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Beihefte zum Göttinger Forum für Altertumswissenschaft Herausgegeben von Siegmar Döpp und Jan Radicke
Band 9
Jan-Wilhelm Beck Me as Chor Medeas Medea or Euripides‘ politische Lösung Mit einer vergleichenden Betrachtung von 14 weiteren »Medea«- Dramen
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
2. Auflage 2007 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K. Postfach 1716, 37007 Göttingen – 2007 www.edition-ruprecht.de © Dührkohp & Radicke Wissenschaftliche Publikationen Göttingen – 2002
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Layout und Satz: Jan-Wilhelm Beck Druck: Digital Print Group, Erlangen ISBN: 978-3-89744-181-1
Dem Herausgeber dieser neuen Reihe Prof. Dr. Siegmar Döpp zum 60. Geburtstag
Für j uristische B eratung bin ich Dr. Ken Eckstein, Wiss. Ass. am Lehrstuhl für Strafrecht, Universität Regensburg, verpflichtet. Bei der schwedischen ' Medea' unterstützte mich dieses Mal Frau Maria Riska, Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Regens burg. Für Korrekturen danke ich meinem Assistenten Dr. Peter Csaj kas sowie meinen Mitar beitern Rosmarie Geser und Andreas Hagmaier.
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Die 'Medea' des Euripides ist ohne Zweifel eine der faszinierendsten, vielleicht sogar die faszinierendste der erhaltenen Tragödien aus der grie chisch-römischen Antike. Von der Forschung mit unermüdlichem Eifer behandelt, ist sie noch immer weit über die engen Grenzen der philologi schen Fachwissenschaft hinaus ein Schauspiel von allgemeinem Interesse und selbst heute regelmäßig auf den Spielplänen der Theater zu finden. Denn trotz der eigentlich unzeitgemäßen Einkleidung des Stoffes in einen antiken Mythos hat Euripides mit der Darstellung einer verlassenen Frau und zugleich Mutter, die aus Rache an ihrem Mann ihre eigenen Kinder tötet, ein zeitlos wirkendes Drama geschaffen, das selbst in der Gegenwart dieses Jahrhunderts von einer geradezu erschreckenden Aktualität ist. Wieder einmal, zuletzt im August/September 2000, hatten deutsche Zei tungen von einem Familiendrama zu berichten, bei dem ein von seiner Frau verlassener Ehemann aus Rache seine sechsjährige Tochter umgebracht hat. Nach Angaben eines Sprechers der ermittelnden Staatsanwaltschaft Frank furt/Oder habe der krankhaft eifersüchtige Mann, ein gelernter Koch, seine Frau für die Trennung bestrafen und an ihrer schwächsten Stelle treffen wollen. Die Frau war kurz zuvor mit beider Tochter ausgezogen, ja zu ei nem Bekannten regelrecht geflüchtet. Daß die Mutter die Tochter mitnahm und nicht auf sie verzichtet hatte, war für die Motivation, für das Gelingen der real vollzogenen Rache entscheidend - die Realität hat hier eine grau same Bestätigung für ein unlängst bereits an anderer Stelle untersuchtes Problem mit der Logik der Euripideischen Racheversion geliefert. 1 Methodisch z.T. an diese vorausgegangene Untersuchung anknüpfend, sei nun ein weiteres Problem der Euripideischen 'Medea' -Fassung erörtert. Es betrifft den Chor und damit einen Teil des Dramas, der - für den heuti gen Betrachter ohnehin nur eine befremdliche Zutat - kaum im Zentrum des Interesses steht.2 Doch da es sich bei der 'Medea' um eine Tragödie noch aus der Zeit der Blüte des attischen Dramas handelt, Jahre entfernt etwa vom Spätwerk eines Aristophanes mit zu eµß6Ji.tµa verkümmerten Chor partien, war der Chor für ihren Dichter ein unverzichtbarer Teil der Insze1 2
Euripides' ' Medea' : Dramatisches Vorbild oder mißlungene Konzeption?, NAWG 1 998, 1 . Etwa in den neuen ' Medea'-Sammelbänden von Clauss/Johnston ( 1 997), Uglione ( 1 997) Gentili/Perusino (2000) ist der Chor ohne echte B erücksichtigung geblieben. Vgl. in er sterem lediglich den B eitrag von D. Boedeker ( ' Becoming Medea'), dort S . 1 3 6 zu den „multiple reactions" des Chores („sympathy, frustration, horror") .
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nierung und stimmig in das Ganze einzubinden. Was von Euripides sonst an Tragödien erhalten ist, zeigt zur Genüge, daß auch er dazu zumeist be reit und sehr wohl in der Lage war.3 Ganz im Gegensatz zu einer erst später einsetzenden Mißachtung der Rolle des Chores scheint dieser seit Sopho kles vereinzelt sogar eine viel engere Anbindung an die Tragödienhandlung erfahren zu haben, da es z.B. gelang, seine Funktion auszuweiten und ihn gleichsam wie einen vierten Schauspieler auszunutzen.4 Auch in der 'Me dea' des Euripides hat der Chor eine über ein bloßes Kommentieren des Bühnengeschehens weit hinausgehende Funktion erhalten, wie die For schung in ihren Analysen natürlich längst erkannt hat5 und wie es überdies ganz offensichtlich ist. Es ist kein fernstehender, ausgeschlossener, philo sophierender Chor ohne Handlungsbezug. In dieser Tragödie ist der Chor zum Vertrauten der Protagonistin, also Medeas, geworden. Und eben das ist das Problem, über das die heutige Forschung zu bereitwillig hinweg geht. Denn der Chor steht so auf der falschen Seite.
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Für die heutige F orschung gilt die B eurteilung allerdings vielfach als schwierig; vgl. z.B. Hose ( 1 990) S . 1 2f. „im Gegensatz zu Sophokles [ . . . ] mit Ausnahme einiger wichtiger Spezialfragen - nur wenig B eachtung gefunden [ . . . ] Euripides stellt einen Interpreten vor große Probleme". Entsprechend die antike Dramentheorie, so Aristotel. Poet. l 456a [ 1 8] Kai TOV xopov ÖE l! v a bei uJroA.aµß6.vc1v rwv uJroKptrwv Kai µ6p1ov clvai rov lfA.ov . . . , Hor. ars 1 93ff. acto ris partis chorus officiumque uirile/ defendat . . . Im Vergleich zu Sophokles wird Euripi des j edoch ausdrücklich kritisiert, so die F ortsetzung bei Aristoteles „. Kai avvaywvf(w
Dai µiJ ÖJOJ(cp Evp1J(fön 1UA.' waJ(cp J:orpodci. Vgl. z.B. die große Studie von Hose ( 1 990/9 1 ), dort B d . 2 S . 8 8 zusammenfassend: „ [ „ . ] durchgängiger Handlungsbezug [ „ . ] d i e Chorlieder keineswegs nur lyrische ' Reprisen' [„.]. Durch sie erfährt vielmehr die Handlung eine thematische Entlastung. [ „ . ] damit Medeas Situation sowie die B edeutung ihres Handelns deutlich erkennbar ist, benötigt sie ein Gegenüber, das 1 . wohlgesonnen [ „ .] durch seine Mitleidsbekundungen Medeas Ein samkeit betont, 2. [ . „ ] ihre Tatkraft und ihren ' Heroismus' unterstreicht [„.] 3. [ „ . ] durch seine Mahnreden und Warnungen die Tragik [„.] für Medea [„. ] ankündigt. [ . . . ] Zugleich [„.] Instrument des Dichters, bestimmte Stimmungen sowohl im Einklang mit der Hand lung als auch im Gegensatz zu ihr zu erzeugen [ . . . ] bedeutsame Aspekte der Handlung ly risch zu vertiefen [ . . . ] durch Verstärkung [ . . . ] durch Brechung." Nahezu zeitgleich ent standen ist der Aufsatz von van Erp Taalman Kip ( 1 989) speziell zum Chor in der ' Mede a ' ; vgl. dort z.B. S . 2 8 l f. „Het aantal koorliederen in deze tragedie is uitzonderlijk hoog. [ . . . ] Het koor verwult een essentiele rol in het drama. Het vormt het onontbeerlijke gehor voor Medea's planen." Noch Mastronarde ( 1 998) S . 5 9 und Schmidt ( 1 999) S.252ff. sprechen dagegen von „l ' identificazione de! pubblico con il coro" bzw. vom Chor als „fiktivem Zuschauer".
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Der aus korinthischen Frauen bestehende Chor kommt nach dem in die Situation einführenden Prolog der Amme auf die Bühne, als er Medea hin terszenisch verletzt, verzweifelt und dem Wahnsinn nahe klagen hört (V. l 3 l ff. l!KJ..v ov qJwvdv, l!KJ..v ov bi ßoavl nie;; bvaravov KoJ..xiboc;; ...). Voll Sympathie und besonders Sorge fühlt der Chor mit ihr, will sie trösten und bittet die Amme, sie zu holen6 ( „. ovbE GVVrJÖOµat „./ äAyEat bwµaroc;;,I brci µot qJiJ..o v KEKpavrw). Die Medea, die daraufhin das Haus verläßt, hat sich absolut in Gewalt. Sie ist ruhig, gefaßt und von Anfang an in der Lage zu logischem Argumentieren (vgl. V.2 1 4f. µft µoi „. o!ba ydp). Sie unter drückt all ihren Schmerz, um sich denen nicht zu verschließen, die eigens ihretwegen hergekommen sind. Es ist eine Medea, die geschickt ihren Vorteil erkennt, die sich die Gelegenheit zur Rechtfertigung nicht entgehen lassen will (V.2 1 4f. µft µoi rt µiµl}JrJa{}' ) und die die Sympathie der Frauen, entstanden aus spontanem Mitleid, durch ihre Rede zu vertiefen sucht. Der Zuschauer, der wie der Chor um Medeas wahre Verfassung weiß und der zudem die ängstlichen Worte der Amme gehört hat (V.3 6ff. arvycf „.
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/ ÖeÖOtKa b' avrifv µft TL ÖEtµafvw TE VtV/ µft ÖEtviJ yap wc;; TL bpaaciovaav V.98ff.), müßte vorsichtig geworden sein. „.
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V.9 lff. „. „., Von einer solchen Medea ist Verstellung und Intrige zu befürchten. Was dann geschieht, ist jedoch gänzlich unerwartet: Statt den Frauen des feindlichen Landes gegenüber listig, verschlagen zu sein, öffnet sich ihnen Medea mit völliger Aufrichtigkeit und spricht nach einer langen, logisch aufgebauten Rede schließlich von ihrem Rachewunsch. Und dies bleibt nicht die einzige Überraschung: Der Chor, die Öffentlichkeit des Landes, dessen künftiger Herrscher Jason durch die Hochzeit mit der Tochter Kre ons werden wird, stimmt der betrogenen, verlassenen Medea zu. Nicht ihre Amme ist es folglich, der Medea ihre Pläne offenbart. In dieser Tragödie hat vom ersten Epeisodion an der ihr doch eigentlich fremde Chor die Rolle der Amme, der engsten Vertrauten Medeas übernommen. Es ist der Chor und nicht die Amme, der als Medeas ständiger Begleiter auftritt, der Jason tadelt und schließlich sogar an der Verkündigung des Racheplanes teil nimmt: 6
Vgl. Hose ( 1 990) S . 296 mit der wichtigen B eobachtung, daß es der Chor ist, der in die sem Stück mit seiner B itte „den ersten Schritt aus der Situation der verzweifelten Untä tigkeit heraus" macht und so den Impuls für den B eginn der Handlung gibt. So ist der Chor von vornherein auch aktiv einbezogen.
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Als Medea am Ende ihrer ersten Rede den Chor um Stillschweigen bittet, falls sie einen Weg zur Rache an Jason findet (V. 259f. . . . aov rvyxavE1v ßovA.ftaoµaLI ifv µ01 Jr6poc; r1c; µ1JXavft r' t�cvpdJfil Jr6mv öiKryv rwvb' d.vrLTEfaaaDai KaKwv,! [ . . . ]/ mydv) - ein scheinbar harmloses Zugeständnis ( roaourov ovv . . . ) -, stimmen die Frauen rückhaltlos zu (V.267 bpdaw rdb' . . . ) und bestätigen Medea sogar selbst in der Rechtmäßigkeit ihres Rachewunsches ( ... tvbiKw