis obiectiva ratio. […] Quamobrem omnis res sive simplex sive composita duas obiectivas rationes de se fundit.« Vgl. auch De natura, 205: »Ut similitudo & dissimilitudo inadaequati conceptus sunt ejusdem objecti: interim hi conceptus, si separatim

107 Die Extreme von similitudo und dissimilitudo, also die identitas und die pura negatio unius de altero, liegen dabei in keinem Fall der Betrachtung mehrerer entia vor. In der similitudo transcendentalis sind sich alle Seienden ähnlich, im esse distinctum ab alio sind sie einander zugleich zumindest numerisch nicht identisch.131 In rebus liegen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit demnach erstens stets in gradibus intermediis, und zweitens immer koexistent oder miteinander vermischt vor. Sie teilen sich das zugrundeliegende Objekt: die similitudo ist habitus incompletus et partialis, die dissimilitudo ist partialis tantum privationis similitudinis; dem jeweils anderen ist sein Raum zugestanden.132 So gilt: »Eadem enim res omnibus aliis tam similis quam dissimilis est.«133 Glisson rezipiert hier nicht einfach die Auffassung von similitudo und dissimilitudo als passiones entis disiunctae in der neuscholastischen Transzendentalienlehre.134 ›Ähnlichkeit‹ und ›Unähnlichkeit‹ fungieren in dieser Philosophie nicht als bloße Verhältnisbezeichnungen der fraglichen Sache zu anderen Sachen, sondern meinen vielmehr den Bezug, in den die Sache sich aktiv zu sich selbst und zu anderen Sachen setzt. Diese Selbstpositivität kommt sodann in einer dynamischen oder sogar affektiven Terminologie zum Ausdruck. Glisson betreibt hier eine Art oi)kei/wsij-Lehre im Metaphysischen. So bejaht die Sache sich, widersteht ihrer Vernichtung (»nec vult e mundi catalogo exterminari«), genießt sich in ihrer Selbsthabe (possessio suiipsius, fruitio, famulitium); das, was sie nicht ist, meidet sie und stößt es von sich (repellere, profugere). Die Selbstnegation, etwa durch den Vorgang einer Teilung, bedeutet Entfremdung (»esse sibimet hospes et peregrinus«), Aufhebung der Seinssicherheit (certitudo essendi) und Selbstverlust (desertio suiipsius). 135 Es sind eben diese Grundmotive der Dyna-

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spectentur, valde diversi apparent. Quod enim concipitur ut omnibus aliis simile, si seorsim describatur, multum discrepat ab illo quod concipitur ut omnibus aliis rebus dissimile, quanquam res concepta realiter sit eadem.« Glisson interpretiert numerische Verschiedenheit also offenbar als dissimilitudo – eine zunächst kontraintuitive Interpretation, die sodann an Leibniz’ Prinzip der identitas indiscernibilium erinnert. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 85f. Disquisitiones Metaphysicae, G 138. Vgl. meine Hinweise oben in Anm. 24. Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 136: »Ens est quid positivum quod in rerum natura quoquo modo realiter et actu est sive existit. Primo, est quid positivum; ens ponit aliquid in rerum natura, nempe ponit seipsum, quod est, sive est affirmativum suiipsius, nec vult e mundi catalogo exterminari; e contra non ens negat seipsum et se excludit e rerum universitate.«; ebd., G 179: »Enimvero satis manifestum est divisionem a se involvere quandam desertionem suiipsius, hoc est implicite negare seipsum et migrare in aliud. Nam dividi a se est exuere seipsum et quid aliud induere.«; ebd., G 179f.: »Quod enim in partes dividitur aperte minuitur; quodque dividitur in se suiipsius fruitione et famulitio privatur; quod denique dividitur a se, entitate ipsa, a qua recessit, destituitur.«; ebd., G 185: »si Petrus foret in se multiplicatus, seipso non fruiretur. Siquidem vi

108 mik, Widerständigkeit, affektartigen Selbst- und Fremdbezüglichkeit alles Seienden, die der Traktat De natura in der Behauptung einer perzipierenden, strebenden, selbstbewegten Materie für die Theorie der Körper neu auflegt. »Dieselbe Sache ist allen anderen Sachen ebenso ähnlich wie unähnlich.« Denn es ist dieselbe Sache, die sich setzt und anderes negiert.136 Glisson hält es geradezu für widersprüchlich anzunehmen, daß etwas anderen Seienden ähnlich und nicht zugleich unähnlich sei.137 Er läßt die entia qua entia ineinander gespiegelt sein. Das ens als conceptus obiectivus, als die im Seienden real existierende Natur, ist natura similis 138 und selbst schon Ähnlichkeit. »Ens vero existens in omni individuo ente est similitudo latissima sive generalissima.«139 Die transzendentale Ähnlichkeit kann zwar auch eine rein komparativrelative Ähnlichkeit meinen, für die mehrere Vergleichsobjekte auf ihre Äquipollenz hin abgeklopft werden und die gefundene Einheitlichkeit des Wesens in Absehung von der realen Existenz in ihnen, den Einzelobjekten selbst, als gemeinsame Idee vorgestellt wird (similitudo relative sumpta). ›Ähnlichkeit‹ und ›Unähnlichkeit‹ werden in Glissons Ontologie jedoch vornehmlich zu Kategorien einer inneren, aktivisch interpretierten Wechselbezüglichkeit der Seienden; hier zeigen sich Parallelen zu den »Ähnlichkeitsmetaphysiken« und Panharmonieprospekten anderer Autoren, etwa Johann Heinrich Bisterfelds.140 Denn als intentio prima und conceptus objectivus ist die transzendentale Ähnlichkeit eine similitudo absolute sumpta, in dem die Ähnlichkeit als individuiert existierende, in der Einzelsache angesetzte Ähnlichkeit (similitudo in rebus) angesprochen wird.141

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multiplicationis esset in se divisus, et quia sic divisus, sibimet ipsi quasi hospes sive perigrinus [sic! bei Giglioni korrigiert] in se resideret. […] Divisio itaque in se duas involvit negationes, prior est certitudinis essendi, posterior possessionis sive fruitionis suiipsius. Hae autem negationes oblique ens subruunt et pessum eunt […].«; ebd., G 195f.: »non esse diversum a se est esse id ipsum quod est oblique consideratum, quatenus omnem differentiam eiusdem a seipso profugat. […] Quod enim sibi soli constanter appropriatur, aliis non communicatur, sed ab iis dividitur. Insuper ut forma positiva unitatis consistit in entitate quatenus ea oblique consideratur ut opposita divisioni in se; ita illa identitatis consistit in entitate quatenus ea oblique considerata opponitur divisioni a se, hoc est, quatenus a se repellit omnem sui differentia.« Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 139: »Eadem res est, quae ponit se et negat alia, […].« Vgl. Disquisitiones Metaphysicae, G 138: »repugnat ut aliquid sit aliis simile et non simul dissimile.« S.o. 88f. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 89; bereits im Zitat zu Anm. 26 angeführt. Dies kann hier im einzelnen nicht näher erläutert werden. Vgl. aber die Ausführungen bei Leinkauf: ›Diversitas identitate compensata‹, 88–92; und vor allem Mulsow: Sociabilitas. Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 88: »Hisce omnibus iam iunctis cum formali ratione similitudinis integra eius definitio exurget. Similitudinem transcen-

109 Am Anfang der Seinslehre steht das ens als simile, in dem die »Abdrücke« aller anderen Dinge präsent sind, sei es durch Affirmation, sei es durch Aversion. Diese Gegenwart des Fremden ist in den entsprechenden rationes objectivae realisiert, die sich als rationes incompletae 142 die zugrundeliegende res teilen, ohne real distinkt zu sein und die Einfachheit der Sache zu bestreiten.

3.2

Die »Anatomie« der Substanz: Materialismus und Dynamisierung der Natur

Glissons Naturphilosophie orientiert sich am Leitbegriff der Substanz in der Ausgestaltung, die Suárez ihm gegeben hatte, und von vorneherein prospektiert der Autor seinen Lesern das Panorama einer schularistotelischen Substanzmetaphysik, wenn er den Traktat De natura mit einem Kapitel De substantia in genere beginnen läßt. Der vorrangige Ausgangspunkt ist die 34. Disputation Suárez’, deren Begrifflichkeiten Glisson unter zumeist geringfügigen Modifikationen übernimmt. An den entscheidenden Stellen seines neuen Systems entfernt er sich allerdings auch von seinem dux und weiß deutliche Kritik zu üben, so bereits im Gesamtanliegen des Traktats – der Schaffung des Begriffs einer vita naturae 143 – oder konkreter in der Ausdifferenzierung der Subsistenz in eine subsistentia fundamentalis und eine subsistentia modalis. 144 Gerade in dieser Abwendung realisiert er seine Idee einer Ineinssetzung von Sein und Tätigsein in der Instanz der Natur als biusia. 145 Anhand der Verhältnisbestimmung, die Glisson für die natura energetica und die subsistentia fundamentalis vornimmt, ist Glissons argumentative Gesamtstrategie im Traktat De natura ausmachbar: die Binnenstruktur der

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dentalem absolute sumptam esse incompletam rei existentis obiectivam rationem positivam, quae pluribus individuis per quandam aequipollentiam inest. Omitto in hac definitione aptitudinem huius obiectivae rationis ad unitatem essentiae, praecisa existentia, quia illa potius spectat ad similitudinem relative sive reflexe consideratam, cuius defintionem hic subiunxerimus. Similitudo relative sumpta est obiectiva ratio similium comparata, qua eorum aequipollentia dignoscitur et inde orta aptitudo ut in unam essentiam commigrent et per unam communem ideam repraesententur.« Vgl. auch ebd., 89. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 91. Vgl. das bereits angeführte Zitat (Anm. 2) De natura, 332: »Si ergo Ornatissimi Suarii sententiae in multis repugnem, eo est, quod ipse de dignitate vitae naturali debita deroget. Minime itaque mirandum, si ego, qui me vindicem istius dignitatis vitaeque per se subsistentis profiteor, eum (quem alias mihi elegeram antesignanum) aliquoties deseruerim.« S. sogleich Abschnitt 3.2.3. S. die Abschnitte 3.2.4–3.2.6.

110 materielosen Substanzen wird zum Paradigma erhoben und auf die materiellen Substanzen übertragen. Hierbei geht Glisson davon aus, daß nicht nur der Seinsbegriff, sondern auch der Lebensbegriff ein genus univocum sei.146 Insgesamt wertet Glisson die Materie als Seinsprinzip stark gegenüber der Form auf, worin er wiederum Tendenzen der Skotisten und Suárez’ weiterführt.147 Das Kapitel schließt mit Ausführungen zur Natur als dem »Innersten« der Dinge. Auch hier radikalisiert Glisson einen Topos der Tradition.148

3.2.1 Essenz und Natur Am traditionellen Essenzbegriff, den Glisson neu bestimmen will, hatte man im Ausgang von D 4 und D 8 der Metaphysik des Aristoteles eine zweifache Bedeutung fortgeschrieben,149 derzufolge die Essenz (ou)si/a) sowohl das erste Prinzip des Seins als auch dasjenige des Operierens der Sache, deren Essenz sie ist, bezeichnen konnte. Nah an den Vorgaben des aristotelischen Textes unterscheidet Suárez unter dem Oberbegriff der Essenz die Washeit (quidditas) und die Natur der Sache. Die Washeit, mit der die griechischen Termini ou)si/a, to\ ti/ h)=n ei)=nai, und ti/ e)sti wiedergegeben sind, erfaßt das, was die Sache durch ihren actus essendi in ihrem Sein von sich her zuallererst konstituiert, und liegt der Definition der Sache zugrunde. dicimus essentiam rei esse, quae per definitionem explicatur, […] id est de essentia rei, quod concipimus primo illi convenire, et primo constitui intrinsece in esse rei, vel talis rei, et hoc modo etiam vocatur essentia quidditas in ordine ad locutiones nostras, quia est id, per quod respondemus ad quaestionem, quid sit res. Ac denique appellatur essentia, quia est id, quod per actum essendi primo esse intelligitur in unaquaque re.150

Die Natur, die aristotelische fu/sij, ist das innerste Prinzip der wesensspezifischen Vermögen und Verrichtungen der jeweiligen Sache. essentiam rei esse id, quod est primum et radicale, ac intimum principium omnium actionum ac proprietatum, quae rei conveniunt, et sub hac ratione dicitur natura uniuscujusque rei […].151

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S. Abschnitt 3.2.7. Dies werde ich in den Abschnitten 3.2.2, 3.2.8, 3.2.9 dokumentieren. Vgl. unten die Abschnitte 3.2.1, 3.2.10. In Met. V, 4 bestimmt Aristoteles die Natur als »dasjenige, wovon bei einem jeden natürlichen Dinge die erste Bewegung ausgeht, welche ihm selbst zukommt, insofern es das ist, was es ist« (1014b18–20, Übersetzung durch Bonitz; »fu/sij le/getai […] o(/qen h( ki/nhsij h( prw/th e)n e(ka/stw? tw=n fu/sei o)/ntwn e)n au)tw=? h(=? au)to\ u(pa/rxei.«; vgl. auch 1015a13–19). In V, 8, 1017b21–23, legt Aristoteles das to\ ti/ h)=n ei)=nai als Inhalt der Wesensbestimmung (o( lo/goj o(rismo/j) des Einzeldinges fest. DM 2, IV, 6. DM 2, IV, 6, Hervorhebung dort. Vgl. auch den Abschnitt 7 derselben Sektion: »Quid autem sit essentiam esse realem, possumus aut per negationem, aut per affirmationem

111 principium autem operationum est essentia rei, vel per seipsam, vel per facultates quae ad ipsam consequuntur […].«152

Natur und Essenz, wie ja auch die griechischen Entsprechungen ou)si/a und fu/sij,153 können also in einem weiten Sinne dasselbe bezeichnen, im engen Verständnis sind sie jedoch auf verschiedene Aspekte des Seins bezogen oder, entsprechend der üblichen Redeweise, »hingeordnet«: Denique natura, ut communiter censetur, dicit ordinem ad operationem, in quo solum differt ab essentia, quod essentiae nomen sumptum est ex ordine ad esse, nomen autem naturae sumptum est ex ordine ad operationem […].154

Diese Differenzierung von Natur und Essenz bildete die gängige Auslegungspraxis der Schulphilosophie und wurde auch über das 17. Jahrhundert hinaus immer wieder wiederholt. Selbst ein Artikeleintrag des Cartesianers Chauvin verzeichnet: Naturae nomine significatur essentia. […] In strictiore tamen acceptione essentia specialem dicit ordinem ad esse rei, natura vero ad operationem.155

Ganz ähnlich schreibt Glisson: natura & essentia eadem res sunt, tantum videtur vocari natura in ordine ad operationem, & essentia in ordine ad constitutionem propriam.156 Natura enim non tam exprimit quid res in se sit, quam quo modo se habeat ad operationes suas.157

In den handschriftlichen »Annotationes quaedam physicae.«, die auf den Physikkommentar der Konimbrizenser Bezug nehmen, äußert er sich ganz ähnlich, nun ausgehend vom Oberbegriff der Natur, die er als bloße Wesensbestimmung einer jeden Sache von der Natur »in maxime propria significatione« unterscheidet, in der sie diese Essenz mit den Vermögen und Verrichtungen der Sache zusammennimmt.

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exponere. Priori modo dicimus essentiam realem esse, quae in sese nullam involvit repugnantiam, neque est mere conficta per intellectum. Posteriori autem modo explicari potest […] per hoc quod sit principium vel radix realium operationum, vel effectuum, sive sit in genere causae efficientis, sive formalis, sive materialis; sic enim nulla est essentia realis quae non possit habere aliquem effectum vel proprietatem realem.« DM 34, VII, 9; von Glisson De natura, 191 zitiert. Vgl. Met. V, 4, 1014b35f., 1015a7–13. DM 15, XI, 4. Vgl. auch Commentarii Collegii Conimbricensis in octo libros Physicorum, II, 1, qu. 1, 203: »hoc est discrimen inter essentiam, quidditatem, & naturam; quod essentia importat ordinem ad esse rei, cuius est: quidditas ad definitionem, qua quid res sit explicatur: natura ad operationem.« Chauvin: Lexicon Philosophicum, 432. Vgl. auch Micraelius: Lexicon Philosophicum, 872: »Natura Fu/sij, communius vocatur internum operationum principium. Natura methaphysicis [sic!] dicitur quodvis ens, prout respectum habet ad operationes & proprietates. Natura physicis est essentia composita ex materia & forma, seu quidditas speciei.« De natura, 231. De natura, 190f.

112 natura in maxime propria significatione denotat essentiam rei cum attributis eiusdem, sive facultatibus et operationibus, et in hoc sensu de natura hic agitur.158

In seinem Konzept der Natur als biusia, in dem die Natur in ein Subsistenz- und Energieprinzip ausdifferenziert wird, wird Glisson die übliche Nuancierung von Natur und Essenz präzisieren.159

3.2.2 Materie, Form, entitativer Akt Der Lehre des Thomas zufolge umfaßt die Essenz einer materiellen Substanz sowohl deren Form als auch deren Materie.160 Die Form ist dabei der Akt der Materie, die als reine Potenz erachtet wird und von sich aus keinerlei Existenz besitzt.161 Form und Materie, Existenz und Essenz stehen im Verhältnis realer Distinktion; die Dichotomie von Existenz und Essenz gilt auch für immaterielle Substanzen.162 Suárez kennt zwei Formbegriffe, mit denen die Materie aktuiert wird: zum einen die physische, d.h. den zusammengesetzten Körper konstituierende Form, die actus physicus und forma partialis ist; zum anderen die metaphysische Form oder den actus metaphysicus, mit der Suárez die Essenz oder Natur als forma totius bezeichnet, die die physische Form und die Materie umfaßt.163

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»Annotationes quaedam physicae.«; hier: fol. 1r. Der Traktat beginnt, ebd.: »Natura h( fusij [sic!]. vid. Coll. Con: phys: p. 258 […] 3. sumitur natura late et improprie pro essentia cuiusvis rei, ut essentia dei, angeli animae [sic!]. accidentis etc. vel stricte pro essentia corporea.« und bricht noch im ersten Kapitel »de natura.« ab. Glisson scheint sich auf die Commentarii Conimbricensis in octo libros Physicorum, II, 1, qu. 1, 203 zu beziehen. Vgl. unten den Abschnitt 3.2.4. Vgl. De ente et essentia II, Leonina 370f.; IV, Leonina 376; V, Leonina 378; im Hintergrund die komplexe Diskussion bei Aristoteles, ob die Definition der Dinge lediglich auf das ei)=doj oder auch auf die u(/lh Bezug nehmen müsse, vgl. Met. VII, 7, 1033a2–5, wo Aristoteles sich in einem ersten naiveren Anlauf dafür entscheidet, daß die Formel (lo/goj) des ehernen Rings die Materie erwähnen müsse, und die verwikkelten Ausführungen in VII, 10 und VII, 11, in denen Aristoteles zu dem Schluß kommt, die Formel einer Sache sei die Formel ihrer Form (das Ergebnis von VII, 10, vgl. 1035a21, 1035b33f.), müsse aber bei Formen, die nur in einer bestimmten Materie vorkommen (, die also ein to/de e)n tw=?de sind, VII, 11, 1036b23) eben diese Sachlage vermerken. Dies zumindest ist die Interpretation von Patzig und Frede: Aristoteles ›Metaphysik Z‹, 212f. Vgl. aber die Loslösung des Aktbegriffs vom Formbegriff bei Thomas, für den bekanntlich die für sich bestehenden immateriellen Formen dennoch Potentialität besitzen; etwa bei Schlüter: Art. ›Akt/Potenz‹, 141. Vgl. De ente et essentia IV-V, Leonina 375–379; sowie das Referat bei Suárez: DM 31, I, 3–10. Es ist allerdings umstritten, ob Thomas die ihm zugeschriebene Position der Realdistinktion von Essenz und Existenz tatsächlich jemals vertreten hat; vgl. John F. Wippel: Essence and Existence, 394, Anm. 43. Vgl. DM 13, V, 8; 15, XI, 3. Schlüter: Art. ›Akt/Potenz‹, 142, weist die Unterscheidung bereits bei Scotus nach.

113 Anders als Thomas spricht Suárez der Materie jedoch einen eigenen, von der Form nicht abhängigen actus entitativus oder actus formalis metaphysicus zu – habe sie ihre Essenz, d.h. das Vermögen, die Form zu empfangen, doch in actu. 164 In der 13. Disputation über die Materialursache der Substanz referiert Suárez die Positionen, die die beiden großen metaphysischen Schulen, die Thomisten und die Skotisten, hinsichtlich der Art der Potentialität der Materie eingenommen hatten: Discipuli ergo D. Thomae communiter interpretantur materiam dici puram potentiam, quia neque ex se, neque in se habet ullam existentiam nisi per formam. At vero Scotus, Henricus et alii supra citati, distinguunt duplicem actum, formalem, scilicet, et entitativum, et materiam docent ex se habere actum entitativum, non tamen formalem, et consequenter aiunt materiam vocari puram potentiam in ordine ad actum formalem, non vero in ordine ad actum entitativum.165

Aufgrund ihrer eigenen, von der Form unabhängigen Perfektion kann die Materie daher auch selbst als »gut« gelten. Dicendum vero est, materiam ex se, et intrinseca ratione sua, habere propriam bonitatem et perfectionem, […] quia suam habet propriam entitatem, et naturam distinctam ab entitate formae.166

Folgt man wie Suárez den Skotisten, so kongruiert die Unterscheidung von Form und Materie nicht länger ohne weiteres mit der von Akt und Potenz. Ist dies aber einmal zugestanden, ist es für Suárez nur noch ein Schritt, der Materie in einem begrenzten Sinne einen eigenen actus existendi zuzusprechen.167 Im ens in actu, das die Materie nun darstellt, sind Essenz und Existenz deutlich einander angenähert, auch wenn nach wie vor Gott den Übergang vom Nichts der Potenz (essentia in potentia) in das aktuale Sein »extra causas«168 (essentia in actu) an seinen Kreaturen bewerkstelligt.169

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Vgl. Stellen wie DM 13, V, 9: »Materia non excludit omnem actum. […] habet ergo haec materia suum actum formalem metaphysicum, quo in sua essentia constituitur.«; 13, V, 11: »quicquid est entitatis in materia prima, totum est ad exercendum munus potentiae receptivae formae substantialis; […].« oder 15, VIII, 8: »materia secundum se habet in potentia essentiam formae vel compositi; essentiam autem materiae non habet in potentia, sed in actu, […].«; ferner 13; IV, 3; 13, IV, 11; 13, V, 10 und überhaupt die gesamte Sektion V; 13, VIII, 7; 13, VIII, 3. DM 13, V, 2. DM 10, III, 24. Vgl. beispielsweise DM 13, V, 9: »Praeterea habet materia actum existentiae proprium, […].« sowie 13, V, 7: »oportet ergo loqui de materia ut est actualis entitas, vel, quod idem est, quatenus secundum se habet proprium actum existendi distinctum ab actu formae.« Glisson rekurriert De natura, 87, auf diese Stelle. Mehrfach, auch hier, sind im Druck von De natura die Zahlen 30 und 13 vertauscht. Vgl. DM 34, IV, 23: »existere ex se solum dicit habere entitatem extra causas seu in rerum natura«. Eine umfassendere Beschreibung des existentiellen Aktes liefert Suárez in 31, IV, 6: »esse existentiae nihil aliud est quam illud esse, quo formaliter et immediate entitas aliqua constituitur extra causas suas, et desinit esse nihil, ac incipit esse aliquid […].«

114 Suárez’ unterscheidet (aktuale) Essenz und Existenz nicht mehr – wie Form und Materie170 – realiter, sondern ratione cum fundamento in re.171 Die skotistische Position einer »Annäherung« der beiden Konstituentien, derzufolge eine Realdistinktion klar abzulehnen und stattdessen lediglich eine distinctio modalis oder formalis anzunehmen sei, ist für Suárez ebenso falsch wie die thomistische, weil sie diese »Annäherung« noch nicht hinreichend weit betreibt, ist die Modaldistinktion doch immer noch eine distinctio ex natura rei. 172 Als modus der Essenz begriffen könne die Existenz kein intrinsisches Konstituens der Entität sein.173 Korrekt ist nach Suárez allein die nominalistische Auffassung, zwischen Essenz und Existenz lediglich eine distinctio rationis cum fundamento in re zu denken: Tertia sententia ponens solam distinctionem rationis. […] Haec opinio tertia sic explicanda est, ut comparatio fiat inter actualem existentiam, quam vocant esse in actu exercito, et actualem essentiam existentem. Et sic affirmat haec sententia existentiam et essentiam non distingui in re ipsa, licet essentia, abstracte et praecise concepta, ut est in potentia, distinguatur ab existentia actuali, tanquam non ens ab ente. Et hanc sententiam sic explicatam existimo esse omnino veram.174

Ohne diese Errungenschaft einer Gleichsetzung von aktualer Essenz und Existenz wäre der metaphysisch-naturphilosophische Entwurf Glissons schlechterdings undenkbar. Die entsprechenden Passagen der 31. Disputation kommentiert Glisson denn auch nach kurzem Hinweis: »Non opus est ulteriore probatione.«175 In mehreren Anläufen setzt er sich mit der Verhältnisbestimmung von Essenz und Existenz bei Suárez auseinander und wählt sie als selbstverständlichen Ausgangspunkt seiner naturphilosophischen Analysen.176

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Vgl. die terminologischen Klärungen in DM 31, I, 1–2; ferner 31, VI, 13–14; 34, III, 13. In 31, VI, 13 die Versicherung Suárez’, daß die entitas in potentia in Wahrheit keine entitas sei, »sed nihil«. Die auch Suárez weiterhin als realverschieden ansetzt, vgl. etwa DM 13, IV, 2. Dies ist das Ergebnis der 31. Disputation, insbesondere der sechsten Sektion. Vgl. das Referat der skotistischen Posititon in DM 31, I, 11. Vgl. auch Wippel: Essence and Existence, 405–407. Auch hier ist nicht eindeutig zu sagen, wie Scotus die Beziehung von Essenz und Existenz genau verstanden wissen wollte und ob er sie tatsächlich der Interpretation Suárez’ entsprechend als Formaldistinktion konzipierte. Vgl. DM 31, VI, 9: »non potest talis modus, ex natura rei distinctus, esse primum et intrinsecum esse reale constituens actualem entitatem ipsius essentiae; ergo illud esse quo sic constituitur, quodcunque illud sit, non potest esse ex natura rei distinctum ab ipsa entitate essentiae actualis.« DM 31, I, 12–13, vgl. überhaupt die gesamte Sektion VI, oder etwa 31, IV, 6; 31, VI, 13. Zur Identität von aktualer Essenz und Existenz bei Suárez vgl. Honnefelder: Scientia transcendens, 272–282; auch die konzise Darstellung bei Trentman: Scholasticism in the seventeenth century, 822f. De natura, 61. Vgl. etwa in Sloane 3315, fol. 97r, das Stück »Divisio Entis in esse et essentiam.«; sowie den »Apparatus ad naturalem Phylosophiam [sic!]« in Sloane 3311, fol. 62r: »Ratione essentiae et existentiae ens creatum consideratur ut a nihilo distinctum et

115 Bereits 1630 verzeichnet Alsted die Materieauffassung Suárez’ als »communis consideratio«.177 Obwohl die Materie dem Jesuiten zufolge eine eigene Art der Aktualität in die Komposition der materiellen Dinge einbringt, ist dennoch die Form der actus principalis des Zusammengesetzten. Da das Operieren dem Sein folgt, kommt der Form auch als Prinzip der Verrichtungen die größere Bedeutung zu: sie ist das principium activum der Operationen; die Materie hingegen »läuft« nur bei den innerlichen und natürlichen Bewegungen »mit«. Erst mit der Substantialform ist der Substanz ihre Wirkkraft (efficientia) gegeben.178 Die Form ist dementsprechend eher Natur als die Materie.179 Sie hat den Vorsitz über alle Akzidenzien und Vermögen, ist deren »Quelle«, wie Suárez erläutert, als er die Frage »An detur in rebus materialibus substantiales formae.« beantwortet: requiritur forma quae veluti praesit omnibus illis facultatibus et accidentibus, et sit fons omnium actionum, et naturalium motuum talis entis, et in qua tota illa varietas accidentium et potentiarum radicem et quamdam unitatem habeat […].180

Die Substantialform selbst ist dabei allerdings lediglich das principium remotum et principale der jeweiligen Verrichtung. Das nächste, unmittelbare Prinzip (principium proximum) stellen die Akzidenzien und Vermögen.181 In Francis Glissons Entwurf wird es mit der Neubestimmung des Verhältnisses von Form und Materie auch zu einem veränderten Verständnis der Operationalität der Substanz kommen. Hier ist die prima materia das erste Prinzip aller Verrichtung und Bewegung. Die Materie operiert vermittels der (substantiellen oder akzidentellen) Form. Die ganze Würde der Form, so schreibt Glisson, gehe so auf die Materie über.182

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reipsa positum extra suas causas. Essentia autem et existentia entis non reipsa differunt sed tantum ratione.« Vgl. Physica, I, 3 (De materia prima), Encyclopaedia, tom. III, 672: »Communis consideratio haec est. 1. Materia non minus quam forma est ens actu; cum propriam non modo essentiam, sed & existentiam habeat, quam ex seipsa possidet, non autem a forma mutuatam.« Vgl. DM 18, II, 23: »Substantialis forma materialis constituit suppositum potens efficere.« Suárez: DM 15, I, 5, vgl. Aristoteles: Physik II, 1, 193a28–193b18; Met. V, 4, 1015a13– 17. DM 15, I, 6. Dies hatte Suárez in den Sektionen II und III der 18. Disputation herausgearbeitet und deutlich etwa in DM 18, II, 3 oder 18, II, 23 formuliert. Er bestätigt seine Schlußfolgerungen beispielsweise in 42, III, 2 und 10. Vgl. De natura, 130: »ut subjectum possidet suum accidens, ita materia possidet suam formam, & tota dignitas formae in materiam […] quodammodo transfertur. Operationes quoque formae (quanquam non immediate) materiae ultimo debentur. Materia enim operatur per suam formam.« Dementsprechend ist die Form lediglich das principium energeticum proximum, nicht aber das principium energeticum ultimum, vgl. unten Anm. 358.

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3.2.3 Natur und Subsistenz Der Zielpunkt der Substanztheorie Glissons liegt in der Ausarbeitung und Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Subsistenz, d.h. von abstrakter Wesenheit und konkretem Selbstand der Einzelsubstanz. Suárez geht in seiner Diskussion der Begriffe natura, suppositum, subsistentia der 34. Disputation von den Vorgaben der Konzilien aus, so von der nizänischen These der Homousität von Gott und Vater, allgemein von der Auslegung der Formel »eine Natur, drei Personen« und vor allem der Interpretation des mysterium Incarnationis in den Dogmen. Sowohl mit der Behauptung einer modalen Unterschiedenheit von Natur und Subsistenz als auch mit der antiskotistischen These der Positivität der Subsistenz hat Suárez stark auf die protestantische Christologie, vor allem auf die Wittenberger Lutheraner gewirkt.183 Hält man sich diesen allerersten Verhandlungsort der Lehre Suárez’ vor Augen, erscheint die transformatorische Anmaßung des Naturphilosophen Glisson, der sich ein halbes Jahrhundert später an die Auslegung der 34. Disputation begibt, ungeheuerlich. Allerdings biegt die Diskussion schon bei Suárez in die metaphysischen Grundlagen der Physik ein, da der Leitsatz gilt, daß »eadem autem est ratio de illa humanitate [Christi, K.H.], & de omnibus creatis naturis, praesertim materialibus.«184 Im metaphysischen Diskurs repräsentieren »natura« oder »essentia« und »suppositum« für gewöhnlich die lateinischen Übersetzungen von ou)si/a bzw. u(po/stasij.185 Um die Debatte andererseits auch auf das Corpus Aristotelicum rückbeziehen zu können, verstand man »suppositum« zugleich als Übertragung des griechischen e(/kaston.186 Ist das, was etwas ist, dasselbe wie das, in dem es ist?187 Aristoteles hatte die Identität von e(/kaston und to\ ti/ h)=n ei)=nai, von Einzelsubstanz und ihrer Wesensbestimmung behauptet. Auf der Folie der Trinitätsspekulation war dies eine »heidnische« Meinung, von der unbedingt abzugehen war: zwar habe Christus eine menschliche Natur angenommen, sei aber dennoch kein erschaffenes Einzelseiendes gewesen; folglich müssen natura und suppositum real unterschieden sein:188

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Vgl. Sparn: Wiederkehr der Metaphysik, 103–106, am Beispiel der Philosophia Sobria (Wittenberg 1611–1623) des Balthasar Meisnerus und an Jacobus Martinis Partitiones et quaestiones Metaphysicae (Wittenberg 1611). DM 34, II, 5, von Glisson De natura, 52 zitiert. Vgl. DM 34, I, 14: »Dico quarto: hypostasis, juxta frequentiorem hujus vocis usum, idem est quod suppositum, vel persona. […] Substantialis enim natura, quatenus a supposito vel re vel ratione distinguitur, graece vocatur ou)si/a, latine essentia.« Vgl. Suárez: DM 34, II, 4: »[Aristoteles, K.H.] ait actiones esse singularium, per singulare intelligens suppositum; […].« Vgl. Met. VII, 6, 1031a15–16; Suárez: DM 34, II, 2 und 4. In DM 34, III, 18 erläutert Suárez ausführlich und unter Angabe mehrerer Verweisorte: »Non habuit autem Aristoteles, ut ego opinor, principium aliquod ad distin-

117 Prima igitur sententia est, naturam & suppositum sola ratione distingui ex modo concipiendi nostro in abstracto vel in concreto. Haec existimatur esse sententia Aristotelis, […] Atque idem sensisse videntur omnes philosophi, qui nostrae fidei mysteria ignorarunt. […] Sed haec sententia, quamvis fortasse sola ratione naturali non possit convinci falsitatis, tamen, supposito Incarnationis mysterio, defendi nullo modo potest, quia, secundum fidem, in re ipsa humanitas singularis fuit assumpta, et unita hypostatice Verbo divino; non fuit autem assumptum suppositum creatum et humanum; ergo necesse est ut in re aliqua intercedat distinctio inter hanc humanitatem et proprium suppositum ejus, […].189

Dementsprechend benennt das »Dieser-Mensch-Sein« noch nicht den konkreten Menschen.190 Die Natur bezeichnet zwar die Einzelsubstanz, erfaßt sie aber nur »in abstracto«, im Beispiel des Menschen als humanitas oder haec humanitas, nicht als homo oder gar hoc homo Petrus: naturae nomine intelligimus singularem substantiam continentem integram et completam essentiam individui seu suppositi in abstracto sumptam, quae a metaphysicis dici solet forma totius, ut est haec humanitas constans ex hac anima, hoc corpore seu his carnibus et his ossibus.191

Die Natur ist eine noch unvollständige Substanz und bedarf der Vervollständigung durch die Subsistenz oder suppositalitas. 192 »Subsistieren« bedeutet, die Grundlage des eigenen Seins sein und sich selbst tragen (»sustentare«).193 Zusammen erst bilden Natur und Subsistenz ein suppositum, d.h. eine erste Substanz oder, im Falle des intellektbegabten Geschöpfes, eine Person.194 Das suppositum ist »per se unum«195 und verwirklicht mit-

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guendum suppositum a natura singulari; nec nos haberemus illud, nisi mysteriis fidei edocti occasionem habuissemus investigandi illud, et ideo Aristoteles ubique eodem modo loquitur de individua substantia, quidditate ac natura, et de supposito.« DM 34, II, 4–5. Von Glisson De natura, 51 zitiert. Die Aussage über Aristoteles mit Bezug auf Met. VII, 6 (passim) und 11 (vornehmlich 1037a33–b7), wo Aristoteles die Identität von Einzelsubstanz (e(/kaston) und ihrem Wesen (to\ ti/ h)=n ei)=nai) behauptet. Vgl. DM 34, I, 8: »substantialem naturam prout in abstracto significatur, etiamsi singularis sit, ut haec humanitas, seu Petreitas, non esse primam substantiam, quia nec significatur ut subsistens, nec revera est formaliter subsistens […].« DM 34, II, 3; von Glisson De natura, 10, zitiert. Die Unterscheidung von abstractum und concretum ist nicht gleichbedeutend mit der des commune und des singulare. Im singulare und commune können kreuzklassifiziert jeweils ein Abstraktes und ein Konkretes unterschieden werden, nämlich haec humanitas, hic homo Petrus (im Fall des Einzelnen) sowie humanitas und homo (im Fall des Gemeinsamen); vgl. 34, II, 2. Vgl. DM 34, I, 7–8; 34, II, 16; 34, II, 20. Der Terminus »suppositalitas« etwa in 34, III, 20. Vgl. DM 34, I, 15: »subsistere dicitur aliquid in quantum est sub esse suo, non quod habeat esse in aliquo sicut in subjecto, sed quod, cum per se sit, et quasi in se sustentetur, ipsummet sit quasi primum subjectum, seu fundamentum sui esse.« Vgl. DM 34, II, 7: »illud [= suppositum, K.H.] autem praeter naturam includit subsistentiam.« Zum Begriff der ersten Substanz vgl. 34, I, 7: »primam substantiam solum dici de substantia singulari, individua, ac per se subsistente.« Aus 34, I, 7 entnimmt man folgende Bestimmungen der ersten Substanz: sie ist singularis und individua, sie subsistiert per se, sie wird von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt, sie ist vollständig und nicht kommunikabel, ferner ist sie am ehesten Substanz und »maxime sub-

118 hin den größtmöglichen Grad von Einheit oder Individuiertheit (ratio individuationis), den Suárez mit dem Terminus der incommunicabilitas bezeichnet.196 Es ist einem anderen suppositum nicht mitteilbar (communicabilis) und von ihm bei gleicher Natur verschieden (distinctum).197 Der Vorbehalt der incommunicabilitas gilt für die Natur allein noch nicht. So ist ja etwa die göttliche Natur den drei göttlichen Personen mitteilbar.198 Die Subsistenz der Natur meint insbesondere auch mehr Perfektion als ihre Existenz, mit der Gott die Natur zwar zum ens actu außerhalb seiner Ursachen (extra causas) erhebt,199 die aber gegenüber dem genauen modus existendi gleichgültig ist. So kann eine Sache in Abhängigkeit von einer anderen, sie stützenden Sache existieren, wie im Falle des Akzidens. Die Subsistenz hingegen steht für den »modus existendi in se et per se«,200 unter dem die jeweilige Sache keine Anleihen bei einer anderen Sache nötig hat.201 Erst das suppositum hat Selbstand.202 Suárez bestimmt die Subsistenz als modus der Natur. Natur und Subsistenz, mithin das Verrichten der spezifischen Operationen einerseits und das selbständige Sein andererseits, unterscheidet er also modal und beschreitet damit den Weg der Skotisten gegen die Annahme einer bloßen Rationaldistinktion, die Suárez dem »Heiden« Aristoteles zuschreibt.203 In einer ausholenden Argumentation widerlegt Suárez andererseits die These des Scotus, daß das suppositum der Einzelnatur lediglich eine negatio dependentiae zufüge und jede andere Verhältnisbestimmung die Einheit der

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stans«. Die Gleichsetzung von suppositum und erster Substanz wird vor allem in 34, I, 9 ausgeführt; vgl. aber auch 34, II, 16: »primam substantiam esse maxime et perfectissime substantiam; prima autem substantia non dicit solam naturam, sed suppositum naturae.« Zur hypostasis ausführlich 34, I, 14. Zum suppositum als Person vgl. z.B. 34, I, 13: »persona idem est quod prima substantia vel suppositum, solumque determinat illam rationem ad naturam intellectualem seu rationalem.« Vgl. DM 34, III, 5: »suppositum, ut suppositum, est substantia completa ac per se una; illud ergo quod addit suppositum naturae pertinet ad substantiae complementum« Schon in seiner berühmten 5. Disputation hatte Suárez die incommunicabilitas als Grund der Individuiertheit angesehen; vgl. DM 5, I, 3. Vgl. DM 34, I, 1; 34, I, 4; 34, V, 1. Vgl. DM 34, II, 10. S. oben 113. DM 34, IV, 23; vgl. auch 31, I, 2. Vgl. DM 34, IV, 23: »subsistere dicit determinatum modum existendi per se et sine dependentia a sustentante; unde illi opponitur inexistere, vel inesse, dicitque determinatum modum existendi in alio.«; vgl. auch 34, IV, 28; sowie 34, V, 26: »subsistentia est complementum rei in ratione per se stantis et independentis ab aliquo sustentante […].« Vgl. DM 34, V, 1: »Ex dictis […] colligi potest definitio, seu descriptio subsistentiae ereatae [sic!], […] videlicet, esse modum substantialem ultimo terminantem substantialem naturam, constituentemque rem per se subsistentem et incommunicabilem.« Vgl. DM 34, II, 4–5. 34, IV, 32; 34, V, 1, 7, 10; 34, VII, 9.

119 Substanz bedrohe.204 Ganz im Gegenteil stellt Suárez das suppositum als positive Form (forma positiva) vor, die die Verneinung der Abhängigkeit von einem anderen erst fundiert.205 Andernfalls bliebe die trinitarische unio hypostatica der menschlichen und göttlichen Natur in Christus undenkbar, müßte man doch annehmen, daß die drei göttlichen Personen durch Negationen konstituiert seien und insbesondere Christus die menschliche Natur »ad aliquam negationem« angenommen habe: mysterium Trinitatis intelligi non potest, si ratio formalis suppositi in negatione consistit; alioqui tres personae divinae tribus negationibus constituerentur […].206 nisi Verbum constitueretur positiva personalitate seu subsistentia, non posset intelligi quod extrinsecam naturam ad illam assumeret, quia non potest assumi natura ad negationem aliquam […].207

Umso mehr muß die Positivität der Subsistenz auch für die imperfekten kreatürlichen Substanzen angenommen werden, denn ihre Naturen subsistieren nicht einmal per se. 208 Für Glisson ist in der Positivitätsannahme der Subsistenz der argumentative Raum geschaffen, die Individuation der Natur zum suppositum als Akt einer reflexiven Selbstsetzung und Selbsteinigung (confoederatio sibi soli) zu erklären.209 Die Festlegung des Unterschiedes von Natur und Subsistenz im Sinne einer distinctio modalis hingegen veranlaßt ihn zur Ausarbeitung eines Gegenmodells, das nun betrachtet werden soll.

3.2.4 Natur als biusia Glisson differenziert den Aufbau des suppositum aus Natur und Subsistenz weiter aus. Er hält an dieser einfachen Gliederung fest, setzt ihr aber die weitere Teilung der Subsistenz in eine subsistentia fundamentalis und eine subsistentia modalis auf. Fundamentalsubsistenz, energetische Natur und Modalsubsistenz sind die Grundbegriffe der Glissonschen Metaphysik und sollten dem Traktat in einer früheren Phase sogar seinen Titel verleihen.210

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Von Suárez: DM 34, II, 8–9 referiert. Vgl. DM 34, II, 17: »illa negatio seu incommunicabilitas, quae est de ratione suppositi, fundatur in aliquo positivo, quo formaliter suppositum constituitur.«; so auch II, 18: »suppositum non significare de formali negationem, sicut separatum aut tenebrosum, sed significare positivam formam constituentem suppositum, et fundantem illam negationem, ob quam suppositum dicitur inassumptibile, seu incommunicabile.« (Hervorhebungen dort) DM 34, II, 10. DM 34, II, 11. Vgl. 34, II, 16: »negatio ut negatio nihil est, et ideo esse non potest de complemento substantiae.« Vgl. DM 34, II, 10–11. Vgl. den Abschnitt 4.5. Glisson notiert als möglichen Titel: »Tentamen phylosophicum / de fundamentali / Subsistentia / Modali / Substantiae [sic!] / Natura energetica seu / De / Vita Naturae

120 Mit der Verdoppelung der Subsistenz verdreifacht sich die einfache Binnendifferenzierung der Substanz. Die Substanz ist triadisch strukturiert; im Dreieck aus natura, subsistentia modalis und subsistentia fundamentalis ist so das jeweilige Verhältnis dreier Instanzpaare zu bestimmen. Dies macht die Ausführungen Glissons so außerordentlich komplex. Erst nach und nach kann hier entwickelt werden, daß es die folgenden Einsichten sind, die am Anfang von Glissons Anstrengungen stehen: 1. Er verschärft die Bedingungen, denen das Seiende genügen muß, um als ens per se subsistens erachtet werden zu können: Als selbstsubsistent hat erst das Seiende zu gelten, das ausschließlich durch göttlichen Eingriff, durch creatio und annihilatio, existiert oder nicht existiert.211 In der Konsequenz ist die erste Materie die einzige materielle Substanz im vollgültigen Sinne. Die Zusammengesetzten aus Materie und Form sind nicht von sich her, sondern aufgrund der Substantialität der Materie Substanzen. Die Formen sind lediglich modi der ersten Materie. Glisson entwirft einen »materiellen Monismus« – so könnte man in Abgrenzung zu Spinozas theistischem Monismus sagen. 2. Die »Distanz« von selbstsubsistentem Sein und Operieren, die Suárez in der Relation von Subsistenz und Natur als distinctio modalis charakterisiert hat, ist viel geringer anzusetzen. Subsistenz und Leben – denn als »Leben« wird Glisson die Operationalität der Substanz zu fassen suchen – sind realidentisch; sie unterscheiden sich lediglich ratione cum fundamento in re. Die vollständige Substanz (suppositum) setzt sich nach Glisson wie bei Suárez aus zwei Großteilen zusammen, aus der subsistentia einerseits und der natura (substantialis) oder essentia andererseits.212 Die natura substantialis ist quidditas, forma totius, ratio formalis der Substanz und umfaßt deren ganze Entität. Frequentissima & maxime usitata Naturae significatio ea est, qua denotat rationem cujusvis rei metaphysice abstractam: ut humanitas dicit naturam hominis, materialitas naturam materiae, &c. Appellatur etiam Essentia, Quidditas, Ratio formalis, & Forma totius.213

Im weiteren scheidet Glisson die subsistentia in die subsistentia fundamentalis (oder essentialis) und die subsistentia modalis (oder adventitia). 214 Die

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Substantialis / Tribus eius primis facultatibus / I. Perceptiva / II. Appetiva [sic!] / III. Motiva naturalibus / manifestata etc.«, vgl. G 201, entnommen aus MSS Sloane 3258A. Vgl. oben 104. Vgl. De natura, 2, 6. De natura, 10. Die forma physica, die zusammen mit der materia physica den konkreten Körper bildet, ist nur forma partis, ebd. Vgl. De natura, 6: »distinguitur Subsistentia in fundamentalem, & adventitiam. Illa vocatur etiam essentialis, intrinseca, naturalis, radicalis, originalis; necnon perseitas &

121 subsistentia fundamentalis ist zugleich Divisor der natura substantialis, die sich ebenfalls in zwei Teilbegriffe spalten läßt. Das zweite Komponens der natura substantialis ist die natura energetica, jenes operationale Prinzip der Substanz, um deren genaue Bestimmung der gesamte Traktat De natura kreist. Genauer definiert Glisson: Definitur subsistentia essentialis, ultimum seu intimum principium sive rudimentum substantiale, quo natura substantialis suo marte, sive absque sustentatione alterius rei creatae, se suffulcit.215 Subsistentia adventitia est solummodo terminus quidam sive modus a natura substantiali, quatenus ab aliis divisa stat, resultans sive dimanans, quo solo addito, haec, utcunque in se abstracta & incompleta, redditur concreta & completa.216 Natura haec [= energetica, K.H.] definitur internum substantiae principium, a quo facultates & operationes essentiales proxime dimanant.217

Der Aufbau des suppositum bei Glisson ist also vorläufig folgendermaßen zu veranschaulichen: natura substantialis

subsistentia

quidditas, forma totius

natura energetica

subsistentia fundamentalis

subsistentia modalis

internum principium facultatum et operationum

intimum principium sustentationis suiipsius

modus sive terminus complens

Abb. 2: Aufbau des suppositum bei Glisson

Wenn Glisson im Ausdruck der natura substantialis die natura in einem allgemeineren Sinne anspricht, der strenggenommen zwei verschiedene Bedeutungsgehalte umfaßt – den des Seins der Sache (essentia, für Glisson: subsistentia essentialis) und den ihrer Operationalität (natura im engeren Sinne: natura energetica) –, so hat er dabei die übliche Differenzierung von Natur und Essenz im Sinne einer zweifach hinordnenden Betrachtung desselben Sachverhaltes vor Augen: Natura in lata hac acceptione dividitur in subsistentiam fundamentalem, & naturam energeticam. […] Illa constituit substantiam in ordine ad esse proprium, haec in ordine ad operationem.218

Genauer aber steigert Glisson diese beiden Ansichten der Natur zu eigenständigen Begriffen disjunkten Inhalts: Während die subsistentia fundamentalis die substantielle Natur in Hinsicht auf ihr eigenständiges Für-sich-

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entitas per se, substantialitas; item fulcimentum & fulcrum substantiale: haec additionalis, extrinseca, modalis, complens, terminans, suppositalitas; […].« De natura, 7, Hervorhebung dort. De natura, 8. De natura, 11. De natura, 10f. Vgl. oben 3.2.1.

122 Sein (perseitas im Sinne der negatio sustentationis ab alia creatura 219) bezeichnet und in keiner Weise auf ihr Belebtsein rekurriert, steht die natura energetica für die Operationalität der Substanz, ohne daß ihre subsistentielle Selbständigkeit mitgemeint wäre: In praesenti Dissertatione subsistentia fundamentalis in suo conceptu nihil eorum quae ad vitam aut operationes substantiarum pertinet complectitur aut memorat: e contra, conceptus naturae energeticae ne gry quidem eorum quae ad rationem subsistentiae spectant sapit; sed tota in explicatione vitae & trium primarum vitae facultatum insumitur.220

Die subsistentia fundamentalis ist dabei das stützende Prinzip (»basis & sustentaculum«) der natura energetica; letztere wiederum modifiziert die subsistentia fundamentalis im Sinne eines modus afficiens. 221 Obwohl beide Instanzen, subsistentia fundamentalis und natura energetica, Bestandteile der natura substantialis sind und Glisson die subsistentia fundamentalis auch als natura fundamentalis bezeichnet, wird nur die natura energetica »proprie« Natur genannt.222 Das Gebilde der Substanz ist als Ganzes so angelegt, daß sich der Grobaufbau aus Natur und Subsistenz innerhalb der natura substantialis in den Instanzen der natura energetica und subsistentia fundamentalis wiederholt. Dem korrespondiert es, daß »substantia« sowohl die vollständige und konkrete Substanz, also das suppositum, meint, wie auch für die natura substantialis allein stehen kann.223 Nicht immer ist es im Traktat De natura klar, auf welcher Ebene des Gefüges Glisson sich bewegt, wenn er ohne weitere Zusätze von »Natur«, »Subsistenz«, »Substanz« spricht. Die natura substantialis mit einer eigenen Art der Subsistenz auszustatten bedeutet einen wesentlichen Eingriff in die traditionelle, etwa thomistische Auffassung der Substanz. Glisson reagiert damit auf folgende doppelte Problemstellung:

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222 223

Zu den zwei verschiedenen Begriffen von perseitas, die Glisson unterscheidet, vgl. unten 127f. De natura, 220. »gry« meint das griechische gru= (»Mucks«). Vgl. De natura, 190f.: »Quanquam vero natura fundamentalis concipitur ut basis & sustentaculum energeticae; nomen tamen naturae utrique conceptui commune est; imo potius illi gratia hujus, quam huic gratia illius, adscribitur. Natura enim non tam exprimit quid res in se sit, quam quo modo se habeat ad operationes suas. Denotat enim indolem, morem & genium rei naturatae. Est ergo quasi qualitas essentialis, sive substantialiter qualificat, in quantum modificat subsistentiam fundamentalem, id est, disponit & coaptat ad suas operationes.« Zum modus-Begriff Glissons s.o. 104f. Vgl. De natura, 190: »Naturam energeticam proprie dici naturam.« Vgl. etwa das Zitat in Anm. 260 zur Substanz als suppositum und die Ausführungen auf 144 zur Substanz als natura substantialis. Dieser Sprachgebrauch findet sich auch bei Suárez: die natura ist als singularia substantia Substanz; das suppositum ist Substanz im Sinne der prima substantia. S.o. 117.

123 1. Wie kann man die Essenz und Natur im jeweils engeren Sinne, d.h. das selbstsubsistente Sein und Operieren der Substanz, unterscheiden und jedes Glied für sich genommen beleuchten? Wie ist der Anspruch ihrer distincta tractatio zu erfüllen?224 2. Wie kann man zugleich daran festhalten, daß ontische Selbständigkeit und Operationalität eine nicht hintergehbare Einheit bilden? Wendet man nämlich das Ergebnis des vorhergehenden Abschnittes225 auf den Begriff der Natur an, so ergibt sich, daß die absolute Trennschärfe der Teilbegriffe der natura epistemologisch ein unbedingtes Erfordernis ist. Die komplexe natura substantialis ist dem erkennenden Intellekt nur unter der Bedingung einer sauberen Zerlegung in ihre Komponenten subsistentia fundamentalis und natura energetica zugänglich. Dabei sollen die Bestandteile nicht nur seitens des Verstandes differieren. Gleichzeitig soll aber auch kein im starken Sinne realer Unterschied zwischen ihnen behauptet werden; Subsistenz und Leben sind – so ja Glissons zentrale Idee – gerade nicht voneinander unterschieden wie eine Sache von einer ganz anderen. Es liegt also genau die Problemlage vor, auf die die Lehre der inadäquaten Begriffe eine Antwort bietet. Subsistentia fundamentalis – Index wesentlichen Seins – und natura energetica – Instanz des Lebens – sind conceptus inadaequati der einen substantiellen Natur, diese einmal in Hinsicht auf das eigene Sein, einmal auf ihre Verrichtungen betrachtet: Natura enim haec [= substantialis, K.H.] […] dirimitur in duas considerationes, sive in duos inadaequatos conceptus, qui quidem inter se neque realiter, neque modaliter, sed tantum ratione cum fundamento in re, differunt. Nam principium subsistendi & operandi non sunt duo principia ex parte rei distincta, sed idem diversis modis consideratum. Natura enim, si spectetur in ordine ad esse proprium, vocatur Subsistentia fundamentalis; sin in ordine ad operationes, est Natura energetica.226

Als Formalbegriffe der natura als ganzer sind sie vor dem Intellekt distinkt, der auf sie eben deshalb erkennend zugreifen kann. Objektiv hingegen entsprechen ihnen zwar real existierende Entitäten, die sich jedoch voneinander nicht real unterscheiden, da sie nicht mehr als eine Entität, nämlich die Substantialnatur bilden. Der Sache nach sind Leben und Subsistieren die eine substantielle Natur, die verschiedene Ideen in den Verstand projiziert. Zur Bezeichnung dieser Einheit von Energie und Selbstand setzt Glisson die Termini bi/oj und ou)si/a oder a)rxh/ zu neuen Sprachschöpfungen zusammen: der biusia oder biarchia. Die energetische Natur, da sie entitas substantialis und principium vitale in einem darstellt, ist eine biusia:

———— 224 225 226

Vgl. unten das Zitat in Anm. 353. Vgl. 3.1.2. De natura, 77.

124 Quare eminentiore adhuc titulo haec natura energetica cohonestanda est; tali nimirum quo eam esse vitale quoddam operandi principium, vel esse vitam quandam substantialem, innotescat. Vocare ergo eam possumus th\n a)rxh\n biousi/an, vel, contractius, th\n biarxi/an, vitale, vel vitae, principium. […] Similiter ob entitatem substantialem appellare possumus to\n bi/on ou)siwdh/n, vel, brevius, th\n biousi/an, vitam substantialem, vel vitae substantiam. Haec enim nomina non tantum naturam operativam denotant, sed & vitalem modum attingendi & producendi suum opus declarant: nempe substantias opus aggrediendum percipere, perceptum appetere, petitum obire.227

3.2.5 subsistentia fundamentalis: Natur als Stützprinzip ihrer selbst Und doch impliziert Glissons Unterscheidung von natura energetica und subsistentia essentialis mehr als die begrifflich präzisierende Hypostasierung der unterschiedlichen Bedeutungsnuancen von Natur und Essenz. Glisson fordert die Anerkennung der fundamentalen Subsistenz mit solcher – immerhin auf die ersten 76 Seiten seines Traktats ausgedehnter – Emphase, daß man meinen könnte, er sehe in der Installierung dieses Begriffs seine eigentliche Leistung, nicht aber in der Konzeption einer natura energetica, die er im Titel des Traktats ankündigt. Glisson beansprucht sogar, in der Teilung des üblichen Subsistenzbegriffes in die subsistentia fundamentalis und modalis die gravissimi Metaphysici, insbesondere Suárez, zu korrigieren.228 In der Tat ist die Idee der essentiellen Subsistenz für die Durchsetzung des Gedankens der biusia ebenso zentral wie die der energetischen Natur. Als Prinzip der Operationalität war die Natur in den Schulen bereits ausgewiesen; die Darstellung seiner diesbezüglichen Abweichungen konnte Glisson auf spätere Kapitel verschieben. Daß die Natur jedoch zugleich subsistentia essentialis sei, durchkreuzt schon allein terminologisch die überkommene Unterscheidung von Natur und Subsistenz und hat bei Suárez lediglich innerhalb des Trinitätsdiskurses seinen Ort, wenn er dort sagt, daß den drei göttlichen Personen eine »subsistentia absoluta et essentialis« gemeinsam sei229 und Gott eine »natura per se subsistens« habe.230

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229 230

De natura, 191f. Vgl. De natura, 11: »Atque hinc evidenter constat subsistentiam quae naturae comparatur ut ei contradistincta non esse subsistentiam fundamentalem, sed adventitiam: maximamque inde ortam esse in hac parte Metaphysicae confusionem & obscuritatem, ob defectum hujus distinctionis.«; 29: »Hinc quoque, uti arbitror, gravissimi Metaphysici hactenus confuderunt subsistentiam modalem cum fundamentali.«; 39: »Quare si Suarius subsistentiam fundamentalem cum natura potius copulasset, a qua tantum ratione discrepat, rectius fecisset. Sed a natura disjungit, & cum statu complente complicat. Dupliciter itaque hic erratur: perseitas essentialis, quae nihil aliud est nisi inadaequatus ipsius naturae conceptus, ab hac divellitur, & partibus complementi ejusdem, a quo ex parte rei differt, adscribitur. Quae duo maximam in hac parte Metaphysicae, ut dixi, confusionem pariunt.« Vgl. auch ebd., 20, 34, 249f. Vgl. DM 34, I, 3; vgl. auch 34, II, 10. Vgl. DM 34, I, 1.

125 Allein Gott, dessen Essenz seine Existenz bereits impliziert, kommt das Attribut der Aseität zu.231 Allgemein gilt: »In creatura vero natura non est per se essentialiter subsistens.«232 Altera animadversio est, cum actualis subsistentia non sit de essentia substantiae, ut diximus, essentialem rationem substantiae, ut sic, non consistere in esse per se, quatenus per haec verba describitur ipsum subsistere in actu; sed in hoc, quod habeat talem essentiam, et natura, cui debeatur subsistentia, seu quae ex se sit sufficiens principium illius.233

Dagegen ist die natura substantialis Glissons die Natur »quatenus essentialiter per se subsistit«.234 Die Etablierung der subsistentia fundamentalis ist Glissons Weg, Privilegien der immateriellen Substanzen, insbesondere die Aseität Gottes, in einer systematischen Umdeutung des überkommenen Naturbegriffs auf die Verhältnisse im Materiellen zu transferieren, um schließlich »Leben« als ein univokes Genus über seine beiden Unterarten vita materialis und vita immaterialis etablieren zu können.235 Bereits die bloße natura substantialis wird bei Glisson als subsistenzbegabt angesetzt; die Natur, so die Kernaussage des Traktats, ist autark – sieht man von ihrer Abhängigkeit von Gott236 ab: »natura substantialis suo marte, sive absque sustentatione alterius rei creatae, se suffulcit.«237 Hatte Suárez vor allem die Unvollständigkeit der Natur und die Notwendigkeit ihrer Vervollständigung durch die Subsistenz betont, so deklariert Glisson die Substantialnatur als fulcimentum suiipsius 238 und in se suiipsius principium sustentans. 239 Substantiam esse ens per se subsistens. […] Clariss. Suarius negat esse per se omnino ad essentiam substantialem spectare; atqui tantum ei deberi ut quid consequens, sive ut quid resultans ab eadem. Hinc enim ausus est Disputatione laudata [34, K.H.] s.8. n°.11. vulgo receptam substantiae definitionem corrigere. Eam non esse amplius (directe) ens per se subsistens, sed habere talem essentiam & naturam cui debeatur subsistentia, seu quae ex se sit sufficiens principium illius. Haec descripto [sic!] multis modis manca & insufficiens est.240

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Vgl. oben 103. DM 34, II, 10. DM 34, VIII, 11. De natura, 24. S. dazu unten 3.2.7. Vgl. De natura, 25. S. die oben zitierte Definition der subsistentia essentialis im Passus zu Anm. 215; vgl. auch De natura, 21: »Natura autem substantialis a nulla alia creatura nisi a seipsa sustentatur.« Vgl. unten Anm. 245. Vgl. De natura, 55, wo Glisson die Natur »quatenus est in se suiipsius principium sustentans« von der natura energetica (»quatenus est in ordine ad operationes«) unterscheidet. De natura, 23.

126 Die Perseität der Substantialnatur oder Substanz ist trotz dieser Differenzen Glissons zu seinem dux durchaus an die Emanzipationsaussage der skotistisch-suárezianischen univocatio entis zurückgebunden:241 die Substanz ist Seiendes nicht durch den Entlehnungsakt von einem anderen Seienden, sondern »per se & suis viribus«,242 aufgrund eines inneliegenden Prinzips, nämlich durch ihre eigene Essenz: Omnem substantiam proprie dictam esse per internum principium. Est enim per se, hoc est, per suam essentiam, quam a nulla alia re mutuatur, quaeque a nulla creatura dependet. Substantia ergo est per principium internum, imo intimum; […].243

Überhaupt sucht Glisson sorgfältig nachzuweisen, daß, wenn man es nur recht bedenke, schon im Ausgang von den Aussagen des Suárez folge, daß die Natur nicht ohne eine eigene Variante der Selbständigkeit gedacht werden könne, ja daß Suárez selbst eine doppelte Art der Subsistenz «implicite et confuse« anerkannt habe: eine naturintrinsische neben einer naturmodalen. 244 Wie kann die Natur sonst das Prinzip der subsistentia modalis sein? Sie muß entitas stabilis und fulcimentum suiipsius sein und ist als solches erst Operativprinzip, indem sie nämlich sodann die eigentliche natura operativa stützt245 und der Ursprung der natürlichen Verrichtungen ist. Die Fundamentalsubsistenz, so Glisson in einem erstaunlichen Vergleich, verhalte sich zu den Instanzen der Operationen, d.h. zu den Formen, Akzidenzien, Eigenschaften, wie der Schöpfer zu seinen Kreaturen: si natura fundamentalis substantiae formas materiales, (quae energeticae sunt,) necnon proprietates & accidentia naturalia, (quae energetica quoque sunt,) suffulciat, necesse est omnes naturales operationes ab ea tanquam ab ultima earum origine scaturiant. Non enim est naturalis operatio, nisi vel a materia, vel a forma, vel a proprietate aliqua, vel ab accidente naturali, proveniat. Quae omnia ultimo dependent ab, & fun-

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245

Vgl. oben 86f. De natura, 218. De natura, 231. Zur Substanz als genus univocum vgl. unten 3.2.7. Vgl. De natura, 37–39, bes. 38f.: »Concludendum itaque est duplicem esse subsistentiam, quarum altera fundamentalis, altera modalis est; & utramque Suarium confuso quodam modo atque implicite agnovisse. Namque in quantum intrinsecam subsistentiam admittit, essentialem necessario agnoscit. Quod enim intrinsecum est, essentiale, & consequenter naturale, est, seu spectat ad partes naturae. Essentia enim & natura idem sunt. Agnoscit etiam subsistentiam modalem, in quantum complementum resultans a natura largitur. Quare implicite & confuse utramque subsistentiam agnoscit.« Vgl. De natura, 23: »Si enim [natura substantialis, K.H.] in se nullam habeat naturam absolutam, qui potest esse principium talis modi?« Und mit Bezug auf Suárez’ 34. Disputation, VII, 17, VI, 18, VI, 31, wo der Autor die dimanatio oder resultantia der Subsistenz – zu diesen Ausdrücken s.u. zu und in Anm. 482 – allein aus der Natur heraus fordert: »Oportet autem ea entitas cui debentur haec encomia sit in se entitas stabilis sive firma, & non dependeat ab alia creatura ut sit; imo ut sit ima & ultima basis & fulcimentum suiipsius, entiumque sibi superstructorum aut a se resultantium; hoc est, ut sit natura essentialiter per se, […]. Insuper requiritur non tantum ut stet stabilis in se, sed ut sit principium quoque operativum, nimirum, ut sit quasi subjectum sive fulcimentum naturae alicujus operativae, ne alias sit inutile & frustra.«

127 dantur in, radicali substantiae natura, quae sola est per se, & caetera omnia tanquam creaturas suas (si analogice actioni creationis comparare liceat) in se sustentat.246

So wie Glisson die Substantialnatur selbständig sein läßt, so steigert er die Würde der Materie gegenüber der der Form. Beide Argumente, die Stärkung der Natur und die Aufwertung der Materie, sind nichts als zwei Ausdrucksformen derselben These. Denn im Falle der materiellen Substanzen steht die subsistentia fundamentalis für das Materieprinzip und die natura energetica für die Substantialform.247 So gesehen bildet die Teilung der Natur in Fundamentalsubsistenz und Energieprinzip eine Neufassung des traditionellen Lehrstücks, daß die Essenz einer materiellen Substanz sowohl deren Form als auch deren Materie umfaßt. Allerdings geht Glisson von einem völlig veränderten Materiekonzept aus. Er setzt, in einer Steigerung des actus entitativus, den Suárez ihr zudenkt, die Materie als ens per se subsistens an; genau als solches kann sie die fundamentale Subsistenz der Substantialnatur gewähren. Glisson gelangt zu seinem neuen Naturbegriff, indem er die skotistischen Tendenzen radikalisiert, die er im Materiebegriff Suárez’ antraf.248 Die zweifache Differenzierung der Subsistenz bei Glisson bedeutet die Unterscheidung zweier Grade von ontischer Selbständigkeit (perseitas), denen zwei Arten von Negation korrespondieren.249 In einem genaueren Passus unterscheidet Glisson sogar drei Arten von perseitas, von denen eine den Begriff der transzendenten Substanz,250 zwei den hier fraglichen der Subsistenz betreffen: Esse per se varie sumitur. […] Primo, aliquid dicitur esse per se quod divisum sit ab omnibus aliis. Hinc enim si sit substantia, eo quod separatur ab omni alia, est in se & per se ens completum. Subsistentia modalis hoc respectu vocetur ens per se, quod alteri non unitur. […] Secundo, aliquid dicitur per se quod non inest in subjecto ut accidens. […] Sufficienter […] constituit substantiam transcendentem sive analogicam, sed non praedicamentalem & univocam. […] Tertio, sumitur perseitas pro fundamentali ratione subjectiva cujusvis substantiae, qua est sufficiens sui & rerum in sed inhaerentium fulci-

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De natura, 230. Vgl. auch 243: »Quod enim suffulcit suffulciens, suffulcit suffultum. Si ergo vita primaeva seu natura substantialis suffulciat formam, suffulcit quicquid formae innititur. Quare essentia substantiae per se est ultimum principium omnium.« Vgl. De natura, 8: »Composita pure materialia fundamentaliter subsistunt gratia materiae, non ratione formae, quae corruptibilis est, nec diutius esse potest quam a materia sustentatur.« S. auch unten 3.2.8. Vgl. unten 3.2.8. Vgl. De natura, 52: »Quanquam enim subsistentia fundamentalis & suppositalitas Suario idem significant, sunt tamen fundamenta negationum clare distinctarum: & consequenter formae positivae in quibus istae distinctae negationes radicantur sunt quoque satis distinctae. Formae sunt duo genera perseitatis. Prior includit negationem sustentationis ab alia creatura; posterior non hanc, sed aliam; dicit nimirum negationem unionis cum omni alia natura aut supposito.« Zur Unterscheidung von transzendenter und prädikamentaler Substanz s.u. 143ff.

128 mentum sive sustentaculum. Atque hoc sensu sola natura substantialis univoce sic dicta est per se, sive subsistit. Subsistentia autem modalis non est hoc modo per se […].251

Die subsistentia fundamentalis negiert die sustentatio ab alia creatura und ist, gegen Suárez, kein modus adventitius oder, wie Glisson einmal sagt, kein Anhängsel (appendicula) der Natur.252 Die natura substantialis ist schon in sich das Stützprinzip ihrer selbst und damit in einem Sinne per se (perseitas essentialis). 253 Die subsistentia modalis hingegen meint die Negation, mit einem anderen creatum vereint zu sein (negatio unionis) und bedeutet damit erst die vollgültige Perseität (perseitas solitaria) und Suisuffizienz der individuellen Substanz oder des suppositum. 254 Die Einwände, die Suárez gegen die skotistische These einer Subsistenz als bloße negatio erhoben hatte, repetiert Glisson mutatis mutandis: die subsistentia modalis besteht nicht nur in einer negatio unionis cum omni alio, sie ist forma positiva oder actus metaphysicus. 255 Da sie von seiten der Sache von der Substantialnatur differiert, kann sie als subsistentia extrinseca beschrieben werden, dergegenüber die Fundamentalsubsistenz subsistentia intrinseca ist.256 Was Suárez Subsistenz im Sinne der Vervollständigung der Natur nennt, erfüllt bei Glisson demnach die subsistentia modalis: »naturam […] in ratione substantiae concretae complet & terminat.«257 Entsprechend will Glisson das, was Suárez in dieser Hinsicht über das Verhältnis von Subsistenz und Natur gesagt hat, ausschließlich auf die modale Subsistenz und die substantielle Natur bezogen wissen: nur sie, nicht die Fundamentalsubsistenz ist ein modus terminans der Natur, der von ihr dimaniert,258 sie vervollständigt und inkommunikabel macht, sie hinsichtlich ihrer artspezifischen Verrichtungen determiniert.259 Die natura substantialis ist die metaphysisch abstrakte Form des Ganzen. Ihre concretio und Vervollständigung erfolgt erst durch die subsistentia modalis. 260 Diese ist von ihr und damit von der subsistentia fundamentalis

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De natura, 12f. Vgl. De natura, 10, 15, auch 45, wo Glisson die Natur als »respectu causarum secundarum […] sufficiens sui internum principium« bezeichnet. Vgl. De natura, 53. Vgl. De natura, 53, 55. Glisson versteht den Terminus »suppositum« ganz in Anlehnung an Suárez als Einzelsubstanz. Es enthält (»continet«) Natur und Subsistenz, vgl. ebd., 9. Die Auseinandersetzung mit Scotus De natura, vor allem 24–28; dort und 55f., 68 auch die Ausdrücke »forma positiva«, »actus positivus«, »forma metaphysica«, »actus metaphysicus substantialis«, »modus positivus«, »ratio positiva« usw. Zu dieser Unterscheidung vgl. De natura, 21. De natura, 24. Vgl. etwa De natura, 20. Vgl. oben 104f. die Ausführungen zum modus-Begriff. Die Natur kann sich, so auch Glisson, ohne suppositalitas mit anderen Naturen vereinigen – wie im Fall der unio hypostatica gefordert – und mehreren supposita mitteilbar sein, vgl. De natura, 62. Vgl. De natura, 24: »Natura enim, (prout a nobis concipitur,) per se licet essentialiter

129 modaliter, insbesondere ex parte rei distinkt.261 Die Natur ist indifferent, interminiert, potential, mehreren supposita mitteilbar; durch die Modalsubsistenz wird sie zu einer certa natura determiniert, sie wird individuiert, inkommunikabel, anschaulich gesprochen: voll.262 Die Modalsubsistenz hängt von beiden Prinzipien, Form und Materie, ab.263 Dies alles übernimmt Glisson ohne größere Abweichungen von Suárez und gibt folgende Zusammenstellung der requisita ad suppositum: Colligere jam ex dictis haud difficulter possumus quot & quae requiruntur ad integram constitutionem suppositi: utpote, 1. ut sit natura substantialis; 2. ut sit singularis; 3. ut sit completa ex parte naturae in aliqua specie infima; 4. ut sit unita in se; 5. ut sit ab omnibus aliis divisa. Ad personam insuper requiritur [6.] ut sit intellectiva.264

Wichtig schien Glisson der vielfach wiederholte Rekurs auf den Satz des Thomas zu sein, daß »nulla est possibilis substantia creata, in qua non sit aliquid extra essentiam speciei«, und in »[h]oc extra« will er selbst seine Modalsubsistenz erkannt wissen.265 Explizit bestimmt er die subsistentia

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subsistat, non tamen integra est, sed quodammodo incompleta, & metaphysice abstracta: ut Humanitas. Caret ergo aliquo termino praeciso, quo restituto, fiat iterum substantia concreta & completa.« Vgl. auch ebd., 8. Vgl. etwa De natura, 39: »subsistentia fundamentalis neque realiter neque ex parte rei a natura differt, sed tantum ratione, & ut inadaequatus ejusdem conceptus: caeterum ex parte rei differt a subsistentia modali.«; ganz ähnlich etwa auch 6, 16, 52. S. auch 15: »Sed cur nequeat intellectus totam substantiam creatam abstrahere? Respondeo, quia in creaturis terminus sive modus quo substantia fit concreta est ens reale a natura ex parte rei distinctum. […] Cum igitur iste terminus nihil aliud sit nisi modalis subsistentia, sequitur naturam abstractam substantiae non includere eam subsistentiam.«; 54: »revera difficulter concipi hanc entitatem [= forma positiva, d.h. der status divisus, K.H.], quod neque plane realiter, neque tantum ratione a natura substantiali differat, sed modaliter & distinctione media; […].« Vgl. De natura, 55: »Cum ergo natura, ante talem determinationem, de se apta sive potentialis sit, & quodammodo indifferens, [sic!] ad varias determinationes, necesse est hujus potentiae complementum actus sit & forma positiva.«; 31: »Quodlibet ergo individuum quod non compleat totum genus aut totam speciem potest communicari alteri, sive ejusdem sive diversae speciei. Requirit ergo complementum quo terminetur in se, & reddatur omnibus aliis individuis, cujuscunque generis aut speciei, incommunicabile. Solus Deus omnem plenitudinem entitatis in suam naturam absorbet; quaevis creatura limitata portiuncula contenta est. Hinc omnis natura seu essentia finita uniri alteri vel communicari potest. […] Quod autem in se incompletum est non penitus abhorret ab unione cum alio. Nondum enim se undique munivit & terminavit complemento incommunicabili. Potest ergo adhuc cum alia natura coalescere; & se alteri communicare. […] Natura itaque individualis communicabilis est diversis suppositis. Complementum vero quo natura incommunicabilis redditur non est altera natura, (quae non minus in se interminata est,) sed quid extra essentiam seu naturam speciei, eique additum, & eandem complens.«; 55: »caeterum determinari ad certam naturam solam, eique sic confoederari, est modus, status, seu actus positivus, quem suppositum naturae addit […].« Vgl. De natura, 8: »Nihilominus in his [= den compositis materialibus, K.H.] subsistentia adventitia pendet non solum a materia, sed & a forma; & pereunte hac interit; […].« De natura, 45. Dies entspricht ganz der Funktion der Modalsubsistenz als modus der Substantialnatur gemäß Suárez, s. oben 102. Vgl. De natura, 21: »Hinc D. Thom. asserit suppositum

130 modalis als Individuationsprinzip im Sinne des »principium permanentiae sive identitatis individualis«,266 das sich in allen Wechseln und Umschwüngen der jeweiligen Substanz durchträgt, wie etwa in den Wachstumsprozessen einer Pflanze: Planta itaque, licet a parvo semine ad ingentem arborem excrescat, retinet tamen a principio ad finem incrementi eandem suppositalitatem statumque incommunicabilem.267

In Glissons Text sehen wir, mit welch hoher Bereitschaft man die Begrifflichkeiten der Metaphysik Suárez’ auf disziplinfremde Kontexte, hier die Medizintheorie, anwenden will. So argumentiert Glisson, daß der continuus fluxus, der Verlust und Austausch von Masse, den er aus den modernen Forschungen des Paduaner Medizinprofessors Santorio als unmerklichen Begleiter aller Lebensvollzüge kennt,268 für die Selbigkeit der zugrundeliegenden Substanz irrelevant sei, zumindest solange sie bestimmte Ausmaße nicht überschreitet (»in divisione non spectabili«). Denn die Suppositalität bleibt von dieser Aufzehrung ganz unberührt.269 Und selbst wenn die Materie – Glisson benennt mit ihr oft die betreffende Masse – unverändert bleibt, bewirken die Veränderungen der suppositalitas eine Abwandlung der Individuationsverhältnisse, wie Glisson an der Zusammenführung zweier Wassertropfen klarmacht.270 Allgemein gilt:

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creatum necessario includere aliquid extra essentiam speciei. Hoc extra est subsistentia modalis, non autem fundamentalis, quae tantum differt ratione, sive ut inadaequatus conceptus, ab essentia sive natura substantiali.«; auch beispielsweise 69, 75. Vgl. das Referat bei Suárez: DM 34, III, 12, aus dem auch Glisson seine Textkenntnis bezieht; vgl. De natura, 30f. Glisson unterscheidet dieses Verständnis von »Individuation« von demjenigen einer Kontraktion eines universale auf ein individuum, vgl. De natura, 62. De natura, 49; ganz ähnlich auch 67. S. De natura, 67f. seinen Rekurs auf De medicina statica libri octo, Venedig 1615, die zweite, stark revidierte und weitverbreitete Edition der Erstausgabe Ars Sanctorii Sanctorii de Statica Medicina, sectionibus aphorismorum septem comprehensa, Venedig 1614. Santorio (1561–1636) war ab 1611 Professor für Medizin in Padua. Er belegte seine gefeierte Entdeckung der perspiratio insensibilis mit Hilfe von experimentell herbeigeführten Messungen und genoß im 17. Jahrhundert eine Renaissance im Lager der an quantitativ-exakter Wissenschaft orientierten Iatrophysik. Santorios Perspirationsbefund war atomistisch orientierten Medizintheoretikern offenbar ein willkommener empirischer Beleg ihrer Materieauffassung, vgl. unten das fünfte Kapitel, passim. Zu allgemeinen Angaben vgl. Grmek: Art. ›Santorio, Santorio‹; zur Einordnung in die medizingeschichtliche Tradition Paduas vgl. Premuda: La Medicina e l’organizzazione sanitaria, 135–139. De natura, 71. In den Pflanzen und tierischen Lebewesen bewirkt der calor insitus die ständige Verzehrung der eigenen Feuchtigkeit. Andere Beispiele sind das des Wasserfalls und der Flamme, deren Materie sich vollständig und mit großer Häufigkeit erneuert; vgl. De natura, 67. Zum Fluß der Materie auch 64, 70. Allgemein gilt, daß die abgestoßenen Kleinteile zwar eine neue suppositalitas übernehmen, nicht aber die große Masse, von der sie abgetrennt wurden. So bleibt die individuatio des Meeres unverändert, wenn man ihm einen Eimer Wasser entnimmt, vgl. ebd., 71. Vgl. De natura, 66: »Manifestum est materiam totam totamque naturam aquae in

131 mutationem suppositalitatis mutatio completae individuationis inseparabiliter comitatur, & permanet hac immutata.271

Substanzen oder ihre Teile können der Natur nach getrennt sein und dennoch durch die Kontinuität ihrer Materie eines der wesentlichen Erfordernisse des Individuum-Seins erfüllen. So »kommuniziert« (»communicatur«) ein in der Folge entzündlicher Prozesse funktionsloser, also in seiner Natur veränderter Körperteil nach wie vor mit dem tierischen Körper, und Exkremente schwimmen bis zu ihrer Ausscheidung im Blut, obwohl sie hinblicklich seiner Natur abgestorben (»defuncta«) sind.272 Die suppositalitas folgt nämlich dem »Grenzpfahl« der divisio und läßt das derart Eingefaßte abgetrennt stehen. Insofern ist die subsistentia modalis gleichbedeutend mit dem status divisus des suppositum. 273

3.2.6 natura energetica: Natur als Prinzip der Selbstbewegung Glisson vergleicht das Verhältnis der subsistentia fundamentalis, natura energetica und subsistentia modalis mit dem von Fundament, Wänden und Dach eines Gebäudes. Completa igitur substantia respectu harum partium haud inepte comparatur aedificio. Subsistentia essentialis fundamentum est; natura energetica parietes totamque structuram usibus destinatam dat; subsistentia modalis quasi tectum est, domumque superne claudit & complet.274

Die natura energetica erfüllt die Funktion, die Substanz hinsichtlich ihres Nutzens (usus) festzulegen, auf daß diese nicht frustra und inutilis sei.275

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unione duarum guttularum ejusdem praeexsistisse, & adhuc permanere; sed erat prius in duas guttulas divisa, nunc divisio cessat, unio succedit, & cum unione mutua entitatis communicatio, tum inter se, tum toti: quid & tota massa stat divisa ab omnibus aliis materiis, naturis aut suppositis.« Vgl. auch das Beispiel der gleichteiligen Mischung von Wasser und Wein, bei dem Natur und Suppositalität sich bei gleichbleibender Masse verändern: »Aequis portionibus aqua & vinum, aut alia diversa miscibilia, commisceantur. Materia tam aquae quam vini manet; natura utriusque infringitur & contemperatur; suppositalitas & individuatio mutantur. Verum proxima causa mutationis individuationis non referenda mutatae naturae, sed mutatae suppositalitati.« De natura, 64; ganz ähnlich auch 65 und öfter. Vgl. De natura, 72, ähnlich auch 433. Vgl. De natura, 54: »Quicquid enim naturae intra palum divisionis continetur, idque solum, confoederatur.« Zum Terminus der Konföderation vgl. den Abschnitt 4.5. Vgl. ferner die zusammenfassende Beschreibung der subsistentia modalis mit all ihren Bezeichnungen, De natura, 55: »Quatenus ergo potentiam naturae determinat, appellatur actus & forma metaphysica; quatenus modificat subsistentiam fundamentalem, subsistentia modalis; quatenus complet, complementum & terminus; quatenus fit occasione naturae stantis solae sive divisim ab omnibus aliis, status divisus; quatenus sibi soli confoederatur, confoederatio & communio totius determinata audit.« Vgl. auch die »integra descriptio suppositalitatis«, ebd. 76. De natura, 6f. Vgl. De natura, 23.

132 Die energetische Natur modifiziert die subsistentia fundamentalis, d.h. sie begründet die Disposition und Befähigung der naturierten Sache zu ihren Verrichtungen. Glisson bezeichnet sie daher im Rückgriff auf hermetische und stoische Vorstellungen als Naturanlage (indoles), als »Sitte« (mos) oder »treuen Dämon« (genius) der jeweiligen res naturata: Denotat [natura energetica, K.H.] enim indolem, morem & genium rei naturatae. Est ergo quasi qualitas essentialis, sive substantialiter qualificat, in quantum modificat subsistentiam fundamentalem, id est, disponit & coaptat ad suas operationes.276

»Naturam esse principium motus.« 277 – Vom derart eingeführten Begriff der energetischen Natur aus eröffnet sich Glissons große Diskussion der Selbstbewegung der Naturdinge. Mit der natura energetica nämlich besitzt die Substanz in genere ein Prinzip des Selbstantriebs; sie ist ihr »primum internum motus principium«.278 Wenn Glisson vom »Leben« der Substanz spricht, meint er nichts anderes als ihr inneliegendes Bewegungsprinzip, mithin die energetische Natur selbst. quicquid a se seu ab interno sui principio movetur, aut aliud movet, vitali natura praeditum esse praesumitur.279 vita non est motus, sed principium motus, nempe est natura substantiae in genere, quam definit Aristoteles esse principium motus & quietis.280 Profecto vita originalis est alicujus entis per se subsistentis natura energetica.281

»omnia propter operationes suas«282 – Dies ist eine der leitenden Einsichten Glissons. So ist das Vakuum zu negieren, da es ein Vakuum körperlicher Wirkmöglichkeit wäre.283 Wie selbstverständlich begreift er die

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De natura, 191; vgl. auch ebd. 124. Zur Dämonenlehre im Pythagoreismus und in der Älteren Akademie vgl. Detienne: La notion de daïmôn. Weber, der seine Commentatio de initiis ac progressibus doctrinae irritabilitatis mit der Medizintheorie der Ägypter beginnen läßt und diese natürlich aus jüngeren Texten rekonstruieren muß, zitiert aus Conrings De hermetica medicina die Aussage, daß »cuilibet [parti corporis, K.H.] certum deum vel daemonem praeesse, daemonibus his tam sanam quam morbosam partium constitutionem deberi« (8). Vgl. auch ebd. 9. Den Terminus indoles verwendet indes noch Haller, vgl. De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus, 428. De natura, 229. So beispielsweise De natura, 242 De natura, 358. Vgl. auch 225: »Quicquid nempe ab intus movetur, esse eatenus vitae particeps. Eo enim quod ponant primam differentiam inter viventia & non viventia, quod illa interno motus principio gaudeant, haec nullo; sequitur, quicquid interno principio motus praeditum est, esse sufficiens vitae principium.« Im Hintergrund ganz offensichtlich Platons zehntes Buch der Gesetze, 895c4–13. De natura, 238. Auf die Rekurse Glissons auf Physik II, 1, komme ich sogleich, 135, noch zu sprechen. De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3v. Vgl. auch ganz ähnlich 240, 241f. De natura, 332, ganz ähnlich 334, zitiert unten in Anm. 291. Vgl. De natura, 368: »Quod enim vacuo circumfunditur, nihil habet in quod agat: cumque omnia sint propter operationes suas, vacuo circumsepta in statum despicabilem & maxime fugiendum deducuntur; statum quippe frustrationis, inutilitatis, & privationis exercitii omnium suarum virium ad extra.«

133 operationes hier als die durch die Körper selbstinitiierten Verrichtungen. Die Schöpfung wäre geradezu unvollkommen, wenn nicht sämtliche Kreaturen aus sich heraus tätig wären. Gott – oder die an ihn begrifflich herangerückte providentielle Natur – würde einem Teil seiner Geschöpfe eine Perfektion vorenthalten, derer sie durchaus fähig wären, und wäre damit nicht länger der wohlwollende, neidlose Erbauer und Erhalter der Welt – für Glisson eine absurde Konsequenz.284 In dem Grad, in dem etwas ens ist, ist es unum, verum, bonum. 285 Das transcendentale der »Bonität« interpretiert Glisson als utilitas, diese als Eigentätigkeit. Non exististimandum est, tam nobilem entitatem qualis est ens per se subsistens, esse inutilem, & ad nullam operationem natam. Quare in sua entitate naturam energeticam a se non realiter distinctam involvit; quae principium operandi simpliciter primum (respectu causarum secundarum) est.286 Quorsum igitur munificentissimus Deus, qui omnia bona omnibus largitur, & nulli virtutem suae entitati proportionatam invidet, materialibus substantiis naturam energeticam suae radicali subsistentiae conformem denegaret?287

Den Begriff der operatio handelt Glisson dabei prinzipiell als einen Oberbegriff der verwandten Termini motus und actio. Eine operatio kann aktiv oder passiv, productio termini oder receptio termini sein.288 Genauer kennt Glisson fünf Arten von Operationen: actiones, passiones, cessationes, motus, quies, 289 die einen exakt umrissenen Platz in seiner versuchten Systematik der Natur haben.290 Gegen motus und actio grenzt Glisson die opera-

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Vgl. De natura, 334: »Veruntamen cum natura nulli supposito perfectionem cuius capax est invideat, dicendum videtur, ex hac sententia, non viventia esse virtutis perficiendi se, & consequenter se movendi, incapacia.« Zum Verständnis Gottes als natura naturans vgl. Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts, 403. Zu bestreiten, daß die natura substantialis und damit die Materie ein Leben habe, drückt für Glisson geradezu die Mißgunst der Menschen gegenüber der geringgeschätzten Materie aus, vgl. im durch viele Streichungen leider extrem unübersichtlichen Stück »De vita materiae, materiam vivere« die Passage: »verum si inviderint homines materiae [gestr.: vitam quia nolint illam perfectio ei ullam] perfectionem suae naturae congruam, quod praeindicata opinione seducti nolint ullum dignitatis gradum ei ascribi, iniurij sunt tum naturae substantiali tum benignitati dei qui liberaliter sua dona pro capacitate creaturarum dispensat nulli invidens.« (fol. 410r) Vgl. De natura, 222: »In ente in genere gradum entitatis gradus unitatis, veritatis & bonitatis aequo pede comitatur.« De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3v; vgl. auch 219: »Omne enim ens bonum est, non frustraneum, nec inutile […].«; ganz ähnlich auch 367. De natura, 219. Vgl. De natura, 251. Vgl. De natura, 251f.: »Operationes distinguuntur in quinque species; actiones, passiones, cessationes, motum, & quietem. […] operatio respectu efficientis causae audit actio; respectu recipientis, passio; respectu amotionis utriusque, cessatio; respectu innovationis, motus; respectu absentiae innovationis, quies.« Formelartig wiederholt sich ihre Aufzählung, vgl. etwa De natura, 23, 50, 158, 184, 194, 199, 257. In MSS Sloane 3312, fol. 77r finden wir den Entwurf für eine solche Systematik, in einem nicht betitelten Stück (Glisson ließ zum späteren Einsetzen des Titels großzügig Platz): »Res naturales sive physicae in quatuor genera, ordines sive classes

134 tio allerdings nicht durchgängig ab. Vor allem in der Bedeutung der actio immanens, in der die Substanz auf sich selbst einwirkt, meint »operatio« im Kern aktive Selbstbewegung, Suiperfektion, eben das, was er als Indizien der Vitalität umschreibt.291 Insofern sind die drei im Titel des Traktats erwähnten Vermögen des Perzipierens, Strebens, sich Bewegens die einzigen Unterarten des operari: »Omnis operatio est vel perceptio, vel appetitus, vel motus.«292 »Inanimata operari.« 293 — Speziell im Aristotelismus war den Unbeseelten das Vermögen der Selbstbewegung abgesprochen worden:294 »Viuere […] est esse animati.«295 Autoren wie Göckel oder Suárez wissen die Hoheitsgebiete der lebensspendenden Seele als forma corporis animati von denen der Natur als tote forma corporis inanimati wohl zu scheiden.296 Die inanimata werden per accidens bewegt, und zwar nicht aufgrund von Wissen und Streben, sondern durch ein gewisses pondus naturale und stets nur, wenn sie nicht an ihrem natürlichen Ort sind.297 Der appetitus der Fühllosen

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distribuantur, classis 1.a Substantiarum materialium sive corporum materiarum [sic!], et suppositorum seu subiectorum est. 2.a Modorum materiae absolutorum, Constitutionum, Naturarum, formarum, essentiarum. Includimus autem in hac classe non tantum essentias et formas proprie sic dictas sed et essentias et formas accidentales, modo absoluta accidentia fuerint. 3.a Facultatum, potentiarum aptitudinum, dispositionum inclinationum, capacitatum, virium, indifferentiae. 4.a Actionum passionum cessationum, motuum et quietis. nimirum exercitationum facultatum. […].« Vergleichbare Übersichten gibt Glisson in den Stücken »Primordia rerum«, fol. 98r–107r; »Summa capita rerum naturalium«, fol. 238r; »Quanquam scopus noster non est de substantia finita in genere tractare … [ohne Titel].«, fol. 357r. Vgl. De natura, 334: »Fateor, si dentur corpora quae nihil agunt, ea esse frustra, & vita naturae orba: sin nulla inveniantur quae plane quiescunt & otiosa sunt, nullis negatur vis perficiendi se, nullis negatur hoc genus vita.«; und auch beispielsweise De natura, 230: »Operari & movere propemodum idem sunt; praesertim si intelligas de operationibus transeuntibus. Actio enim transiens perpetuo motus aut nisum movendi (qui in lata vocis acceptione motus quidam est) insinuat: actio autem immanens certius transeunte vitae indicium est; ut sensus, appetitus sensitivus, intellectus, voluntas, perceptio naturalis, & appetitus naturalis. Ita ut posita in quocunque supposito naturali aliqua operatione, sive immanente sive transeunte, in eodem ponitur internum motus & vitae principium, saltem si de actione transeunte aeque constet ac de immanente. Quare ubi dixi, quod naturaliter operatur, perinde est respectu illationis principii vitalis ac si dixissem, quod naturaliter movetur.«; auch in 236, 248f. oder 335 beispielsweise werden operatio und motus wie Synonyme verwendet. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3v. De natura, 231. Aristoteles hatte sich zur Möglichkeit einer Selbstbewegung der Naturdinge widersprüchlich geäußert; vgl. Wilson: De Ipsa Natura, 151f. Goclenius: Lexicon Philosophicum, Lemma ›ACTUS‹, 46. Vgl. Aristoteles: De anima, 415b13f. Vgl. Goclenius: Lexicon Philosophicum, Lemma »ANIMA. Anima 1. est forma corporis animati. 2. est ipsa vita.« (103) Lemma »NATURA. Natura est […] Forma tantum corporis naturalis inanimati, ut cum natura opponitur animae, & ab ea distinguitur.« (739) Vgl. Suárez: De anima I, disp. 2, quaestio 2, 11: »Motus item animalis etiam est opus vitae; nec est simile de inanimatis, quia haec non moventur per cognitionem et appe-

135 (stirpes) und Unbeseelten wird nur uneigentlich »Streben« genannt.298 Ausgehend von diesem Theoriebefund beklagt Glisson das Fehlen eines Lebensbegriffes, der von der Voraussetzung der Seelenpräsenz absieht. Er führt den Terminus eines allen Körpern zukommenden »Lebens der Natur« ein: Anima enim vegetativa & sensitiva, quae formae physicae sunt, ob vitam qua corpus impertiunt animae cognominantur. Hinc communis fere Philosophorum opinio est, nullum corpus quod non anima aliqua informatur vivere. […] Adeo nullam vitam absque animae praesentia & vivificatione agnoverunt.299 Nos vero vitam naturae omnibus corporibus promiscue tribuimus […].300

Der Traktat über die energetische Natur tritt uns als Manifest des platonisch-stoischen Selbstbewegungsgedankens entgegen,301 den er – gegen die Aristoteliker, aber auch Platon selbst302 – gleichermaßen für die beseelten wie unbeseelten Körper formuliert. Wie die Seele im Fall der animata ist die natura energetica selbst hinsichtlich der inanimata tätige Natur. In solcher Lesart des Naturbegriffs beansprucht Glisson das aristotelische Diktum der Natur als »internum principium motus et quietis«303 ebenso wie die Naturdefinition des Suárez304; gleichzeitig sieht er seine Auffassung im Einklang mit der Wendung von der Natur als Heilerin der Krankheiten aus dem Corpus Hippocraticum und identifiziert die natura energetica schließlich mit dem archeus der »Chymici«. Recte itaque eatenus Suarius Disp. 34.s.7.n°.9. affirmat principium operationum esse essentiam (per essentiam intelligit naturam) rei vel per seipsam, vel per facultates quae ad ipsam consequuntur. Aristoteles quoque testatur naturam esse principium motus & quietis, & consequenter omnium plane operationum. Hippocrates etiam videtur idem confirmare, ubi asserit naturas esse morborum curatrices.305

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titum, sed per quoddam pondus naturale. […] animalia movent sese, etiam si sint in [perfecto] statu et in loco naturali suo; inanimata vero quasi per accidens moventur, reducendo se ab imperfecto ad perfectum statum. Ad quas differentias significandas solet dici quod inanimata non se movent, sed a generante.« (Castellote 160) So Goclenius im Lexicon Philosophicum, Lemma ›APPETITUS‹, 115. De natura, 239. De natura, 226. Zur Lehre der au)totele\j ai)/tion s. oben 2.3.3; vgl. ferner die einschlägige Bestimmung bei Diogenes Laertios VII, 148 (SVF II, 1132): »e)/sti de\ fu/sij e(/cij e)c au(th=j kinoume/nh kata\ spermatikou\j lo/gouj, a)potelou=sa/ te kai\ sune/xousa ta\ e)c au)th=j e)n w(risme/noij xro/noij kai\ toiau=ta drw=sa a)f’ oi(/wn a)pekri/qh.« Vgl. unten 4.3. Vgl. Physik II, 1, 192b8–23, zitiert oben 58, Anm. 160. Zur großen Bedeutung dieser Naturdefinition für die naturphilosophische Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts, 403f. S. oben das Zitat zu Anm. 152. De natura, 191. Vgl. auch 192, 231f., 256; Ad Lectorem, §18, fol. c4r der Rekurs auf die Chymici.

136 Ist die Natur aber energetisch und beginnt sie ihre Aktivitäten aus sich heraus, so können die Vulgäraxiome Omne quod movetur, movetur ab alio oder Nihil agere in seipsum wie auch die Bewegungsgesetze Descartes’ nur für den widernatürlich-gewaltsamen, von außen stoßenden motus Gültigkeit haben (motus violentus, motus mechanicus, pulsio).306 Den motus naturalis, immanens oder pure ab intus proveniens, um den Glisson die vier aristotelischen Bewegungsarten erweitert wissen will, betreffen sie nicht.307 Verus axiomatis sensus. Quid demum dicendum est de Axiomate Aristotelis, Quicquid movetur, movetur ab alio? Existimo restringi debere ad eum motum quo appetitus cujusvis corporis nonnihil infringitur seu cogitur. Aristoteles motum violentum ti nominat. Illustrissimus Vicecomes S Albani, in Novo suo Organo, motum oppositum motum libertatis vocat, & paulo post, motum mechanicum. […] Idem motus concrete […] sumptus recte appellari potest pulsio sive protrusio. Verum de quovis motu violento si Axioma intelligatur, verissimum est; Quicquid pulsione aut protrusione, seu quicquid violenter, movetur, movetur ab alio. Eodem quoque sensu vera sunt alia dicta supra recitata; Nihil agere in seipsum, hoc est, nihil sibimet ipsi vim inferre: Nihil pati a seipso; nempe, nihil perdere seipsum, aut sibi nocere: Nihil esse simul agens & patiens […]. Quare nihil prohibet quin idem ad se perficiendum aut ad sortem suam meliorandam se moveat […].308

Glisson unterscheidet diese Bewegungsarten indes ganz aristotelisch: Atque hinc operationes ab intus provenientes appellantur naturales, & secundum naturam: quaeque ab interno hoc principio dissentiunt, eive vim inferunt, vocantur violentae, & praeter naturam.309

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Sicherlich hat Glisson hier auch Hobbes als Adressaten vor Augen, vgl. De corpore II, 9, 7, English Works I, 124f.: »No cause of motion but in a body contiguous and moved.« Auf Hobbes’ De corpore rekurriert Glisson in anderem Zusammenhang (Konzeption des Punktes) De natura, 445. Zum Axiom vgl. Physik, VII, 1–2, ausdrücklich der Passus 241b34–37; VIII, 4–5, bes. 254b33–256a3; vgl. Effler: John Duns Scotus and the principle; Weisheipl: The Principle Omne quod movetur. Glisson legt insgesamt die Darstellung bei Suárez: DM 18, VII, 1–20 zugrunde. Der übliche Verweisort des Axioms – das auch etwa für die Substanztheorie Leibniz’ von Bedeutung ist, vgl. den Discours de métaphyique, §8 – ist Met. I, 1, 981a15–18, wo Aristoteles formuliert, daß die Erfahrung, Kunst des Allgemeinen, die Handlungen und Entstehungen »auf das Einzelne gehen.« (peri\ to\ kaq' e(/kasto/n ei)sin«; Übersetzung Bonitz.) Daraus macht Suárez: »ait actiones esse singularium, per singulare intelligens suppositum […].« Suárez und Glisson verstehen das Axiom interessanterweise in dem Sinne, daß die Verrichtungen von den Einzelseienden ausgehen, nicht in dem Sinne, daß sie sie zum Gegenstand haben. Eine genauere Untersuchung dieser Bedeutungsverschiebung im Rahmen des dynamisierten Natur- und Substanzbegriffs wäre sicherlich interessant. Suárez gesteht die Abweichung vom Urtext übrigens ein. Vgl. DM 34, II, 4; 34, III, 18; sowie die gesamte siebte Sektion. Vgl. De natura, 351f. De natura, 340f., als Schlußfolgerung der ausführlichen Diskussion 333–340. Vgl. auch 191, 227, 231. Es war in der Descartes-Kritik einschlägig, die genannten Axiome zu diskutieren, vgl. Schneider: Das mechanistische Denken, 298–305. De natura, 191. Vgl. Göckel: Lexicon Philosophicum, 744, Lemma ›NATURALE‹; Aristoteles: Physik, VIII, 4.

137 Die Einteilung der Operationen in natürliche, gewaltsame und gemischte, die Glisson an anderer Stelle vornimmt, bildet in Göckels Lexikon bezeichnenderweise die Kategorisierung der »actiones de animato corpore«.310 An der Physik Descartes’ kritisiert Glisson nicht nur den Trägheitssatz Quicquid quiescit, perpetuo quiescit; Quicquid movetur, perpetuo movetur. Auch die Behauptung der göttlichen Erhaltung der Bewegungsmenge im Universum führt er auf das aristotelische Axiom Omne quod movetur, movetur ab alio zurück.311 Beiden Aussagen liegt die Behauptung der Unmöglichkeit einer Spontanbewegung zugrunde. Und impliziert bereits die Festlegung, daß Fundamentalsubsistenz und energetische Natur conceptus inadaequati distincti ratione cum fundamento in re seien, eine Kritik an Descartes’ Realdistinktion von träger Materie und aktivem Geist,312 so stellt sich Glisson darüber hinaus ausdrücklich gegen die cartesische Reduktion des Bewegungsbegriffs auf den motus localis . 313 Mit seiner Descartes-Kritik setzt Glisson Harveys und seine eigene Abwehr von Descartes’ Auffassung des Herzmechanismus fort – ein weiterer Beleg dafür, wie entscheidend Glissons Naturtheorie von den anatomischen Errungenschaften seines Lehrers angeregt ist.314

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Vgl. Lexicon Philosophicum, 43, Lemma ›ACTIO‹; Glisson: De natura, 256; auch »Explicatio terminorum quorundam«, fol. 395r: »Motum naturalem voco eum qui provenit ab interno principio, violentum eum qui a vi externa infertur, casualem eum qui a principio interno sed laeso aut impedito provenit.« Vgl. De natura 191, 341; vgl. Descartes: Princ. Phil. II, 36, 37, AT VIII-1, 61f. Dazu, wie sich der Aufbau der Substanz aus Materie und Form zu dem aus Fundamentalsubsistenz und Energieprinzip verhält, vgl. unten 3.2.8. Zur Kontroverse um die cartesische Distinktion von res cogitans und res extensa vgl. Schneider: Das mechanistische Denken, 240–283. De natura, 191. Die motus immanentes sind die psychoïden Verrichtungen der Perzeption, Appetenz und Bewegung; vgl. 352: »Actio ergo latioris significationis est quam motus localis. Si autem motus in generalissimo sensu sumatur, ut omnem actionem materialem tam immanentem quam transeuntem, ipsumque adeo nisum movendi, complectatur; motus localis mihi videtur una tantum species latissimi hujus generis. Continet enim insuper omnes motus immanentes, ut motum percipiendi, appetendi, & nisum movendi activum, quatenus in agente; item motum generationis & corruptionis, augmentationis & diminutionis, necnon motum alterationis, praesertim si Aristoteli in hac re subscribendum sit. Ego vero dehinc in hac Disquisitione motum & quietem in extensa significatione accipio, ut quicquid non innovatur aut variatur, eousque quiescere dicatur; & quicquid quoquo modo variatur aut aliter se habet quam prius, dicatur eatenus moveri.« Vgl. »Sententia Cartesij de motu cordis non veritati consentanea«. Das Fazit lautet: (fol. 142v): »cordis et arteriarum vim pulsificam nihil plane ad hoc opus contribuere falsissimum est.« Glisson hat seine Auseinandersetzung in der für ihn typischen Weise zweigeteilt und schickt der zusammenhängenden Abhandlung eine notizhafte, streng syllogistisch strukturierte Vorform voraus. Wir wollen nicht die Gesamtargumentation verfolgen, daher zitiere ich nur einige entscheidende Zeilen, die den Zusammenhang zur Bewegungsdiskussion in De natura aufzeigen (fol. 138r): »vel rarefactio sanguinis est sola causa motus cordis vel datur etiam vis pulsifica in corde [quae effective concurrit ad motum suum] --- Si cor effective concurrit ad suum motum tum

138 Paradigma des motus ab intus der Unbeseelten ist die Bewegung des geworfenen Steins, allgemein die auf der Schwerkraft (gravitas) beruhende Fallbewegung der Körper. Suárez hatte sie dem generans zugerechnet, also Gott als der äußeren Wirk- oder Bewegungsursache,315 die dem Körper im Moment seiner Entstehung die Form der gravitas einprägt und somit als principium principale die Ursache seines Falls ist, wohingegen die intrinseca forma des fallenden Körpers lediglich das principium proximum sei.316 »[M]iserum refugium!« – geschieht die Fallbewegung doch aus Neigung der Natur: »ob naturae proclivitatem ad motus deorsum«. [Suárez, K.H.] Descensum gravium generanti, ut causae principali, ascribit; quasi gravitas non fundaretur in interno principio subjecti gravis, sed in solo generante externo.317

Für Glisson verliert das generans seine Funktion als Ursache sofort nach Hervorbringung der jeweiligen Wirkung: generans non est actu causa geniti, sed solum fuit causa; nec est actu causa proprietatum aut accidentium, sed fuit causa. […] Demonstrat [hoc arguentum, K.H.] enim generans non omnino esse actualem causam, nedum principalem, ullius operationis geniti, sed in prima tantum productione fuisse causam.318

Entsprechend agiert der hochgeworfene Stein aus einer propensitas ad descensum und aversio ascensus heraus, wenn er sich aufwärtsbewegend verlangsamt, abwärtsbewegend beschleunigt.319

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movet seipsum. nihil movet seipsum, nil agit in seipsum [idem ens agens et patiens movens et motum.] --- non per accidens sed per se. --- quod habet internum principium sui motus illud per se movetur, --- facultas est internum principium et activum --est intrinsecum principium, ingenitum non ab extra venit«. Glisson führt hier grundsätzlich die Einwände seines Lehrers Harvey weiter; vgl. Gilson: Études sur le role de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien, 95–100. Zum Hintergrund vgl. auch Bylebyl: Disputation and description in the renaissance pulse controversy. Zum Verhältnis der Lehre Harveys zum Cartesianismus vgl. French: Harvey in Holland. Obwohl Glisson sowohl natürliche wie auch nicht-natürliche (praeternaturales) Ursachen als Vulgärbedeutung von ›generans‹, ›agens‹, ›movens‹ verzeichnet (vgl. De natura, 163), versteht er selbst das generans stets als äußerliche Ursache und interpretiert Suárez entsprechend. Vgl. 18, VII, 23: »Dicendum est ergo, quotiescumque res inanimata tendit in suum locum naturalem, intrinsecam gravitatem vel levitatem esse principium efficiens proximum, non vero principale, illius motus.« Vgl. insgesamt 18, VII, 21–28. De natura, 227, 349, 229. De natura, 337. Das »argumentum« besteht genau in der Lehre, daß die Form, wenn sie Ursache der Fallbewegung ist, nicht actu vom generans abhängt, sondern stets von der Eduktions- und Sustentationsleistung der Materie. Zu diesem Gedankengang s.u. 3.2.8. De natura, 347: »Cum ergo praeter internam lapidis propensitatem ad descensum, & aversionem ascensus, alia causa haud facilis est inventu; mihi plusquam probabile est, hanc differentiam, qua lapis pronior est ad descensum quam ascensum, ab interno ejus principio provenire.« Glissons Ablehnung der Urheberschaft des generans erstreckt sich über die Passagen 335–339.

139 Im übrigen differenziert Glisson die Naturalbewegungen in einen erdrückenden Detailreichtum fünf verschiedener Klassen aus, der der gesammelten Vielfalt beobachtbarer Formeigenschaften (instantia) entspricht, die Bacon in seinen Tafeln sammelte.320 Den motus naturales sind jeweils bestimmte Formen zugeordnet, welche sie konservieren, als neue Formen hervorbringen oder, umgekehrt, von denen sie selbst hervorgehen. So ist etwa dem motus intenerationis die Form der mollities, dem motus rarefactionis die raritas korreliert.321 Die Physik im eigentlichen Sinne einer Theorie vom unbeseelten Körper, die im Traktat De natura neben der Substanzmetaphysik breiten Raum einnimmt,322 erscheint so als der Prospekt einer Historia motus, einer Naturgeschichte der Selbstbewegung in Verpflichtung gegenüber dem Baconschen Methodenideal.323 Die »vita quaedam«, an der alle Körper teilhaben,324 ist das Leben der Materie, an der sie ebenfalls alle teilhaben. Den Befund einer vita materiae glaubt Glisson nach langen Jahren des Zögerns, gegen die »veteres et neoterices propre omnes« aus den Bewegungen, Mischungen, Trennungen und Formationen der Materie herleiten zu können, die er mehr als 20 Jahre lang sorgfältig beobachtet und gesammelt hat. Respondeo revera veteres imo et neoterices prope omnes hoc solo fundamento seu potius indicio ductos, vitam spiritualem conditionem repletasse adeoque ne cogitationem quidem vitae materiae haectenus [sic!] suscepisse, meque ipsum tantorum philosophorum consensu authoritate et quasi veneratione devinctum diu haesisse nec ausum esse vel ad examen huius sententiae procedere: post viginte [sic!] et ultra annorum studia in philosophia, observatis et collectis undique subtilissimis varijsque materiae motibus secretionibus congregationibus mixturis, mutationibus, formationibus et similibus, me certo deprehendisse materiam cadaverosam qualem haectenus [sic!] finxerunt philosophi tantis phainomenis † ineptam et insufficientem praestare basin, meque postmodum coactum esse paulo sepius, et accuratius de vita materiae contemplari.325

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Aus der Kapitelüberschrift zum 25. Kapitel des Traktats: »Quinque Classes formarum & motuum ad inanimata spectantium proponuntur.« Die Übersicht über die Klassen 360–363. Die erste Klasse, um ein Beispiel zu geben, faßt die »Formas & motus quae circa dimensiones & posituram materiae exercentur, & schematismum proprie dictum constituunt.« zusammen. So zwei Beispiele der ersten und dritten Klasse, vgl. De natura, 361; 359: »quod omnes propemodum motus vel circa formas aliquas praeservandas versentur, vel ad novas formas tendant, vel a formis praeexsistentibus profluant; visum est in singulis Classibus ipsas quoque formas cuilibet motui relatas conjungere, ut raritatem & densitatem cum motu libertatis & motu condensationis ac rarefactionis, &c.« Sie erstreckt sich von 359–534. Schon in der Einleitung (1.2) verwies ich auf die Historienentwürfe, die sich in den Manuskripten Glissons erhalten haben. S. das Literaturverzeichnis am Ende. Vgl. De natura, 35: »Nos vero […] asserimus, omnia corpora se movere, & consequenter vitam quandam participare.« Vgl. »De vita materiae, materiam vivere«, hier fol. 410r.

140 »Agens pure naturale necessario agit« – Die Weise, wie die natura energetica ihr Werk angeht und vollführt, ist vitale. Darunter versteht Glisson, daß sie ihre Verrichtungen vermöge eines Fakultätentripels aus den facultates perceptiva, appetitiva und motiva verwirklicht.326 Veränderungsvorgänge in der Welt der Körper werden derart als Instantiierungen des psychoïden Inneren der involvierten Substanzen beschreibbar. Der Spontaneitäts- oder Selbstbestimmungsgedanke (sponte) ist dabei immanentistisch gefaßt und wird ebenso wie der Leibnizsche Begriff der Fensterlosigkeit der Monaden aus dem Freiheitsverständnis der Stoa entwickelt. Zwar agiert die Natur mit Notwendigkeit in den einzelnen Agentien, jedoch meint ›Notwendigkeit‹ hier keinen externen Zwang und bezeichnet vielmehr das innere Diktat der je natürlichen Anlage. Eine Verrichtung gilt hier insoweit als selbstbestimmt, als sie in der ausschließlichen Konfrontation mit dem eigenen Inneren erfolgt. Dices, naturam esse agens necessarium. Fateor; non tamen cogitur, nec ab extra determinatur. Aliud enim est, necessario agere, aliud, cogi, aut ab extra determinari. Agens pure naturale necessario agit, quod ejus facultas perceptiva objectum appetibile non sub ulla indifferentia eligibilitatis, sed ut directe appetendum, repraesentet. Quanquam igitur necessario movere dicitur, sponte tamen movet, & non aliunde cogitur aut determinatur […].327

3.2.7 Die biusia als natura in genere und die Univokation des Lebensbegriffs Der thomistischen Position zufolge sind Natur und suppositum in den aus Materie und Form zusammengesetzten Substanzen real unterschieden, da ihre Natur nur das umfaßt, was unter die Definition der Art fällt, wohingegen das suppositum auch die individuelle Materie und die Akzidenzien der Substanz einschließt. Die materiellen Formen subsistieren nicht unabhängig von der Materie. Die nicht aus Form und Materie zusammengesetzten Substanzen, so die Engel, haben jedoch keine individuierende Materie: ihre nur aus der jeweiligen Form bestehenden Naturen sind bereits subsistierende supposita, Natur und suppositum sind in ihnen nur ratione unterschieden. So ist Gott seine göttliche Natur selbst, Entsprechendes gilt für die Engel.328

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Vgl. oben das Zitat aus De natura, 191f., zu Anm. 227, wo Glisson sagt, die Namen der biusia und biarchia für die energetische Natur »non tantum naturam operativam denotant, sed & vitalem modum attingendi & producendi suum opus declarant: nempe substantias opus aggrediendum percipere, perceptum appetere, petitum obire.« De natura, 228. So die Referate bei Suárez: DM 34, III, 1 und 34, V, 42. Vgl. auch De ente et essentia, 4, Leonina 376: »Unde ille forme que sunt propinquissime primo principio sunt forme per se sine materia subsistentes, non enim forma secundum totum genus suum materia indiget, ut dictum est; et huiusmodi forme sunt intelligentie, et ideo non oportet ut

141 Glisson führt die schulische Teilung der Substanz in ein Subsistenz- und ein Operationsprinzip weiter und setzt bereits innerhalb der Natur eine subsistentielle neben einer energetischen Instanz an. Diese beiden Teile will er lediglich ratione cum fundamento in re unterschieden wissen; sie sind inadäquate Begriffe ein und derselben natura substantialis. 329 Diese Theorie ist jedoch – schulgetreu – zunächst nur für die immateriellen Substanzen, d.h. Gott,330 die Engel, Dämonen und rationalen Seelen, richtig, an denen wir zur distincta tractatio 331 Fundamentalsubsistenz und energetische Natur inadaequate unterscheiden: Quanquam nos, pro modulo intellectionis nostrae, distinguimus etiam in Angelis subsistentiam fundamentalem a natura energetica: in re tamen eadem substantia sunt, tantum diversimode considerata, in ordine ad esse per se, & in ordine ad operationes.332

In den vergänglichen, materiellen Dingen sind subsistentia fundamentalis und natura energetica durchaus realverschieden. Ihre reale Distinktion meint eben die von Materie und Form.333 Fateor animam rationalem tam subsistentiam fundamentalem quam naturam energeticam in sua entitate includere, & consequenter separatam a corpore exsistere posse: verum formam materialem totam ad partes naturae spectare, & fundamentali destitui subsistentia propria; nec separatim stare posse, quin in momento separationis perire.

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essentie vel quiditates harum substantiarum sint aliud quam ipsa forma. In hoc ergo differt essentia substantie composite et substantie simplicis, quod essentia substantie composite non est tantum forma sed complectitur formam et materiam, essentia autem substantie simplicis est forma tantum.« Suárez kommt hinsichtlich der Selbstsubsistenz der Engelnaturen zu einem anderen Schluß, denn: »In creatura vero natura non est per se essentialiter subsistens.« (34, II, 10) Er bezweifelt zudem, ob Thomas die These der selbstsubsistenten Engelnaturen tatsächlich vertreten hat. Vgl. 34, III, 7–17 und das Fazit in 34, III, 17: »Videtur ergo mihi D. Thomas reliquisse illo loco inchoatum discursum, […].« Auch Glisson weiß in seinem einzigen Rekurs auf die »distinctio naturae & suppositi in Angelis« des Thomas zu berichten, daß dieser »in aliis locis satis certo statuat naturam absque aliquo extra essentiam ejus realiter esse non posse, & sic suppositalitatem ut necessariam ad individuationem complendam etiam in Angelis requirat […].« (De natura, 69) S. 3.2.4. Gott und seine Göttlichkeit (Deitas) werden meiner Textkenntnis nach auffälligerweise nur an zwei Stellen in Beziehung gesetzt zur natura substantialis und subsistentia der Kreaturen, vgl. De natura, 8, 15. An keiner Stelle reiht Glisson sie ein in die aus den Engeln, Dämonen, Rationalseelen bestehenden Aufzählung. Vermutlich wollte er angesichts der Empfindlichkeit seiner Zeitgenossen für die kleinste Andeutung eines Atheismus den Eindruck einer allzu aufdringlichen Angleichung der Verhältnisse im Göttlichen und Kreatürlichen nicht riskieren. S. unten das Zitat in Fußnote 353. De natura, Ad Lectorem, §7, fol. b1r, Vgl. De natura, 4: »Subsistentia fundamentalis & natura energetica sunt substantiae principia quasi essentialia; subsistentia additionalis est modus substantialis eam essentiam complens. Illae, in rebus incorruptibilibus, sunt tantum inadaequati conceptus, & non realiter inter se differunt, sed tantum ratione cum fundamento in re; verum in rebus mutabilibus realiter distinguuntur, ut forma materialis & materia […].«

142 Forma ergo materialis non tantum ut inadaequatus conceptus, sed & realiter a subsistentia materiae fundamentali distinguitur […].334

Wie Glisson jedoch mehrfach betont, ist es sein Ziel, das Leben der Natur gerade für die res materiales zu dokumentieren,335 und dies kann nichts anderes heißen als: eine jede Natur in einer Weise als biusia, als untrennbare Einheit von Leben und Sein auszuweisen, in der Subsistenz- und Tätigkeitsprinzip nur conceptus inadaequati derselben Natur sind. Erst unter dieser Voraussetzung kann er die These einer selbstbewegten Substanz in genere, einer Gleichursprünglichkeit von Substantialität und Vitalität für Körper wie für Geister vertreten: »Quod vero subsistit, a fortiore operatur«.336 Es muß ihm also prinzipiell darum gehen, das Verhältnis, in dem bei Thomas die Natur und Subsistenz der Geister zueinander stehen, auf die Natur und Fundamentalsubsistenz der materiellen Substanzen zu übertragen. Die Absicht eines solchen Transfers läßt sich an mehreren Stellen des Traktats nachweisen. Immer wieder blickt Glisson auf die immateriellen Entitäten und sucht die Verhältnisse im Materiellen nach ihrem Paradigma, wenn auch mutatis mutandis, auszulegen.337 Als das Unternehmen einer plumpen Spiritualisierung der physischen Welt wäre Glissons Projekt

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De natura, 11f.; vgl. auch 4, 189f. und auch 18: »distinguendam esse naturam substantialem eam quae in perpetuis, ab ea quae in rebus caducis deprehenditur. Haec enim realem compositionem admittit, illa minime. Natura equi componitur ex natura materiae & natura formae equi: & haec naturae totius pars ab illa realiter differt; haec destrui potest illa manente: ut in generatione & corruptione corporum quotidie cernitur. […] Verum in naturis perpetuis […] natura simplex est, neque subsistentia fundamentalis a natura energetica realiter aut ex parte rei discriminatur. […] Etsi enim hae perpetuae naturae non componuntur ex partibus ex natura rei diversis, recte tamen dividuntur in inadaequatos conceptus ratione cum fundamento in re distinctos.« Vgl. De natura, 187: »Quamvis igitur perceptionem naturalem substantiis in genere assero; praecipuus tamen scopus est, hoc in rebus materialibus manifestare & probare.« Vgl. auch die Abgrenzungsgesten gegenüber den Peripatetici, die nur den pflanzlichen und tierischen Lebewesen Leben zugestehen, De natura, 226: »Nos vero vitam naturae omnibus corporibus promiscue tribuimus […]«; 335: »Nos vero contra asserimus, omnia corpora se movere, & consequenter vitam quandam participare.« De natura, 90. Etwa De natura, 193, wo Glisson über die drei ersten Lebensvermögen sagt: »Sunt enim perpetuae, & naturae substantiali coaevae. De spiritibus res aperta est, de quibus, an nimirum sine perceptione subsistere nequeant, nemo hactenus dubitavit. De materialibus infra probabitur.«; oder etwa ebd., 223: »De spiritibus quidem non multum laboro, quod, qui eos agnoscunt, ad unum omnes iisdem internum vitae principium ultro largiantur: Verum de corporibus ambigitur.«; auch 217: »Dico igitur omnes substantias proprie sic dictas, hoc est, per se sive suo marte subsistentes, esse natura quadam vitali […] praeditas. De substantiis spiritualibus dubium non est. […] Cardo itaque controversiae in hoc vertitur, An substantiae materiales vitali natura sint imbutae.«; schließlich auch 186: »natura haec, quam paro enodare, haud multum difficultatis respectu substantiarum spiritualium (quibus omnes uno ore non solum perceptionem, sed & intellectum, adscribunt,) prae se fert: at vero respectu rerum materialium res ardua & perplexa est.«

143 allerdings falsch erfaßt. Es geht ihm vielmehr darum, den Lebens- oder Selbstbewegungsbegriff als genus univocum gegenüber seinen immateriellen und materiellen Instantiierungen einzuführen. So wie ›Substanz‹ ein genus univocum gegenüber ›spiritus‹ und ›corpus‹ ist, so ist ›Leben‹ ein genus univocum hinsichtlich ›vita materialis‹ und ›vita immaterialis‹, obwohl man an der Verschiedenartigkeit beider festhalten muß – dies soll der Traktat in all seinen intrikaten Verästelungen erweisen.338 Wir werfen zunächst einen Blick auf die Analogie und Univokation der Substanz nach Glisson. Die Substanz kann transcendentaliter oder praedicamentaliter genommen werden und stellt im ersten Fall ein genus analogum, im zweiten Fall ein genus univocum dar. Die substantia transcendentalis ist eine solche dadurch, daß sie in keinem Zugrundeliegenden ist, wie Glisson aus Suárez zitiert.339 Die prädikamentale Substanz bildet die allgemeinste Gattung in der Kategorie der Substanz (supremum genus in praedicamento Substantiae), ist aber zugleich die erste Spezie der Substanz gemäß ihrer transzendental-analogen Auffassung (prima species analogata). 340 Die zweite analogate Spezie besteht in den rudimenta substantialia, den für sich genommen unvollständigen Teilprinzipien der vollständigen Substanz, d.h. subsistentia fundamentalis, natura energetica und subsistentia modalis. Offensichtlich bildet Glisson seine Klassifizierung des Substanzbegriffs in einen transzendentalen und prädikamentalen Bedeutungsumfang der Unterscheidung von vollständiger und unvollständiger Substanz nach, wie Suárez sie in der 33. Disputation vorgenommen hatte.341 Die Notwendigkeit einer neben die prädikamentale Auffassung tretenden transzendentalen Verstehensweise des Substanzbegriffs leitet Glisson daraus ab, daß ein Begriff des »substantiale« gefunden werden muß, der in analoger Prädikation sowohl auf die vollständige Substanz als auch auf die sie konstituierenden Teile zutrifft und eine Gleichbezeichnung (cogno-

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Vgl. De natura, Ad Lectorem, §7, fol. b1r: »Profecto ut substantia est genus univocum respectu spiritus & corporis; ita vita quoque videtur genus univocum respectu vitae materialis & immaterialis.« Vgl. auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 35: »Quod spiritus et corpus conveniunt in communi genere univoco, nimirum in substantia. […] Porro generalis perceptio haec convenit substantiae, qua substantiae, et consequenter omni substantiae: est adeo tum corporibus tum spiritibus communis.« Vgl. De natura, 1f.: »Communis ratio substantiae transcendentalis vix positive explicari potest, sed negative haud difficulter. Secundum Suarium ex Aristotele sic exponitur, Disp. 33. Sect. 2. n°. 1. Commune est omni substantiae in subjecto non esse.« Vgl. De natura, 1: »Substantia in genere vox ambigua est, […] dupliciter in Metaphysica accipitur, transcendentaliter, & praedicamentaliter. Si transcendentaliter, est genus analogum: sin [sic!] praedicamentaliter, est genus univocum. Illa hanc includit ut suam primam speciem analogatam: haec in sua latitudine non includit illam, nec de omnibus ejus speciebus dicitur. Illa abstrahit a substantia completa & incompleta analogice, & rationem utrisque communem denotat: haec quoque abstrahit a completa & incompleta, sed univoce, & est supremum genus in praedicamento Substantiae.« Vgl. DM 33, I, 5.

144 men) ermöglicht. Denn auch wenn die Teile der Substanz selbst nicht Substanzen sind, so sind sie doch auch keine Akzidenzien. So kann die materielle Form im transzendentalen Sinn als ›substantiell‹ bezeichnet werden, obwohl sie dem prädikamentalen Verständnis zufolge keine Substanz darstellt.342 Der univok prädizierte Begriff der substantia praedicamentalis bezeichnet die Substanz im eigentlichen Sinne (substantia proprie dicta), 343 d.h. die aus Natur und Subsistenz zusammengesetzte und insoweit vollständige Substanz.344 In dieser Auffassung ist die Substanz identisch mit der natura substantialis; beide fallen in der Bestimmung einer »entitas per se subsistens suaque natura energetica impraegnata« zusammen.345 Die natura

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Vgl. unten das Zitat in Anm. 422, De natura 124, wo Glisson sagt, daß die Form »improprie & transcendenter« Substanz genannt werden könne, und De natura, 2: »subsistentia & natura sunt partes ex quibus substantiae completae componuntur. […] partes hasce a Metaphysicis substantiales nominari, & certissimum est non esse mera accidentia. Quocirca latior substantiae acceptio datur, quam est ea quae constituit genus in praedicamento Substantiae: nimirum oportet sit tale genus quod omnia rudimenta substantialia in sua latitudine complectatur, & de iis omnibus praedicetur. Verum Substantia quae est genus praedicamenti neque praedicatur de subsistentia, neque de forma substantiali, nempe materiali. Non de subsistentia, quia haec minus continet quam substantia. Non enim continet energeticam naturam substantialem. Similiter non de forma materiali, quia haec non includit radicalem subsistentiam. Si ergo subsistentia & forma materialis cognominandae sint substantiales, necesse est latiorem acceptionem vocis substantiae inveniamus, sub qua ista rudimenta substantiae comprehendantur.«; und weiter, 4: »Si […] detur acceptio substantiae latior genere generalissimo in praedicamento, necesse est sit transcendentalis. Eo ipso vero quod ista latior acceptio transcendit generalissimum genus in praedicamento substantiae, sequitur esse genus analogicum, quod substantia ipsa sit supremum genus univocum. Quapropter cum substantia recte dividatur in genus praedicamenti & ejus rudimenta ex natura rei distincta, patet esse genus analogum. Nam rudimenta substantiae non eodem plane modo substantiae sunt quo est id quod ex iis componitur. Constat itaque substantiam analogice de substantia composita & rudimentis ejusdem praedicari. Quando igitur forma materialis vocatur substantia, non intelligitur de ea in strictiore sensu, sed in latiore; quo nimirum substantia dicitur quicquid non est accidens. […] Hoc ergo sensu dividitur substantia in rudimenta substantialia, & substantiam completam ex iis conflatam. Haec prima species analogata est, & supremum genus in praedicamento substantiae constituit: illa nempe rudimenta alteram speciem conficiunt, & tria sunt, subsistentia fundamentalis, natura energetica, & subsistentia additionalis.« De natura, 128: »substantia distinguenda est. Vel enim sumitur late seu transcendenter, vel stricte & praedicamentaliter. Priore modo omnia rudimenta substantiarum vocantur substantialia, quod ad complementum substantiae faciant. Posteriori, ea sola quae suo marte subsistunt substantiae audiunt. Haec posterior significatio proprie dictam substantiam denotat.« Vgl. De natura, 3: »Quanquam igitur Substantia praedicamentalis in genere sit completa respectu compositionis ex subsistentia & natura; potest tamen abstrahere a completa & incompleta, quatenus sub se continet substantias alio respectu partiales.« Materie und Rationalseele verfügen zwar über eine Natur und eine eigene Subsistenz, sind jedoch als reines Materie- bzw. Formprinzip unvollständig, ebd. Vgl. De natura, 23, wo Glisson substantia und natura substantialis synonym verwendet: »Substantiam esse ens per se subsistens. […] Est […] entitas quae coaptatur ad

145 oder subsistentia fundamentalis ist der erste und ursprüngliche inadäquate Begriff der Substanz oder Substantialnatur, womit beide voneinander prädizierbar sind.346 Nur die univok gefaßte Substantialnatur subsistiert für sich, nicht aber die im transzendentalen Verständnis ja ebenfalls substantiale subsistentia modalis. 347 Es ist nun genau die Univokation des prädikamentalen Substanzbegriffs, die Glisson bereits im Vorwort der Abhandlung als Univokation des Lebensbegriffs reformuliert. Die vita spiritualis ist die Substanz selbst der Sache, deren vita sie ist.348 Glisson vertraut hier auf die unmittelbare Einsichtigkeit der Einheit von Substanz-Sein und Leben in den Intelligenzen: »Quis enim concipere potest Angelum mortuum?« Zusammen nur können Leben und Substanz der Geister annihiliert werden.349 Wäre nun die vita materialis nicht substantiell, so wäre die Prädikation des Lebens über vita immaterialis und vita materialis gewiß nicht univok.350 Tatsächlich sucht Glisson im weiteren zu beweisen, daß die vita primaeva der Materie nicht Akzidens, sondern Substanz,351 nicht abgeleitet, sondern ursprünglich ist, daß die Materie dem Leben unvermittelt zugrunde liegt und aus sich heraus lebt.352

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aliquas actiones, passiones, cessationes, motum vel quietem. Atque adeo habemus jam naturam substantialem spectabilem, entitatem quippe fundamentalem, firmam & stabilem, hoc est, per se subsistentem, suaque natura energetica impraegnatam.« Die Subsistenz und Natur, aus der sich die prädikamentale Substanz zusammensetzt (Anm. 344), sind also die Fundamentalsubsistenz und die natura energetica. Vgl. De natura, 234: »Natura enim fundamentalis substantiae a natura energetica, quae ipsa vita radicalis est, sola ratione differt. Etsi ergo oblique tantum praedicatur de substantia, aut substantia de ea, non tamen est accidens, sed fundamentalis pars, seu primus & radicalis inadaequatus conceptus substantiae.« Vgl. De natura, 12f., oben im Text zu Anm. 251 zitiert, sowie das Zitat in Anm. 343. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §7, fol. a4v–b1r: »Facile deprehendo vitam spirituum esse substantialem, nempe, esse ipsam substantiam spiritus, consideratam in ordine ad operationes. […] vita spiritualis videtur ipsa substantia rei cujus est.« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §7, fol. a4v–b1r: »Quanquam enim haec vita Divina potentia quoad operationes suspendi potest: penitus tamen submoveri, ita ut spiritus maneat mortuus, nequit. Nam si spiritus vita privetur, ipsa ejus substantia una annihilatur. Quis enim concipere potest Angelum mortuum? Quare vita Angeli est ipsa essentia ejus energetica.« Ganz ähnlich ebd., 237. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §7, fol. b1r: »Quocirca vita spiritualis videtur ipsa substantia rei cujus est. An vero vita materialis sit similiter substantia, dubitari potest. […] Verum si vita spiritualis sit ipsa substantia rei cujus est, & vita materialis non sit substantia, certe praedicatio non est univoca.« Vgl. De natura, 246: »vitam primaevam non esse accidens, non facultatem aut vires vitales, non motum aut actionem, non terminum motus, non formam physicam; imo nec esse substantiam, prout ea concrete sumitur: esse tamen substantiam, prout eadem abstracte & inadaequate accipitur; scilicet, esse entitatem per se subsistentem, sed consideratam in ordine ad operationes; hoc est, esse naturam substantiae energeticam, & internum motus seu operationis principium.« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §8, fol. b1v: »materia est ultimum seu primum materialis vitae subjectum. […] eo ipso constat, materiam vitae radicem in se continere.«

146 Soweit hat Glisson sein Programm der Univokation des Lebensbegriffs schon im Auftakt des Traktats festgeschrieben. Die konkrete Ausführung besteht darin, die biusia als natura communis aller, der ewigen und immateriellen wie auch der vergänglichen und materiellen Substanzen auszurufen. Der strategische Streich Glissons liegt darin, die erste Materie in den Kreis der unvergänglichen und selbsttätigen Substanzen aufzunehmen, deren energetische Natur und fundamentale Subsistenz lediglich ratione cum fundamento in re voneinander unterschieden sind: Natura substantialis, ut dixi, distinguitur in fundamentalem, & energeticam: membra vero dividentia in substantia in genere neque realiter, neque ex parte rei, sed tantum ratione cum fundamento in re, differunt. Etenim substantia in genere, praeter compositionem ex subsistentia fundamentali & modali, simplex est, hoc est, non componitur ex partibus sive realiter sive ex natura re distinctis. Hoc evidentissime innotescit ex naturis spirituum, ut Angelorum, quae, juxta communem Metaphysicorum sententiam, naturae simplices sunt, neque ullam compositionem praeter eam rationis admittunt. Similiter, materia prima simplex substantia est. Etenim perpetua est: si autem ejus natura esset composita, saltem ex separatione partium componentium esset corruptibilis.353

Die Beständigkeit, die die Materie mit den Geistern gemein hat, ist nichts anderes als ihre Selbstsubsistenz, die sie nur durch Schöpfung und Vernichtung generierbar und auslöschbar macht.354 Glisson interpretiert die perpetuitas zugleich als ein Streben nach Selbsterhaltung, als Widerstand gegenüber jeder Bedrohung. Die Fundamentalsubsistenz ist damit ein Resistenzprinzip. Siquidem non tantum materia prima, sed & Angeli, Daemones & Anima rationalis annihilationi per suam fundamentalem subsistentiam per se perpetuo reluctantur, & propterea a nulla creatura annihilari queunt. Habent enim hoc ex eo quod sint substantiae per se subsistentes.355

Die erste Materie ist das »subjectum immutatum & permanens in omni mutatione«356 und kann deshalb nur von einfacher Natur sein. Eine Realdivision ist somit ausgeschlossen.357 Die materia prima ist einheitlich sowohl die natura fundamentalis als auch das ultimum principium energeticum der körperlichen Substanz.358 Wird die erste Materie nun aber derart

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De natura, 187. Hervorhebung durch mich. Vgl. auch ebd., 11: »Dico igitur in substantiis perpetuis, ut in Angelis, in anima rationali separata, ut & in materia prima, non opus esse ut subsistentia fundamentalis & natura energetica sive realiter sive ex natura rei inter se distinguantur. Sufficit enim ad distinctam tractationem, si ratione cum fundamento in re discriminentur.« oder auch 18: »Verum in naturis perpetuis quales sunt Angelorum, animae rationales, & materiae primae […] natura simplex est, neque subsistentia fundamentalis a natura energetica realiter aut ex parte rei discriminatur.« Vgl. oben 104. De natura, 352. De natura, 87 Vgl. De natura, 187f., 190. Die Unterscheidung des energetischen Prinzips in ein principium proximum und ein principium ultimum ist deckungsgleich mit der von Form und Materie, vgl. De natu-

147 konzipiert, so ist es möglich – dies jedenfalls scheint Glisson anzunehmen –, die unvermittelte Einheit von Sein und Leben im Umweg für alle Körper einzuholen, denn ihnen allen ist in der ersten Materie eine einfache und ewige Natur (»natura simplex et perpetua«) nach Art der biusia gemein, die der Intellekt als natura viva in genere von den inferiora abstrahieren kann.359 Glisson ist sich völlig darüber im klaren, daß es nicht trivial ist zu erklären, in welcher Weise die materia prima den Körpern diese Einheit von Substantialität und Vitalität spendet. Die Argumentation verläuft folgendermaßen: Die Natur der Substanz ist als genus generalissimum einfach. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Natur der Substanz als allgemeinste Gattung also zusammengesetzt, könnte sie von keiner Substanz mit einfacher Natur ausgesagt werden. Mit der ersten Materie aber ist bereits ein Gegenbeispiel gegeben.360 Als erster Begriff (conceptus primus) ist »Substanz« jenseits aller Zusammensetzung oder Einfachheit, wird sie doch gleichermaßen von (zusammengesetztem) Körper und (einfachem) Geist ausgesagt.361 »Substanz« bezieht die Einfachheit also nicht direkt aus den Objekten, von denen sie als Begriff abstrahiert wird. Wenn man sich jedoch besinnt, »qualis is sit«, stellt man fest, daß doch ein conceptus simplex vorliegt, so Glisson, nämlich der Begriff einer »entitas per se subsistens

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ra, 189f.: »Natura itaque sive principium energeticum in proximum & ultimum dividitur. Proximum, in substantiis perpetuis, non differt nisi ratione a natura fundamentali; at in substantiis mutabilibus omnino differt realiter. Ultimum vero principium energeticum nunquam differt realiter a suo fundamento. […] Probatur ex formis materialibus, quae solae sunt principia tum proxima, tum corruptibilia. […] in corporibus natura materiae primae (quae ultimum principium est) simplex [est, K.H.] […].« Glisson macht von dieser Terminologie ein weiteres Mal auf 243 Gebrauch, wo er die Form als »principium intermedium, seu forte propinquum, aut etiam proximum; nequaquam ultimum, seu primum« tituliert. Vgl. De natura, 190: »Hoc superiore paragrapho probatur, quod in spiritibus naturae simplices sint, & in corporibus natura materiae primae (quae ultimum principium est) simplex quoque sit. Ultimum ergo principium energeticum est simplex, & distinguitur tantum in inadaequatos conceptus sola ratione distinctos. Cum ergo in omnibus substantiis detur communis quaedam natura simplex & perpetua, quae ab intellectu abstrahi queat; aequum est qui de hac natura in genere dicturus sit, missis inferioribus, de ea in communi ut de re simplici tractet.« Vgl. auch ebd., 247: »natura substantiae in genere est viva«; und etwa 240: »natura […] substantiae in genere, […] quatenus energetica, est ipsa vita primaeva cujusvis substantiae.«; ganz ähnlich 192. Vgl. De natura, 187f.: »Similiter, materia prima simplex substantia est. […] Jam vero, si ulla species substantiae simplex sit, certissimum est ipsum genus esse simplex. Genus enim non in se plus complectitur quam in alterutra ejus specie continetur. Si igitur substantiae natura esset composita, non recte praedicaretur de ulla substantia cuius natura foret simplex: ut Logicis notum est. Cum ergo dentur naturae substantiarum simplices, sequitur naturam generis earum neque ex partibus realiter neque ex parte rei distinctis compositam esse.« Vgl. De natura, 189: »conceptus primus, qui praedicatur de spiritu & corpore, abstrahit a simplici & composito, & est indifferens seu potentialis ad utrumque.«

148 natura energetica praedita«362; »reflexe« findet der Intellekt einen einfachen Begriff vor.363 Insbesondere gilt dann für die Substanz in genere, daß ihre Natur nur inadäquat, nicht aber real oder ex parte rei aus subsistentia fundamentalis und natura energetica zusammengesetzt ist.364 Dieser Begriff der selbstsubsistenten und zugleich energetischen Entität steigt dann hinab (descendit), erstens zum Geist, und zwar ohne jegliche Vermittlung, zweitens zum Körper, und dies in Vermittlung der selbstsubsistenten, einfachen und unvergänglichen ersten Materie sowie der unselbständigen und vergänglichen Form.365 Offenbar geht Glisson davon aus, daß die Verschiedenartigkeit dieses »Abstiegs« die Univokation des Substanz- und Lebensbegriffs nicht stört, kommt es bei ihr doch auf die Unvermitteltheit und Selbstursächlichkeit der Subsistenz und der Operationalität an. Wie »nah« Glisson Geist und Materie in dieser Univokation der biusia bewußt aneinanderrückt, sei zusätzlich an einem Gedankengang aus Glissons Diskussion der Masse (moles) aufgezeigt, im Vorgriff auf spätere Ausführungen.366 Wir können nur einen einzigen Wesensunterschied zwischen spiritus und materia veranschlagen – so schreibt Glisson, und die bagatellisierende Geste wird zum wichtigsten Bedeutungsträger der Aussage –, nämlich den, daß die Materie mit Masse ausgestattet sei, der Geist hingegen nicht: Materia exsistit; similiter & spiritus: illa subsistit; hic pariter: illa natura energetica gaudet; hic itidem […]. Quaerimus ergo adhuc essentialem differentiam inter materiam & spiritum: sed nulla apparet, donec recurramus ad molem substantialem.367

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Vgl. das Zitat in Anm. 365. Vgl. De natura, 189: »etsi non directe talem communem rationem ab inferioribus abstrahat, intellectus tamen conceptum (utcunque a compositis desumptum) deprehendit esse in se simplicem. […] cum super hunc conceptum abstractum alio reflectamus, & qualis is sit cogitemus, facile reperimus non esse in se conceptum compositum, sed simplicem. […] Quamvis igitur substantia in genere a spiritu simplici & corpore composito communem conceptum abstrahit; hic tamen reflexe consideratus deprehenditur esse in se simplex.« Vgl. De natura, 188: »Insuper, ne cui offendiculo sit, nos hic & alibi distinguere naturam substantialem in fundamentalem, & energeticam, sciat eas partes esse tantum inadaequatos conceptus ejusdem rei ratione sola cum fundamento in re distinctos.« Vgl. De natura, 189: »Conceptus quem substantia a spiritu & corpore abstrahit est entitas per se subsistens natura energetica praedita: quae descendit ad spiritum absque ullius partis mediatione; verum ad corpus, mediante materia, quae per se subsistit, & simplex est atque perpetua; necnon mediante forma materiali, quae neque est ens per se subsistens, neque perpetua […].« Dazu mehr im fünften Kapitel. De natura, 98.

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3.2.8 »materia dat esse formae«: Glissons Programm der selbstgenügsamen Natur Suárez spricht der Materie im Anschluß an die Skotisten eine eigene, von der Form unabhängige aktuale Entität zu und fordert, ihr Vermögen, geformt zu werden, als ihren Akt zu begreifen.368 Der actus entitativus ist zugleich ein actus subsistentiae partialis. Denn als erstes Subjekt, das alles andere stützt (substare), muß die Materie vorgängig erst einmal per se subsistieren, wenn auch nur in der ihr angemessenen Unvollständigkeit.369 Diese eigene, partielle Subsistenz »resultiert« (resultare) aus der Materie selbst, und Suárez redet gar von einer »Art der Aktivität« (genus activitatis), die der Materie deswegen zuzusprechen sei.370 Gegen thomistische Autoren, denenzufolge erst die Form der Materie jegliche Aktualität gibt (»forma dat esse materiae«), erklärt er, daß die Form von der Materie als von einer echten Ursache (propria causa) abhänge, die Materie indes von der Form lediglich als von einem notwendigen Begleitumstand (conditio necessaria oder concomitans), ohne den sie nicht »natürlicherweise« existieren kann.371 Die Form gibt der Materie nur das Maß an Aktualität, das diese nicht von ihr selbst her hat, nämlich ein formspezifisches, temporäres esse existentiae. 372 Gegenüber der zusammengesetzten Einzelsubstanz ist die Form allerdings sehr wohl der vorrangige Spender des Seins.373 Die Materie ist Suárez zufolge essentialiter eine unvollständige Entität, insbesondere ist sie kein Körper.374 Als Potenz hat sie ein »transzendentes

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Vgl. oben den Abschnitt 3.2.2. Vgl. DM 13, V, 9: »Praeterea habet materia actum existentiae proprium, […]. Tandem habet actum subsistentiae partialem et proportionatum; illo enim omnino indiget, ut possit esse primum subjectum; primum enim subjectum substat omnibus; prius autem est in se subsistere quam substare aliis.« Vgl. auch 13, V, 14–15. Vgl. DM 34, VI, 16; aber auch 34, VI, 8. Vgl. DM 15, VIII, 2; DM 15, VIII, 9–13; 13, IV, 14: »materia quamvis propriam existentiam habeat, illa tamen adeo imperfecta est, ut sine formae adminiculo, naturaliter esse non possit; et haec vocatur in praesenti dependentia materiae a forma.« Vgl. auch 13, VIII, 8, wo Suárez die Form als actus connaturalis der Materie bezeichnet, sowie als dispositio und conditio necessaria, um die Meinung einzuschränken, daß die Materie ursächlich von der Form abhängt. Vgl. DM 15, VIII, 17: »Recte etiam intelligitur quomodo vicissim pendeat forma a materia, et materia a forma; una enim dicetur pendere a priori, et altera a posteriori; una tanquam a vera causa, et alia ut a conditione concomitante.« Zur gegenseitigen Abhängigkeit von Form und Materie vgl. etwa auch 15, VIII, 18 und 20–21; desweiteren beispielsweise 13, IV, 14; 13, VIII, 8; 13, IX, 7–9; 15, IV, 3; 15, VIII, 9–13, überhaupt die gesamte achte Sektion der 15. Disputation. Vgl. DM 13, V, 17; DM 15, VIII, 2 und 7. Vgl. DM 18, II, 3: »cum forma sit principalis actus suppositi, et quae illi principaliter dat esse, illa etiam esse debet principale principium operandi, cum operatio sequatur esse.« Vgl. auch 15, VII, 2. Vgl. DM 13, IV, 9. Dies war die Meinung des Avicenna, dem, wie Suárez sagt, »multi

150 Verhältnis« (habitudo transcendentalis) ihrem Akt gegenüber,375 und dieser Akt ist eine beliebige Substantialform (quaecunque forma generalis), 376 die, für sich genommen ebenfalls unvollständig, mit der Materie zusammen die Essenz der zusammengesetzten Substanz konstituiert. Wenn Suárez schreibt, die Form sei Substanz, so legt er ausdrücklich den weiten, »generischen« (in loco generis) Substanzbegriff des Aristoteles zugrunde, der durch Materie, Form oder compositum instantiiert werden kann.377 Forma est substantia quaedam simplex et incompleta, quae ut actus materiae cum ea constituit essentiam substantiae compositae.378

Die Überzeugung, daß die erste Materie aktual ist, beruht auf der Annahme, daß sie geschaffen sei, und am Ende des Schaffensaktes, so Suárez und die Konimbrizenser, steht stets eine aktuale, existente, metaphysisch »gute« Seiendheit.379 Hinter diesem Aufwertungsanliegen liegt eine weitere Einsicht: wäre die Materie nichts, so könnte man die Genese der Formen nicht anders als durch göttlichen Eingriff erklären; jede Form wäre damit kreiert. Dies führte in die Vorstellung einer Natur, die in nichts sich selbst genügen würde380 – ein okkasionalistisches Schreckensszenario,381 vor dem Suárez zurückweicht: unter dem Anspruch der Philosophie sollte der Rekurs auf Gott als causa prima möglichst ausbleiben; wo immer es möglich ist, einen Vorgang auf das Wirken natürlicher Agentien als Zweitursachen zurückzuführen, hat eben dies zu geschehen. Die wohlermessene Einrichtung (recta dispositio) des Universums ist Garant dafür, daß das, was im Vermögen der Zweitursachen steht, auch tatsächlich durch sie geschieht. Verneint man die mögliche Wirksamkeit der Naturalagentien,

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ex modernis philosophis secuti sunt«, vgl. DM 13, III, 5. Suárez polemisiert heftig gegen die Annahme einer forma corporeitatis des Avicenna, vgl. unten die Anm. 474. Dies gilt auch umgekehrt: auch die Form hat als Akt eine habitudo transcendentalis zu dem, dessen Akt sie ist, vgl. DM 15, V, 3. Vgl. DM 13, IV, 11. Vgl. 15, V, 1. mit Rekurs auf Aristoteles’ Met.VIII, 1, 1042a4–13, wo Aristoteles die ou)si/ai fusikai/, das to\ ti/ h)=n ei)=nai und das u(pokei/menonals mögliche Kandidaten der ou)si/a aufzählt, und auf die noch deutlichere Stelle De anima II, 1, 412 a6–9; sowie Met. XII, 17, 1070a9–13; zu diesen Verweisen vgl. DM 13, IV, 2. Vgl. etwa auch Met. VII, 3, 1029a1–5. DM 15, V, 1. Zum Aufbau der Essenz der materiellen Substanzen aus Form und Materie vgl. etwa auch 15, XI, 6. Vgl. DM 13, IV, 13. Zur Bonität der Materie sei erneut auf 10, III, 24 hingewiesen; vgl. oben das Zitat zu Anm. 166. Vgl. die Commentarii in octo libros Physicorum I, 9, qu. 3, art. 3, 159. Vgl. DM 13, IV, 13; 15, II, 9: »Atque ita tandem sequitur agentia naturalia nihil omnino agere, quod absurdissimum esse infra ostendemus.« Natürlich spreche ich hier anachronistisch; es ist mit »okkastionalistisch« nicht die Philosophie Malebranches gemeint.

151 saepe erit necessarium, totam efficientiam substantiae tribuere causis universalibus, vel etiam primae, quod in philosophia vitandum est, quoad fieri possit, quia recta dispositio universi postulat ut per causas secundas fiat quidquid commode et connaturaliter fieri potest.382

Bereits bei Suárez liegt demnach der Ansatz zu einem naturphilosophischen Immanentismus und damit zum Begriff einer selbstgenügsamen Natur vor, auch wenn er weiterhin an der Beteiligung Gottes und der Intelligenzen an der Entstehung der Naturdinge festhält.383 Die mögliche Einflußnahme transzendenter Instanzen auf das Naturgeschehen ist jedoch auf ein für unumgänglich gehaltenes Mindestmaß reduziert. Daß Suárez die Vorstellung einer Erschaffung der materiellen Formen ablehnt und ihr das Modell der »Formeneduktion« aus der Materie entgegenstellt, das Glisson so nachhaltig beeinflußt, ist die Folge solch immanentistischer Tendenzen. Suárez unterscheidet zwei Fälle von Formengeneration, zum einen die Erschaffung der Rationalseele durch Gott, wobei diese Seele dann mit dem Leib vereint wird (unitio), zum anderen die besagte Herausführung der materiellen Form aus der Potenz der Materie (eductio). 384 Während der Schaffensakt selbstsubsistente Formen hervorbringt, und dies ohne jegliche Abhängigkeit von der Materialursache,385 »läuft« die Materie im Werden der materiellen Form »mit« oder »fließt ein« (als causa in fieri), wie auch im Fall der bereits gewordenen Form, die von der Materie unterhalten wird (als causa in facto esse). 386 Auch die materiellen Formen als geschaffene anzunehmen, hieße, sie als subsistent und von der Materie unabhängig zu setzen, »quod est absurdissimum«, weil sonst auch die Seelen der Vernunftlosen unsterblich wären.387 Die materiellen Substantialformen subsistieren nicht durch sich selbst. Nichts sei in ihnen, so Suárez, was sich nicht an die Stütze der Materie anlehne:

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DM 18, II, 15. Vgl. auch DM 34, VI, 9: »quando effectus vel aliquis modus rei potest convenienter reduci in causam secundam, non est soli primae attribuendus; et similiter quando revocare potest in internum principium, non est ad solam extrinsecam causam referendus […].« S.u. 220f. Vgl. DM 15, II, 10, 13 oder auch 16. Unitio und eductio bezeichnen die beiden Weisen, in denen die Materie als principium formae tituliert werden kann, vgl. 13, VII, 9; vgl. auch 13, VII, 7 und 8. Zu Gott als die – gegen Avicenna freilich unerschaffene – Intelligenz, die die Formen induziert, vgl. 15, II, 11. Die creatio definiert sich gerade als »actio sine concursu subjecti«, vgl. 13, IX, 7. Vgl. DM 15, II, 9: »Sequela patet, quia creatio et est rerum subsistentium, et non pendet a materiali causa, […].« Die Unterscheidung von causa in fieri und causa in facto esse in 13, IX, 8f. Der Terminus des concursus der Materie ist nicht dem Fall der materiellen Formen vorbehalten. Auch in der unitio von Rationalform und Materie läuft die Materie mit, vgl. 15, II, 9. Vgl. DM 15, II, 9: die Lehre von der Erschaffenheit der Form »de anima namque rationali, vera est et catholica; de aliis vero est falsa, quia alias omnes formae substantiales essent subsistentes et independentes a materia in fieri, et consequenter etiam in esse, quod est absurdissimum; alias omnes animae brutorum essent immortales.«

152 Substantiales formae materiales nec partialem subsistentiam habent, nec subsistunt. […] in his formis materialibus nihil est (id est, neque essentia, neque existentia, neque modus existendi) quod non innitatur materiae, ut sustentanti, quodque ab illa non pendeat in esse et conservari in genere materialis causae; ergo modus existendi talis formae illi connaturalis non potest habere veram rationem subsistentiae partialis.388

Seine Kritik an der Selbstsubsistenz der Formen richtet Suárez indes nicht nur gegen die Vorstellung permanenter Schöpfereingriffe, sondern gegen jegliche Hypothese einer Wirksamkeit »abgetrennter Prinzipien«, die die Formen in die Materie einführen. Als Hypothesen solcher Art führt Suárez erstens die Platon zugedachte These an, daß die Formen von separaten Ideen herrührten,389 zweitens das Modell einer abgetrennten zehnten Intelligenz als Spender der Formen (dator formarum), die Avicenna eingeführt, Averroes weitervermittelt und nachfolgende Autoren unter dem Namen der colcodea diskutiert hatten.390 Die Zurückweisung der Selbstsubsistenz der materiellen Formen steht bei Suárez – und vielmehr noch bei Glisson – demnach ganz im argumentativen Dienst des Leitgedankens einer selbstbestimmten Natur. Die Weigerung, physische Vorgänge auf den Eingriff einer von der Natur separaten Instanz zurückzuführen, stellt eine der entscheidensten Motivationen für die Glissonsche Naturtheorie dar. Die Rolle der Materie als principium formae 391 ist nach Suárez, wie gesagt, zweifach: so unterhält und stützt sie die Form (sustentatio) und ist ihre causa in facto esse. 392 Die materiellen Formen generiert sie oder eduziert sie zudem aus sich (generatio, eductio) und ist ihre causa in fieri. 393 Dem Status des Prinzips »ex quo«, den die erste Materie mit Aristoteles’ Physik I, 9 innehat,394 wird im Materiebegriff Suárez’ nun eine neue Betonung gegeben, die für Glissons umfassende Selbstorganisationsthese einen günstigen Anknüpfungspunkt bilden konnte. In der neunten Sektion: »Quid sit causalitas materiae.« der 13. Disputation, mit der Glisson sich besonders intensiv auseinandersetzt,395 stellt Suárez die Unmittelbarkeit heraus, mit der die

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DM 34, V, 42; die Diskussion erstreckt sich über die Paragraphen 42–52. Suárez beruft sich hierfür auf den Phaidon und denkt vermutlich an die Seelenwanderungslehre; s.u. 224. Als Zeugnis dürfte aber auch der Timaios mit dem Gedanken einer Schöpfung der sinnlichen Welt nach dem Vorbild des ewig Seienden (27d–29b) schwer gewogen haben. Vgl. unten den Abschnitt 4.6. Vgl. DM 13, VIII, 9. Vgl. DM 13, VII, 7: »in facto esse materia est causa compositi quatenus componit illud; non componit autem illud nisi quatenus ipsi materiae unitur forma, sustentando ipsam formam, si talis sit ut eo fundamento indigeat. […] Dicimus enim formam pendere a materia ut a recipiente, vel ut a comparte, […].« Die anima rationalis bedarf eines solchen subjectum sustentans nicht, vgl. 15, II, 10. Vgl. DM 13, IX, 8. Vgl. 192a31–32: »le/gw ga\r u(/lhn to\ prw=ton u(pokei/menon e(ka/stw?, e)c ou(= gi/gnetai/ ti e)nupa/rxontoj mh\ kata\ sumbebhko/j«; der Rekurs Suárez’ in DM 13, I, 3. Vgl. De natura, das gesamte Kapitel 10 »De Causis formae: & primo de Materiali.«, 131–163.

153 Materie die Materialursache der Form ist: sie fließt als principium generationis »proprissime« in das Werden der Form ein.396 Zwischeninstanzen, d.h. vermittelnde Akzidenzien, Vermögen, Eigenschaften, anzunehmen ist genau wie im Fall der unio oder der anderen Modi überflüssig. Zwar ist die generatio oder causalitas ein medium zwischen der Materie und ihrem Effekt, der Form,397 aber die Materie verursacht das Werden non per aliam causalitatem, sed per seipsam. […] nihil aliud est necessarium; ergo superfluum est aliquid aliud fingere. […] materiam causare generationem, nihil aliud est quam sustentare illam ut subjectum; sustentat autem illam immediate in entitate, et per entitatem suam […].398

Dennoch ist die Eduktion der Form aus der Materie für Suárez nach wie vor eine generatio passiva, da die Materie ihm zufolge keine vis agendi hat. Für Glisson führt die Materie die Form active aus sich heraus. Hier öffnet Glisson seine Naturtheorie dem Lehrstück der Formwerdung nach Johann Baptist van Helmont: die formatio ist ein Prozeß, in dem die Materie sich selbst die Form gibt; dieser Prozeß ist als koordiniertes Zusammenspiel der perzeptiven, appetitiven und motiven Aktivität der Materie zu denken. Die Formen sind keinesfalls von der Materie abgetrennte Entitäten. Sie von einem naturtranszendenten Prinzip (aliunde) zu erbitten, ist unnötig und falsch. Mit dieser Argumentation lehnt Glisson nicht nur verschiedene Lehrstücke der suárezianischen Naturphilosophie, sondern auch die platonische Theorie der Weltseele, die pythagoreische These einer »Wanderung« der Formen von Materie zu Materie, die Annahme von wundersamen Eingriffen Gottes in das Naturgeschehen sowie die Hypothese der »chalchodia Averroïs« ab.399 Der spezifische Materialismus, den Glisson vertritt, ist nichts anderes als die Konsequenz seines naturphilosophischen Immanentismus.

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Vgl. DM 13, VII, 5. Vgl. DM 13, IX, 8. DM 13, IX, 5; vgl. auch etwa 15, VI, 2: »principium causandi non esse aliud quam entitatem et naturam ipsius formae, quae per seipsam et entitatem suam causat, exhibendo (ut ita dicam) sese totam materiae, seu composito.« oder 15, VI, 7: »si forma unitur materiae, necessario communicat illi seipsam per seipsam, […].«; Gleiches gilt für die Materie (vor allem 13, VIII, 1–6; 13, IX, 5, 9, 15; 15, VI, 2). Notwendige Bedingung der Vereinbarkeit der Materie mit einer bestimmten Form ist lediglich ihre intima propinquitas, indistantia oder praesentia; vgl. 13, VIII, 9; 15, VI, 2 und 4. Die Annahme von echten Zwischeninstanzen führte – wie bei den Modi – in einen unendlichen Regreß, wie Suárez am Beispiel des sitzenden Menschen in 13, IX, 6 veranschaulicht: »cum homo sedet, verbi gratia, sessio unita est homini, et homo sessioni; quis autem fingat hominem denominari unitum sessioni per novum modum distinctum a sessione, et non potius per ipsam sessionem, quae per seipsam unitur subjecto? alioqui procedendum esset in infinitum.« S.u. den Abschnitt 4.6.

154 Das »Programm der selbstgenügsamen Natur«400 ist als Leitmotiv der Argumentation stets mitzudenken, wenn man auf die von Glisson getroffene Verhältnisbestimmung von Materie und Form blickt. Denn in der Absicht, die Seinsprinzipien und ihre Funktion für die Konstitution der Körper grundsätzlich umzudeuten, nimmt Glisson sich vor aller weiteren Exposition der energetischen Natur der Substanz zunächst die Klärung der Begriffe ›Form‹ und ›Materie‹ vor.401 Aus Gründen der Darstellung muß hier das getrennt behandelt werden, was er selbst als systematische Einheit vorbringt: im folgenden wird die Beziehung von Materie und Form lediglich unter der Zielsetzung betrachtet, den Substanzbegriff Glissons, d.h. seine Transformation eines aristotelischen Lehrstücks, zu analysieren.402 Die starken hermetischen Einflüsse werden dabei zunächst ausgeblendet. Die Natur der körperlichen Substanz konzipiert Glisson als Zusammensetzung aus der Natur der Materie und der Natur der physischen Form. Dies läuft einem Thomismus zunächst noch nicht zuwider.403 Die Wissenschaft über die Natur des Körpers in genere, so sagt Glisson dann allerdings, hängt nahezu vollständig von der Kenntnis der Materie ab.404 Die physische Form hingegen erscheint ihm »vix explicabilis«.405 In einem autobiographischen Passus beschreibt Glisson, daß ihm der Begriff der Form innerhalb seines Studiums der Physik die größte Mühe bereitet habe, da er die Charakterisierungen, die seine geistigen Vorbilder für sie fanden, nicht zu begreifen wußte. Als aktive Substanz nämlich stellten sie sie vor, und als prinzipalen Teil eines jeden Körpers, dem sie das Sein gebe (»forma dat esse«). Und wenn sie sie als subsistenzbegabt deklarierten, konzipierten sie sie letztlich nach dem Muster der rationalen Seele und in Analogie zu den Geistern.406 Mit dem neuen Formbegriff, den Glisson postuliert,

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Ein Verdacht, der noch zu erhärten wäre, ist die systematische Nähe der selbstregulativen, göttlicher Eingriffe nicht bedürfender Natur bei Glisson zum fu/sij-Begriff des Spätperipatetikers Straton. Straton verzichtet ebenfalls auf ein den Kosmos lenkendes transzendentes Prinzip; zu Hinweisen vgl. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 186. Vgl. De natura, 187, zu Beginn des Kapitels De natura substantiae energetica.: »visum est istam disceptationem de principiis rerum materialium, materia & forma, praemittere. […] Cum ergo in hac Dissertatione frequenter occurrant nomina materiae, formae, animae sensitivae, &c. quae voces alioquin non mihi satis terminatae videntur; coactus sum eas […] in antecessum distinguere, describere, & ab ambiguitate liberare.« Die Darstellung der eigentlichen Formgenese erfolgt in Abschnitt 4.6. Beispielsweise De natura, 77, 124. Vgl. De natura, 79f.: »Minime itaque mirandum est si forma corporis in genere tam exilem entitatem ei impertiat, & tota fere scientia naturae corporis in genere pendeat a cognitione materiae ejusdem […].« Zur Geringschätzung der Form sogleich unten. Vgl. De natura, 78. Vgl. De natura, 123f.: »Philosophi fere qui de forma physica scripserunt videntur paradigma, ad cujus imitationem eam describant, ab anima rationali desumere. Quanquam enim agnoscunt esse materialem & corruptibilem; ita tamen de ea lo-

155 sind alle diese Charakterisierungen hinfällig: die Form ist nicht Substanz, sie besitzt keine Subsistenz, nicht sie, sondern die Materie ist nach dem Vorbild der spirituellen Substanzen zu konzipieren. So wie Glisson die physikalische Wissenschaft von der Materie anheben läßt, verabschiedet er die aristotelische Auffassung, daß die erste Materie an sich unerkennbar sei und nur im Umweg über die Form erschlossen werden könne.407 Offenbar glaubte er ursprünglich, hier einige Überzeugungsarbeit leisten zu müssen, denn allein im Manuskriptband Sloane 3311, innerhalb seiner Versuche, einen Traktat über die erste Materie niederzuschreiben, setzt er dreimal dazu an, einen der menschlichen Fassungskraft zugänglichen Begriff (notitia) der ersten Materie zu entwikkeln.408 Glisson kann auch hier, im Prospekt der Naturforschung als cognitio materiae, auf die Vorlage Francis Bacons zurückgreifen: der Interpret der Natur hat vornehmlich die Materie zu betrachten; die Formen müssen ihm als Gesetze ihrer Akte, in Glissons Terminologie: modi der Materie,409 gelten – in jeder anderen Auffassungen sind »Formen« bloße Erdichtungen (commenta animi humani, idola). Nur dem ersten, oberflächlichen Anschein nach grenzt Glisson sich demnach im Diktum der Form als »vix explicabilis« gegen Bacon und sein Unternehmen einer Naturwissenschaft als Auffinden (inventio) der Formen ab.410 Bei näherem Hinsehen erweist

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quuntur quasi esset res realiter subsistens, & per analogiam ad spiritualem substantiam incompletam concipiunt. […] Fateor, cum primum ad Physicae studium animum appulissem; multum molestiae & difficultatis mihi creasse notionem formae physicae. Cum enim duces quos elegeram negarent esse figuram, sive externam sive internam, aut aliud accidens, simulque assererent esse substantiam quandam valde activam, esse principem partem cujusvis corporis, eique dare esse; cujusmodi ideam ejusdem in mente formarem plane nesciebam.« Vgl. Suárez: DM 13, VI, 2–4. Vgl. MSS Sloane 3311, fol. 4r–5v: »Cap. 3. De Modis quibus cognoscimus quid sunt principia nempe Materia et forma.«; fol. 6r–7r: »De alijs medijs cognoscendi materiam primam«; fol. 10r–v: »De modis quibus pervenitur ad cognitionem materiae primae.«; der gesamte Traktat umfaßt mindestens die Blätter 1r–56r. Eine genaue Eingrenzung ist schwierig. Vgl. auch die Ausführungen fol. 76v–77r: »De cognitione materiae per viam analogiae ad materiam artificialem.« – Drei Wege, so behauptet Glisson, stehen zur Erkenntnis der ersten Materie offen: so erkennen wir sie aus dem Vorgang der mutatio, durch Abstraktion und schließlich in der Analogie zur Materie, die dem Kunstobjekt unterliegt (materia artificialis); vgl. fol. 10r. Man betrachte hierzu Suárez: DM 13, X, 3, wo der Autor behauptet, die Materie sei nur »per viam transmutationis« erkennbar, wenn man eine Entsprechung zur Materie, die der Künstler bearbeitet (materia artificialis), annehme. Vgl. auch 13, VI, 3, hier auch der Verweis auf I, 7 der Physik; vgl. 191a7–14. S.u. 3.2.9. Vgl. Novum Organon II, 1, Works I, 227: »Datae autem naturae Formam, sive differentiam veram, sive naturam naturantem, sive fontem emanationis […] invenire, opus et intentio est humanae Scientiae.«; II, 2, Works I, 228; auch II, 3, Works I, 229: »At qui Formas novit, is naturae unitatem in materiis dissimillimis complectitur. […] Quare ex Formarum inventione sequitur Contemplatio vera et Operatio libera.«

156 sich Glissons erkenntnistheoretischer »Materialismus« vielmehr als die konsequente Fortführung der Induktionswissenschaft Bacons, mit der dieser, wie einst die Schule Demokrits, die Natur nicht durch Abstraktion, sondern durch Teilung der Dinge selbst durchdringen wollte.411 »Materiam non esse puram potentiam.« 412 – Auch für Glisson hat die Materie eine entitas actualis und damit Existenz.413 Sie benötigt diese intrinsische Existenz zu ihrer Potenz und Kausalität.414 Wenn Glisson die erste Materie im weiteren als ens oder natura per se subsistens erachtet, geht er allerdings deutlich über Suárez und seine Vorstellung eines materiellen actus subsistentiae incompletus hinaus. inferendum est, entitatem materiae primae non tam vilem aut ignobilem esse ac olim a nonnullis putabatur. Quippe continet in se naturam non tantum actualem, sed & substantialem sese suo marte sustentantem.415

Daß sie die Materialursache der materiellen Form ist, heißt, daß sie ihr das Sein gibt: »materia dat esse formae«.416 Es ist die Materie, die die Form unterhält und vor der nullitas bewahrt, so daß die Dignität der Form auf die Materie zurückgeht.417 Die Form ist damit ens alterius gleich einem Akzidens418; Glisson wird sie innerhalb der Diskussion des Lebensbegriffs als einen modus der Materie bestimmen.419 Lediglich dem Zusammengesetzten, nicht aber der Materie spendet sie noch das Sein.420 Anders als die Materie ist die Form für sich genommen nicht einmal eine Substanz421 und

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Vgl. Novum Organon I, 50f., Works I, 168f. De natura, 92; und vgl. 96: »Potentia ergo materiae non eam privat omni actualitate.« Vgl. De natura, 87: »Exsistentia materiae probatur ex ipsa actuali entitate ejusdem. Nam esse actu & exsistere idem sonant.« Vgl. De natura, 95f., mit Verweis auf Suárez: »Ipse Suarius, qui affirmat materiam esse essentialiter potentiam, subjungit […] exsistentiam requiri ad hanc potentiam seu causalitatem materiae, ut ei intrinsecam […].« De natura, 90. Dort auch die Aussage, daß die Materie »ens actu, actuque per se subsistens« sei. Vgl. auch De natura, 88: »Subsistentia materiae fundamentalis ex eo satis evincitur, quod materia prima sit ens per se subsistens.«; 506: »solvitur [mistum, K.H.] in partes essentiales; nempe in materiam primam, & formam physicam: hoc est, in naturam seu essentiam primaevam, perpetuam, per se subistentem; & naturam seu essentiam adventitiam, additionalem, caducam, qua interim compositum specificatur.« Vgl. unten das Zitat zu Anm. 432 und De natura, 162, zitiert sogleich in Anm. 420. Vgl. De natura, 95: »Hinc enim formae dignitas quodammodo ad materiam (quae eam, quamdiu est, sustentat & a nullitate vindicat) redundat.«; De natura, 130, zitiert in Anm. 182. So De natura, 130. Vgl. den Abschnitt 3.2.9. Vgl. De natura, 95: »Ubi ergo dicunt Philosophi formam dare esse, intelligendi sunt, (si velis eos esse veraces,) eam dare esse composito, non materiae.«; 162: »materia primo dat esse formae, & forma facta cum materia dat esse composito, […].« Vgl. De natura, 128: »An forma sit substantia. […] Sive enim substantia deducitur a substando, sive a subsistendo, utrovis modo insinuat eam esse ultimum creatum fun-

157 der Titel der forma substantialis unangemessen,422 so daß Glisson ihn durch den der forma essentialis ersetzt sehen will.423 Insbesondere kommt der Form keine Subsistenz zu: »Forma […] materialis suo marte non subsistit«.424 Dies ist nur konsequent, da der starke Subsistenzbegriff Glissons besagt, daß eine selbstsubsistente Entität nicht, wie die Form, durch natürliche Veränderungsprozesse (motus, mutationes) an einem anderen herstellbar und zerstörbar ist.425 Die Form jedoch entsteht und vergeht durch Bewegungen an der Materie und ist nicht Grundlage ihrer selbst. – Von hier aus ergibt sich die strategisch zentrale Einreihung der materia prima in die Reihe der entia per se subsistentia überaus folgerichtig.426 Quod vero forma materialis non subsistit, ex eo colligitur, quod motu producitur, & motu destruitur. Etenim quod ultimum suiipsius fundamentum est, repugnat ut habeat aliud fundamentum creatum ex quo fiat. Si enim ultimum sit, aliter mutari nequit quam per annihilationem. Nam ultimi fundamenti destructio annihilatio est, & ultimi fundamenti productio est creatio. Destructo enim ipso rei fundamento, nihil superest; & contra, producta re funditus de novo, nihil ejus praefuit, ut per se notum est. Quod autem motu producitur praesupponit subjectum quod movetur, & in quod id quod motus fit suscipitur. Cum enim forma materialis e materia ceu subjecto (ut omnes fatentur) motu educatur, sive in materiam motu imprimatur, & motu deleatur; certissimum est eam non esse ultimum subjectum suiipsius, sed esse per inhaerentiam in alio.427

Zur Leistung der Materie als causa materialis der Form gehört neben der sustentatio die eductio formae e potentia materiae. 428 Herausführung und Erhaltung der Form sind die energia duplex der Materie.429 Glisson radikalisiert den autogenerativen Ansatz Suárez’ und deklariert die Formentstehung als actus vitalis, als aktive Selbstformung der Materie,430 welche alle

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damentum seu fulcimentum suiipsius. Quare unio substantialis, suppositalitas & natura materiae additionalis, non perpetua, seu forma physica, non sunt proprie dictae substantiae, sed rudimenta seu complementa substantiarum.« Die Form ist substantia transcendentalis, nicht aber substantia praedicamentalis, vgl. oben 104, und De natura, 4: »Quando igitur forma materialis vocatur substantia, non intelligitur de ea in strictiore sensu, sed in latiore; quo nimirum substantia dicitur quicquid non est accidens.«; ebd., 2: »Substantia quae est genus praedicamenti neque praedicatur de subsistentia, neque de forma substantiali, nempe materiali. Non de subsistentia, quia haec minus continet quam substantia. Non enim continet energeticam naturam substantialem. Similiter non de forma materiali, quia haec non includit radicalem subsistentiam.« Vgl. De natura, 124: »[Forma, K.H.] Vocari autem solet natura substantialis, & forma substantialis, sed non proprie, nimirum non quod fundamentali substantiae essentia donetur, sed improprie & transcendenter, scilicet quod sit […] natura energetica talis substantiae.« So etwa De natura, 137, 174. De natura, 102. Vgl. oben 104. Vgl. oben das Zitat zu Anm. 114 sowie den Abschnitt 3.2.7. De natura, 128f. Vgl. auch 115, 130, 190. Die Gegenüberstellung von eductio und sustentatio etwa De natura, 132, 143f. u.ö. Vgl. De natura, 143. Vgl. unten 4.6.

158 Formen in sich birgt: »[m]ateria […] omnes formas […] in sua potestate continet.«431 Diese Auffassung wird sich als eine der Einbruchstellen der neuplatonischen Vorstellungen van Helmonts oder Harveys erweisen. Glisson überträgt die epigenetische Leitidee seines Lehrers Harvey (»ovum ipsum sponte sua«) gewissermaßen vom Uterus auf den Gesamtkosmos und bezeichnet die Form als Foetus der Materie, die Materie als Mutter und hegende Nährerin der Form: Hinc infero, materiam quodammodo dare esse formae; nempe hanc esse quasi materiae foetum, quem e suo sinu oriundum, ne alias in nihilum continuo recidat, in eodem usque & usque fovet & suffulcit. […] Magna igitur hinc dignitas materiae colligitur, esse genuinam matrem & nutricem formae materialis.432

Die Weiterentwicklungen, die Glisson am überkommenen Substanzbegriff vornimmt, können als der argumentationsstrategische Niederschlag seines gestärkten Materiebegriffs verstanden werden. Dies gilt vor allem für die Forderung der subsistentia fundamentalis als Konstituens der Substantialnatur. Denn die Fundamentalsubsistenz gehört vollständig zum Materieprinzip, nicht aber zum Formprinzip der substantiellen Natur. Daß die Materie als Trägerin einer eigens eingeführten Art der Subsistenz erachtet wird, bekräftigt Suárez’ Befund ihres Aktcharakters. So wie die Materie die Fundamentalsubsistenz der Substanz verantwortet, steht die Form für die energetische Natur, die die unbestimmte erste Materie in ratione naturae vervollständigt und sie auf ein bestimmtes Seins- und Operationsgesetz (lex naturae, norma essendi & operandi) festlegt – die Auffassung der Form als Gesetz oder »Norm« kann dabei gut durch Bacon inspiriert sein.433 Glisson definiert:

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Vgl. De natura, Ad Lectorem, §9, fol. b2r: »Materia quidem omnes formas, & consequenter omnes quoque modos vitae materialis, in sua potestate continet.« De natura, 95. Die Schoß-Metapher auch 121f., 172. Sie ist indes kein Proprium Glissons; vgl. etwa Bruno: Della causa, vierter Dialog, DI I, 306–308, 310, 315; oder Alsteds Physica, I, 3, Encyclopaedia, tom. III, 672: »ratione analogiae, sive similitudinis, [appellatur materia, K.H.] mater, gremium, sinus, receptaculum, locus & sedes genitorum, sylva &c.«; das Vorbild ist Platon: Timaios, 49b6–7, 50d2, 51a4–6. Zur Form als lex naturae vgl. auch die unvollendete Abhandlung Glissons »De materiae physicae significationibus. De formae significationibus varijs.«, fol. 8r–9r: »forma physica sumitur pro modificatione determinata ad certam speciem non includens ipsam substantiam quae est naturalis causa et naturale subiectum dictae modificationis estque vera differentia et essentia accidentalis lex naturae secundum quam operari tenetur substantia. […] id quod a nobis de natura specifica formae intelligitur, consistit tantum in dictis modificationibus, sive in dicta lege creaturae; […].« Durch den vielfältig äquivoken Formenbegriff Bacons schlägt Fattori: Introduzione a Francis Bacon, 84–97 einen Weg. Die Bezeichnung ›alterationis et transformationis norma‹ benutzt Bacon beispielsweise im Novum Organon II, 7, Works I, 234: Lex wird ferner mit forma identifiziert; Novum Organon II, 2, Works I, 228. Zum sich im 17. Jahrhundert allmählich erst durchsetzenden Konzeptes der Form als Gesetz sowie zur Herausbildung des Gesetzesbegriffs in der Naturphilosophie dieser Zeit überhaupt vgl. Milton: Laws of nature.

159 Quid sit forma, quidque non. […] Praemoneo igitur, per formam physicam me non intelligere substantiam aliquam fundamentali subsistentia praeditam, neque quidem nudam proprietatem, multo minus accidens commune: sed naturam quandam energeticam naturae materiae primae additionalem, eamque ad certam legem normamque essendi & operandi determinantem, & ex parte naturae complentem. […] Quamvis igitur, ut dixi, forma non sit, proprie loquendo, substantia; est tamen natura energetica alicujus substantiae, cujus specificam indolem & genium continet.434

Um jedoch das Motiv der materiellen Autogeneration theoretisch realisieren zu können, ist es nötig, daß Glisson die Zuordnung der Fundamentalsubsistenz zur Materie, der energetischen Natur zur Form durchbricht. Denn erst wenn die Materie sich auch unter Absehung von jeglicher formaler Bestimmung als energetisch-vitales Prinzip ausweist, kann sie die Aufgabe der Selbstformung leisten. Tatsächlich stellt die Form nur den veränderlichen Teil der energetischen Natur. Diese hat indes auch einen unveränderlichen Teil, der der ersten Materie zukommt. Forma ergo est natura energetica, quatenus ea contradistinguitur naturae fundamentali materiae; sed non est tota natura energetica cujusvis corporis, sed ejus pars duntaxat mutabilis seu additionalis, qua corpus certi generis aut speciei essentialiter constituitur, & ab omnibus aliis dinstinguitur. Materia enim prima continet naturam fundamentalem, nempe subsistentiam fundamentalem, & naturam energeticam suam incompletam. Jam vero forma substantialis est ista pars naturae energeticae quae incompletam hanc materiae naturam complet.435

Die energetische Teilnatur der Materie belegt Glisson innerhalb der Diskussion des Lebensbegriffs auch mit dem Terminus der vita primaeva. Unschwer erkennt man in diesem Prinzip der Selbstbewegung eine starke Interpretation des actus entitativus der Skotisten. Die Form hingegen gerät im System Glissons zum nachgeordneten Aufsatz, zur natura additionalis oder epiphysis , 436 gar zur »kümmerlichen« Entität (entitas exilis), die im

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De natura, 124. Vgl. auch ebd.: »naturam quae est forma totius includere tam naturam materiae quam formae, hoc est, completam essentiam totius: naturam vero quae est forma physica dicere tantum partem totius essentiae, ob quam causam vocatur forma partis. […] Natura enim materiae de se incompleta est & interminata. Requiritur igitur naturam additionalem, qua in ratione naturae terminetur & compleatur: quam additionalem naturam formam physicam voco.« Auch 129: »natura leonis componitur ex natura fundamentali materiae, & natura additionali seu specifica formae […].« Die Vervollständigung ist nicht im Sinne einer vollständigen Individuation zu verstehen, die ja erst die Modalsubsistenz leistet, vgl. De natura, 125: »Complet (inquam) ex parte naturae, non ex parte completae individuationis, cujus principium, ut supra monstravi, est subsistentia modalis, […].« De natura, 125. Vgl. ebd., 129: »Forma vero adfert novam naturam energeticam, & materiam ad speciem completam (non per modum mixturae, sed per modum naturalis inhaerentiae affectionis essentialis in suo naturali subjecto) contrahit.«, ebd., 128: »per formam physicam nihil aliud intelligam nisi naturam materiae mutabilem, […].« und auch 87, wo Glisson die natura energetica in die sechs »capita« der ersten Materie und damit in die »constitutiones perpetuae« einreiht. Vgl. De natura, 139.

160 System der Natur eine sekundäre Stellung hat und nicht Grundlage der physikalischen Wissenschaft sein kann.437 natura substantialis forma totius

natura materiae incompleta, interminata

subsistentia fundamentalis

natura formae additionalis, complens forma partis

natura energetica

Abb. 3: Materie und Form nach Glisson

3.2.9 vita primaeva, vita modificans: die Formen als modi der Materie Mit der natura energetica besitzt die Substanz in genere ein Prinzip der Selbstbewegung. Das substantielle Leben wird weiter ausdifferenziert in die vita primaeva oder fundamentalis, die vita modificans und schließlich die vita modificata oder concrete sumpta, in der vita primaeva und vita modificans vereint sind.438 Mit der vita primaeva knüpft Glisson terminologisch und sachlich an die aqua primaeva der mosaischen Kosmogonie an.439 Zugleich kann sie als Transformation des actus entitativus erachtet werden; einmal mehr zeigt sich die Virtuosität, mit der Glisson die Begrifflichkeiten verschiedenster Herkunft zu verknüpfen weiß. Das primaeve Leben bezeichnet den unvollständigen Teil der natura energetica, der der ersten Materie zugehört und allen Formen gegenüber indifferent ist. Die materielle Form vertritt in den körperlichen Substanzen hingegen die vergängliche vita modificans materialis, die die vita primaeva zu ihrer Grundlage hat und diese vervollständigt und determiniert. Dadurch wird die Substanz in ihrem spezifischen Sein und Operieren gesetzmäßig festgelegt. Vita primaeva seu inchoata basis est cujusvis vitae modificantis, estque immutabilis & perpetua, nec ullo modo differt a natura energetica substantiae in genere.440

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Vgl. das Zitat in Anm. 404 und den Systemaufriß der Natur in Anm. 290. Vgl. De natura, 242: »Vita autem modificans nequit esse primum vitae rudimentum. […] vita modificans revocanda est ad primaevam. Illa enim hanc afficit & modificat, haec illam suffulcit. Posita ergo vita modificante, supponitur primaeva, ex quibus unitis resultat concreta & modificata. Vita igitur modificans est forma physica, sed non est vita primaeva, seu vita per se subsistens & fundamentalis.« Vgl. oben 69. Vgl. De natura, 236; das Zitat wird fortgesetzt: »Vita modificans subdivitur in materialem, & spiritualem. De hac non est cur hic ulterius solicitemur. Illa fragilis est & caduca, variisque casibus obnoxia. […] Vita concrete sumpta includit primaevam, ut fundamentum, & modificantem, ut eam complentem & ad certam speciem contrahentem. In spiritibus vita priamaeva & modificans forte non realiter differunt; & con-

161 Vita modificans materialis est ipsa forma physica. Etenim ut vita primaeva est substantiae natura fundamentalis considerata in ordine ad operationes; ita vita modificans est natura additionalis & complens similiter considerata in ordine ad operationes, quae […] nihil aliud est nisi ipsa forma physica. […] Etenim per vitam modificantem nihil aliud intelligo, nisi eam rationem seu additionalem naturam qua vita primaeva completur & determinatur ad certam legem seu modum essendi atque operandi.441

Der Begriff der vita primaeva bildet den argumentativen Grundstein, auf dem die umfassende systematische Neudeutung des Lebens- oder Selbstbewegungsgedankens erst durchgeführt werden kann. Nicht die nährende und empfindende Seele haben den Ursprung des Lebens (radix oder origo vitae) in sich; sie borgen sich ihre Vitalität von der Materie, deren modi sie lediglich noch sind: »Animas materiales esse modos materiae.« 442 In seinen Manuskripten beschreibt Glisson die Formen sogar als conceptus inadaequati der Materie oder als die Materie selbst, sofern sie beweglich ist; nur als solche können sie als Substanzen erachtet werden. Ego quidem existimo omnes animas sola excepta anima rationali […] esse materiales sive materiae modos, hoc est esse formas physicas; quae si considerentur ut substantiae, nihil aliud sunt nisi inadaequati conceptus materiae.443

Die Materie birgt indes die Wurzel des Lebens in sich.444 In ihrem Vermögen sind mit den Formen alle modi des materiellen Lebens enthalten.445 Da die Form keine entitas per se ist, kann sie nicht die erste bzw. letzte Ursache des Lebens sein. Sein und Leben nämlich unterliegen einer stren-

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sequenter utraque est perpetua. Verum in corporibus illa perpetua est, & hac pereunte, novam subinde modificationem sibi adsciscit.« De natura, 239. Vgl. auch die ausführliche Definition auf 246, zitiert in Anm. 351. De natura, Ad Lectorem, §8, fol. b1r. Vgl. auch §9, fol. b2r: »Anima materialis est modus essentialis materiae; essentialiter ergo eam modificat, ejusque modificatio est vitalis; & eousque largior eam de novo vitae modificationem materiae adferre: sed vitae, quam modificat, originem in se non continet.« Vgl. auch 241: »Cum ergo vita quam adfert forma materialis sit tantum modus, supponit aliquod rudimentum vitae se prius, quod modificat.«; 242: »Concedo quidem animas vegetativam & sensitivam diversa ab aliis formis modificatione istud internum motus principium afficere & ornare: […].« Und mit Hinblick auch auf die unbeseelten Formen; 130: »Est ergo forma natura materiae pro tempore, sive est modus materiam naturaliter afficiens.«; 245: »Statuimus igitur non tantum animas, sed & materiales omnes formas physicas, (in quantum omnes primum motus principium modificant,) esse vitas modificantes, licet non ejusdem ordinis cum animis.« Daß die akzidentellen und substantiellen Formen modi afficientes sind, auch 14. Vgl. »Fabrica corporis organici non potest oriri ex solo motu materiae.«, hier: fol. 278r. S. auch ebd.: »Verum per formam substantialem nihil aliud intelligo nisi ipsam materiam qua mobilem et ad certam speciem ab agente determinatam.« Von der Bezeichnung der Formen als conceptus inadaequati der Materie distanziert Glisson sich in De natura indes wieder, vgl. das Zitat aus De natura, 11f., zu Anm. 334. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §8, fol. b1v: »constat, materiam vitae radicem in se continere.« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §9, fol. b2r: »Materia quidem omnes formas, & consequenter omnes quoque modos vitae materialis, in sua potestate continet.«

162 gen Parallelität der Selbständigkeit oder Abhängigkeit – »operari sequitur esse«.446 Die Natur der Materie, da nur sie von sich her Selbstand hat, ist die letzte natürliche Ursache der Verrichtungen; ihr vorgängig ist allein Gott als causa supernaturalis ihrer Autarkie des Seins und Tätigseins.447 quod non est per se, si vivat, vivit modificando aliud quod per se vivit, quodque est per se. Impossibile enim est ut aliquid vivat per se, hoc est, sit ultima basis suae vitae, & interim non sit ens per se subsistens. Eo enim quod mutuetur suam entitatem ab alio, ab eodem quoque suam vitam mutuatur. […] Essentia animae materialis non est per se, sed a materia essentialiter dependet; & per consequens vita ejus a materia similiter dependet. Et ut essentia animae est modus ipsius materie; ita vita animae est modus vitae ejusdem.448

Die vita modificans ist zwar die causa proxima der Operationen, die vita primaeva hingegen die causa ultima. 449 Nicht die Formen agieren, sondern die Materie agiert »mediante forma«.450 Nego vero ullam formam materialem primum internum motus principium materiae sufficere: istud vero esse ipsam naturam energeticam substantiae in genere. […] nulla forma aut anima materialis est simpliciter prima causa creata istius motus quem modulatur. Non enim est entitas per se, sed essentialiter dependet ab alia causa creata priore, quae est per se & independens ab alia creatura; […]. Frustra igitur asseritur […], animam de novo addere materiae internum motus principium. Non enim addit primum istius motus principium, sed de novo modificat, & eo respectu est principium intermedium, seu forte propinquum, aut etiam proximum; nequaquam ultimum, seu primum. […] Dices, animam sensitivam esse ultimam causam sensationis. Respondeo, esse causam intermediam seu proximam, non simpliciter ultimam. Fundatur enim sensatio in perceptione naturali […].451

Die sichtbaren Lebensvollzüge der beseelten Naturdinge, wie etwa die Lebenswärme oder die Pulsation von Herz und Arterien, sind nichts anderes als sekundäre Modifikationen eines vorgängigen substantiellen Lebens.452 Entsprechendes gilt für sämtliche Veränderungen. Glisson spricht

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Vgl. oben 115. Vgl. De natura, 249: »Jam vero si quis, nactus naturam per se, velit in eo subjecto ulteriorem causam creatam perquirere, frustra est; quia, e principiis creatis, natura, quatenus per se, est simpliciter ultimum; in quo acquiescendum, nisi forte mens sit de prima causa supernaturali inquirere.«; 338: »Est autem materiae natura per se subsistens; qua superior creata non datur. […] Habemus ergo primam seu ultimam causam creatam cuiusvis naturalis operationis […]. A nulla enim creatura in sua entitate aut operatione dependet.« De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3r. Vgl. De natura, 236. Vgl. De natura, 190: »Materia enim informata, mediante forma, id agit quod absque ea minime potest.«; 130: »Operationes quoque formae (quanquam non immediate) materiae ultimo debentur. Materia enim operatur per suam formam, quam in ipsa operatione sustentat, […].«; 231: »Subjectum est internum & principale agens, sed sustentat formam & accidentia ut per ea operetur.«; auch 336 die Redeweise von der Form als Instrument der Materie. De natura, 242f. Vgl. De natura, 236: »Vita materialis concreta dividitur etiam in simplicem, & compositam: & haec frequenter, utcunque minus proprie, primis vitae motibus seu opera-

163 der ersten Materie eine zweifache Bewegung zu: einen motus antitypiae, vermöge dessen sie gewaltsamen Veränderungen widerstehen kann, sowie einen motus nexus, der jegliches Vakuum verunmöglicht. Beide entnimmt er ausdrücklich Bacons Novum Organon. 453 In einem anderen Passus stellt er der Antitypie nicht den motus nexus, sondern den motus mutationis formarum, mithin dem Beharrungs- eigens ein Veränderungsprinzip zur Seite.454 Motus antitypiae und motus nexus bzw. motus mutationis sind allen Körpern aufgrund ihrer Teilhabe an der ersten Materie gemein (motus generalissimi) und können von keiner Form herrühren. Diejenigen Bewegungen, die von den Formen auszugehen scheinen, sind nichts anderes als Modifikationen der beiden allgemeinsten Bewegungen.455 Der motus antitypiae der ersten Materie beispielsweise wandelt sich durch den Beitritt jeweils verschiedener Formen diversimode zu einem Streben nach Selbsterhaltung,456 das sich in den unbeseelten Körpern im Fall nach unten, in den Pflanzen durch die Vorgänge der Ernährung und Wachstum, in den tierischen Lebewesen auch durch Sinneswahrnehmung und Ortsbewegung äußert. Die von den Formen verantworteten Bewegungen und Lebensabläufe sind auf die Spezies des Naturdings zugeschnitten. So ist die anima

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tionibus adscribitur; ut calori vitali, micationi sanguinis, & pulsui cordis & arteriarum: quo sensu admittit gradus, & est accidens.« Vgl. den Ausdruck »materiae vita praecedanea« auf 242. Vgl. De natura, 245f.: »Etenim existimo duo minimum esse omnium corporum motus generalissimi. Prior simpliciter generalissimus est, & extenditur ad omnes substantias creatas, sive materiales sive immateriales. Accuratissime ab ingeniosissimo Vicecomite Verulamio l. 2. Novi organi cap. 48 nomine motus Antitypiae depingitur; sed in ordine tantum ad materialia. Verum non tantum corpora, sed & spiritus, reluctantur annihilationi, & suam entitatem perpetuo tueri nituntur, & actu quidem se tuentur.«; 352: »Exordiar a motu & quiete omnibus corporibus communi. Primo loco occurrit motus quem Clariss. Vicecomes Sti Albani motum Antitypiae vocat. Videtur sic ab eo denominari, quod ejus subjectum ictibus quibusvis & notis, utcunque violenter impressis, ita se opponat, ut suam subsistentiam perpetuo tueatur, nec se in nihilum redigi sinat.«; vgl. ferner 86, 354. Der motus antitypiae und der motus nexus sind die ersten zwei der 19 Bewegungsarten, die Bacon aufführt; vgl. Novum Organon II, 48, Works I, 330. Manzo: Francis Bacon, 225f., weist auf die stoisch-epikureische Herkunft der Antitypie- oder Widerstandsvorstellung hin, die vor Bacon schon Gilbert und Patrizi wiederaufgenommen hatten. Vgl. De natura, 245f. Vgl. De natura, 245: »Generalissimus motus a nulla forma, sive generica sive specifica, primo manare potest: & consequenter nulla forma est ejusdem primum principium, omnisque eidem superveniens eum modificat. Motus enim qui a particulari forma provenit, perpetuo includit modificationem generalioris praeexsistentis, eamqe ad inferiorem speciem contrahit.«; 354: »Motus hic [antitypiae, K.H.], ut & quies ei respondens, ab interno naturae materialis principio fluit.« Vgl. De natura, 246: »omnes formae hos motus diversimode modificant. […] Forma quoque motum antitypiae modificat, ei simul conjungendo nisum defendendi naturam suam additionalem; eique subscribit materia, quousque haec defensio cum praeservatione naturae suae primaevae consistere queat.«

164 sensitiva das Prinzip der sinnlichen Wahrnehmung, der Strebungen und der Bewegungen des Lebewesens, sie ist aber nicht der eigentliche Urheber seines Wachstums oder etwa der Fallbewegung nach unten, die auch in unbeseelten Dingen angetroffen wird. Die anima vegetativa ist zwar das Prinzip der Ernährung und des Wachstums, nicht aber das Prinzip der Mischung der Elemente; dies ist die forma misti. 457 Es ist diese Anpassung der Operationen und der Seinsweise an die jeweilige Artzugehörigkeit des Naturdings, die Glisson in der Wendung benennt, daß die Form oder das modifizierende Leben das jeweilige Gesetz des Seins und Verrichtens (lex oder norma essendi & operandi) festlege,458 vergleichbar farbigem Glas, das das hindurchgehende Licht varie, d.h. seiner Kolorierung entsprechend, einfärbt.459 Wird »Leben« aber derart weit als das Prinzip des natürlich-artgemäßen Bewegens und Seins, und diese »Artgemäß-heit« im Falle aller Naturdinge als Motivation von innen und als Selbstperfektion gefaßt, so kongruiert es zur fu/sij des Aristoteles und kann den unbeseelten Körpern nicht vorenthalten sein – obwohl Aristoteles selbst den unbeseelten, so den leichten und schweren Körpern die Selbstbewegung abspricht.460 Von hier aus ist es unmittelbar einsichtig, was Glisson mit den Ausdrücken einer natura vitalis 461 oder einer vita naturae im Titel des Traktats insinuieren will. Wenn die Natur der Substanz in genere – sobald sie nur als energetische Natur oder vita primaeva betrachtet wird – schon als belebt gelten muß, so doch auch sämtliche modifizierende Formen, auch die der corpora inanimata. Auch sie sind Modifikationen eines Lebens, wenn die ihnen eigene Modi-

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Vgl. De natura, 245: »Non negavero quin forma fortasse possit esse principium proximum cujusvis motus seipsa non latioris; sed generalioris principium esse nequit: ut exempli causa, anima sensitiva potest esse principium sensus, appetitus & motus animalis; sed vegetationis aut motus deorsum nequit esse proprium principium, quia haec in multis corporibus reperiuntur in quibus non est anima sensitiva. Sic anima vegetativa potest esse principium distributionis succi vitalis, nutritionis, augmentationis, ramificationis seu organizationis plantarum; sed nequit esse principium temperamenti seu crasewj. Similiter, forma misti nequit esse principium motus cujusvis elementi; nec elementi forma, motus generalissimi omnium corporum.« Vgl. De natura, 242: »Concedo quidem animas vegetativam & sensitivam diversa ab aliis formis modificatione istud internum motus principium afficere & ornare: imo quamlibet formam similiter diversimode ab alia quacunque idem modificare.«; man vgl. auch noch einmal (s. oben das Zitat zu Anm. 434) den Passus ebd., 124: »Praemoneo igitur, per formam physicam me […] intelligere […] naturam quandam energeticam naturae materiae primae additionalem, eamque ad certam legem normamque essendi & operandi determinantem, & ex parte naturae complentem.« Vgl. De natura, 251: »Quemadmodum enim vitra colorata, radios luminis transmittentia, eos varie afficiunt & modificant, sublato autem originali lumine nihil amplius agunt: ita formae materiales & accidentia, vitae primaevae naturam varie immutant & alterant; sed sublata ea vita, illico omni operatione privantur.« Vgl. Physik VIII, 4, 255a1–11. De natura, 358.

165 fikation des ursprünglichen Lebens auch einfach, d.h. nicht organisch ist. Ihr Leben heißt deshalb nicht »anima«, sondern »vita naturalis«. 462 dico, formam physicam non solum in plantis & animalibus esse vitae participem, sed & corporibus omnibus etiam inanimatis vitam modificantem addere. Non dico addere animam. […] Aristoteles enim animam definit esse formam corporis organici; unde usus inoluit elementa, lapides, & omnia quae carent organizatione, inanimata vocare. Nihil tamen prohibet quin, in natura, viva esse possint; sed destituantur modo ista peculiari vita modificante, quae tribuitur animae, & vita tantum naturali atque inorganica gaudeant.463

Die scala naturae gliedert sich nicht länger in eine unbelebte und eine belebte Klasse, sondern in die der nicht-organisch Belebten und in die der Organismen. Restringit [Suárez, K.H.] vitam ad sola animalia & plantas. Quae, fateor, communis erat Peripateticorum sententia […]. Nos vero vitam naturae omnibus corporibus promiscue tribuimus; nec inde differentiam plantarum & animalium ab aliis corporibus, sed ab organizatione, cum Aristotele, & a duplicata vita, insita & influente, cum Neotericis, deducimus.464

Einer der »Neoterici«, die Glisson hier im Auge hat, ist sicherlich Fernel als Vertreter der Lehre vom einwohnenden und einfließenden Geist im menschlichen Organismus.465 Die vita insita ist ein an jeder Stelle vorhandenes, die vita influens ein über verzweigte Transportbahnen vermitteltes Leben. Über derartige Verästelungen (ramificationes) verfügen nur pflanzliche und tierische Organismen. Die pure naturalia bilden lediglich das mehr oder weniger geordnete Beisammen (confoederatio) ihrer Teile.466 Ihre

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Vgl. De natura, 246f.: »Ex dictis elucescit, […] quia natura substantiae in genere est viva, formas eam modificantes etiam vivas esse, & quamlibet diversam vitae speciem producere: quin & formas quae corporum inanimatorum materias complent, simplici vitae modificatione eas exornare; formas vero quae plures vitas aliquo modo distincte conspiciendas inter se complicant & quasi contexunt, appellari animas, quod evidentiora vitae specimina formis simplici vita constantibus edant: Nullas vero formas omni interno motus aut operationis principio & vita modificante destitutas esse: Insuper, vitam completam & modificatam ex primaeva & modificante conjunctis constare, recteque distingui in naturalem, & animatam: illam variari in species corporum inanimatorum; hanc in plantas & animalia.« De natura, 244. Vgl. auch 245: »Etenim si istae formae physicae quas inanimatas vocant primum motus principium internum modificent, etiamsi modificationem istam organi aut vitae duplicatae, que propria est animis, non inferant, fieri tamen nequit quin, modificando primum id principium, primaevam naturae vitam una modificent. Statuimus igitur non tantum animas, sed & materiales omnes formas physicas, (in quantum omnes primum motus principium modificant,) esse vitas modificantes, licet non ejusdem ordinis cum animis.« De natura, 226. Vgl. oben 2.1. Die confoederatio ist wie die suppositalitas ein zentraler Begriff der Individuationslehre Glissons, s.u. den Abschnitt 4.5. Vgl. De natura, 50: »advertendum est, confoederationem partium naturae materialis ab omnibus aliis divisae, in qua consistit status divisus sive suppositalitas, differre in corporibus pure naturalibus, in plantis, & in animalibus. In pure naturalibus, in aliis quidem ad unionem duntaxat confusam, in

166 kunstvolle Gestalt (schematismus) weist auf das einsitzende Leben hin, auf die simplex formatrix, als die die Natur die Figuration der Felsen, Steine, Marmorarten aus dem Inneren der Erde »heimlich« (clanculum) bewerkstelligt. Hier zieht Glisson van Helmonts idealistische Naturvision der BergSäfte und der mineralischen Fortpflanzung, der Steinwerdung durch Verdichtung und Wachstum nach. Möglicherweise – wir können nur spekulieren – brachte er seinen Helmontianismus auch vor der Royal Society vor.467 Schematismum naturae vitam monstrare. […] Motus ad has formas spectantes sunt varia genera motuum simplicis figurationis; […]. Qui omnes insitam naturae vitam evidenter arguunt. Si enim complexa vis formativa plantis & animalibus indulta ab omnibus pro certissimo vitae vegetativae indicio habeatur; pari jure haec simplex formatrix, quae singulis corporum speciebus debitum schematismum, & multis perquam elegantem, arte vix imitabilem, ministrat, pro sufficiente vitae naturalis testimonio habenda est. Motus enim tam eminentem schematismum edens nulli causae externae ascribi potest; sed natura clanculum intus operatur, & nacta ideam speciei formandae propriam, ad ejusdem exemplar texturam materiae aggreditur, & specificam similitudinem rei intentae, nisi impediatur, assequitur. Etenim in visceribus terrae, quid praeter ipsam naturam intervenire potest, talemque schematismum largiri? Natura est quae lapideum succum certae glebae permixtum, rejecta aut alio modo exsiccata superflua humiditate, in rupem, pute, marmoream aut lapideam, aliud genus, digerit, seu concrescere facit, & cuilibet speciei propriam positurae particularum figurationem inter se assignat.468

Je weiter man auf der Skala der Natur nach oben steigt, desto komplexer sind die Modifikationen der vita primaeva. Während sie in den inanimata als einfaches Leben der Natur vorliegt, ist sie in der anima vegetativa verdoppelt, in der anima sensitiva sogar verdreifacht.469 Denn in den tierischen Lebewesen besteht das Leben aus der vita insita und einer zweifachen vita influens, derjenigen, die vom Herzen ausstrahlt und über das Vitalblut vermittelt wird, und derjenigen, die auf den influxus animalis aus dem Gehirn zurückgeht.470 – Hier mündet Glissons Lebensbegriff schließ-

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aliis ad unionem figuratam; in plantis ad ramificationem; in animalibus, ad perfectam organizationem confoederantur.« Zur vita insita und influens in den Pflanzen vgl. auch ebd., 359, 429f. Dies wird durch das Protokoll Birchs vom 27.05.1663 nahegelegt. Glisson kommentierte bei der Sitzung die Versteinerung von Holz, das er durch die strukturerhaltende Ablagerung von »stony juices« verursacht sieht; siehe Birch: The history of the Royal Society I, 246, 248. De natura, 430f. Die höhere Stufe verfügt jeweils auch über die Mächtigkeiten (potestates) der niedrigeren Stufen, vgl. De natura, 358f. Vgl. De natura, 235: »Quod ad repentinam animalium mortem attinet, sciendum est, vitam primaevam seu inchoatam variis modificationibus expoliri posse, & tot esse modos vitae simpliciter naturalis, quot in natura species corporum inanimatorum (ut communiter vocantur) reperiuntur. Verum in plantis & animalibus vita simplex exaltatur, & alterius vitae associatione & confoederatione locupletatur. […] In vita autem vegetabili vita naturae tantum duplicatur, & sic constituit animam vegetativam; in animalibus quodammodo triplicatur. In his enim vita insita partium solidarum non tantum vita influente succi sive sanguinis vitalis perfunditur, sed & influxu animali ulterius no-

167 lich wieder in die herkömmlichen Konzeptionen des Galenismus ein. – Die komplexen Lebensformen gehen zugrunde, sobald sich der Verbund (associatio, confoederatio) des einsitzenden und des einfließenden Lebens auflöst. Dies bedeutet den Tod des betroffenen Organismus. Das einfache Leben der Natur vergeht indes niemals.471

3.2.10 »Nihil enim inter substantiam & vitam suam intercedere potest.«: die Selbstbewegung als das »Innerste« der Substanz Suárez stellt die Teile der Substanz zueinander in wohldifferenzierte Verhältnisse der – bildsprachlich bezeichneten – Nähe und Distanz. So sind Natur und Subsistenz modal unterschieden. Ihr Unterschied ist damit größer als der zwischen aktualer Essenz und Existenz,472 die ja im Verhältnis einer distinctio ratione cum fundamento in re stehen, und zugleich kleiner als der zwischen der Essenz der Substanz und ihren Akzidenzien.473 Materie und Form trennt innerhalb der Natur zwar eine distinctio realis, in der Vereinigung sind sie sich jedoch ohne die Vermittlung eines vinculum interjectum durch ihre Entitäten selbst allernächst; das Zusammengesetzte ist »per se unum« – dies hatte Suárez in einer großangelegten Argumentation zu erhärten gesucht.474 In den Ausführungen zur subsistentia finden

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bilitatur. Quare anima vegetativa est vita naturae quatenus composita ex insita & influente; & dicitur mori quandocunque haec compositio dissolvatur & frustretur. Similiter anima sensitiva est vita ex insita & duplici influente, vitali & animali, conflata; quae perit hac exsoluta compositione. Veruntamen anima sensitiva non statim mori dicitur, si influxus animalis in aliqua parte externa, ut in membro paralytico, intercipiatur: sed si in corde aut cerebro penitus supprimatur, proculdubio mors adest. Negamus itaque in morte brutorum animam aliquam substantialem emigrare, & dicimus mortem animae sensitivae nihil aliud esse nisi dissolutionem triplicis confoederationis vitae, ut dictum: vitam vero simplicem naturae, nempe primaevam, non perire, neque mutari, nisi respectu alicujus additionalis modificationis.« »Vita primaeva« und »vita naturae« werden oft synonym verwendet. Vgl. DM 34, III, 13: »cum [existentia, K.H.] non sit aliquid additum ac supra essentiam actualem, ut supra tractatum est, et consequenter dicendum sit esse aliquid propinquius essentiae, multoque minus distinctum ab illa, quam sit subsistentia.« Vgl. DM 34, VI, 9: »major est proportio inter naturam existentem cum sua subsistentia, et major et intimior connexio, quam sit inter substantialem essentiam et accidentalem proprietatem. […] subsistentia est tantum modus naturae, proprietas autem accidentalis est entitas distincta […].« Vor allem in den Sektionen DM 13, IX und 15, VI; vgl. etwa 15, VI, 2: »Item, quia ex materia et forma ideo fit per se unum, quia non interventu alicujus proprietatis vel accidentis uniuntur, sed immediate per seipsas, propter proportionem et mutuam aptitudinem quam ad se habent per suasmet entitates incompletas, ad idem genus pertinentes, […].« Der Verweisort bei Aristoteles ist Met. VIII (vgl. 13, VIII, 5; 13, I, 3), wohl im sechsten Kapitel die Ausführungen zur Frage nach der Einheit des aus Stoff und Form Zusammengesetzten, besonders 1045b4–7 und 17–19, wo Aristoteles betont, der nächste Stoff (u(/lh e)sxa/th) und die Gestalt (morfh/) seinen dasselbe Eine, im einen Fall der Möglichkeit (duna/mei), im anderen der Wirklichkeit (e)nergei/a?) nach.

168 wir eine ähnliche »Metaphorik des Innen und der Unmittelbarkeit«: Die Subsistenz hängt der Natur innigst an;475 sie ist ein modus intrinsecus et connaturalis, d.h. sie »dimaniert« oder »resultiert« aus der Natur als einem principium internum oder principium proximum. 476 Damit weist Suárez die Position zurück, daß sie durch äußere Eingriffe, etwa den concursus Dei, an der natura existens hergestellt wird,477 und stellt sich hier erneut als Wegweiser des Immanentismus Glissons heraus. Das Sein und Operieren der Substanz ist aus ihrem Innern heraus zu erfassen; der Rückgriff auf abgetrennte, entfernte Triebkräfte ist unter dem Anspruch der Philosophie nicht geboten: quando effectus vel aliquis modus rei potest convenienter reduci in causam secundam, non est soli primae attribuendus; et similiter quando revocare potest in internum principium, non est ad solam extrinsecam causam referendus, et praecipue quando talis modus habet intrinsecam, et inseparabilem connexionem naturalem cum re, cujus est modus.478

Das Innerste der Substanz ist ihre Essenz, die als erstes benennt, was die Sache ist (quod quid est, ti/ e)sti).479 Wie um einen substantiellen Kern zentrieren sich um sie alle Teile, und von diesem Kern ausgehend sind verschiedene »Sphären der Innerlichkeit« ausmachbar. Genauer gesprochen ist die Substantialform das innere Prinzip des Naturdings, da sie es ist, die die propria essentia konstituiert.480 Seine Argumentation für das Vorhandensein der Substantialform führt Suárez gerade im Verweis auf die Notwendigkeit eines dem Naturding intimen Vorsitzes über die einzelnen, »entfernteren« Vermögen und Akzidenzien.481

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Daß Suárez die Vorstellung einer Mittelbarkeit der Vereinigung für unplausibel befindet, bildet das Hauptmotiv seiner Weigerung, eine der Substantialform vorgängige forma corporeitatis in der Materie anzunehmen. Avicenna hatte eine solche gefordert, um aus diesem Rudiment der Körperlichkeit das Werden des Körpers aus einem sonst unkörperlichen Stoffsubstrat erklärbar zu machen; vgl. 13, III, 13–23; 13, VIII, 5; 15, X, 7–13; sowie unten 242f. Vgl. z.B. DM 34, VI, 20: »certum est, subsistentiam esse affixam, et intime adhaerentem naturae quam terminat, et ita pendere ab illa in fieri et in esse, ut nullo alio modo fieri aut esse possit, […].« Vgl. z.B. DM 34, VI, 9: »ille modus est omnino intrinsecus et connaturalis, et naturaliter inseparabilis ab ipsa re.«, auch etwa 34, V, 10: »intrinsecus modus«. Vgl. 34, VI, 8– 9 zu den Ausdrücken »dimanatio«, »resultantia«, »principium internum«, »principium intrinsecum«, »principium proximum« etc. Vgl. DM 34, VI, 8–9. DM 34, VI, 9. S.o. 110. Vgl. bes. DM 15, I, 13: »sistendum ergo necessario est in aliqua forma, quae sit prima respectu accidentium inseparabilium; illa ergo est forma substantialis et non accidentalis, cum constituat propriam essentiam, cui proprietates accidentales connaturaliter et inseparabiliter insunt.« Vgl. auch 15, I, 18, wo die Konstitution der Essenz als das »praecipuus finis« der Form beschrieben wird. Vgl. Suárez: DM 15, I, 1–13.

169 Im terminologischen Bestand der Schulen war es im übrigen den Ausdrücken aus dem Begriffsfeld »dimanare, resultare, profluere« vorbehalten, den immediaten, von allem Äußeren absehenden Zusammenhang der Essenz zu den aus ihr »herfließenden« Eigenschaften und Vermögen zu bezeichnen. Die emanatio meint kein abkoppelndes Entäußern; das Emanierende tritt hervor, ohne den Anhalt bei seiner Ursache zu verlassen. Die Ursache verändert sich im Vorgang der Emanation nicht; insbesondere verringert sie sich nicht und ist daher unerschöpflich. Einschlägige Paradigmen sind der Ausgang der seelischen oder intellektuellen Vermögen aus der Essenz der Seele sowie das Ausströmen der Lichtstrahlen aus der Sonne: EMANARE: Emanare est immediate essentiam comitari, tamen sine respectu existentiae, & ante existentiam, & sine respectu causae externae. Emanatio accipitur dupliciter. 1. Proprie est fluere ab alio, seu ex principiis essentiae subiecti existere ab essentia alicuius indissolubili nexu vinculoque proficisci. Sic emanant Reales proprietates. Sic ex anima emanant potentiae. […]482

Bei Glisson, der völlig ungebrochen an die enge Verflechtung von Seinsund Distinktionslehre der Schulmetaphysik anknüpft, geraten die »Formeln der Innigkeit« nun zum wichtigsten Bedeutungsträger der Aussage einer unvermittelten Einheit von Sein und Leben. Unumwunden formuliert er: »Nihil enim cuivis rei intimius esse potest essentia sua.«483 Die innerste Natur alles Lebenden ist nun aber sein Leben.484 Nichts tritt zwischen das Leben und das Wesen der lebenden Einzelsubstanz:

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Goclenius: Lexicon Philosophicum, 146. Vgl. auch Micraelius: Lexicon Philosophicum, 431: »EMANATIO, resultantia, est effluxus rei naturalis a causa procreante sine transmutatione. Sic intellectus est causa emanativa suarum operationum emanantium, & sol suorum radiorum.« Manzo: Francis Bacon, 228, deutet andere, über Telesio oder gar Roger Bacon verlaufende Traditionslinien des Emanationskonzepts an. Obwohl Glisson ja vielfach von Bacon beeinflußt ist, erscheint mir die Herkunft aus der Metaphysik Suárez’ für De natura naheliegender. Ursprünglich auf Poseidonius zurückgehend, wo er den materiell begriffenen Ausfluss des herrschenden Seelenteils aus dem göttlichen Pneuma bezeichnet, gewinnt der Emanationsbegriff in der Philosophie Plotins eine herausragende Stellung, um den nun immateriell aufgefassten Hervorgang des Geistes aus dem Einen als einer nicht schwindenden Quelle (vgl. Micraelius: »sine transmutatione«) zu bezeichnen. Vgl. hierzu Armstrong: L’architecture de l’univers intelligible, 69–82. De natura, 153; vgl. auch ebd., 230: »Si ergo verum sit, quod vulgo decantatur, Causa causae est causa causati; natura substantiae est ultima & radicalis causa omnium operationum a formis aut accidentibus oriundarum. Quod vero hoc principium sit internum, satis per se constat, quia nihil rebus intimius esse potest ipso essentiali earum fundamento, a quo intime sustentantur, & sine quo in nihilum relabuntur. Inferendum itaque est, naturam esse internum, imo intimum, principium motus.« Vgl. De natura, 237: »Quod vero moritur, perdit eam essentiam qua prius fruebatur. Vita ergo erat ea essentia; qui illa sola sublata, haec una aboletur. Si ergo vita sit essentia viventis, est intimior quovis accidente, nempe est intima natura viventis.«

170 nihil prius est, & supposito intimius, sua vita. Nihil enim intervenit inter vitam & essentiam viventis: sed vita immediate fundatur in ipsa re cujus est.485

Die immediate Nähe von Substantialität und Vitalität begründet die genaue Korrespondenz ihres Abhängigkeits- oder Selbständigkeitsstatus: Was nicht für sich subsistiert, lebt auch nicht durch sich selbst; was jedoch durch sich lebt, ist stets selbstsubsistent. Eine jede Sache operiert durch das, durch das sie ist (»Res operatur per id per quod est.« ) – dies ist die Gestalt, die Glisson dem Axiom »operari sequitur esse« gibt.486 In seiner Diskussion der perceptio naturalis wird Glisson diese Idee in eine strenge Isomorphie von Sein und perzeptiver Selbstpräsenz einmünden lassen.487 Vitae radix, ubicunque est, alicujus substantiae vita est. Nihil enim inter substantiam & vitam suam intercedere potest. Quod non est per se, si vivat, vivit modificando aliud quod per se vivit, quodque est per se. Impossibile enim est ut aliquid vivat per se, hoc est, sit ultima basis suae vitae, & interim non sit ens per se subsistens.488

Die Innigkeit des Lebens gegenüber seinem Zugrundeliegenden gilt insbesondere für das einzige materielle ens per se subsistens: die vita materialis ist das »Liebste« der Materie. materia est ultimum seu primum materialis vitae subjectum. Cumque nihil charius aut intimius sit cuilibet subjecto sua vita, liquet hanc esse materiae intimam & inseparabilem essentiam.489

Den ersten Anfang des Lebens hat der Schöpfer im Schaffensakt in sie einströmen lassen. Es ist durch keine äußere Kraft, keine Bewegung, keine wie auch immer geartete Anordnung von Teilen herstellbar. Cujus [primi vitae principii, K.H.] productionem nulla vis externa, nullus motus aut quies, nulla textura, schematismus, organizatio, proportio, nexusve partium, attingere queat. Soli Deo proprium est creaturis suis in actu creandi idem infundere.490

Glisson unterscheidet die essentia nativa oder primaeva, über die die Materie allein verfügt, von der natura adventitia, die die Form zur Gesamtessenz der Sache beiträgt.491 Er weist die Form als »natura materiae in tempore«,492 als temporäres Inneres der Materie aus und weitet damit den strengen Begriff des inneren Wesens der Materie. Die Materie erachtet die

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De natura, 238; vgl. auch 321: »Substantia ergo est per principium internum, imo intimum; & consequenter per idem operatur.« Vgl. De natura, 230. Vgl. unten 4.2. De natura, Ad Lectorem, §17, fol. c3r. Vgl. auch 242: »Primum enim motus principium non est modus alterius, nec est per inhaerentiam in, & dependentiam ab, alia creatura. Est enim entitas per se, & consequenter est ipsa natura seu essentia substantiae, quae sola est per se.« De natura, Ad Lectorem, §8, fol. b1v. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §10, fol. b2v. Vgl. De natura, 93f., 506; 94 auch der Terminus der »natura nativa«. De natura, 130: »Est ergo forma natura materiae pro tempore, sive est modus materiam naturaliter afficiens.«

171 Form, mit der sie vereint ist, als ihre zusätzliche Natur (natura additionalis); sie ist ihr connaturalis, ihre epiphysis. 493 Die Akzidenzien sind ihr demgegenüber nicht natürlich.494 Mit der Form ist auch die vita modificans die innerste Natur des Lebenden, innerlicher als jedes Akzidens, innerlicher auch als jede Operation, in der sich die Natur entäußert.495 Daß das Leben seinem Zugrundeliegenden allernächst ist, bedeutet nichts anderes als die Intimität von Materie und Form im Zusammengesetzten. Auch Glisson argumentiert aufwendig für einen Verzicht von Zwischeninstanzen:496 »forma est natura, qua nihil rei naturatae intimius esse potest«.497 Die Form ist der Materie gegenüber genau deshalb natürlich, weil sie nicht fremdinduziert ist, sondern ausschließlich von innen aus der Fundamentalnatur der Materie dimaniert oder »hervorfließt«.498 Denn

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Vgl. De natura, 129, 150f., 139, 159. Vgl. auch die Charakterisierung der Form als »intima affectio« der Substantialnatur in De natura, 125. Vgl. De natura, 150f.: »Forma vero intimior est materiae quovis accidente. […] Materia respicit formam ut naturam suam additionalem; accidentia, ut accessaria ornamenta.« Zur größeren Distanz der Akzidenzien zur Materie vgl. auch beispielsweise 138, 158f., 239. Vgl. De natura, 237. Die »Innerlichkeitsabfolge« ist die folgende: Materie – Form (bzw. Essenz – Suppositalität) – Akzidens – Operation; vgl. De natura, 190: »Multa enim accidentia alioquin inter formas & earum operationes frequenter interveniunt. Interim formae dicuntur essentialia principia proxima, quia inter operationes & materiam utplurimum intercedunt. Materia enim informata, mediante forma, id agit quod absque ea minime potest. Quare forma operatione propior est materia […].«; auch 130: »Operationes quoque formae (quanquam non immediate) materiae ultimo debentur. Materia enim operatur per suam formam, quam in ipsa operatione sustentat, formaeque naturam pro sua agnoscit; & quicquid formae favet materiae naturale est.«; 58: »Verum praeter essentiam nihil aeque intimum naturae reperire est ac modum ejus substantialem, quo contrahitur ad suppositum, nempe ad certum modum essendi & operandi. Intimior itaque est naturae suppositalitas […] quovis accidente aut proprietate.« De natura, 144–155. Vgl. besonders 145: »Est ergo causatio ea entitas qua materia generat formam, eademque cujus gratia forma dependet a materia […]. Neque enim pono duos modos; alterum, generationem e materia, alterum, dependentiam in forma. Siquidem dependentiam inhaerentem a forma dependente ex parte rei non distinguo. […] Aliter enim sequeretur processus in infinitum.«; 149: »Nam inhaerentia quatenus dicit inadaequatum formae conceptum est entitas facta: non autem est entitas intermedia, seu interveniens inter materiam & formam, quemadmodum est causatio; […].«; 153: »Quod pendet, per seipsum pendet. […] concipi non potest, rem aliquam ab alia tanquam a causa posse pendere per aliam entitatem quam per seipsam.«; 154f.: »inhaerentia & natura inhaerens non differunt ut res & modus ejusdem, multo minus ut res & res; & consequenter differunt tantum ratione, & ut inadaequati conceptus. […] Nam inhaerentia nihil aliud est nisi naturae inhaerentis dependentia a subjecto, […] Inhaerentia igitur non est modus naturae inhaerentis, sed denotat hanc esse modum subjecti. Non itaque quaerit alium modum aut aliud medium unionis cum subjecto praeter seipsam quatenus inhaerentem. Non enim unus modus per alium unitur: siquidem hoc concesso, daretur processus in infinitum.« De natura, 158. Vgl. De natura, 251: »Forma enim ipsa, & quicquid vitae est in forma materiali, profluit e primaeva vita naturae substantialis, […].«; 138: »Forma non esset natura additionalis materiae, nisi ab intus e fundamentali natura ejusdem dimanaret.«; 241: »Na-

172 nur das ist im wahrsten Sinne natürlich, was »pure ab intus venit, seu sponte e natura rei enascitur.«499 impossibile est ut sit natura, quod ab intus non radicaliter manat. Repugnat enim esse naturam, & esse tantum ab extra.500 Materia quidem, accidentium ab extra venientium subjectum est, sed non naturale; at formae, quoniam ab intus manat, est subjectum naturale.501

Den Topos von der Natur als dem Innersten der Dinge radikalisiert Glisson zum Bild einer Natur als Instanz des reflexiven Zuganges der Substanz zu sich selbst. Auch wenn Glisson diese Reflexivität als natürlich-primitive Reflexivität einführt und sich nachdrücklich dagegen verwehrt, sie als seelisches Selbstbewußtsein mißzuverstehen, steht ihm, wie auch schon J.B. van Helmont, kein anderes Vokabular als das des Seelendiskurses zur Verfügung, um den Selbstbezug der Natur zu beschreiben. In einem actus vitalis, d.h. in Realisierung ihrer Vermögensdreiheit aus facultas perceptiva, appetitiva und motiva, eduziert die Materie die Form »e se et in se«. causalitas materiae ab intima ejus natura provenit. Cum enim sit ipsa productio naturae cujusdam se complentis, a natura sua intima profluat necessum est. Videtur ergo actum materiae vitalem, nempe concursum trium ejus primarum facultatum, in hoc opere requirere.502

Die drei Vermögen dimanieren unmittelbar aus der Natur der Materie, »wurzeln« in ihr und sind ihr »gleichaltrig« (coaevae). Sie sind die ersten und allgemeinsten Vermögen überhaupt. Kein anderes Vermögen, kein Akzidens tritt zwischen sie und die Natur.503

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tura materiae est materialis causa e qua forma physica dimanat; & ita dimanat, ut in eadem, quamdiu est, immaneat, foveatur & sustentetur; hoc est, ut per continuam quandam dimanationem ab ea profluat.« Vgl. auch 143, den Terminus des effluere. Vgl. De natura, 139: »Tripliciter itaque dicitur aliquid naturale. Primo, quod pure ab intus venit, seu sponte e natura rei enascitur. Secundo, quod ab extra quidem venit, sed naturam internam conservat, nutrit aut refocillat. Tertio, quod naturae eatenus conforme dicitur, quod vim ei non inferat.« De natura, 139; vgl. auch ebd. 138. De natura, 147. De natura, 134. Vgl. auch 150: »Sed dependentia a materia tanquam a causa interna & naturali est sufficiens unio formae cum materia. Fateor, est sufficiens argumentum unionis inter materiam & formam; quia una connotat materiae causationem, qua, per actionem immanentem & vitalem, formam, ut natura suam, e se & in se educit. […] Verum eo quod actione immanente & vitali producit, est natura materiae; & quia est natura, est ei intime unita. Unio igitur debetur modo materiae quo formam e se & in se, ut naturam suam, edit.« Vgl. De natura, 158f.: »Cum ergo hae facultates in ipsa vita seu natura materiae fundamentali radicentur, oportet ad formam educendam suo modo concurrant. Aliter enim haec non erit fundamentali naturae materiae conformis, neque consequenter ei connaturalis.«; 192f.: »[Superest ergo probemus, K.H.] tres istas facultates a natura substantiali immediate dimanare. Immediate dico, respectu aliarum potentiarum aut accidentium, quorum nulla inter has facultates & naturam substantiae intercedunt. […] primas voco, quod universaliores, & ordine naturae priores sint aliis omnibus potentiis & facultatibus. […] Nulla facultas generalior aut antiquior esse potest iis quae naturaliter &

173 Die Nähe von Sein und Selbsttätigkeit gilt dabei für alle Naturdinge gleichermaßen. Hatte van Helmont befunden, die »lebhafte« Form sei den unbeseelten Körpern »nicht so nahe eingepflanzt / wie den Pflantzen und Gewächsen«,504 so nimmt Glisson an, daß das Prinzip der Selbstbewegung allen Naturdingen im selben Grade innerlich ist. Internum motus principium est ipsa natura sive essentia moventis […] Si enim effectus in plantis & animalibus, formis recte adscribatur, injuste aliis formis naturalibus denegatur; cum omnes formae naturales non minus internae causae sint suarum operationum, quam formae quas animatas vocant suarum.505

Im letzten Teil des Traktats De natura wendet Glisson seine Theorie der Vitalität der Substanz in aller Ausführlichkeit auf die corpora inanimata an; wir haben es hier also mit seiner eigentlichen Physik zu tun.506 Es zeigt sich erneut, wie sehr er bei aller Anlehnung an die Systeme der Schulen doch wesentlich ein Naturforscher seiner Zeit ist und sich mit den Ergebnissen der modernen Mikroskopie507 und der experimentellen Forschung Boyles ebenso wie mit der Korpuskularphysik Descartes’ oder dem Atomismus Gassendis fachkundig auseinanderzusetzen vermag. Im letzten Kapitel »De minimo naturali« 508 fragt Glisson nach den kleinsten Teilen der Körper und unterscheidet drei Schulen: die der strengen Atomisten mit Epikur und »seinem berühmtesten Interpreten« Gassendi, die der Cartesianer, die bei zwar kleinen, aber dennoch nicht unteilbaren Korpuskeln ansetzen, und die der Peripatetiker mit ihrer Lehre der minima naturalia, welche »in statu separato« unteilbar sind, »in unum continuum unita« jedoch an jedem ihrer Punkte geteilt werden können.509 Treffsicher formuliert Glisson, was die

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immediate a natura sive essentia substantiae in genere resultant. […] Accidentia enim, quibus aliquando, & non praeter causam, facultates tribuuntur, iis multis nominibus posteriora sunt. Etenim absque substantiae (a qua sustentantur) interitu perire possunt: hae autem facultates a natura cujus sint nullo naturali modo sequestrari queunt. Sunt enim perpetuae, & naturae substantiali coaevae. […] Hae ergo facultates sunt simpliciter primae & generalissimae.« Causae et initia naturalium, §21, A I 34. Vgl. oben 2.3.4. De natura, 226f. Vgl. 359–534: »Divisio motuum inanimatorum in 5 classes.« De natura, 415, 431, 511 verweist Glisson auf die Teilchenstruktur verschiedener Körper, so wie sich unter dem Mikroskop darbietet, und erwähnt auch die animalcula. De natura, 506–534. Diese Darstellung der drei Schulen De natura, 509, vgl. aber insgesamt 507–510. Zum minimum naturale vgl. auch ebd., 484–486, sowie unten 5.1; ferner, gerade auch im Hinblick auf den zeitgenössischen Atomismus, Subow: Zur Geschichte des Kampfes zwischen dem Atomismus und dem Aristotelismus; ferner Murdoch: The Medieval and Renaissance Tradition of Minima Naturalia. Nach der einschlägigen Darstellung bei Dijksterhuis (Die Mechanisierung des Weltbildes, 231–234, 310–312) entwickelten sich die minima naturalia durch Averroes und die Schule von Padua (Agostino Nifo) von reinen Denkpostulaten zu materiellen Kleinstteilen, und erst als solche werden sie für die Alchemie und Chemie attraktiv. Es wäre hochinteressant, diese Entwicklung genauer zu beleuchten; dies kann aber hier nicht geschehen.

174 ersten beiden von der letzten grundlegend trennt: nur sie, die peripatetische Partei, erklärt die kleinsten Partikel nicht zu den innersten Prinzipien (principia intima) der Sache und lehnt es ab, die spezifische Natur eines Körpers aus der jeweiligen Größe, Lage und Gestalt seiner ihn aufbauenden Partikel abzuleiten.510 Die Elemente setzt sie nicht nur als gestalt- oder strukturverschieden (textura, schema), sondern als wesensverschieden an. Nur die Peripatiker beachten den Unterschied, der zwischen dem Begriff des Teils als pars integrans, als Bestandteil der Körpermasse, und als pars essentialis besteht. Partes essentiales sind die energetische Natur und die fundamentale Subsistenz der Substanz.511 Ohne jeden Zweifel rechnet Glisson sich den Aristotelikern zu: »natura alia res est quam quae in compositione partium integrantium quaerenda sit.«512 Die Natur findet man nicht in der Zerlegung des Körpers als massebegabter und ausgedehnter Substanz, sondern in der Betrachtung seines Inneren, ist sie doch das innere Bewegungsprinzip des Körpers, sein mos, seine lex operandi. 513 Dies gilt nun auch für das minimum naturale, das ja nichts anderes ist als »Materia […] ad eximiam parvitatem redacta.«514 Die Mittel, mit denen das natürliche Minimum sich einer weiteren Teilung verweigert (resistere, reniti 515), sind innerlich motiviert, beispielsweise durch sein Streben, sich anderen Körpern beizugesellen (appetitus re-uniendi), mithin kei-

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Vgl. De natura, 509: »priores duae sententiae suas particulas seu atomos ut ipsa principia cujusvis naturae proponant: postrema vero, etsi agnoscat particulas minutas ut divisibiles, & eatenus ut partes integrantes totius, eas tamen ut ipsius naturae intima principia constitutiva nequaquam admittit. Negat enim naturas specificas corporum a sola diversa magnitudine, positura & figura particularum resultare […].« Vgl. auch ebd., 180f.: »Constat itaque elementa esse essentialiter distincta, & non tantum secundum schema & texturam partium.« Vgl. De natura, 469–472. Auch 506 äußert Glisson sich grundsätzlich zu den verschiedenen Teilkonzeptionen, die er annimmt. Die Terminologie der partes integrantes bzw. essentiales ist Bestandteil der weitgefaßten Prinzipiendiskussion Glissons, die in seinen Handschriften dokumentiert ist. S. die entsprechenden Titel im Literaturverzeichnis. Den Vorwurf der Verwechslung von pars essentialis und pars integrans macht Glisson explizit auch gegenüber Demokrit, vgl. [»De materia prima.«], fol. 48r. De natura, 472. Vgl. auch 470: »si velimus naturam substantiae in genere inquirere, non partes integrantes, sed essentiales, consulendae sunt.« Vgl. De natura, 470: »Siquidem numerus atomorum corpus aliquod ingredientium cognitus, solam materiae molem, non legem operandi, in qua natura consistit, detegit. Verum aliqui pertinaciter contendunt, aliam naturam praeter magnitudinem, figuram & motum localem, non esse quaerendam. Agnoscimus magnitudinem & figuram, quin & motum. Sed unde motus? Internum motus principium id ipsum est quod nomine naturae quaeritur.« De natura, 514. Vgl. auch die Abhandlung »An continuum sit divisibile in semper divisibilia.«, hier: fol. 10v: »probavi in omni substantia, praeter fundamentalem subsistentiam dari quoque naturam energeticam. Hinc infero atomum quatenus significat minimum corpusculum naturale praeditum esse tam subsistentia fundamentali quam natura sua energetica. imo si velimus naturam substantiae in genere inquirere non partes integrantes, sed essentiales † debemus.« Vgl. De natura, 512.

175 ne Verkleinerung zuzulassen, sondern größere Einheiten zu bilden.516 Glisson kennt den Begriff einer »cohaerentia interna« oder eines »nexus intrinsecus«: der Zusammenhalt der Teilchen eines Körpers beruht auf ihrer natürlichen Perzeption und ihrem natürlichen nisus cohaerendi. Der Zusammenschluß mit anderen Partikeln wird als Verbesserung des eigenen Zustandes perzipiert und angestrebt. Atome hingegen sind wie Sandkörner und hängen von sich aus nicht zusammen.517 Für Körper jeglichen Aggregatszustand weist Glisson die vis re-uniendi nach; für die Festkörper bemüht er dabei das Paradigma der Vernarbung als eines Zusammenwachsens der betroffenen Körperteile.518 Particulae utilitatem qua ex sua communione inter se fruuntur percipientes, amant seu appetunt istam suam communionem, & consequenter eandem conservare conantur, hoc est, conantur inter se cohaerere. Ita ut ipsa cohaerentia interna nihil aliud sit, nisi motus seu nisus a continuitate resultans, quo natura eandem conservare conatur. Quapropter, mediantibus perceptione & appetitu naturalibus, cohaerentia in continuitate primo fundatur.519

Dies läßt sich auch gegen Descartes und seine Annahme einer aktual geteilten Materie wenden, deren Partikel, da sie nun einmal geteilt sind, sich nicht zu einer echten Einheit (unum per se, intime uniri 520) zusammenschließen können.521 Glisson trägt den Gedanken einer Kontinuität im emphatischen Sinne vor, einer Kontinuität als forma positiva, die nicht allein im Ruhen der beieinanderliegenden Teile besteht. Descartes beraube sich indes der begrifflichen Möglichkeit, Kontinuität und Kontiguität zu unterscheiden.522 In der Konsequenz sei jeglicher Körper eine confusa massa, ein Chaos seiner Partikel: Quanquam igitur hae particulae aliquando confluunt, & in magnum cumulum, puta aeris aut aquae, congeruntur; manent tamen, ex hac sententia, actu divisae, & potius confusam massam & chaos minutissimarum particularum, variis motibus commotarum, quam unum corpus physicum, conficiunt.523

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Vgl. De natura, 513. Auch der Wechsel der Form beim Übergang in einen anderen Aggregatzustand, den Glisson ebd., 514, als Mittel des Widerstandes gegenüber einer weiteren Division anführt, entstammt natürlich dem Inneren des Partikels. Vgl. De natura, 415: »Enimvero atomi instar arenae sunt, & de se minime cohaerent.« Vgl. De natura, 525–534. De natura, 526. Vgl. den umfangreichen und systematisch angelegten Entwurf einer Naturgeschichte der Kohärenz: »De coheraentia [sic!] partium integralium«, darin besonders fol. 155r–156r: »Historia«. De natura, 409. Vgl. De natura, 520: »Alterum quod meum sententiae Cartesianae, de particulis infinitae parvitatis, assensum suspendit, est, eum supponere, materiam semel divisam, sic divisam perpetuo manere, & nunquam re-uniri.« Auch ebd. 521. Vgl. De natura, 521: »Nullam itaque, quod sciam, continguitatis & continuitatis differentiam agnoscit; neque omnino de reddenda ratione continuitatis solicitus est.« Vgl. auch 522–525, besonders die Abschnitte »Solam quietem ad solidorum continuitatem non sufficere.« und »Continuitatem esse formam positivam; quietem non.« De natura, 522. Vgl. Descartes: Le monde VI, AT XI, 34f.

176 Die echte Kontinuität als forma positiva, die ihren Anhalt im Inneren der Teile findet, ist nur gegeben, wo Partikel eine substantielle Zusammensetzung (compositio substantialis) bilden und sich vom anarchischen Gewirr einer compositio integralis der Korpuskeln abheben.524 Die Idee des »Lebens der Natur« ist bei Glisson also in die Mikrostruktur der Körper fortgesetzt, Harveys These der foetalen Autogeneration auf die materiellen Kleinststrukturen herabdekliniert. Jeder Partikel der Materie ist belebt, perzipiert, strebt, bewegt sich. Dies ist zunächst ein infinitistisches Motiv, das dem Unternehmen der anatomia subtilis und ihrer Fokussierung der Fiber entspricht und sich demgemäß auch in Glissons Embryologie und seiner Stoffwechselphysiologie entdecken läßt:525 Wo Glisson Beispiele der Embryologie diskutiert, sind als Subjekt der gestaltenden Kräfte nicht so sehr der Foetus und seine entstehenden Organe von Interesse, sondern die betroffenen kleinsten Materie-Einheiten, die sich kraft ihrer drei Naturalvermögen selbst organisieren.526 Der Peripatetiker Glisson forscht nun allerdings nicht mit der Perspektive, die der Mikroskopist auf das Material seiner Beobachtung einnimmt und die immer eine Perspektive auf das phänomenale Äußere dieses Materials bleiben muß, wie sehr dieses Äußere auch vergrößert erscheinen mag. Die extensive Kategorie des immer Kleineren durch die intensive des stets Innenliegenden ersetzend betreibt Glisson die subtile Anatomie als Aufschnitt des Innersten der Substanz, nach Art eines Anatomen, der eine Zwiebel immer weiter enthäutet.527 Es sind die innersten Teile, die wachsen;528 der Inwendigkeit natürlicher Vorgänge

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De natura, 506. Für Glissons Tractatus de ventriculo et intestinis hat Duchesneau dies genauer durchgeführt, vgl. Les modèles du vivant, 183–196; vgl. auch oben 2.1.2. Im Vorwort an den Leser spricht Glisson beharrlich immer dort von der materia foetus, wo Scaliger und Harvey »Hund« oder »Küken« setzen; vgl. De natura, Ad Lectorem, §12, fol. b3v; §14, fol. c1r; §17, fol. c3r. Das Bild des »anatomista di cipolle« findet sich in der Geschichtstheorie des Francesco Patrizi. Vgl. Della historia diece dialoghi di M. Francesco Patritio, Venedig 1560, im siebten Dialog, fol. 39r. Patrizi vergleicht die menschliche Handlung mit einer Zwiebel (fol. 39r: »ella [= l’attione, K.H.] mi pare una figura, ravvolta in mille invogli in maniera die cipolla.«; fol. 40v: »Et noi pure di bella robba, ci habbiam’avanzato, discorzando questa cipolla dell’attione.«), an der man »cose intrinseche« und »cose extrinseche« unterscheiden kann (fol. 40v). Der Historiker hat die Aufgabe eines Anatomen, der sich von den extrinsischen Umständen des Menschen und seiner Tat ausgehend zu dessen innerem Handlungsprinzip vorarbeitet; vgl. fol. 39r: »Et pare, che le cosi [sic!] fatte, procedendo dallo extrinseco dell’huomo, non è ragione, ch’altri attion sue l’addimandi. Ma sue attioni, sono solo da dir quelle, che da principio nascono, il quale sia dentro di lui.« und fol. 40v: »La onde egli è da por mano all’attore, & all’altre. Si, ma e’bisogna [sic!] prima ritrovarlo, risposi io, & poi farne anatomia.« Zum Hintergrund vgl. Leinkauf: Freiheit und Geschichte, zum Bild der Zwiebel und ihres Aufschnittes 91f. Vgl. De natura, 409, wo Glisson die nutritio – ganz getreu Galen – von einer appositio extrinseca unterscheidet, weil bei ihr nicht nur die Ränder wachsen. Glisson unter-

177 kann man nur nachgehen, wenn man in das Innere der Materie Einsicht nimmt. Das Innerste der Materie ist Innenseite, unteilbare Innerlichkeit in Seelengestalt. Glisson propagiert mit seinem naturphilosophischen Konzept den Verzicht auf jegliche Form von Dualismus. Dies gelingt, weil bereits die materielle Minimalsubstanz in ihrer Substantialnatur die Einheit der biusia verwirklicht. Vitalität setzt keine organische Strukturen oder körperliche Ganzheiten voraus. Sie verlangt lediglich den nackten Selbstand der Materie hinter sich, der das Leben als sein eigenstes, innerlichstes Wesen aus sich »herausfließen« läßt.

3.2.11 Glisson: Materialist, Immanentist, Substanzmonist Glisson’s theory of substance can be seen as a monistic view as regards the general nature of substance, and as a pluralistic view as regards the number of existing substances.529

So schätzt Guido Giglioni, einer der ganz wenigen ausgewiesenen Kenner der Naturphilosophie Glissons, dessen Substanztheorie ein und stellt Glisson in eine Reihe mit Denkern wie J.B. van Helmont oder Giordano Bruno, die die Immanenz der Formen oder Kraftprinzipien in der Materie behaupten.530 Mit dem Monismus der Natur meint er hier die Einheit der biusia, in der das Energie- und das Masseprinzip nicht durch einen Realunterschied voneinander abgerückt sind, wie es Descartes mit seinem Dualismus von res cogitans und res extensa vorsieht. Man kann jedoch auch einen Monismus anderer Art in den Mittelpunkt einer Interpretation der Naturtheorie Glissons stellen, der die von Giglioni behauptete Pluralität hinsichtlich der Anzahl der materiellen Substanzen strenggenommen allerdings ausschließt. Die Rede ist von einem Monismus der ersten Materie, die noch das einzige materielle ens per se subsistens und damit die einzige körperliche Substanz im eigentlichen, univoken Sinne darstellt.531 Daß die erste Materie nur eine Substanz sei, diese Auffassung führt bereits Suárez gegen atomistische Vorstellungen ins Feld;532 Descartes bezieht sie dementsprechend auf die res extensa. 533 Während Suárez jedoch daran festhält,

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scheidet hier zwischen partes intimae und partes extimae: »Etenim in nutritione non tantum partes extimae crescunt, sed & intimae […].« Vgl. Giglioni: Francis Glisson’s notion of confoederatio naturae, 245. Pagel konstatiert auch für van Helmont einen »monist view of immanence of form in matter« bei gleichzeitigem »pluralist view of the world as the sum total of individual units« und erkennt die strukturelle Ähnlichkeit zu den Entwürfen von Harvey und Glisson; vgl. Johann Baptista van Helmont, 36. In Langes einflußreicher Geschichte des Materialismus kommt Glisson übrigens nicht vor. Vgl. DM, 13, II, 8: »Dicendum ergo est primam materiam, seu materialem causam omnium rerum sublunarium, esse tantum unam.«; s. auch etwa 15, I, 18. Vgl. Princ. Phil. II, 23, AT VIII-1, 52. Vgl. Thiel: Individuation, 224.

178 daß die substantiellen Formen ebenfalls Substanzen sind und Descartes die durch Bewegung voneinander getrennten Materieteile real distinkte Substanzen sein läßt,534 haben in Glissons System weder die Formen noch die Komposita aus Materie und Form ein Anrecht auf den Titel ›Substanz‹. Die substanzmonistische Lesart drängt sich so besehen geradezu auf und rückt Glisson in die Nähe zu anderen Monisten, etwa zu Marci, in dessen Philosophie die Weltseele die einzige forma substantialis ist und die Formen der Einzeldinge lediglich ihre Akzidenzien bilden,535 und auch zu Spinoza und seinem Monismus der Gottsubstanz. Die Verwandtschaft der Theorien Spinozas und Glissons im Konzept der Substanz als Ursache ihrer eigenen Substantialität haben die Zeitgenossen sogleich registriert.536 Die ontologisch geschwächte Stellung der Formen, die Glisson voraussetzt, die Univozität der biusia und damit die immanentistische Konzeption aller Naturvorgänge geraten auf dem Hintergrund dieser monistischen Interpretation zu begründungsstrukturellen Ausdrucksformen derselben systematischen Denkfigur. Nicht der stoische, vor allem von Augustinus tradierte537 Begriff der Seminalformen, sondern der einer materia seminalis als einer zu bestimmten Formen prädisponierten Materie steht in Glissons System im Mittel-

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So Princ. Phil. I, 60, AT VIII-1, 28; II, 33, AT VIII-1, 59f., II, 55; AT VIII-1, 71; vgl. auch die weiteren bei Thiel: Individuation, 224f. angeführten Textstellen. In dieser Ambiguität scheint die dreifache Instantiierung des Substanzbegriffs durch Aristoteles aus De anima II, 1, 412a6–9 reflektiert zu sein. Bei Glisson wird ›Substanz‹ lediglich noch durch die Materie instantiiert. Vgl. Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. 6. Johannes Marcus Marci, 46. Vgl. Henry More: Ad V.C. Epistola altera, Quae brevem Tractatus theologicopolitici confutationem Complectitur, Paucaque sub finem annexa habet De Libri Francisci Cuperi scopo, Cui Titulus est, Arcana Atheismi Revelata, &c., London 1679, Opera omnia II, 565–614. Die Auseinandersetzung mit Glisson erfolgt auf den Seiten 604–611. More parallelisiert seine Ablehnung des Spinozismus und des »Biusianismus«; den Ausgangspunkt beider Autoren sieht er im starken Begriff der Selbstsubsistenz, der die Durchführung des Gedankens einer autarken Natur erst ermöglicht; vgl. 604: »[Franciscus Glissonius, K.H.] ut Spinozius omnem Substantiam quatenus substantia est, a se, quippe quae per se subsistit, existere contendit, ita hic Substantiam quatenus Substantia est necessario vi suae Naturae vivere, hoc est, percipere, appetere seseque movere: quas perinde facultates Perceptivam, Appetitivam & Motivam, ipsi Materiae immediate inesse statuit.« Vgl. auch Giglioni: Anatomist Atheist?, 125. Vgl. etwa SVF II, 1027, oder 1132: die Natur bringt selbstbewegt das in den Samenkräften Angelegte hervor; Augustinus verwendet den Ausdruck der rationes insitae, causales, primordiales etc.; vgl. De genesi ad litteram, beispielsweise VI, 14–15; VII, 22–24. Vgl. zum Gesamtzusammenhang Meyer: Geschichte der Lehre von den Keimkräften, hier besonders die Hinweise 13f., 163f.; zur Präsenz dieses Modells in der Naturphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Oldroyd: Some neo-platonic and stoic influences on mineralogy.

179 punkt.538 Glisson verwendet hier einen Terminus seiner Embryologie.539 Die erste Materie hat alle Formen-modi in ihrem Schoß, läßt diese in ihren Bewegungen aus sich emanieren und nimmt sie wieder in sich zurück.540 Dabei wird der Zusammenhang von Prinzip und Prinzipiiertem aufrechterhalten: »aus sich und in sich« eduziert die Materie die Form, indem sie mit den actiones immanentes der Perzeption, des Strebens, der Bewegung auf sich selbst einwirkt.541 So wie die Materie causa interna ist, so ist die Form effectus internus. 542 Die aus Form und Materie zusammengesetzten supposita, deren Vielheit auch für Glisson unbestreitbar ist, sind wie die Substantialformen nur in Abkünftigkeit von der Materie, damit in defizienter Weise und unter Dehnung des Substanzbegriffes Substanz. Die Abkunft aller Körper von der ersten Materie sichert ihnen eine biusiaNatur als ratio communis zu. Die Innerlichkeit der Materie ist bei Glisson nicht herausgehoben aus dem Seinsbereich der körperlichen Masse, wie es das Modell der Monade als eines meta-physischen Punktes vorsieht, mit der Leibniz das Problem der ersten Prinzipien der Körper und ihrer Kräfte beantworten wird.543

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Vgl. unten 4.6. Der Begriff der forma seminalis spielt eine sehr beiläufige Rolle. Im zwölften Kapitel von De natura, 174–186, gibt Glisson eine Übersicht »De generibus & speciebus Formarum«, hier tauchen auch die formae seminales inorganicae und organicae auf. Erstere konstituieren hauptsächlich die Mineralien, letztere sind mit einer vis plastica begabt und bringen so die Organismen hervor, vgl. 175, 183. Die prima seminalis materia des Eies bringt das erste Blut (sanguis primitivus) des werdenden Lebewesens hervor (illius auctorem esse), vgl. Mani: Biomedical thought in Glisson’s hepatology, 45, 58. Vgl. auch folgenden Passus des frühen Bacon: De principiis atque originibus (1612), fol. k3v, Works III, 86: »asserenda materia (qualiscunque ea sit) ita ornata et apparata, et formata, ut omnis virtus, Essentia, actio, atque motus naturalis ejus consecutio, et emanatio esse possit.« Zitiert nach Manzo: Francis Bacon, 228. Allerdings verwirft Bacon sogleich den Glissonischen Gedanken einer autarken, auf Gott verzichtenden Selbstformung der Materie, vgl. ebd., 228f. Vgl. De natura, 150, zitiert in Anm. 502. Vgl. De natura, 143: »Materia enim est naturalis seu interna formae causa, tum generans, tum sustentans: forma est internus effectus dupliciter dependens, nempe e materia dimanans, eidemque inhaerens.« Die Titulierung der Monaden als »points métaphysiques« im Système nouveau, GP IV, 482. Der frühe Leibniz hatte versucht, die physikalische Kraft in den Körpern zu lokalisieren (vgl. Leibniz an Herzog Johann Friedrich, 21.05.1671 und Okt. 1671, AA II, 1, 108, 162f.), davon aber in seinem Spätwerk Abstand genommen (Ohne Titel, GP VI, 627; Leibniz an de Volder, 20.06.1703, GP II, 253; Leibniz’ drittes Schreiben an Clarke, 25.02.1716, GP VII, 366; Leibniz an des Bosses, 24.04.1709, GP II, 372). Die jeglichem Materialismus zuwiderlaufende Stoßrichtung des Kraftbegriffs Leibniz’ wird beispielsweise deutlich im Specimen Dynamicum, I, 11: »Hinc igitur, praeter pure mathematica et imaginationi subjecta, collegi quaedam metaphysica, solaque mente perceptibilia, esse admittenda et massae materiali principium quoddam superius, et ut sic dicam formale, addendum; […] Id principium Formam, an e)ntele/xeian, an Vim appellemus, non refert, modo meminerimus per solam virium notionem intelligibiliter explicari.« Vgl. auch ebd. I, 13.

180 Die minimalen Kraft- und Lebenszentren sind für Glisson materielle Einheiten. Überhaupt ist der Begriff der monas, den Glisson aus den Texten Giordano Brunos, beispielsweise aus De minimo (1591), eigentlich gut kennen könnte, bei ihm nicht präsent. Glisson verbindet mit seiner Auffassung der minima bezeichnenderweise nicht den Ansatz einer theologischspekulativen Geometrie, Zahlenlehre und »Meßtheorie« im Ausgang von platonischen oder pythagoreischen Theoremen.544 Als natura naturans oder universalis, welche Glissons Vorläufer wie auch Spinoza mit Gott identifizierten,545 erweist sich im eigenen Prospekt die energetische Natur der ersten Materie.546 Während van Helmont Gott noch als unverzichtbaren Spender des actus vitalis auf den Plan der Natur ruft, gibt sich die Materie diesen in Glissons Entwurf selbst. Im Vergleich zum Ansatz Spinozas wird die Bestimmung der Einzeldinge nicht von Gott, sondern vom untersten amorphen Substrat ausgehend – somit gerade vom anderen Extrem der scala naturae her – als Modifikation einer einzigen Substanz gedacht. Das Ergebnis der Argumentation Glissons ist es, die Präsenz Gottes in den Naturabläufen auf ein deistisches Minimum zu reduzieren. Glissons Gottesbild ist nicht das des Regierers der Schöpfung im direkten Kontakt zur Natur.547 Ganz entgegen einer solchen Immediatisierung des göttlichen Prinzips steht Gott in De natura an der Peripherie.

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Vgl. etwa Bruno: De minimo, bes. OL I-3, 136: »Deus est monas omnium numerorum fons, simplicitas omnis magnitudinis et compositionis substantia, et excellentia super omne momentum, innumerabile, immensum. Natur est numerus numerabilis, magnitudo mensurabilis, momentum attingibile.« Vgl. etwa auch ebd. 173f., 179, sowie Neuser: Der Naturbegriff bei Giordano Bruno; Boenker-Vallon: Die mathematische Konzeption der Metaphysik; dies.: Metaphysik und Mathematik bei Giordano Bruno. Zu Spinoza vgl. Ethica I, Propositio XXIX, Scholium, Blumenstock 132. Vgl. etwa auch Alsted: Physica I, 7 (De natura), Encyclopaedia, tom. III, 676: »Naturae vocabulum accipitur late & stricte, seu metaphysice & physice. Late natura est transcendens: estque vel prima, vel orta. Illa naturans, haec naturata dicitur. Natura prima est ipse Deus. Natura orta est incorporea, vel corporea. Illa est spiritus creati: haec corporis. Stricte natura est principium motus & quietis: idque vel substantiale, vel accidentale.«; vgl. auch Commentarii Collegii Conimbricensis in octo libros Physicorum II, 1, qu. 1, 203: »In primis […] accipitur natura pro mente diuina rerum omnium opifice, & parente. Hanc autem Philosophi quidam boni […] naturam naturantem appellarunt […]. Hinc ortum habuit diuisio natura in vniuersalem, & particularem; vbi per vniuersalem naturam Deus potissimum designatur, qui naturas omnes ipse cohibet, & continet: per particularem res caeterae, quas etiam nonnulli naturam naturatam vocant.« Für zahlreiche weitere Belegstellen und zur Sache vgl. Leinkauf: Der NaturBegriff des 17. Jahrhunderts, 401, 403–405. Vgl. die – allerdings einmalige – Redeweise Glissons von der perceptio naturalis der Materie als »universalis naturae cognitio«, De natura, 208. Vgl. Leinkauf: Mundus combinatus, 35–45.

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»vestibulum Monadologiae«? Selbstsein und Fremdbezug

Daß wesentliche Elemente der Leibnizschen Monadenlehre durch die Substanztheorie Glissons vorweggenommen wurden, stellt eine von der Leibniz-Forschung spätestens seit 1747 thematisierte Erkenntnis dar.1 So bildet die Dynamisierung alles Substantiellen in der Ineinssetzung von Sein und Leben eine gemeinsame Leitidee beider Denker.2 Wiederholt hat die konzeptionelle Nähe der beiden Philosophen die Frage aufgeworfen, ob Leibniz seine Theorie unabhängig von der Glissons entwickelte oder ob er letztere kannte und Anleihen bei ihr machte, ohne diese als solche zu kennzeichnen.3 Es ist selbstverständlich möglich, daß Leibniz mit dem Werk Glissons bei einem seiner Aufenthalte in London 1673 und 1676 oder aber durch den Abt Molan in Loccum bei Hannover, in dessen Bibliothek sich ein Exemplar des Traktats De natura befand,4 in Berührung gekommen ist, und aufgrund seiner guten Kontakte zur Royal Society war er über die Vorgänge in der Gesellschaft wie auch die Publikationen der Mitglieder minutiös informiert. Allerdings ist die Behauptung einer Abhängigkeit mit dem Verweis auf die tiefgreifenden Differenzen beider Denker stets von Kritik begleitet gewesen.5 Ohne weitere textliche Anhaltspunkte sind alle Spekulationen müßig, und so hat sich die Frage einer Einflußnahme Glissons auf Leibniz trotz der Fortschritte, die die Erschließung des Leibnizschen Nachlasses seit der lateinischen Dissertation von Henry Marion aus dem Jahre 1880 6 gemacht hat, denn auch für die vorliegende Arbeit als unentscheidbar herausgestellt.

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S. oben die Hinweise in der Einleitung, 22f. Zu Leibniz vgl. die Hinweise bei Leinkauf: Substanz, Individuum und Person, 29f. Neben den in der Einleitung gegebenen Hinweisen auf Hollmann und Cousin vgl. Rémusat: Histoire de la philosophie en Angleterre II, 168; Lasswitz: Geschichte der Atomistik II, 494f.; Henry: Medicine and pneumatology, 39; Henry/Jones: Francis Glisson, 369; Pagel: The reaction to Aristotle, 503, 507, 509. Vgl. Marion: Franciscus Glissonius, 135. Ein frühes Beispiel ist Succovs Vergleichung der Glissonischen und Leibnizischen Lehren von dem Leben der Natur; vgl. ferner die skeptische Einschätzung bei Marion: Franciscus Glissonius, 120–129. Mit vollständigem Titel: Franciscus Glissonius quid de natura substantiae seu vita naturae senserit et utrum Leibnitio de natura substantiae cogitanti quidquam contulerit.

182 Die Untersuchung des Denkens Glissons stößt nun in Theoriestücke vor, die die These einer Vorläuferschaft gegenüber Leibniz am ehesten zu stützen scheinen, hintergründig aber gerade die fundamentalen Abweichungen beider Philosophen voneinander hervortreten lassen.

4.1

Der Begriff der potentia substantialis und das Paradigma der spirituellen Vermögensdreiheit

Das Leben der Natur ist verborgen; seine »Früchte und Anzeichen« sind die drei natürlichen Verrichtungen perceptio, appetitus, motus. 7 – Die Latenz des Lebens gilt allerdings nur vor dem menschlichen Betrachter: sich selbst ist das Leben völlig durchsichtig.8 – Natürlich belebt sein heißt, die Vermögen zur natürlichen Perzeption, Appetenz und Bewegung, d.h. die drei ersten natürlichen Fähigkeiten des Lebens der Natur zu haben. Der Traktat über die energetische Natur der Substanz ist deshalb im Kern eine Abhandlung über die Naturalvermögen der Substanz. Daß Glisson im Vorfeld seiner voraussetzungsreichen inhaltlichen Auseinandersetzung zunächst den Gebrauch der Ausdrücke »potentia« und »facultas« selbst meint verteidigen zu müssen, ist ein Indiz seines Bewußtseins dafür, wie problematisch der Kraft- und Vermögensbegriff in den zeitgenössischen cartesisch dominierten Debatten geworden war.9 Wie aber soll man die kreatürliche Ungewißheit morgiger Existenz, das posse operari der Organe, das Verhältnis der abstrakten Universalien zur aktualen Existenz ohne diese Termini begreifen und diskutieren können?10 Die

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Vgl. oben 2.3, Anm. 255. S.u. 4.3. Vgl. Hutchison: What Happened to Occult Qualities in the Scientific Revolution?; Henry: Occult qualities and the experimental philosophy. Für Descartes bedeutet »Kraft« nur noch »Tendenz der Zustandserhaltung«, in allen anderen Bedeutungen, die man annehmen könnte, ist sie Chimäre: vgl. Princ. Phil. II, 43, AT VIII-1, 66: »Hic vero diligenter advertendum est, in quo consistat vis cujusque corporis ad agendum in aliud, vel ad actioni alterius resistendum: nempe in hoc uno, quod unaquaeque res tendat, quantum in se est, ad permanendum in eodem statu in quo est […].«; Descartes an Mersenne, 28.10.1640, AT III, 212: »en l’Ecole on n’explique pas bien cette Matiere, en ce qu’on la fait puram potentiam, & qu’on luy adjouste des formes substantielle, & des qualitez réelles, qui ne sont que des chimeres.«; Le monde, AT XI, 33. Hobbes identifiziert »Kraft« und »Quantität der Bewegung«; vgl. De corpore II, 8, 18, English Works I, 115: »the magnitude of motion computed in this manner is that which is commonly called FORCE.« Vgl. auch Garber u.a.: New doctrines of body and its powers, place, and space, 579–581; Gabbey: New doctrines of motion, 653–656. Diese Beispiele De natura, 195. Indem er sie anführt, trifft Glisson allerdings den fraglichen Punkt gar nicht, ist doch sein Anliegen – wie sogleich deutlich wird – die Rehabilitation der potentia ad operari und entstammen die Beispiele doch dem Begriffsfeld der potentia ad esse.

183 erste Aufgabe besteht also darin, den Begriff des Vermögens von seinen Ungenauigkeiten und Mehrdeutigkeiten zu reinigen und ihre Verwendung in den Wissenschaften auf diesem Weg zu rehabilitieren: »Nomen Potentiae retinendum.« 11 Glissons Vorschlag zu einer solchen begrifflichen Reinigung ist ein brillantes Beispiel seiner oftmals anstrengenden, scholastisierenden Denkweise. Glisson nimmt seine Diskusssion des Vermögensbegriffs mit der üblichen aristotelischen Unterscheidung in ontologische und kinetische Vermögen auf (potentia ad esse, potentia ad operari). 12 Nur kurz geht er auf die potentia ad esse ein, teilt sie in die rein logische potentia objectiva, die den Fortbestand der Kreaturen betreffende potentia futura und die die Seinsweise der entia universalia bezeichnende potentia abstracta. 13 Der potentia ad esse entgegengesetzt ist der actus oder die existentia actualis. Das aktuale Sein einer Sache wird wie üblich bestimmt als die reale Existenz außerhalb ihrer Ursachen.14 In weitaus größerem Maße interessiert Glisson jedoch die potentia ad operari. Sie wird zweifach unterschieden: man kann sie abstracte oder concrete betrachten, je nachdem, ob man sie von ihrem Subjekt oder »Fundament« – im Einzelfall ist dies eine Substanz oder ein Akzidens – abgelöst oder dasselbe einschließend denkt, wie man ja auch das Weiße als das bloße Weiß-sein oder als den weißen Gegenstand verstehen kann.15 Aber auch die potentia abstracta »biegt« sich auf ihr fundamentum »zurück« (se

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Vgl. De natura, 195f.: »Nomen Potentiae retinendum. 1. Nonnullis ipsum nomen Potentiae ac Facultatis displicet, quod a multis proponantur tanquam res sive qualitates absolutae. Verum utcunque aliqui perperam de iis loquantur aut scribant, non sunt propterea e Scientiis penitus eliminandae. De multis enim rebus absque iis neque recte concipere possumus, neque quae concipimus aliis communicare. […] Quare omnino enitendum est ut voces illae, potentia & facultas, quantum fieri potest, ab ambiguitate liberentur, atque adeo suum usum in Scientiis retineant.« Vgl. De natura, 196f.; Seidl: Art. ›Möglichkeit‹, 75–77; Schlüter: Art. ›Akt/Potenz‹, 135. Zum Folgenden vgl. auch die Abbildung unten 193. Bei ihr wird von der exsistentia actualis des jeweiligen ens abstrahiert. Vgl. De natura, 196: »Hinc quae non sunt actu, sed esse possunt, dicuntur esse in potentia; quaeque extra suas causas realiter in natura exsistunt, dicuntur esse actu. […] Entia in potentia primo modo extra suas causas nihil sunt, & extrinsece tantum denominantur esse. Quare idem significat ens in potentia quod possibile.« Vgl. auch oben 113, 118. Vgl. De natura, 197: »Potentia quae terminatur ad operationem dupliciter considerari potest; vel abstracte, vel concrete. Potentia abstracte considerata nullum inadaequatum conceptum sive rationem sui subiecti sive fundamenti includit, sed sola sive nuda, & seorsim ab omni connotatione, intellectui contemplanda proponitur.«; 207: »inferre possumus, potentias recte distingui in concretas, & abstractas: & has esse qualitates relativas, […] illas in suo conceptu, una cum qualitatibus relativis, earum immediata fundamenta concrete includere: & consequenter, ut album dicit non tantum albedinem, sed & subjectum ejusdem; ita potentia concrete sumpta, simul cum qualitate relativa, causam sive fundamentum ejusdem connotat.«

184 reflectit): sie ist »potentia alicujus, & ad aliquid«, relational zu einer zugrunde liegenden Sache und zu einer Verrichtung.16 Die potentia ist also zunächst einmal Relation zwischen einem fundamentum und einem terminus, der die jeweilige operatio bezeichnet. Sie bezieht das Zugrundeliegende auf seine Verrichtungen als dasjenige, was hinsichtlich dieser Verrichtungen das »Amt« der Verursachung ausübt.17 Man kann mit Recht sagen, daß das fundamentum selbst in Referenz der potentia operiert, zumal diese ohne es nichts vermag, aber Glisson wird meistens davon reden, daß die potentiae operieren.18 Zweitens ist die potentia zugleich Qualität, mithin qualitas relativa oder relatio qualificans. 19 Sie qualifiziert das Verhältnis von fundamentum und operatio, d.h. sie macht die natürliche Befähigung, die Veranlagung, die »Sitte« des Subjektes hinsichtlich einer bestimmten Verrichtung offenbar20 – dies ist die Definition der natura energetica, ihrerseits qualitas essentialis. 21 Allerdings ist die potentia abstracta dabei bloße Relation, genauer gesagt nur eine »relatio praedicamentalis simplex & pura«: sobald fundamentum und terminus gegeben sind, resultiert sie »per se«. So ist sie nicht das eigentliche Gegenüber der Operation, denn dies ist das Zugrundeliegende, das sie lediglich stellvertritt.22 Vor allem aber ist sie nicht das Leben: das Leben ist kein

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Vgl. De natura, 197: »Quod ad entitatem potentiae abstracte consideratae attinet, non dubium est quin aliquid relationis in se quoquo modo involvat: imo aperte, idque dupliciter, refertur. Est enim potentia alicujus, & ad aliquid. Priore modo refertur ad suum fundamentum: ut potentia est rei eam habentis potentia. Posteriore, ad suam operationem: ut potentia est operandi potentia. Quia vero primo respicit suam operationem, & continuo se relative reflectit ad suum fundamentum, cujus est; in hoc seipsam rejicit, atque una suam operationem.« Vgl. De natura, 207: »inferre possumus, […] [potentias abstractas] esse qualitates relativas, quibus earum fundamenta ad suas respectivas operationes tanquam exercentia circa eas munus causationis referuntur, […].« Vgl. De natura, 197f.: »Fundamentum ergo cujusvis potentiae mediante hac ceu ipsa relatione ad suum terminum refertur: nec injuria, cum fundamentum habens potentiam sit id quod reipsa operatur. Potentia enim non suo marte operationem producit, sed denominationem productionis fundamento debitam usurpat, quatenus nimirum fundamenti vicem in ista locutione subit. Quando ergo dicimus potentiam operari, intendimus id operari cujus ea est.« Vgl. oben Anm. 15; sowie De natura, 199f. Vgl. De natura, 199: »Existimo potentiam etiam abstracte sumptam necessario insinuare aliqualem modificationem sive qualificationem sui fundamenti: nimirum declarare quo modo id se habet ad operationem; hoc est, manifestare naturam sive indolem sui fundamenti respectu alicujus actionis, passionis, cessationis, motus, vel quietis: quod est qualificare. Qualitas enim est, quicquid ita afficit subjectum, ut inde innotescat ejus conditio, sive mos, in ordine ad operationes.«; auch 237: »Qualitates relativas voco facultates, quia declarant relationem aptitudinis inter principium agens & ejus operationes.« S.o. 3.2.6 das Zitat zu Anm. 276. Vgl. De natura, 198: »Potentia igitur abstracta dicit tantum relationem inter fundamentum & terminum, neque est proprium relatum quod ultimo intenditur, sed vicarium quoddam ejusdem. Fundamentum vero est genuinum & absolutum relatum

185 accidens, 23 weder Quantität, noch Qualität, noch reine Relation, sondern ein »substratum absolutum«, oder – in der Sprache des Irritabilitätsforschers24 – eine »entitas vigorosa & activa«: Vita non est Quantitas. Est enim entitas vigorosa & activa. […] Non est Qualitas. Neque enim est qualitas relativa, neque absoluta. Qualitates relativas voco facultates, quia declarant relationem aptitudinis inter principium agens & ejus operationes. Verum facultas […] dupliciter accipitur, vel concrete, […] vel abstracte, […]. Posteriore sensu ridiculum foret, si quis putaret vitam, tam nobilem entitatem, esse meram relationem inter agens & actionem ejusdem, & non esse quid absolutum isti relationi substratum.25

Insbesondere können die potentiae abstractae keine Vitalvermögen abgeben. Denn nur von der potentia concrete considerata läßt sich sagen, daß sie agiert: »Potentias concrete sumptas agere, non abstractas«.26 Sie konnotiert ihr fundamentum als die Entität, aus der sie hervorfließt (profluit), 27 und das fundamentum enthält den actus »virtualiter« oder »in sua potestate« in sich.28 Damit schließt die konkrete Potenz die Sache mit ein, die das kausale Amt (munus) gegenüber dem korrelierten actus ausübt, und zwar nicht nur der Benennung, sondern der Sache nach. Eine solche, die ursäch-

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quod operationi ceu termino revera respondet.«; 237: »facultas […] dupliciter accipitur, vel concrete, quatenus includit simul cum relatione principium operans; vel abstracte, ut nuda relatio exprimens aptitudinem principii operantis.« 198f.: »At vero relatio praedicamentalis, posito fundamento & termino, per se resultat. Haec quidem differentia [inter relationes praedicamentales & transcendentales, K.H.] mihi nullo modo improbanda videtur: […]. Supra eam tetigimus, ubi notavimus potentiam duas relationes implicare, relationem vero praedicamentalem simplicem tantum.« Auf die relatio transcendentalis gehe ich sogleich ein. Vgl. De natura, 239: »Inferendum itaque est, vitam non esse accidens.« Vgl. auch ebd., Ad Lectorem, §12, fol. b3r: »Primam vitam esse substantialem.« Vgl. oben 51. De natura, 237. De natura, 201. Vgl. die Charakterisierungen, die Glisson in dem Manuskript »Facultas naturalis non influit.« für die facultas concreta und abstracta gibt, fol. 385r: »Vox facultas videtur ambigere inter ens absolutum et relativum: utrumque autem quodammodo insinuat. Et quidem concrete seu per connotationem includit suum fundamentum; nempe entitatem ipsam e qua facultas profluit: verum abstracte et seorsim dicit tantum relationem transcendentem et qualificantem relationem (inquam) intervenientem inter istud fundamentum et operationes eius.« Vgl. De natura, 201: »Insuper relationes quae pure respiciunt suum correlatum requirunt ut idem actu sit; sed relatum cujus fundamentum in sua virtute correlatum causaliter continet, non necesse est ut habeat terminum actualem, sed potentialis sufficit. Siquidem fundamenti potentia refertur ad actum, quem ipsum fundamentum in se tanquam in causa continet; […] Denique, relata pure respicientia suum terminum, hoc sublato, desinunt esse, absque vel minima mutatione fundamenti: at relata resultantia a fundamento in sua potestate continente correlatum aliter se habent; quia correlatum e fundamenti potestate eximi nequit, nisi ipsum fundamentum prius immutetur. Si enim per impossibile supponamus fundamentum potentiae activae, quod non virtualiter continet in se actionem potentiae respondentem, aut passivae, quod nequeat admittere actuationem ejusdem, profecto non esset amplius fundamentum talis potentiae.«

186 liche Hervorbringung des terminus umfassende Potenz ist relatio transcendentalis.29 Beispielsweise bezieht das Sehvermögen, wenn man es konkret versteht, mit ein, daß sein Subjekt, das Auge, den Akt des Sehens vollbringen kann, und dies setzt den wunderbaren Bau des Auges voraus. Nicht »per se«, sondern aus dieser organischen Disposition resultiert erst die potentia videndi, als potentia naturalis ist sie von der Natur »intendiert« und eingerichtet. Sie reflektiert sich auf ihr Subjekt als auf eine Sache, die von der Natur zu ihrer jeweiligen Operation disponiert ist.30 Dies Verständnis der potentia als potentia concrete considerata verfolgt Glisson im weiteren ausschließlich weiter; es markiert seine bevorzugte Auffassung von »Vermögen«.31 Die Doppelbestimmung der potentia als Relation und Qualität entstammt der Auslegung der Kategorienschrift. In der 43. Disputation »De potentia et actu.« unterscheidet Suárez mit Thomas eine prädikamentale und eine transzendente Verstehensweise von »potentia«. Gemäß letzterer Auffassung betrachtet man die Potenz als der dem Akt korrespondierende Divisor eines jeden Seienden. Von ihr her wird die Sache als res possibilis angesprochen, entweder im logischen (potentia logica) oder im physischrealen (potentia physica oder realis) Sinn. Die potentia realis im weiten Verständnis wird ausgesagt von einem jeden principium agens vel patiens und einem Substantialprinzip zugesprochen, so der ersten Materie, da sie die Potenz ist, Formen zu empfangen, und der Substantialform, soweit sie das principium principale agendi ist, ferner natürlich Gott selbst als Omnipotentem.32 In prädikamentaler Auffassung betrachtet man die Potenz als

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Vgl. De natura, 198: »Recte Suarius ex Cajetan. observat, praecipuam distinctionem inter relationes praedicamentales & transcendentales consistere in eo, quod illae pure respiciant suum terminum correlatum, absque ullo alio officio circa idem exercito; hae, non pure, sed simul insinuando aliquod munus circa terminum correlatum a relato obeundum. Suar. […] videtur quidem hoc munus ipsi potentiae ascribere; sed, uti arbitror, interpretandus est […] de potentia concrete sumpta, nempe cum aliquali connotatione sui fundamenti. Potentia enim hoc modo sumpta includit rem quae non tantum denominative & secundum dici, sed realiter, istud munus circa suum correlatum praestat. Quare indagandum est illud potentiae munus. Est autem insinuatio quaedam causalitatis quam fundamentum potentiae circa suum actum sive operationem exercet.« Vgl. De natura, 198f.: »Potentia enim videndi insinuat suum subjectum posse actum videndi elicere. Insuper potentia naturalis dicit talem relationem quae a natura intenditur sive instituitur. Hinc miro artificio construitur oculus, ut inde resultet potentia videndi. At vero relatio praedicamentalis, posito fundamento & termino, per se resultat. […] Nam potentia propterea connotat munus subjecti aut causalitatem ejusdem, quod non tantum antrorsum prospiciat ad operationem, sed & simul retrorsum se reflectat ad suum subjectum, tanquam ad rem a natura comparatam & dispositam ad eam operationem; & similiter eo denotat naturae institutum, quod haec res ad suas operationes coaptet.« Vgl. De natura, 207: »Potentiam plerumque concrete sumi.« Vgl. DM 42, III, 9–10; 42, I, Prooemium.

187 »species cujusdam praedicamenti«,33 nach Vorgabe der Unterteilung der Qualitätskategorie, die Aristoteles in der Kategorienschrift vorgenommen hat. Aristoteles tacite dividens qualitatem in Praedicamentis, quatuor ejus numerat species, unamquamque earum bimembrem, vel binomiam constituens, scilicet, habitum et dispositionem, naturalem potentiam et impotentiam, passionem et passivam qualitatem, figuram et formam.34

Die Potenz als zweite Spezies der Qualität, soweit sie also potentia naturalis ist, benennt Suárez als eigentlichen Gegenstand der Disputation.35 Er definiert: Potentia est principium proximum alicujus operationis, ad quam natura sua institutum & ordinatum est.36

und genau in diesem Sinne will Francis Glisson die potentia concrete sumpta verstanden wissen, merkt allerdings an, daß die so verstandene Potenz nicht zwangsläufig der zweiten Art der Qualität angehören müsse.37 Alle Prädikamente nämlich können eine Hinordnung auf die Operationen (ordinatio ad operationes) ausdrücken und insofern an der »Natur« der Qualität teilhaben. Selbst in seiner Kategorienauffassung umspielt Glisson somit die Denkfigur einer Dynamisierung alles Seienden. Omnia enim praedicamenta, ipsa substantia, quantitas, actio, passio, &c. in quantum ad operationem ordinantur, eamque ordinationem exprimunt, naturam qualitatis aliquomodo induunt & participant. Ostendunt enim qualiter se res habet ad operationem; hoc est, naturam sive indolem & qualitatem rei produnt.38

Die 47. Metaphysische Disputation über die Relation läßt Suárez mit verschiedenen Klassifikationen der Relationen beginnen, unter anderem mit der Trennung von relatio secundum esse und relatio secundum dici, auf die Glisson oben wohl anspielt39 und mit der Suárez auf die Debatte von Relationsrealisten und -konzeptualisten um den ontologischen Status der Relationen reagiert.40 Im Referat des De ente et essentia von Cajetan klärt Suárez sodann die Unterscheidung von prädikamentaler und transzendentaler Relation, die ursprünglich auf Scotus zurückgeht.41 Die prädikamentale Relation, so schreibt Suárez,

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DM 42, I, Prooemium. DM 42, II, 1. Vgl. Cat. VIII, 8b25–10a27. Vgl. DM 42, I, Prooemium. DM 43, III, 2; von Glisson De natura, 201, zitiert. Suárez faßt operatio hier als Oberbegriff von actio und receptio. Vgl. De natura, 201: »Verum omnis potentia concreta non est directe in specie secunda qualitatis, quanquam forsan ad eam aliquo modo reducatur.« Vgl. De natura, 201f. S. oben 185. Vgl. DM 47, III, 6–9. Vgl. Mojsisch: im Art. ›Relation‹. Vgl. Mojsisch: im Art. ›Relation‹, 591.

188 dicitur respicere aliud, ut pure terminum, quia circa illud nullum aliud munus exercet, nisi respiciendi tantum.42 Respectus ergo praedicamentalis talis est, ut a natura non sit per se intentus, et ideo nunquam per se fit ex vi actionis alicujus agentis, sed consequitur posito fundamento et termino […].43

So ist beispielsweise die Ähnlichkeit zwischen zwei weißen Gegenständen eine prädikamentale Relation:44 zwischen dem fundamentum und dem terminus, dem einen Weißen und dem anderen, besteht keine Beziehung der Bewirkung oder Kausalität, sondern eine bloße Hinsicht (respectus), 45 die sich ergibt, wenn beide Relationsglieder gesetzt sind.46 Es ist jedoch nötig, einen transkategorialen Relationsbegriff anzusetzen, denn innerhalb mehrerer Prädikamente ist eine Art der Bezüglichkeit von etwas auf ein anderes auszumachen. So gehören die dispositiones und habitus sowohl der Kategorie der Qualität als auch der der Relation an.47 In der Kategorie der Substanz haben Materie und Form einen realen Bezug zueinander (habitudo realis). Die akzidentellen Potenzen sind hingeordnet auf ihre Akte. Der situs selbst ist relativ.48 Die respectus transcendentales zeichnen sich dadurch aus, daß der korrelierte terminus »per actionem« erst konstituiert werden muß.49 Der Fall der Ursächlichkeit der Potenzen gegenüber den Akten ist im weiteren der einzig interessierende. In der 18. Disputation legt Suárez sein Verständnis von Kausalität dar und fragt grundsätzlich nach den Wirkmöglichkeiten (efficientia) der res creatae im Universum. Das Werden einer neuen Substantialform, so legt er hier fest, wird bewerkstelligt durch eine bereits bestehende Substantialform als principium principale, radicale oder remotum, sowie durch akzidentelle Formen oder Qualitäten, die von dieser Substantialform emanieren, als principia proxima oder instrumenta. Die Materie hingegen ist Suárez zufolge niemals das principium quo einer Wirkung, da sie über keine vis agendi verfügt.50 Als allernächste Prinzipien

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DM 47, IV, 10. DM 47, IV, 12. Vgl. DM 47, IV, 10. Den Terminus des respectus wird von Agostino Nifo in die Relationendebatte gebracht, welcher die relatio transcendens oder transcendentalis als respectus transcendentalis bezeichnet; vgl. Mojsisch: im Art. ›Relation‹, 592. Vgl. DM 47, IV, 13: »talis relatio nihil aliud est quam respectus consurgens posito fundamento et termino, nunquam autem per se fit.« Vgl. Cat. VIII, 11a20–40. Vgl. Cat. VII, 6b12; Suárez: DM 47, I, 6; 47, III, 10–11. Vgl. DM 47, IV, 2, 13–14. Offenbar hat sich der Begriff der relatio transcendentalis von Scotus zu Suárez stark gewandelt, denn Scotus verstand unter den transzendentalen Relationen Bestimmungen wie Identität, Verschiedenheit, Gleichheit, Ungleichheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die jedem Seienden als solchem zukommen und deshalb als transzendental zu bezeichnen sind; vgl. Moijsisch: im Art. ›Relation‹, 591. Vgl. DM 18, II, 1–4, 15, 22–23. In 23 schreibt Suárez: »Nec satis est dicere formis

189 begriffen sind die Potenzen damit stets akzidentell.51 Die proxima virtus agendi eines Einzelseienden ist folglich von seiner Substantialform real geschieden.52 Substantielle Potenzen sind hingegen die vis agendi der Substantialform und auch Gottes, ferner die capacitas recipiendi der Materie.53 Glisson spricht dementsprechend von potentiae accidentales und potentiae substantiales, je nachdem, ob das Subjekt ein Akzidens oder eine Substanz ist.54 Diese Sichtweise der Kausalität (efficientia) Suárez’ kann unter den Bedingungen des neuen Form- und Substanzbegriffs Glissons nicht mehr richtig sein. Nicht die Form, sondern die Materie ist hier das primum principium einer jeden Verrichtung; sie ist es, die vermöge der substantiellen oder akzidentellen Formen agiert. Die Formen sind lediglich principia proxima oder intermedia, in der Terminologie des Suárez gesprochen: Instrumente der Materie.55 Aus den Vorgaben der Schulmetaphysik ist nun ein für diese Neuerung geeigneter Begriff einer Operationalität der materiellen Substanz herauszupräparieren. Die potentiae substantiales werden so zum Kernstück des weiteren Diskurses. Sie werden concrete aufgefaßt, also mit ihrem substantiellen Zugrundeliegenden zusammengenommen: Quod ad potentias substantiales attinet, necesse est ut eae concrete hic sumantur, nimirum ut includunt tum relationem qualificantem, tum inadaequatum conceptum substantiarum quarum potentiae esse dicuntur.56

Beide Arten von Potenzen, die potentiae substantiales und accidentales, sind in sich geschieden in operative und rezeptive Potenzen. Glisson be-

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attribui efficientiam, quia ab illis manant qualitates, per quas solas exercent omnes actiones suas, quia […] haec non est propria et per se efficientia, sed tantum remota et radicalis; nam actio, quae immediate oritur a sola forma accidentali, a sola etiam illa per se essentialiter pendet tanquam a principio proximo […].« Bestätigt beispielsweise 42, III, 10: »nam solae qualitates sunt principia proxima agendi in creaturis […].« Zur Unterscheidung von causa principalis und causa instrumentalis vgl. 17, II, 7 und 16–19. Die Definition der Potenz in DM 43, III, 2 (s.o. zu Anm. 36) wird fortgesetzt: »Per illam vero particulam, principium proximum, etc., declaratur imprimis ratio ob quam hujusmodi potentia est qualitas, et peculiariter distinguitur a forma substantiali, quae licet sit principium operationis, non tamen proximum, sed principale, […].« Vgl. auch 42, III, 10. Vgl. DM 18, III, 17: »Potentia activa omnis realiter a substantia distincta. – Ex hac igitur inductione satis probabiliter colligit D. Thomas, in omni supposito creato proximam virtutem agendi et operandi esse distinctam a substantia ejus, et consequenter esse accidens.« Auch 18, III, 15. Vgl. DM 42, III, 10. Von Glisson De natura, 202 zitiert. Vgl. De natura, 207: »Ex dictis porro constat, potentias concrete cum suis fundamentis sumptas recte dividi in substantiales, & accidentales: illasque immediate fundari in natura sive essentia alicujus substantiae; has vero in accidentibus, aut concursu accidentium.« Vgl. De natura, 243. Vgl. auch oben 3.2.9. De natura, 202.

190 stimmt als weiteres Interessengebiet die operativen substantiellen Potenzen, und derer gibt es wiederum zwei Arten: primae oder generalissimae und contractiores oder ulterius modificatae. Die ersten und allgemeinsten substantiellen Vermögen sind nun eben die drei Vitalvermögen der biusia, um die der Traktat kreist.57 Glisson nutzt den Begriff der potentia substantialis concrete sumpta, um seinen Gedanken einer unverbrüchlichen Einheit von Subsistenz und Verrichtung weiterzuführen. Unmittelbar, wie das Leben selbst, gehen die potentiae substantiales aus den Substanzen hervor (»immediate dimanant« oder »immediate oriuntur«).58 Nichts tritt zwischen die Natur und ihre ersten, gleichursprünglichen (coaevae) Vermögen. [Superest ergo probemus] tres istas facultates a natura substantiali immediate dimanare. Immediate dico, respectu aliarum potentiarum aut accidentium, quorum nulla inter has facultates & naturam substantiae intercedunt [sic!]. […] primas voco, quod universaliores, & ordine naturae priores sint aliis omnibus potentiis & facultatibus. […] Nulla facultas generalior aut antiquior esse potest iis quae naturaliter & immediate a natura sive essentia substantiae in genere resultant. […] Accidentia enim, quibus aliquando, & non praeter causam, facultates tribuuntur, iis multis nominibus posteriora sunt. Etenim absque substantiae (a qua sustentantur) interitu perire possunt: hae autem facultates a natura cujus sint nullo naturali modo sequestrari queunt. Sunt enim perpetuae, & naturae substantiali coaevae. […] Hae ergo facultates sunt simpliciter primae & generalissimae.59

Auch »zwischen« Vermögen und Verrichtungen »tritt« nichts: die allgemeinsten substantiellen Vermögen operieren nicht vermittelst Akzidenzien und beinhalten nichts außer der Relation und der coaptatio naturalis zur jeweiligen Handlung. Diese natürliche Eignung ist jedoch von der Substanz selbst nicht distinkt. Denn die Natur einer jeden Sache ist vom Schöpfer zu ihren intimsten und eigensten Verrichtungen bestimmt und folglich auch befähigt, und diese Befähigung ist keine akzidentelle forma realiter distincta. 60 Schon für die potentiae accidentales gilt, daß zwischen die Akzidenzien und ihre Verrichtung kein accidens intermedium tritt. So fließt das Sehvermögen unmittelbar aus der organizatio des Auges herbei und aus der rechten Beschaffenheit seiner partes similares; die potentia calefaciendi meint nichts anderes als die Relation der Wärme zur erwärmenden Wirkung zusammengenommen mit der auf der natura caloris

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Vgl. De natura, 207. Vgl. De natura, 206: »facultates a substantiis immediate oriundae«, 203: »potentiae quae immediate dimanant a substantia«, »substantia a qua potentia profluit«. De natura, 192f. Vgl. De natura, 203f.: »Quare ad coaptationem naturalem quaestio devolvitur, An ea forma absoluta sit, sive realiter, sive ex natura rei, distincta a substantia a qua potentia profluit. […] Ausim dicere non esse. […] Etenim cujusvis rei natura ad suas intimas & maxime proprias operationes a Creatore destinatur & ordinatur; & consequenter ad easdem coaptatur.«

191 beruhenden natürlichen Eignung, diese Wirkung hervorzubringen.61 Daß also zwischen fundamentum und terminus nichts dazwischentritt, gilt dann erst recht für die Substantialpotenzen, denn die Substanzen sind ihren facultates wohl kaum weniger intim verbunden als die Akzidenzien den ihren.62 Glisson läßt die potentiae substantiales der Materie die Unmittelbarkeit der seelischen Vermögen gegenüber ihren Akten imitieren.63 Die Verrichtungen der Materie sind dementsprechend actiones immanentes, ein Terminus, der im herkömmlichen Diskurs in der Psychologie beheimatet ist.64 Wenn Glisson auch hier die Haushaltung der Seele zum Paradigma erhebt, geschieht dies wiederum nicht etwa im Sinne eines Animismus, der die Natur in ihrer Autarkie bedrohte, sondern im Zuge der Univokation des Selbstbewegungsgedankens über materielle und spirituelle Seiende. Wie die anima rationalis inadäquat in die Vermögensdreiheit aus Intellekt, Wille und Selbstbewegung (potentia intelligendi, volendi, spiritualiter se movendi) zerlegt werden kann, so kann die Natur einer jeglichen Substanz inadaequate in ihre Potenzen zerlegt werden und ist diese Potenzen selbst, wenn man sie in ordine ad operationes suas betrachtet.65 Die drei natürli-

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Vgl. De natura, 204. Die organizatio ist Akzidens; vgl. Suárez: DM 18, II, 33. Vgl. De natura, 204: »Quod si in potentiis quas fundunt accidentia nihil intervenit absolutum inter fundamentum & terminum nisi accidentis natura, a fortiore in potentiis substantialibus nihil absolutum intercedit inter fundamentum & operationem nisi natura fundamenti. Concipi enim nequit substantias imperfectius suas facultates edere quam accidentia, aut minus intime iis uniri. Si ergo accidentia, ut monstravi, immediata sint suis potentiis, non dubium est quin substantiae quoque sint similiter immediatae.« Vgl. De natura, 203f.: »Cum ergo intellectio sit intima & maxime propria actio animae intellectivae, non dubium est quin ipsa ejus essentia ita a Deo comparetur, ut sit ad intelligendum apta, hoc est, ut coaptetur ad eam operationem. […] Sed nullo modo fingere possumus absolutum aliquod accidens in quo coaptatio ad intelligendum consistat.« Vgl. etwa De natura, 230, wo Glisson als actiones immanentes aufzählt: »sensus, appetitus sensitivus, intellectus, voluntas, perceptio naturalis, & appetitus naturalis«, oder 333, wo er die Immanentverrichtungen in drei Klassen einteilt: die natürlichen, die »animalischen«, die rationalen; s. ferner 255f., 352. Zur schularistotelischen Unterscheidung von actio immanens (e)ne/rghsij) und transiens (poi/hsij) vgl. Goclenius: Lexicon Philosophicum, Lemma ›ACTIO‹, 40. Einschlägige Beispiele für Immanentverrichtungen sind hier speculatio, cognitio, appetitio sowie die Verrichtungen der organischen Seele: Ernährung, Wachstum, räumliche Bewegung. Vgl. De natura, 203: »Quapropter natura cujusvis substantiae, si qua dicatur potentia, inadaequate concipitur, videlicet quatenus ordinatur ad certam operationem […]. Quare eadem substantia, quae in re indivisibilis est, dividi potest in suas potentias, hoc est, in suos inadaequatos conceptus, qui respective ordinantur ad suas proprias operationes: ut anima rationalis, qua intellectiva, est potentia intelligendi, sive intellectus; qua spiritualiter suiipsius motiva, est potentia movendi.« Vgl. auch ebd. 205. Obwohl die facultates animae sich auf realiter verschiedene Objekte beziehen, sind sie nur inadäquate Begriffe der Entität der Seele; vgl. 205: »Dico, potentias istas, in-

192 chen Vermögen der Materie sind deshalb nichts anderes als inadäquate Begriffe der biusia. 66 Jedes ens per se subsistens, die Materie ebenso wie die Geister, spiegeln sowohl die Wesenheit als auch das Leben der causa exemplaris Gottes, tragen analogice die Zeichen (characteres) sowohl seines Selbstandes als auch seines Intellektes, Willens und allesvermögenden Verrichtens. Die Selbstbewegung Gottes, sein seipsum intelligere ist nicht weniger »diffusiv« als seine Essenz. Profecto haud obviam est rationem reddere, quorsum tam nobilis entitas per se subsistens, (quae respectu caeterarum creaturarum independens est & perpetua,) quemadmodum independentis entitatis Divinae, ita & vitae ejusdem respondentem characterem non gereret. Omnia alia Divina attributa, pro dignitate substantiae cui impertiuntur, analogwj proportionantur. […] intellectui Divino naturalis perceptio, voluntati appetitus naturalis, omnipotentiae facultas motiva, respondet.67

Im Hinblick auf die Materie, die einzige Substanz im eigentlichen, prädikamentalen Sinne der Substantialnatur, steht die Konzeption der potentiae substantiales für Glissons Prospekt der Einheit von Zugrundeliegen und Vermögen, von Substrat und Energie. Wir können Glisson hier durchaus in eine Reihe mit späteren, nach Locke und Newton publizierenden Naturphilosophen wie Jonathan Edwards und Joseph Priestley stellen, für die

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tellectum, voluntatem, & motivam facultatem spiritualem, quoad absolutam & radicalem entitatem, esse inadaequatos animae conceptus, & hoc respectu differre tantum ratione cum fundamento in re. Dico insuper, potentiam ex his quamlibet, praeter istam absolutam & radicalem entitatem animae, includere qualitatem relativam sibi propriam, & realiter distinctam ab omni alia; & secundum hanc realiter inter se differre. Operationes enim & objecta ad quae per istam qualitatem referuntur realiter differunt, saltem si una respicias differentem modum tendentiae ad eadem.« Vgl. De natura, 207f.: »Nam hae facultates concrete acceptae nihil aliud sunt nisi inadaequati conceptus ipsius Biusiae. Sunt enim facultates vitales immediate a natura substantiae manantes, & consequenter ipsam substantiam in suo conceptu concreto includunt, eamque vivam constituunt, necnon eandem vitam substantialem seu Biusiam jure cognominant.« De natura, 221f.; vgl. auch ebd.: »[Probatio vitae, K.H.] A causa exemplari. […] Similiter gradui seu dignitati & perfectioni subsistentiae fundamentalis, quae absolutam & independentem Deitatis perseitatem analogice repraesentat, cur non gradus vivae naturae, vitam Dei proportionaliter repraesentans, associaretur?«; sowie 219 u.ö. Zur Betrachtung Gottes gemäß seinen inadäquaten Begriffen des intellegere, velle und operari oder perficere aliquid vgl. 248. Glisson hat diese Gedanken auch im Manuskript »De vita materiae, materiam vivere« ausgeführt und schreibt dort (fol. 409r): »Est enim ipsa vita dei non minus energetica suis [creaturis, K.H.] diffusiva quam Essentia eiusdem. […] facultas sentiendi intellectum dei facultas appetendi voluntatem dei, facultas agendi omnipotentiam dei. (ad quae capita tota vita dei reducatur) obumbrat.« Ganz ähnlich argumentiert er in den »Primordia rerum.«, fol. 98v; vor allem aber fol. 100r–101r: »Obijciatur porro constitutionem rei non posse esse obiectum suae perceptionis, cum idem non agat in seipsum nec moveat seipsum, unde philosophus quicquid movetur movetur ab alio. Respondeo ex hoc argumento ne deum ipsum posse seipsum intelligere, si enim se intelligit, essentia eius erit obiectum eiusdem perceptionis, […]. Id ergo quod percipit quodammodo id ipsum est quod percipitur, quod evidentissimum est in Deo.«

193 die Körper nichts anderes als Konzentrationspunkte von Kräften darstellen.68 Ebenso wie bei Priestley tritt der Aspekt der Undurchdringlichkeit oder Solidität alles Materiellen auch bei Glisson zurück.69 Es sind derartige Materie-Konzeptionen, die schließlich in den Faradayschen Feldbegriff einmünden.70 potentia ad operari

ad esse

concrete sumpta substantialis operativa

abstracte considerata

accidentalis

receptiva

operativa

contractior/ulterius modificata prima/generalissima perceptio naturalis appetitus naturalis motus naturalis Abb. 4: Glissons Einteilung der Vermögen

4.2

»qualis est entitas, talis est idea«: die Isomorphie von perzipierender Substanz und Perzeptionsinhalt

Jede operatio ist perceptio, appetitus oder motus. Daß jegliche Substanz eine operative, energetische Natur besitzt, bedeutet demnach, daß sie unmittelbar perzipierende, strebende, selbstbewegte Substanz ist: »Ipsa enim percipientis substantia res est quae immediate percipit.«71 Mit der Selbstsubsistenz der Materie ist bereits ihre Perzeptivität, mit dieser sogleich das vollständige Vermögenstripel gesetzt.

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Zum in Neuengland wirkenden Calvinisten Jonathan Edwards vgl. die umfassende Monographie von Vetö: La pensée de Jonathan Edwards. Dazu unten 5.2. Zum Kraft- und Materieverständnis in der Nachfolge Newtons und Lockes vgl. Heimann/McGuire: Newtonian forces and Lockean powers. De natura, Ad Lectorem, §12, fol. b3r. Vgl. auch ebd., Ad Lectorem, §17, fol. c3v: »Cum ergo natura substantiae per se subsistentis sit energetica, seu primum principium operandi, est quoque primum percipiens, appetens, & movens; & consequenter primum quoque vivens.«

194 Quod vero subsistit, a fortiore operatur; quodque operatur, percipit. Nam principium fundamentale subsistendi & operandi non sunt duo realiter aut ex parte rei distincta, sed tantum inadaequati conceptus ejusdem. Posita ergo subsistentia materiae, una ponitur ejus natura energetica; data hac, ponitur perceptiva. Neque enim absque perceptione datur appetere; neque absque appetitu, movere; aut absque hoc, operari.72

Die drei Vermögen sind ineinander verkettet (concatenatio). Das perzeptiv Erfaßte wird, je nachdem, ob es ein Gut oder Übel darstellt, erstrebt oder zu meiden gesucht, und diese Zu- oder Abneigung wird in eine entsprechende Bewegung umgesetzt. Die »Festlegung«, ob es sich beim Inhalt der Perzeption um ein malum oder bonum handelt, erfolgt dabei mit dem Akt der Perzeption selbst.73 Posita enim perceptiva, cui usui esse potest, nisi simul concedatur appetitiva? Posita appetitiva, ea frustra est, nisi ei respondeat motiva, quae prosequatur aut fugiat bonum aut malum apprehensum. Denique, motiva inutilis & temeria est, ubi non movetur ad finem expetibilem assequendum. Finis expetibilis nullus est qui non percipitur; ignoti nulla cupido. Ita ergo hae facultates inter se concatenantur […].74

Die perceptio naturalis gilt dabei als das lumen vitae, das den anderen Vermögen die Fackel voranträgt und dem Strebevermögen sein Objekt darreicht. Beide erwecken sodann die facultas motiva, jene, indem sie lenkt, dies, indem es befiehlt.75 Die substantielle Aktivität ist durchgängig teleologisch, die Natur in ihrer Regelmäßigkeit keinesfalls zufallsbestimmt und »blind«. Die Veränderung ihrer selbst »von innen« erfolgt allein mit dem »gewußten« Ziel der Selbstverbesserung (»sub specie meliorandi statum suum«). quod ab intus se movet, aliqualem sui innovationem molitur. Nihil autem se it perditum; hoc est, nihil sub specie perdendi se, aut se deterius reddendi, innovationem sui tentat. Ergo sub specie meliorandi statum suum hanc innovationem aggreditur. […] Miraculo simile foret, si naturalia agentia casu moverentur, & interim regulariter semper agerent, nunquam ab optimo scopo aberrarent, perpetuo finem maxime appetibilem inscia assequerentur. Quare ubi ab intus operantur, accurate percipiunt & praevident exitum seu finem coepti operis, & directe ad eundem collimant. Hinc illa encomia naturae, eam nihil temere, nihil frustra, omnia prudenter, agere, &c. Si sit internum principium, proculdubio non est principium caecum, nec caeci munere fungitur.76

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De natura, 90. Vgl. auch sogleich im Zitat zu Anm. 82 die Redeweise, daß die Materie die eigene Entität unmittelbar als bona & amabilis perzipiert. De natura, 217f.; vgl. auch 136: »Perceptiva, hoc modo excitata, appetitivam, haec motivam, ad formam educendam actu excitat.« Vgl. De natura, 209, nach der Unterscheidung dreier »Vermögensreihen«, die jeweils aus den natürlichen, seelischen und intellektuellen Vermögen bestehen: »In omni serie prima species quasi facem sequentibus praefert. Est enim perceptiva internum quoddam vitae lumen, quo facultates respective subsequentes diriguntur.«; 92: »cum perceptiva appetitivae objectum ministret, & utraque, illa dirigendo, haec imperando, motivam excitet.« De natura, 228f.

195 Für die genaue Durchführung des Selbstformungsmotivs verwendet Glisson das Paradigma der Imagination nach van Helmont und zeichnet ebenfalls das Szenario eines Kampfes der Formen und der Ideen um besetzte Materie. Die idea meint auch hier die auszubildende Form in der perzeptiven Vorstellung der Materie, die als antizipiertes Ziel der materiellen Selbstbewegung die Formung initiiert: »idea pulli in ovo pullum anticipat«.77 Die Figurationsprozesse der Körper ebenso wie die Entwicklungsvorgänge in den Organismen erweisen sich dieserart als ein koordiniertes Zusammenspiel von natürlicher Perzeption, Appetenz und Bewegung. [perceptio naturalis] omnes suas dispositiones seu aptitudines ad formam, ad quam a generante aut alias ordinata est, accurate percipit; ipsiusque ideae formae futurae, methodique qua materia ad operationes ejus accurate accommodetur, exactam notitiam habet.78

Da mit dem Vermögen auch der zugehörige actus immediat ist,79 ist sich die perzipierende Materie im Objektivbegriff oder der Idee ihrer selbst als eines ens per se subsistens allernächst präsent (intime praesens), ist selbstrepräsentativ (repraesentativa sui), ist zugleich perceptibilis und perceptiva. 80 haec ipsa essentia perceptibilis est, et perceptiva quoque sui.81

Die Immediatheit von Substanz, Vermögen und Verrichtung gewährt, daß Entität und perzeptiver Selbstbegriff zueinander isomorph sind, ja die Materie ist gar ihre Idee, wie Glisson in einem Schlüsselpassus formuliert. Quod materia has [naturales facultates, K.H.] in sua ratione contineat, ex eo liquet, quod sit ens actu, actuque per se subsistens, nec sit per inhaerentiam in alio, ut modo monstravimus. Quare est objectiva ratio sive idea suiipsius. In quantum enim actu & positive est, est actu & positive cognoscibilis. Habet ergo ideam propriam sibi coaevam,

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De natura, 74. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c1r. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §12, fol. b3r–v: »si facultas percipiendi non immediate in substantia radicetur, haec ejus actum non immediate percipiet. Si enim vita originalis, quae non inest per solam participationem, sit substantiae immediata, scilicet, si sit ipsa ejus natura operativa; proculdubio primus actus hujus vitae, quae est perceptio, erit quoque substantiae immediata. Actus eodem subjecto quo inest facultas proxime inhaeret.« Der Konjunktiv des zweiten Konditionalgefüges ist ein rhetorischer Potentialis. Vgl. im Stück »Primordia rerum.«, im Kapitel »De qualitate, et de perceptione naturali.«, fol. 98r: »Perceptio sumatur vel pro facultate, vel actione hic utroque modo et 1.° pro facultate. Cum autem omnis facultas radicatur in aliqua constitutione, apta quaenam est illa constitutio rerum qua redduntur aptae ad percipiendum. Existimarem eam esse universam naturam entis substantialis qua vivam, ei a prima creatione inditam posse percipere, vel esse perceptivam. nam cum essentia rei eo ipso quod est, sit perceptibilis obiective sive representativa [sic!] sui, cumque sibi ipsi sit intime praesens fit ut seipsam in esse suo percipiat. adeoque ipsa essentia rei substantiali, quatenus perceptibilis est et simul intime sibi praesens, actuat ipsam constitutionem perceptivam nempe in qua fundatur facultas naturalis percipiendi.« »Primordia rerum.«, fol. 99r.

196 qualisque est ejus entitas, talis est etiam ejus idea; nempe est actualis, positiva, & rei per se subsistentis. Non ergo cognoscitur per ideam alienam, aut per negationem alterius, ut non ens; sed in se, & per seipsam, ut intime sibi praesentem. Ipsa enim est sufficiens objectiva ratio suiipsius […] Cum enim facultas ejus perceptiva rationi objectivae sive ideae ejusdem sit intime praesens, necessario percipit quicquid ea ratio repraesentet; actualem quippe suam entitatem quatenus per se subsistentem, eamque qua bonam & amabilem.82

Die Annahme einer unvermittelten Einheit von Subsistenz und Leben in der biusia erweist sich derart als systematischer Nukleus des naturphilosophischen Projektes einer Ineinssetzung von Idealismus und Materialismus.83 Die entia sind »per se cognoscibilia«; sie erkennen sich nicht in der Vermittlung durch fremde Ideen. Aus dieser unmittelbaren Präsenz in sich folgt, daß sie von den Ideen oder Objektivbegriffen ihrer selbst nicht real, sondern allenfalls ratione cum fundamento in re unterschieden sind. Das, was ist, ist seine Idee; umgekehrt ist die Idee das, dessen Idee sie ist. esse ideam non ponit novam entitatem rei perceptae a se sive realiter sive modaliter distinctam; sed tantum novum inadaequatum conceptum (quatenus quid cognoscibile) sola ratione cum fundamento in re a se discriminatum: nimirum quod id ipsum quod est, eo quod sit, simul sit objectiva ratio suiipsius, si modo facultati perceptivae sit intime praesens.84

Das so verstandene Projekt einer Spiritualisierung der Materie findet jedoch eine klare Grenze: Die Materie ist zwar ihre Idee, zugleich jedoch ist sie Körperlichkeit, Masse – und hierin von den Geistern unterschieden. Anders als Leibniz phänomenalisiert Glisson die Masse keineswegs.85

4.3

perceptio naturalis und sensus animalis: Glisson und die »Platoniker«

Glisson nimmt im Ganzen drei Sätze zu je drei Verrichtungen (ter trinae) an: unter die Dreifachheit der facultates cogniscitivae fallen das natürliche Perzeptionsvermögen, die Sinnlichkeit (sensus) und der Intellekt. Die Klasse der Strebungen umfaßt alle Vermögen, die mit der Verfolgung des Nützlich-Guten (bonum) und der Meidung des Schädlich-Schlechten (ma-

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De natura, 90. Hervorhebung durch mich. Vgl. auch Pagel: The reaction to Aristotle, 507: »In Glisson’s philosophy, matter appears as much ›spiritualized‹ as ›soul‹ is ›materialized‹, so that the contrast between them is only artificial.« De natura, 165. Vgl. auch ebd.: »Propriae [ideae, K.H.], ab entitate percepta, quatenus repraesentativa sui, causarum & effectuum suorum, vix videntur realiter differre. Cum enim substantia ipsa ejusque accidentia sint per se cognoscibilia, scilicet, cum sint positivae rationes objectivae tum suiipsius, tum suarum causarum & effectuum, cumque sint intime praesentia perceptivae facultati; fieri nequit quin simul sint sufficientes ideae tam suiipsius, quam suarum causarum & effectuum.« S.u. 4.7.

197 lum) befaßt sind, also den appetitus naturalis, den appetitus sensitivus sowie die voluntas. Entsprechend enthält der Satz der motiven Verrichtungen neben den natürlichen und animalischen Bewegungen auch die freie Handlung (motus liberus). Kreuzklassifiziert lassen sich diese neun Vermögen – entsprechend dem obigen Modell der catena – zu drei Vermögensreihen oder -ketten anordnen, die von der jeweiligen facultas cognoscitiva angeführt werden.86 Die intellektgeleiteten Vermögen sind im Traktat randständig, ist doch die Rationalseele kein modus der Materie, und sind doch ihre Vermögen damit keine Modifikationen der vita materialis, welche der eigentliche Gegenstand der Abhandlung ist. Dennoch besteht Glisson darauf – und dies ist unter der Maßgabe der Univokation des Lebensbegriffs über Körper und Geist nur konsequent –, daß auch die intellectio der Engel ihre natürliche Perzeption voraussetzt und als reflexa perceptio perceptionis naturalis bezeichenbar ist.87 Im folgenden geht es zunächst um die Distinktion von perceptio naturalis und sensus animalis, die Glisson ausführlich in zwei Anläufen erläutert.88 Er hält es für seine Errungenschaft gegenüber den Platonici, namentlich Campanella und van Helmont, beide Verrichtungen erstmals klar voneinander zu scheiden.89 Ideenhistorisch entspricht dies nicht den Fakten, denn schon Harvey und vor ihm bereits Bacon formulierten diesbezüglich einschlägige Passagen, die Glisson kaum unbekannt gewesen sein dürften.90 Der Wunsch, die eigenen Ideen als neu und originell zu deklarieren, verhindert hier möglicherweise einen redlichen Umgang mit den Texten der Vorläufer. Zudem hat Glisson inhaltliche Zweifel, inwieweit er Harvey tatsächlich als Vordenker der eigenen Perzeptivitätstheorie erachten kann.91

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Vgl. De natura, 209; zur concatenatio oben 194. Vgl. De natura, 211; De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 35. De natura, 210–216; Ad Lectorem, §14, fol. c1r–c2r. Zu van Helmont vgl. oben 77; zu Campanella vgl. De natura, 186f.: »Omnes enim qui de naturae perceptione scripserunt, vel eam rebus materialibus negarunt, & solis spiritibus asseruerunt; vel cum sensu turpiter confuderunt. […] Campanella plus quam vellem materialibus inanimatis, ipsam nempe sensationem, attribuit.«; ähnlich auch 208; vgl. auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 26: »Platonici naturae perceptionem sensum vocant et Campanella integrum librum de sensu rerum naturalium inscripsit; sed hallucinatur non distinguendo hanc perceptionem naturae ab illa sensuum […].« Zu Harvey vgl. oben 2.2.1. Zu Bacon vgl. De dignitate et augmentis scientiarum IV, Works I, 610f., etwa 610: »Videmus enim quasi omnibus corporibus naturalibus inesse vim manifestam percipiendi; etiam electionem quandam amica amplectendi, inimica et aliena fugiendi.«, und auch 611 bereits die Klage, daß viele Philosophen die einfache Perzeption nicht vom Sinn unterscheiden: »differentiam inter Perceptionem simplicem et Sensum nullo modo nosse videntur; nec quatenus fieri possit Perceptio absque Sensu […] neque enim videbant quomodo Motus cum discretione fieri potuerit absque Sensu, aut Sensus adesse absque Anima.« Vgl. unten 6.1.

198 Die Scheidung von natürlicher und sinnlicher Wahrnehmung ist einerseits Glissons Waffe zur Abwehr des »Animismus«-Vorwurfs;92 gleichzeitig kann Glisson in der Einführung des Begriffes der Naturalperzeption die sich selbstvollziehende Innerlichkeit der Natur im emphatischen Sinne neu behaupten. Wer glaubt schon, daß ein beklopfter Stein Schmerz empfindet? Und selbstverständlich empfinden tote Lebewesen nicht wie lebende, schlafende nicht wie wache, verletzte Körperteile nicht wie unversehrte. Glisson sieht nur zwei Alternativen: den Körpern muß entweder jede Art der Wahrnehmung verweigert werden, oder aber man etabliert eine klar von der Sinnlichkeit unterschiedene »natürliche Perzeption«.93 Bei aller Kritik an der mangelnden Unterscheidung von Naturalperzeption und Sinn sieht Glisson sein Projekt doch in Übereinstimmung mit Platon und den Platonici. In ihrer Weltseele erkennt er seine natura energetica, in ihrer Materie seine subsistentia fundamentalis wieder. Indem die Platoniker jedoch die Vivifikation des Universums auf eine anima mundi zurückführen, erbitten sie das Lebensprinzip nachträglich anderswoher (aliunde), gerade nicht aus der Materie, und mißachten so die Einheit von Materie und Leben, welche lediglich inadäquate Begriffe ein und derselben Natur seien. Platon habe den inanimata mit dem Leben das Vermögen der Selbstbewegung abgesprochen;94 letztlich liege hier der Begriff einer leblosen materia stupida zugrunde, diagnostiziert Glisson. Bringe man allerdings den platonischen Grundgedanken einer Perzeptivität aller Kör-

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S.o. 33f. und u. 6.1. Vgl. De natura, 208f.: »Quis enim credat cadaver perinde ac hominem vivum sentire, aut dormientem aeque ac vigilantem sensibus uti? Membra paralytica sensu evidenter orbantur: Si ergo cum membris integris oppositi lateris comparentur, nemo sanae mentis sustinere potest utrisque sensibilitatis denominationem ex aequo competere. Quis ferat saxum aut scamnum malleo percussum dolore affici, quemadmodum animalium partes vapulantes dolorem sentiunt? Quapropter necesse est vel perceptionem corporibus naturalibus penitus adimamus, vel eandem a sensu distinguamus. Certissimum enim est, cadavera non eadem acceptione vocis qua viva animalia, neque dormientia eadem qua vigilantia, aut membra paralytica eadem qua sana, sentire. Si ergo velimus naturalem perceptionem asserere, oportet eam a sensu clare distinguamus.« Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für die anderen Naturalvermögen, vgl. 209. Glisson geht von der Darstellung des Suárez aus (DM 18, VII, 28: »Et hinc constituerunt differentiam inter viventia et non viventia, quam etiam Plato in Phaed., et dial. 10 de Legibus, assecutus est, quod viventia talia instituta sunt a natura, ut possent seipsa perficere, seu actuare (de creatis proprie loquimur), non viventia autem per se non habent nisi quietem in ea perfectione, quam a generante recipiiunt, nisi aliunde impediantur.«); vgl. De natura, 224). Vgl. Phaidros, innerhalb der Selbstbewegungsdiskussion (245c6–246d1) vor allem 245c6–e6 und 246c3–6; Nomoi X, hier besonders 895c4–13. Vgl. auch Timaios, 76e8–77c4, den Gedanken, daß selbst die Gewächse zwar des Lebens und der Wahrnehmung teilhaftig sind, da sie über eine vegetative Seele verfügen, dennoch nicht sich selbst zu bewegen vermögen. Umso mehr gilt letzteres natürlich für die inanimata.

199 per95 mit der suaresischen Lehre des inadäquaten Begreifens zusammen – die diesen Denkern nicht zur Verfügung stand, weswegen sie das distinkt Konzipierte als real distinkt annahmen –, könne man ihre Philosophie, so Glisson, zu einem guten Ertrag bringen – und dies heißt: zu seiner eigenen Theorie.96 Quod vero ad Platonis & Platonicorum sententiam attinet, ea facile exponi potest, & ad bonam frugem perduci, si modo authorem de inadaequato entitatis materialis conceptu intelligi permiserint. Corpus enim in genere in duos inadaequatos conceptus, subsistentiam fundamentalem & naturam energeticam, resolvitur: Platonis materia est subsistentia fundamentalis, anima est natura energetica. Neque haec expositio plane frivola aut absurda videri debet; cum frequentissimus veteribus mos fuisset de inadaequatis conceptibus tanquam de rebus realiter distinctis & ab invicem separabilibus loqui. Imo in istis rerum metaphysicarum primordiis pauci erant qui processum intellectus nostri per inadaequatos conceptus intellexerunt: sed potius quicquid proponebatur ut substantia distincte concipienda, pro realiter distincta acceperunt.97

Somit ist es die Geringschätzung der Materie im Platonismus, gegen die Glisson seinen Materialismus stellt. Platon selbst bezeichnet die Materie (h( ta\ pa/nta dexome/nh sw/mata fu/sij) als gestalt- und bewegungslos,98 Augustinus als »nichtsartig« (propre nihil). 99 Für Plotin ist sie das erste Schlechte (prw=ton kako/n), die absolute Leere (e)rhmi/a pa/ntwn ou)=sa) und, lichtmetaphorisch gesprochen, Dunkelheit (a)fw/tiston), die das Licht des Einen verfinstert und Ursache der Schlechtigkeit der Seele ist.100 Noch Ficino wertet die Materie als Schatten, Abgrund der Dunkelheit oder Kerker ab (umbra, abyssus tenebrarum, carcer). 101 Glisson zufolge ist die erste Materie jedoch nicht »dumm« oder wertlos (vilis, ignobilis), nur dazu

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Wohl mit Timaios, 30b7–c2: »dei= le/gein to/nde to\n ko/smon zw=?on e)/myuxon e)/nnoun te th=? a)lhqei/a? dia\ th\n tou= qeou= gene/sqai pro/noian.«

Vgl. De natura, 186f.: »Platonici videntur omnibus rebus perceptionem quandam tribuisse, & in hunc finem universalem quandam mundi animam excogitasse. Hoc enim praejudicio occaecati videntur, materialia nihil quicquam percipere posse.«; 219: »Sic enim Philosophi hanc rem olim computasse videntur, Materiam rem stupidam esse; vitae principium, si velimus, aliunde petendum esse: Hinc Platonem animam mundo materiali addixisse: Cum enim non potuisset vitam qualemcunque Universo penitus denegare, nec materiam vitae propriae compotem putasset, coactus videtur animam quae Universum informaret, & vita impertiret, excogitare […].«; 218: »Plato, non levis judicii Philosophus, mundi admirabilem fabricam, harmoniam, pulchritudinem, dignitatem contemplatur, non potuit animum inducere aut crederet eum constare ex sola stupida & cadaverosa materiae mole. Adjunxit itaque spiritum, quem mundi animam vocavit.«; ähnlich 239. De natura, 220; vgl. auch ebd. 244. Vgl. Timaios, 34b10–37c5; 50b7–51b6. Vgl. De genesi ad litteram I, 15; oder aber Confessiones XII viii (8); xv (22). Enn. II 4, 5, 35; I 8, 14, 40–43; III 6, 15, 26; I 8, 14, 49–51; vgl. Beierwaltes: Die Metaphysik des Lichtes. Argumentum in Platonicam Theologiam, Opera Omnia I, 709f., 713 (= Traktate zur Platonischen Philosophie, 64–66, 86). Zum Gesamtzusammenhang vgl. auch Meyer: Geschichte der Lehre von den Keimkräften, 151–156.

200 da, die Welt auszufüllen;102 sie ist und perzipiert sich als bona & amabilis. 103 Die metaphysische Bonität, die die Materie als Kreatur Gottes besitzt,104 ist hier zur Liebe ihrer selbst umgebildet. Ein mundus stupidus, der weder sich noch seine Abhängigkeit von Gott perzipieren könnte, gereichte ihm zu viel geringerer Ehre. Haud facile itaque crederem deum multo maximam mundi partem cadaverosam et quasi mortuam † nobilissima parte imaginis suae omni modo orbam creasse.105 Omnia ad gloriam Dei supremi Creatoris, a quo profluxerunt, comparata sunt. Consideremus itaque an mundum stupidum qui nec suum Creatorem nec seipsum agnoscat, an vividum, & non tantum suiipsius, sed & suae dependentiae a Deo, perceptivum, produxisse, magis ad gloriam Dei faciat. Non mihi dubium est quin hoc posterius optabilius sit.106

Da die erste Perzeption unmittelbar im substantiellen Leben »wurzelt«, ist auch sie, wie die vita primaeva selbst, den Kreaturen im Schöpfungsakt eingegossen (infundere) und nur durch göttlichen Eingriff dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Sie unterliegt im übrigen eben den Modifikationen des ursprünglichen Lebens, welche ihrerseits ja nichts anderes als die Form-Modifikationen der ersten Materie sind.107 Die Sinneswahrnehmung ist demnach, ebenso wie die vita animalis gegenüber der vita primaeva, immer schon ein abgeleiteter, komplexer Perzeptionstypus, eine modificatio organica, 108 bei der die primitive natürliche Perzeption nach einem Prozeß der Ausdifferenzierung in einen äußeren und inneren Aspekt (sensus externus, sensus internus) in einem eigens entwickelten Organ (»machina seu organum«), dem Gemeinsinn, »verdoppelt« wird.109 Die percep-

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Vgl. De natura, 217: »Cardo itaque controversiae in hoc vertitur, An substantiae materiales vitali natura sint imbutae. Eo enim praejudicio hominum mentes hactenus praepeditae videntur, materiam rem stupidam, ignavam, mere passivam esse, ad infarciendum mundum duntaxat natam.« Vgl. oben das Zitat zu Anm. 82. Vgl. oben 150. »Primordia rerum.«, fol. 98v. De natura, 222. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §12, fol. b3r: »Jam resumo propositionem modo assertam, primam seu simplicem perceptionem esse immediatam actionem vitae substantialis: nempe ipsam primam facultatem perceptivam immediate radicari in vita seu natura substantiali energetica; & a solo Deo creatione inseri, sola annihilatione eradicari posse: alioquin vero iisdem modificationibus subjici quibus ipsa materia subjecta est, […].«; ebd., §10, fol. b2v: »Soli Deo proprium est creaturis suis in actu creandi idem [principium percipiendi, appetendi, atque se movendi, K.H.] infundere. […] Data autem [perceptione, K.H.] naturali, ea (cum immediate fluat a substantiali materiae natura) tot modificationum generibus quot ipsa materia capax est subjicietur.« Vgl. auch Anm. 80. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §10, fol. b2v. Vgl. De natura, 212: »Eo enim quod carnes, membranae, nervi, humores, spiritus, cerebrum, in aptam quandam machinam seu organum ad perceptionem duplicandam conformentur, sit sensatio.« Glisson zeigt sich hier in seiner Terminologie vom zeitgenössischen Iatromechanismus beeinflußt.

201 tio naturalis selbst kennt (noscere) den Bauplan zur Ausbildung der Sinnesorgane.110 Über den Vorgang dieser organizatio erteilt Glisson uns genauere Auskunft. – Wir müssen nicht annehmen, daß er die Organausbildung in dieser naiv anmutenden Beschreibung vollständig und wörtlich erklären will. Es mag ihm genügt haben, seine Vorstellung im Grundsätzlichen anzudeuten. Quo modo perceptio naturalis sit sensitiva. Materia disposita, percipiens se posse suam naturalem perceptionem eousque nobilitare seu exaltare, ut actus suos quodammodo duplicet, eosque magna cum complacentia contempletur, seu implicite dijudicet, organizationem aggreditur, & cuilibet sensui organum quodammodo duplicatum coaptat; nimirum, externum, & internum. Una vero percipiens non necesse esse ut internum cuivis externo sit appropriatum, construit unum internum omnibus externis commune, & nervis propriis quodlibet externum ei connectit. Non autem perficitur sensatio absque hac duplicatione actus percipiendi. […] nemo recte dicere aut cognoscere potest se sentire, nisi id quod externum organum percipit sensu communi recognoscat.111

Der empfundene Sinneseindruck besteht also in einem durch Organe vermittelten Duplikat des natürlich perzipierten Inhaltes. Allerdings ist das Verhältnis von erster, natürlicher Perzeption am äußeren Sinn und zweiter, verdoppelter Perzeption am inneren Sinn nicht das einer bloßen Abbildung. Die Komplexität und Vermitteltheit des Sinnesvorgangs verhindert nämlich, daß das gesamte neurophysiologische Geschehen, das diesen Vorgang zustande bringt, in ihm zugleich wahrgenommen werden kann. Was der Sinn perzipiert, perzipiert er als ein erstmals Perzipiertes (»quicquid […] percipit, percipit ut primum perceptum«). Allenfalls die Wissenschaft, im Fall der visuellen Wahrnehmung: die Optik, kann in mühevoller Forschung erschließen, was tatsächlich in der Augenkammer vorgeht.112

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Vgl. De natura, 216: »Quanquam enim [perceptio naturalis, K.H.] neque sensum neque intellectum duplicata perceptione comprehendit: a priore tamen, in quantum organa idonea a quibus sensus resultet construere noscit, quid ad eundem requiratur se praevidere demonstrat.« De natura, Ad lectorem, §11, fol. b2v–b3r. Vgl. De natura, 213f.: »Advertendum vero hic est, in composita hac seu duplicata perceptione secundam non necessario percipere quicquid sub prima notitia cadit; […]. Sentit enim id ejusdem, idque tantum, quod per nervi motum cerebro communicari potest; & quicquid ejusdem percipit, percipit ut prius perceptum. […] sensus terminatur ad objectum ut ad id quod se percipere percipit, non autem ad modum quo percipitur. Bruta enim, quando vident, non cognoscunt quid in camera oculi peragitur: imo neque hoc sciunt homines, nisi longa experientia, observatione & ratiocinio (arte nimirum optica) prius perdiscant & colligant. […] Quare secunda perceptio in sensatione non omnia discernit quae in prima fiunt; & consequenter, multa in prima percipiuntur quae in secunda delitescunt.«; vgl. auch Ad Lectorem, §18, fol. c4r–v: »Tota enim perceptio naturalis non vertitur in sensum, quia nervus eam ad sensum communem seu cerebrum deferre nequeat.« Es kann in der Folge zu einem Widerstreit der Sinne mit dem archeus kommen, wie im Fall von Speisen, die uns zwar schmecken, aber der Gesundheit abträglich sind. Ferner 167f.: »Addo, naturalem perceptionem percipere non solum inadaequatum actionis motivae conceptum, sed

202 Der sensus ist perceptio perceptionis, ist sekundäre, verdoppelte, zusammengesetzte, »beurteilte« Perzeption. Mit dem Urteil, das er impliziert, meint Glisson die tacita assertio de percepto objecto, ein bestätigendes, »bewußtes« Erkennen, eben dieses Objekt zu perzipieren, in dem der Sinn das eigene Perzipieren perzipiert (»se percipere percipit«).113 Zum einen verarbeitet Glisson hier die übliche Rollenbestimmung des sensus communis als eines Sinnes, der die Tätigkeit der Einzelsinne zu Bewußtsein bringt,114 zum anderen verwendet Glisson hier für die Sinnlichkeit, die secunda perceptio, die Charakterisierung des aliquale judicium, die Suárez für die simplex apprehensio, d.h. die erste mentale Operation geltend gemacht hat.115 In dem impliziten Vorgang der Beurteilung liegt zugleich die Quelle für zweifelhafte oder sogar täuschende Eindrücke. Oftmals verleitet uns die Phantasie zu einem Erkenntnisurteil, das der Sache nicht angemessen ist.116 Was von weitem wie ein unbeseelter Körper aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als Lebewesen, als Mensch, schließlich als der vertraute Freund.117 Überhaupt ist die sinnliche Wahrnehmung als facultas organica störanfällig, da Verletzungen der Sinnesorgane ihre Aktivität jederzeit beeinträchtigen und unterbinden können.118 Die natürliche Perzeption ist demgegenüber unverbrüchliche, immediate Einheit. Modell stand hier das Konzept des intuitus als eines nichtdiskursiven, daher unfehlbaren Erkenntnismodus, der die Dinge unmittelbar und im einfachen Akt vollständig erfaßt.119 Die natürliche Perzeption

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etiam integram ejusdem objectivam rationem: verum animalem perceptionem advertere tantum ideam moventis, nec percipere motum factum in causatione ejusdem. […] animalia percipiunt sola objecta, at motum in organo factum non discernunt.« Vgl. De natura, 214: »sensus includit quasi implicitum quoddam judicium de re percepta. Est enim quasi tacita assertio de percepto objecto, se sibi conscium esse hoc vel illud se percipiere, hunc equum se videre, hunc hominem loquentem se audire. Cum enim sensus sit perceptio percepta, secunda, […] de prima quasi affirmatur, & de eadem implicite judicat. Verum sensus terminatur ad objectum ut ad id quod se percipere percipit, […].« Ähnlich auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 40f. S.o. 63f. Vgl. De natura, 214. Glisson zitiert dort aus Suárez: DM 8, IV, 6, wo Suárez von der simplex apprehensio sagt, sie sei implizit aliquale judicium, und eben dies mache ihre Wahrheitsfähigkeit aus. Zu den drei mentalen Operationen führe ich den konzisen Eintrag im Lexikon Micraelius’ an (Sp. 929, Lemma ›OPERATIO‹): »Operatio mentis est triplex (1) apprehensio simplicium (2) compositio & divisio per affirmationem & negationem unius de altero. (3) ratiocinatio seu collectio unius propositionis ex altera.« Vgl. De natura, 214: »Propterea quod secunda perceptio aliquo modo capax sit implicitae affirmationis de suo objecto, [id percipi,] est aliquo modo capax judicii, scilicet implicite, & consequenter erroris.« Vgl. ferner De natura, 215: »Fateor, sensum […] saepe ansam praebere phantasiae aliter de objectis quam sunt concipiendi & judicandi.« Vgl. De natura, 215. Vgl. beispielsweise De natura, 211f. »sensus manifeste organica facultas est, & destructo organo, destruitur; laeso eodem, laeditur.« Vgl. De natura, Ad lectorem, §14, sig. c1r–c1v: »intueri«, »simplex suiipsius intuitus«. Zum zeitgenössischen Konzept des intuitus vgl. man etwa die Regulae ad directionem

203 bleibt am Ort ihrer Entstehung und kann eben deshalb einen Akt der totalen, d.h. lücken- und fehlerlosen Selbstdurchsicht der Substanz benennen: »absque ignorantia aut errore«.120 In der perceptio naturalis ist sich die Substanz zugleich Subjekt und Objekt; die Redeweise von einem Objekt der Naturalperzeption, die Glisson verwendet, ist nur von einem abstrakten Standpunkt der Betrachtung aus möglich und insofern nicht wörtlich zu nehmen, als die Unterscheidung von Subjekt und Objekt hier lediglich eine Pseudo-Dichotomie markiert.121 Denn die perceptio naturalis muß, anders als das tierische Lebewesen, das mit seinen Sinnen auch weit außerhalb seiner selbst befindliche Objekte erfassen kann, in einem perzeptiven Selbstbezug verharren, den Glisson bildlich als »Enge« anspricht: »quanta est haec angustia objectiva, si orbitae solius visionis animalium conferatur, quae ad sidera usque quoquoversum excurrit?«122 In der natürlichen Perzeption blickt die Natur immer nur auf sich selbst: haec formatrix tam prudens, tam sapiens domi, nihil foras judicat aut agit. Intus habitat, sibi soli prospicit, sibi soli vivit.123

Aufgrund dieser Subjekt-Objekt-Einheit kann sich die natürlich perzipierende Substanz im Unterschied zum sinnlich wahrnehmenden Tier nicht vom Objekt ihrer Perzeption abwenden oder sich ihrer perzeptiven Tätigkeit als Ganzer enthalten.124 Weil sie, anders als die perceptio sensitiva, auf ein Objekt festgelegt ist und dieses mit Notwendigkeit, wenn auch sponte repräsentiert, stellt sie dem appetitus naturalis ihr Objekt ohne jede Möglichkeit der Wahl (indifferentia electiva) vor, wohingegen dem sinnlichen Streben die Chance einer electio spontanea bleibt. Hierin liegt es letztlich begründet, daß vernunftlose Lebewesen, anders als unbeseelte Naturdinge, belohn- und bestrafbar und damit lernfähig sind.125

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ingenii des frühen Descartes, und hier die Regeln III, VI, IX. Zwar blieben die Regulae unveröffentlicht, sie kursierten jedoch in Abschriften. Leibniz beispielsweise besaß eine Kopie. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c1r. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c1v: »Extenditur enim, directe, tantum ad subjectum percipiens. At oblique suam objectivam rationem ampliat: & non tantum ad alterationes in se factas earumque causas, sed & ad effectus a se oriundos, qui in eorum causis, nempe in seipso, relucent […].« 215: »Differunt quoque perceptio naturalis & sensus respectu objectorum. Illius enim objectum est entitas propria, quae repraesentat se, suas causas & effectus, item omnes influentias aliarum rerum, confoederationes, cooperationes, consensus & dissensus, &c. hujus vero objectum est entitas extranea.« Der Sinn betrachtet das Perzipierte stets als »quid extra se«: das Tier, das in den Spiegel schaut, glaubt sich einem anderen Tier gegenüber; vgl. 216. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c1v. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c2r. Vgl. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c1v. Vgl. De natura, 216; ebd., Ad Lectorem, §4, fol. c1v–c2r: »perceptio naturalis sub nulla indifferentia electiva objectum appetitui repraesentat. Hinc dicitur natura determinari ad unum, & necessario agere: non quod cogatur, sed quod sponte (quate-

204 Glisson betont, daß die perceptio naturalis bei allem Solipsismus nicht dumpf oder blind sei. Das Licht aller anderen Vermögen ist selbst nicht dunkel. Sie erkennt den Akt ihrer Perzeption zugleich mit diesem selbst (cognoscere). 126 Der Sinn hingegen erkennt seinen ersten Akt am äußeren Sinnesorgan in einem eigenen zweiten Akt im Gehirn wieder (recognoscere). 127

4.4

Exkurs: Glisson und die Geistmetaphysik

Glisson konzipiert die natürliche Perzeption als intuitive Selbstdurchsichtigkeit, in der Subjekt und Objekt ungeschieden sind: die Natur blickt auf sich selbst (»sibi soli prospicit«). Letztlich ist es die Reflexivitätsaussage des nou=j noh/sewj no/hsij, die der frühe Aristoteles für den unbewegten Beweger,128 spätere Platoniker für jeden Geist: Gott, Engel, Rationalseele,129 und Glisson nun für die energetische Natur der Materie trifft – dieser ideengeschichtliche Zusammenhang profiliert noch einmal Glissons Strategie einer Univokation des Lebensbegriffs über Geist und Körper.130 Den Naturbegriff in Theoremen des Seelendiskurses zu artikulieren ist demnach ein Erbstück der platonischen Geistmetaphysik, das Glissson mit den anderen hier referierten Autoren, mit Galen, Harvey, J.B. van Helmont, gemein hat.131 Die Transzendentalisierungsstrategie, zu der Glisson die

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nus sumitur pro non invite) & simul necessario operetur. Sensus vero perfectiore modo objectum, & sub aliqua indifferentia, sensitivo appetitui referre solet. Hinc bruta animalia alicujus disciplinae & poenae praemiique capacia esse obervantur; res vero pure naturales ad haec plane inhabiles deprehenduntur.« Vgl. auch De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 26: »Natura quidem percipit subtilissime sed non percipit se percipere, unde necessitatur persequi suam qualemcumque perceptionem.« Hier finden wir erneut eine Reminiszenz an Cardanos Topos der Subtilität der Natur; vgl. oben 3.1.2, Anm. 64. Vgl. De natura, 212f.: »Dubitabit fortasse aliquis an simplex perceptio suum actum ullo modo cognoscat. Sed omnino id concedendum est. Lumen enim perceptionis, quod aliis facultatibus splendet, non sibi soli caecutit. Fateor itaque perceptionem naturalem suos actus aliquo modo cognoscere, sed non per alium percipiendi actum, atqui per eundem quo percipit objectum.« Vgl. De natura, 212f. und oben das Zitat zu Anm. 111. Vgl. Met. XII, 9, 1074b33–35: »[o( nou=j, K.H.] au(to\n a)/ra noei=, ei)/per e)sti\ to\ kra/tiston, kai\ e)/stin h( no/hsij noh/sewj no/hsij.« Vgl. Elementatio theologica, 167; 144, 22: »pa=j nou=j e(auto\n noei=«, zitiert nach Beierwaltes: Proklos, 128. Zur proklischen Rückwendung (e)pistrofh/) des Geistes in sich vgl. ebd., 101f., 119–136, 158–164; für Ficino: Leinkauf: Platon und der Platonismus bei Ficino, 741. Vgl. oben 3.2.7. Zum Begriff der Geistmetaphysik, die »das Wesen des Denkens als eines ens metaphysicum« thematisiert, vgl. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik (das Zitat auf 18).

205 stoische Lehre einer innerlich-spontanen Kausalität dabei ausbaut, verbindet ihn eng mit Leibniz, dann aber auch mit Kant.132 In welchem Sinne aber »reflektiert« die Materie »auf sich selbst«? Allein der Sinn perzipiert sich perzipieren, doch auch die natürliche Perzeption weiß (cognoscere) um ihren Akt, mit dem sie ihr Objekt, d.h. ihr Subjekt perzipiert. Der perzeptive Vollzug ist von dem der »Erkenntnis«, daß perzipiert wird, ungeschieden. Das perzipierende und zugleich perzipierte Sein, die Perzeption als Tätigkeit dieses Seins und die Perzeption als perzipiertes Faktum des perzeptiven Vollzugs sind eins. Im Sinne einer solchen Einheit von Sein und Vollzug (e)ne/rgeia) hatte Proklos, auf Plotin zurückgreifend, das aristotelische Diktum des Denkens als Denken des Denkens ausgelegt.133 Von hier kann auch der Lebensbegriff Glissons neuplatonisch eingeholt werden und gewissermaßen als eine der »Verlarvungen und Metamorphosen« antiker Geistmetaphysik ausgemacht werden.134 Aristoteles bestimmt in seiner Theologie das Leben als den Vollzug des Geistes (h( nou= e)ne/rgeia zwh/), Vollzug, der Gott selbst ist.135 Im Rückgang auf die umstrittene Stelle Sophistes 248e, in der Platon den Ideen Bewegung, Leben, Seele, Einsicht (ki/nhsij, zwh/, yuxh/, fro/nhsij) zuzu-

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So Leinkauf, der die These einer Transformation des Geistbegriffs in den Naturbegriff an mehreren Stellen stark gemacht hat. Vgl. ›Diversitas identitate compensata‹, 61: »Ontologie und Kosmologie [werden] seit den Anfängen der frühen Neuzeit, also seit Cusanus, Ficino und Bovillus, immer mehr zu einer Selbstauslegung der Struktur des Geistes auf der Basis seiner Selbstwahrnehmung […].«; 81: »die Totalität des Weltbezuges des Geistes [wird] ersetzt […] durch die Totalität des Selbstbezuges […] was als äußere Realität Gegenstand von Wahrnehmungs- und Erkenntnisakten war, [wird] immer mehr zur konkaven Peripherie eines Innenraumes einer Monade oder, später, einer transzendentalen Subjektivität […].«; oder auch drs.: Interpretation und Analogie, 55f. Vgl. Proklos: Elementatio theologica, 168, 146, 16–23, im Rückgriff auf Plotin: Enn. II 9, 1, 35ff.: »Jeder Geist, der in Wirken ist [kat’ e)ne/rgeian, K.H.], weiß, daß er denkt; und nicht einem anderen eigen ist das Denken (als solches), einem anderen aber das Denken, daß (der Geist) denkt. Wenn der Geist in Wirken ist und sich als nicht verschieden vom Gedachten denkt, weiß er sich selbst und sieht er sich selbst. Indem er sich als Denkenden sieht und als Sehenden erkennt, weiß er, daß er Geist ist in Wirken: dies wissend weiß er, daß er denkt, und nicht nur, was er denkt. Zugleich also weiß er beides: das Gedachte und daß er jenes denkt und daß er von sich selbst als dem Denkenden gedacht wird.« Zitiert nach: Beierwaltes: Proklos, 128. Vgl. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 191: »Die Theorie des Unbewegten Bewegers ist mit Kopernikus unwiederholbar zusammengebrochen. Dagegen lebt die durch Aristoteles repräsentierte griechische Geistmetaphysik in mancherlei Verlarvungen und Metamorphosen bis heute fort. Die entscheidenden, von der inneren Lebendigkeit des göttlichen Denkens zeugenden Kernsätze des L hat kein geringerer als Hegel im Urtext ans Ende seiner ›Enzyklopädie‹ gestellt und damit die Kontinuität der antiken und modernen Geistmetaphysik dokumentiert.« Vgl. Metaphysik XII, 7, 1072b26–29; vgl. Beierwaltes: Proklos, 106f.; zur Bewegertheorie des Aristoteles in ihren (möglichen) Zusammenhängen mit der Lehre Platons und der platonischen Akademie vgl. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 131–191.

206 sprechen scheint,136 entwickelt Plotin den Gedanken der Einheit von Sein, Leben, Denken (ou)si/a, zwh/, nou=j) in der Tätigkeit des Geistes. Leben ist Denken,137 Denken ist das Leben des Geistes, der Geist ist das Sein, das er denkt, das Sein ist lebender und denkender Geist.138 In der gegenseitigen Implikation von Sein und Leben ist Glissons Grundidee wohl am besten getroffen, so sehr die neuplatonische Vorgabe bei ihm auch modifiziert ist (etwa kommen die für die Trinitätsspekulation und die Ausbildung des Personenbegriffs bei Augustin entscheidenden einschlägigen Ternare des Neuplatonismus zu keinem erkennbaren Austrag mehr in der Naturphilosophie Glissons).139 Die genaue historische Vermittlungslinie plotinischen Denkens auf Glisson, etwa in der Verbreitung durch die Cambridger Platoniker oder in Rezeption der Naturphilosophie der italienischen Renaissance (Ficino, Campanella), müßte in späteren Arbeiten noch aufgehellt werden. Wie für den frühen Aristoteles,140 überhaupt für jede sich als »Denken des Einen« begreifende spekulative Philosophie141 bleibt auch für Glissons Entwurf die Frage bestehen, ob die Natur in der natürlichen Perzeption überhaupt etwas perzipiert, d.h. ob letztere intentional ist, oder ob die proklamierte Einheit von perzipierender Substanz, perzipierender Tätig-

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Vgl. zu den Interpretationsschwierigkeiten Hadot: im Art. ›Leben‹, 53; Beierwaltes: Proklos, 63, 107; Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 193–207. Krämer versucht erneut eine schlüssige Interpretation. So Enn. III 8, 8, 17: »pa=sa zwh\ no/hsi/j tij«, s. auch Beierwaltes: Proklos, 107. Vgl. Enn. V, 4, 2, 44f.: »to\ ga\r o)/n ou) nekro\n ou)de\ ou) zwh\ ou)de\ ou) noou=n • nou=j dh\ kai\ o)\n tau)to/n.« Zu diesen Implikationen im übrigen Enn. V, 3, 5, 42–48; V 9, 5, 7; V, 6, 6, 21f.; VI, 7, 13, 40–42, vgl. Beierwaltes: Proklos, 107f. Zum Einfluß von Sophistes 248e auf Plotin vgl. auch Hadot: Être, vie, pensée chez Plotin, 107–117. Bei Proklos hat das Leben eine Mittlerstellung zwischen dem Sein und dem Geist, dem Gedachten und dem Denkenden, wie das Vermögen (du/namij) eine solche zwischen dem Einen und dem Sein hat. Vgl. insgesamt zur Trias ou)si/a – zwh/ – nou=j Beierwaltes: Proklos, 93–118; Hadot: im Art. ›Leben‹, 54f. Diese Vermittlungsfunktion ist nun aber bei Glisson mit dem Begriff des Lebens oder des Vermögens m.E. allenfalls noch in dem banalen Sinne verbunden, daß das eine Leben der Materie drei Vermögen prinzipiiert oder aber die Vermögen die gänzlich unspektakulären Mittler zwischen der Substanz und ihren Verrichtungen darstellen. Insbesondere ist bei Glisson, soweit ich sehe, an dieser Stelle keine Spekulation über Einheit, Vielheit, Selbigkeit, Andersheit mehr intendiert. Zu den Ternaren bis zu Ficino, Patrizi, Reuchlin und Leibniz vgl. die Ausführungen und Hinweise bei Leinkauf: Reuchlin, 124–132; drs.: Substanz, Individuum und Person, 29–35; drs: Platon und der Platonismus bei Ficino, 739–741; drs.: Il neoplatonismo di Francesco Patrizi, 39–44. Hinsichtlich Augustinus vgl. Flasch: Augustin, 326–368. S. die Angaben bei Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 159f. Insbesondere dann auch für Selbstbewußtseinstheorien wie die Henrichs und der Henrich-Schule, die den Begriff des Selbstbewußtseins in der Tradition des Deutschen Idealismus an dem Konzept einer inneren Schau orientieren und denen Tugendhat im Anchluß an Heidegger und Mead ein praktisches »Sichzusichverhalten« entgegenstellt; vgl. Henrich: Selbstverhältnisse, sowie Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen; Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung.

207 keit und Perzeptionsinhalt nur ein »leeres Einerlei«142 bildet. Wenn gegenüber der Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts und ihrem Programm einer »Selbsterfassung« des Lebens143 der Vorwurf der intuitionistischirrationalistischen Prinzipienlosigkeit erhoben wird,144 so wiederholt sich hier der Bannspruch von der »Destruktion der Philosophie«, mit dem man das Denken Proklos’ in der Philosophiegeschichtsschreibung seit der Aufklärung belegte.145 Die Aporie einer nicht faßbaren, »leer« scheinenden Subjekt-Objekt-Einheit sucht Krämer zu lösen, indem er für die Geistmetaphysik bis Plotin konstatiert, den Geist als bewußtlosen Geist zu entwerfen, welcher als Subjekt in seinen Gehalten »aufgeht«, sich an diese »verliert« und deshalb »rein objektiv« bei sich selbst ist: »Ein objektloses, rein in sich selbst kreisendes Denken gibt es in der Alten Philosophie überhaupt nicht.«146 Denken wird in dieser Interpretation zum »Gesamtbezug und Inbegriff« des geordneten Seins.147 Beierwaltes zeigt anhand der Texte Plotins, daß man den subjektiven »Pol« der fraglichen Subjekt-ObjektEinheit nicht annihilieren muß. Er gewinnt das Konzept eines Geistes, der im Denkvollzug ebenso mit sich selbig als auch von sich unterschieden ist.148 Daß Denken und Sein zusammenfallen, meint dann keine »tautologische oder absolute«, sondern eine »durch die Intentionalität des Denkens in sich unterschiedene dynamische Identität, in der Denken und Sein sich gegenseitig Sinn vermitteln«.149 Für die Lebensphilosophie schließlich

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Beierwaltes: Proklos, 122. Zur Problematik vgl. auch die zahlreichen Literaturhinweise bei Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik, 159f. Vgl. auch Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, vor allem 50–90. Vgl. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, GS VII, 87: »es ist der Vorgang des Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird, […].«; 136: »Leben erfaßt hier Leben, […].« Berühmt wurden in diesem Zusammenhang folgende Texte: Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft; Rickert: Die Philosophie des Lebens; Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, 351–473; wie Rickert auf Kantianischem Hintergrund auch noch Baumgartner: Lebensphilosophie. Vgl. Beierwaltes: Proklos, 2, 24; drs.: Hegel und Proklos, 248, mit Bezug auf die philosophiehistorischen Arbeiten von Brucker, Tiedemann und Tennemann. Der Ursprung der Geistmetaphysik, 425. Vgl. auch ebd. 415, 164. Vgl. Der Ursprung der Geistmetaphysik, 417; auch 425: »Das Denken selbst ist der Bezug, der zwischen den »Gehalten« […] waltet.« Vgl. Die Metaphysik des Lichtes, 340f. Beierwaltes: Proklos, 127. Was hier »Sinn« im Unterschied zu »Inhalt« oder »Fülle« heißt, wäre allerdings zu klären. Vgl. auch ebd., 128: »Dies ist das Rätsel dieser Identität, daß das Sein, indem es Sein ist, nicht Denken, das Denken [sic!] indem es Denken ist, nicht Sein ist, zugleich aber das eine das andere ist: Sein als Sein des Denkens, in dem es sich auslegt, Denken aber als wesentliche Bestimmung des Seins, als denkendes Sein. Der Geist ist das Sein selber als Denken, das Denken aber ist er selber als das, was er ist: denkende Fülle der Ideen, der in sich einige Sinngrund von Sein.« [Hervorhebungen dort] Hiermit ist nur ein Aspekt des Projektes einer Rehabilitation der »Henologie« im Sinne einer Philosophie der Ein-Vielheit getroffen. Zentral für

208 versucht Stegmaier eine Rehabilitation im Begriff der »Fluktuanz«, der »sich selbsterhaltend verändernden« »Substanz im Fluß«.150 Die irrationale Grenzenlosigkeit des geistigen Lebens als Ganzem, in dem philosophische Erkenntnisse und Theorien nur begrenzte Inseln bilden, wird in den »Philosophien der Fluktuanz«, wie Stegmaier die Philosophien Diltheys und Nietzsches nennt, positiv gewendet, denn »Leben« bezeichne hier die »regulative Idee«, die permanent zur Entgrenzung und Bewegung der einmal getroffenen Weltauslegungen auffordere und damit eine »gute« Vielfalt unendlicher Interpretationen ermögliche.151 Glisson hat die geistmetaphysischen Implikationen seines Naturbegriffs leider weder in De natura noch in seinen Manuskripten ausreichend entwikkelt, um seine Vorstellung davon, wie die materielle Natur sich selbst zugleich Subjekt und Objekt ist, näher bestimmen zu können. Die Antwort Krämers allerdings, die die Natur zur für sich »verlorenen« Natur macht, erscheint angesichts der Beteuerungen Glissons, die Naturalperzeption sei sich selbst luzide, nicht auf seinen Entwurf anwendbar. Schon eher kann man mit Beierwaltes’ Idee einer gegenseitigen Vermittlung von Sein und Denken bzw. Perzipieren eine Lösung auch für den Ansatz Glissons sehen, und unter Einbeziehung von Stegmaiers Fluktuanzbegriff, der den Monadenbegriff Leibniz’ in vielem neu auflegt, könnte man hier zu einem Verständnis von »Intentionalität« gelangen, das keine statische Gerichtetheit auf ein Objekt (noei=n ti) markieren152 und gerade deshalb die Schwierigkeit des Zusammenfalls von Subjekt und Objekt entschärfen würde. Denn Glissons Natur perzipiert sich als eine Entität, die zielgerichtet und notwendig sich selbst verändert; sie perzipiert die Reihe (series) der mit ihrem Seinsvollzug gesetzten Ursachen und Wirkungen, und dies heißt: die Reihe ihrer sukzessiv und gesetzmäßig eintretenden Zustände.153 Die Natur selbst ist zwar nichts anderes als die je historische Instantiierung dieser Reihe. Dennoch ist die »Nichtsartigkeit« oder »Leere« der nur instantanen Selbstintuition in dieser Historisierung abgewendet. Indem die Natur nicht nur ist, sondern Intentionen (intentio, finis) hat, bleibt es ihr, die sie immer schon

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dieses Projekt Beierwaltes’ sind die unter dem Titel Denken des Einen publizierten Texte. Philosophie der Fluktuanz, 27. Vgl. Philosophie der Fluktuanz, 171: »War von Aristoteles bis Hegel ein ei)j a)/peiron i)e/nai des Erkennens oder seine ›schlechte Unendlichkeit‹ stets ein Beweis seiner Unzulänglichkeit, so wird nun sein ›Verfließen ins Unbestimmte‹ nicht nur als unvermeidlich erkannt, sondern auch als gerade fruchtbar anerkannt und darum umgewertet. […] Philosophisch wird unter Lebensbedingungen gerade dann gedacht, wenn unendlich interpretiert wird.« So das landläufige Verständnis von »Intentionalität«, auch bei Beierwaltes, vgl. Metaphysik des Lichtes, 348. S.u. 4.5.

209 sie selbst ist, dennoch gestellt, sich in der Zeit zu vollenden.154 Die Natur perzipiert sich stets auch als die Natur, die sie noch nicht ist. Dies heißt aber, daß die problematische Subjekt-Objekt-Gleichheit nur gälte, wenn man zeitliche Dauer zum Punkt kontrahieren könnte.155 Einen zweiten Ausweg aus der aporetischen Subjekt-Objekt-Identität gewinnen wir aus den christlich überformten neustoizistischen Voraussetzungen des Naturbegriffs Glissons: die perceptio naturalis ist keine rein kontemplative, sondern eine immer schon »bewertend-affekthafte« Wahrnehmung, die unmittelbar in Drang oder Aversion und (bei Fehlen von Hindernissen) in Verrichtungen übergeht und insofern stets »praktisch« ist. Die Perzeption der Natur ist keine leere, sondern eine »liebende« Selbstprospektion, ist keine tautologische Wiederholung, sondern eine Selbstaffirmation, in der die Natur die Bejahung des Schöpfers gegenüber seinem Werk widerspiegelt.156

4.5

Individuation als Selbstkonföderation: idea und lex, series und memoria

Wird die Perzeption der Materie als ihre unmittelbar-totale Innerlichkeit begriffen – »domi, nihil foras«157 –, stellt sich die Frage nach Glissons Konzept von Veränderung: 1. Wie kann die natürliche Perzeption offen sein für die Dynamik von Entwicklungsprozessen, welche sie ja, wie im Fall der Ausbildung von Sinnesorganen, veranlassen und steuern soll? 2. Wie ist Kausalität denkbar? Was bedeutet es unter diesen Voraussetzungen, daß ein Körper auf einen anderen Körper einwirkt? Glisson muß die Spannung von Einheit und Differenz, von Selbst- und Fremdbestimmung der perzipierenden Substanz sehr genau klären. Eine

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Vgl. etwa De natura, 74: »Cum enim ex naturae decreto animalia destinantur ad aliqualem variationem secundum aetates, & ad quotidianam dissipationem nonnullarum particularum vi caloris, nec non ad instaurationem earundem per assumptum alimentum; nisi haec ita in decursu vitae eveniant, non fuerit idem individuum quod ab initio a natura intendebatur. […] Dicendum itaque est, posse ideam in materia rite disposita, nempe seminali, antevertere statum formatum plantae aut animalis a natura respective intentum.«; oder auch 229: »ubi [naturalia agentia, K.H.] ab intus operantur, accurate percipiunt & praevident exitum seu finem coepti operis & directe ad eundem collimant. […] Si [natura, K.H.] sit internum principium, proculdubio non est principium caecum, nec caeci munere fungitur.« Zur Intentionalität der Natur vgl. auch sogleich unten 210 und 215. Der Aspekt der so verstandenen Historisierung der Natur wird in den nächsten Abschnitten präzisiert. Vgl. auch bei van Helmont die Redeweise von der Eigenliebe als »erster Tochter der Natur«, Magnum oportet, §26, A I 200. Vgl. oben das Zitat zu Anm. 123.

210 monolithische, starre Identität könnte sich weder entwickeln noch Eindrücke von außen verarbeiten. Andererseits ist die perzeptive Selbstnähe erst aufgrund ihrer Einfachheit gegen eine natürliche Zerstörbarkeit immun. Allein ihre Unzerstörbarkeit läßt sie der ständige Begleiter der unvergänglichen, alle Veränderungsprozesse überdauernden ersten Materie sein, und hierin spielt Glisson seine zentrale These, daß das Sein selbst schon Leben sei, an ihrer systematischen Basis durch. Die Frage, wie Prozesse immanenter Veränderung in der Einheit des natürlichen Perzeptionsaktes ihren Ausgang nehmen können, beantwortet Glisson, indem er diese Einheit selbst unter ein dynamisches Gesetz stellt. Die Idee ihrer selbst, die die Materie hat oder ist, »antizipiert« alle zukünftigen, von der Natur »intendierten« Zustände. Die Ausbildung von Organen oder anderen Formen, ja der gesamte Existenz- und Lebensvollzug der natürlich Seienden ist nichts anderes als die Explikation der anfänglichen Idee (idea prima) in die materiellen Gegebenheiten hinein; die Selbstidee ist somit causa exemplaris. Von Beginn an sind dem natürlichen Leben alle seine Werke bekannt, ist der Lauf der Natur per Dekret bestimmt (destinatus naturae cursus, decretum naturae). 158 Ideam posse rem anticipare. […] Quare naturae sic determinatae idea non tantum repraesentat praesentem individui rationem, sed etiam futuram, in quantum contineri dicatur in praesenti causa. Hoc igitur respectu dicitur nonnunquam idea, individuum, respectu actualis status ejusdem, anticipare, & concurrere, ut causa exemplaris, ad ejus consummationem & permanentiam; ut cernere est in individuis organice formatis, in quibus idea ad ipsam formationem concurrit: ita ut pullus in ovo sit actu pullus quoad intentionalem naturae confoederationem, & quoad ideam secundum quam ea pullum formatura est: ita ut idea conspiret ut causa exemplaris ad formationem rei quam ipsa repraesentat.159

Glisson repetiert hier in veränderter Konstellation und Terminologie einerseits das Motiv der evolutio idearum, andererseits den Notwendigkeitsgedanken der stoischen ei(marme/nh. Er gelangt mit Hilfe des Entwicklungsbegriffs zur Vorstellung einer dynamischen Individualität oder Identität. Daß das individuelle Naturding es selbst bleibt, bedeutet gerade, daß es sich verändert, d.h. daß es die als präskriptive Anlage gegebene Sukzession seiner Zustände verwirklicht. Concedendum itaque est, ideam in prima naturae determinatione resultantem praedefinire necessarias individui variationes, quatenus a natura ejusdem dependent, neque propterea eas aestimari debere novas individuationes; cum individuum talem non recte diceretur manere idem, si non subiret tales mutationes. Cum enim ex naturae decreto animalia destinantur ad aliqualem variationem secundum aetates, & ad quotidianam dissipationem nonnullarum particularum vi caloris, nec non ad instaurationem earundem per assumptum alimentum; nisi haec ita in decursu vitae eveniant,

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De natura, 73 (zitiert in Anm. 194), 74 (zitiert in Anm. 154), 116. Vgl. auch ebd. 339: »vitae naturali ab initio nota sunt omnia sua opera.« De natura, 73f.

211 non fuerit idem individuum quod ab initio a natura intendebatur. […] Quare idea pulli prima seriem & processum totius vitae pulli continet, nempe naturalem variationem ad ejus continuationem necessariam in antecessum repraesentat.160

Die Auffassung, daß der historisch-materielle Existenzverlauf des Individuums die sukzessive Entfaltung einer sich durchtragenden Idee sei, führt uns zu Glissons Theorie der vitalen Selbstindividuation, an der sich die enge Symbiose von aristotelischer Schulphilosophie, unorthodoxem Platonismus und neustoischer Naturlehre beispielhaft aufzeigen läßt. Glisson legt eine zweifache Bedeutung des Terminus »Individuationsprinzip« zugrunde, die den beiden Bedeutungen der perseitas korrespondieren, die er annimmt.161 So wird sowohl der Übergang vom ens zur substantia (im Sinne der natura substantialis) – oder allgemeiner: vom universale zum singulare – als auch der von der substantia zum suppositum »individuatio« genannt. Die Individuation im ersten Sinne bewerkstelligt mit Suárez die entitas realis der Substanz.162 Die Individuation im zweiten Verständnis, die uns nun interessiert, geschieht durch die suppositalitas. Die suppositalitas ist das Prinzip, durch das die zugrunde liegende natura substantialis inkommunikabel wird, dann auch das Prinzip der Überdauerung als Individuum, d.h. das Prinzip der individuellen Identität.163 Kann die Substantialnatur allein sich noch verschiedenen supposita mitteilen und sich gegebenenfalls mit anderen Naturen vereinigen – Paradigma ist hier nicht nur die Natur Gottes, sondern auch die Mischung der naturae materiales von Öl, Wasser, Zucker, Wein, der Elemente etc. –, so bedeutet die Nicht-Mitteilbarkeit, die der zum suppositum individuierten natura substantialis zukommt, ihre Fülle in sich (plenitudo, terminatio in se), bedeutet die Abscheu (aversio, horror) gegenüber aller Vereinigung.164 Die incommunicabilitas oder suppositalitas der Substanz ist ihr status divisus, ihre Form, und »resultiert« oder »dimaniert« aus der Substantialnatur oder Materie als ihr Modus.165 Wirkursache der suppositalitas sind Teilung und Vereinigung, genauer: die jeweilige Wirkursache, die die Teilung oder den Zusammenschluß auslöst.166 Sobald eine Natur von allen anderen abge-

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De natura, 74. S.o. 127. S. oben 105. Vgl. De natura, 62f.: »Individuationis enim principium dupliciter accipitur: vel quatenus opponitur universali quod contrahit, ei addendo realem entitatem prius ab intellectu praecisam; vel quatenus opponitur mutationi individuali, & sic dicit principium permanentiae sive identitatis individualis. […] altera restringit univeralitatem; altera terminat naturae communicabilitatem.« Vgl. auch ebd. 64. Vgl. De natura, 31–34. Vgl. oben 3.2.3. Vgl. De natura, 48: »Quatuor suppositalitatis causae ex dictis haud difficulter colligi possunt. 1.° Forma; quae ea est quam hactenus asseruimus, status quippe divisus per se seorsim completus. 2.° Materia; quae est natura substantialis a qua iste status sive

212 trennt steht und das Zusammengehen mit ihnen verweigert, ist sie »instruiert«, eine eigene suppositalitas aus sich hervorgehen zu lassen.167 An vielen Stellen scheint Glisson zirkulär zu argumentieren: einmal fungiert das Geteilt- und Abgetrennt-Stehen als Anlaß zur Ausbildung der suppositalitas, ein anderes Mal resultiert der status divisus erst aus der incommunicabilitas. Aber diese Zirkularität ist nur eine vermeintliche: Es geht Glisson um den Gedanken, daß die Substanz eine von außen erwirkte Teilung »innerlich«, in einem natürlich-kognoszitiven Akt sich selbst gegenüber bestätigt und damit erst letztgültig vollzieht.168 Denn die substantielle Natur perzipiert ihre Suisuffizienz, die sie als eine von allen anderen Abgeteilte hat, sie folgt dem »Pfahl der Teilung«169 und bringt sich im Bewegungsvorgang der »Selbstverbündung« (confoederatio sibi soli) als vollständiges suppositum selbst hervor. Wie bei van Helmont steht auch hier die Ursachenlehre der Stoa im Hintergrund,170 und es ist möglicherweise die Redeweise vom »Bündnis der Natur« (foedus naturae), auf dem Lukrez die Eigengesetzlichkeit des Naturdings beruhen läßt, die Glisson zu seiner Terminologie inspiriert.171 »Quare cum perpetim hae facultates [perceptiva, appetitiva & motiva, K.H.] praesente objecto (quod naturales sint) exerceantur, cumque eadem natura sibi perpetuo objective praesens sit; necesse est ut ipso momento divisionis sese ab omnibus aliis divisam cognoscat, suamque sufficientiam ad completum suppositum conficiendum una sciat, nihilque praeterea ad hoc necessarium esse. Consentit ergo naturali quadam propensitate appetitiva huic completioni, simulque motiva ad eandem exsequendam insurgit, sibique soli actu confoederatur, atque in completum suppositum coalescit.«172

Ausdrücklich hebt Glisson es hervor, daß die Bewegung der Selbstkoalition keine actio sei, sondern lediglich ein actus, durch den die Natur zu einer bestimmten Individuierung »kontrahiert« werde.173 Dieser actus ist

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modus essendi seorsim dimanat, & in quam excipitur, nec non a qua sustentatur. 3.° Efficiens; quae est vel unio, vel divisio. […] Per unionem intelligo efficientem causam seu efficientes unionis; & similiter per divisionem, efficientem seu efficientes divisionis.« Vgl. De natura, 48: »natura sive simplex sit, sive ex duabus pluribusve composita, si satis muniatur ne altera in communionem secum irrumpat, satis instructa est ad suppositalitatis resultationem; hoc est, ut stet per se seorsim completa.« Vgl. De natura, 21 »Hanc subsistentiam esse tantum modum a natura resultantem, quatenus ea divisa est ab omnibus aliis naturis. Impossibile autem est ut natura, sic divisa, non de se dimanare faciat statum in se & per se completum. […] Quare resultat subsistentia modalis sive status completus a natura, quatenus est divisa ab omnibus aliis.« Vgl. oben 131. S. auch unten 4.6. Vgl. De rerum natura V, 922–924: »non tamen inter se possunt complexa creari, / sed res quaeque suo ritu procedit, et omnes / foedere naturae certo discrimina servant.« Vgl. auch I, 584–588. Zu den zu Glissons Zeiten gängigen Lukrez-Ausgaben vgl. Fleischmann: Lucretius and English Literature 1680–1740, 55–84. De natura, 57. Vgl. De natura, 56: »Est actus, quia naturae potentiam sive indifferentiam ad alias

213 keine physische, sondern eine metaphysische Form.174 Denn actiones sunt suppositorum, rezitiert Glisson ein Axiom der Schulen; Verrichtungen im eigentlichen Sinne kann es nur geben, wo Einzelseiende bereits konstituiert sind. Die Schwäche unseres Intellektes läßt uns den metaphysischen Akt der Individuation jedoch nur in Analogie zu den Operationen begreifbar werden.175 Die Selbstvereinigung induziert zugleich den Ausschluß aller fremden Naturen und supposita und meint somit, in einem treffenden Bild gesprochen, den Prozeß eines zentripetalen »Zusammenfließens« des Eigenen.176 Diese Konzentrationsbewegung nimmt ihren Ausgang von einem idealen Prinzip (principium ideale suiipsius): ist die Substantialnatur determiniert, geht eine idea aus ihr hervor (resultare), in der die Natur, mit dieser Idee in innerem Zusammenschluß »verlobt«, sich selbst als autarkes suppositum vorherweiß: »Frustra enim dicitur natura confoederari, si nesciat id in quod confoederatur.«177 Die Idee ist der character individui; 178 solange sie

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naturas in societatem vitae secum trahendas determinat & actuat, adeoque ad certam individuationem contrahit: […].« Zur Unterscheidung von forma physica und forma metaphysica in der Metaphysiktradition vgl. oben 112. Vgl. De natura, 56: »Datur ergo confoederatio duplex. Altera actus est, & principium actionis; altera, actio ipsa a principio eo oriunda. Illa naturam alioquin interminatam terminat & complet: haec a supposito prius completo provenit; unde dictum vulgare, Actiones sunt suppositorum. […] Utpote prima naturae foederatio sibi soli non concipitur ut causa efficiens, neque ut finalis, aut ut materialis: reducitur ergo ad actum & causam formalem, nempe formam metaphysicam. […] Quanquam vero hic actus non sit proprie actio, aut etiam forma physica, sed quasi forma metaphysica; difficulter tamen a nobis plene concipitur aut explicatur aliter quam per analogiam ad actionem confoederationis.« Diese Analogiebildung führt zu einer »inadäquaten« Exposition des Selbsteinigungsaktes, vgl. ebd. 57, und auch 55. Vgl. Giglioni: Francis Glisson’s notion of confoederatio naturae, 246; De natura, 56: »dubitari non potest quin [natura substantialis, K.H.] aliquo modo seipsam, ut ab aliis omnibus divisa stat, suamque absque alio in eo statu sufficientiam, prius ordine naturae dignoscat, quam in unum completum individuum confluat, aut omne suppositum naturamve extraneam a se excludat.« Vgl. auch unten das Zitat in Anm. 180. Vgl. De natura, 73: »In ipso quidem instanti determinationis naturae substantialis ad certum suppositum necessario resultat actus quo ea sibi soli confoederatur. Hic actus supponit ideam rei eo actu productae. Frustra enim dicitur natura confoederari, si nesciat id in quod confoederatur. Suppositum, & consequenter individuum, productum, est id in quod confoederatio terminatur. Hoc si natura percipiat, habet ejus ideam; sin non percipiat, in idem non confoederatur.«; ebd., 66: »Sibi ergo soli confoederatur, non quidem per viam actionis, atqui per viam actus; hoc est, per resultationem determinati principii idealis suiipsius, ut substantiae individuae ab omnibus aliis satis divisae, adeoque in se completae, & a se appetendae atque tuendae. Principium enim ideale interna quadam & objectiva unione naturae substantiali desponsatur, ejusque tres primas facultates, perceptivam, appetitivam & motivam, informat, actuat, & quasi satiat. Quia vero se satis ab omnibus aliis divisum repraesentat, nulli extra se communicatur, sibique soli unitur, necnon sibi soli sufficit.« Vgl. De natura, 68: »Actus enim sive modus confoederationis includit ideam sive characterem individui; […].«

214 sich kontinuiert, überdauert das Individuum als dasselbe.179 Daß es die drei Naturalvermögen sind, die die substantielle Natur zum suppositum saturieren, zeichnet die Selbsteinigung als actus vitalis aus.180 Der Zustand der Vollständigkeit führt den Verdichtungsprozeß des Eigenen zu seinem Endpunkt; die integre Substanz ruht in Autarkie und sattem Selbstgenuß (complacentia, fruitio suiipsius). 181 Die suppositalitas ist derart – wider den Skotismus gesprochen182 – nicht lediglich die Negation des Zusammengehens mit einem anderen suppositum, sondern positive Form.183 Erst das suppositum ist das Prinzip der Vermögen und Verrichtungen im konkreten Sinn (principium ut quod), wohingegen die Substantialnatur sie lediglich in abstrakt-formaler Weise prinzipiiert (principium ut quo). 184 Die suppositalitas determiniert das Selbstbündnis der Natur in der Gestalt einer lex confoederationis. Verändert sich die suppositalitas, so löst sich das Bündnis der Natur mit sich selbst auf.185 Mit der Konkretisierung, die die Substantialnatur durch die suppositalitas erfährt, ist sie auf ein Gesetz des Seins und Verrichtens (lex essendi et operari) festgelegt, und dieses Gesetz ist nichts anderes als der »Geist« (genius), die Anlage (indoles), die »cha-

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Vgl. De natura, 73: »Manet idem individuum quamdiu retinetur eadem idea individualis […]. Individualis haec idea a principio ad finem durationis individui continuatur.« Vgl. De natura, 55f.: »Quia vero haec unio respicit naturam, non tantum quatenus est in se suiipsius principium sustentans, sed etiam quatenus est in ordine ad operationes, nempe qua est principium energeticum, seu vita substantiali dotatum; non videtur satis efficaciter exprimi solo nomine unionis, & propterea confoederationem & communionem quoque voco: qua insinuatur vitalitas naturae unitae; sive actus vitalis, quo quicquid a se non dividitur includit, & quicquid a se dividitur excludit, sibique soli sufficit.« Vgl. De natura, 50: »Resultat ergo fruitio quaedam hujus complementi in se: hoc est, natura sibi complacet & acquiescit in partibus suis unitis, ut sufficientibus ad integram substantiam complendam, prout sic divisae ab omnibus aliis stant. Quae complacentia naturae, qua nimirum ea in sua integritate acquiescit, est fruitio sui, & finis suppositalitatis a se dimanantis.« S.o. 118f. Vgl. De natura, 54: »Jam vero naturae confoederatio sibi soli non tantum insinuat negationem unionis cum omni alio extra se, sed se hac sua confoederatione factam esse completam in se: quae completio forma positiva est, & sufficiens fundamentum negationis unionis cum omni alio. […] Acquiescit enim natura in se, si nulla pars sibi confoederata desit: hoc est, sibi complacet in determinata entitate quam nacta est, & extra eam nihil quaerit. Quare ratio complens naturam ad extra negativa est, ad intus, positiva. Communionem enim terminatam totius naturae foederatae in seipsa dicit, simulque extra se omnem unionem & communionem negat. Inclusive est confoederatio definita totalis & positiva: exclusive est negatio foederationis cum quavis natura aut supposito extraneo.« Vgl. auch 55 die Wendungen vom »modus, status, seu actus positivus«. Vgl. De natura, 50. Vgl. De natura, 82, wo Glisson den Fall des sterbenden Pferdes Alexanders des Großen, Bucephalos’, diskutiert: »Mutatur enim suppositalitas, scilicet prior naturae confoederatio sibi soli dissolvitur.«

215 rakteristische« Idee selbst.186 Die suppositalitas verantwortet demnach die energetische Natur, d.h. die physische Form einer materiellen ersten Substanz. Ein Veränderungsprozeß (innovatio materiae) läßt sich somit folgendermaßen beschreiben: Mutat enim formam ceu ideam legemque specificam essendi & operandi, nempe genium, indolem, naturam additionalem & complentem […].187

In engem Zusammenhang mit dem Gesetz der Selbstverbündung steht das Ziel (scopus, finis, intentio) der konföderierten Natur, mit dessen Permanenz die Selbigkeit und suppositalitas stehen und fallen. Allen Körpern ist das Ziel gemein, ihre jeweilige Form und damit sich selbst zu erhalten. suppositalitas & individuatio manet eadem quamdiu primarius scopus actus confoederatae naturae manet idem: cessante vero primario naturae scopo, cessat suppositalitas & individuatio ejusdem. Primarius naturae scopus omnibus corporibus communis consistit in praeservatione particularis formae, qua constituuntur, cujusque divisione a se eorum individuatio dissolvitur.188

Im weiteren skaliert Glisson – wohl auch auf der Grundlage seiner naturgeschichtlichen Entwürfe189 – die Intentionen der Naturdinge, beginnend bei den den Flüssigkeiten über die Festkörper, die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen.190 Es bleibt die Frage, welcher der genaue Anlaß ist, von dem die Determination der Substantialnatur ihren Anfang nimmt. Glisson unterscheidet hier zwei Fälle: zum einen kann die jeweilige Idee auf den Vorgang einer Teilung oder Vereinigung, zurückgehen, mit dessen Vollzug sie gleichzeitig, aber selbstinduziert (sponte) aus der Natur dimaniert. Eine andere Klasse

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Vgl. De natura, 68: »Respondeo, statum divisum non tantum dicere negationem unionis cum omni alia natura aut supposito, sed & rationem positivam, quae modum individualem sive legem confoederationis includit; & hunc modum, quo positive completur natura, & determinatur ad esse & operari esse ipsam positivam rationem suppositalitatis, […].«; 54: »Respondeo, suppositalitatem neque consistere in unione neque in confoederatione in genere, sed in determinatione unionis seu confoederationis naturae sibi soli.« De natura, 86. Die Formel von der Idee als lex essendi et operandi etwa auch ebd., 173 u.ö. De natura, 72. S.o. 1.3. Vgl. De natura, 72f.: »In corporibus in specie puta similaribus, qua talibus, natura confoederata praecipue intenta est conservationi unitatis suiipsius in interiore & maxima suae molis parte. […] Insuper, in fluidis scopus quodammodo oppositus est ei in terminatis. In illis partes confoederantur ad liberam suiipsius quoquoversum diffusionem; ut in aqua: in his, ad determinatam & fixam inter se posituram partium; ut in glacie. Porro, in corporibus organicis ipsius partium structurae maxima habetur ratio […]. In plantis vero primarius scopus non tam respicit certum organum, quam individualem vegetationis rationem: & similiter in animalibus primus scopus non est hoc vel illud organum, sed haec vel illa determinata animalis vita, […]. In homine hic scopus ulterius protenditur, nimirum ad unionem corporis cum anima rationali.«

216 wird von den Ideen gebildet, die im Ablauf einer Zeugung wie Siegel vom eingedrückt werden. »Generans« meint hier, ebenso wie »movens« oder »agens«, allgemein die Wirkursache (efficiens) der Form.191 In einer derart disponierten Materie (materia seminalis) – den genauen Vorgang, in dem die Materie diese Dispositionen erhält, werden wir noch zu betrachten haben – ist der zukünftige Entwicklungsgang vorgezeichnet (destinatus cursus naturae); 192 die Idee »läuft« hier als paradeigmatische Ursache (causa exemplaris) »mit« (concurrere). 193 Die Idee »repräsentiert« mit dem aktuellen Status der individuellen Sache zugleich deren Vergangenheit und potentielle Zukunft, d.h. die Wirkursache, die die Idee eingedrückt hat, sowie die Form, deren Ausbildung der Sache durch diesen Eindruck aufgegeben ist.194 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden eine kontinuierliche Aneinanderreihung von Zuständen: Es ist der Grundsatz, daß die Wirkung mit Notwendigkeit aus der Ursache erfolgt, mithin die stoische ei(marme/nh, die Glisson hier in die Innerlichkeit der perceptio naturalis übersetzt. Er leitet aus ihm sogar einen modifizierten Begriff der Erinnerung im Sinne einer Bewahrung (praeservatio) dieser Idee ab, der auf die natürliche Perzeption angewendet werden kann, obwohl diese ja ohne jegliche Beteiligung eines zerebralen Systems vor sich geht. Die Erinnerung der Sinnesobjekte ist nach dem Modell eines Siegelabdrucks erklärbar: die Bewegung, die durch

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Vgl. De natura, 163. De natura, 116, 339. Auch hier ist auffallend, daß Glisson die Rolle des allerersten »Destinators« zu Beginn der Welt, also: die Rolle Gottes bei der Schöpfung, nicht explizit diskutiert. Vgl. De natura, 74: »Verum distinguendae sunt ideae quae a natura mediante sola causa uniente aut dividente resultant, ab iis quae vi generantis in actu productionis veluti sigilla efficaciter imprimuntur. Hae enim antevertunt actualem individui statum, & ut causa exemplaris ad ejus formationem concurrunt; illae simul cum actuali divisione aut unione e natura sponte dimanant. Dicendum itaque est, posse ideam in materia rite disposita, nempe seminali, antevertere statum formatum plantae aut animalis a natura respective intentum.«; sowie den bereits oben zu Anm. 159 zitierten Passus De natura, 73f. Vgl. De natura, 73f.: »Respondeo, in prima determinatione naturae ad individuum caducum resultare ideam, non solum actualem praesentis status, sed & potentialem futuri; sed cum aliquali variatione ex parte decreti naturae requisita. Natura enim confoederata non tantum actu determinatur de praesenti, sed & potentialiter seu aptitudinaliter de futuro. […] Concedendum itaque est, ideam in prima naturae determinatione resultantem praedefinire necessarias individui variationes, quatenus a natura ejusdem dependent, […]. Quare idea eadem totalis quae individuum, quatenus actu est, exhibet ut in actu, quatenus in potentia est exprimit ut in potentia.«; 162f.: »Ideam hanc integre sumptam tria minimum objectorum genera repraesentare, causam moventem, alterationem motu factam, & effectum hujus: sed quatenus est in motus, primario causam moventem; quatenus in alteratione facta, primario habitum, seu terminum impressum; quatenus in causatione, primario suum effectum proxime futurum, repraesentare. […] Idea alterationis factae directe concepta est idea suiipsius; retrospiciens est idea formae generantis; prospiciens seu anticipans est idea formae educendae.«

217 das Objekt an den äußeren Sinnen entsteht, erzeugt ihren terminus, d.h. das je eigene entelechetische Resultat des Bewegungsablaufs,195 im perzipierenden Gehirn, und dieser terminus »drückt« das Bild (idea) des Objektes »aus«, selbst wenn das Objekt bereits nicht mehr präsent ist.196 Nun kann zwar die prima determinatio der Materie durch das generans gemäß dem Modell der impressio sigilli beschrieben werden – für die Erinnerung der Idee in der natürlichen Perzeption gilt dies indes nicht. Glissons Begründung erscheint erstaunlich unbedarft, enthält aber einen treffenden argumentativen Kern: Die ähnlichen, d.h. nicht-organischen, mithin nur natürlich perzipierenden Körpern, sind derart confuse bewegt, daß ein siegelartiger Abdruck in ihnen sich niemals bewahren könnte, zumal wenn es sich um Flüssigkeiten handelt, etwa um siedendes Wasser, dem der terminus ›calor‹ eingedrückt wird.197 Die naiv-plastische Exposition, die Glisson hier unternimmt, kann rehabilitiert werden: Erinnerung als Bewahrung eines Siegel-Bildes bedarf eines Substrats, das nicht oder allenfalls mit entsprechender Ordnung bewegt ist, und diese entsprechende Ordnung – so insinuiert Glisson hier – setzt Organe wie die des äußeren und inneren Sinnes und eines den Sinnen gemeinsamen sensorium voraus. Für die unbeseelten Körper bleibt daher nur eine »realere« Weise der Ideenbewahrung: der terminus des Siegelabdrucks selbst fungiert hier als Idee, und solange er nur im leidenden Körper überdauert – wie etwa im kochenden Wasser, das den terminus der Wärme konserviert, obwohl keine siegelartige Idee sich in ihm halten kann –, perzipiert die Materie ein Paradigma, nach dem sie eine dem agens ähnliche Form gebiert. Die Idee oder der terminus motus ist derart die Ursache, die die ihr ähnliche Form als ihre Wirkung hervorbringt und sich in diesem Sinne durch den gesamten Hervorbringungsprozeß durchträgt. Denn so wie noch das geringste Gewächs seinen göttlichen Urheber widerstrahlt, gilt auch umgekehrt das allgemeine Axiom der in der Ursache ent-

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Eine bestimmte Lage (situs) ist beispielsweise der terminus einer räumlichen Bewegung; das Eis ist der terminus der Vereisung; die Dichte derjenige der Verdichtung, die Wärme derjenige der Erwärmung usw.; vgl. De natura, 170f. Vgl. De natura, 166: »Omnis enim sensus motu excitatur, & quidem sensus externus motu organi externi. Sensorium enim motum, eo quod movetur, ideam moventis percipit.«; 172: »Certum est, terminum motus posse ideam moventis sic praeservare, quod iste terminus qui motu ab externis sensibus ad internos defertur, absente objecto, in memoria maneat. […] Videtur itaque per modum impressi sigilli manere, & multo licet obscurius quam antea moveat, adhuc suo modo repraesentare. Certum igitur est, motum, quem infert objectum terminum in cerebro producere, qui, absente licet movente, ideam quandam ejusdem exprimit.« Das vorhergehende Zitat wird fortgesetzt: »Nihilominus difficultas de praeservatione ideae, qua perceptio naturalis fit, adhuc haeret. Nam haec per modum sigilli impressi praeservari nequit. Siquidem in corporibus similaribus, utcunque confuse agitatis, reperiuntur tales termini; ut calor in aqua bulliente: fieri autem nequit ut idea, per modum sigilli impressa, in liquore tam confuse moto conservetur.«

218 haltenen Wirkung.198 Glisson nennt die »reale« terminus-Idee idea naturalis und stellt damit klar, daß sie sich aller »animistischen« Konnotationen verweigert. Existimo igitur alio modo; & quidem magis reali, hanc praeservationem ideae naturalis effici. Dico igitur, ipsum terminum motus, quamdiu in passo manet, esse sufficientem moventis ideam, etiamsi hoc de praesenti absit. Etenim […] effectus suo modo continetur in causa, & causa quoque relucet in effectus: Praesentemque refert quaelibet herba Deum. Quare manente termino motus a generante illato, manet idea generantis, & hac manente, materia habet sufficientem exemplarem causam ad cujus imaginem, pereunte veteri forma, potest novam generantis similem e suo gremio educere.199

Die natürliche Idee bürgt für die ununterbrochene Überdauerung der Sache, deren Idee sie ist: sie blickt zurück auf die Ursachen, schaut voraus auf die Wirkungen,200 faßt die Abfolge der Zustände somit zum Kontinuum zusammen. Wie überzeugend oder brauchbar man den Begriff einer »natürlichen« Erinnerung auch immer finden mag – allein der Versuch, die Kontinuität einer Sache in der kontinuierlich »erinnerten« Idee ihrer selbst zu garantieren, ist eines der ausdrucksstärksten konzeptionellen Symptome einer mit geistmetaphysischen Theoremen argumentierenden Naturphilosophie.

4.6

»ideam et motum non realiter differre«: materielle Selbstgeneration und Autarkie der Natur

Glisson erteilt genau Auskunft über den processus determinationis causalitatis materiae, d.h. darüber, wie es geschieht, daß die Materie die Materialursache einer bestimmten Form wird, diese aus sich eduziert und in sich erhält. Mit dem vorgelegten Lehrstück der Morphogenese als actio immanens der unterliegenden Materie,201 demzufolge das generans ihr seine archetypische Form-Idee einprägt und sie daraufhin eben diese Form eduziert, glaubt er, einige unentwirrbare Knoten zu durchschlagen, die diejenigen Autoren, die das Leben der Materie, d.h. ihre selbstverfügbare Innerlichkeit, nicht anerkennen, nicht lösen könnten. Qui vitam materiae essentialem non agnoscunt inextricabilibus nodis circa determinationem causalitatis ejusdem implicantur, […]. In nostro autem modo explicandi,

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Genauer gilt sogar jener Grundsatz von herausragender Signifikanz für die Gottesbeweise Descartes’: »Quicquid efficit tale est magis tale.« (De natura, 372, auch 338f.) De natura, 172. Vgl. auch 73: »Quare naturae sic determinatae idea non tantum repraesentat praesentem individui rationem, sed etiam futuram, in quantum contineri dicatur in praesenti causa.« Vgl. De natura, 165: »Est autem idea propria triplex: directa; retrospiciens ad causas, easque referens; vel prospiciens ad effectus, eosque praevidens […].« Ausführlicher auch ebd. 163. Vgl. De natura, 141: »Eductionem formae esse actionem immanentem.«

219 forma generantis, motu in materia excitato, in eadem ideam suam erigit, quae optime naturalem formae eductionem declarat […].202

Der Einfluß van Helmonts auf Glisson ist im Topos der Formgenese als generatio spontanea am deutlichsten ausmachbar; überhaupt kommt die Idee der Natur als autarke Innenseite der Substanz hier zu ihrem nachdrücklichsten Austrag. Auch Glisson präsentiert sich in diesen Gedankengängen als Neustoiker und verbindet in seiner Naturtheorie die altstoischen Lehren der Ursachen, Zueignung und Notwendigkeit des Fatums mit dem naturphilosophischen Idealismus der Renaissance-Platoniker. Folgende Ansätze sind es, denen Glisson sein Konzept der generatio interna entgegenstellt:203 1. Die Vorstellung einer generatio passiva, die Suárez in der neunten Sektion der 13. Disputation »Quid sit causalitas materiae.« entwickelt.204 Suárez legt hier fest, daß die causalitas materiae hinsichtlich der Formengeneration der modus der generatio oder eductio ipsa sei, entgegen der von anderen Autoren vertretenen These, daß die Ursächlichkeit der Materie und die Hervorbringung ihres terminus, d.h. der Form, realdistinkt seien. Durch denselben modus, durch den die Wirkung verursacht wird, verursacht die Ursache; dieser modus hat also eine doppelte habitudo, zum einen zur Ursache als dem Prinzip, zum anderen zur Wirkung als dem terminus. 205 Das Gleiche gilt auch für den modus der Vereinigung, der die Kausalität der Materie in facto esse betrifft.206 Glisson geht mit Suárez soweit noch völlig konform. Es ist für ihn allerdings anstößig, daß Suárez den jeweiligen modus im weiteren der Form zurechnet, nicht aber der Materie. Die Form, so Suárez, tritt hinzu und wieder zurück; jede Veränderung ist daher ratione formae. Die Materie verändert sich nicht, ebenso, wie die Basis einer Säule sich und ihre Lage nicht verändert, obwohl die Säule selbst ihr aufgesetzt oder verändert wird. hunc modum potius pertinere ad formam quam ad materiam, probatur, quia tota efficientia agentis naturalis terminatur formaliter et proxime ad formam, educendo illam, vel uniendo materiae; ergo quidquid de novo facit, est in forma tanquam in formali termino actionis, in materia autem solum ut in subjecto, et ideo non unit materiam formae, directe efficiendo in materia specialem modum, sed solum uniendo formam ipsi materiae, […] forma est quae advenit materiae, et ab illa recedit, et ideo omnis mutatio, quae fit in materia, est ratione formae, et similiter omnis unio est per conjunctionem formae ad illam.207

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De natura, 159. Vgl. De natura, 159f., 218. Vgl. DM 13, IX, 5: »eductio, seu passiva generatio«. Vgl. DM 13, IX, 5, besonders den Satz: »per idem seu per eumdem modum quo effectus causatur, causa causat […].« Glissons Rekurs in De natura, 132 und 145. Vgl. DM 13, IX, 9. DM 13, IX, 13.

220 Glisson antwortet: nego eam rem quae vocatur generatio esse modum formae, aut dependentiam esse modum formae. Unicum enim inter materiam & formam modum pono, eumque in materia […].208

An dieser Einstellung hängt der gesamte Ansatz der Formwerdung als Selbstperfektion der Materie. Mit ihr entscheidet sich, daß die Formengenese nicht generatio passiva, sondern generatio activa ist.209 Hunc modum e materia profluere. Ex argumento autem quinto urgeri potest, nihil esse quo potest hunc materiae modum producere. Sed respondetur, materiam sua potentia ultimo disposita instructam seipsam perficere, & novam naturam additionalem sibi adsciscere, atque hanc eductionem seu generationem […] esse modum materiae.210

2. Die Auffassung des Suárez, dargelegt in der zweiten Sektion der 18. Disputation, daß eine Substantialform vermittels Akzidenzien die Herausführung einer neuen Substantialform aus der Materie bewerkstelligt.211 Die bereits vorhandene Substantialform ist dabei das principium principale et remotum, die Akzidenzien sind instrumenta, die »proxime et per se« die Eduktion der neuen Form leisten.212 Dabei »fließt« die Substantialform allerdings »ein«; ohne jegliche Verbindung mit ihr ist die akzidentelle Form kein hinreichendes agens dieser Hervorbringung.213 Auch in dieser Konzeption ist es unmöglich, die Formengeneration als einen actus vitalis der Materie zu denken. Das suppositum »vim agendi non habet a materia, quae activa non est […].«,214 sondern handelt aufgrund seiner Akzidenzien.215 3 Die These Suárez’ und der Peripatetici im allgemeinen, daß höhere Ursachen wie Himmel und Sterne (causae superiores) oder gar Gott selbst (causa prima) das Unvermögen der Partikularursachen, die Formausbildung aus sich heraus zu leisten, kompensieren. So kann der concursus einer höheren Ursache den fehlenden influxus der Substantialform ersetzen.216 Im Fall der Entstehung von Lebewesen aus

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De natura, 145. Vgl. auch 146: »Putat [Suarius, K.H.] enim generationem & sustentationem nullum in materia ponere modum, sed suos in forma genita, […].« Vgl. De natura, 144: »Puto igitur generationem materiae activam & sustentationem formae esse diversos materiae modos ex natura rei distinctos […]. Ad actionem materiae complendam requiritur tantum simplex causatio, seu simplex generatio activa formae.« De natura, 146. Zur breiten Diskussion des modus unionis von Form und Materie unter den Aristotelikern vgl. die bei Boehm: Le »vinculum substantiale« chez Leibniz, 40–58, referierten Positionen. Vgl. auch die Bemerkungen oben 188f. Vgl. DM 18, II, 2–4, 15; vgl. oben 188f. Vgl. DM 18, II, 22, 27. DM 18, II, 1. Vgl. DM 18, II, 23. Vgl. DM 18, II, 28.

221 Fäulnis laufen himmlische Ursachen mit, und die Sonne bewirkt die Entstehung der Mineralien.217 Doch können der Himmel und die Intelligenzen keine Lebewesen generieren, wie Suárez gegen Thomas festhält: der Himmel nicht, weil er als Unbelebtes nichts Belebtes hervorbringen kann, die Intelligenzen nicht, weil sie dem Himmel, ihrem Werkzeug, lediglich räumliche Bewegungen mitteilen und damit ebenfalls nicht zur Entstehung von Seelen beitragen.218 Letztere also befördert Gott und läuft derart mit seinen Geschöpfen mit. Während jedoch die tierischen Samen wenigstens instrumentaliter, wenn auch nicht ohne Beteiligung einer höheren Ursache, zur Produktion der Seelen beitragen, ist das Werden der menschlichen Seele ein Eingießen (infusio) nur durch Gott, ist creatio; der Samen bewerkstelligt hier lediglich die Organisationsvorgänge (organizatio corporis). 219 Suárez betont, daß diese Eingriffe Gottes keineswegs eine Unvollkommenheit des Universums implizieren, da sie aus der Natur und Verfaßtheit der Agentien selbst notwendig sind und ohne sie die Ordnung der Natur umgestürzt würde. interdum est debitus hic concursus Dei ex generali ratione naturae universalis, ne pervertatur ordo universi, aut materia sine forma maneat, vel in nihilum transeat, […] debetur talis concursus ex propria natura et conditione alicujus agentis particularis, quod non est aptum alio modo communicare, vel propagare naturam suam, ut in generatione animalium perfectorum addicere credimus, et in hominis generatione est certissimum […].220

Für Glisson hingegen bedeutet jegliche Einräumung einer übernatürlichen Ursächlichkeit, Zuflucht zu Wundern zu nehmen. Sie impliziere die Annahme, Gott habe die Naturen der Naturalagentien unvollkommen geschaffen und müsse ihre Defekte nachträglich korrigieren. Letztlich offenbare sich hier nur eine Unkenntnis der Naturgesetze – Unkenntnis, die es besser wäre einzugestehen als unreflektiert die Mangelhaftigkeit der Schöpfung anzunehmen und Gott »auf die Bühne zu rufen«.221

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Vgl. DM 18, II, 28, 37. Vgl. DM 18, II, 38–39. Vgl. DM 18, II, 40–41. DM 18, II, 40; vgl. auch 41: »quod ad hominis generationem requiratur infusio animae per creationem, non est imperfectio aut inordinatio naturae, sed conditio naturaliter consequens ad talem nominis naturam, et ideo non est extraordinaria illa actio, sed debita ex communi lege, supposita institutione talis naturae; […].« Vgl. De natura, 338: »Dices, fortasse, operationes quae tribuuntur generanti non habere causas naturales quae sint principales, sed tantum instrumentales: Deum vero in hujusmodi casibus locum causae principialis immediate supplere. Verum hoc est deserere naturam, & confugere ad miracula, ut naturae defectus suppleantur: quasi Deus agentium naturalium naturas primo imperfectas fecisset, & defectus subinde creationis suae miraculose, seu supernaturalis concursu, sarcire, coactus esset. Ego eos indignos refutatione deputo qui in disquisitione de causis naturalibus, ut suam legum naturae ignorantiam celent, Deum subinde in proscenium evocant; ut nimirum phaenomena iis alioquin insolubilia miraculis imputando solvant. Nonne satius est,

222 Mit gleichem Impetus kritisiert Glisson den Naturphilosophen Sebastianus Basso, der in seiner Philosophia naturalis adversus Aristotelem (1621) die Finalität natürlicher Vorgänge nicht etwa auf die Form, sondern auf den unmittelbar lenkenden Gott zurückgeführt hatte.222 hic bonus Doctor nimis angustas & leves cogitationes de Deo Divinoque mundi regimine amplectitur & fovet. Ita enim de iis loquitur, quasi Deus suo mundo commode praesidere nequeat, eumque nutu suo ordinare & regere, nisi creaturas ad munia sua, supposito concursu ordinario, naturaliter obeunda, insufficientes & inidoneas primo fabricasset. Quid? Ergo mundum ab initio rudem, mancum, imperfectum, novis miraculis indies reparandum & instaurandum, dedit?223

4. Die Annahme eines der Materie transzendenten dator formarum oder intellectus agens, genannt colcodea, der als abgetrennte zehnte Intelligenz oder numen sublunare die Formen spendet – eine Vorstellung, die Glisson auf Averroes zurückführt.224 Tatsächlich entstammt das Konzept des dator formarum der Kosmogonie Avicennas und ist der Name colcodea eine beliebte Neubezeichnung durch die Paduaner Averroisten Agostino Nifo und Marco Antonio Zimara.225 Auch hier kann Glisson mit seiner These der materiellen Selbstgeneration die Unnötigkeit einer Zufluchtnahme zu einem transzendenten intelligiblen Prinzip geltend machen.226 Mit seiner These der unmittelbaren, also auf keine Zwischeninstanzen angewiesenen Wirksamkeit der Materie stellt Glisson dabei offenbar eine theologische Argumentationsfigur nach: aus konfessionellen Gründen war die Vorstellung von Zwischenwesen, die zwischen Gott und der Natur vermittelten, eliminiert worden, um so den Kontakt Gottes zu seinen Kreaturen immediat sein zu lassen.227 Diese Immediatisierung beansprucht Glisson nun für die erste Materie.

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propriam intellectus fragilitatem agnoscere, quam operibus creationis defectum crasse impingere?« Vgl. Iofrida: Sébastien Basson; sowie seine Einleitung. Die Philosophia naturalis Bassos war vor allem in der Amsterdamer Ausgabe von 1649 verbreitet. De natura, Ad Lectorem, §13, fol. b4v–c1r. Vgl. auch §14, fol. c1r: »Estque materia foetus sic disposita sufficiens subjectum naturale virtutis plasticae: neque necesse est ut, (juxta sententiam Bassonis) ad catuli in utero, aut pulli in ovo, formationem, ad extraordinarium Dei concursum, seu ad miracula, confugiamus.« Vgl. Suárez: DM 15, II, 9 (sogleich zu Anm. 236 zitiert); 18, II, 13; van Helmont: Formarum ortus, §21, O 134; De natura, 218: »Averroes, difficultatibus incidentibus circa novarum formarum productionem victus, ad numen quoddam sublunare, quod formas in omni generatione idoneas suggerat, confugere coactus est.« Vgl. Nobis: Art. ›Colcodea‹; Mahoney: im Art. ›Seele‹; Nallino: La »Colcodea« d’Avicenna e T. Campanella. De natura, 159: »nec opus est confugiamus ad Averroïs chalcodiam, ut officiose obstretricetur generationis formarum […].« Vgl. Leinkauf: Mundus combinatus 35–45, 56.

223 5. Die orphische Vorstellung der Metempsychose oder der »Wanderung« der Formen von Materie zu Materie. Glisson gibt, wie allgemein üblich, Pythagoras als Urheber dieses Gedankens an (migratio Pythagorica). 228 Im Florentiner Platonismus war die Lehre der Seelenwanderung stark diskutiert worden, da Pythagoras, neben Zoroaster, Hermes Trismegistos und Orpheus, als Inspirator Platons gehandelt wurde.229 Ficino hatte das nötige Textmaterial 1463 in lateinischer Sprache vorgelegt.230 Neben diesen Hermetica konnten beispielsweise der Mythos des Pythagoras in Ovids Metamorphosen, die Bemerkungen bei Stobaeus oder auch entsprechende Passagen in den Dialogen Platons selbst als Textgrundlage dienen.231 Die Vorstellung einer Wanderung der Formen oder Archeen findet sich aber auch bei J.B. van Helmont.232 Glisson könnte hier außerdem an die Lehre des Phaidon denken, die auch Suárez in ihrer naturphilosophischen Relevanz ausgedeutet und in der er die Behauptung einer naturtranszendenten Herkunft der Formen (ab ideis separatis) ausgemacht hatte. Nicht zuletzt spricht noch Bacon im Novum Organon von intantiae migrantes, in denen der Forscher Formen im Werden oder Entstehen untersucht.233 Mit ihrer Kritik an der Seelenwanderungslehre nehmen Leibniz, Glisson und andere Autoren des 17. Jahrhunderts einen Diskurs des antiken Atomismus wieder auf.234 Glisson entdeckt in der Annahme einer solchen Wanderung die verborgene Prämisse einer Subsistenz der Formen. Unter dieser Voraussetzung wird jedoch die Autarkie der Natur undenkbar,

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Vgl. De natura, 123f.: »Eodem fortasse errore [die Form in Analogie zu den Geistern zu denken, K.H.] ductus olim Pythagoras formarum migrationem a materia ad materiam somniavit: & hinc quoque verisimile est alios nonnullos creationem & annihilationem formarum in suas philosophias invexisse.«; 159f.: »nec opus est […] migrationem Pythagoricam a subjecto in subjectum somniemus […].«; 179: »Non admittenda est naturarum migratio de supposito in suppositum.« Vgl. etwa Theologia Platonica XVII, 4, Opera Omnia, 393–396, etwa 393: »nunquam tamen fiat uera de specie in speciem transmigratio.« sowie die Hinweise der Herausgeber in: Traktate zur Platonischen Philosophie, 101. Vgl. Lohr: Metaphysics, 568–584, zur Akademie in Florenz und der Bedeutung der hermetischen Autoren innerhalb des dortigen Diskurses. Ferner die entsprechenden Hinweise in Grafton: The availability of ancient works, 785–789. Vgl. zur Seelenwanderungslehre allgemein auch Burkert/Sturlese: Art. ›Seelenwanderung‹ sowie die oben angeführten Verweise 153. Phaidon, 81d6–82a1 sowie 83d9–10; vgl. auch den Phaidros, 248a–249d und im Timaios, 42b2–d1, 90e1–92c3. Ferner Stobaeus: Anthologii libri duo priores I, 397, 12–18; Colpe/Holzhausen (Hg.): Corpus Hermeticum II, 434f.; Ovid: Metamorphosen, im 15. Buch, Verse 60–478, zur Lehre der Seelenwanderung bes. 158–175 und 456–458. S.o. 78. Vgl. Novum Organon II, 23, Works I, 269–271. So weist schon Lukrez die Vorstellung zurück, die Seele könne »warten« (expectare), bis sie Zutritt zu einem Körper habe; vgl. De rerum natura III, bes. 776–783. Zur Kritik Leibniz’ an der Vorstellung der Seelenwanderung vgl. z.B. Système nouveau, GP IV, 481; Monadologie, §72.

224 denn Formentstehen und -vergehen ist dann, genau wie im Fall der Annahme der colcodea, Erschaffung und Vernichtung von Substanzen.235 Dieser Zusammenhang war bei Suárez nachzulesen: Non omnes formae substantiales creantur. […] Secunda sententia fuit aliorum, qui, superati difficultate tacta, dixerunt omnes formas substantiales fieri per creationem. […] aliqui eam tribuunt Platoni in Phaedone, eo quod dixerit formas induci in materiam ab ideis separatis, et Avicennae, […] qui dixit easdem formas induci ab intelligentia separata, quam decimam post novem, quae praesunt novem corporibus coelestibus, esse dicebat, et praeesse mundo sublunari.236

Glissons eigener Auffassung nach gibt es keine unmittelbare Übertragung einer Form von Subjekt zu Subjekt, sondern nur eine de novo productio. Auch verläßt die Seele eines toten Tieres nicht seinen Körper; sein Tod meint nichts anderes als die Auflösung seines dreifachen Lebensverbundes.237 motus dicitur a movente in rem motam transire; sed intelligitur causaliter, hoc est, moventem suum motum in materia propagare, scilicet consimilem de novo producere. Non ergo migrat de uno subjecto in aliud, sed ejus entitas est in continuo fieri.238 Negamus itaque in morte brutorum animam aliquam substantialem emigrare, & dicimus mortem animae sensitivae nihil aliud esse nisi dissolutionem triplicis confoederationis vitae […].239

6. Das in Glissons Augen additive Verhältnis der Weltseele zur Masse bei Platon und platonischen Autoren.240 Allen diesen Ansätzen ist es gemeinsam, daß die Vorgänge in der Körperwelt durch sie transzendierende, subsidiäre Ursachen erklärt werden müssen. Sie alle suggerieren den Begriff einer in sich defizitären Natur, setzen das Prinzip, das der Materie die Form gibt, als eine dieser selbst äußerliche Kraft an, wohingegen der Tenor Glissons gerade die These der Immanenz dieses Prinzips in der Materie ist. Das der Materie inneliegende, von ihrer Subsistenz nur ratione cum fundamento in re unterschiedene Leben der Natur ist die hinreichende Ursache der natürlichen Bewegungen.241

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Vgl. »Fabrica corporis organici non potest oriri ex solo motu materiae.« fol. 278r: »Verum per formam substantialem nihil aliud intelligo nisi ipsam materiam qua mobilem et ad certam speciem ab agente determinatam. Nullo enim sensu alio forma dicatur substantia, nisi una perpetuam velimus agnoscere novarum formarum creationem et obsoletarum annihilationem.« DM 15, II, 9. Vgl. De natura 235: »dicimus mortem animae sensitivae nihil aliud esse nisi triplicis confoederationis vitae«. De natura, 168. De natura, 235. S.o. 198f. Vgl. De natura, 338f.: »experientia constat multa corpora, inanimata dicta, se movere: non statim ad miracula confugiendum, sed potius concedendum, dari in iis quandam naturae vitam, quae sola istius operationis sufficiens esse causa queat.«

225 Omnes videntur implicite fateri, sua Philosophiae principia phaenomenis in natura occurrentibus non aliter sufficere, quam in subsidium alias causas adjutrices, quibus naturae defectus suppleantur, advocando. Nonne satius foret naturae debitam perfectionem propriam, viam quippe, qua hisce muniis sit sufficiens, largiri?242

Die Materie kann integre oder inadaequate begriffen werden. In ersterer Auffassung wird die tota ratio, natura und entitas der Materie umfaßt. Indefinite, ohne weitere Bestimmungen, steht die Materie für ihren Objektivbegriff, der sie als real existierende extrapoliert. Gleich dem Meergott Proteus oder der monströsen Empuse vermag sie allen Gestalten, allen Verwandlungen zu unterliegen. Sie ist das chaos, über das Ovid in den Metamorphosen dichtet, die gestaltlose, bloß träge Masse, die, ihrerseits nur ein einziges, undifferenziertes Antlitz der Natur, die semina rerum enthält.243 Hoc sensu materia comparatur Proteo, quod mirum in modum se transformet, quidvis patiatur, quidvis fiat, omnes cruciatus, omnes impetus & vexationes causarum violentarum eam impugnantium, modo unius, modo alterius dominio se submittendo, patienter perferat.244

Der zitierende Rückgriff auf die Dichtkunst ist einmalig im Traktat und überraschend untypisch für einen Autor, der die pompa verborum meiden will und sich durchgängig einem schwerfälligen, wenig poetischen Stil verschrieben hat.245 Wie sich denn auch herausstellt, führt Glisson die Verse letztlich an, um die »erdichteten Metamorphosen« als eine allzu wundersame Vorstellung vorzuführen, wenn es um die Klärung der Frage geht, wie der Wechsel der Formen und damit jeglicher Veränderungsprozeß in der Natur vonstatten geht. Selbstverständlich will Glisson keine Dichterkritik formulieren, sondern Autoren wie Fabrici d’Aquapendente treffen.246 Den Vorgang der Metamorphose interpretiert Glisson als einen unvermittelten, augenblicklichen Wechsel der Materie von einer Form zur anderen. Einen solchen Wechsel kann es nun in der Natur nicht geben: in ihr geschieht alles durch Bewegung (»Motu omnia fieri.« 247), und keine Bewegung ist instantan.248 Jeglicher Zustandswechsel beruht auf einer kontinuierlichen Sukzession von Veränderungen (praeviae alterationes).

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De natura, 218. Vgl. De natura, 84–86. Glisson zitiert die Verse 288–295 aus dem ersten Akt von Aristophanes’ Fröschen, sowie die Verse 5–9 aus dem ersten Buch der Metamorphosen; vgl. De natura, 86. De natura, 86. Vgl. oben in der Einleitung, 6. Vgl. oben den Abschnitt 2.2.1. De natura, 164. Vgl. De natura, 164: »Ego fateor me vix posse motum instantaneum concipere […].«

226 Quod enim ad metamorphoses quae a poetis finguntur attinet, omnes miraculose produci supponuntur.249 cum quotidiana experientia constet, res, quae mutantur, non sine praeviis alterationibus & sensim ad eas mutationes disponi, nec unam rem quasi incantamento aut miraculosa metamorphosi in aliam immediate transformari. […] Naturaliter enim nihil in instante, sed sensim & per praevias alterationes motusque transmutatur.250

Durch die der neuen Form vorlaufenden Bewegungen wird die unterliegende Materie entsprechend »disponiert«. Eine solche, für die jeweilige Form bereitete »Seminalmaterie« ist weder völlig formlos, noch kann sie als bereits geformt gelten. Glisson analysiert den Totalbegriff der Materie in drei naheliegende inadäquate Begriffe: Dividitur itaque materia tota in tres inadaequatos conceptus, in materiam primam, secundam, & formatam.251 Supponatur materia prima omnium formarum indiscriminatim capax esse; materia secunda determinari ad certam formam potentialiter; formata, ad certam actu.252

Ebenso defizitär wie die natura energetica der ersten Materie sind auch ihre Naturalvermögen.253 So perzipiert die prima materia zwar ihre »Nacktheit« und verlangt nach Vervollkommnung, sie erfaßt aber nicht, durch welche spezifische Form oder Quiddität sie diese Perfektion erlangen kann (perceptio indeterminata, appetitus indeterminatus). 254 Die zweite Materie hingegen ist nicht indifferent gegenüber jeder Form; sie ist disponiert für die Form einer bestimmten Art oder Gattung: ihre Kausalität als Materialursache ist »bezeichnet« (causalitas signata, causalitas materiae in actu signato). 255 Die zweite Materie enthält den »Wurm« der Zerstörung und Veränderlichkeit in sich, der eine gegenwärtige Form zugunsten der nachfolgenden »zernagen« kann, und leitet gradweise über vom Untergang der vorhergehenden zur Einführung der neuen Form.256 Ist die neue Form

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De natura, 164. De natura, 114f. De natura, 87. De natura, 134. Vgl. oben 3.2.8. Vgl. De natura, 90–92: »Natura materiae considerata quatenus est principium energeticum, utcunque claudicans & defectivum, tres fundit facultates, sed similiter imperfectas, perceptivam, appetitivam, & motivam. […] Appetit quidem formam, qua ejus nuditas sive naturae defectus suppleatur. […] Percipit quidem sibi deesse formam, qua compleatur, sed non percipit quali opus habeat. Si enim discerneret certam particularem formam ut sibi congruam, non esset indifferens ad omnes: materia autem sub conceptu primae ad nullam certam formam determinatur, & consequenter nec quidditatem specificam nec qualitatem formae absentis & desideratae scit aut cogitat: tantum percipit aliquam formam sive additionalem naturam sibi deesse, qua sua natura incompleta farciatur.« Vgl. De natura, 140, 146. Vgl. De natura, 114f.: »Potentia enim quae tribuitur materiae primae communis seu indifferens est omnibus formis, & consequenter est quoque perpetua: potentia vero seu aptitudo secundae appropriatur formae certi generis aut speciei, quae multifa-

227 schließlich induziert, kann die Materie als materia formata angesprochen werden (perceptio determinata, appetitus determinatus). 257 Ebenso wie van Helmont zeichnet Glisson den Formenwechsel als das Szenario eines Kampfes. Gleich einem Invasor erregt das generans eine »feindliche« Bewegung in der Materie: es »untergräbt« die vorhandene Form und trägt der Materie auf, eine ihm selbst ähnliche Form zu generieren.258 An einer »Schwachstelle« errichtet der motus hostilis eine Idee des Eindringlings. Diese Idee lockert die Vereinigung der Materie mit der noch gegenwärtigen Form zusehends und »wiegelt« die Materie »auf«, ihre Form abzuwerfen.259 Die Materie widersteht (motus antitypiae). Der stärkere (praevalens) Gegner setzt sich schließlich durch (motus cum victoria 260), so daß entweder die gegebene Form bekämpft wird oder aber der Angreifer »hinausgeworfen« wird. Im ersten Fall setzen sich die zur neuen Form disponierenden Akzidenzien immer mehr durch, bis die determinatio praeparatoria, die erste Station des Prozesses, in dem die Kausalität der Materie festgelegt wird,261 im Moment der Vertreibung der vorhergehenden Form abgeschlossen ist.262 In eben diesem Moment geschieht ein Umschlag: waren Idee, Bewegung und Dispositionen des Eindringlings der Materie bis

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riam est variabilis. Quare materia secunda in se continet vermem, nempe principium corruptionis. Hoc enim principium, quasi vermis, praesentis formae radicem corrodit, eademque opera aditum formae subsecuturae sternit. Ejus quoque processus gradualis est & sensim repit, nec desistit donec vetus forma expugnetur, & nova introducatur.« Glisson unterteilt die materia secunda entsprechend einer dreifachen graduellen Einteilung dieses Vorgangs in materia remota, propinqua und proxima. Vgl. De natura, 133. Zur Unterscheidung von unbestimmtem und bestimmtem Naturalvermögen vgl. »Primordia rerum.«, fol. 98r: »Perceptio ut facultas est vel indeterminata, vel determinata. Indeterminata perceptio fundatur in materia 1.a et est fundamentum appetitus materiae: perceptio determinata fundatur in forma, et est origo appetituum determinatorum.« Denselben Sachverhalt meint Glisson mit der Einteilung in perceptio prima und perceptio modificata, fol. 104v, 105r. Vgl. De natura, 156: »Motus hostilis eo in materia a generante excitatur, ut ejus virtute formam praesentem subruat, & viam ad formam aliam, quippe sui similem, introducendam muniat. Affectiones praeternaturales accidentia quaedam permanentia sunt virtute motus hostilis a generante illata, & propterea praeternaturalia. Hostili regni cujuspiam invasioni hanc formae praesentis impugnationem comparare licet.« De natura, 156: »Porro, motus & affectiones praeternaturales conjunctim, loco vexilli, ideam causae invadentis erigunt. Haec idea non minus inimica est praesenti formae, quam sunt ejus causae: materiam enim ad suos amplexus, & ad dimittendam formam praesentem, solicitat [sic!]; adeoque illius cum hac unionem quodammodo laxat & debilitat.« De natura, 170. Vgl. De natura, 137f.: »dispositio est via & motus ad determinationem tendens.« Ebd.: »Hae causae, si praevaleant, tractu temporis formam praesentem expugnant; sin contra haec triumphet, illas foras deturbat. Praeviae dispositiones praevalentes sensim intenduntur, donec ad momentum quo forma praesens expellitur deventum sit. Eo enim instanti determinatio materiae praeparatoria completa fit. Cum enim in proximo momento forma vetus expellatur, & nova educatur, clare constat materiam fuisse in antecessum ad eam formam satis determinatam.«

228 dahin feindlich und nicht natürlich (praeternaturales), so perzipiert sie sie vom Augenblick ihrer »Unterwerfung« an als »minime praeternaturales«. Mit dem Verstoß der alten Form ist auch jede Aversion gegenüber der neuen Herrschaft (regnum) verschwunden. Die neue Idee repräsentiert nun das angemessene, eigene Seinsgesetz; die Materie umgreift die ehemals feindliche Natur; der motus des Eindringlings ist ihr jetzt freundlich und vertraut. Im Rückgriff auf die Terminologie seiner Neurophysiologie spricht Glisson von der vigoratio ad formam. 263 Durch die »Vorschrift« (praescribere) 264 der Idee ist sie sozusagen programmiert, dessen Form hervorzubringen: die perceptio billigt sie, der appetitus optiert für sie, der eigene motus eduziert sie.265 Unterjochung verlangt auch hier die sugkata/qesij zum Fatum, ist, mit Knorr von Rosenroth gesprochen, »Bethörung«.266 Die neue Form ist forma bona, congrua, pulchra: anerkannt, »geliebt«, »gehegt«, verteidigt – bis ein mächtigeres Agens die Materie bezwingt.267

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Vgl. De natura, 148: »ipse motus quo forma producitur a materia […] est vigoratio ejus ad formam perceptam & appetitam in se actu efficiendam.« Vgl. De natura, 164: »idea, stipata praeviis dispositionibus, & motu, earum origine, simulac dimittitur forma prior, materiae victae & subjugatae novam legem essendi, hoc est, novam naturam seu novam formam, sibi suique generantis legi conformem, praescribit.« Vgl. De natura, 157: »Sequitur determinatio eductiva formae: eamque primo consideremus ut in fieri. Haec supponit praevias dispositiones modo memoratas, nempe motum hostilem, affectiones praeternaturales, & ideam generantis excitatam: quae omnia durante forma priore sunt materiae praeternaturalia; sed in ipso momento expulsionis ejusdem naturalia fiunt, quod materia jam ad novam additionalem naturam seu novam formam determinetur. Materia enim ab efficiente subacta, & domita, nempe forma priore spoliata, ideam generantis sibi minime praeternaturalem esse percipit. Forma enim seu natura materiae cui idea erat antea inimica jam eradicatur, & nihil in materia superest quod ei advorsum est: imo nulla alia idea praeter hanc ei offertur. Quare percipit hanc ut repraesentantem naturam seu legem essendi & operandi sibi maxime congruam & genuinam. Hanc igitur unicam expetit, hanc ut naturam suam amplectitur. Percipit quoque affectiones praeparatorias, quas prius ut sibi praeternaturales spreverat, esse suae novae naturae conformes & naturales. Denique, percipit motus, prius hostiles, esse jam amicos & familiares. Ad novam itaque naturam per ideam generantis sibi oblatam materia determinatur. Habet enim sufficientem a generante excitationem ad educendam in se consimilem naturam ei quam ejus idea repraesentat, quaeque tribus materiae primae facultatibus complacet. Perceptio igitur materiae ad approbationem, appetitus ad optionem, potentia motiva ad actualem eductionem formae ideae similis determinatur. Atque haec determinatio potentiae materiae est ejus causalitas actualis, quae exercetur in ipsa formae productione, & spectat ad ipsam materiam formatam quatenus est in fieri.« Vgl. auch ebd., 148. So Magnum oportet, §25, A I 200. S. auch o. 78. De natura, 157: »Determinatio materiae conservativa nihil aliud est, nisi continuatio quaedam determinationis eductivae. Continet hos actus: materiam percipere naturam suam additionalem esse bonam & sibi congruam; eandem eligere & amare; eamque sustentare, tueri & vindicare. Persistit in his actibus, donec a causis se potentioribus iterum hostiliter invadatur, & subjugetur. Quo casu redit ad statum praeparatorium modo descriptum.«; 93: »nativam essentiam [materia, K.H.] perpetuo retinet; additionalem & complentem, quamdiu adest, pari jure ac si esset congenita agnoscit,

229 Forma producta reddit praevias dispositiones materiae, quae prius ei praeternaturales fuerant, naturales. […] Praeviae dispositiones in materiam agunt; ejus tres primas facultates, perceptivam, appetitivam & motivam, ad deserendam formam veterem seu praesentem, & ad novam ambiendam, excitant, simulque, quantum possunt, illam demoliri, hanc substituere, satagunt: in ultimo autem praeparationis actu illam expugnant, & materiam ad hanc educendam determinant. Continent enim ideam formae educendae, quae facultati perceptivae materiae objicitur, & perfectionem, pulchritudinem atque congruentiam formae oblatae cum materia, quatenus sic disposita, repraesentat. Perceptiva, hoc modo excitata, appetitivam, haec motivam, ad formam educendam actu excitat.268

Wie bei van Helmont ist die Innensphäre der Materie der eigentliche Schauplatz der Veränderung. Obwohl die neue Form von außen angetragen wird, vollzieht sich ihre Herausführung erst dann, wenn die Materie sie »erwählt« (eligere), sie sich als ihre Natur »anzieht« (asciscere, induere), ihr ihr Ja-Wort gibt (»Tu mihi sola places.«) – erneut greift Glisson auf Verse Ovids zurück, hier auf die Ars Amatoria I, Vers 42. Adventitia natura debet ab originali eligi. […] in actu eductionis formae materiam non esse indifferentem, sed praeparatam seu dispositam, nempe ad unam certam formam determinatam, ita ut Poetae verbis formam sibi desponsatam alloquatur, Tu mihi sola places. Si autem ante plenariam materiae praeparationem forma nova se obtrudat, displicet, nec in additionalem materiae naturam evadit. Etenim in ultimo actu praeparationis materia novam naturam ultro eligit atque induit.269

Diese Wahlmöglichkeit ist freilich eine vermeintliche: die Materie gibt lediglich der Bedrängung (angustia) durch den siegenden Gegner nach, um ihrer Vernichtung zu entgehen. Die electio steht vielmehr für den stoischen Gedanken, daß der Anstoß zur Übernahme einer neuen Form immer auch der Selbstanstoß (sponte) der Materie ist, zu dem äußere Ursachen lediglich den Anlaß (occasio) geben.270 Denn wie van Helmont geht auch Glisson von einer doppelten Ursächlichkeit aus, um natürliche Veränderungsprozesse zu erklären: Duae causae notantur. Duo itaque generalia causarum genera mutabilitatis materiae assignari queunt; unum externum, alterum internum. Illud irritum foret, nisi hoc illi suo modo auscultaret. […] hoc [die Auslöschung einer Form durch einen stärkeren Gegner, K.H.] non eveniret, nisi inesset interna quaedam facilitas cedendi, sive debilitas & impotentia resistendi, in materia mutata.271

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amat, fovet; sed ab agente potentiore victa, se ea spoliari sinit.«; die Materie kämpft für und verteidigt die Form (propugnare, defensio); vgl. ebd., 121; vgl. zur Affektmetaphorik etwa auch ebd., 158. De natura, 135f. De natura, 138f. Vgl. De natura, 135: »praeviae dispositiones sunt solae causae quae materiam ad se determinandam, & nova forma se perficiendam, occasionem ministrant, […].« De natura, 115f.

230 Die Materie muß mit dem generans »mitlaufen« (concursus cum generante) ; 272 die Formung ist – gegen Suárez – keine pura passio der bezähmten Materie, sie ist ihr motus ab intus, ihre Selbstperfektion, ihr vitaler Akt. forma non educitur, donec materia domita sponte suscipit, & quasi eligit, seu in se elicit, naturam ei generantis similem. Existimo enim solam materiam intrinsece attingere versionem formae extrinsecus oblatae in naturam suam, atque operationem hanc esse actionem vitalem rei se perficientis. Materia enim, cum nolit annihilari, in extremis angustiis dictamini generantis ultro obsequitur, novamque legem essendi & operandi, novam indolem sive naturam additionalem sibi asciscit: atque adeo eductio formae in ultimo ejus actu non est pura passio, sed immanens quaedam actio, seu actus vitalis […].273

Denn nur das zum Inneren transformierte Äußere kann eigene Natur sein. Siquidem externum efficiens seu generans, quamvis assimilat sibi materiam, non tamen intrinsece attingit eam formae rationem qua est materiae natura. Quatenus enim ab extra offertur, non est natura, sed quid extraneum: fit autem natura quatenus ab intus appetitur & assumitur. Imo impossibile est ut sit natura, quod ab intus non radicaliter manat.274

Formwerdung ist in diesem Sinne Spontangeneration (generatio spontanea, generatio interna) und Ausfließen der Materie aus sich selbst (dimanatio a se, causatio immanens). 275

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Vgl. De natura, 140: »Nisi igitur materiae natura fundamentalis suum consensum, adeoque concursum cum generante in eductione formae in se praebeat, affectio educta non primo modo, sed ad summum tertio, materiae naturalis fuerit.« Es ging voraus die Unterscheidung dreier Verstehensweisen von »naturale«, vgl. oben 3.2.10, Anm. 499. De natura, 140; vgl. auch 132: »Hoc ex eo monstratur, quod materia non tantum passive, sed & active […] ad formae eductionem concurrat. Etenim in ultimo actu praeparationis non tantum apta est formam quasi ab extra venientem suscipere, verum etiam eam ultro ab intus e suo penu & potentia educere. Hae duae causationes suis nominibus donantur. Activa, eductio formae, necnon generatio interna; passiva, sustentatio & suffulsio ejusdem audit.«; 142: »Haec enim causatio immanens […] reipsa tamen est causatio materialis, & talis qua materia seipsam perficit.«; 141: »Sed fortasse aliqui dubitaverint an motus quo educitur forma sit actio immanens. Non enim facile concesserint motum materiae in ejus productione esse activum, quin potius esse puram passionem […].« De natura, 139. Vgl. auch etwa 138: »Forma non esset natura additionalis materiae, nisi ab intus e fundamentali natura ejusdem dimanaret. Quod enim pure ab extra venit, etiamsi in materia ab externo efficiente fiat, non tamen est natura ejus: ut praeviae dispositiones, antequam educitur forma in materia inhaerent, non tamen sunt naturales.« Die vorherlaufenden Dispositionen sind als Akzidenzien aufgezwungen, die übernommene Substantialform ist dann spontane Dimanation; vgl. De natura, 137: »certissimum est, materiam tam in formis accidentalibus, (etiam iis quas invita sustinet,) quam in essentialibus, ad earum productionem & determinationem specificam concurrere. Ad illas quidem, quae ab extra tantum veniunt, & praeternaturales sunt, coactam, & ab efficiente violenter determinatam; ad has vero sponte suam causalitatem praebere, & earum entitatem per quandam a se dimanationem largiri.«; sowie 141f.: »Sed fortasse aliqui dubitaverint an motus quo educitur forma sit actio immanens. Non enim facile concesserint motum materiae in ejus productione esse activum, quin potius esse puram passionem, active autem ab efficiente externo seu generante in materia produci; indeque Suarium causationem materiae generationem passivam vocare. Sed monstra-

231 Der Bewegungsbegriff, den Glisson hier propagiert, setzt das Unternehmen einer gleichermaßen materialistischen wie idealistischen Naturtheorie von der Sphäre des Selbstseins der Substanz fort in den Bereich der kausalen Einwirkung der Naturdinge aufeinander. Denn eine solche Einwirkung (actio) eines Seienden ist nichts anderes als Selbstpropagation: sie ist der Versuch, den Adressaten sich selbst ähnlich zu machen (assimilatio), indem es ihm seine Idee einprägt. »motus« heißt in diesem Zusammenhang zunächst nichts anderes als »impressio« oder »projiectio ideae«. 276 Darüberhinaus meint er als der im Adressaten erregte motus fiens zugleich idea impressa. qui naturalem perceptionem admittunt, probabilius forsan esse judicant, ideam moventis motu productam non realiter, sed tantum ratione cum fundamento in re, a motu ipso ut est in fieri differre. […] causatio […] est actio moventis, quae, quatenus perceptivae facultati materiae passae objicitur, est idea moventis. Actio enim assimilatio quaedam est, & consequenter simulacrum quoddam seu ideam efficientis gerit: quam facultas perceptiva materiae passae, propter intimam sibi praesentiam, necessario percipit, […] idea moventis, a materia mota percepta, est tantum inadaequatus conceptus ipsius motus fientis a movente excitati.277

»Ideam non realiter differre a motu.« 278 Idea und motus als realdistinkt anzusetzen hieße, gegen den ökonomischen Grundsatz des Nominalismus: non sunt multiplicanda entia nulla cogente necessitate zu verstoßen. Eigenwillig argumentiert Glisson, daß die Annahme, die Körper projizierten anderen Körpern vom motus verschiedene Ideen, dazu führte, daß in jedem Teilchen eine unübersehbare und ungeordnete Ansammlung fremder Ideen vorläge.279 Nicht nur die entia, auch ihre actiones sind damit idealisiert, umgekehrt wird die Idee materialisiert: »res seu alteratio«.

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vimus supra, naturam, qua talem, non posse oriri a solis causis externis; formam vero esse naturam additionalem; & consequenter materiam in actu eductionis non invitam, sed ultro & cum complacentia, eam e se educere. Etsi igitur durante praeparatione materia tantum patiatur, in ultimo tamen actu se plane submittit generanti, & active cum eodem concurrit. Aliter enim fieri non quiverat ut forma educta esset materiae natura. Haec igitur spontanea materiae generatio motusque est aliquid in materia; cumque terminus ejusdem, nempe forma, in materia producente maneat, patet actionem esse immanentem.« Vgl. auch die Zitate in Anm. 273. Vgl. De natura, 166: »Motum moventis ideam inferre. […] Supponimus hic motum perpetuo moventis ideam imprimere […].«; 167 (s. das Zitat in Anm. 279): »projicere«. Hier wird der Bezug zur platonischen Projektionstheorie explizit; vgl. oben 70. De natura, 167. De natura, 166. Vgl. De natura, 167: »non sunt multiplicanda entia nulla cogente necessitate: si autem ponamus ideas ab entitate motus realiter distinctas, multiplicamus entia necessitate non cogente, & quidem haec multiplicatio in infinitum propemodum excrescit. Utpote si corpora habeant ideas naturales a motu distinctas, quas aliis corporibus cummunicent, quoquoversum easdem a se spargunt. Nulla enim ratio reddi potest cur magis ad dextram quam ad sinistram easdem projiciant. Quapropter circumquaque eas diffundunt, & in quolibet corpusculo erit immensa confusaque idearum exoticarum congeries. […] Quod vero necessitas ad hanc multiplicationem nos non cogit, ex eo patet,

232 Intelligo vero ideam hanc [generantis, K.H.] nihil aliud esse nisi rem seu alterationem in materia a generante factam adhuc in motu tendente formam versus, quatenus ea est objectiva moventis & suiipsius repraesentatio facultati perceptivae materiae intime praesens.280

4.7

Der Solipsismus der Substanz und Glissons Kausalitätsmodell

Die Identifizierung der eingedrückten Idee mit dem verähnlichenden motus, den sie erregt (motus excitatus), verlangt die Klärung der zweiten oben281 formulierten Frage: »repräsentiert« die idea moventis etwa keine äußere, realdistinkte Sache, und ist nicht der angeregte motus eine immanente Selbstveränderung? dicendum est, ideam moventis vel esse rem realiter a motu excitato distinctam, vel esse inadaequatum conceptum ipsius motus. Primo quidem obtutu videtur res a motu plane diversa. Refert enim objectum realiter diversum, & loco a se divisum. Motus enim in materia mota inhaeret: idea moventis causam moventem, quae plerumque res extra rem motam est, repraesentat.282

Wie kann die natürlich perzipierende Substanz offen sein gegenüber Einwirkungen von außen, wenn sie doch lediglich zu ihrer Innenseite Zugang hat? Was bedeuten »außen« und »innen« hier überhaupt, und welches ist Glissons Konzept kausaler Einflußnahme der Körper aufeinander? Unter der Vorgabe eines solch strengen Solipsismus, wie Glisson ihn vertritt (»domi, nihil foras«), scheint nur eine Antwort möglich zu sein: die Einführung einer uneigentlichen, »übersetzten« Perspektive der perceptio naturalis auf das ihr Fremde oder Äußerliche, d.h. die Vorstellung, daß die Außenwelt nicht als solche, realistisch, erfaßt wird, sondern lediglich, insofern sie sich in die Innenseite der perzipierenden Substanz »durchdrückt«. Im folgenden wird aufgezeigt, daß Glisson die zur Rede stehende Problematik tatsächlich in einer derartigen »Transzendentalisierung« zu bewältigen sucht. Das erste Objekt der natürlichen Perzeption ist der Objektivbegriff, den die Natur von sich selbst hat, d.h. die idea suiipsius. Die Außenwelt nimmt die Natur hingegen in Vermittlung (mediante) eben dieses Selbstbildes wahr, denn in ihm sind äußere Einwirkungen als die die jeweilige Substanz betreffenden afficientia »repräsentiert«. Das Fremde wird derart mit dem Selbst mitperzipiert (repraesentatio objectiva moventis & suiipsius 283). Die

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quod movens motu suam ideam in materia mota absque alia actione satis efficaciter imprimat.« De natura, 162. Vgl. oben 209. De natura, 166. Vgl. das Zitat im Fließtext zu Fußnote 280.

233 Einflüsse ausdrücklich aller anderen Dinge auf die Materie eines Körpers sind afficientia in diesem Sinne.284 Natura igitur substantialis sua naturali perceptione 1. percipit se, 2. facultates suas, 3. operationes harum, 4. & ultimo, influxus, alterationes rerum aliarum extra se, necnon connexus, confoederationes, &c. cum iisdem. Percipiendo autem se, alia haec omnia una percipit, nempe ut se aliquo modo afficientia. Non enim aliter concipi potest qua via ea perveniant ad ipsam facultatem, eique intime uniantur. Dico igitur, percipere haec omnia mediante quasi propria objectiva ratione, ceu primario facultatis objecto, in quo caetera ut id quodammoddo afficientia repraesentantur.285

Glisson setzt die »influxus, alterationes rerum aliarum extra se, necnon connexus, confoederationes« nicht als entitates extraneae an, sondern rechnet sie der entitas propria der Substantialnatur zu.286 Die Einfachheit des perzeptiven Inhaltes bleibt so unbedingt gewahrt: nicht komplex, sondern komprehensiv sei die Naturalperzeption. Glisson nähert sich hier dem Leibnizschen Begriff der perceptio als einer zur Einheit verdichteten Vielheit ebenso an wie der Vorstellung der Substanz als univers en raccourci. 287 Die Ein-Vielheit der Perzeption nach Leibniz meint keine composition de parties, sondern lediglich eine composition de modifications; mit dem frühen Leibniz gesprochen: sie besteht nicht aus partes extra partes, sondern aus partes indistantes. 288 Dices, hanc perceptionem, quod diversa objecta simul involvat, esse complexam. Fateor esse comprehensivam respectu varietatis objectorum quae simul complectitur:

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Vgl. das Zitat in Anm. 286. De natura, 213. Vgl. De natura, 215: »Differunt quoque perceptio naturalis & sensus respectu objectorum. Illius enim objectum est entitas propria, quae repraesentat se, suas causas & effectus, item omnes influentias aliarum rerum, confoederationes, cooperationes, consensus & dissensus, &c. hujus vero objectum est entitas extranea.« Vgl. beispielsweise Monadologie, §§13–14: »il faut que dans la substance simple il y ait une pluralité d’affections et de rapports, quoy qu’il n’y en ait point de parties. […] L’état passager qui enveloppe et represente une multitude dans l’unité, ou dans la substance simple, n’est autre chose que ce qu’on appelle la Perception, qu’on doit distinguer de l’apperception ou de la conscience, […].«; vgl. auch Leibniz an Wolff, 09.07.1711, in: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Hg. von C.I. Gerhardt, Halle 1860 (reprographischer Nachdruck Hildesheim 1963), 139: »quod in phaenomenis exhibetur extensive et mechanice, in monadibus est concentrate seu vitaliter […].« (Zitiert nach Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, 364; vgl. zum Kontext ebd. 363–368). Vgl. etwa auch Reponse aux reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le systeme de l'Harmonie preétablie, GP IV, 262: »Car les raisons de mecanique, qui sont developpées dans le corps, sont reunies, et pour ainsi dire, concentrées dans les ames ou Entelechies, et y trouvent même leur source.« Zum Ausdruck »univers en raccourci« vgl. Nouveaux Essais I, 1, AA VI, 6, 73; zum Hintergrund Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, vor allem 226–231. Vgl. Ohne Titel, GP VI, 628; Theoria motus abstracti, AA VI, 2, 266f.; Leibniz an Herzog Johann Friedrich, 21.5.1671, AA II, 1, 108.

234 verum non componitur ex diversis & distinctis ejusdem objecti perceptionibus, (quemadmodum componitur sensus,) & eo respectu recte dicitur simplex.289

Diese mediatisierende Repräsentation der äußeren Einflüsse in der Einheit der Perzeption kann als »Transzendentalisierung« verstanden werden. Neben dem Terminus der repraesentatio wählt Glisson für diesen Gedanken auch den Ausdruck »Referenz«. So sind die zurückblickenden und vorausschauenden Ideen, die die memoria naturalis konstituieren,290 nur in einem gewissen Sinn natürliche und eigene Ideen der Materie, insoweit sie sich nämlich auf deren idea suiipsius »beziehen«. Die Idee des wirkursächlichen generans ist nur solange fremd, bis sie übernommen wird – und von diesem Moment an, so scheint Glissons Argument zu sein, gibt es eine Kontinuität zwischen ihnen und der jeweiligen neuen Selbstidee; die »Erinnerung« an ihre Fremdheit wird sozusagen ausgelöscht, die Fremdursache wird zur eigenen Vergangenheit. Die Ideen der Wirkungen haben insofern einen Bezug zur Eigenidee, als sie in der virtus naturalis der Materie enthalten sind.291 Kausalität bedeutet demnach Selbsteinwirkung, aber keine, bei der auf die Existenz einer Fremdeinwirkung verzichtet werden könnte, liefert die Wirkursache doch immerhin noch den Anlaß und stößt gewissermaßen zum Selbstanstoß. Wird eines durch ein anderes Seiendes zu einer neuen Bewegung erregt, so ist dies eine immanente »de novo productio«; nichts »wandert« von einem zum anderen. So verstanden ist die Substanz »fensterlos«. Und dennoch: andere Körper können sie affizieren, in der Weise, wie ein Hohlkörper affizierbar ist, dem ein von außen eingedrücktes Objekt nicht mehr als eine Wölbung nach innen ist. Im so beschaffenen Kausalzusammenhang der Dinge bedarf es keines Gottes, der die Beziehungen prästabiliert, indem er den gesamten Naturverlauf in einem einmaligen Akt der Schöpfung in die Innerlichkeit der Substanzen übersetzt und die Natur damit entzeitlicht. Auch für Glisson schafft Gott zwar die Dinge mit ihren Anlagen und prädeterminiert damit Naturen und Natur. Die Geschichte der Natur ist damit jedoch nur zu ihrem »inneren« Teil vorweggenommen;

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De natura, 213. S. oben 216. Vgl. De natura, 165: »Dices, ideas neque retrospicientes neque prospicientes esse proprias, sed alienas, quod objectum est extra percipiens, vel saltem extra esse potest. Etenim plerumque causa est extra effectum, & effectus extra causam. Respondeo, me fateri solam ideam directam esse maxime proprio sensu naturalem & propriam: verum ideas retrospicientes esse quoque suo modo naturales, quo respectu hic ad proprias referuntur. Siquidem praeviae dispositiones, in quibus plerumque hae causarum ideae primo fundantur, quanquam ante adventum novae formae praeternaturales sint, & eatenus alienae, postquam tamen forma advenit, fiunt naturales, & eatenus propriae. Similiter ideae prospicientes, effectum licet extra se plerumque repraesentent; quod tamen virtus ipsa in qua relucent sit naturalis, reputandae sunt naturales, & consequenter suo modo propriae.«

235 entschieden wird sie im Kampf der geschöpflichen Rivalen. Denn »Transzendentalisierung«, bezogen auf die Theorie Glissons, bedeutet keine Ausschließlichkeit der idealistischen Perspektive, impliziert nicht, wie bei Leibniz, daß die physische Realität zum Phänomen gerät. Glisson kann in einer völlig realistischen Weise vom Äußeren der Substanz sprechen (res extra se). 292 Eine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen, der materialistischen oder idealistischen, Seite ist nicht Glissons Anliegen. Suggeriert das Diktum Marions von der »Vorhalle zur Monadologie«, daß Glissons Gedankengebäude ein unausgereifter Wurf sei und über sich selbst hinausgeführt werden müsse – bricht Glisson doch nicht zum rigiden Begriff der Fensterlosigkeit oder zur Idee der prästabilierten Harmonie durch –, so ist dagegenzuhalten, daß diese philosophischen Schritte nicht etwa außerhalb des intellektuellen Aktionsradius Glissons liegen, sondern daß sie für ihn aus systematischen Gründen ungehbar sind. Hylozoismus und Panpsychismus stellen bei aller möglicher terminologischer Verwandtschaft entgegengesetzte naturphilosophische Projekte dar.293 Die Lehre von der energetischen Natur ist nicht das Vestibül der Monadologie, wie Marion sie verstehen wollte, sie ist vielmehr ihr benachbarter, von einer gemeinsamen Halle aus betretbarer Saal. Den »Innenraum« dieser Halle, d.h. den gemeinsamen Ausgangspunkt Glissons und Leibniz’, markiert das kräftebestimmte Innere einer als autark postulierten Natur. Für Leibniz bedeutet »Autarkie« die strenge, fensterlose Selbstimplikation aller Zustände in der Folge der göttlichen Erschaffungshandlung. Für Glisson besagt die »Autarkie der Natur«, daß die natürlichen Agentien ihren Erhalt durch die Zeit selbst immer wieder neu bestreiten müssen, nach den Regeln des Faustrechts und unter der Bedingung ungleich verteilter Kräfte.

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Vgl. besonders deutlich »Primordia rerum.«, fol. 98r: »verum cum res non tantum essentias suas percipiunt verum nonnulla extra se gesta. Sciendum est alterationem aliquam ab extra quoque ijs tum accidere, cumque essentia rei, ita perceptibilis est et sibi praesens utrij modificata est, fit ut levissima quaevis impressio ab extra etiam percipiatur. nam illa impressio est essentiae aliqualis modificatio, cumque dicta essentia eo modo perceptibilis est quo reipsa est fit ut dicta modificatio et impressio simul percipiantur cum essentia rei.« Dies ist auch der These Cassirers entgegenzusetzen, die biologischen Theorien des 18. Jahrhunderts mit ihrer Annahme von perzipierenden Molekülen seien Dekadenzerscheinungen der Monadologie (Die Philosophie der Aufklärung, 117f.). Zumindest Diderot versteht sich etwa den Allbeseelungslehren des Maupertuis gegenüber als Hylozoist und liegt damit auf derselben eigenständigen ideengeschichtlichen Linie wie Glisson; vgl. Pensées sur l’nterprétation de la nature, Pensées L und LI, DPV IX 77–85; vgl. Hartbecke: Naturgesetze und Naturphilosophie.

236

4.8

Relationalität: eine Denkfigur in Metaphysik, Naturphilosophie, Politik

Aufgrund der transzendentalisierten Präsenz aller Dinge in allen kann trotz des Solipsismus der einzelnen Substanz wieder vom universalen Zusammenhang der körperlichen Welt (mundus magnum animal) gesprochen werden, in dem jedes Einzelne den für ihn vorteilhaftesten Platz einnimmt: Tertium fundamentum supponit, dari naturalem quandam perceptionem corporum […], et propter hanc perceptionem partes mundi inter se confoederatas esse et accurata methodo dispositas, quaelibet eo loci ubi plurimum emolumenti quam minimum damni ex vicinorum influxu capiat; ita ut hoc respectu universus mundus metaphorice audiat magnum animal.294

Die Harmonisierung der Welt ist in den Zeiten von Bürgerkrieg und Restauration das politische Anliegen überhaupt; dem Bestreben, die Sittlichkeit der Menschen in entsprechenden Bildungsprogrammen zu reformieren – im Umfeld Glissons durch die Aktivitäten der Kreise um Hartlib und Comenius dokumentiert –, korrespondiert in Metaphysik und Naturphilosophie der Versuch, die natürlichen Substanzen miteinander auszusöhnen. Auch hier besteht Bedarf, die Relationalität der betrachteten Objekte zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtungen zu machen.295 Die Vision eines einheitlichen systematischen Grundes von politischer Theorie, Morallehre und Naturphilosophie ist unter den Zeitgenossen weit verbreitet.296 Hier kann man den Einfluß der Stoa nicht hoch genug veranschlagen, die in ihrem ethischen Naturalismus die Natur der vernunftlosen Naturdinge und die sittliche Disposition des Menschen parallel führt.297 Die oi)kei/wsij-Lehre ist ebenso auf primitive Organismen, sogar, wie bei Glisson, auf minima naturalia beziehbar, wie sie auch das menschliche Individuum betrifft, dem sich die moralische Aufgabe stellt, in immer größeren konzentrischen Kreisen nicht nur die eigene Nachkommenschaft, sondern die ganze gegenwärtige und künftige Menschheit als ihm zugehörig zu umgreifen.298 Glisson bedient sich ebenfalls der Idee einer »Bündnisanalogie« im politischen und im natürlichen Objektbereich; er setzt beide in der Einheit des universus mundus ineins. So wie die Körper im Universum sind auch die Menschen in den Familien, Bürgerschaften, Reichen an den Platz gestellt, an dem sie den anderen Menschen möglichst

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De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 36. Vgl. mit Bezug auf Comenius und Campanella: Mulsow: Sociabilitas, passim. Vgl. Milton: Laws of nature, 681–683. Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, 150–159, 176–178; Long: Freedom and determinism, passim. Vgl. Cicero: De finibus III, XIX-XX, 62–66, Rackham 280–287; Forschner: Die stoische Ethik, 148, 158f.; Steinmetz: Die Stoa, 614; Pohlenz: Die Stoa, 114–116.

237 wenig schaden und möglichst viel nützen.299 Den Begriff des physikalischen Seins- und Operationsgesetzes, den Glisson verwendet (mos, indoles), bezieht er vermutlich aus der stoischen Moralkonzeption, wie sie sich bei Cicero findet und in der die sittliche Neigung des Handelnden als eine selbstursächliche Disposition vorausgesetzt wird.300 In der Idee der Selbstkonföderation, in der das ens sich sein individuelles Gesetz gibt, scheint er mit der Vorstellung der foedera naturae aus Lukrez’ großem Lehrgedicht auch die jüngsten, vom Selbsterhaltungsgedanken des Epikureismus inspirierten Theorien des Gesellschaftsvertrages auf die immanente Haushaltung der Einzelseienden zu übertragen.301 Überhaupt dürfte Glissons Konzeption der materiellen Selbstorganisation epikureisch inspiriert sein.302 In der Herausstellung des Selbstseins und der Eigenverantwortung der Individuen treffen sich Glissons politische und naturphilosophische Theorie mit seiner Seinslehre. Je weiter man mit der Ökonomie des individuellen Daseins und seiner Erhaltung zugleich die Außenwelt in die Substanz »hineindreht«, umso wichtiger werden Begrifflichkeiten der Relationalität, die in Glissons Terminologie similitudo, perceptio, confoederatio lauten, zur Beschreibung des Selbstseins der Substanz. Mit dem Begriff der Perzeption kann der metaphysische Relationsgedanke des ens als simile von einer erkenntnistheoretischen Kategorie her artikuliert und aus einem quasi-sensuellen Inneren der Substanz motiviert werden. Perzeptivität gilt dann als Äquivalent zur Substantialität, und das perceptivum oder cognoscibile ist vom gleichen, primären Rang wie das ens per se subsistens selbst. Das natürliche Leben benötigt keine organische Struktur, sondern lediglich selbständiges Sein

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Genau genommen unterscheidet Glisson zwei Arten von confoederatio: eine intrinsische zum unum per se, eine extrinsische – von der handeln wir hier – aus Objekten verschiedener Natur, vgl. De natura, 57: »Porro, confoederatio in extrinsecam & intrinsecam distinguenda est: […] Illa res plane divisas in ordinem digerit, & vinculo quodam mutuae necessitudinis connectit; haec res intime conjunctas unione per se seu communione intrinseca consociat. Priore modo universus mundus confoederatur. Quaelibet enim ejus pars loco maxime idoneo ad totius emolumentum digeritur, ita nimirum ut una pars alteri quam minime noceat, quam commodissime prosit. Hoc etiam modo confoederantur homines in familias, in civitates, in regna, &c. Posteriore modo naturae plurimum diversae coeunt in unum per se; ut anima rationalis & corpus humanum.« Vgl. etwa De divinatione II, 94f.: »quis enim non videt et formas et mores et plerosque status ac motus effingere a parentibus liberos? quod non contingeret, si haec non vis et natura gignentium efficeret, sed temperatio lunae caelique moderatio. quid? quod uno et eodem temporis puncto natu dissimilis et naturas et vitas et casus habent, parumne declarat nihil ad agendam vitam nascendi tempus pertinere?« Zum Epikureismus Hobbes’ vgl. Mulsow: Art. ›Selbsterhaltung‹, 398f.; Hadzsits: Lucretius and his influence, 301–305; Leviathan I, 11, 13, 14. Zur Selbstorganisation der Natur vgl. Lukrez: De rerum natura, beispielsweise II, 167–183; II, 1090–1174; V, 156–194.

238 hinter sich und kann mithin auch in metaphysicis eine der allgemeinsten Bestimmungen des Seienden überhaupt darstellen. Glisson steht mit seiner Substanztheorie zum einen in der Linie des mit Timpler anhebenden Prozesses einer zunehmenden »Gnoseologisierung des Gegenstandes der Metaphysik«,303 er kann zum anderen ideengeschichtlich in der Nähe der Metaphysiken von Bisterfeld oder Ritschel gesehen werden, die im Zuge einer Integration des Sensualismus der italienischen Renaissance in die protestantische Schulphilosophie den Allbezug der Dinge ebenfalls als universale Perzeptibilität und Perzeptivität entwerfen und ihn als nicht äußerlich-transzendent durch Gott, sondern immanent durch das Einzelding geleistete Erhaltung und Durchsetzung seiner selbst gegenüber den anderen Seienden ansetzen.304 Auch in den naturphilosophischen und metaphysischen Projekten kommt somit zum Austrag, was sich in den politischen Theorien der Zeit so aufdringlich manifestiert: die Begriffe similitudo, perceptio, confoederatio reflektieren den weltbildlichen Verlust eines »normativen Objektivismus«. Der einzelne Mensch bindet sich im Akt des Vertragsschlusses selbst; seine Zustimmung wird zum eigentlichen Geltungsgrund der Gesetze, unter denen er mit anderen zusammenlebt. Zugleich ist diese Zustimmung für ihn, den Einzelnen, nur dann vernünftig, wenn er voraussetzen kann, daß sie auch für alle anderen Vertragspartner vernünftig ist.305 In der Naturtheorie Glissons muß das Einzelseiende selber leisten, was andere Autoren durch Gott gewährt sehen: es muß sich selbst konstituieren, im Sein erhalten, angesichts der anderen Einzelseienden einrichten. Kein prästabilierender Eingriff regelt die Verfaßtheit des Weltganzen. Die Theorien der Gemeinschaft von Seienden, Naturdingen, Menschen können überdies zweierlei Akzent tragen: sie können einerseits die harmonistischen Ausdrücke der sociabilitas, communicabilitas, cohaerentia bemühen oder doch die rohe Selbstliebe zum aufgeklärten Eigeninteresse überformen und in die Konstitution einer stabilen Vertragsgemeinschaft einmünden lassen, in der der Krieg aller gegen alle weitgehend ausgesetzt ist;306 sie können andererseits die Selbsterhaltung als aggressive Selbststeigerung und Vernichtung des anderen inszenieren, so daß der Zusammenhang der Welt lediglich als Gleichgewicht antagonistischer Kräfte in gelegentlichen, beliebig aufkündbaren Bündnissen existiert. Werden die Abläufe in der Natur wie bei Glis-

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Mulsow: Sociabilitas, 219. Vgl. Mulsow: Sociabilitas, passim; Art. ›Selbsterhaltung‹, passim; Leinkauf: Diversitas identitate compensata, 81–96; zur Nähe Glissons zu Ritschel bereits der Hinweis von Succov: Vergleichung der Glissonschen und Leibnizischen Lehren von dem Leben der Natur, 425f. Vgl. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 22–24, 46f. Vgl. Mulsow: Sociabilitas, 223–227; drs.: Art. ›Selbsterhaltung‹, 398f.

239 son und van Helmont in militärischer Metaphorik, nämlich als Kampf gegen Invasoren unter den Bedingungen des Faustrechts artikuliert, muß unweigerlich der Eindruck entstehen, es werde die Anarchie eines Naturzustands oder immerwährenden Bürgerkriegs prospektiert.307 Im Gegensatz zum »okkasionalistischen« Modell einer steten Formenkreation unmittelbar durch Gott, das van Helmont vertritt, ist in Glissons Hylozoismus überdies für eine Herrschaft und Providenz »von oben« keinerlei Raum mehr. Der Vorwurf des Atheismus liegt hier ebenso nahe wie schon gegenüber Lukrez und Epikur.308

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Vgl. De natura, 116: »Agentia naturalia, corpora intra sphaeram activitatis sita, sibi assimilare nituntur: cumque omnia haec eadem indole praedita sint, fit ut quod potentius est in imbellius praevaleat, & in naturam suam transmutet.« Vgl. hierzu Giglioni: Panpsychism versus Hylozoism, 27, 43f.; drs.: Anatomist Atheist?; Francis Glisson’s notion of confoederatio naturae; 240–244; ferner Henry: Medicine and pneumatology; The matter of soul, 110–112; Hadzsits: Lucretius and his influence, 289–315.

5

Masse, Ausdehnung, Geist: Anwendungen in der Physik

Die Aporien des Materiekontinuums – die Frage nach der Art des Zusammenhangs alles Extensiven einerseits, nach seiner unendlichen Teilbarkeit andererseits, nach den letzten Prinzipien und Bestandteilen des Körperlichen überhaupt – stehen bereits in voraristotelischer Zeit im Zentrum naturphilosophischer Betrachtungen. Die Neuzeit, insbesondere das 16. und 17. Jahrhundert, sieht nun das Wiedererstarken der atomistischen oder korpuskularphilosophischen Theorien der Antike und hebt die Debatte auf ein neues Fundament, sei es durch Textfunde und Neudrucke, durch ein verändertes Erkenntnisinteresse und neue Rationalitätsstandards, durch das Bedürfnis nach Opposition gegenüber einer – vermeintlich – blinden, stets nur sich selbst reproduzierenden Scholastik, oder aber durch wissenschaftliche Entdeckungen wie etwa die der transpiratio insensibilis durch Santorio.1 Unter den Zeitgenossen Glissons, die die Lehren Leukipps, Demokrits, Epikurs, Lukrez’ wiederbeleben, war Pierre Gassendi einer der einflußreichsten. Daneben kennt Glisson nachweislich die Texte Daniel Sennerts.2 Andere Protagonisten der Entwicklung, etwa Thomas Hobbes, der im Pariser Exil mit Gassendi und dem CavendishKreis in Kontakt kommt, Robert Boyle, der junge Walter Charleton und der Lukrez-Übersetzer John Evelyn, wirken in Glissons unmittelbarem Umfeld.3 Mit Charleton und Evelyn führt Glisson in den Jahren 1662/63

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Gerade medizintheoretische Autoren fühlen sich durch die Ergebnisse ihres Standeskollegen Santorio herausgefordert. Bereits oben in 3.2.5, Anm. 268, gab ich Hinweise zu Santorio. S. auch sogleich unten 254. Zur Renaissance des Atomismus in England vgl. beispielsweise Henry: Die Rezeption der atomistischen Philosophie. Überblick über die Vertreter und Gegner des Atomismus; Kargon: Walter Charleton, Robert Boyle, and the Acceptance of Epicurean Atomism in England; sowie drs.: Atomism in England from Hariot to Newton; Hadzsits: Lucretius and his influence, 284–317; Fleischmann: Lucretius and English Literature. Zu Sennert und seinem Unternehmen einer Synthese der aristotelischen Theorie der minima naturalia mit dem demokritischen Atomismus vgl. die Hinweise bei Wallace: Traditional natural philosophy, 215. Glisson nennt Sennert beispielsweise MSS Sloane 3309, fol. 12r und 145r. Auf Gassendi als den »celeberrimum interpres« des Epikur rekurriert Glisson beiläufig in De natura, 509. Zu Evelyns Übersetzung nebst Textausgabe des ersten Buches von Lukrez’ De re-

241 Experimente zur Untersuchung einer möglichen Entstehung seminaler Prinzipien in einer Masse aus Blut, Fleisch, Hirn und Mehl durch.4 Heute weitaus weniger bekannt ist der aus Burgund stammende Johannes Chrysostomus Magnenus, Medizin- und Philosophieprofessor zu Pavia, der 1646 einen überaus breit aufgenommenen Traktat Democritus reviviscens sive De Atomis veröffentlicht.5 Auch Glisson gehört zu seinem Leserkreis, und dies wohl nicht aus zufälligem Belieben: Magnenus’ Syntheseansatz aus antikem Atomismus, neuplatonischem Hermetismus und Schulphilosophie dürfte ihm in seinem konziliatorisch-eklektischen Bestreben unmittelbar sympathisch gewesen sein. Insbesondere teilt Glisson mit Magnenus das geistige Herkommen aus spätmittelalterlichen und neuscholastischen Diskursen. Will man aber eine atomistische Philosophie begründen und dennoch die Inhalte der scholastischen Naturauffassung nicht völlig aufgeben, so stellt es eine besondere Schwierigkeit dar, die Phänomene der Verdichtung und Verdünnung zu erklären, ohne zugleich die unliebsame Annahme eines Vakuums mitzutragen, die die alten Atomisten zuließen. Im folgenden wird deutlich, wie sich das Festhalten an überkommenen aristotelisierenden Vorstellungen einerseits, ihre Modifikation andererseits, im Denken Glissons konstellieren, um der genannten Herausforderung in einem ebenso naturtheoretisch wie geistmetaphysisch inspirierten Entwurf Herr zu werden. Mit seiner spezifischen Ausprägung einer Korpuskularphysik radikalisiert Glisson, wie viele Neuatomisten des 17. Jahrhunderts auch, den Dynamismus der antiken Atomtheorien6 und bietet derart eine

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rum natura (An Essay on the first book T. Lucretius Carus De Rerum Natura, London 1656), vgl. Fleischmann: Lucretius and English Literature, 90–95. Zur Beziehung Glissons zum jüngeren Charleton vgl. Fleitmann: Walter Charleton, passim; die Angaben im Anhang 401–409 sind zum Teil leider fehlerhaft. Vgl. Birch: The History of the Royal Society I, 117f., 212. Democritus reviviscens sive De Atomis, Pavia 1646; die beiden späteren Auflagen (Leiden 1648, Den Haag 1658) unter dem Titel Democritus reviviscens: Sive Vita & Philosophia Democriti; vgl. Iofrida: Jean-Chrysostome Magnen. Nobis bezeichnet die Schrift als »[d]as systematische Hauptwerk des frühneuzeitlichen Atomismus«; vgl. Frühneuzeitliche Verständnisweisen der Natur, 56. Daß Glisson auf Magnenus als Autor des »lib. de Atomis« rekurriert (De natura, 500f.), legt es nahe, daß er mit der ersten Auflage arbeitete. Marie Boas Hall zufolge war der antike Atomismus in seiner ursprünglichen Gestalt für die Autoren des 17. Jahrhunderts – namentlich nennt sie Bacon, Galilei und Beeckmann – weitgehend unattraktiv und erst in entsprechender Umformung fruchtbar, in der der Akzent weniger auf der Größe und Form der Teilchen als auf ihrer Kraft und Bewegung liegt; vgl.: Matter in seventeenth century science, 345–348. In dieser Ansicht wird die dynamistische Tendenz der alten Atomtheorien allerdings unterschätzt. Hadzsits etwa sieht die Verwandtschaft von altem und neuem Atomismus als eine viel engere und parallelisiert Lukrez’ Atomauffassung und Leibniz’ Monadenlehre in ihrer Annahme einer Gleichursprünglichkeit von Individualität und Aktivität; vgl. Lucretius and his influence, 288. Auf eben dieser gedanklichen Linie steht auch Glisson.

242 physikalische Ausdeutung seiner metaphysischen Grundannahme der Gleichursprünglichkeit von selbständigem Sein und Kraftbegabung.

5.1

quantitas interminata: der Paduaner Averroismus im England der »wissenschaftlichen Revolution«

Die noch amorphe, aber bereits disponierte Materie (materia secunda, seminalis, disposita) erzeugt die ihr zugehörige Form aus sich, d.h. sie »stimmt« ihr »zu«, sie strebt ihr entgegen, sie eduziert sie.7 Es ist zur Annahme dieser Selbstformung elementar, davon auszugehen, daß die Materie vermögend ist, sich selbst bestimmte Ausdehnungsgrenzen zuzuweisen. Ebenso hat der schon geformte Korpuskel die Möglichkeit zur Neubestimmung seiner Bemessungen, wenn er den Zusammenschluß mit oder die Trennung von anderen Materieteilchen als vorteilhaft perzipiert8 – dies ist die Konsequenz aus Glissons Theorie der Suppositalität als einer selbstbestimmten Konföderation.9 Neben dieser Art von Ausmessung, die im Moment des Hervorbringens einer Form jeweils festgelegt ist und mit dieser variieren kann, nimmt Glisson nun auch den Begriff einer unveränderlichen, der ersten Materie unveräußerlich eigenen Quantität an. Hier arbeitet er das der averroistischen Überlieferung entstammende Konzept der quantitas oder dimensio interminata, der unbestimmten räumlichen Bemessung, in seine Theorie ein. Ein Blick auf die Integration dieses Konzepts in den Gedankengang von De natura macht nicht nur den Formbegriff Glissons besser verständlich; er ermöglicht es auch, die Stellung Glissons in der Biologie seiner Zeit zu bestimmen. Am Ausgang der Entwicklung des Begriffs der quantitas interminata stehen die interpretatorischen Schwierigkeiten, die der Begriff der ersten Materie in den Schriften des Aristoteles aufgeworfen hatte: das unterste amorphe Substrat mußte als völlig unspezifisch-qualitätslos und damit auch unkörperlich angenommen werden, wollte man die Behauptung der

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Vgl. oben den Abschnitt 4.6. Vgl. De natura, 405: »Si enim materia percipiat meliorationem sortis suae ex mutatione quantitatis, vel ad majorem extensionem, (ut in augmentatione,) se ultro extendit; vel ad minorem, (ut in frigore,) se ultro contrahit.« Vgl auch 397: »sciendum est, materiam, quamdiu quantitate accidentali terminatur, non opus habere alia terminatione; […] non tantum quod sufficiat ad commensurabilitatem, proportionalibilitatem & divisibilitatem ejus terminandam, & ad repellendum aliud corpus e situ suo, adeoque ad cavendum ne quid in communionem naturae suae se invita intromittat: verum etiam quod […] pro re nata, materia possit eam excutere, & aliam, (si occurrat sorte aliud corpus quocum magnam habeat familiaritatem, & ex cujus unione se meliorari aut juvari posse percipiat,) aperiendo extensionem suam, in societatem secum admittere.« Vgl. oben 4.5.

243 Umwandlung der Elemente ineinander als Wechsel der Qualitäten Warm, Kalt, Feucht, Trocken als Wechsel an einem Zugrundeliegenden erklärlich machen, das diesen Wechsel unverändert überdauert.10 Im Ausgang von einem derart unbestimmten Substrat stellt jeglicher Entstehungsprozeß jedoch einen unvermittelten Übergang vom Unkörperlichen zum Körperlichen dar. Wie konnte diese unbefriedigende theoretische Sachlage bewältigt werden? Avicenna hatte mit der Einführung einer allen Körpern gemeinsamen forma corporeitatis geantwortet, die, aller konkreten Dimensionalität oder Quantität und erst recht der substanzstiftenden Form (forma substantialis) vorgeordnet, der ersten Materie zunächst einmal die bloße Eigenschaft der Körperlichkeit verschaffen sollte. »Körperlichkeit« wurde dabei schon seit den Kommentaren der spätantiken Schulen als potentielle oder tatsächliche Dreidimensionalität aufgefaßt. 11 Sich mit dieser Idee Avicennas auseinandersetzend hatte Averroes seine Unterscheidung zweier Arten von Dimensionen entwickelt: die dimensiones terminatae bezeichnen die Ausmessungen des aus Form und Materie zusammengesetzten Konkreten und können Veränderungen unterliegen; die dimensiones interminatae gehen der substantiellen Form voran und stehen für die ursprüngliche, unverlierbare und unveränderliche Ausstattung der prima materia mit den drei Dimensionen. Sie werden erst durch das Hinzutreten der forma substantialis zu dimensiones terminatae. 12 Für Glisson ist es nicht mehr der Text Averroes’ selbst, der autoritativ über das informiert, was nun zu seiner Zeit gemeinhin unter der quantitas interminata zu verstehen ist: als unmittelbare Quelle dient ihm das zweite Buch über die erste Materie des Paduaners Giacomo Zabarella (1533–

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Also anhand des »triadischen ›Gegensatz-Substrat‹-Modells«, das Aristoteles ausführlich im ersten Buch der Physik darlegt; vgl. Happ: Hyle, 278–298. Am deutlichsten entwickelt Aristoteles die Idee eines qualitätslosen, von den Kommentatoren beispielsweise vermöge Met. VII, 3, 1029a20f. mit der Materie identifizierten Substrats auf dem Hintergrund der Elemententransformation in De gen. et corr. II, 1, 329a24–b3; De caelo III und IV; vgl. Happ: Hyle, 298–306; sowie Donati: La dottrina delle dimensioni indeterminate in Egidio Romano, 153. Für Einzelheiten verweise ich auf Donati: La dottrina delle dimensioni indeterminate in Egidio Romano. Vgl. Sermo de substantia orbis, fol. 3M–4B: »Et, quando inuenit substantiales formas diuidi secundum diuisionem huius subiecti, diuisio autem non est huic subiecto nisi inquantum habet quantitatem, sciuit quod primum eorum, quae existunt in hoc, sunt tres dimensiones, quae sunt corpus. Et, cum inuenit in eis dimensionibus communicari formas omnes, quarum quaelibet habet quantitatem terminatam propriam, sciuit dimensiones terminatas vltimo actu non posse esse, nisi postquam forma substantialis est in eo, sicut est dispositio de alijs accidentibus in actu. […] Et, quia inuenit omnes formas communicari in dimensionibus non terminatis, sciuit quod prima materia nunquam denudatur a dimensionibus non terminatis. quia, si denudaretur, tunc corpus esset ex non corpore, & dimensio ex non dimensione […].«

244 1579), ein Teil aus dessen dreißig Bücher De rebus naturalibus (1590).13 Wie schon in der Diskussion der colcodea 14 bezeugt Glisson auch hier mit seinem Rezeptionsverhalten die Präsenz der averroistisch orientierten »Schule von Padua« im Diskurs seines Umfelds.15 In Zabarella hatte der Paduaner Aristotelismus einen seiner bedeutsamsten Vertreter gefunden; dies gilt vornehmlich für seine Logik und seine herausragende Methodenlehre, die er im Streit mit dem Kollegen Francesco Piccolomini immer weiter auszuarbeiten gezwungen war.16 In der Mitte unseres Jahrhunderts erblickte man in Zabarella einen vorgalileischen Wegbereiter der modernen Wissenschaftlichkeit, der mit seinem Vorschlag einer resolutiv-kompositiv verfahrenden Wissenschaft ein neues Forschungsideal provozierte, und tatsächlich hat seine methodologische Begrifflichkeit eine unbestreitbare Wirkung auf Galilei und Harvey gehabt.17 Dabei kann die These, daß das »moderne«, durch die planvolle Analyse empirischer Daten bestimmte Methodenideal sich gleichsam naturwüchsig aus den methodologischen Disputen zwischen Paduaner »Galenisten« und »Averroisten« ergeben habe, im Verweis auf die seit Jahrhunderten kultivierte naturalistische Nüchternheit der Artistenfakultät einen günstigen Hintergrund finden.18 Die Behauptung eines kontinuierlichen Hervorgangs der modernen Wissenschaftsstandards aus den hochentwickelten methodisch-logischen Überlegungen eines Tomitano, Nifo, Zabarella muß allerdings als eine längst widerlegte These gel-

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De prima rerum materia liber secundus. In: De rebus naturalibus libri XXX, 177–231. S.o.152, 222. Zur Schule von Padua vgl. beispielsweise: Poppi: Art. ›Padua, Scuola di‹; Garin: L’umanesimo italiano, 157–171, mit Hinblick auf die problematische Paduaner Seelenlehre; Schmitt: Renaissance Aristotelianisms; Kristeller: The Curriculum of the Italian Universities from the Middle Ages to the Renaissance; drs.: Renaissance Aristotelianism; drs.: Die italienischen Universitäten der Renaissance. Zur Geistesgeschichte des Aristotelismus in Padua und allgemein Italien vgl. auch etwa die weiteren im Literaturverzeichnis angegebenen Veröffentlichungen Kristellers und Schmitts. Zum allgemeinen Hintergrund vgl. beispielsweise Poppi: Art. ›Padua, Scuola di‹; Introduzione all’aristotelismo padovano; La Dottrina della Scienza in Giacomo Zabarella; Edwards: Art. ›Zabarella‹; Risse: Zabarellas Methodenlehre. Zu Galilei vgl. Berti: Differenza tra il metodo risolutivo degli aristotelici e la »resolutio« dei matematici; zu Harvey, der seine Schrift De generatione animalium mit einer Methodenerörterung im Paduaner Stil einleitet, vgl. Schmitt: William Harvey and Renaissance Aristotelianism. So schreibt William F. Edwards mit Bezug auf die averroistische Lehre des intellectus agens separatus: »By stripping man of his much vaunted intellect and leaving him only in possession of an »imaginativa«, or »cogitativa«, as it was sometimes called – an imagination that differed from the same power in animals only by being more versatile, ebullient, and better-stocked, Averroes and the Averroists concentrated men’s attention […] on the actual, empirical process by which human knowledge is in fact obtained. […] In the hands of Averroes and the Averroists knowledge was rendered once more natural and human, […].« (The Averroism of Iacopo Zabarella (1533–1589), 100). Vgl. auch Poppi: Art. ›Padua, Scuola di‹; sowie seine Introduzione all’aristotelismo padovano, passim.

245 ten.19 So ist der Gestus der Quantifizierung und Mathematisierung der Erfahrungsanalyse in den Texten Zabarellas nicht angelegt; Galilei bezieht zwar seine Terminologie von Zabarella, besetzt sie aber mit veränderten Inhalten; schließlich krankt der Versuch, die besagte Kontinuität in Anschlag zu bringen, schon an den Engführungen, die der »Schule von Padua« und der modernen Wissenschaft – als solche Sammelbegriffe ihrer beileibe nicht homogenen Instantiierungen – dabei zugemutet werden.20 Zabarella, und mit ihm die »Paduaner Klassik«, ist gegenwärtig im England der Scientific Revolution, doch nicht die Experimentierenden der Royal Society als solche halten die Erinnerung an sie wach, sondern die nach wie vor an der Literatur des deutschen Protestantismus oder der Logik des Oxforders Robert Sanderson geschulten Universitätsabsolventen.21 Die im folgenden interessierende sachliche Aussage der Vorlage Glissons ist die folgende: Mit Averroes nimmt Zabarella die erste Materie als »per se quanta« an;22 drei unbestimmte Dimensionen sind ihr als accidens perpetuum oder proprietas inhaerens inne.23 Die Determination der Dimensionen kann nun, so Zabarella, keinesfalls von der Materie herrüh-

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Als Auslöser der Debatte sind allem voran die Veröffentlichungen John Hermann Randalls zu nennen: The Development of Scientific Method in the School of Padua; The School of Padua and the Emergence of Modern Science; Padua Aristotelianism: An Appraisal. Die Feststellung, daß Zabarella Galilei vorgegriffen habe, findet sich allerdings auch schon in Cassirer: Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 139f.; vgl. Berti: Differenza tra il metodo risolutivo degli aristotelici e la »resolutio« dei matematici, 435f. Mehr oder weniger explizite Anklänge der Kontinuitätsthese finden sich beispielsweise in Copeman: John Caius (1510–73), 33; Ongaro: La Medicina nello Studio di Padova e nel Veneto, 99; Premuda: La Medicina e l’organizzazione sanitaria, 129; und in Hinsicht auf die praktische Orientierung der medizinischen Unterrichtung in Padua Bylebyl: The School of Padua. Hiermit seien einige der Gegenargumente zusammengefaßt. Vgl. im einzelnen Garin: Aristotelimo veneto e scienza moderna, 21f.; Schmitt: L’aristotelismo nel Veneto e le origini della scienza moderna, 106; Berti: Differenza tra il metodo risolutivo degli aristotelici e la »resolutio« dei matematici, 455–457; Poppi: Introduzione all’aristotelismo padovano, 40f., 56–62; Cassirer: Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 139f.; Rossi: Aristotelici e »Moderni«. Vgl. Edwards: Paduan Aristotelianism and the Origins of Modern Theories of Method, 208. Sandersons Werke wurden auch in Cambridge verwendet. Zabarella ist einer der meistzitierten Autoren in Göckels Lexikon. Zu den Weiterentwicklungen der Methodenlehre Zabarellas durch ihre Rezipienten vgl. Dear: Method and the study of nature, 148, 150f. De prima rerum materia II, 191. Vgl. De prima rerum materia II, 191: »Averroes […] asserit primam materiam secundum se, & ante receptionem formae esse quantam, & habere tres dimensiones, longitudinem, latitudinem, & profunditatem, tanquam accidens perpetuum, & inseparabile, eas tamen nullis certis terminis circumscriptas, sed interminatas, quae postea a diuersis formis varios terminos recipiunt, prout variae naturalium corporum naturae requirunt: adeo vt intereunte per recessum formae corpore aliquo naturali, dimensiones non intereant, sed earum tantummodo termini destruantur, & alii accedant, qui ab alia adveniente forma praescribuntur.«; 195: »Quum ego veram hac in re esse pu-

246 ren. Es ist die Form, die, indem sie die Natur der Materie auf eine bestimmte Spezies festlegt und in dieser Weise den Menschen oder das Pferd konstituiert, auch die Grenzen der an sich unbestimmten Quantität fixiert: »forma praescribit, & imperat.«24 At statuere terminos magnitudini est solius formae officium, quia nulla determinatio a materia prouenire potest […].25

Form und Materie leisten sich somit gegenseitigen »Dienst«: die Form erhält von der Materie Quantität und Ausdehnung und wird derart teil-, d.h. multiplizierbar, die Materie hingegen erhält von der Form konkrete Begrenzungen. Die Form erstreckt sich gemäß der (indeterminierten) Ausdehnung der Materie; die Materie erstreckt sich gemäß der (bestimmten) Ausdehnung der Form.26 »Die Form schreibt vor und befiehlt.« Degradiert man jedoch die Form zur entitas exilis, kann diese Aussage nicht mehr richtig sein: in Glissons Entwurf determiniert die Materie die Ausdehnung. Es sind die Phänomene des Wachstums, der Verdichtung und Verdünnung, mithin quantitativer Veränderungen bei gleichbleibender Substantialform, die Glisson zur Zurückweisung der Lehre Averroes’ und Zabarellas veranlassen. Zabarella […] videtur asserere, quantitatem interminatam spectare ad materiam; terminatam, ad formam. Ait enim formam, respectu quantitatis interminatae, extendi ad extensionem materiae; sed contra, respectu quantitatis terminatae, hanc extendi ad extensionem illius. Quae explicatio […] caute intelligenda est, ne in apertum errorem incidamus. Etenim datur rarefactio & condensatio in multis corporibus tam post adventum formae, quam ante eundem; ut cernere est in omnibus corporibus a calore ad frigus transeuntibus: imo & in omnibus plantis & animalibus augmentatio a parvis rudimentis ad magnam molem, manente interim eadem forma, sensim promovetur. Forma itaque non absolute terminos, aut praefinitos limites, materiae praescribit; sed hi a solo materiae motu dependent & exoriuntur. […] Impossibile autem est ut ulla quantitas terminata mutetur absque novo materiae motu. Quare solus materiae motus est immediata seu proxima causa terminatae quantitatis.27

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tem opinionem Averrois, […] ante omnia optime declarandam esse hanc sententiam arbitror […].« Zum Ausdruck der proprietas inhaerens vgl. ebd. 195. S. unten das Zitat in Anm. 26. De prima rerum materia II, 196. Weiter heißt es dort: »forma, quemadmodum naturam ipsam materiae coarctat, & ad certam speciem contrahit, facitque hominem, & equum, & asinum; ita etiam quantitati materiae, quae secundum se terminis caret, certos aliquos fines largiatur.« De prima rerum materia II, 196: »Hinc colligimus, formam & materiam sibi mutuam operam praestare: forma enim quae secundum se indiuidua est, recipit a materia extensionem, & quantitatem; materia vero sumit a forma terminos suae quantitatis […] Dicere tamen possumus, non modo formam extendi ad extensionem materiae, sed etiam materiam ad formae extensionem extendi, verum enim utcunque est alia & alia ratione; illud enim verum est de extensione absolute accepta, quam forma sumit a materia, hoc autem de limitibus, ac finibus extensionis, nam eousque materia extenditur, quousque forma praescribit, & imperat […].« De natura, 107f. Man beachte die Fortentwicklung des Denken Glissons gegenüber

247 Glisson verrät hier die Ansicht, die Form könne die Ausmessungen der Sache nur in einer Weise bestimmen, die keine quantitativen Schwankungen zuließe. Wir erkennen darin, wie weit er den Formbegriff vom natürlich-entelechetischen Konzept der fu/sij tatsächlich wegbewegt hat und zu einer ganz statischen Auffassung der Form gelangt ist. Die Permanenz der Form während quantitativer Veränderungsvorgänge spräche gerade für die averroistische Vorstellung, wenn man nur einen dynamisch-elastischen Begriff der Form zugrunde legte, demzufolge sie der Materie die Ausmessungen nicht vorgäbe wie die Gestalt sie dem Marmor diktiert, sondern demgemäß sie das Substrat als Prinzip seines Wachstums von innen durchwirkte. Dem Denker aber, der die Form nur noch als epiphysis der Materie, als immer wieder hinfällige Manifestation materieller Gestaltungsbewegungen begreift, steht dieses Paradigma nicht mehr zur Verfügung. So ist es vielleicht gerade der Materialismus Glissons, der, da er in seiner Herabwürdigung der Form die gedankliche Arbeit am Form- und Artbegriff irrelevant werden läßt, ihn hinter bestimmte biologische Innovationen seiner Zeit zurückzwingt, die angesichts seines umfassenden Dynamismus und seiner Historisierung der Natur nahezuliegen scheinen.28 Vereinzelt spielt Glisson auf die mikroskopisch kleinen Organismen (animalcula) an, die die Biologen der Zeit beschäftigen,29 aber wir finden in De natura keinerlei Reflexion über die mögliche Kontinuität der scala naturae, wie sie bei Leibniz zum metaphysischen Postulat wird, das seinerseits die Annahme von unentdeckten oder zugrundegegangenen Arten als Zwischenglieder fordert.30 Die aristotelische Vorstellung der Artenkonstanz aufzugeben und die Idee der möglichen Neuentstehung, Veränderlich- und Vergänglichkeit der natürlichen Formen einzuführen, wie sie im französischen Materialismus und vor allem in darwinistischen Evolutionstheorien avancieren wird,31 scheint für Glisson weniger denkbar noch als für Aristoteles selbst.

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dem Manuskript »Fabrica corporis organici non potest oriri ex solu motu materiae«, wo Glisson (fol. 278r) erklärt: »Assentior itaque hoc sensu erudito respondenti, Fabricam corporis organici non posse oriri ex solo motu primae materiae, sed oriri a forma substantiali, hoc est a materia actuata.« Bereits oben, 234f., hatte ich beschrieben, daß Glisson die leibnizianische Konsequenz einer Entzeitlichung der Natur nicht zieht. Vgl. De natura, 511. Vgl. Lovejoy: Die große Kette der Wesen, 176–220, 308–315. Vgl. beispielsweise Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature, Pensées XII und LVIII; DPV IX, 36–38 bzw. 94f.; Éléments de physiologie I, 2, DPV XVII, 321; mit Anklängen an Lamarck und seine These der Veränderung der Organe je nach Gebrauch und Bedarf durch den jeweiligen Organismus auch ebd., 322–325; und dazu Rey: Dynamique des formes et interprétation de la nature; zum weiteren Hintergrund Lovejoy: Die große Kette der Wesen, 292–345; Hartbecke: Naturgesetze und Naturphilosophie.

248 Die Grundlage, auf der Glissons Abwendung von Zabarella beruht, ist im übrigen auch in der Frage der quantitas interminata sein Skotismus. Zabarella war Thomist und hatte die skotistische Auffassung eines actus entitativus der Materie mit Nachdruck zurückgewiesen32 – mehrfach weist Glisson auf diese Differenz zwischen dem Paduaner und ihm hin.33 in ipsa materiae natura nullus actus inest, sed est substantia quaedam indeterminata, potestatem habens recipiendi quemlibet actum.34

Um zu begreifen, wofür der Terminus quantitas interminata bei Glisson nun genau steht, ist es notwendig, zunächst auf seine Theorie von Masse, Verdichtung und Verdünnung einzugehen.

5.2

plica materiae: der Dichtebegriff im Dynamismus

Wie Bacon in seiner Historia densi et rari räumt Glisson der Erklärung von Verdichtungs- und Verdünnungsprozessen eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Natur überhaupt ein; warum dies so ist, wird sich bald klären.35 Die Historia densi et rari war erst 1658 posthum vom Nachlaßverwalter Rawley herausgegeben worden, und Glisson beantwortet dies naturgeschichtliche Projekt seines Landsmannes mit eigenen Entwürfen.36 Die Dünnheit (essentia raritatis) definiert Glisson als »Wenigkeit« (paucitas) von Materie im Verhältnis zur Größe des eingenommenen Raumes, »dicht« hingegen wird das genannt, bei dem ein »Reichtum« (copia) von Materie auf geringem Raum vorhanden ist.37 Glisson nimmt eine Dünnheit

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Vgl. Campanini: La Questione dell’essenza, bes. 471. Vgl. De natura, 109: »Sed pertinaciter negat Zabarella materiam primam exsistere.«; ferner die sehr am Text Zabarellas entlang gestaltete Abhandlung [»De materia prima.«], fol. 22r. De prima rerum materia II, 231; zuvor schon zu Beginn des zweiten Buches 175–191. Vgl. De natura, 419: »Tanti autem est momenti horum motuum, ad rectam naturae interpretationem, cognitio, ut Illustrissimus Vicecomes Sti Albani, in aditu Historiae Densi & rari, de Philosophorum ex hac parte negligentia, ut de una magna nostra in rebus naturalibus ignorantiae causa, conqueritur: remque (inquit) quae ad infinita spectat, & naturalis Philosophiae veluti basis est, aut non attingunt, aut non urgent. […] Cum enim [densitates & raritates corporum nosse, procurare, efficere, K.H.] sit res […] plane fundamentalis & catholica, accincti debemus ad eam accedere; quandoquidem omnis philosophia absque ea penitus discincta & dissoluta sit.« Vgl. Bacon: Works II, 243f. Vgl. die »Historia densi et rari gravitates et levitates etc.«, die »Historia processus a densitate ad raritatem et contra« und die »Historia graduum densitatis ac raritatis« in Sloane 3311. Vgl. De natura, 373: »Essentia raritatis. […] nihil relinquitur quo rarum constitui potest, praeter paucitatem materiae comparatam ad magnitudinem spatii; quod tamen totum sine porositate occupat. E contra, nulla ratio est ob quam aliquid vocetur densum, nisi ob materiae copiam in exiguo spatio conclusam.« Vgl. Bacon: Historia

249 und Dichtheit im echten, d.h. durch die materielle Ausgangssubstanz selbst gegebenen Sinne an (»Dari condensationem & rarefactionem in proprio sensu.« 38) und weist die Position zurück, daß die raritas in einem erhöhten, die densitas in einem minderen Gehalt von zwischengestreuten Poren besteht, die entweder vakuös oder mit einem allerfeinsten Körper (corpus subtilis) angefüllt sind.39 Daß es kein Vakuum gibt, begründet Glisson mit der operationalen Utilität aller Körper, mithin mit seiner argumentativen Variante der Vakuumsflucht.40 Die Annahme eines eingestreuten Subtilkörpers ferner verschiebe das Problem, die raritas des Ausgangskörpers zu erklären, lediglich auf eine andere Ebene, müsse doch nun die subtilitas der eingelagerten Materie verhandelt werden, und diese eingelagerte Materie sei selbst nichts anderes als ein corpus rarissimum. 41 Mit der Auffassung der Dichte und Dünne als größere bzw. geringere porositas ist auch die Vorstellung der Verdichtung und Verdünnung als Eindringen und Ausstoß von Atomen (intrusio bzw. extrusio atomorum) hinfällig, die Magnenus in Berufung auf Demokrit propagiert, im Bewußtsein, daß dieses Modell keine rarefactio und condensatio im eigentlichen Sinn statuiert.42 Was ist die substantielle paucitas bzw. copia der Materie? Glisson geht davon aus, daß die Materie neben ihrer akzidentellen eine entitative oder substantielle Ausdehnung besitzt.43 Mit der extensio accidentalis meint er

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densi et rari, Works II, 302: »Copia et paucitas materiae constituunt notiones densi et rari, recte acceptas.« De natura, 405; vgl. auch 417f. Vgl. De natura, 364–374. Vgl. De natura, 365–367, wo Glisson anhand von (Boyles?) Beobachtungen und Experimenten mit Luft schlußfolgert: »Rejicitur vacuum.«; vgl. überdies 368: »in occursu vacui, alterutrum ex privatione subjecti in quod agat eluditur & frustratur. Quod enim vacuo circumfunditur, nihil habet in quod agat: cumque omnia sint propter operationes suas, vacuo circumsepta in statum despicabilem & maxime fugiendum deducuntur; statum quippe frustrationis, inutilitatis, & privationis exercitii omnium suarum virium ad extra.« Vgl. auch oben 132. Vgl. De natura, 371–374. Vgl. De Atomis, disp. III, def. VIII, 374: »Densum illud est quod paucissimos habet poros, vel quod nullos, vel quod habet paucos eosque angustissimos. Rarum e contra quod multos eosque latos, & patentes.«; disp. III, prop. XLVII, 415–420, überschrieben: »Quamvis admitti debeat aliqua in natura rarefactio improprie dicta, nulla tamen datur propria, & legitima: sive omnis rarefactio fit per intrusionem atomorum, condensatio per extrusionem.«, etwa 419f.: »Democritus vero rarefactionem per intrusionem corpusculorum, condensationem vero per extrusionem fieri pronuntiat, quae rarefactio est improprie dicta, & mille quotidianis exemplis patet.« Vgl. auch Bacon: Historia densi et rari, Works II, 301: »Dilatationes per introceptionem et per deacervationem sunt pseudo dilatationes; sicut et contractiones per exclusionem, sunt pseudocondensationes; sunt enim locales, non substantiales.« Vgl. De natura, 378: »Aio igitur, ad substantias materiales, prout in rerum natura exsistunt, praeter entitativam & substantialem extensionem, requiri accidentalem & mutabilem, quod earum extensio sit naturaliter mutabilis […].« Vgl. auch 396–401.

250 die veränderliche dimensio terminata im obigen, averroistischen Sinn.44 Dagegen identifiziert er die unveränderliche extensio substantialis mit seinem wichtigsten Massebegriff, mit der moles substantialis der Materie.45 Die moles benennt als substantielles Prinzip (»per modum principii alicujus substantialis«46) aller Quantität und Qualität die Eigenschaft der Materie, Partikel zu haben, die sich gegenseitig anstoßen, die zwar einander nicht undurchdringlich sind, sich aber nur unter Widerstand ineinanderschieben und auch nur mit dem Effekt der Verdichtung an einer Stelle aufgehäuft werden können. Sed quid intelligi debet per hanc molem? Vox videtur insinuare aliquid corpulentiae, crassimenti, densitatis & ponderis, aut aliquid per modum principii eorundem. Verum […] moles substantialis non est quantitas aut qualitas materialis, sed earum principium, seu ipsa ratio materiae ob quam talia accidentia de se fundit. Consistit autem, ut aliqui putant, in ipsis partibus substantialibus seu entitativis materiae, quatenus una earum includit negationem cujusvis alterius, nimirum quatenus una non est alia. […] Dici […] potest, molem materialem in eo consistere, quod tales habeat partes quae possunt sibimet invicem allidere, sive impingere & obsistere; neque possunt sese mutuo penetrare absque aliquali renitentia sive reluctatione, nec accumulari in uno aliquo spatio absque condensatione sive incrassatione.47

»Moles« meint die Größe, Dichte, Schwere der Körper zugleich, oder doch deren Prinzip, und akzentuiert dabei ihre Schwerfälligkeit und Widerständigkeit. Nicht beim Äther, bei der Luft, bei Dämpfen, vielmehr bei gewichtigen, dichten, schwer beweglichen Körpern spreche man von »moles«. 48 In der für ihn typischen Betrachtungsweise »ex nominum etymo«49

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Vgl. De natura, 376 die Gegenüberstellung von extensio actualis oder determinata und entitas substantialis; vor allem aber 394: »Effectus formalis extensionis actualis est, mutabiliter limitare seu determinare quantitatem materiae ad certam longitudinem, latitudinem, & profunditatem. Quanquam enim partes materiae entitativae seu substantiales per modum quendam substantialem dici possunt extensae; non tamen ad certam mutabilem longitudinem, latitudinem ac profunditatem, absque addita accidentali extensione terminante, contrahuntur.« Vgl. De natura, 378f.: »Ego enim, praeter extensionem actualem & accidentalem, hanc insuper molem substantialem materiae attribuo, […].« Vgl. auch De natura, 387, wo Glisson das, was Suárez in 40, IV, 15 als extensio entitativa bezeichnet, mit seiner moles materiae substantialis, sowie das, was der Jesuit ebd. als extensio localis benennt, mit seinen Begriffen quantitas terminata und quantitas interminata gleichsetzt. Die extensio substantialis ist ein modus der Substanz und immutabilis, die extensio accidentalis ein Akzidens; vgl. De natura, 400. Zur Unveränderlichkeit der moles ausdrücklich ebd. 101. De natura, 101, zitiert in Anm. 80. De natura, 98f.; ähnlich auch ebd. 391. Vgl. De natura, 390: »Operae pretium ergo fuerit hic obiter inquiramus in primam & propriam significationem ipsius vocis [moles.] Non significat extensionem, sive actualem sive aptitudinalem; sed concrete corporis magnitudinem, densitatem & gravitatem simul: nunquam vero, aut certe raro, corpori utcunque magno tribuitur, nisi densitas & gravitas conjungantur. Non enim legimus molem aetheris, molem aeris, molem ignis aut flammae, molem spirituum, ventorum, aut cujusvis corporis levis, quantaecunque magnitudinis fuerit: sed contra, passim occurrunt apud probatos auctores,

251 geht Glisson der Herkunft des Wortes nach und umspielt »moles« mit den stamm- oder klangähnlichen Termini »moveri«, »mola«, »moliri«, »molimen«, »molimentum«, »molestia«, wobei natürlich auch ein Zusammenhang der Bedeutungen suggeriert werden soll. Die Unterscheidung zweier Ausdehnungsbegriffe, eines substantiellen und eines akzidentell-quantitativen, die in der Ausdifferenzierung des Teilbegriffs in pars substantialis und pars integrans ihre Entsprechung findet,50 ist in der peripatetischen Literatur der Zeit überaus geläufig und wirkt bekanntlich auch auf die Substanz- und Kontinuumskonzeption von Leibniz nach.51 Glissson führt seine Differenzierung von extensio substantialis und accidentalis gegen nominalistische Autoren an, gegen William von Ockham, Albert von Sachsen und andere, die quantitas und substantia oder materia nicht unterschieden, um die Dinge nicht – wie sie meinten – unnötig zu vervielfältigen. Denn ein »quantum« sein, so die Paraphrase Suárez’, die Glisson zitiert, bedeutet gemäß diesen Philosophen nichts anderes als Teile zu haben, die außerhalb voneinander liegen (»habere partes extra partes«).52 Die materielle Substanz habe zufolge den Nominalisten jedoch von sich selbst her partes extra partes, so daß die Annahme eines realdistinkten Akzidens zur Gewährung dieser Eigenschaft nicht nötig sei.53 Unter diesen Voraussetzungen sind Verdichtung und Verdünnung substantielle, ja sogar übernatürliche Veränderungen: sie sind Vernichtung bzw. Neuschaffung von Materie – für Glisson eine unliebsame Vorstellung, wenn es um die Erklärung von Naturprozessen geht.54 Nominales non distinguunt actualem extensionem materiae ab ipsa substantiali entitate ejusdem. Qua opinione data, revera hic motus Hyles [d.h. rarefactio und condensatio, K.H.] intelligi nequit. Si enim materiae substantia ejusque determinata extensio una & eadem res sint, qui fieri possit ut extensio materiae, manente eadem quantitate substantiae, mutetur? Etenim si minuatur extensio, minuitur substantia; si amplietur, augetur; quod eadem res sint: & hoc posito, recte inferunt, condensationem, prout a nobis exponitur, includere annihilationem partis materiae, & rarefactionem, novae materiae creationem.55

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moles terrarum, rupium, aggerum, montium, aedificiorum, lapidum, aquarum, & similium. Unde discimus, molem perpetuo applicari gravibus & densibus corporibus, quae nimirum aegre moventur.« De natura, 507. Vgl. oben das Zitat zu Anm. 47; ferner oben 176. Vgl. Suárez: DM 40, IV, 12–13; Boehm: Le »vinculum substantiale« chez Leibniz, 34, 58f., vor allem 71. Vgl. De natura, 377. Vgl. Suárez: DM 40, II, 2–3; Boehm: Le »vinculum substantiale« chez Leibniz, 67f. Mit der Gleichsetzung von Quantität und Substanz geht auch einher, daß die Nominalisten die quantitas interminata als Substanz konzipieren müssen; Glisson hingegen setzt sie wie Zabarella als accidens perpetuum an; vgl. De natura, 112, 392. Vgl. oben 4.6. De natura, 376. Vgl. auch beispielsweise ebd., 399, 418.

252 Zwischen zwei Voraussetzungen muß man wählen, schreibt Glisson, um räumliche Bewegung im Universum annehmen zu können. Entweder muß die Möglichkeit des Vakuums eingeräumt werden – mit Demokrit –, oder aber es ist – gegen den orthodoxen Atomismus – die Vorstellung einer gegenseitigen Ausweichung der Körper zu bemühen, von der Auffassung allerhärtester und unnachgiebiger Partikel abzugehen und die Durchdringung der Substanzen zu propagieren. Der an Demokrit orientierte Bruno etwa hatte die erste Alternative gewählt.56 Glisson entscheidet sich für die zweite der beiden Optionen: »Satius est admittere penetrationem, quam vacuum.« 57 Stets werde der weichende Körper zusammengedrückt (compressio) und verdichtet (condensatio), ziehe er doch einige seiner Teile dabei in sich, weiche dem anderen Körper in sich selbst aus (cessio in seipsum), werde von ihm durchdrungen.58 Glisson zieht nicht die Möglichkeit einer Weitergabe des empfangenen Bewegungsimpulses nach Art eines geschlossenen Kreislaufs in Erwägung, eine Möglichkeit, die nicht zwingend zu seiner Konsequenz elastischer Körper (vis elastica 59) führte, wie durch die Physik Descartes’ dokumentiert ist. Auch bezieht er sich hier noch nicht auf das Konzept einer aktual-indefinit geteilten, während der Passage von Engstellen schneller bewegten Materie, mit der Descartes sowohl die Annahme des Vakuums vermieden als auch die »Verdichtung und Verdünnung aus dem Universum eliminiert« habe; ein Modell, das er erst weitaus später im Traktat zu widerlegen sucht.60 Glisson argumentiert

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Vgl. Bruno: De minimo, OL I-3, 176: »Minima quatenus sunt unibilia, segregabilia etiam sunt, non se penetrant, non miscentur, sed se attingunt tantum […] quod si ita est, non uno communi, sed duobus propriis terminis attinguntur, quos inter duos terminos est in quo fit contactus, et inde Democrito est vacuum interiectum corporibus.« De natura, 407. Vgl. auch 408: »mihi certissimum est, vel vacuum, vel penetrationem dimensionum admittendam esse.«; 407: »Si enim alterutrum, vel penetratio substantiarum, vel vacuum, admittendum sit, proculdubio illa potior quam hoc, & Philosopho dignior est. Illa enim est entitas positiva, & nihil absurdi involvit: hoc vero inanem nullitatem, ut partem universi, imo, in multis, ut principium ipsius naturae, importune se nobis obtrudit. Sed, Cur, inquies, necesse sit horum alterum admittamus? Profecto, absque eorum altero nullus in universo motus peragi potest.« Einen – allerdings sehr an der Oberfläche bleibenden – Abriß der Lehre Glissons von der penetratio der Substanzen gibt Lasswitz: Geschichte der Atomistik II, 530–532. Vgl. De natura, 407: »Quod enim moveri incipit, vel in locum prius vacuum movetur, vel corpus proximum quod versus movetur ei cedit. Si moveatur in locum vacuum, datur vacuum: Sin moveatur in locum cedentis, id quod cedit nonnihil condensatur, & aliquas sui partes in seipsum retrahit, hoc est, patitur penetrationem. Etenim cessio rei in seipsam absque aliquali condensatione concipi nequit.« De natura, 416, 534 und öfter. Vgl. De natura, 520: »Alterum quod meum sententiae Cartesianae, de particulis infinitae parvitatis, assensum suspendit, est, eum supponere, materiam semel divisam, sic divisam perpetuo manere, & nunquam re-uniri. Etenim ea postissimum causa hasce particulas indefinitae parvitatis excogitasse videtur, ut condensationem & rarefactionem e finibus universi eliminaret, & nihilominus aliqualem rationem motus absque iis aut vacuo redderet.« Vgl. Princ. Phil. II, 33, AT VIII-1, 58–60. Glisson (De natura,

253 vielmehr mit dem Beispiel eines von oben gestoßenen oder gedrückten Körpers, der den Stoß zwar in seiner Ausweichbewegung linear an einen unter ihm befindlichen Körper weitergeben kann; dieser selbst gibt den Impuls auf gleiche Weise weiter und immer so fort. Da aber der Mittelpunkt der Erde nicht ausweicht, muß es an einer Stelle dieser Abfolge zum Abbruch kommen, derart daß ein Körper komprimiert wird, anstatt dem nisus motus zu folgen.61 Si ergo universus mundus ex istiusmodi non-cedentibus quaquaversum consisteret, nullus motus ob defectum vacui & corporis cedentis contingeret. Si enim (quod aliqui imaginantur) mundus componeretur ex particulis seu atomis nulli compressioni seu condensationis obnoxiis, sequeretur eas atomos esse simul durissimas & plane adamantinas. […] si hae atomi immediatae forent, aliae alias, quibus circumsistuntur, quasi tot cunei adacti, ne qua loco moverentur, firmarent. Quemadmodum enim lapides in pavimentum fistuca impulsi immobiles haerent; ita hae atomi aliis undique obseratae & impactae eodem perpetuo loco fixae manerent. […] Profecto, qui rem serio perpendit, facile discernat, istiusmodi mundi structuram ad nullum omnino motum comparatam esse.62

Bewegung ist möglich durch die vigoros-fibrös gedachte Elastizität des Universums,63 durch die gegenseitige Durchdringung der Körper; diese wiederum ist nichts anderes als Verdichtung, der eine Verdünnung als Rückkehr in den natürlichen Zustand als Befreiung vom Bedrängungsimpuls des penetrierenden Körpers folgt; hier nimmt Glisson den dritten motus Bacons, den motus Libertatis, zum Vorbild.64 Sind aber condensatio und

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515, 517, 520) bezieht sich auf Princ. Phil. III, 48–52, AT VIII-1, 103–105, wo Descartes seine Ergebnisse referiert, sowie auf II, 54, AT VIII-1, 70. Zum Indefiniten auch Princ. Phil. I, 25–26, AT VIII-1, 14f. Vgl. De natura, 407f.: »Exempli causa, lapidi papide imposito, superior trudit inferiorem; inferior tanto fortius premit terram, quanto fortius a superiore premitur. Centrum terrae non cedit, nec propterea hunc nisum motus consequitur. Ratio est, quod corpus trusum nec cedat, nec vacuum adsit in quod corpus sive trudens sive trusum se recipiat.« De natura, 408. De natura, 534, wo Glisson die Elastizität der Luft tatsächlich auf die Erregbarkeit ihrer Fibern zurückführt und sie mit dem Zurückfedern einer flachen gebogenen Metallscheibe oder eines Astes vergleicht: »Attamen si aer sit corpus fibrosum, ejusque fibrae calore excitatae fortius intendantur, & majorem locum postulent, frigore autem constrictae infirmiores evadant, & compressioni plusculum cedant; necesse est aer ipse sit corpus continuum, & ex fibris continuis & vigorosis concinnentur. Satis scio, laminam chalybeam virgultum, & similia, quibus elater proprie tribuitur, si flectantur, vigorose resilire.« Vgl. Bacon: Novum Organon II, 48, Works I, 330–332, hier 330: »Sit Motus Tertius, Motus (quem appellamus) Libertatis; per quem corpora se liberare nituntur a pressura aut tensura praeter-naturali, et restituere se in dimensum corpori suo conveniens.« Vgl. Glisson angedeuteten Rekurs, De natura, 408; vor allem aber 375: »Prima species motus ad densitatem & raritatem spectans eas conservat in statu suo. Vocatur […] ab Illustrissimo Vicecomite Sti Albani, motus libertatis […]. Supponit motum violentum ab extra venientem, & se ab ejus insultu vindicat. Componitur itaque ex nisu ab extra & renisu ab intus, seu ex actione & re-actione. Passum se incessi percipit: in-

254 rarefactio notwendige Begleiter einer jeden räumlichen Bewegung, ist es unmittelbar einsichtig, warum Glisson die Kenntnis der raritates et densitates corporum an den Anfang einer korrekten Naturinterpretation stellt.65 Paradigmen der condensatio oder penetratio corporum sind Wachstumsund Stoffwechselprozesse,66 die Mischung oder Lösung chemischer Substanzen,67 die Glasschmelze68 sowie die durch Santorio entdeckte unmerkliche Transpiration,69 ebenso Vorgänge plötzlicher Granulatbildung (granulatio) und Wiederverflüssigung (reliquatio). 70 »Atomus vel divisibilis vel nihil est.« Das Panorama einer Welt von Körpern, die zwischen Dichte und Dünne oszillieren, beruht auf dem spezifischen Korpuskularismus Glissons: Nicht aus indivisibilia oder mathematischen Punkten setzen sich die Körper zusammen, die – hier folgt Glisson der nominalistischen Schule71 – dem Ausgedehnten lediglich eine negatio hinzufügen.72 Stattdessen sind minima naturalia die kleinsten Teile

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surgit itaque contra hostem, & suam libertatem vindicat. Insultus seu impetus ab extra veniens ad duas species ab Ingeniosissimo Vicecomite reducitur; pressuram, & tensuram, Illa, pulsio seu trusio quaedam est, & conatur partes materiae (renuentes licet) in seipsas cogere; haec, tractio seu distractio est, & satagit partes ab invicem divellere: Illa, violenta condensatio est; haec, invita rarefactio & divulsio partium. Utraque naturae passi molesta est & vim infert, ideoque ab eadem quantum ea potest repellitur.« Vgl. oben 248. Vgl. De natura, 409: »Vera autem nutritio sit per imbibitum alimentum in ipsam substantiam partium nutritarum. Etenim in nutritione non tantum partes extimae crescunt, sed & intimae, […].«; vgl. auch 411f. Die Elemente penetrieren einander, keinesfalls meint Mischung eine bloße juxtapositio der Partikel, wie Glisson durch das Mikroskop beobachtet haben will; vgl. De natura, 409: »Etenim si mista sint tantum particulae juxta positae, qui fiat ut faciant unum per se, hoc est, unum individuum in certa rerum specie constitutum?«; vgl. auch ebd. 413–415. Vgl. De natura, 415. Vgl. De natura, 411: »Verisimile itaque est, exhalationes ex alto corporis fluere seu sudare per substantiam partium exteriorum, & non per poros.« Glisson war auf diesen Zusammenhang bereits in seinen Vorlesungen vor dem Royal College eingegangen, vgl. MSS Sloane 3306, fol. 15r–16r. Die Entdeckung des Santorio hatte auch Magnenus zu einer Abgleichung mit der eigenen Naturphilosophie herausgefordert, vgl. De Atomis, 279. Vgl. unten in Anm. 94 das Zitat aus De natura, 415. Vgl. Murdoch: Infinity and continuity, 573–575; Boehm: Le »vinculum substantiale« chez Leibniz, 65–68. Vgl. etwa De natura, 383: »punctum in se nihil est nisi negatio.« Glisson unterschlägt hier eine in anderen Passagen getroffene Unterscheidung. Bloße Negation ist genau genommen nur der punctum terminativum, der der Ausdehnung ihr [non ultra extendi] zufügt, wohingegen der punctum continuativum eine entitas positiva, eben die Kontinuität, mitteilt. Hinter dem [non dividi], das der kontinuierende Punkt bezeichnet, »verberge« sich, so Glisson ganz anti-nominalistisch, eine perfectio positiva. Vgl. De natura, 446–453; besonders 449: »Plurimi enim definiunt continuitatem per negationem divisionis: & profecto negatio divisionis facilitat explicationem continuitatis: sed haec, sub negatione divisione, perfectionem positivam, quae est fundamen-

255 der Materie, und nicht prinzipiell, sondern aufgrund ihrer Kleinheit (parvitas) sind diese unteilbar, d.h. aufgrund der Gegebenheit, daß kein ansetzender divisor sie teilen kann, mag er auch noch so fein sein.73 Mit seinem Modell einer Durchdringung der Substanzen repetiert Glisson die Univokation des Lebensbegriffs über Materie und Geist in physicis. Nicht nur bricht er mit dem demokritischen Atomismus, sondern gibt bewußt auch einen althergebrachten Grundsatz der schulischen Naturphilosophie auf, demzufolge zwar die geistigen Substanzen die Körper und einander ohne Hemmnisse penetrieren, die Körper selbst jedoch vermöge ihrer moles füreinander undurchdringlich sind und sich wechselseitig aus ihrem räumlichen Sitz vertreiben.74 Suárez formuliert gegen die Nominalisten: Est ergo in materiali composito una entitas simplex quantum ad essentialem compositionem, et realiter distincta a tota substantia, […] a qua entitate provenit formaliter haec moles corporea, ratione cujus corpora occupant loca extensa, et inter se sunt naturaliter impenetrabilia, […] et mediante illa [quantitate] extensionem habent, et solum ratione illius habent repugnantiam cum quacunque alia re corporea in eodem spatio.75

Hier liegt die Vorstellung zugrunde, daß die moles einer strengen partesextra-partes-Struktur folgt.76 Es ist diese Vorstellung, die Glisson in seiner Unterscheidung von extensio substantialis oder entitativa und extensio accidentalis modifiziert.77 Die Teile der Materie sind durchaus entitative von-

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tum istius negationis, ut supra probavi, occultat.«; 451f.: »punctum terminativum nihil positivum ex parte rei distinctum extensioni seu quantitati addit. […] Secunda pars est, punctum continuativum extensioni aliquid positivum ex parte rei distinctum addere, scilicet continuitatem ad certum indivisibile Ubi determinatam.« Vgl. De natura, 463: »Atomus vel divisibilis vel nihil est. […] Insuper atomus vel est corpusculum, vel punctum mathematicum. Si hoc dicatur, atomus nihil est; (punctum enim mathematicum […] negationem, non entitatem positivam, quanto adfert.) Sin illud, atomus est quanta & continua, adeoque divisibilis, & continet partes […]. Corpora itaque ex indivisibilibus non componuntur.«; 464: »minimum naturale dicitur quod a nullo divisore ulterius commminui potest; non quod nullas habeat partes, sed quod ob parvitatem ictum aciemque subtilissimi divisoris eludat. […] ob impotentiam divisoris dicitur actu minimum. Si hoc sensu atomus sumatur, habeo quod vellem.« Auf drei Arten kann das minimum seiner Teilung entgehen: »1°. ipsa sua parvitate; 2°. uniendo se aliis corporibus; 3°. mutando formam.« (512) Die minima naturalia sind nur als isolierte unteilbar; mit Nachbarteilchen umgeben sind sie an jeder angebbaren Stelle divisibel. Vgl. De natura, 486, 507. Vgl. oben 173. Vgl. De natura, 406: »Qui rem totam penitus introspexerunt suspicantur difficultatem in hac re, maximam partem, in eo consistere, quod ab ineunte aetate consuevimus cogitare & dicere, non dari Penetrationem corporum aut dimensionum […].« DM 40, II, 19–21; zur Quantität, moles und Undurchdringlichkeit etwa auch 42, I, 5. Vgl. die inhaltsgleiche Aussage in den Commentarii Collegii Conimbricensis in octo libros Physicorum I, 2, 2, 95; s. auch die Hinweise bei Ariew/Gabbey: The scholastic background, 435. Vgl. Suárez: DM 40, II, 20; auch 40, II, 12 und 17, worauf Glisson (De natura, 99) in diesem Zusammenhang verweist. Vgl. De natura, 400: »Ex dictis jam constat, dari in substantia materiali, praeter partes extra partes, aliquam extensionem, saltem ex natura rei, ab iis distinctam […].«

256 einander distinkt, jedoch nicht zwingend auch räumlich voneinander getrennt. Sie können sich extra alias oder intra alias befinden, und das esse intra alias, die Selbstdurchdringung der Substanz, bedeutet keinesfalls Annihilation, sondern lediglich Verdichtung.78 Körper und Geister unterscheiden sich nicht in ihrer Eigenschaft der Durchdringlichkeit oder Undurchdringlichkeit, sondern allein in der Möglichkeit einer Penetration mit oder ohne entgegengesetzte Widerständigkeit (renitentia, reluctantia),79 Anschlagen (collisio) oder Reibung (attritio) der Teile.80 Erst die quantitas terminata oder accidentalis macht die Körper undurchdringlich und wehrt derart ihre gegenseitige »Invasion« ab.81 Dices, partes materiae esse distinctas per seipsas, & consequenter per seipsas unam partem esse extra aliam. Concedo unam partem materiae esse entitative distinctam ab alia, hoc est, unam partem ejus non esse aliam; nec inde sequi, unam partem ejus esse necessario & perpetuo extra aliam, cum possit esse vel extra, vel intra aliam. Quanquam enim supponis tres, quatuor, vel forte mille partes materiae in eodem praecise spatio contineri; non tamen inde efficitur ut entitative confundantur, aut suam entitatem distinctam perdant: sed satis distincte ut partes manent, etiamsi unum totum conficiant, & una communi dimensione accidentali includantur.82

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Vgl. De natura, 353: »Siquidem substantiae receptio sui in seipsam […] nec materiae penetrantis annihilationem, implicat. […] etiamsi materia materiam substantialiter penetret, nulla tamen ejus portio substantialis perit; sed densitas augetur, […].«; »Hic igitur concludendum est, substantiarum penetrationem non esse naturae adeo alienam aut infestam, nedum (quod praetendunt) repugnantiam implicare.« Vgl. De natura, 99f.: »Molis effectus formalis. […] Dici ergo potest, molem materialem in eo consistere, quod tales habeat partes quae possunt sibimet invicem allidere, sive impingere & obsistere; neque possunt sese mutuo penetrare absque aliquali renitentia sive reluctatione, nec accumulari in uno aliquo spatio absque condensatione sive incrassatione. Hisce enim notis substantia materialis a spirituali clare distinguitur. Spiritus enim, seu substantia spiritualis, nihil talis corpulentiae aut crassimenti secum gerit. Unus ergo spiritus non allidit alteri, aut etiam materiae; sed pars unius partem alterius, sive spiritus sive corporis, nullo negotio pertransit: sese denique in seipsos contrahunt, & pro arbitrio expandunt, absque aucta sive densitate sive raritate. Adeoque substantialis moles, prout hic describitur, materiam a spiritu satis discriminat.« Vgl. De natura, 101: »Ex dictis innotescit, molem in sua ratione continere non tantum partes quarum una non est alia, sed & tales quae aliquid includunt per modum principii alicujus substantialis, crassimenti seu corpulentiae; quod tribus effectibus sive indiciis manifestatur: 1°. in occursu partium, collisione seu attritione; 2°. in actu penetrationis, luctatione & labore; 3°. in multiplicatione, replicatione seu explicatione respectu spatii, densitate & raritate.« Vgl. De natura, 406: »Pauci enim advertunt, veram rationem cur corpora non se mutuo penetrent esse quantitatem actualem, qua corpora a mutua dimensionum suarum invasione muniuntur, seu sese a spatio quod occupant mutuo repellunt; quaque sublata, se mutuo facillime penetrant, & in eodem spatio uniuntur.« Vgl. auch ebd. 404; 381; 392: »materia impenetrabilis est solummodo durante eadem actuali extensione.«; 461 ebenfalls mit deutlich militärischer Metaphorik: »Substantia enim una, nisi vel mole corporea, vel quantitate terminata & actuali (ab illa resultante) armetur, aliam a suo loco non trudit aut arcet.« De natura, 378. Vgl. auch 381: »aliud est postulare aliquam extensionem; aliud, omnem partem necessario postulare situm diversum ab omnibus aliis. Quaelibet enim

257 Andererseits sollen nun auch die spirituellen Substanzen partes extra partes haben, so daß im Ergebnis die Teilstruktur von Materie und Geist dieselbe ist, auch wenn die Teile der spiritus nicht einander anschlagen oder bei Kontraktion dichter werden.83 Den Begriff der Ausdehnung nämlich wendet Glisson auf beide Klassen von Substanzen an. Möglicherweise ist er hier durch den Cambridger Platoniker Henry More und dessen Enchiridion Metaphysicum beeinflußt, das genau ein Jahr vor dem Erscheinen des Traktats De natura ebenfalls in London herauskam.84 Im Fall der materialia, so Glisson, ist die Ausdehnung Quantität oder Körperlichkeit (quantitas, extensio corpulenta oder infarcta), im Fall der immaterialia hingegen »Anwesenheit«, etwa die der Seele im Körper (praesentia, extensio praesentialis). 85 Beide Arten von extensio implizieren nun aber, so Glisson, ein reales Ubi als Intermedium zwischen einer unmöglichen Infinitausdehnung und einer für Realexistierende ebenso unmöglichen mathematischen Punkthaftigkeit. Denn der Punkt, schreibt Glisson, ist nicht hinreichend, um eine Substanz zu verorten, ist er doch bloße Negation: Certum est primo, tam Angelos quam corpora esse substantias finitas, & esse reales entitates. Quod ergo realiter in natura exsistant, hoc habent commune, quod reduci nequeant ad punctum mathematicum; & quod sint finita, non posse in immensam magnitudinem extendi. Sunt ergo in aliquo intermedio Ubi inter punctum mathematicum & extensionem infinitam. […] punctum non est sufficiens Ubi in quo totum substantiale comprehendatur.86

Weil die Präsenz der Geister auf diese Weise als physikalisch-räumliche Gegenwart interpretiert wird, klingt der Topos vom spiritus als »totus in

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pars substantialis aliquem situm vel intra alias partes, vel extra eas, requirit; non autem quaelibet sibi situm peculiarem, & plane distinctum a situ omnium aliarum partium, requirit; nimirum pars qua substantialis hoc non requirit.« Ganz ähnlich auch ebd. 100, 388. Vgl. De natura, 379, 395, 461. Vgl. Burtt: The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, 127–133. More vertrat die These einer Ausgedehntheit bereits in Immortality of the Soul (1662); vgl. auch die Hinweise in Garber: Soul and mind, 777. Ein direkter Einfluß auf Glisson ist bislang nicht nachweisbar. Vgl. De natura, 383: »Habent ergo omnes substantiae finitae hoc sibi necessario adhaerens, quod sunt extensae; at cum hac differentia, spiritus extensionem tantum praesentialem seu spiritualem, corpora mole substantiali infarctam, sibi postulare.«; 385: »Non enim puto spiritus esse substantias organicas, sed uniformes & sibi similes per totam substantiam. Verum ex dictis constat eos esse extensos, quanquam spirituali modo; & differentiam inter materiam & spiritus non sumendam esse ab extensione, & carentia extensionis, sed a mole substantiali, & carentia istius molis.«; 387: »extensionem materiae mutabilem proprie appellari quantitatem: coextensionem vero spiritus […] non vocari quantitatem, sed solummodo immaterialem & accidentalem praesentiam; […].«; 393: »Ex dictis manifeste elucescit notabilis differentia inter extensionem Angelicam & materialem: illam tantum praesentialem esse; hanc esse corpulentam: illam nunquam expellere aliud corpus; hanc, durante eadem actuali extensione, expellere omne aliud corpus e situ suo.« De natura, 383.

258 toto et totus in qualibet parte« in der Tat absurd; bedeutet er doch, daß der Geist von sich selbst getrennt werde. »Hoc qui capere potest, capiat; meus intellectus nullo modo capit.«87 Haec quidem sententia [= die, daß die moles aus substantiellen Teilen besteht, deren una non est alia, K.H.] iis satisfacere potest qui existimant materiam ex eo tantum a natura spirituali differre, quod illa habeat partes distinctas, haec nullas. Dicunt enim spiritum esse totum in toto, & totum in qualibet parte. Ut in cubo oblongo ABC supponatur spiritus coextensus. Totus ergo est in A, totus in B, & totus in C. Hoc in natura infinita facile admitti potest, quia sufficit concipere ejus entitatem ut superantem omnem captum finitum: Verum rem finitam sic concipere, & multiplicare in tres rationes totales, in re easdem, sed loco dissitas, reducere videtur intellectum ad quandam repugnantiam in seipso. Non possumus enim concipere eandem finitam rem simul in diversis locis: dividitur enim a se.88

Geist und Materie sind in Glissons Entwurf somit gleichermaßen durch Teilungs- und Trennungsvorgänge affizierbar. Die partes-intra-partes-Struktur der Materie bedeutet Selbstaufnahme (substantiae receptio sui in seipsam), Eindringen in sich selbst (intrusio suiipsius), Selbstabsorption (absorbitio suiipsius). Die Materie »verbirgt« ihre Teile ineinander, kontrahiert und konzentriert sich, oder aber sie läßt verborgene Teile hervortreten, expandiert und verdünnt sich. Sie »faltet« sich »auf« und »entfaltet« sich wieder – Glisson verwendet hier das Bild Bacons von der »Falte der Materie«: complicatio sui seu condensatio, explicatio seu rarefactio. 89 tam partes, modo extra partes, mox possunt in seipsas contrahi, aut occultari intra alias; quam partes intra alias latentes possunt se explicare, & seorsim extra alias stare: scilicet utrovis modo mediante motu vel condensationis, vel rarefactionis.90 Hanc intrusionem aut absorbitionem [sic!] materiae suiipsius in seipsam Vicecomes elegantissime exprimit nomine plicae materiae. Datur (inquit) plane materiae plica. Materia enim se in seipsam modo contrahit seu plicat, & densatur, modo explicat seu se expandit, & attentuatur.91

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De natura, 386. De natura, 99; ausführlicher mit derselben Argumentationsidee auch 384–386. Vgl. auch 383: »quod dicunt de spiritibus, eos esse totos in toto, & totos in qualibet parte, de substantia finita intelligibile non est. Quid enim est esse totum substantiale finitum? Non est esse punctum mathematicum; […] imo nec est esse in puncto mathematico; hoc enim non est esse in reali ubi.« Vgl. De natura, 379; vgl. auch ebd. 101, zitiert in Anm. 80. De natura, 100. Vgl. auch 101: »contractio[…] molis in seipsam«; sowie 406: »in condensatione, materia retrahit suas partes exteriores in interiores, & interiores proportionaliter densiores fiunt; in rarefactione, partes prius intra alias conclusae egrediuntur, locumque sibi peculiarem exposcunt, & rariores fiunt.« De natura, 353. Vgl. Bacon: Novum Organon II, 48, Works I, 347: »nobis constat, rationem illam, propter quam introductum est Vacuum a Leucippo et Democrito (videlicet quod absque eo non possent eadem corpora complecti et implere majora et minora spatia), falsam esse. Est enim plane plica materiae complicantis et replicantis se per spatia, inter certos fines, absque interpositione Vacui […].« Fattori nimmt die Stelle bei Bacon in ihrer Diskussion des Baconschen Formbegriffs auf, vgl. Introdu-

259 Die Ausdrücke der multiplicatio oder multitudo materiae gehören bereits zum terminologischen Standard hochmittelalterlicher Dichte-Theorien.92 Auch die Konimbrizenser referieren im Namen der Skotisten den intrinsischen Aufbau der Materie aus partes substantiales, welche, ohne Quantität eingefaltet und verworren, vermöge der Quantität ausgewickelt und entfaltet werden. Argumenta vero primi art. ita solues. Ad primum dicito cum Scoto […] eiusque discipulo Bassolio […] Ioanne Maiore […], materia ex se, ac seclusa etiam quantitate, habere partes substantiales, ex quibus intrinsece componitur; non eas tamen habere extensas, & ordinatim dispositas, atque vnam extra aliam, nisi ministerio quantitatis, cuius officium est eiusmodi partes, alioqui implicitas & confusas, explicare & euoluere.93

Angesichts seiner allgemeinen Empfänglichkeit für die skotistische Materieauffassung dürften derartige Formulierungen für Glisson ebenso stimulierend gewesen sein wie der Text Bacons selbst, auf den er sich als einzigen explizit beruft. Bei Bacon und Glisson steht die Rede von der Falte im Dienste einer dynamisierten Materietheorie, derzufolge die Materie das kontraktil-dilatativ selbstbewegte Substrat der Naturdinge ist. So liegt das regimen, die Herrschaft über Verdichtung und Verdünnung, in der Materie selbst, die sich spontan, ab intus zusammenzieht und ausdehnt, um eine Verbesserung ihrer Situation zu erreichen oder sich selbst auch nur zu erhalten (securitatis gratia). 94 Die Wendung von der plica materiae steht hier symptomatisch für die Ineinssetzung von Natur- und Geisttheorie im Kon-

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zione a Francis Bacon, 88f. Vgl. ferner De natura, 381: »mutata extensione praesenti, nihil prohibet quin una pars substantiae aliam subeat, & novam dimensionem acquirat; aut una pars sub communi dimensione cum aliis latitans sese explicet, & propriam dimensionem sibi asserat.« Das Bild der Falte auch ebd., 414, 417, 418. Die Termini des in seipsam absorbere, des concentrare, contrahere, dilatare und expandere auch 376, 379, 392, 415, 418 u.ö. Vgl. Donati: La dottrina delle dimensioni indeterminate in Egidio Romano, 178–191, mit Bezug auf Thomas und Aegidius von Rom. Cusanus verwendet das Bild der Ausfaltung selbst für mathematische Entitäten; so ist die Linie eine explicatio des Punktes; vgl. De docta ignorantia I, 12; nach Lohr: Metaphysics, 593. Commentarii Collegii Conimbricensis in octo libros Physicorum I, 3, art. 3, 96. Vgl. die oben in Anm. 8 angeführten Zitate; darüberhinaus: De natura, 376: »Materiae enim substantia in hisce motibus vel ad majus spatium ambitiose expanditur; vel, quasi securitatis gratia, ad minus spatium contrahitur, & arctius concentratur.«; ganz ähnlich 418; ferner 415: »De regimine horum motuum. […] Reguntur ergo hi motus condensationis & rarefactionis vel ab intus, vel ab extra, vel partim ab intus, partim ab extra. Regimen ab intus dicitur, ubi materia, a nulla causa extranea coacta, se sponte dilatat aut contrahit. Ut in granulatione mellis, mannae, olei, sacchari candi, salium, materia se ad sua similia sponte contrahit, & arctius se unit: in liquatione eorunden sponte expanditur, & se diffundit.« In den Fällen einer fremdinduzierten Verdichtung oder Verdünnung, etwa durch Einfluß von Wärme oder Kälte, beruhen die Verdichtungs- bzw. Verdünnungsbewegungen auf einem »naturae zelum se ab injuria illata vindicandi« und sind damit zugleich ebenfalls selbstinduziert; 416. Vgl. auch ebd.: »Aer enim in thermometro conclusus sponte sese modo expandit, modo contrahit, prout calor aut frigus tempestatis variat atque invitat.«

260 zept einer spiritualisierten, mit Leben und Kräften durchsetzten Materie. Nur die moles substantialis trennt die gleicherweise (univoce) selbstbewegten und durch Teilung affizierbaren Körper und Geister noch voneinander.95 Ebenso wie die spirituellen durchdringen die physikalischen Substanzen einander, und allein der Widerstand der dabei aufgehäuften Masse steht dem Zusammenfall der physischen Welt zum mathematischen Punkt noch entgegen.96 Im geisttheoretischen Diskurs steht der Gestus des Ein- und Ausfaltens für eine mit Cusanus anhebende und in der Leibnizschen Monadenlehre kulminierende Tradition, die mens in nichts anderem als »Implikaten ihrer selbst«97 zu sehen; die Tätigkeit des Geistes meint seine Selbstentfaltung. Für das so bestimmte geistphilosophische Paradigma ist es charakteristisch, den Intellekt als aktive, lebende Substanz, als Kraft (vis, virtus) zu konzipieren. Das Bild der Falte bietet sich hier begriffsstrukturell als eine räumliche Metapher an, um gleichermaßen den Sachverhalt der Konzentration und Dichte wie auch den der Möglichkeit spontaner Auseinanderlegung des derart Verdichteten wiederzugeben. In eben dieser Funktion und in den Kontext der Räumlichkeit zurückgestellt, dem sie ihrem Literalsinn nach entstammt, kommt die Faltenmetaphorik nun auch dem naturphilosophischen Denken Glissons gelegen, der der Materie selbst eine Form der Selbstgegenwart zuspricht und bereit ist, gar noch ihr zeitliches Überdauern als Vorgang der Erinnerung zu interpretieren. Leibniz bedient sich spätestens seit 1676 der Rede von der plica, ebenfalls im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit der Kontinuitätsproblematik. Im Dialog Pacidius Philalethi erklärt er – ebenfalls in Auseinandersetzung mit Descartes’ Principia Philosophiae II, 33 – die in sich unendlich differenzierte Bewegung des Körperkontinuums als Biegung oder Faltung und wendet damit die Konsequenz seiner Auflösung in kleinste, zusammenhanglose Teile ab: divisio continui non [est, K.H.] consideranda ut arenae in grana, sed ut chartae vel tunicae in plicas […].98

Selbst flüssige Materie hat, bei aller Anpassungsfähigkeit an noch so enge Zwischenräume, einen gewissen Zusammenhalt (aliquid tenacitatis) und widersteht (resistentia) dem Zerfall in pulverem.99 Die Verwendung der Faltenmetapher steht somit beim jungen Leibniz für die Auffassung einer

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Vgl. De natura, 98: »Quaerimus ergo adhuc essentialem differentiam inter materiam & formam, sed nulla apparet, donec recurramus ad molem substantialem.« S. sogleich unten 262f. So Leinkauf: ›Diversitas identitate compensata‹, 65; vgl. zum Hintergrund den gesamten Artikel. Gilles Deleuze stellt das Bild der Falte in den Mittelpunkt seiner poststrukturalistischen Leibniz-Interpretation: Die Falte. Leibniz und der Barock. Pacidius Philaleti, AA VI, 3, 555. AA VI, 3, 554f.

261 durch den dynamischen Zusammenhalt ihrer Teile charakterisierten Materie. Ebenfalls arbeitet Leibniz schon seit frühester Zeit den Begriff der partes indistantes in seine Punktkonzeptionen ein, um die trotz ihrer Unteilbarkeit in sich differenzierten Indivisibilien als irreduzible Prinzipien von verschieden großen Winkeln, von verschieden gekrümmten Linien, oder von Geraden, die Bewegungen unterschiedlicher Geschwindigkeiten darstellen, einzuführen. Dem korrespondiert die Unterscheidung zweier Quantitätsbegriffe: die Unterscheidung von extensio – Größe, die teilbare Ausdehnung meint (partes distantes ab alia partes) – und magnitudo – Größe, die ein nur indivisibilienimmanentes, zur Einheit verdichtetes »Vieles«-, »Größer«- oder »Mehr-Sein« zuläßt (partes indistantes). 100 In der reifen Monadentheorie legt Leibniz dann einen spiritualistischen Ausweg aus dem Labyrinth de compositione continui vor; in ihr sind metaphysische Punkte die »wahren Atome der Natur«,101 sind geistartige Indivisibilien wenn auch nicht die räumlich aufbauenden Teile, so doch die fundamenta oder requisita alles Physischen.102 Hier steht das Bild der Falte schließlich für den Sachverhalt der Konzentration einer phänomenalen Vielheit zur innermonadischen Einheit, und genau diese Konzentration ist die Perzeption der Monade.103

5.3

Transformation eines Begriffes: die unbestimmte Quantität als quodditas

Glisson sieht die erste Materie im Dreieck von Ausdehnung, Dichte und Masse. Fortwährend befindet sie sich unter der Bedingung einer zweifachen akzidentell-quantitativen Bestimmtheit: immer füllt sie extensiv einen bestimmten Raum aus (dimensio), dabei kann der Grad der Ausfüllung intensiv variieren (densitas). Die moles selbst ist die dritte, substantiellunveränderliche Bezugsgröße (substantia materiae). Ebenso wie die natura energetica und die subsistentia fundamentalis ist sie ein conceptus inadaequatus der ersten Materie, ist also die Materie selbst unter dem Gesichts-

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Vgl. Theoria motus abstracti, AA IV, 2, 264–268. Monadologie, §3, GP VI, 607: »Et ces Monades sont les véritables Atomes de la Nature et en un mot les Elemens des choses.« Vgl. Leibniz an des Bosses, 16.06.1712, GP II, 451; Leibniz an de Volder, 30.06.1704, GP II, 268. Vgl. die bereits oben in 4.7, Anm. 287, angeführten Stellen; das Bild der unendlichen Falten der Seele ferner: Monadologie, §61, GP VI, 617: »une Ame ne peut lire en elle-même que ce qui y est representé distinctement, elle ne sauroit developper tout d’un coup ses replis, car ils vont à l’infini.«; Principes de la Nature et de la Grace, fondés en Raison, §13, GP VI, 604: »On pourroit connoître la beauté de l’univers dans chaque âme, si l’on pouvoit deplier tous ses replis qui ne se developpent sensiblement qu’avec le temps.«

262 punkt ihrer Funktion, Dichte, Schwere und Größe zu prinzipiieren.104 Die moles oder Substanz der Materie bleibt durch alle Zeiten unvermindert und dieselbe.105 Mit dem Begriff der moles wird die Stoßrichtung der Naturtheorie Glissons vollends deutlich: die Substantialnatur ist gleichermaßen metaphysisch selbständige Entität, Energie und Masse. materia quanto in minus spatium contrahitur, tanto densior fit; totaque moles manet, quanquam sub alia densitate, aliaque dimensione.106

Die Körperlichkeit an sich (corporeitas) ist hier nicht als Dreidimensionalität konzeptualisiert, wie in den spätantiken Schulen, bei Avicenna und im Averroismus; Körperlichkeit meint an erster Stelle Massebegabung, Ausstattung mit einer unveräußerlichen, substantiellen moles. Dimensionalität ergibt sich erst, wenn das Substantielle unter die Bedingungen eines akzidentellen Phänomenbereichs gestellt ist. Eine dieser möglichen Bedingungen ist es, daß die sich verdichtende Materie infolge ihrer moles in einen Zustand der Selbstsättigung gelangt, über den hinaus sie einer weiteren Konzentration widersteht; Glisson führt hier das Beispiel reinen Goldes an. Diesen Dichtegrad, so Glisson, könnte man uneigentlich als plenum bezeichnen, auch wenn kein absolutes Maximum an Intensität erreicht sei. Und auch die Verdünnung macht halt in einem letztmöglichen Grad, noch bevor der Zustand der räumlichen Leere eintritt. In modifiziertem Sinne könnte man hier von einem vacuum sprechen, so im Fall des Lichtes, des Äthers oder der Flamme. Und da Extension und Intension im Verhältnis der umgekehrten Proportionalität ste-

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Vgl. De natura, 87: »Materia prima eam significat qua perpetuam & immutabilem, una cum omnibus perpetuis constitutionibus ad se spectantibus. […] Ad hanc inadaequatum materiae conceptum spectant ea omnia quae naturae materiae necessario insunt. Revocantur autem ad sex capita: 1. ad exsistentiam; 2. ad subsistentiam fundamentalem; 3. ad naturam energeticam, ejusque tres primas facultates, perceptivam, appetitivam, & motivam; 4. ad potentiam receptivam formarum; 5. ad molem materiae; 6. ad ejus rationem essendi subjectum accidentium materialium, nempe alicujus extensionis, ut & alicujus continuitatis & divisibilitatis.« All diese Momente sind inadäquate Begriffe der ersten Materie, vgl. ebd., 95, 104 Vgl. De natura, 104: »Nam ut tota moles materiae quae fuit ab initio in hunc usque diem durat; ita tota materiae copia absque vel minima diminutione ab initio ad praesens tempus continuatur; & utraque similiter perpetuo permanserit; quin & utraque materiae substantiam dicit. Ipsa enim partes substantiales seu entitativae materiae eadem copia & mole nunc sunt qua olim fuerant; […]. Esto ergo copiam & molem eandem materiae substantiam denotare: molem vero eam dicere quatenus principium est corpulentiae, resistentiae, densitatis, gravitatis, &c. copiam vero eandem, quatenus tota sufficit ad structuram universi, aut quatenus haec vel illa ejusdem portio sufficit, superflua est, aut deficit, respectu alicujus operis ex ea conficiendi.« Die jeweilige copia wird durch unio und divisio festgelegt und betrifft nicht die extensio, sondern die continuitas der Materie; vgl. ebd. 435. De natura, 353. Vgl. auch 376: »Extensio enim actualis accidens est, & absque auctione aut diminutione substantiae mutari potest.«

263 hen, bedeutet dies, daß die Nullausdehnung – der mathematische Punkt – ebensowenig Realität werden kann wie die Ausdehnungsunendlichkeit. Folglich besitzt die Materie immer eine dimensio intermedia zwischen den zwei extensiven Extremen Punkt und Unendliches und den intensiven Grenzwerten Plenum und Vakuum.107 Quod materia prima perpetuo sibi aliquas dimensiones retinet, ex eo evincitur, quod […] in maxima cujus capax est expansione, semper in sua substantiali entitate aliquid per modum crassimenti aut farcimenti insinuet, ita ut quo frequentius in aliquo spatio multiplicetur, eo magis idem infarciat, & ita demum repleat, ut nihil materiae amplius intrudi possit. […] neque potest in infinitum expandi, neque in infinitum contrahi aut accumulari in eodem spatio. Nunquam igitur reducitur, aut reduci potest, ad punctum mathematicum, sed semper aliquid spatii, modo plus, modo minus, occupat, […]. Necesse ergo est ut aliquas dimensiones sibi perpetuo asciscat, neque iis se penitus spoliari sinat. […] Jam vero si materia neque in infinitum expandi, neque ad punctum mathematicum contrahi queat, necesse est maneat sub aliqua dimensione intermedia; […].108

Es ist nun dieses intermediäre Ubi, 109 das Glisson mit dem Terminus der quantitas interminata bezeichnet. Moles ergo est ratio ob quam materia est perpetuo subjectum alicujus materialis quantitatis interminatae.110

Die erste Materie ist in Glissons Denken immer schon physisch, räumlich lokalisiert, resistent und hat mit dem unkörperlichen Substrat der Aristoteles-Kommentatoren nur noch wenig gemeinsam. Vielmehr scheint es das konkrete, sich dem Seziermesser entgegensetzende Material des Anatomen zu sein, das bei Glissons Begriffsbildung Pate stand. Während Zabarella die prima materia in zweifacher Hinsicht diskutiert: erstens als Körper in der Kategorie der Quantität, d.h. als Zugrundeliegendes dreier Dimensionen, das zusammen mit der Form die Einzeldinge konstituiert und insofern Teil (pars) ist, und zweitens als allgemeinstes Genus in der Kategorie der Substanz, das von allen Gegenständen prädiziert wird und in dieser Allumfassung als Ganzes (totum) angesprochen werden kann,111 ist es für Glisson eine Frage der Profession, sich zu bescheiden:

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Vgl. De natura, 106: »Enimvero in hoc sensu dari plenum & vacuum existimo. Plenum, in quod nihil amplius materiae immitti potest: & vacuum, quod materiae crassimento non eo usque farcitur, quin plus excipiat. Intelligo autem in summa condensatione materiam esse plenam sui & saturatam, nec ulterius incrassari aut densari posse. […] E contra vero, in ultima attenuatione materiam esse valde jejunam, & suo modo vacuam; (non quod contineat spatiola in quibus nihil est, sed quod multo plus farciminis admittere possit.)« Vgl. auch ebd. 407. De natura, 105f. Vgl. auch 106f.: »moles materiae neque diffusione in infinitum dispaletur & evanescat, neque contractione ad punctum mathematicum revocetur, seque adeo suis dimensionibus exuat.«; auch 101, 379. S.o. 257. De natura, 379. Vgl. De prima rerum materia II, 223: »alio tamen modo dicitur materia rerum omnium, alio genus generalissimum res omnes complectens: dum enim sumitur ad

264 Physicus considerat materiam quatenus est pars, non quatenus totum universale; & consequenter non qua genus, sed qua conceptus objectivus realiter exsistens.112

Die erste Materie ist in medicis konkrete physische Realität; das Nachdenken über sie gibt keinen Anlaß zu logischen Debatten. Dementsprechend trivialisiert sich auch die Idee der quantitas interminata zur abstrakt-nominalistischen Daßheit, wie er auch im Neologismus der similitudo quodditativa vorliegt.113 quantitas interminata est […] inadaequatus conceptus, abstrahens ab omnibus terminatis extensionibus (quarum materia capax est) affirmationem, quod earum aliqua materiae perpetuo inest.114

Der Terminus der unbestimmten Quantität steht damit lediglich für das bloße Faktum der permanenten Präsenz jeweils variierender Ausmessungen in einer Materie, die zwischen Kontraktion und Expansion, Auf- und Entfaltung hin- und herpulsiert.

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modum partis, est prima omnium rerum materia, quae est potestate res omnes, & fit singula res per receptionem formae; dum autem sumitur ad modum totius, & ut confuse omnia complectitur, & de omnibus praedicatur, ita est omnium genus; […].« Vgl. auch ebd. 191, 206, 231, sowie zum Verhältnis der beiden Verstehensweisen 217. De natura, 109f. Vgl. oben 87f. De natura, 393. Hervorhebung im Original. Vgl. auch ebd. 389, 394, sowie die ausführliche Definition, die Glisson 392f. gibt: »Quantitas enim interminata incompleta entitas est, & […] inadaequatus conceptus. Non enim totam rationem seu quidditatem cujusvis dimensionis actualis exprimit, sed tantum quodditatem alicujus dimensionis actualis: hoc est, declarat quod materia perpetuo informatur aliqua dimensione actuali; non autem ullius unius actualis dimensionis rationem completam complectitur, sed quasi communem quandam rationem ab omnibus individuis abstrahit.«

6

Schlußbetrachtungen

6.1

Glisson als »Animist«? Zum Naturbegriff im Neustoizismus

Der Befund der »Vortrefflichkeit« der Natur in der Ökonomie der Naturdinge provozierte die Autoren seit Hippokrates zu Äußerungen der Bewunderung und Ehrerbietung, den sogenannten encomia naturae. Unter dem Eindruck ihres planvollen und »gerecht« zumessenden Vorgehens stellt man die Natur als wissende und fürsorgliche Architektin dar. Scaliger setzt sie als Samenform an, die weiser und würdiger ist als die Seele des entstehenden Lebewesens, der sie die Residenz bereitet: »Illa uero uirtus tam nobilis templi architecta, sapientissima ab omnibus Philosophis iudicata est.«1 Harvey zufolge übertrifft die Natur noch die anima rationalis des Menschen an Weisheit: Quoniam igitur in pulli fabrica, ars & providentia non minus elucescunt, quam in hominis ac totius mundi creatione; necesse est fateamur, in generatione hominis, caussam efficientem ipso homine superiorem & praestantiorem dari: vel facultatem vegetativam, sive eam animae partem, quae hominem fabricat, & conservat, multo excellentiorem, & diviniorem esse, magisque similitudinem Dei referre, quam partem ejus rationalem […].2

Auch wenn Harvey es sogleich als die Bildung einer täuschenden Analogie zwischen den Werken der deifizierten Natur und denen der menschlichen Kunst entlarvt,3 den Naturagentien Intellekt, Abwägung, Kunstfertigkeit

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Scaliger: Ex. VI, 5, fol. 14r. Ex. 50, 194. So auch Ex. 54, 228: »Quamobrem, si ex operationibus fas est de facultatibus judicium ferre; vegetativae operationes potius videntur arte, electione, & providentia institui; quam animae rationalis, mentisve actiones: idque etiam in homine perfectissimo […]. Superior itaque, ut diximus, & divinior opifex (quam est homo) videtur hominem fabricare, & conservare: & nobilior artifex (quam gallus) pullum ex ovo producere.« Vgl. Ex. 50, 194: »Vel saltem fatendum est, in naturae operibus, nec prudentiam, nec artificium, neque intellectum inesse: sed ita solum videri conceptui nostro, qui secundum artes nostras & facultates (ceu exemplaria a nobismet ipsis mutuata) de rebus naturae divinis judicamus: quasi principia naturae activa, effectus suos eo modo producerent, quo nos opera nostra artificialia solemus; consilio nempe, & disciplina ab intellectu sive mente acquisita. At vero Natura, principium motus & quietis in omnibus, in quibus est; & anima vegetativa, prima cujuslibet generationis caussa efficiens; movent, nulla facultate acquisita, (sicut nos) quam vel artis, vel prudentiae nomine indigitemus; sed tanquam fato, seu mandato quodam secundum leges operante: simili nempe

266 zuzusprechen, ist Glisson sich nicht sicher, inwieweit sein Naturbegriff mit den Ausführungen seines Lehrers zur Deckung gebracht werden kann – es könnten eben diese Zweifel sein, die Glisson vom Rekurs auf das Konzept des tactus naturalis seines Lehrers abhalten, ein Rekurs, der ja sachlich zunächst mehr als angemessen erscheint.4 Denn sapientissima, so Glisson, sei die Natur allein in Hinsicht auf den Begriff ihrer selbst, der ihr in ihrer natürlichen Perzeption gegeben ist. Ihre Weisheit besteht in der primitiven Selbstdurchsichtigkeit der solipsistischen Substanz: »domi, nihil foras«.5 Dies ist der Vorbehalt, den Glisson gegenüber Scaliger und Harvey hegt: den Immanentismus der Natur als metaphysisch-substanztheoretischen Unterbau ihrer Epigenesetheorien nicht hinreichend geklärt zu haben. Erst auf diesem Hintergrund nämlich läßt sich die eigentümliche Perfektion der Naturalperzeption, der ebenso »scharfäugigsten« wie primitivsten aller Formen von Sensitivität, präzisieren.6 Diese leitet sich nicht vom »perfectissimus modus intelligendi« her, stellt sie doch gerade den untersten, niedrigsten Ausbildungsgrad von Empfindung (»humillima & infima basis omnis perceptionis materialis«) dar: Non dubium est quin vis plastica perceptione naturali in formatione foetus utatur, eaque dirigatur: sed simplici, directo, & necessario modo procedendi, absque arte, deliberatione aut consilio, imo absque ratione aut ratiocinio, simulque absque errore, (nisi materia redundet auf deficiat) opus suum perfectum edit. Haec perfectio (ut recte notat Harveus) non est aestimanda quasi a perfectissimo modo intelligendi perveniret, cum sit humillima & infima basis omnis perceptionis materialis, & sensus sit ultima perfectio ad quam aspirare aut promoveri vel solet vel potest.7

Glisson war die präzise Trennung von natürlicher und sinnlich-animalischer Perzeption außerordentlich wichtig, denn mit ihr steht und fällt das Projekt seiner Naturtheorie, die die materielle Natur als autark erweisen soll und

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impetu, modoque, quo levia, sursum; gravia, deorsum feruntur.«; und ebd. 195: »Nam quod in nobis operationum artificialium principium est, diciturque ars, intellectus, aut providentia; id in naturalibus illis operibus, est Natura: (quae au)todi/daktoj est, & a nemine edocta) quodque illis connatum & insitum, id nobis acquisitum.« Vgl. De natura, Ad Lectorem, §15, fol. c2r: »Celeberrimus D. Harveus non longius ab hoc [= sein eigenes, K.H.] judicio de vi plastica aberat, quanquam nonnihil dubitem an perceptio naturalis ei perfecte innotuerit.« So Glisson in die Richtung Scaligers gesprochen; vgl. De natura, Ad Lectorem, §14, fol. c2r: »nec obest quod dixerat [Scaliger, K.H.], illam virtutem, tam nobilis templi architectum, esse sapientissimam ab hominibus [sic!] philosophis judicatam fuisse. Sic enim est, si respicias accuratam quam habet sui objecti, nullo errore permixtam, simplicem notitiam, & admirandam foetus formationem, quam au)todi/daktoj aggreditur, & via compendiosissima perficit. Verum haec formatrix tam prudens, tam sapiens domi, nihil foras judicat aut agit. Intus habitat, sibi soli prospicit, sibi soli vivit.« Vgl. De Inadaequatis Rerum Conceptibus, G 26: »Nam profecto perceptio naturalis multo subtilior, et ut ita dicam, oculatior est ipso intellectu humano; et interim eodem multo ignobilior atque imperfectior est; immo nobilitate cedit vilissimis sensibus infimorum animalium.« De natura, Ad Lectorem, §15, fol. c2v.

267 somit die Annahme ihrer Selbstregulation machen muß, ohne sie andererseits in den Einzelmomenten ihrer ganz und gar basalen Vitalität unter falschem Vorzeichen, nämlich im Ausgang vom perfectissimus modus intelligendi »von oben« zu spiritualisieren oder gar, wie er gegen van Helmont geltend macht, ein Moment der Mutwilligkeit in die Erklärung natürlicher Prozesse einzubringen.8 Medizintheoretiker und Naturphilosophen, die wie Glisson der vitalistischen Tradition folgen, sehen sich auf ein zwar perzeptives, strebendes, selbstbewegtes, jedoch zugleich insoweit unpsychisches, als durch sein Gesetz determiniertes »Inneres« des jeweiligen Naturdings verwiesen. Für dieses »natürliche« Innere werden dennoch konzeptionelle Anleihen beim Paradigma der seelischen Intentionalität gemacht (intentio naturae), 9 für die, wie bei der tierischen Sinneswahrnehmung oder dem Willen rationaler Wesen, die Möglichkeit einer freien Wahl des Objektes konstitutiv ist. Sicherlich ist hier die Tatsache förderlich, daß fu/sij und yuxh/ im aristotelischen Formbegriff mit seinem Gedanken einer durchwirkenden Gestaltung und entelechetischen Vervollkommnung zusammenfallen.10 Viele naturtheoretische Autoren setzen zudem die natura naturans, den ebenso christlich wie stoisch begriffenen Gott Jupiter und die anima mundi gleich und befrachten auf diesem Wege die Natur mit genuinen Kompetenzen spiritueller Substanzen.11 Werden in modernen Theorien der Selbstorganisation die Prozesse in der Natur- und Kulturgeschichte als isomorph angesetzt, weil man in beiden Bereichen eine Abwesenheit jeglicher Zielgerichtetheit, Intentionalität oder Normativität diagnostiziert,12 so bringen die hier referierten Autoren den Naturbegriff als das dispositionale Prinzip der Vernunftlosen wie der Menschen unter umgekehrtem Vorzeichen zur Deckung; in beiden Bezügen ist der Naturbegriff von normativteleologischem Gehalt. Die Affinitäten von Natur und Seele zu überstrapazieren, etwa im Sinne der Annahme einer Natur als Gemeinschaft wissender Agentien oder einer Welt als seelisch verwaltetem animal magnum, gilt ebenso wie die Anrufung immaterieller Ursachen bereits bei Pomponazzi, Fracastoro, Telesio und

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Vgl. oben 77. Vgl. oben 4.4. Vgl. Aristoteles: De anima, II, 1, 412b4–6, 412a27–28; II, 4, 415b9–29. Die Seele ist auch fu/sij, vgl. De gen. an. II, 4, 741a1. Vgl. ferner in aller wünschenswerten Ausdrücklichkeit Suárez: DM 15, V, 2: »Arist., 2 de Anima, definivit, animam esse actum corporis physici, etc. Quae definitio potest facile ad formam in communi accommodari, si nomine actus substantialem actum intelligamus, ut intelligi debet, et solum dicamus formam esse actum corporis physici, […].« Vgl. Scaliger: Ex. VI, 2, fol. 10r; ferner das Referat in Ex. VII, fol. 18r; sowie Harvey: Ex. 50, 195; 54, 228f. Zur Sache vgl. Leinkauf: Mundus combinatus, 49–66. Vgl. die Hinweise bei Hampe: Naturgesetz, Gewohnheit und Geschichte, 909f.

268 auch wieder bei Suárez13 als unerwünschte Einbruchstelle des »Syndroms aus Voluntarismus, Magie und übernatürlicher Einflußnahme«.14 »[P]er rationes naturales«15 und anhand der causae propriae et particulares nämlich sollen die Naturvorgänge erklärt werden. Der Rekurs auf immaterialia hat hier keinen Ort und richtete – so Fracastoro ausdrucksstark in seiner Beschreibung der Vakuumsflucht – die Natur selbst zugrunde: quando universi partes neque eum finem [der Vermeidung eines Vakuums, K.H.] agnoscunt, neque per naturam appetere poßunt, aut contrarijs iungi si contraria sint, aut sursum duci si gravia, aut deorsum si levia. neque enim dicendum (ut quidam aiunt) universi partes, tametsi non eum cognoscunt finem, dirigi tamen a cognoscente. quando hic non universalem & primam causam quaerimus, sed particularem & propriam: quale eße non potest eorum ullum, quae immaterialia sunt. Sic enim perijßet natura.16

Platonisierende Autoren müssen derartige Reaktionen auch zu Glissons Zeiten nach wie vor fürchten. Denn mit der verspäteten Hochphase der Rezeption neuplatonischen Gedankenguts in Cambridge17 nimmt man in England zugleich dessen unbewältigte »Altlasten« in Empfang. Die Neustoizismen van Helmonts und Glissons können den Eindruck einer animistischen Spiritualisierung der Natur scheinbar unumgänglich machen. Das sugkata/qesij-Modell und damit die Stellungnahme Chrysipps zur menschlichen Freiheit auf die Ökonomie der unbeseelten Naturdinge zu übertragen, kann natürlich vordergründig als Animismus oder Anthropomorphismus ausgelegt werden, sofern hier Begrifflichkeiten für Naturerklärungen beansprucht werden, die sich eigens zur theoretischen Handhabe der menschlichen Handlungssphäre herausbildeten.18 Glisson ist jedoch nur in dem Maß als Verfechter eines naturtheoretischen Voluntarismus zu be-

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Vgl. oben 150f. Vgl. Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, 157f., 160, 172. Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, 158, mit Bezug auf Pomponazzis Libri quinque de fato. Fracastoro: De sympathia et antipathia rerum liber unus, Venetiis 1546, fol. 1v. Bestätigend auch fol. 2r: »Non cognoscunt igitur eum finem substantiae et corpora quae in universo sunt, per naturam tamen resistunt ne separentur omnino. Non enim neceße est, quae gratia alicuius agunt, finem etiam cognoscere: sed alia cognoscunt quidem, alia per naturam agunt.« Die Denkfigur des mundus als großem Lebewesen wird dennoch, allerdings in Gestalt eines recht verflachten Gedankens harmonischer Lagebeziehungen bemüht, vgl. fol. 2v: »sicut enim in animali partes inter se consensum & relationem non parvam habent, et in eo certos exposcunt situs, ita & in universo quod perinde ac animal quoddam est, partes eius situs invicem consentientes expostulant. alioquin universum ipsum debite constitutum non erit.« Zum Kontext vgl. beispielsweise: Rossi: Il metodo induttivo e la polemica antioccultistica in G. Fracastoro, 490–495; Peruzzi: Antioccultismo e filosofia naturale nel De sympathia et antipathia rerum di Gerolamo Fracastoro. Vgl. Webster: From Paracelsus to Newton, 2; Rogers: Die Cambridger Platoniker, 249–252. Vgl. noch Temkin: The Classical Roots of Glisson’s Doctrine of Irritation, 311, 328.

269 zeichnen, in dem man bereit ist, die Freiheit der Wahl einer affirmativen oder ablehnenden Haltung gegenüber dem unausweichlichen Fatum als Willkürfreiheit zu erachten. Inwieweit aber die Entscheidung des Einzelnen für eine der beiden Optionen schon selbst durch den Determinismus der ei¸marme/nh festgelegt ist und in welcher Weise die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit hier tatsächlich als rehabilitiert gelten kann, war bereits unter den antiken Stoikern und ihren Kommentatoren ein kontrovers diskutierter Punkt.19 Die Redeweise Glissons von der perceptio naturalis als einer facultas necessario agens oder facultas necessaria & simplex20 sowie seine ablehnende Reaktion auf die Annahme der Möglichkeit einer willkürlichen Selbstverkehrung des archeus dürften hinreichend klären, für welche Position er selbst in dieser Frage steht.

6.2

Immanenz versus Transzendenz

Die Annahme eines natürlichen Lebens, wird dies wie bei Glisson als vollgültige Selbstnähe materieller Mikro-Partikel konzeptualisiert, kann sich aus systematischen Gründen nicht länger auf zwei grundlegende Topoi berufen, mit denen die medizintheoretische und naturphilosophische Tradition das Wirken der natürlichen Kräfte im Organischen und Anorganischen zu fassen suchte: 1. das kosmologische Paradigma der Omnipräsenz eines Göttlichen oder Einen im Universum bei platonischen Autoren (Gott-Welt-Relation), und 2. das physiologische Modell einer von bestimmten Radiationspunkten aus vermittelten Ubiquität der Natural- und Seelenvermögen im Galenismus (Seele-Körper-Relation). Denn nicht mehr die Weltseele oder Gott, sondern die erste Materie als die in allen Körpern tätige gestaltende Kraft (natura naturans, natura universalis) anzusetzen, bedeutet nicht nur, eine Form des Materialismus zu vertreten. Es impliziert ein grundlegend verändertes Verständnis davon, wie sich das Ganze und seine Teile, das Allgemeine und die Individuen zueinander verhalten – genau hierin liegt die politische Brisanz der Theorie Glissons.21 Platonische Autoren wie Ficino, Bruno, More konzipieren diese Beziehung mit Bezug auf eine die Individuen übersteigende Einheit und als Verhältnis der Transzendenz. Denn auch wenn sie von der bildenden Natur als »innerem Künstler« oder »inneliegender Ursache« sprechen – die Wirkung der Weltseele soll natürlich nicht als bloße Einwirkung eines Frem-

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Vgl. Pohlenz: Zenon und Chrysipp, 179; Forschner: Die stoische Ethik, 104–113; Long: Freedom and determinism, 181f., 187f. De natura, 210f. Vgl. oben 4.8.

270 den, Äußeren verstanden werden22 –, so bleibt das Eine von der Vielheit der Dinge, in denen es tätig ist, doch unberührt. Der Einheitsgedanke impliziert den deutlichen Vorbehalt, die formende Kraft und das geformte Zugrundeliegende zu identifizieren und das Werden und Vergehen der natürlichen Formen als Momente der Selbstverwirklichung einer autarken Natur zu begreifen.23 Gleiches gilt bei jeder Art von Hypothese entfernt stehender Ursachen, wie sie in den Konzepten der colcodea oder einer okkasionalistischen Wundertätigkeit Gottes behauptet ist. Der Naturbegriff ist hier gewissermaßen als Vexierbild angelegt und changiert zwischen dingimmanent-vielheitlichem Wirkprinzip einerseits und transzendent-einheitlicher Regulationsinstanz andererseits.24 Die vita naturae Glissons hingegen ist dezentral und immanent; jeder Materiepartikel ist hier Zugrundeliegendes einsitzender Kräfte (facultates insitae) und ohne den Beitrag einer übergeordneten Substanz solipsistischselbstgenügsamer Ausgangspunkt von Bewegungsimpulsen; vis insita und natura universalis stehen nun für konkurrierende Naturkonzeptionen.25 Im Dienste dieser Immanenzaussage stehen Glissons distinktionstheoretische Ausführungen ebenso wie seine Theorie des ens und das Konzept der biusia. In der Ablehnung jeglichen Zentralismus trifft sich Glissons Kosmologie mit seiner Physiologie, d.h. mit seiner Weigerung, die Naturalvermögen durch eine hepatische Seele prinzipiiert sein zu lassen. Konnte van Helmont noch das Ganze des Organismus mit jedem seiner Teile im tota-in-toto-Topos miteinander harmonisieren, so sind die Einzelseienden in Glissons Naturphilosophie »emanizipierte«, selbstzentrierte Konkurrenten, und in der These, sie würden von einer ihnen übergeordneten Instanz wie der Weltseele koordiniert, sieht Glisson sie nun dem Fremdeinfluß von einem entfernt Stehenden (»aliunde«26) ausgesetzt.27

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Ficino: Theologia Platonica, Opera Omnia I, 123: »Quid est ars humana? Natura quaedam materiam tractans extrinsecus. Quid natura? Ars intrinsecus materiam temperans, ac si faber lignarius esset in ligno.«; Bruno: De la causa, DI I, 233: »Da noi [l’intelletto universale, K.H.] si chiama artefice interno, perché forma la materia e la figura da dentro […].«; 310: »Lascio che l’efficiente di queste cose, chiamato da te con un comun nome Natura, lo fai pur principio interno, e non esterno, come avviene ne le cose artificiali.« Cudworth: The True Intellectual System, 155: »And thus we have the first General Conception of the Plastick Nature, That it is Art it self, acting immediately on the Matter, as an Inward Principle.« More: The Immortality of the Soul, 135: »For this vital Fabrication ist not as in artificial Architecture, when an external person acts upon Matter; but implies a more particular and near union with that Matter it thus intrinsecally shapes out and organizes.« Vgl. deutlich z.B. Bruno: De la causa, DI I, 272: »Questo vuole il Nolano, che è uno intelletto che dà l’essere a ogni cosa, […].« S. auch 234, 237, 274. Vgl. auch Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts, 403. Vgl. hierzu auch Nobis: Frühneuzeitliche Verständnisweisen der Natur. Vgl. oben 198.

271 So ist der tota-in-toto-Topos und damit ein wesentliches Paradigma des Platonismus in Glissons Philosophie nichtig.28 Bei aller Kritik an den Platonici bleibt Glisson den Platonikern dennoch verpflichtet, insoweit er die Selbstbewegungstheoreme der platonischen Seelenlehre auf die Materie überträgt.

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28

Zur zunehmenden Tendenz der Frühneuzeit, die Konzeptionen eines spiritus universalis oder einer anima mundi auszuhöhlen zugunsten einer immanentistischen Naturauffassung vgl. Leinkauf: Mundus combinatus, 35–55. Vgl. oben 257f.

Literaturverzeichnis Im Literaturverzeichnis verwendete Abkürzungen Die Verwendung von Siglen folgt, wo möglich, den Vorgaben von O. Leistner: Internationale Titelabkürzungen, 3 Bde., 8. Auflage, Osnabrück 2000. APFA

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Pr R S Med PS RE

Sud Arch Stud Leibnit

The medical renaissance of the sixteenth century. Hg. von A. Wear, R.K. French und I.M. Lonie, Cambridge usw. 1985. The medical revolution of the seventeenth century. Hg. von Roger French und Andrew Wear, Cambridge usw. 1989. Medicine in seventeenth-century England. Hg. von A.G. Debus, Berkeley/Los Angeles 1974. Notes and records of the Royal Society, London. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Altertum. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Bisher erschienen: 10 Bde. (A-Sal), Stuttgart/Weimar 1996–2001. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Allgemeine Themen. Iberische Halbinsel. Italien. Hg. von Jean-Pierre Schobinger. 2 Halbbde., Basel 1998. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3: England. Hg. von J.-P. Schobinger. 2 Halbbde., Basel 1988. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm SchmidtBiggemann, unter Mitarbeit von Vilem Mudroch, Basel 2001. Proceedings of the Royal Society of Medicine, London. Long, A.A. (Hg.): Problems in Stoicism, London 1971. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Begonnen von Georg Wissowa unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen. Hg. von Wilhelm Kroll. 1. Reihe (A-Q): 25 Bde., Stuttgart 1894–1965; 2. Reihe (R-Z): 9 Bde., Stuttgart 1914–1967; 10 Supplementbde., Stuttgart 1903–1965. Sudhoff’s Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Wiesbaden. Studia Leibnitiana, Wiesbaden.

Texte Francis Glissons Die bislang nicht gedruckten Manuskripte werden in Anführungszeichen zitiert. Die drei- bis vierstelligen Zahlen bezeichnen die betreffenden Bände der Sloane Collection in der British Library London. »Annotationes quaedam physicae.« 3310, fol. 1r–10r. »Apparatus ad naturalem Phylosophiam [sic!]« 3311, fol. 62r–64r. »Chymiatria non est optima medicina.« 3307, fol. 177r–180r. »De alijs medijs cognoscendi materiam primam« 3311, fol. 6r–7r. »De arte inveniendi ac perficiendi alias artes.« 3315, fol. 78r–96v. In folgender Gliederung: »Scopi huius artis.« fol. 78v. »De fine sive scopo huius artis.« fol. 79r. »De Historia sive de plena enumeratione experimentorum« fol. 80r–v. »De Materia Historiae.« fol. 81r–v. »Annotationes de conitione [sic!] rerum.« fol. 82r–84r. »De Fide huius historiae.« fol. 85r. »De forma naturalis historiae.« fol. 85v–86v.

275 »De tabula praesentiae« fol. 87r. »De tabula absentiae.« fol. 88v. »De delectu experimentorum in tabulis conficiendis.« fol. 89r–90v. »finis sive scopus novi organi.« fol. 91r. »Hystoria [sic!] naturae« fol. 91v–94r. »De sagacitate in colligendis historijs, et novis experimentis« fol. 95r–v. »De sagacitate in inveniendis experimentis.« fol. 96r. »De antianalogismo et inversione experimentorum« fol. 96v. »De Arthritide. Hystor: obser: etc.« 3308, fol. 23r–35v. »De Circuitu sanguinis to/ o)\ti [sic!].« 3310, fol. 393r–396r. »De cognitione materiae per viam analogiae ad materiam artificialem.« 3311, fol. 76v– 77r. »De coheraentia [sic!] partium integralium.« 3311, fol. 155r–166r. »De Ente in genere.« 3310, fol. 190v–191r. »De Ente in genere.« 3310, fol. 192r–193r. »De Ente in generalissima sua significatione.« 3310, fol. 194r–198r. »De Ente in genere.« 3310, fol. 199r. »De formatione pulli.« 3311, fol. 114r–121r. »De inquetudine [sic!]« 574B, fol. 67r–68r. »[De materia prima.]« [ohne Titel] 3311, fol. 1r–56r. Der Traktat ist in diesem Umfang – natürlich möglicherweise durch eine nachträgliche Ordnung der Blätter – wenigstens als Zusammenhang von Einzelentwürfen, wenn nicht sogar als Skizze einer einzigen größeren Abhandlung ausmachbar. Nach fol. 56r ist diese Kontinuität unterbrochen, und es scheint so legitim, die Stücke fol. 1r–56r zusammenzufassen. Im weiteren Verlauf sind zwar thematisch gleichlautende Notizen auffindbar, die im vorliegenden Verzeichnis ggf. jedoch einzeln aufgeführt werden. »[De materia prima.]« ist folgendermaßen gegliedert: »De materia prima.« fol. 1r–1v. »De principijs in gen:« fol. 2r–3r. »De principijs an sint« fol. 3r–v. »Cap. 3. De Modis quibus cognoscimus quid sunt principia nempe Materia et forma.« fol. 4r–5v. »De alijs medijs cognoscendi materiam primam.« fol. 6r–7r. »De materiae Physicae significationibus. De formae significationibus varijs.« fol. 8r– 9r. »De modis quibus pervenitur ad cognitionem materiae primae.« fol. 10r–v. a a »An materia 1. et 2. physica, habent communem naturam cum materia artificiali.« fol. 11r. »Definitio materiae absolute consideratae.« fol. 11v. »De natura absoluta materiae primae.« fol. 12r. ae »De natura absoluta materiae 1. .« fol. 13r. ae »De absoluta natura materiae 1. et an existit.« fol. 14r–v. ae »De existentia materiae 1. .« fol. 15r. »Materiae variae significationes.« fol. 16v. »De absoluta natura Materiae primae.« fol. 17r–21r [?]. »An materia sit supremum genus corporum mobilium? et de differentijs inter materiam et naturam genenericam [sic!].« fol. 22r–26r. »An materia prima existit.« fol. 27r–32v. am »De affinitate inter materiam 1. et naturam genericam.« fol. 33r–42r [?] »De Principijs in genere.« fol. 45r–v. »De principijs in genere.« fol. 46r–51v [?]. »De principijs.« fol. 52r–56r. »De principijs corporum.« 3311, fol. 74r. »De terminato et interminato 1. Nomina et affinitates.« 3311, fol. 143r.

276 »De vita materiae, materiam vivere« 3309, fol. 409r–410v. Disquisitiones Metaphysicae. 3313 (fol. 1r–122v); 3308 (fol. 13r–19r). Abgedruckt in: Giglioni, Guido (Hg.): Latin Manuscripts of Francis Glisson. (s.u. im Verzeichnis der Forschungsliteratur) »Divisio Entis in esse et essentiam.« 3315, fol. 97r. Doctrina de circulatione sanguinis haud immutat antiquam medendi methodum. (1662) 3309, fol. 341r–343v. Ediert in: Boss, Jeffrey: »Doctrina de circulatione sanguinis haud immutat antiquam medendi methodum«. (s.u. im Verzeichnis der Forschungsliteratur) r [D . F. Glisson’s Six Anatomical Lectures delivered at the College of Physicians.] 3306, fol. 1r–166r. Die Titulierung stammt nicht aus Glissons Hand. »Explicatio terminorum quorundam« 3310, fol. 395r. »Fabrica corporis organici non potest oriri ex solu motu materiae.« 3309, fol. 277r–278r. »Facultas naturalis non influit.« 3309, fol. 385r–386r. »Foetus in utero obit actiones publicas« 3309, fol. 175r–176r, 178r–v. »Hepar non est organum sanguificationis« 3308, fol. 278r. »Hepar non est principium venarum« 3309, fol. 201r–203v. »Historia decubitus proni supini et lateralis dextri et sinistri« 3311, fol. 97r–110r. »Historia densi et rari gravitates et levitates etc.« 3311, fol. 135r–138r. »Historia graduum densitatis ac raritatis« 3311, fol. 139r. »Historia processus a densitate ad raritatem et contra.« 3311, fol. 139v–142v. »Historia terminati.« 3311, fol. 144r–145r. »Historiae causarum terminati. et processus.« 3311, fol. 145v–154v. »Index Harveanus.« 3310, fol. 201r–209v. »Influxus spirituum vitalium requiritur ad exercium [sic!] facultatum naturalium.« 3310, fol. 118r–120r. »Methodus procedendi de mat: Et for.« 3311, fol. 112r. In diesem Stück scheint Glisson frühere Überlegungen, etwa [De materia prima], neu anzuordnen, beginnend mit der Prinzipiendiskussion, der Debatte um Erkenntnis und Bedeutungsspektrum von Form und Materie, übergehend zur Existenz der Materie, ihrer quantitas interminata, ihrer Perzeption und Strebung, abschließend mit ihrer Masse (copia). »Monstratur, motum sanguinis in venis esse introrsum et introrsum tantum.« 3312, fol. 121r–128r. »Motum sanguinis sive torrentem in arterijs extrorsum esse et tantum extrorsum.« 3312, fol. 106r–112r. »Officium hepatis est secretio bilis a sanguine.« 3312, fol. 44r–v. Of the notions of matter and forme of partes. 3315, fol. 179r–186r. Teil der AnatomieVorlesungen Glissons. Ediert in: Cunningham, Andrew (Hg.): English Manuscripts of Francis Glisson. (s.u. im Verzeichnis der Forschungsliteratur) »Porro circa similitudinem essentialem sciendum est […]« [ohne Titel] 3311, fol. 43r–44v. »Primordia rerum.« 3315, fol. 98r–107r. »Quanquam scopus noster non est de substantia finita in genere tractare […]« [ohne Titel] 3310, fol. 354r–361r. »Quatuor sunt partes principes in corpore humano etiam ratione individui.« 3307, fol. 141r–151v. »Quod sanguis in venis movetur tantum introrsum hoc est a minoribus et exterioribus venis ad maiores et interiores.« 3312, fol. 6r–11v. »Ratio sine experientia potius quam experientia sine ratione in arte medica est praeferenda.« 3310, fol. 79r–81r. »Res naturales sive physicae […]« [ohne Titel] 3312, fol. 77r. »Sanguinis cursus in venis est a partibus exterioribus versus cor« 3310, fol. 370r–371r. »Sanguis maternus non est nutrimentum faetus [sic!] in utero.« 3307, fol. 140r. »Sensus publica perceptio est […]« [ohne Titel] 574B, fol. 73r. »Sententia Cartesij de motu cordis non veritati consentanea« 3309, fol. 138r–138v sowie 141r–142v.

277 »Summa capita rerum naturalium.« 3312, fol. 238r. »Torrens sanguinis in venis introrsum monstratur ex administrationibus Anatomi† in thorace.« 3312, fol. 12r–16r. Tractatus de Inadaequatis Rerum Conceptibus. 3314, fol. 8r–168r. Abgedruckt in: Giglioni, Guido (Hg.): Latin Manuscripts of Francis Glisson. (s.u. im Verzeichnis der Forschungsliteratur) Tractatus de natura substantiae energetica, seu de vita naturae, eiusque tribus primis facultatibus, I. perceptiva, II. appetitiva, & III. motiva, naturalibus, &c., London 1672. Tractatus de ventriculo et intestinis, cui praemittitur alius de partibus continentibus in genere et in specie de iis abdominis. Amsterdam 1677.

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Personenregister Albert von Sachsen 251 Albertus Magnus 52 Alembert, Jean le Rond d’ 4, 7 Allen, Phyllis 8–10 Alsted, Johann Heinrich 89, 115, 158, 180 Ariew, Roger 255 Aristophanes 225 Aristoteles 2, 4, 6, 7, 9, 32, 34, 36–38, 46, 52–54, 56, 58, 60, 63–66, 81, 84, 110, 112, 115–118, 132, 134–136, 150, 152, 164, 165, 167, 178, 187, 204–206, 208, 242, 243, 247, 263, 267 Aubrey, John 55 Augustinus, Aurelius 64, 178, 199, 206 Averroes 84, 152, 173, 222, 243–246 Avicenna 64, 149–152, 168, 222, 224, 243, 262 Bacon, Francis 3, 4, 12, 16–19, 95, 139, 155, 156, 158, 163, 169, 179, 197, 223, 241, 248, 249, 253, 258, 259 Bacon, Roger 169 Basso, Sebastianus 222 Baxter, Richard 1 Beierwaltes, Werner 199, 204–208 Bernard, Claude 21 Berti, Enrico 244, 245 Biggs, Noah 12 Birch, Thomas 8, 13–17, 166, 241 Bisterfeld, Johann Heinrich 108, 238 Boas Hall, Marie 241 Boehm, A. 220, 251, 254 Boenker-Vallon, Angelika 180 Boerhaave, Hermann 95 Boss, Jeffrey 6, 44, 68 Boyle, Robert 1, 12, 14, 15, 17, 68, 83, 173, 240, 249 Browne, Thomas 31 Bruno, Giordano 158, 177, 180, 252, 269, 270 Burgundio, Ricardus 35 Burtt, Edwin Arthur 257

Caius, John 29 Cajetan, Thomas 84, 186, 187 Campanella, Tomaso 89, 197, 206, 236 Cardano, Girolamo 95, 204 Casaubon, Méric 15 Cassirer, Ernst 235, 245 Charleton, Walter 2, 11–13, 71, 240, 241 Chauvin, Stephanus 111 Chrysipp 39, 41, 43, 45, 46, 79, 80, 268 Cicero, Marcus Tullius 45, 46, 79, 80, 236, 237 Clark, George 11–13, 30 Collins, John 10 Comenius, Johann Amos 236 Conimbricenses 111, 112, 150, 180, 255, 259 Conring, Hermann 132 Cooper, Anthony Ashley, Earl of Shaftesbury 2 Courtine, Jean François 84, 87, 92, 99 Cousin, Victor 2, 6, 20, 22, 181 Cudworth, Ralph 270 Culpeper, Nicholas 12 Cunningham, Andrew 5, 13, 31, 44, 54 Cusanus, Nicolaus 205, 259, 260 Darge, Rolf 87 Debus, Allen G. 12, 60 Deleuze, Gilles 260 Demokrit 156, 174, 240, 249, 252, 258 Descartes, René 4, 5, 14, 68, 69, 83, 103, 104, 136, 137, 173, 175, 177, 178, 182, 218, 203, 252, 253, 260 Diderot, Denis 19, 25, 235, 247 Digby, Kenelm 68 Dijksterhuis, Eduard Jan 26, 173 Dilthey, Wilhelm 207, 208 Diogenes Laertius 45, 79, 135 Donati, Silvia 243, 259 Duchesneau, François 51, 52, 95, 176 Duns Scotus, Johannes 84, 87, 99, 112–114, 118, 128, 187, 188 Dutens, Ludwig 22 Edward VI. 8 Edwards, Jonathan 192

296 Edwards, William F. 244, 245 Elizabeth I 8 Ent, George 3, 13–15, 54 Epiktet 79 Epikur 173, 237, 239, 240 Evelyn, John 14, 240 Fabian, Bernard 12 Fabrici, Girolamo, ab Aquapendente 9, 10, 54–56, 59, 60, 62, 225 Feingold, Mordechai 5 Fernel, Jean 30–33, 36–39, 42, 43, 50, 65, 72, 165 Ficino, Marsilio 68, 199, 204–206, 223, 269, 270 Flasch, Kurt 206 Fleitmann, Sabina 14, 71 241 Fonseca, Pedro da 86, 89 Forscher, Maximilian 33, 46, 80, 81, 226, 269 Fracastoro, Girolamo 70, 267, 268 Frede, Michael 112 Freedman, Joseph S. 84, 89 Fromondus, Libertus 79 Gabbey, Alan 182, 255 Garber, Daniel 182, 257 Galen, Claudius 6, 9, 24, 29–35, 37–43, 45–50, 52, 53, 55, 56, 62, 66, 72, 75, 79, 176, 204 Galilei, Galileo 14, 241, 244, 245 Gassendi, Pierre 71, 173, 240 Giglioni, Guido 2, 8, 20, 23, 70, 71, 82, 85, 86, 177, 178, 213, 239 Gillespie, Charles 11, 13, 14, 16 Glanvill, Joseph 12 Göckel, Rudolph (Goclenius) 89, 134– 137, 169, 191, 245 Goddard, Jonathan 13–16 Gorraeus (Gorris, John de) 30–34, 36– 43, 62, 65 Goudriaan, Aza 84, 86, 87, 103, 104 Goulston, Thomas 30 Grafton, Anthony 74, 223 Haller, Albrecht von 21, 47, 51, 132 Hartlib, Samuel 14, 236 Harvey, William 5, 6, 10, 11, 13, 14, 17, 24, 28–32, 43, 44, 52, 54–56, 58–67, 71, 137, 138, 158, 176, 177, 197, 204, 244, 265–267 Helmont, Franciscus Mercurius van 71 Helmont, Johann Baptist van 6, 12, 24, 67, 70–75, 77–79, 81, 82, 153, 158, 166, 172, 173, 177, 180, 195, 197,

204, 209, 212, 219, 222, 223, 227, 229, 239, 267, 268, 270 Henrich, Dieter 206 Henry, John 1, 2, 5, 8, 20, 23, 181, 182, 239, 240 Hermes Trismegistos 223 Hippokrates 9, 31, 46, 75, 265 Hobbes, Thomas 83, 136, 182, 237, 240 Holdsworth, Richard 8 Hollmann, Samuel Christian 22, 181 Honnefelder, Ludger 84, 86, 87, 90, 93, 114 Hunter, Michael 1, 13–16, 26 Husserl, Edmund 207 Hutchison, Keith 68, 182 Kant, Immanuel 205 Karl II. 15 Keckermann, Bartholomäus 9, 89 Kersting, Wolfgang 238 Kessler, Eckhard 80 Knorr von Rosenroth, Christian 72, 74, 228 Koyré, Alexandre 25 Krämer, Hans Joachim 154, 204–208 Kristeller, Paul Oskar 244 Krohn, Wolfgang 19 Kuhn, Thomas S. 4 Lamettrie, Julien Offray de 25 Lasswitz, Kurd 21, 181, 252 Laurentius, Andreas 30 Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 25, 73, 74, 101, 104, 107, 136, 140, 179, 181, 182, 196, 203, 205, 208, 212, 223, 233, 235, 238, 241, 247, 251, 260, 261 Leinkauf, Thomas 41, 64–68, 70, 81, 104, 108, 133, 135, 176, 180, 181, 204, 205, 206, 222, 238, 260, 267, 270, 271 Leinsle, Ulrich Gottfried 84, 86, 89, 100 Leukipp 240 Linacre, Thomas 10, 29 Lipsius, Justus 79 Locke, John 2, 192 Lohr, Charles H. 84, 223, 259 Long, Anthony Arthur 31, 80, 236, 269 Lovejoy, Arthur O. 25, 247 Lukrez (Lucretius Carus) 14, 212, 223, 237, 239, 240, 241 Mach, Ernst 25 Magirus, Johannes 9, 35 Magnenus, Johannes Chrysostomus 241, 249, 254 Malpighi, Marcello 95 Mani, Nikolaus 2, 11, 21, 31, 44, 51, 179

297 Marci, Marcus 70, 71, 178 Marion, Henry 2, 3, 17, 21, 22, 25, 51, 181, 235 Martini, Cornelius 86 Martini, Jacobus 86, 89, 116 Masius, Didacus 86 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 235 Mede, Joseph 89 Meier-Oeser, Stephan 20, 68–71, 178 Meinel, Christoph 68 Meisner, Balthasar 116 Menn, Stephen 8, 101 Merton, Robert K. 26 Micraelius, Johannes 111, 169, 202 Milton, John 89 Molan, Gerhard Wolter 181 More, Henry 89, 178, 257, 269 Mulsow, Martin 37, 68, 89, 108, 236– 238, 268 Murdoch, John E. 173, 254 Nedham, Marchamont 12 Nemesius von Emesa 34, 35 Neuser, Wolfgang 180 Nifo, Agostino 173, 188, 222, 244 Newton, Isaac 4, 68, 192, 193 Ockham, William von 92, 251 Ovid (Publius Ovidius Naso) 223, 225, 229 Pacchi, Arrigo 2, 23 Pagel, Walter 20, 23, 30, 51, 52, 59, 64, 71, 74, 82, 177, 181, 196 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 12, 68, 69, 71, 72 Patrizi, Francesco 65, 68, 163, 176, 206 Patzig, Günther 112 Pauschert, Uwe 12 Pembroke, S.G. 46 Petty, William 16 Piccolomini, Francesco 244 Platon 7, 33, 38, 39, 46, 48, 70, 75–77, 97, 135, 152, 158, 198, 199, 205, 223, 224 Plotin 66, 169, 199, 205–207 Pohlenz, Max 46, 81, 236, 269 Pomponazzi, Pietro 267 Poppi, Antonino 244, 245 Porphyrius 34, 35 Porter, Roy 16 Poser, Hans 10 Power, Henry 11 Priestley, Joseph 192

Proklos 205, 206, 207 Pythagoras 46, 223 Randall, John Hermann 245 Rattansi, P.M. 12, 71 Rawley, William 248 Reuchlin, Johannes 206 Risse, Wilhelm 244 Ritsche, Georg 238 Ritter, Joachim 26 Robb-Smith, A.H.T. 8–11, 30, 31, 89 Rolleston, H.D. 8, 10 Rook, Arthur 9–11 Rossi, Paolo 245, 268 Rudolf II. 70 Sanderson, Robert 89, 245 Santorio, Santorio 6, 130, 240, 254 Scaliger, Julius Caesar 29, 53, 55, 61, 65, 176, 265–267 Scheibler, Christoph 9, 84, 89, 100 Schmitt, Charles B. 79. 244, 245 Schneider, Martin 19, 136, 137 Secada, Jorge 2 Seneca, Lucius Annaeus 45, 79 Sennert, Daniel 240 Shapin, Steven 4, 26 Skinner, Quentin 25 Soto, Domenicus 86 Sparn, Walter 84, 116 Specht, Rainer 84, 92, 105 Spinoza, Benedictus de 103, 104, 120, 178, 180 Sprat, Thomas 12, 14 Sprengel, Kurt 2, 20 Stegmaier, Werner 208 Steinmetz, Peter 33, 41, 46, 80, 236 Stobaeus, Ioannes 46, 79, 223 Stubbe, Henry 15 Suárez, Francisco 2–5, 9, 16, 19, 20, 24, 34, 69, 83–96, 99–105, 109, 110, 112–116, 118– 120, 122, 124–130, 134, 135, 136, 138, 140, 141, 143, 149–153, 156–158, 161, 165, 167– 169, 177, 186–189, 191, 198, 202, 211, 219– 224, 230, 251, 255, 267, 268 Telesio, Bernardino 169, 267 Temkin, Owsei 8, 20, 23, 34, 35, 40, 47, 50, 51, 268 Thomas von Aquin 84, 112, 113, 129, 141, 142, 186, 189, 221, 259 Thorndike, Lynn 9, 71 Timpler, Clemens 84, 89, 238 Tomitano, Bernardino 244 Tugendhat, Ernst 206, 207

298 Wallis, John 11, 14, 15 Webster, Charles 3, 5, 11–13, 67, 68, 268 Wharton, Thomas 13 Wilkins, John 14 Wilson, Catherine 134 Wippel, John F. 112, 114

Yates, Francis A. 68 Zabarella, Jacobo 243–246, 248, 251, 263 Zimara, Antonio 222 Zoroaster 223